Freiheit, Gleichheit, Eigentum – Öffentliche Finanzen und Abgaben: Festschrift für Rudolf Wendt zum 70. Geburtstag [1 ed.] 9783428540174, 9783428140176

Rudolf Wendt prägt als Staatsrechtslehrer in beeindruckender Weise Forschung und Lehre auf vielen Gebieten des Verfassun

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German Pages 1358 Year 2015

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Freiheit, Gleichheit, Eigentum – Öffentliche Finanzen und Abgaben: Festschrift für Rudolf Wendt zum 70. Geburtstag [1 ed.]
 9783428540174, 9783428140176

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Freiheit, Gleichheit, Eigentum – Öffentliche Finanzen und Abgaben Festschrift für Rudolf Wendt zum 70. Geburtstag

Herausgegeben von Heike Jochum Michael Elicker Steffen Lampert Roberto Bartone

Duncker & Humblot . Berlin

Freiheit, Gleichheit, Eigentum – Öffentliche Finanzen und Abgaben Festschrift für Rudolf Wendt zum 70. Geburtstag

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1300

Freiheit, Gleichheit, Eigentum – Öffentliche Finanzen und Abgaben Festschrift für Rudolf Wendt zum 70. Geburtstag

Herausgegeben von Heike Jochum Michael Elicker Steffen Lampert Roberto Bartone

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2015 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: BGZ Druckzentrum GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-14017-6 (Print) ISBN 978-3-428-54017-4 (E-Book) ISBN 978-3-428-84017-5 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsverzeichnis Laudatio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

I. Freiheit – Gleichheit – Eigentum Peter Badura Die Sicherung der grundrechtlichen Freiheit und der Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts angesichts der nachhaltigen Förderung des sozialen Ausgleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

Herbert Bethge Eine Zensur findet nicht statt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

Michael Elicker Monarchie und wahre Demokratie. Gegen Parteienoligarchie und -diktatur . . .

41

Wilfried Fiedler Der Beitrag Gabriel Riessers und Hermann Hellers zur Entwicklung der deutschen Staatsrechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

Karl Heinrich Friauf 170 Jahre Eigentumsschutz für gewerbliche Anlagen. Anmerkungen zu § 51 GewO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

Thomas Gergen Kopierschutz im Alten Reich. Prozesse (insbesondere Appellationen und Vollstreckungsersuchen) über Kölner Privilegien gegen den Nachdruck (privilegia impressoria) vor dem Reichshofrat in Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

Klaus Grupp Ein neues Fundament des Rückwirkungsverbots? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

115

Peter M. Huber Die Zukunft des Berufsbeamtentums. Zwischen europarechtlich induzierter Erosion und nationaler Sinnsuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

127

Friedhelm Hufen Verfassungsrechtliche Grenzen der Steuerfahndung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

139

6

Inhaltsverzeichnis

Jörn Ipsen Eigentumsschutz alter Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

153

Josef Isensee Corriger la fortune? Zur Chancengleichheit alter und junger Parteien im Saarland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

165

Heike Jochum Der Maßstab der Sachgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

191

Ulrich Karpen Freiheitssicherung durch Gewaltengliederung – Studien zu Mazedonien, Irak, Äthiopien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

203

Jan Henrik Klement Was schützt der Schutz des Eigentums? Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG zwischen Freiheitssicherung, Rechtsbewahrung und Werterhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

219

Jörg-Detlef Kühne Zum Ringen um unmittelbare Grundrechtsgeltung in der Weimarer Nationalversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

237

Steffen Lampert Zur Bedeutung des allgemeinen Gleichheitssatzes bei grenzüberschreitenden Steuersachverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

255

Walter Leisner Gleichheit als Grundrecht. Güterbesitz als Freiheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

273

Wolfgang Löwer Das Selbstverwaltungsrecht der Hochschulen nach Landesverfassungsrecht als Erscheinungsform funktionaler Selbstverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

285

Detlef Merten Streikfreiheit für Beamte kraft Europäischer Menschenrechtskonvention? . . . .

303

Hans-Jürgen Papier Freiheit und Gleichheit – Was hat Vorrang? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

331

Rainer Pitschas Neue Pflege in der Altersgesellschaft? Zum Nutzen der Pflegeversicherungsreform 2014/2015 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

349

Wolfgang Rüfner Entwicklung des Eigentumsschutzes in Deutschland seit BVerfGE 58, 300 (18. 7. 1981) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

367

Inhaltsverzeichnis

7

Michael Sachs Gesetzliche Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums . . . . . . . . .

385

Wolf-Rüdiger Schenke Zur Zulässigkeit von Legalenteignungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

403

Edzard Schmidt-Jortzig Das Selbsttitulierungsrecht öffentlich-rechtlicher Kreditinstitute . . . . . . . . . . .

423

Rupert Scholz Mehr Gleichheit in der Demokratie? Zum Streit um mehr plebiszitäre Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

433

Meinhard Schröder Die UN-Resolution zum Recht auf Privatsphäre im digitalen Zeitalter (A/RES/ 68/167 und 69/166) im Focus von Völkerrecht und Völkerrechtspolitik . . . . . .

445

Udo Steiner Gleichheitsfragen im Sozialrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

457

Ulrich Stelkens Schützen deutsche Grundrechte vor deutschen unionsrechtswidrigen Rechtsakten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

467

Stephan Weth und Yvonne Gutting Das Recht auf Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

481

Michaela Wittinger Der Schutz persönlicher Daten: Anmerkungen zum Grundgesetz, zur Europäischen Menschenrechtskonvention und zum Recht der Europäischen Union. Unter Berücksichtigung des EuGH-Urteils v. 13. Mai 2014 zum „Anspruch auf Vergessen“ gegenüber dem Betreiber einer Internetsuchmaschine (Google) . .

493

Thomas Würtenberger Zur Verfassungsmäßigkeit von Einschränkungen der Berufsfreiheit durch Marktregulierungen auf der „Dritten Ebene“ des Bundesstaates . . . . . . . . . . . .

505

II. Öffentliche Finanzen und Haushalte Jina Cha Bestandsaufnahme und Richtungsstreit der gesetzlichen Rentenversicherung im 21. Jahrhundert – Erfahrungen und Diskussionen in der Republik Korea . .

525

Johannes Hellermann Zur Eigenart des Sonderbelastungsausgleichs nach Art. 106 Abs. 8 GG . . . . . .

549

8

Inhaltsverzeichnis

Hans-Günter Henneke Finanzierungsverantwortung für gesetzgeberisch veranlasste kommunale Aufgaben. Rückblick, Status, Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

561

Wolfram Höfling Darlegungslasten im Rahmen von Konnexitätsstreitigkeiten. Zur Prozeduralisierung des materiellen Prinzips der Finanzierungsverantwortlichkeit . . . . . . .

585

Michael Kloepfer Gesamtfinanzverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

599

Hanno Kube Finanzielle Eigenständigkeit und Solidarität im deutschen Bundesstaat . . . . . .

623

Siegfried Magiera Finanzierung und Haushaltsdisziplin der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . .

639

Christoph Ohler Von der Doppik zu EPSAS – Fragen zur Europäisierung des öffentlichen Rechnungswesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

653

Günter Püttner Zum Wert der „Schuldenbremse“ des Art. 115 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . .

671

Rudolf Streinz Was bleibt vom Budgetrecht des Bundestages in der „Fiskalunion“? Anmerkungen zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . .

677

Maximilian Wallerath Der kommunale Finanzausgleich zwischen diskretionärer Entscheidung und rechtlicher Steuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

693

Joachim Wieland Kommunale Finanzkraft im Länderfinanzausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

723

III. Abgaben und Steuern Roberto Bartone Gedanken zur Verfassungsmäßigkeit von Ergänzungsabgaben im Sinne von Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

739

Dieter Birk Vom Wert verfassungsrechtlicher Streitigkeiten im Steuerrecht . . . . . . . . . . . .

765

Inhaltsverzeichnis

9

Christoph Degenhart Verfassungsfragen der naturschutzrechtlichen Ausgleichszahlung bei einer Flexibilisierung der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung . . . . . . . . . . . . . .

781

Dieter Dörr Der neue Rundfunkbeitrag – sachgerechte Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks oder verkappte Steuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

799

Jutta Förster Besteuerung der Alterseinkünfte der Basisversorgung: intertemporale Korrespondenz auch bei internationalen Sachverhalten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

817

Adrian Hans Körperschaftsteuerrecht und Verfassungsrecht – § 8c KStG als verfassungswidriges Regelungsinstrument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

833

Heinz Kußmaul und Christian Schwarz Steuersystematische und verfassungsrechtliche Aspekte der Abgeltungsteuer .

843

Moris Lehner Steuergerechtigkeit im Internationalen Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

861

Jörg Manfred Mössner Gewinnrealisierung beim Aktientausch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

879

Anke Morsch Die Selbstanzeige im Steuerstrafrecht – Eine Problemskizze . . . . . . . . . . . . . .

899

Sebastian Müller-Franken Welteinkommen, Leistungsfähigkeit und Äquivalenz. Zur Legitimation der Besteuerung ausländischer Einkünfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

913

Friedrich Petry Quo vadis Bettensteuer? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

937

Friedrich E. Schnapp Der Arbeitgeberbeitrag in der Sozialversicherung – ein vorenthaltener Lohnbestandteil? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

955

Friedrich Schoch Flexibilisierung der Sonderabgabendogmatik durch das Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

983

Hartmut Söhn Pauschale Aufteilung gemischt veranlasster Reisekosten? . . . . . . . . . . . . . . . . 1001

10

Inhaltsverzeichnis

Alain Steichen und Till Meickmann Zwischen Bankgeheimnis und automatischem Informationsaustausch: Gebotene Zeitenwende in Luxemburg? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1015 Gerd Waschbusch und Andrea Rolle Die Bankenabgabe – ein Placebo zur Beruhigung des Steuerzahlers? . . . . . . . 1033 Rainer Wernsmann Gebühr und Beitrag in der Finanzverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1053

IV. Varia Hans Herbert von Arnim Die unheilvolle Doppelwirkung von Sperrklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1071 Steffen Augsberg Legitimationsprobleme der Börsenselbstverwaltung – dargestellt am Beispiel des Börsenrates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1077 Joxerramon Bengoetxea The End of the European Dream and the Euro-crisis Wake Up Call . . . . . . . . . 1091 Guido Britz Strafrecht und Menschenwürde – eine phänomenologische Betrachtung . . . . . 1107 Tiziana J. Chiusi Von Savigny lernen. Notae minimae zum Projekt eines einheitlichen Kaufrechts für die EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1129 Philippe Cossalter Highway to the danger zone: Das Scheitern des französischen Staates am Beispiel seines Straßenverkehrswesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1139 Annette Guckelberger Effektiver Rechtsschutz nach Art. 47 GRCh und seine Folgen für den nationalen (Verwaltungs-)Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1165 Maximilian Herberger „Wer wird Millionär?“ – ein rechtsfreier Raum? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1183 Makoto Ida Über die „Entphilosophierung“ der japanischen Strafrechtsdogmatik und ihre Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1195

Inhaltsverzeichnis

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Heike Jung Über die Ratio des ultima-ratio-Prinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1207 Michael Martinek Privatrechtliche Reflexionen zur „gebremsten“ Marginalisierung des Verwaltungsprivatrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1225 Ulli Meyer Shared-Service-Center und Ressortprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1241 Filippo Ranieri Die französischen Übersetzungen der Commentaries von William Blackstone Ende des 18. Jahrhunderts. Ein Kapitel aus der Geschichte der kontinentalen Entdeckung des englischen Common Law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1251 Roland Rixecker Minderheit und Kontrolle. Die Enquête in den Zeiten der Großen Koalition: Eine Skizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1271 Helmut Rüßmann Verfahrene Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1283 Helmut Siekmann Die Offenlegung der Bezüge von Sparkassenvorständen im Internet . . . . . . . . 1293 Torsten Stein „In Vielfalt geeint“ im Europäischen Grundrechtsschutz? . . . . . . . . . . . . . . . . . 1313 Elmar Wadle Eine bislang kaum bekannte Schrift Siebenpfeiffers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1331 Schriftenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1339 Verzeichnis der Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1351

Laudatio Vielseitig ist das Wirken des Jubilars als Wissenschaftler in Forschung, Lehre und Selbstverwaltung, als juristischer Gutachter und Verfassungsrichter wie auch als Berater und Förderer des wissenschaftlichen Nachwuchses. Über seine akademischen Wirkungsstätten an den Universitäten zu Köln, Trier und des Saarlandes spannt sich der Bogen eines stets durchdachten, engagierten und verlässlichen Handelns, das von wissenschaftlicher Neugier und der Bereitschaft geprägt ist, sich immer wieder unverzagt auf Neues einzulassen. Es ist kein Zufall, dass der Festakt zur Übergabe der Festschrift für Rudolf Wendt in der Staatskanzlei des Saarlandes stattfindet. Wie kein Zweiter ist der Jubilar in den mehr als 25 Jahren seiner Tätigkeit im Saarland zu einem streitbaren Vertreter dieses Bundeslandes geworden. Und dabei ging es um Dinge von allerhöchster Bedeutung für das Land, insbesondere die verfassungsrechtlichen Auseinandersetzungen um den Länderfinanzausgleich vor dem Bundesverfassungsgericht. Der bundesstaatliche Finanzausgleich ist bekanntlich ein Thema, das mit vorhersagbarer Regelmäßigkeit meist von den Politikern der jetzigen Geberländer aufgebracht wird. Die Finanzausgleichsprozesse haben immer wieder offenbart, welche strukturellen Verwerfungen dazu führen, dass die zum Großteil fälschlich als Ländertransfers wahrgenommenen Zahlungen auf der letzten Ausgleichsebene nun seit einiger Zeit auch Richtung Saarland fließen, nachdem das Land seine Schuldigkeit für die Industrialisierung etwa eines vor nicht allzu langer Zeit noch sehr ländlich-agrarischen Bayerns getan hatte. In der Nehmerzeit von Bayern hat niemand – schon gar nicht in Bayern – darüber spekuliert, Bayern als Bundesland abzuschaffen. Auch für das Saarland sind entsprechende Gedankenspiele mehr als kontraproduktiv. Nur das Fortbestehen als Staat, das durch die unermüdliche Arbeit von Rudolf Wendt mit gesichert wurde, bewahrt ein Mindestmaß an Handlungsfähigkeit und an wettbewerblichen Maßnahmen für die Region und ihre Bevölkerung, die eben nicht unbedingt auf die Möglichkeiten etwa eines großen „Rheinhessen“ verwiesen werden möchte. Viele Probleme unserer Zeit werden schon heute dadurch ausgelöst, dass sich zu vieles in einigen wenigen Metropolen konzentriert. Es wäre bedauerlich, wenn das hier vor allem durch Rudolf Wendt für das Saarland Erreichte wieder verspielt würde. Dabei gehört zu den „großen“ Themen des Jubilars, die ihn immer wieder beschäftigt haben, nicht nur der beschriebene Kampf um den sachgerechten Umgang mit dem Länderfinanzausgleich. Ganz seinem freiheitsliebenden Naturell entsprechend haben ihn vielmehr zentrale Fragen des Schutzes von Freiheit und Gleichheit in all den Jahren seines akademischen Wirkens umgetrieben. Der Eigentumsschutz des Art. 14 GG, aber auch die in Art. 5 GG verbürgten Kommunikationsfreiheiten

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Laudatio

haben ihn ebenso fasziniert wie die Auseinandersetzung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz und den besonderen Gleichheitssätzen. Die Ausbildung der dogmatischen Strukturen dieser Grundrechte hat er aufmerksam begleitet und in vielerlei Hinsicht beeinflusst. Die Entwicklung des Steuer- und Abgabenrechts hat er dabei meist aus dieser verfassungsrechtlichen Perspektive verfolgt, ohne sich allzu sehr auf die eher technische Umsetzung im Detail einzulassen. Zu groß dürfte ihm die Gefahr erschienen sein, dass dabei der Blick für das Wesentliche und das „große Ganze“ verloren geht. Die rasante Entwicklung und das nicht selten recht hilflos anmutende Laborieren des Gesetzgebers an den bestehenden Steuergesetzen scheinen ihm Recht zu geben. Dessen ungeachtet hat Rudolf Wendt an der Universität des Saarlandes eine fundierte steuerrechtliche Schwerpunktausbildung aufgebaut, die sich gleichermaßen an angehende Juristinnen und Juristen wie auch an Studierende der Betriebswirtschaftslehre wendet. Ein konsistentes und ganz seinem Grundverständnis entsprechend auch verfassungsrechtlich rückgebundenes Vorlesungsprogramm lag ihm dabei ebenso am Herzen wie anspruchsvolle Übungsfälle. Nicht unerwähnt bleiben darf die Tätigkeit des Jubilars als Richter, inzwischen Vizepräsident des Verfassungsgerichtshofes des Saarlandes. Zahlreich sind die Verfahren, an denen er mitgewirkt hat. Namentlich die Einführung der Verfassungsbeschwerde als Verfahrenstyp hat dazu geführt, dass die Anzahl der vom Verfassungsgerichtshof zu bewältigenden Eingänge deutlich anstieg. Dabei ist es gerade den Verfassungsbeschwerden auf Landesebene eigen, dass sie thematisch ein breites Feld abdecken. Die Anwendung einer jeden – auch bundesrechtlichen – Norm durch Hoheitsträger des Landes kann insoweit zur Überprüfung gebracht werden. Das juristische Talent des Jubilars und die für ihn so prägende Bereitschaft, auch unbekannte Pfade zu beschreiten, waren daher für das Gericht stets von besonderem Wert. Ein forschender Geist, der offen an neue Fragestellungen herangeht und sich bemüht, diese in bekannte dogmatische Strukturen einzufügen, um überzeugende Antworten zu formulieren, ohne dabei vor einem „Schuss rechtspolitischer Argumentation“ zurückzuschrecken, erlebt dabei manches Abenteuer – auch wenn er seinen Schreibtisch nicht verlässt. Immer wieder neue Gedanken, Zweifel an den kürzlich erst gewonnenen Erkenntnissen und steter Termindruck, weil die Arbeit doch nie wirklich als zu Ende gedacht abgeschlossen werden kann, kennzeichnen die wissenschaftliche Arbeit des Jubilars. Als seine Schüler konnten wir uns davon immer wieder selbst ein Bild machen. Und es hat uns angespornt, uns in ähnlicher Weise auf den Weg zu machen. Ein bedächtiger Lehrer, der sich stets um die rechte Balance zwischen Wissen und Verstehen, zwischen klausurnotwendigem Stoff und zukunftsweisenden Kenntnissen bemüht – so lässt sich wohl das Wirken des Jubilars im Hörsaal, der zentralen Wirkungsstätte eines jeden Universitätsprofessors, beschreiben. Ob Pflichtfachvorlesung für Anfänger, Übung, Examinatorium, Seminar oder steuerrechtliche Vorlesung im Schwerpunktprogramm: mit großer Ernsthaftigkeit verfolgt der Jubilar sein Ziel, die kommenden Generationen junger Juristen und Juristinnen auf die Heraus-

Laudatio

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forderungen der Zukunft gründlich vorzubereiten. Strukturwissen und Überblick, Verständnis und Durchblick waren ihm stets wichtiger als das tagesaktuelle Wissen mit bekannt kurzer „Halbwertszeit“. Groß war daher stets die Freude, wenn die „Rechnung aufging“ und aus dem Kreise der Hörer Antworten oder gar – und noch besser – kritische Fragen kamen. Ein abwägender und vermittelnder Vertreter in der Selbstverwaltung war der Jubilar lange Zeit in den Gremien der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität des Saarlandes und auch über viele Jahre im Senat der Universität. Die Einführung von Studiengebühren nicht nur für Langzeitstudierende und zahlreiche andere Reformvorhaben von Bundes- und Landesgesetzgeber hat er kritisch begleitet. Trotz des Wissens um die knapp bemessene Zeit und die vielen spannenden fachlichen Projekte auf dem Schreibtisch, hat der Jubilar immer wieder unverdrossen gegen überbordenden Bürokratismus, hochschulpolitisch verbrämte Sparmaßnahmen und andere Versuche einer Beschränkung der für die akademische Arbeit so wichtigen wissenschaftlichen Freiheit gekämpft. Manche drohende Grausamkeit konnte mit seiner Hilfe abgewendet werden. Und das, obwohl die Entscheidungsspielräume auf diesen Feldern bekanntermaßen gering sind. Mit Bedacht und Augenmaß hat Rudolf Wendt hier manchen Besserwisser belehrt und in seine Schranken verwiesen. Auch wenn diese Art des Zeitvertreibs gewiss nicht wirklich seine Sache ist: Irgendwann kann man sich als kritischer Geist dieser Aufgabe kaum mehr entziehen, schon deswegen nicht, weil die zuvor als erfahrene Kritiker agierenden Kollegen aus Altersgründen ausscheiden und den nachrückenden jüngeren Kollegen oft das nötige Wissen um die Vorgänge in der Vergangenheit fehlt. Ein umsichtiger Förderer des wissenschaftlichen Nachwuchses, der den aufstrebenden Talenten nach ihren Fähigkeiten und Interessen akademische Freiheit und Selbständigkeit garantiert, das ist ohne Frage eine Paraderolle des Jubilars. Nicht nur privat ist er mit Fug und Recht als „Familienmensch“ zu beschreiben – auch die akademische Familie ist ihm wichtig. Mit wachem Auge hat er seine Mitarbeiter und Doktoranden stets begleitet und sie mit manchem Ratschlag vorangebracht, hat immer wieder auf auch formal korrektes Arbeiten bestanden und die Disziplin eingefordert, mit der er selbst ans Werk ging. Sich selbst zurückzunehmen um anderen Raum zu geben, gehört hier wohl zu den Königsdisziplinen. Nicht jedem ist im Umgang mit dem wissenschaftlichen Nachwuchs ein so glückliches Händchen gegeben, von dem gerade die Herausgeber sehr profitiert haben. Rudolf Wendt hat es offenbar auf dem Boden eigener Erfahrung bestens verstanden, auch insoweit die richtige Balance zwischen „Fördern und Fordern“ zu finden. Heike Jochum Michael Elicker Steffen Lampert Roberto Bartone

I. Freiheit – Gleichheit – Eigentum

Die Sicherung der grundrechtlichen Freiheit und der Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts angesichts der nachhaltigen Förderung des sozialen Ausgleichs Von Peter Badura, München I. Sozial- und gesellschaftspolitische Aufgaben im Verfassungsstaat 1. Das Verfassungsziel des Sozialstaates Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat (Art. 20 Abs. 1 GG). Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muss den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaats im Sinne des Grundgesetzes entsprechen (Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG). Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen verpflichtet ist (Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG). Mit unterschiedlichen normativen Gestaltungen statuieren die Landesverfassungen soziale Staatsziele und auch soziale Rechte, wie besonders das „Recht auf Arbeit“ (z. B. Art. 166 BayVerf, Art 48 Abs. 1 BrbgVerf) und das „Recht auf Bildung“ (z. B. Art. 29 Abs. 1 BrbgVerf, Art. 4 Abs. 1 NdsVerf, Art. 20 Abs. 1 ThürVerf). Die Europäische Union wirkt auf die nachhaltige Entwicklung Europas hin, und zwar auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und von Preisstabilität sowie einer in hohem Maße wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 EUV). Das programmatische und aktivierende Prädikat „sozial“ schreibt der öffentlichen Gewalt des Staates und der Europäischen Union ein Ziel, eine Aufgabe und eine – weitläufige, aber bindende – normative Verpflichtung vor. Auf den Staat bezogen ist damit ein soziales „Staatsziel“ ausgesprochen und der „Sozialstaat“ konstituiert. Die überall gewählte allgemeine Zuschreibung „sozial“ meint nicht nur die Sozialpolitik im engeren Sinne, sondern die ubiquitäre Ausrichtung der Sozial-, Wirtschafts-, Kultur-, Rechts- und Gesellschaftspolitik.1 Verfassungsrecht, politische 1

Hierzu und zum Folgenden H. F. Zacher, Das soziale Staatsziel, HStR, 3. Aufl., Bd. II, 2004, § 28; Sozialstaat. Die Krise seiner Ethik, Veröffentlichungen der Walter-RaymondStiftung, Bd. 22, 1983 (P. Badura, Schlussfolgerungen, S.267 – 285); P. Badura, Staatsaufgaben und Verfassungspolitik im sozialen Rechtsstaat, in: Festschrift für Takasuke Kobayashi, 1983, S. 621.

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Willensbildung und Staatspraxis orientieren sich an der dem Prinzip nach umfassenden Verantwortung des Staates für die materielle Wohlfahrt, die Wirtschaftsentwicklung und die soziale Sicherheit, letztlich für ein umfassendes „Recht auf Arbeit“2, ebenso aber für Bildung, Ausbildung und die Entwicklung von Kultur und Wirtschaft, ein „Recht auf Bildung“.3 Der Sozialstaat als Staatsziel wird in erster Linie durch den politischen Prozess der Demokratie bestimmt. Die Entgrenzung der Staatsaufgaben, jenseits des am Ausgang des Verfassungsstaates bestimmenden Staatszwecks des Schutzes von Freiheit und Eigentum nach dem Richtmaß der Gleichheit, ist das Lebensgesetz der Demokratie. Die Demokratie ist eine Staatsform der permanenten Reform und Veränderung. Daraus ergibt sich die zentrale Aufgabe des Verfassungsrechts, Regeln und Maßstäbe dafür zu geben, unter welchen Möglichkeiten und mit welchen Grenzen Reformen und Veränderungen durch das Gesetz erfolgen oder zugelassen werden dürfen oder müssen. Diese Aufgabe besteht nicht nur im Allgemeininteresse oder wegen der gebotenen Kontinuität des Rechts, der Rechtssicherheit, sondern auch wegen der Berechenbarkeit und des Schutzes „wohlerworbener“ Rechte oder schutzwürdiger Erwartungen des Einzelnen; sie ist Wesensmerkmal des „sozialen Rechtsstaates“4. Die durch die Sozialstaatlichkeit verheißene Garantie der durch das Gesetz zu verwirklichenden „sozialen Gerechtigkeit“ verpflichtet den Staat auf ein Ziel unvermeidlicher Entgrenzung der Staatsaufgaben, das einen „materiellen“ Rechtsstaat mit umfassender Sozialgestaltungs- und Umverteilungsfunktion nach der Richtschnur sozialen Ausgleichs erfordert, andererseits aber die private und privatwirtschaftliche Grundlage der Privatautonomie, Berufs- und Unternehmensfreiheit und Eigentum nicht dem ungemessenen Zugriff der öffentlichen Gewalt ausliefert. Die Verfassung muss im sozialen Rechtsstaat der durch den Wohlfahrtsstaat – im Unterschied zu dem Telos des bürgerlichen Rechtsstaats – begründeten Aufgabe gerecht werden, die rechtliche Bindung der politischen und administrativen Entscheidungen im Rahmen der staatlichen Lenkungs-, Verteilungs- und Leistungssysteme und -aktivitäten aufrechtzuerhalten und die grundrechtliche Freiheit auch gegenüber der Steuerung und Zuteilung von Daseinschancen zu wahren. 2

R. Wendt, Berufsfreiheit als Grundrecht der Arbeit, DÖV 1984, 601; P. Badura, „Recht auf Arbeit“ in Deutschland und Europa, in: Festschrift für Jürgen Schwarze, 2014, S. 473. 3 H. D. Jarass, Zum Grundrecht auf Bildung und Ausbildung, DÖV 1995, 674; Chr. Langenfeld, Das Recht auf Bildung in der Europäischen Menschenrechtskonvention, RdJB 2007, 412; R. Poscher / Joh. Rux / Th. Langer, Das Recht auf Bildung. Völkerrechtliche Grundlagen und innerstaatliche Durchsetzung, 2009; P. M. Huber, Das Recht auf Bildung in Schule und Hochschule, AöR 139, Beiheft 2014, S. 13. 4 E. Forsthoff, O. Bachof, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates, VVDStRL 12, 1954, S. 8, 37; W. Weber, Die verfassungsrechtlichen Grenzen sozialstaatlicher Forderungen, Staat 4, 1965, S. 409; K. H. Friauf, Zur Rolle der Grundrechte im Interventions- und Leistungsstaat, DVBl. 1971, 674; R. Wendt, Der Garantiegehalt der Grundrechte und das Übermaßverbot, AöR 104, 1979, S. 414; P. Badura, Die Förderung des gesellschaftlichen Fortschritts als Verfassungsziel und der Schutz der grundrechtlichen Freiheit, in: Festschrift für Klaus Stern, 2011, S. 275; Ders., Freiheit und Eigentum – Grundrecht und Staatsziel, AöR 139, Beiheft 2014, S. 49.

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Der Sozialstaat ist der Staat, insofern er durch Entscheidungen, Vorkehrungen, Maßnahmen, Normsetzung und Leistungen eine umfassende Verantwortung für soziale Gerechtigkeit in Anspruch nimmt oder kraft Verfassung oder Ideologie in Anspruch nehmen soll. Damit werden „soziale“ Aufgaben wahrgenommen, aber nicht die dafür eingesetzten Mittel der Sozial-, Wirtschafts- oder Gesellschaftspolitik gegenständlich begrenzt. Auf der anderen Seite heißt das nicht, dass allein der Staat für die soziale Gerechtigkeit und die dafür vorauszusetzende Solidarität einsteht und dass individuelle Selbstbestimmung, Freiheit, Privatautonomie und Eigentum zur Disposition sozialstaatlicher Gestaltung und Ingerenz gestellt sind. Die Staatsaufgaben sind in der Demokratie zwar der Möglichkeit nach unbegrenzt, sie können aber nur unter den einschränkenden Bedingungen der Zeit, der Finanzmittel und der Leistungsfähigkeit von der gesetzgebenden Volksvertretung ausgewählt und erfüllt werden. Die praktische Prämisse des Sozialstaats, soweit er die politische Garantie sozialer Sicherheit, der selbstbestimmten Arbeit als Lebensgrundlage und das Postulat sozialen Ausgleichs einschließt, ist die Leistungskraft der produktiven Wirtschaft. Das stetige und angemessene Wirtschaftswachstum gehört zu den Bedingungen, die als Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts anzustreben sind (Art. 109 Abs. 2 GG, § 1 Satz 2 StabG). „Wachstumsvorsorge“ ist ein Verfassungsauftrag, der aus dem Sozialstaatssatz und aus der konjunkturpolitischen Maxime des Art. 109 Abs. 2 GG abzuleiten ist.5 Die Wirtschaft als freie und ihre Ziele selbst setzende Tätigkeit und Leistung in Beruf und Unternehmen, ist materielle Grundlage und Grenze des Sozialstaats, sowohl durch die grundsätzliche Freiheit wirtschaftlichen Handelns, als auch durch ihre notwendig begrenzte Produktivität, als auch schließlich durch die durch ihre Anforderungen bedingte Verteilung des wirtschaftlichen Erfolges und der Lebenschancen des Einzelnen. Das weite und offene Feld des Sozialstaates führt die sozialen Aufgaben in ein Zusammenwirken oder eine Konkurrenz mit den Staatszielen des Wirtschaftswachstums, der Förderung von Kultur und Bildung und des ökologischen Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen. 2. Die normative Kraft der Verfassung und ihre Reichweite Der Sozialstaatssatz des Grundgesetzes wird als „Staatszielbestimmung“ bezeichnet, um seine normative – und nicht nur programmatische – Bedeutung und Wirkung zu kennzeichnen.6 Staatszielbestimmungen sind Verfassungsnormen mit rechtlich bindender Wirkung, die der Staatstätigkeit die fortdauernde Beachtung oder Erfüllung bestimmter Aufgaben – sachlich umschriebener Ziele – vorschrei-

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H. P. Ipsen, VVDStRL 24, 1966, S. 221 f.; P. Badura, Wachstumsvorsorge und Wirtschaftsfreiheit, in: Festschrift für Hans Peter Ipsen, 1977, S. 367; J. Isensee, Der Sozialstaat in der Wirtschaftskrise, in: Festschrift für Johannes Broermann, 1982, S. 365/368 ff.; R. Schmidt, Staatliche Verantwortung für die Wirtschaft, HStR, 3. Aufl. Bd. IV, 2006 § 92. 6 H. P. Ipsen, Über das Grundgesetz, 1950, S. 14 ff.; Ders., Das große „Staatsrecht“ von Klaus Stern, AöR 103, 978, S. 413/423 f.

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ben.7 Sie unterscheiden sich von spezifischen Aufgabennormen, die der Gesetzgebung einen bestimmten Regelungsauftrag vorschreiben und auch eine subjektive Rechtszuweisung einschließen, wie die Gebote für die Gleichberechtigung von Männern und Frauen (Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG) und die Pflicht, den nichtehelichen Kindern durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern (Art. 6 Abs. 5 GG). Soweit der Sozialstaatssatz als Prinzip verstanden wird, wird er als durchgängig maßgebliche Richtschnur für die Gesetzgebung im Bereich der materiellen Verfassungsnormen charakterisiert. Die Verfassung, niedergelegt im Verfassungsgesetz, ist ein ordnungsstiftender und programmatischer Gründungs- und Gestaltungsakt, der dem Gemeinwesen in einer konkreten geschichtlichen Lage eine rechtliche Grundlage geben will und auch Gestaltungsaufgaben und praktische Entscheidungen von Parlament und Regierung vorsieht und vorzeichnet. Im Hinblick auf die sozialen Aufgaben ist die Verfassung nicht nur Grenze oder gar Garantie eines „staatsfreien“ Raumes bürgerlicher Freiheit, sondern Auftrag und Richtschnur für die Verwirklichung des Sozialstaats. Die Verfassung selbst kann durch Staatszielbestimmungen für sich allein die erstrebte materielle Gewährleistung einer bestimmten, sozial gerechten Gesellschaftsordnung, Umverteilung, Leistungsgewährung und Schutzgarantie nicht herbeiführen. Die Verfassung kann den politischen Prozess, der die Erledigung der Staatsaufgaben bestimmt, nicht ersetzen oder vorwegnehmen. Ebensowenig wie der im Grundgesetz konstituierte soziale Rechtsstaat den Wirtschaftserfolg garantieren kann, kann die Verfassung eine die Generationen überspannende Gewährleistung sozialer Gleichheit, des sozialen Ausgleichs oder auch nur der Chancengleichheit aufstellen. Es ist nicht Sache der Verfassung selbst, sondern vielmehr das durch die appellative oder integrative Funktion der Staatszielbestimmungen aufgerufene Werk der gesetzgebenden Volksvertretung, den notwendigen Ausgleich der Freiheit mit den wechselnden Erfordernissen des sozialen Staatsziels und der Sicherung der natürlichen Lebensgrundlage im Fortgang der Zeit herzustellen und auch kraft des parlamentarischen Budgetrechts die Haushaltswirtschaft der öffentlichen Hand mit den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts in Einklang zu halten. Die Bedingungen und Grenzen der sozialstaatlichen Politik – wie nicht zuletzt die gebotene Haushaltsdisziplin und die „Bremse“ der Staatsverschuldung (Art. 109 Abs. 2 und 3, Art. 115 GG) – lassen dem Gesetzgeber einen breiten Raum der Gestaltung und Förderung zum Schutz von Arbeit und sozialer Sicherheit. Die ehernen Gesetze der Relativität der Staatsaufgaben und insbesondere der ökonomischen Kontingenz der sozialen Staatsaufgaben können allerdings durch schöngefasste Verheißungen in der Verfassung, wie sie besonders in den neuen Landesverfassungen ausgesprochen sind, nicht außer Kraft gesetzt werden. Dieser Leitgedanke für die Bemessung der 7 Staatszielbestimmungen – Gesetzgebungsaufträge. Bericht der von den Bundesministerien des Inneren und der Justiz eingesetzten Sachverständigenkommission, 1983, S. 13; U. Scheuner, Staatszielbestimmungen, in: Festschrift für Ernst Forsthoff, 1972, S. 325; P. Badura, Staatsrecht, 6. Aufl., 2015, D Rdnr. 42.

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normativen Kraft von Staatszielbestimmungen kommt in Art. 43 der Verfassung des Freistaates Thüringen zum Ausdruck: „Der Freistaat hat die Pflicht, nach seinen Kräften und im Rahmen seiner Zuständigkeiten die Verwirklichung der in dieser Verfassung niedergelegten Staatsziele anzustreben und sein Handeln danach auszurichten“.8 Mit der programmatischen Normativität der sozialen Staatszielbestimmungen notwendig verbunden sind verfassungsrechtliche Direktiven, die dem Ansteigen der Staatsquote und der Intensivierung der Steuerlast und der Staatsverschuldung infolge des technologischen und sozialen Fortschritts Maß und Grenze geben können.9 Das parlamentarische Budgetrecht unterwirft die Ausgaben der öffentlichen Hand sowie die Aufnahme von Krediten und die Übernahme von Bürgschaften, Garantien und sonstigen Gewährleistungen, die zu Ausgaben in künftigen Rechnungsjahren führen können, der Entscheidung durch Gesetz der gewählten Volksvertretung (Art. 110 Abs. 2, Art. 115 Abs. 1 GG). Haushaltswirksame Sachgesetze sind materielle Vorgaben für den Haushaltsgesetzgeber, andererseits sind derartige Gesetze abhängig von der Zuweisung notwendiger Finanzmittel durch das Budget und damit mittelbar auch durch die verfassungsrechtlichen Bindungen und Grenzen des parlamentarischen Budgetrechts bestimmt.10 Der Blick fällt aber sogleich weiter auf die Einnahmen, die das Budget vervollständigen, also hauptsächlich auf die Steuergesetzgebung. Das neben die politische Entscheidung über die Staatsausgaben tretende parlamentarische Budgetrecht erzwingt eine selbständige Entscheidung des Gesetzgebers mit umfassenden Kriterien. Das betrifft auch die Sozialversicherungssysteme (siehe Art. 120 Abs. 1 Satz 4 GG). Das soziale Staatsziel verwirklicht sich umgreifend in der sozialstaatlichen Gesetzgebung, dem jetzt in der gesetzgebenden Gewalt aufgegangenen Steuerbewilligungsrecht des Parlaments und in dem ursprünglich auf die Kontrolle der Ausgaben der Regierung gerichteten parlamentarischen Budgetrecht. Das Bundesverfassungsgericht hat, in jüngster Zeit besonders im Hinblick auf die Verpflichtungen und Leistungen Deutschlands in der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, die spezifische finanz- und haushaltswirtschaftliche Verantwortung der gesetzgebenden Körperschaften des Bundes hervorgehoben. Die Entscheidung über Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Hand ist grundlegender Teil der demokratischen Selbstgestaltungsfähigkeit im Verfassungsstaat. Der Bundestag muss deshalb dem Volk gegenüber verantwortlich über Einnahmen und Ausgaben entscheiden. Insofern 8

M. Haedrich, in: J. Linck, u. a. (Hrsg.), Die Verfassung des Freistaats Thüringen, 2013, Art. 43; siehe auch Art. 13 SächsVerf; Art. 3 Abs. 3 VerfLSA. 9 H.-J. Papier, Besteuerung und Eigentum, DVBl. 1980, 787; P. Kirchhof, Die Finanzierung des Leistungsstaates, JURA 1983, 505. 10 V. Götz, Die Staatsausgaben in der Verfassungsordnung, JZ 1969, 89; W. Heun, Staatshaushalt und Staatsleitung, 1989; P. Badura, Die Entscheidung über die Staatsaufgaben und ihre Finanzierung in der parlamentarischen Demokratie, in: Festschrift für Peter Selmer, 2003, S. 19; Ders., Die Talfahrt der öffentlichen Finanzen und die verfassungsrechtlichen Grenzen von Staatsausgaben und Sanierungsmaßnahmen, in: Festschrift für Reinhard Mußgnug, 2005, S. 149; J. Isensee, Budgetrecht des Parlaments zwischen Schein und Sein, JZ 2005, 971.

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stellt das Budgetrecht ein zentrales Element der demokratischen Willensbildung dar.11 Die Auslegung und Anwendung des Sozialstaatssatzes, wie aller Verfassungsbestimmungen, die ein Staatsziel oder Staatsaufgaben normieren, muss beachten, dass es Funktionsbedingungen und Funktionsgrenzen des gesetzgebenden Parlaments gibt, die zum wesentlichen Teil darin ihren Grund haben, dass politische Entscheidungen im Parteien- und Verbändestaat auf einem Prozess der Auseinandersetzung und Kompromissfindung beruhen. Diesem der Demokratie eigentümlichen politischen Prozess kann die Verfassung durch Staatszielbestimmungen nur in geringem Maß rechtliche – und damit justiziable – Bindungen auferlegen, soweit es um Zeit und normativ fassbaren Inhalt der Verwirklichung geht. In dieser Hinsicht ist die Gesetzgebung eine „beengte“ Funktion.12 Daraus resultiert die Formel von der „weiten Gestaltungsfreiheit“ des Gesetzgebers und tritt damit auch der Unterschied zu Tage, der für die Gewährleistungen und den negatorischen Schutz der Freiheit und der Gleichheit durch die Grundrechte gilt. In der Doktrin der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit kommt die eingeschränkte Justiziabilität der normativen Zielweisung der Verfassung und der mit ihr auch begründeten sozialen Rechte zur Geltung.13 In der Sache findet das soziale Staatsziel seine – stets neu geforderte – Lösung in der juristisch eher fassbaren sozialen Einbindung der wirtschaftlichen Freiheit und des produktiven Eigentums (siehe Art. 14 Abs. 2 GG) zur Sicherung der gerechten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, insbesondere durch den Schutz der Arbeit und ihres Ertrags.14 II. Soziale Teilhaberechte als Gewährleistungen und Direktiven politischer Gestaltung 1. Die Eigentumsgarantie als Grundlage sozialer Sicherheit Das als eine wesentliche Bedingung sozialer Gerechtigkeit eingeforderte Recht auf Arbeit bringt zur Geltung, dass selbstbestimmte Lebensführung und materielle Daseinssicherung verfassungsrechtlich nicht allein dadurch gesichert werden können, dass der öffentlichen Gewalt ein ungemessener „Eingriff“ in einen „staatsfreien“ Raum von Freiheit und Eigentum verwehrt wird. Der für den Sinn und die Tragweite der Eigentumsgarantie (Art. 14 GG) maßgebliche Leitgedanke, die einem Berechtigten zustehenden oder durch eine Leistung erworbenen vermögenswerten 11

BVerfGE 123, 267/359; 129, 124/177 ff.; 130, 318/342 ff.; 132, 195/239; BVerfG Urteil vom 18. März 2014, C.I.2. 12 K. Eichenberger, Gesetzgebung im Rechtsstaat, VVDStRL 40, 1982, S. 7; P. Badura, Sozialstaat (Fn. 1), S. 276 f. 13 Zu der Tragweite der die Justiziabilität materieller Verfassungsnormen bestimmenden juristischen Methode für das Verhältnis von Gesetzgebung und Rechtsprechung, insbes. der Verfassungsgerichtsbarkeit, und der Bindung der Rechtsprechung an Gesetz und Recht: B. Rüthers, Die heimliche Revolution vom Rechtsstaat zum Richterstaat, 2014. 14 Siehe Fn. 4.

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Rechte als Ausdruck privatautonomer Lebensgestaltung und Daseinssicherung zu schützen, muss folgerichtig auch solche Rechtspositionen erfassen, die aus sozialstaatlicher Gestaltung und Förderung in öffentlich-rechtlicher Rechtsform entstammen. Diejenigen subjektiven öffentlichen Rechte sind der Eigentumsgarantie zuzuordnen, „deren Substrat sich als individueller Anteil am Volksvermögen darstellt“. Der Eigentumsschutz derartiger Rechte bleibt bezogen auf die zugrundeliegende eigene Leistung und den eigenen Kapitaleinsatz des Berechtigten und darf nicht die Gesetzgebung weitgehend blockieren und eine Anpassung des Rechts an die Veränderung der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowie an die finanzielle Leistungsfähigkeit des staatlichen Gemeinwesens hintanhalten.15 Mit subjektiver und – als Institutionsgarantie – objektiver Schutzwirkung gewährleistet das Grundrecht das Eigentum als eine Einrichtung der Rechtsordnung, die eine individuelle, privatautonome und privatwirtschaftliche Zuordnung, Nutzung und sonstige Handhabung vermögenswerter Rechte ermöglicht und ordnet. Geschützt werden auch vermögenswerte Rechtspositionen des öffentlichen Rechts, wenn und soweit sie nicht nur auf staatlicher Gewährleistung oder Zuteilung beruhen, sofern das Schutzziel der Eigentumsgarantie nach dem rechtsstaatlichen Grundgedanken der Sicherung von individueller Freiheit und materiellen Vermögensbeständen eine Gleichstellung mit den privatrechtlichen Vermögenswerten verlangt. Sozialrechtliche Rechte genießen nur dann grundrechtlichen Eigentumsschutz, wenn es sich um vermögenswerte Rechtspositionen handelt, die dem Berechtigten nach Art eines Ausschließlichkeitsrechts privatnützig zugeordnet sind, auf nicht unerheblichen Eigenleistungen beruhen und seiner Existenzsicherung dienen. Sozialrechtliche Ansprüche, die überhaupt oder überwiegend auf staatlicher Gewährung beruhen oder die der Staat in Erfüllung seiner Fürsorgepflicht einräumt, sind mangels eigener Leistung des Begünstigten nicht durch die Eigentumsgarantie geschützt. Die Versicherungsverhältnisse der gesetzlichen Rentenversicherung und daraus hervorgehende Anwartschaften und Ansprüche beruhen auf nicht unerheblichen Eigenleistungen der Versicherten und dienen ihrer Existenzsicherung, sind daher also „Eigentum“ im Sinne des Art. 14 GG. Sie beruhen aber von Anbeginn nicht auf dem reinen Versi15

E. Forsthoff, Eigentumsschutz öffentlich-rechtlicher Rechtsstellungen, NJW 1955, 1249/ 1250 f. – G. Dürig, Der Staat und die vermögensrechtlichen öffentlich-rechtlichen Berechtigungen seiner Bürger, in: Festschrift für Apelt, 1958, S. 13/27, 29 f., 41, 52; P. Badura, Eigentumsordnung, in: Festschrift zum 25jährigen Bestehen des Bundessozialgerichts, 1979, S. 673; Ders., Die eigentumsrechtliche Bindung des Gesetzgebers bei der Anpassung der Renten in der Sozialversicherung, SGb 1984, 398; Ders., Staatsrecht, 6. Aufl., 2015, C Rdnr. 84; H. Schneider, Der verfassungsrechtliche Schutz von Anwartschaften und Ansprüchen in der Sozialversicherung, Rechtsgutachten erstattet dem Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Februar 1979 (kritisch); D. Grimm, Eigentumsschutz sozialpolitischer Positionen und rechtlich-politisches System, in: Verfassungsrechtlicher Eigentumsschutz sozialer Rechtspositionen, Schriftenreihe des deutschen Sozialrechtsverbandes, Bd. XXII, 1982, S. 226; H.-J. Papier, Die Differenziertheit sozialrechtlicher Positionen und der Anspruch der Eigentumsgarantie, ebd., S. 193; Ders., Das Rentenversicherungsrecht vor dem Grundgesetz, F.A.Z., 11. Juni 2001, S. 12; Ders., in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14, 2010, Rdnr. 125 ff.; A. Lenze, Staatsbürgerversicherung und Verfassung, 2005.

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cherungsprinzip, sondern wesentlich auch auf dem Gedanken der Solidarität und des sozialen Ausgleichs.16 Demgemäß müssen sie als teilhaberechtlich ausgestaltetes Eigentum angesehen werden.17 Im Hinblick auf die besondere Schutzkraft als Teilhaberecht ist der freiheitsrechtliche Bestandsschutz der Eigentumsgarantie im Sinne eines einer Abwägung des Gesetzgebers unterworfenen Vertrauensschutzes relativiert, soweit der Anteil der staatlichen Förderung oder Gestaltung gemindert oder sonst verändert wird. „Auch soweit Teilhaberechte nicht von vornherein auf das jeweils Vorhandene beschränkt sind, stehen sie doch unter dem Vorbehalt des Möglichen im Sinne dessen, was der Einzelne vernünftigerweise von der Gesellschaft beanspruchen kann“.18 Inhalt und Schranken des eigentumsrechtlichen Teilhaberechts werden durch die Gesetze bestimmt (Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG). Wenngleich die als Eigentum gewährleisteten sozialstaatlichen Rechtspositionen, insbes. die rentenrechtlichen Anwartschaften, nicht den Bestandsschutz privatautonomen Eigentums genießen, so können sie im Rahmen der Abwägung des Gesetzgebers und der Wahrung der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs ein spezifisches Gewicht beanspruchen, das über den allgemeinen rechtsstaatlichen Vertrauensschutz hinausgeht. Der Gesetzgeber hat die grundsätzliche Privatnützigkeit auch dieser Rechte zu beachten und darf sie nicht unverhältnismäßig einschränken.19 Ein ausschlaggebender Maßstab teilhaberechtlicher Gestaltung und Förderung sozialstaatlicher Gesetzgebung ist der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG). Ziel und Tragweite des verfassungsrechtlich zu rechtfertigenden Eingriffs müssen vor der teilhaberechtlichen Garantie Bestand haben. Das Ziel, die Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung zu sichern und damit die Funktions- und Leistungsfähigkeit des Systems der gesetzlichen Rentenversicherung im Interesse aller zu erhalten, zu verbessern und den veränderten wirtschaftlichen Bedingungen anzupassen, kann einen Eingriff rechtfertigen, sofern dessen Verwirklichung erforderlich und geeignet ist und verhältnismäßig erfolgt.20 Der Versicherte trägt zusammen mit den Chancen, welche die gesetzliche Rentenversicherung ihm gibt, auch Risiken. Zu diesen gehören die Veränderungen der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und der Produktivität. Diese innere Grenze sozialstaatlicher Rechtszuordnung bringt die Abhängigkeit der daraus hervorgehenden Rechtspositionen, der durch sie verkürzten Teilhabe, von der veränderbaren wirt16

BVerfGE 53, 257/300 ff. (Versorgungsausgleich). – BVerfG 64, 87 (Anpassung der Bestandsrenten); 92, 365/405 ff. (Arbeitslosengeld); 97, 229 (Hinterbliebenenversorgung); 116, 96 (Rentenanwartschaften auf Grund des Fremdrentengesetzes); 117, 272/283 ff. (Minderung der rentenrechtlichen Bewertung von Anwartschaften); 122,151/180 ff. (Abschläge bei der Altersrente); 128, 138/148 f. (Kürzung bei der Rente wegen Erwerbsminderung); BVerfG DVBl, 2007, 1228 (Maß der Rentenanpassung). 17 D. Grimm, (Fn. 15), S. 233; H.-J. Papier, Differenziertheit (Fn. 15), S. 193. 18 BVerfGE 33, 303/333 (Zulassungsbeschränkungen für das Hochschulstudium, Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG). 19 BVerfGE 117, 272/298 ff.; 128, 138/148 f. 20 BVerfGE 116, 96/125 ff.; 117, 272/293 f.; 122, 151/182 ff.; 128, 138/149; BVerfG DVBl. 2007, 1228/1231.

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schaftlichen Leistungsfähigkeit des Staates und von der gesamtwirtschaftlichen Lage zum Tragen.21 Folgerichtig ist in den bestehenden Anwartschaften des sozialversicherungsrechtlichen Systems von vornherein die Möglichkeit von Änderungen angelegt.22 Der Grundsatz des Vertrauensschutzes und das rechtsstaatliche Kontinuitätsgebot können ggf. den Gesetzgeber zu Überleitungsvorschriften verpflichten, die dem Betroffenen einen zumutbaren, schonenden Rechtsnachteil zufügen.23 Allerdings erlaubt es Art. 14 Abs. 1Satz 1 GG nicht, durch das Grundrecht geschützte Rentenanwartschaften allein auf der Grundlage eines allgemeinen Wunsches einer Sanierung der Staatsfinanzen zu kürzen.24 2. Normative Bindung sozialstaatlicher Gesetzgebung durch Vertrauensschutz, Übermaßverbot und willkürfreie Sachgerechtigkeit Der dem Gesetzgeber aufgegebene soziale Ausgleich im Rahmen von Schutz und Förderung von Arbeit, Gewährleistung sozialer Sicherheit und Wachstumsvorsorge trifft zweifach und zwiespältig auf die grundrechtliche Freiheit. Diese Grundkonstellation ist oben umrissen worden. Unter dem Blickwinkel von Freiheit und Eigentum des Einzelnen erscheint die sozialstaatliche Gestaltung und Intervention als rechtfertigungsbedürftiger Eingriff in privatautonome Rechte. Unter der Perspektive des sozialen Schutzes und Ausgleichs tritt die teilhaberechtliche Ordnung der Rechtszuweisungen zuerst als Grundlage einzufordernder sozialer Rechte, dann im weiteren Verlauf als Entwicklung von auf Vertrauensschutz gegen Veränderungen angewiesenen Ansprüchen und Anwartschaften vor Augen. Für die Garantie der rechtlichen Teilhabe des Einzelnen an dem System des sozialen Ausgleichs gewinnen der rechtsstaatliche Vertrauensschutz25 und der allgemeine Gleichheitssatz in der bei Rechtsänderungen gebotenen Abwägung ausschlaggebendes Gewicht. Als Teilhaberecht gewährleistet die Eigentumsgarantie ein über die allgemeine rechtsstaatliche Rechtssicherheit und Vertrauensgewähr hinausgehendes schutzwürdiges Vertrauen in die Folgerichtigkeit und Systemgerechtigkeit sozialstaatlichen Handelns. Die „Funktion, die dem liberalen Freiheitsbegriff im Ordnungsbewahrstaat des 19. Jahrhunderts zukam, hat im sozialen Rechtsstaat der Gegenwart in hohem Maße der Vertrauensschutzgedanke übernommen“.26 In anderem Zusammenhang gewinnt der Rechtsgedanke der Plangewährleistung eine ver21 BVerfGE 64, 87/105. – D. Murswiek, Grundrechte als Teilhaberechte, soziale Grundrechte, HStR, 3. Aufl., Bd. IX, 2011, § 192, Rdnr. 63 ff. 22 BVerfGE 122, 151/182. 23 BVerfGE 53, 336/351; 128, 138/155. 24 BVerfGE 128, 138/151. 25 F. Ossenbühl, Vertrauensschutz im sozialen Rechtsstaat, DÖV 1972, 25; H. Maurer, Kontinuitätsgewähr und Vertrauensschutz, HStR, 3. Aufl., Bd. IV, 2006, § 79. 26 F. Ossenbühl (FN 25), S. 26; dazu der Hinweis auf RGZ 139, 177 – Förderung des Gefrierfleischimports im Krieg und danach; BVerfGE 30, 393 – Berlinhilfegesetz, dort, S. 30.

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gleichbare Bedeutung.27 In der sozialstaatlich geleiteten Abwägung trifft das Vertrauensschutzgebot auf verfassungsrechtliche Direktiven, die dem Ansteigen der Staatsquote und der damit verbundenen Intensivierung der Steuerlast und der Staatsverschuldung infolge des technologischen und sozialen Fortschritts Maß und Grenze setzen können.28 Das direktive Gebot, die Haushaltsdisziplin einzuhalten und in diesem Rahmen den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen (Art. 109 Abs. 2 GG) und die jetzt striktere Begrenzung der Staatsverschuldung (Art. 109 Abs. 3, Art. 115 Abs. 2 GG) legen das Prinzip finanzrechtlicher Grenzen und Bindungen sozialstaatlicher Aufgabenerfüllung offen.29 „Das Sozialstaatsprinzip ist als prozessualer Konkretisierungsauftrag in die Zukunft gerichtet, lässt sich also nicht als Bestandsgarantie eines bestehenden gesellschaftlichen oder sozialen Status quo verkürzen“.30 Die dem Budgetrecht des Parlaments anvertraute finanzielle Leistungsfähigkeit des Staates schließt eine Zukunftsorientiertheit ein. Der auf Rechtssicherheit und Kontinuität setzende Vertrauensschutz ist, je nach dem gesetzlich bestimmten Inhalt und den Schranken betroffener sozialer Zuwendungen, auch ein tragender Bestandteil des Sozialstaates selbst. Im Ganzen ist die zeit- und umständebedingte Relativität sozialstaatlicher Rechtspositionen ein Gebot wirtschaftspolitischer Vernunft und finanzverfassungsrechtlicher Reglementierung wohlfahrtsstaatlicher Ausgabenwirtschaft, im Grunde aber ein Ausdruck der in der demokratisch verfassten Gesellschaft herrschenden Solidarität, nicht zuletzt der dazu zu rechnenden Generationengerechtigkeit.31 Eine ausnahmslose zeitliche und sachliche Kontinuität des je geltenden Rechts würde zu dem Wesen der Gesetzgebung in der wohlfahrtstaatlichen Demokratie in Widerspruch treten. Der Vertrauensschutz in sozialpolitische und wirtschaftsfördernde Zuwendungen oder vorteilhafte Gestaltungen der maßgeblichen rechtlichen Bedingungen ist differenzierender Begrenzung unterworfen. Der Berechtigte muss damit rechnen, dass grundlegende Änderungen in den allgemeinen Rahmenbedingungen nicht unberücksichtigt bleiben. Bei der Entscheidung über die Frage, ob im Einzelfall der Berechtigte im Vertrauen auf den Bestand einer bestimmten gesetzlichen Regelung eine Rücksichtnahme durch den Gesetzgeber billigerweise erwarten darf, ist zwischen dem Ausmaß des Vertrauensschadens einerseits und der Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegen für das Wohl der Allgemeinheit andererseits abzu27

P. Badura, Vorhabenplanung im Rechtsstaat, in: Festschrift für Werner Hoppe, 2000, S. 167; F. Ossenbühl / M. Cornils, Staatshaftungsrecht, 6. Aufl., 2013, S. 422 ff. 28 H.-J. Papier, Besteuerung und Eigentum, DVBl. 1980, 787. 29 Chr. Starck, Staatliche Organisation und staatliche Finanzierung als Hilfen zur Grundrechtsverwirklichung? In: Ders. (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, 1976, 2. Bd., S. 480; R. Scholz, Sozialstaat zwischen Wachstums- und Rezessionsgesellschaft, 1981, S. 9 ff., 28 ff.; P. Badura, Talfahrt (Fn. 10), S. 156 ff.; Ders., Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftsverwaltung, 4. Aufl., 2011, Rdnr. 71 ff. 30 R. Scholz, Sozialstaat (Fn. 29), S. 32. 31 R. Scholz, Solidarität – ein Rechtsprinzip? AöR Beiheft 2014, S. 1.

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wägen. Nur wenn das Vertrauen auf die Fortgeltung der bestehenden Rechtslage den Vorrang verdient, ist die Regelung unzulässig.32 3. Schluss Die Wahrnehmung der sozialen Staatsaufgabe durch die dem Gesetzgeber obliegende Gewährleistung sozialer Sicherheit und sozialen Ausgleichs, durch Förderung und Schutz von Arbeit und Vorsorge für die Grundlagen und Bedingungen wirtschaftlichen Wachstums ist abhängig von der Leistungsfähigkeit der öffentlichen Finanzwirtschaft und letzten Endes von den Gegebenheiten der Prosperität und der Produktivität der Wirtschaft. Das Verfassungsrecht und die verfassungsrechtliche Dogmatik des Wohlfahrtsstaates – enger gefasst: des sozialen Rechtsstaates – gehen nicht in der maßstabslosen Opportunität politischer Gestaltung auf und folgen nicht ohne weiteres politischen Ideen sozialer Gerechtigkeit, können aber auch nicht schlechthin aus den Prämissen der Garantie von Freiheit, Eigentum und Sicherheit abgeleitet werden, die für die Verfassung des liberalen Rechtsstaates kennzeichnend sind und die ja nach wie vor in den das staatliche Handeln bindenden Grundrechten fortdauern. Diese Besonderheit tritt beherrschend in der Tragweite des rechtsstaatlichen Vertrauensschutzes in der substantiell differenzierten Gestalt der sozialen Teilhaberechte und Rechtszuweisungen in Erscheinung. Sie kommt insgesamt in der Ordnung und Entwicklung des vielgestaltigen Systems der sozialen Sicherheit und des sozialen Ausgleichs zur Geltung, soweit dessen Stabilisierung und die Stabilität der öffentlichen Finanzwirtschaft betroffen sind. Die Stabilität der öffentlichen Finanzen und die Ordnung des Systems sozialer Sicherung zählen zu den verfassungsrechtlich anerkannten und mit hohem Gewicht ausgezeichneten Allgemeininteressen.33 In der notwendigen Abwägung auf der Grundlage der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit bilden der allgemeine Gleichheitssatz und das darin einbegriffene Gebot willkürfreier Sachgerechtigkeit und Folgerichtigkeit für Art und Maß des zu berücksichtigenden Vertrauensschutzes eine wesentliche Richtschnur.

32 Vgl. BVerfGE 30, 392/402 ff. – Berlinhilfegesetz; 67, 1/14 f. – Herabsetzung des beamtenrechtlichen Emeritierungsalters; 72, 175/196 – Zinsen für Darlehen aus Wohnungsfürsorgemitteln; 78, 249/284 – Abbau der Fehlbelegungssubventionierung in Wohnungswesen. 33 Vgl. BVerfGE 64, 87/106 – Anpassung der Bestandsrenten; 75, 78/98 – verschärfte Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug von Renten wegen Berufs- und Erwerbsunfähigkeit; 97, 271/286 – Anrechnung von Erwerbs- und Erwerbsersatzeinkommen auf die Hinterbliebenenrente; 105, 17/36 f., 40 – Abbau einer Steuersubvention; 105, 48/57 – Anrechnung von Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung auf Renten der gesetzlichen Rentenversicherung.

Eine Zensur findet nicht statt1 Von Herbert Bethge, Passau 1. a) Kein Zweifel: Der Begriff „Zensur“ ist alles andere als ein verbaler Sympathieträger. Er ist heutzutage im allgemeinen Sprachgebrauch und im juristischen Verständnis ganz überwiegend negativ besetzt. Er suggeriert nicht nur lästige Kontrolle und Kuratel. Er steht für staatliche Reglementierung, Repression und Reaktion. Assoziationen mit dem Instrumentarium eines vordemokratischen Obrigkeitsstaates liegen nahe. Der literaturbeflissene Bildungsbürger wird mit wohligem Schauern an Figuren wie Fouché oder Metternich denken. Doch muss man in der Retrospektive nicht erst auf fremde oder benachbarte Kulturkreise zurückgreifen. Zwar verdammte Hermann Kunz, ein Demokrat des Vormärz, 1845 in seiner Streitschrift „Das freye Wort“ die Zensur auch mit der Begründung, dass sie schon im Wort fremdländisch und undeutsch daher komme.2 Doch wurde (und blieb) Zensur auch ein deutsches Phänomen, mit dem schon die Demagogenverfolgung zu tun hatte. Nicht von ungefähr sprachen sich frühe Länderverfassungen3, später die Weimarer Reichsverfassung (Art. 118 Abs. 2 Satz 1) gegen die Zensur aus. Nach zwei menschenverachtenden Diktaturen auf deutschem Boden nimmt sich der patriotische Hinweis des oben zitierten vormärzlichen Streiters für die „Preßfreiheit“ auf einen exotischen Ursprung der Zensur nur noch als anrührende Reminiszenz aus. Überhaupt besteht für nur nostalgische Rückbesinnungen aus einer heilen Welt heraus kein Anlass. So heil ist die Welt nicht. Zensur ist heute charakteristisch für Diktaturen; sie ist von daher ein aktuelles globales Problem der Reichweite der Menschenrechte4. Die Zahl der Staaten, in denen die Entscheidung gegen die Zensur mehr ist als nur ein Lippenbekenntnis, ist überschaubar. Deutschland rechnet zu ihnen. Der grundrechtsgeprägte Verfassungsstaat des Grundgesetzes kann mit Zensur nichts im Sinne haben. Die lakonische Formulierung in Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG „Eine Zen1

Der Bitte, an der Festschrift für Rudolf Wendt mitzuwirken, bin ich gern gefolgt. Die Stern-Habilitanden der Siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts verband ein ausgesprochen freundschaftliches Verhältnis zu den Friauf-Schülern dieser goldenen Zeit an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln. 2 Lesefrucht aus der Rezension von Gerhard Stadelmaier in der FAZ vom 30. 11. 2013, Seite L 4, über das Buch von Hermann Kunz, „Das freye Wort“. Eine demokratische Streitschrift, Verlag Klöpfer & Meyer, 2013. 3 Art. 27 Abs. 2 der Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat vom 31. Januar 1850. 4 Zur Unschädlichkeit des Verzichts neuerer Menschenrechts- oder Grundrechtskodifikationen auf eine gesonderte Statuierung eines Zensurverbots siehe Jestaedt, HGR IV, 2011, § 102 Rdn. 94 Fn. 444.

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sur findet nicht statt“ ist denn auch die logische Konsequenz. Die verbale Aussage ist eindeutig. Die Zensur ist schon vom Verfassungsrecht her verboten5. Es handelt sich um einen strikten Verfassungsbefehl, der kategorische Befolgung fordert6. Die Freiheitsrechte und die sie stützenden Komplementärgarantien sind aktuelles, d. h. unmittelbar verbindliches Recht. Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG ist zwar kein eigenständiges Grundrecht, wohl aber als Schranken-Schranke (Eingriffskautele7) eine grundrechtsaffine Gewährleistung. Das Zensurverbot ist kein bloßer Programmsatz. Es handelt sich auch nicht nur um eine objektive Schutzpflicht, die erst der Mediatisierung durch den einfachen Gesetzgeber bedürfte. Das Verdikt wirkt inhaltlich absolut. Es ist abwägungsresistent; es kann nicht durch Gegenrechte relativiert werden. b) Nach allem muss das Zensurverbot als Proklamation der Freiheit des Wortes und des Geistes ernst genommen werden. Auch ihm eignet jene schlechthin konstituierende Bedeutung für die freiheitlich-demokratische Grundordnung, von der im Lüth-Urteil die Rede ist8. Gleichwohl leidet die auf die Kommunikationsgrundrechte ausgerichtete Maxime an einer eigentümlichen Schwäche. Sie wird in der politischen, zum Teil sogar in der juristischen Diskussion nicht selten falsch eingesetzt. Vieles, was mit dem Vorwurf bzw. kritischen Vorhalt einer – natürlich dann unzulässigen – Zensur bedacht wird, ist es bei nüchterner Analyse gar nicht. Die scheinbar klare Aussage erweist sich bei näherem Zusehen für den primären Destinatär von Freiheitsrechten – das ist der Bürger – als kurz und dunkel. Derartige Missverständnis-Anfälligkeiten bei prägnant, ja schmissig anmutenden Verfassungsbestimmungen sind nicht selten. Sie kommen sogar im mehr auf Rigidität angelegten Staatsorganisationsrecht vor9: Es ist Aufgabe des Juristen, die notwendige rechtliche Aufbereitung – neudeutsch Operationalisierung – vorzunehmen. Der Befund ist ernüchternd. Nicht alles, was unangemessen, ja was grundrechtswidrig ist, kann als Verstoß gegen das Zensurverbot ausgegeben werden. 2. Das Zensurverbot des Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG muss gegenüber laienhaften resp. ausufernden Wunschvorstellungen auf das Verbot thematisch bestimmter Einschränkungsmöglichkeiten zurechtgerückt werden10. a) In Rede steht keine allgemeine, übergreifende Erstreckungsgarantie der Grundrechtssicherung, wie sie Art. 19 Abs. 1 und 2 GG für alle Grundrechte ins Auge fasst11. Systematisch ist die Bestimmung auf die Meinungsfreiheit und die anderen 5

Schmidt-Jortzig, HStR VII, 3. Aufl., 2009, § 162 Rdn. 55 m.w.N. Paul Kirchhof, HStR II, 3. Aufl., 2004, § 20 Rdn. 47. 7 Dazu Christiane Gucht, Das Zensurverbot im Gefüge der grundrechtlichen Eingriffskautelen, 2000, S. 38 f.; Bethge, HStR IX, 3. Aufl., 2011, § 203 Rdn. 204. 8 BVerfGE 7, 198 (208); dazu Bethge, Festschrift für Paul Kirchhof, 2013, S. 537. 9 Zu Art. 31 GG („Bundesrecht bricht Landesrecht“) siehe März, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck (Hrsg.), GG II, 6. Aufl., 2010, Art. 31 Rdn. 2. 10 Siehe auch Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 Abs. I, II 1,2 Rdn. 1. 11 Zum Allgemeinheits- und Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 als Regelung des „Allgemeinen Teils“ der Grundrechte P. M. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, 6. Aufl., 6

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Kommunikationsgrundrechte (Medienfreiheiten) des Art. 5 Abs. 1 GG konzentriert; eingeschlossen also die Informationsfreiheit12. Eine Übertragung auf die Grundrechte der Kunst- und Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG) liegt angesichts des Quantums Meinungsfreiheit, das in beiden Werkbereichen steckt, nahe13 (auch wenn im übrigen Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG als lex generalis hinter Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG zurücktritt14. Anders mag es bei Art. 8 GG, obwohl er immerhin auch ein kommunikationsgeprägtes Grundrecht darstellt15, liegen16. b) Verbotene Zensur im Sinne des Art. 5 Abs. 1 Satz 3 ist nur die inhaltsbezogene Vor- und Präventivzensur. Angesprochen sind „einschränkende Maßnahmen vor der Herstellung oder Verbreitung eines Geisteswerkes, insbesondere das Abhängigmachen von behördlicher Vorprüfung und Genehmigung seines Inhalts (Verbot mit Erlaubnisvorbehalt)“17. Als unzulässiger Akt einer formellen Vorzensur gelten auch spezielle Zulassungserfordernisse für berufliche Pressetätigkeit, wenn die maßgeblichen Normen sich mittelbar auf den Inhalt des zu verbreitenden Druckwerks beziehen18. Denn dann laufen sie indirekt auf eine Art. vorbeugender Zensur hinaus19. c) Nachträgliche Sanktionen des Staates gegen Geisteswerke sind demgegenüber kein Fall des Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG. Die Regelung stellt die Kommunikationsfreiheiten nicht von der Bindung an die allgemeine Rechtsordnung frei. Diese Verpflichtung wird durch die Schrankentrias des Art. 5 Abs. 2 GG, namentlich durch die Schranke der allgemeinen Gesetze realisiert20. Die darauf zulässigerweise gestützten Kontroll- und Repressivmaßnahmen würden gegenstandslos21, wenn das Zensurverbot auch die Nachzensur22, also Sanktionen untersagte, die erst nach der Veröffentlichung eines Geisteswerkes einsetzen. Das absolute Zensurverbot des Art. 5 Abs. 1 Satz 3 besagt nur, dass Präventivmaßnahmen gegen Meinungsäußerungen wie überhaupt Geisteswerke auch dann grundrechtswidrig sind, wenn die Kundgaben bei nä2010, Art. 19 Abs. 1 Rdn. 65. Zu Art. 19 Abs. 2 (Wesensgehaltsgarantie) als allgemeine Grundrechtsschranke ders., a.a.O, Art. 19 Abs. 2 Rdn. 109. 12 Zutreffend Schmidt-Jortzig, HStR VII, 3. Aufl., 2009, § 167 Rdn. 56, gegen BVerfGE 27, 88 (102). 13 Bethge, in: Sachs (Hrsg.), GG, 7. Aufl., 2014, Art. 5 Rdn. 129. 14 Hufen, HGR V, 2011, § 101 Rdn. 64. 15 Kloepfer, HStR VII, 3. Aufl., 2009, § 164 Rdn. 120; siehe allerdings BVerfGE 90, 214 (251). 16 Bestr.; ablehnend Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG I, 2. Aufl., 2014, Art. 5 I, II Rdn. 173. 17 So im Anschluss an den „leading case“ in BVerfGE 33, 52 (72) und stellvertretend für die h. M. R. Wendt, in: v. Münch/Kunig, GGK I, 6. Aufl., 2012, Art. 5 Rdn. 62; siehe auch BVerfGE 87, 209 (230). 18 BVerfGE 87, 209 (232 f.). 19 Bullinger, HStR VII, 3. Aufl., 2009, § 163 Rdn. 25. 20 BVerfGE 35, 202 (222 f.). 21 BVerfGE 33, 52 (72); Murad Erdemir, Filmzensur und Filmverbot, 2000, S. 44 m.w.N. 22 Dazu Franz Rohde, Die Nachzensur in Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG – ein Beitrag zu einem einheitlichen Zensurverbot, 1997.

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herer Prüfung inhaltlich nicht mit dem Art. 5 Abs. 2 GG übereinstimmen. Das Zensurverbot befreit dagegen den Destinatär nicht vom Risiko einer nachträglichen Sanktionierung seiner Rechtsbindung auf der Grundlage des Art. 5 Abs. 2 GG23. Umgekehrt kann die absolute Schranke des Verbots der Vorzensur nicht unter Berufung auf den Schrankenvorbehalt des Art. 5 Abs. 2 ausgehebelt werden24. 3. Das Zensurverbot ist ausschließlich staatsgerichtet25. Pflichtiger Adressat ist allein die staatliche Gewalt26. Das veranlasst zu prinzipiellen Abgrenzungen in zwei Richtungen. a) Art. 5 Abs. 1 Satz 3 moderiert allein die staatlich verantwortete Grundrechtsbeschränkung. Er gilt nicht zwischen privaten Rechtssubjekten. Die Vorschrift ist kein Thema der Privatrechtswirkung der Grundrechte27 (in früheren Begriffskategorien: der Drittwirkung der Grundrechte); dies auch deshalb nicht, weil das Zensurverbot kein eigenständiges Grundrecht darstellt. Zudem erfährt die Meinungsfreiheit über das Schrankenregime des Art. 5 Abs. 2 GG im Verein mit dem Wechselwirkungsgrundsatz als Variante des Verhältnismäßigkeitsprinzips, also einer anderen Schranken-Schranke, adaequaten verfassungsrechtlichen Schutz. Ergebnis: Auf andere als staatliche Machtfaktoren ist der Ausschluss von Vorzensur nicht übertragbar. Exemplarische Konsequenz: Das Herausfräsen eines bereits gesetzten Zeitungsartikels durch gewerkschaftlich organisierte Drucker vor dem Ausdruck der Zeitung ist keine Zensur im Sinne des Art. 5 Abs. 1 Satz 328. aa) Der Konflikt bleibt auch dann privatrechtlicher, also Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG nicht berührender Natur, wenn staatliche Gerichte eingeschaltet werden, die eine künftige Meinungsäußerung untersagen29. Zwar liegt ein staatlicher Rechtsprechungsakt vor, der gezielte präventive Wirkung hat. Doch ist für die Nichteinschlägigkeit des Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG entscheidend, dass der Staat ausschließlich zur justiziellen Sicherung nichtstaatlicher Rechte tätig wird30. So hält es auch das Bundesverfassungsgericht: Auf Klagen Privater hin erfolgende Eingriffe in die Kunstfreiheit stellen sich nicht als Eingriffe in die Kunstfreiheit dar31.

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Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, 6. Aufl., 2010, Art. 5 Rdn. 172. Schemmer, in: Epping/Hillgruber, GG, 2009, Art. 5 Abs. 1, 2 Rdn. 115. 25 Degenhart, Bonner Kommentar, Art. 5 Abs. 1 und 2 Rdn. 925; Wendt, a.a.O, Art. 5 Rdn. 64; Jestaedt, HGR IV, 2009, S. 102 Rdn. 95; Jarass/Pieroth, GG, 12. Aufl., 2012, Art. 5 Rdn. 63. 26 Schemmer, a.a.O, Art. 5 Abs. 1, 2 Rdn. 117. 27 Dazu allgemein Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001; Badura, Staatsrecht, 5. Aufl., 2012, C 22 f.; Bethge, Festschrift für Paul Kirchhof, 2013, S. 543. 28 So Wendt, a.a.O, Art. 5 Rdn. 64 mit Fn. 479, gegen Hoffmann-Riem. 29 Jarass/Pieroth, a.a.O, Art. 5 Rdn. 64. 30 Siehe auch Schulze-Fielitz, in: Dreier GG I, 2. Aufl., 2004, Art. 5 I, II Rdn. 175. 31 BVerfGE 119, 1 (23). 24

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bb) Wie verhält es sich mit anderen privaten Aktionen, die auf eine vorbeugende Inhaltskontrolle (auch medialer) Meinungskundgaben hinauslaufen? Die zumal freiwillige Presseselbstkontrolle ist kein Fall staatlicher Vorzensur, sondern reine Selbstregulierung staatsentlastender Natur32. Die Selbstzensur gar mag bei feuilletonistischer oder puristischer Sichtweise als schlimmste Form der Vorzensur gelten. Juristisch liegt allenfalls ein Fall des Grundrechtsausübungsverzichts, vielleicht auch eine Art (negativer) Verfassungserwartung vor; es sei denn, die Kommunikationsabstinenz beruht nicht auf privater Repression, sondern ist in Wahrheit staatlich erzwungen; dann stellt sich schon die Frage einer faktischen eingriffsgleichen Vorzensur, deren Kompatibilität mit dem Verbot des Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG umstritten ist33. Ähnlich liegt es bei der „Schere im Kopf“ des Medienschaffenden, der sich der verhaltenssteuernden Wirkung eines Mediengesetzes ausgeliefert sieht34. cc) Eine moderne Variante der Selbstzensur (Schere im Kopf) stellt der Tugendterror der political correctness dar. Das Phänomen wird nicht allein im kulturellen und politischen Feuilleton eher unterkühlt behandelt. Die Beobachtung macht frösteln, dass die Metastasen dieser freiheitszersetzenden Seuche35 augenscheinlich auch das schweigende juristische Schrifttum erreicht haben36. Political correctness führt dazu, dass selbsternannte Sprachwächter den Korridor abstecken, innerhalb dessen öffentliche Diskurse stattzufinden haben37. Political correctness läuft auf Denk- und Meinungsverbote hinaus. Sie bedeutet Tabuisierung von Unliebsamem und Nichtopportunem; sie fordert Denken in Schablonen und Standards; sie dringt auf Verbleiben im mainstream; sie befördert Querdenker und Zweifler zum outlaw, die des grundrechtlichen Schutzes nicht mehr würdig sind. Der freiheitsrechtliche Gewährleistungsbereich wird nicht vom Staat, sondern entweder von einer opinio communis oder von Meinungskartellen kupiert. Die Meinungsfreiheit der Person gilt nur noch nach Maßgabe fremddefinierter Belange. Sie ist Zensur von unten; ein Missstand, gegen den die Bestimmung des Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG selbst nicht aktiviert werden kann. Für Remedur kann nur der freiheitliche Kommunikationsprozess selbst sorgen.

32 Schwetzler, Persönlichkeitsschutz durch Presseselbstkontrolle. Unter besonderer Berücksichtigung des Ehrenschutzes, 2005, S. 212, 230. 33 Dazu Wendt, a.a.O, Art. 5 Rdn. 64; Hoffmann-Riem, Kommunikationsfreiheiten, 2002, S. 143 f. 34 Vgl. zu einer mittlerweile zurückgenommenen Verschärfung des Gegendarstellungsrechts durch Verbot des sog. Redaktionsschwanzes (Glossierungsverbot) im saarländischen Pressegesetz BVerfGE 97, 157 ff. Die seinerzeitige gesetzesunmittelbare Verfassungsbeschwerde scheiterte am Grundsatz der Subsidiarität, weil Rechtsschutz auch durch die Fachgerichte zumutbar sei. 35 So Schmitt Glaeser, HStR III, 3. Aufl., 2005, § 38 Rdn. 57. 36 Bethge, HStR IX, 3. Aufl., 2011, § 203 Rdn. 87; Ingo v. Münch, Recht und Politik, 2014, S. 56. 37 Müller-Franken, Meinungsfreiheit im freiheitlichen Staat, 2013, S. 60 f.

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b) Das Zensurverbot betrifft nur staatliche Maßnahmen sowie Maßnahmen von anderen Trägern öffentlicher Gewalt, die vom Staat abhängig sind38. aa) In Pflicht genommen ist nicht nur die Exekutive; auch der parlamentarische Gesetzgeber kommt in Frage; schließlich ist auch die Rechtsprechung nicht über jeden vorzensurrelevanten Zweifel erhaben. Das Zensurverbot modifiziert in besonderer Weise die Grundrechtsbindung des Art. 1 Abs. 3 GG, die alle staatlichen Funktionen trifft. Als staatliche Verwaltungsträger sind nicht nur öffentlich-rechtlich strukturierte Akteure angesprochen. Die unmittelbare Grundrechtsbindung des Art. 1 Abs. 3 GG betrifft nicht nur öffentliche Unternehmen in Privatrechtsform, die vollständig im Eigentum der öffentlichen Hand stehen, sondern auch gemischtwirtschaftliche Unternehmen, wenn diese von der öffentlichen Hand beherrscht werden39. Überträgt man die Grundsätze auf Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG, ist diese Variante von Grundrechtsbindung unabhängig von der öffentlich-rechtlichen Organisationsform des Verwaltungsträgers einschlägig. Entscheidend ist, ob die dahinter stehende öffentliche Hand (der Staat) präventiven öffentlichen Einfluss zu nehmen versucht. bb) Als Staat figuriert auch die mittelbare Staatsverwaltung, als deren Prototyp die Kommunalkörperschaften40 gelten. Nicht jede juristische Person des öffentlichen Rechts erfüllt freilich die Voraussetzungen des nicht sonderlich konturenscharfen Arbeitsbegriffs der mittelbaren Staatsverwaltung41. Klassisches Gegenbeispiel sind immer noch die mit dem „rätselhaften Ehrentitel“42 der Körperschaft öffentlichen Rechts ausstaffierten Religionsgesellschaften (Art. 140 GG i.V. mit Art. 137 Abs. 5 WRV). Originalton Bundesverfassungsgericht: „Die korporierten Religionsgemeinschaften im religiös-weltanschaulich neutralen Staat des Grundgesetzes, der keine Staatskirche oder Staatsreligion kennt (Art. 140 GG i.V. mit Art. 137 Abs. 1 WRV), unterscheidet sich grundlegend von den Körperschaften des öffentlichen Rechts im verwaltungs- und organisationsrechtlichen Verständnis. Sie nehmen keine Staatsaufgaben wahr, sind nicht in die Staatsorganisation eingebunden und unterliegen keiner staatlichen Aufsicht“43. Konsequenz für Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG: Repressionen öffentlich-rechtlicher Religionsgesellschaften gegenüber ihren Bediensteten, z. B. die Verweigerung der Druckerlaubnis durch Vorenthaltung des nihil obstat, unterfallen nicht dem Verbot des Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG. Auch der öffentlich-rechtliche Körperschaftsstatus befördert (oder degradiert) sie nicht zur mittelbaren Staatsverwaltung44.

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Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, 6. Aufl., 2010, Art. 5 Rdn. 175. BVerfGE 128, 226 (244 ff.); siehe auch BVerfGE 131, 66 (78 f.). 40 Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Aufl., 2011, § 23 Rdn. 1 ff. 41 Krebs, HStR V, 3. Aufl., 2007, § 108 Rdn. 24. 42 Smend, ZevKR Bd. 1 (1951), S. 9. 43 BVerfGE 102, 370 (387 f.); siehe auch Korioth, HGR IV, 2011, § 97 Rdn. 48. 44 Meyer-Teschendorf, AöR Bd. 103 (1978), S. 296; Mückl, HStR VII, 3. Aufl., 2009, § 159 Rdn. 193. 39

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cc) Weitere Beispiele für juristische Personen des öffentlich-rechtlichen Rechts, deren Aktivitäten ausnahmsweise nicht dem Zensurverbot unterfallen, hält das Medienverwaltungsrecht selbst parat. Paradigmatisch hierfür ist die Stellung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt, für die das Verfassungsgebot der Staatsfreiheit oder Staatsferne45 streitet und die darum auch nicht zur mittelbaren Staatsverwaltung gehört46. Anstaltsinterne Kontrollmechanismen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk sind keine Zensurmaßnahmen, die Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG verpönt. Die Herausnahme bzw. Nichtabnahme von geplanten Sendungen durch den Intendanten sind von dessen Programmverantwortung und Leitungsgewalt legitimiert47. Kurzschlüssig ist es indessen, die präventive Programmkontrolle innerhalb der öffentlich-rechtlichen Anstalt (also nicht durch den rechtsaufsichtsführenden Staat!) mit dem Argument zu rechtfertigen, diese interne Kontrolle sei zwar auch der Staatsgewalt zuzuordnen, sie diene aber der Sicherung der Ausgewogenheit. Wer so argumentiert, begibt sich auf die schiefe Ebene der Güterabwägung. Das zwingende Verbot der staatlichen Vorzensur kann nicht durch einen angeblich höherrangigen Verfassungswert außer Kraft gesetzt werden. Weder Gemeinwohl noch Staatsraison vermögen dieses Fundamentalprinzip zu relativieren. Es wirkt absolut. Bei den Regulierungsmaßnahmen der dem Staat nicht gleichzuordnenden öffentlich-rechtlichen Landesmedienanstalten gegenüber privaten Rundfunkveranstaltern ergeben sich ähnliche Argumentationsnöte48. 4. Das Zensurverbot ist ähnlich den Freiheitsrechten keine historische Momentaufnahme. Die grundrechtsbegleitende Kautele ist entwicklungsoffen. Sie hat auf neue Gefährdungslagen zu reagieren. Verfassungsauslegung hat dynamisch, nicht statisch stattzufinden. Die Herausforderungen an eine zeitgerechte Aufbereitung des Zensurverbots sind zahlreich. Die Antwort muss sich am systematischen Regelungsprogramm des Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG orientieren. Auch hier muss die Spreu vom Weizen getrennt werden. Drei Beispiele: a) Eher kurios nimmt sich die auf Verfassungsbeschwerden gemünzte Einschätzung aus, die Missbrauchsgebühr nach § 34 Abs. 2 BVerfGG wirke sich gegenüber dem Verfahrensbevollmächtigten des Beschwerdeführers als Zensur aus. Dieser Effekt werde dadurch verstärkt, dass die Kammern den Beschwerdeführer in ihrer Entscheidung ausdrücklich darauf hinweisen, es bleibe ihm unbenommen, bei seinem Verfahrensbevollmächtigten wegen der Missbrauchsgebühr Regress zu nehmen.49 Diese Sicht ist nicht überzeugend. Man kann darüber streiten, ob die Auferlegung der Missbrauchsgebühr auch gegenüber dem Verfahrensbevollmächtigten – immer45

Seit BVerfGE 31, 314 (329) st. Rspr. Siehe auch BVerfGE 121, 30 (52 f.); Krebs, HStR V, 3. Aufl., 2007, § 108 Rdn. 24. 46 BVerwGE 70, 310 (316); 85, 148 (154); verfehlt BGHSt NJW 2010, 787. 47 Schulze-Fielitz, in: Dreier I, GG, Art. 5 I, II Rdn. 174. 48 Siehe auch Bethge, Der verfassungsrechtliche Status der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien (BLM), BLM-Schriftenreihe Bd. 95, 2011, S. 78 Fn. 255. 49 Zuck, Das Recht der Verfassungsbeschwerde, 4. Aufl., 2013, Rdn. 217.

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hin meist ein Organ der Rechtspflege – die weidlich strapazierten Substantiierungslasten der §§ 23, 92 BVerfGG um eine weitere Zulässigkeitshürde anhebt50. Das Zensurverbot des Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG wird von der Frivolitätsgebühr nicht tangiert51. Denn die Sanktion wird nachträglich verhängt. Allein die vorsorgliche Inaussichtstellung hat noch nicht den einer Staatszensur eigenen präventiven Effekt. b) Ein aktuelles Problem besonderer Art liefert die digitale Revolution, die die technische Verbreitung auch extrem sozialschädlicher und die Menschenwürde anderer im Kern verletzender Aktivitäten (Kinderprostitution, Menschenhandel, Kannibalismus) begünstigt. Wie weit und vor allem wann sind staatliche Sanktionen möglich? aa) Das Problem ist nicht das nachträgliche Einschreiten des Staates. Wenn man die meist strafrechtlich bewehrten Reglementierungen des Staates überhaupt unter Zensurgesichtspunkten zu würdigen versucht, handelt es sich um repressive, nicht präventive Maßnahmen. Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG, der nur die Vorzensur erfasst, ist nicht einschlägig. Aber sind nicht doch wegen der Schwere der menschenverachtenden Aktivitäten ausnahmsweise vorbeugende Schritte seitens der deutschen Staatsgewalt zulässig? Die Abwägungsresistenz des Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG lässt solche Exemtionen nicht zu. Die Berufung auf Art. 5 Abs. 2 GG, auf die Strafbewehrung also, hilft nicht weiter. Würde man nur für die berühmte logische Sekunde den Tatbestand eines Grundrechts bejahen, würde Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG zum Einsatz kommen. bb) Ertragversprechend ist ein anderes Argument: Das Zensurverbot ist kein eigenständiges Freiheitsrecht. Als grundrechtsstützende Vorkehrung (Begleitgarantie) ist es akzessorisch. Es ist funktional auf grundrechtlich geschützte Freiheitsnormen, vornehmlich des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 GG bezogen. Es kann folglich dann nicht greifen, wenn sich die staatliche Reglementierung auf einen von vornherein vom Gewährleistungsbereich eines Grundrechts nicht erfassten und daher auch nicht grundrechtlich schützenswerten Raum bezieht. So liegen die Dinge bei der Darstellung von Kinderpornographie und Kinderprostitution. Sie fällt als extrem sozialschädliche und verabscheuungswürdige Aktivität aus dem Schutzbereich jedes Freiheitsrechts – notabene auch aus dem Auffanggrundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG – heraus52. Auch präventive Reglementierungen des Staates sind dann kein Fall des Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG53.

50 Zu anderen berechtigten Bedenken Lenz/Hansel, BVerfGG, 2013, § 34 Rdn. 21 f.; § 93a Rdn. 22. 51 Bethge, DVBl. 2014, 432. 52 Siehe dazu BVerfGE 115, 276 (301); 117, 126 (137); Merten, Festschrift für Roman Herzog, 2009, S. 291; Hillgruber, Festschrift für Josef Isensee, 2007, S. 56 f. 53 Bethge, Festschrift für Klaus Stern, 2012, S. 310 f.; ders., HStR IX, 3. Aufl., 2011, § 203 Rdn. 203 f.

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c) Eine andere digitale Konfliktlage findet sich in der Diskussion über die „Zensur durch soziale Netzwerke“54. Der prekäre Fall: Der Meinungsbeitrag eines Zeitgenossen wird vom sozialen Netzwerk eliminiert. Auch hier stellt sich die Frage, ob dies eine Konstellation betrifft, die eine zeitgerechte Handhabung des Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG im kritischen Visier haben muss. Da bestehen Zweifel. Die über die Reichweite der Meinungsfreiheit streitenden Akteure bewegen sich durchweg im privatrechtlichen Bereich; der Staat ist nur als potentieller Konfliktschlichter aufgerufen. Die Vorstellung schließlich, das zensurverdächtige „digitale Hausrecht“ des Seitenbetreibers betreffe den öffentlichen Raum, den das Internet auslöse und dies löse die Grundrechtsbindung aus, die das Bundesverfassungsgericht in der fraport-AG-Entscheidung55 dem privatrechtsförmlich strukturierten Unternehmen auferlegt hat, übersieht ein wichtiges Kriterium: Die fraport-AG war ein staatlich beherrschtes Unternehmen. Dessen Grundrechtsbindung aus Art. 1 Abs. 3 GG betraf einen Fall der grundrechtlichen Fiskalbindung der öffentlichen Hand. Es handelte sich gerade nicht um einen Fall der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte zwischen privaten Rechtssubjekten. Das führt zu einer Anschlussfrage: Sind die sozialen Netzwerke jenen staatsähnlichen Sozialmächten vergleichbar, wie sie wegen ihrer monopolartigen Machtposition zu Anfang der Drittwirkungsdebatte der unmittelbaren Grundrechtsbindung unterworfen wurden? Diese grundlegenden Dimensionen der Grundrechtsdogmatik können bei der Auslegung des Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG nicht ausgeblendet werden. Das nächste digitale Anschlussproblem wurde schon formuliert: Liegt in der klagweisen Realisierung des „Grundrechts auf Vergessenwerden“ eine Online-Zensur gegenüber den Internetkonzernen? Mit dem richtigen Grundsatzbefund, dass die Grundrechte des Grundgesetzes und die sie begleitenden akzessorischen Garantien nur die deutsche Staatsgewalt in Pflicht nehmen, kann nur ein Teil der Probleme gelöst werden.

54 Dazu Schliesky/Hoffmann/Luch/Schulz/Borchers, Schutzpflichten und Drittwirkung im Internet. Das Grundgesetz im digitalen Zeitalter, 2014, S. 119 ff., 141 ff. 55 BVerfGE 128, 226 ff. (244 f.); dazu Wendt, NVwZ 2012, 606 ff.; Stober, FS Klaus Stern, 2012, S. 622 ff.; Wolfgang Meyer, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GGK II, 6. Aufl., 2012, Art. 93 Rdn. 54; siehe auch BVerfGE 131, 66 (79).

Monarchie und wahre Demokratie Gegen Parteienoligarchie und -diktatur Von Michael Elicker, Luxembourg Fürst Hans-Adam II. von Liechtenstein ist ein vortrefflicher Gastgeber, humorvoller und spannender Erzähler und ganz einfach einer der interessantesten Gesprächspartner, die man sich vorstellen kann. Welches Format und welchen Charakter hat doch dieses Oberhaupt der letzten Monarchie1 des „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“ verglichen mit den Figuren, die unsere Kulturnation heute größtenteils beherrschen! I. Anforderungen an das Staatsmodell der Zukunft Auch wenn er in einer durch Zugbrücken gesicherten Wohnburg hoch über dem Rhein residiert: Der Fürst ist nicht nur auf der Höhe der Zeit – nein er denkt seiner Zeit in unkonventionellen Schritten voraus. Die Krisen, unter denen die Welt in diesem annus horribilis 2014 leidet, hat er vorausgesehen und beschrieben. Aktueller denn je ist seine Forderung nach dem weltweiten Ausbau der direkten Demokratie und des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Mit seinem vor allem in der englischsprachigen Version stark beachteten Buch „Der Staat im dritten Jahrtausend“ hat er es sich zum Ziel gesetzt, ein Staatsmodell darzustellen, „das Kriege zwischen den Staaten sowie Bürgerkriege verhindert, das nicht nur einer privilegierten Schicht von Menschen dient, sondern allen Menschen innerhalb dieses Staates, das den Menschen ein Maximum an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bietet“.2 Er entwirft einen Staatstypus, der durch Verwirklichung von wahrer Demokratie sowie materieller Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit sehr gut geeignet ist, auch den großen Staaten des Westens, die sich nach heutigem Verständnis als demokratische Rechtsstaaten definieren, wichtige Denkanstöße zu geben. Vermittels der vom ihm und Erbprinz Alois initiierten Verfassungsreform sind die Grundprinzipien seines modernen Staatsentwurfes in Liechtenstein modellhaft verwirklicht worden und damit ist ein 1

Der Jubilar ist zumindest kein Verächter der Monarchie, auch wenn er sich einem Ruf nach dieser Staatsform für Deutschland möglicherweise nicht anschließen würde. Sehr gerne erinnere ich mich an die gemeinsamen Besuche auf diversen Geburtstagsparaden der Königin von England mit meinem hochverehrten akademischen Lehrer und seiner Gattin. 2 Fürst Hans-Adam II. von Liechtenstein, Der Staat im dritten Jahrtausend, Triesen 2010, S. 102 f.

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Präzedenzfall3 geschaffen, der mehr und mehr zum Nachdenken zwingen muss. Diese Verfassung Liechtensteins mit anderen Verfassungen zu vergleichen bedeutet nämlich, die anderen politischen Systeme fast ausnahmslos als de facto rein oligarchische Regierungsformen, als Alleinherrschaft der Parlamentsparteien und der von ihnen gezogenen Technokraten der Macht zu entlarven, die das Volk von jedem realen Einfluss und jeder Mitsprache zwischen den Wahlen fernzuhalten trachten. 1. Der Staat soll dem Menschen dienen – nicht umgekehrt Schon ganz zu Beginn seiner bemerkenswerten Staatslehre kehrt Fürst HansAdam II. das scheinbar so idealistische „Frage nicht, was der Staat für Dich tun kann, sondern was Du für den Staat tun kannst“ aus der Inaugurationsansprache John F. Kennedys um in ein auf den ersten Blick nüchternes „Frage nicht, was der Bürger für den Staat tun kann, sondern was kann der Staat besser als irgendeine andere Organisation für den Bürger tun?“4 Angesichts der Realität der meisten Staaten, auch der als freiheitlich und demokratisch geltenden Staaten des Westens, dürfte aber in Wahrheit der verwegenere Idealismus nicht bei Kennedy, sondern bei Fürst HansAdam zum Ausdruck kommen. Für die Menschheit im dritten Jahrtausend wünscht er, „alle Staaten in Dienstleistungsunternehmen zu verwandeln, die den Menschen auf der Basis der direkten und indirekten Demokratie sowie des Selbstbestimmungsrechts“ dienen.5 Alle Staaten sollen im Dienst der Menschen stehen – „die Menschen sollen nicht mehr den Staaten dienen und durch Kriege oder andere staatliche Maßnahmen in ihrer Existenz bedroht werden“.6 Es sei wichtig zu erkennen, dass „Staaten keine Götter sind, denen die Menschen zu dienen haben oder gar ihr Leben opfern müssen, sei es zur höheren Ehre der Nation oder um einem auserwählten Volk das Himmelreich auf Erden zu schaffen“.7 2. Gegengewichte zur Macht der Parteienoligarchie Im Gegensatz hierzu finden wir heute in den meisten Staaten, erstaunlicherweise auch denen des Westens, eine absolute Dominanz, ja oft die faktische Alleinherrschaft von Politiker-Oligarchien vor. Auch nach Hans-Adams Analyse werden diese zwar als „Technokraten der Macht“ schon faktisch notwendigerweise das stärkste Element im Staat darstellen8 ; diese Analyse führt ihn aber folgerichtig zu der Forderung, dass dieses quasi von Natur aus starke Element aber auch gezähmt und korrigiert werden muss. Um die Alleinherrschaft der parlamentarischen Parteien 3 Fürst Hans-Adam II. von Liechtenstein, Der Staat im dritten Jahrtausend, S. 83: „Liechtenstein ist in der Verfassungsgeschichte das erste und bis jetzt einzige Beispiel.“ 4 Fürst Hans-Adam II. von Liechtenstein, Der Staat im dritten Jahrtausend, S. 8. 5 Fürst Hans-Adam II. von Liechtenstein, Der Staat im dritten Jahrtausend, S. 9, 10, 102 f. 6 Fürst Hans-Adam II. von Liechtenstein, Der Staat im dritten Jahrtausend, S. 10. 7 Fürst Hans-Adam II. von Liechtenstein, Der Staat im dritten Jahrtausend, S. 165 f. 8 Fürst Hans-Adam II. von Liechtenstein, Der Staat im dritten Jahrtausend, S. 27.

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und ihrer Führungspersonen einzudämmen, setzt Fürst Hans-Adam auf die wesentlichen Strukturprinzipien der Verfassung Liechtensteins in ihrer durch eine Volksabstimmung im Jahre 2003 geschaffenen Gestalt: Auf eine konsequente Umsetzung der Demokratie, insbesondere der unmittelbaren (vgl. Art. 64 ff., Art. 112 Abs. 2, Art. 113 der Verfassung)9, auf ein sehr weitgehendes Selbstbestimmungsrecht und auf eine starke, ausdrücklich demokratisch legitimierte Monarchie oder alternativ für republikanische Staaten auf einen direkt vom Volk gewählten, mit weitgehenden Befugnissen ausgestatteten Präsidenten. Die heutige Verfassung Liechtensteins ist das Ergebnis eines jedenfalls im deutschsprachigen Raum einmaligen, nicht durch Kriege irritierten Evolutionsprozesses, der sich zwischen den Verfassungsträgern Volk und Fürst abgespielt hat. Wenige Jahre nach dem Ende der alten deutschsprachigen Monarchien berieten auch die Liechtensteiner 1920 und 1921 über eine neue Verfassung. Sie folgten aber nicht dem Beispiel Deutschlands und Österreichs, sondern hielten an der Monarchie fest, ja sie erhielten sich sogar einen starken Fürsten mit reellen, recht weitgehenden Kompetenzen, der dem parlamentarischen Machtfaktor gegenübersteht.10 In der Verfassungswirklichkeit Liechtensteins hat sich dabei gezeigt, dass die Monarchie die realen Einflußmöglichkeiten des Volkes in einem politischen System steigern kann: Als die Entscheidungen über den Beitritt Liechtensteins zu den Vereinten Nationen und zum Europäischen Wirtschaftsraum anstanden, beriefen sich auch in Liechtenstein die Regierungspolitiker zunächst darauf, Referenden über diese Themen seien verfassungswidrig.11 Der Fürst sorgte dann aber dafür, dass das Volk über diese bedeutenden Fragen abstimmen konnte.12 Die Monarchie kann also die Demokratie unterstützen und in einer Art und Weise zur Entfaltung bringen, die etwa in Deutschland schwer vorstellbar wäre. In diesem Sinne äußert sich auch der führende britische Autor zu Fragen der Staatsform, Vernon Bogdanor: „Constitutional Monarchy survives in a small number of favoured nations mainly in Western Europe, in which, far from undermining democracy, it serves to sustain and to strengthen democratic institutions; and, if the conjunction of monarchy and democracy may seem a contradiction, it would be well to bear in mind Freud’s aphorism that it is only in logic that contradictions cannot exist.“13 Bogdanor stellt heraus, dass 9

Fürst Hans-Adam II. von Liechtenstein, Der Staat im dritten Jahrtausend, S. 9. Mario Frick, Die Mischverfassung des Fürstentums Liechtenstein – oder die Kunst, den Dualismus von Monarchie und Demokratie zu leben, in: Kurt Ebert (Hrsg.), Pro Iustitia et Scientia, Festgabe zum 80. Geburtstag von Karl Kohlegger, Wien 2001, S. 217 (218). 11 Zum Verhalten der deutschen Politiker in der Frage eines Referendums zur EU-Verfassung vgl. Michael Elicker, Verbietet das Grundgesetz ein Referendum über die EU-Verfassung?, ZRP 2004, 225 ff. 12 Günter Winkler, Der Europarat und die Verfassungsautonomie seiner Mitgliedstaaten, Wien/New York 2005, S. 13. 13 Vernon Bogdanor, The Monarchy and the Constitution, Oxford 1997, S. 309. Freilich kann man den englischen Verfassungsbegriff der „Constitutional Monarchy“ nicht mit einer Monarchie im Sinne des Konstitutionalismus gleichsetzen. 10

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sich diese Stärkung der Demokratie durch die Monarchie gerade auch auf die Verhinderung einer Parteienoligarchie – bzw. auf die Bildung eines Gegengewichtes zu deren Übermacht – beziehen kann: „The fundamental case for constitutional monarchy is that, under it, the head of state is free from party ties. This is of particular importance in the twentieth century, when the scope of party politics has widened until it has seemed to embrace almost every aspect of national life, choking all too many activities in its unnatural embrace.“14 In Liechtenstein beruft man sich ganz ausdrücklich auf diese die Demokratie fördernden Funktionen der monarchischen Staatsform: „Diese Verfassung verhindert, dass sich eine Oligarchie oder eine Diktatur etablieren, und befugt das Volk, zur letzten Instanz aller Entscheidungen zu werden.“15 Eine Übertragung der genannten Strukturprinzipien auf andere Länder würde bedeuten, dass die dort bisher allein regierenden Oligarchien der Parlamentsparteien zu einem guten Teil entmachtet würden, denn „in einem oligarchischen Herrschaftssystem bedeutet die direkte Demokratie in erster Linie eine Machtbeschränkung der führenden Politiker“.16 Dasselbe gilt für die starke Präsidialdemokratie bzw. Monarchie: „Geht man davon aus, dass erstens von den drei Elementen Monarchie, Oligarchie, Demokratie die Oligarchie mit Abstand das stärkste Element ist, dass zweitens eine rein oligarchische Herrschaft auf Dauer Probleme aufwirft, dass drittens die Oligarchie dazu neigt, ihre Herrschaft auf Kosten der Monarchie und der Demokratie auszudehnen, so sollte der Staat im dritten Jahrtausend bestrebt sein, die beiden anderen Elemente Monarchie und Demokratie zu stärken.“17 Das Verständnis des Fürsten vom Verfassungsfaktor der „Monarchie“ in dieser Aussage umfasst dabei selbstverständlich für die republikanischen Staaten auch den vom Volke gewählten, mit einer starken Stellung versehenen Präsidenten (so ist die heutige Präsidialverfassung der USA in den wesentlichen Prinzipien ein Spiegelbild der zum Gründungszeitpunkt geltenden monarchischen Verfassung Englands unter Ersatz des Königs durch einen vom Volk gewählten Präsidenten). Um das Element der Monarchie – und damit die substantielle Gewaltenteilung – auch unter den Bedingungen der dynastischen Berufung des Staatsoberhauptes ohne Konflikt mit dem demokratischen Prinzip stärken zu können, hat der Fürst ein in der Verfassungsgeschichte bisher nicht dagewesenes Modell entwickelt: die Erbmonarchie mit aktiver direkt-demokratischer Legitimation (die so in Liechtenstein seit einer Verfassungsinitiative des Fürstenhauses und anderer Initiatoren seit 2003 verankert ist).18

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Bogdanor, The Monarchy and the Constitution, S. 307. Victor Arevalo Menchaca, Liechtensteinische Verfassungslehre, Basel 2006, Vorwort. 16 Fürst Hans-Adam II. von Liechtenstein, Der Staat im dritten Jahrtausend, S. 177. 17 Fürst Hans-Adam II. von Liechtenstein, Der Staat im dritten Jahrtausend, S. 98. 18 Fürst Hans-Adam II. von Liechtenstein, Der Staat im dritten Jahrtausend, S. 88, S. 22 f.

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3. Hin zur wahren Demokratie Natürlich sieht der Fürst, dass in den bisher „repräsentativ“ regierten Ländern erhebliche Widerstände zu erwarten sein werden. Den Anhängern der direkten Demokratie empfiehlt er die Gründung einer eigenen Partei, wenn die Widerstände in den traditionellen Parteien zu groß sind.19 Und das sind sie etwa in der Bundesrepublik Deutschland bekanntlich. Zwar haben sich einzelne Vertreter der Parteienoligarchie verbal für direkte Demokratie auf Bundesebene ausgesprochen. Ernsthafte Bemühungen oder gar gesetzgeberische Initiativen gab es aber nie und das Thema stand nie auf der Prioritätenliste. Referenden werden in Deutschland, wenn überhaupt, nur für sog. „nicht finanzwirksame“, also oft wenig bedeutende Entscheidungsthemen in Betracht gezogen. Eine wahrhafte Demokratisierung im Sinne der schweizerischen und liechtensteinischen Demokratien wäre mit den deutschen Parlamentsparteien offenkundig nicht zu machen. Außerdem liegt der Teufel im Detail: Referenden nur auf Initiative der Regierung oder auch auf Initiative des Volkes? Wenn letzteres bejaht würde: Wären die Quoren in der Praxis überwindbar? Auch die auf Landesebene in den Verfassungen verankerte direkte Demokratie findet ja in praxi nicht statt. Eine Partei, die sich, wie vom Fürsten empfohlen, vorwiegend für die Durchsetzung der direkten Demokratie in allen Politikbereichen einsetzte, wäre sicher für die Mehrheit der bisher so großen „Partei der Nichtwähler“ wählbar. Leider hat die Selbstbedienungsmentalität der deutschen Parteienoligarchie zu einem Missbrauch der Gesetzgebungskompetenz zu Zwecken des Eigenschutzes geführt etwa in Form der 5 %-Hürde, der Kontrolle über die gebührenfinanzierten Medien durch verfassungswidrig parteinahe Besetzung der Rundfunkräte, der Selbstfinanzierung der Parlamentsparteien aus Steuermitteln und des faktischen Stimmenkaufs aus Steuermitteln. Fürst Hans-Adam gibt den Wählern folgende Empfehlung: „Das Volk muss konsequent bei Wahlen all jenen Politikern und Parteien das Vertrauen entziehen, die mit den Steuergeldern des Volkes versuchen, Stimmen zu kaufen. Lässt sich das Volk mit dem eigenen Geld von Politikern und Parteien bestechen, darf es sich über korrupte Politiker und Parteien nicht wundern.“20 Nur durch eine stark ausgebaute direkte Demokratie, so die pointierte These des Fürsten, „wird verhindert, dass der Staat von Monarchen und Oligarchen missbraucht wird, um andere Menschen zu unterdrücken und auszuplündern. War die indirekte Demokratie die Demokratie für Analphabeten, so ist die direkte Demokratie und das Selbstbestimmungsrecht auf Gemeindeebene die Demokratie für das gebildete Volk.“21 In der Bundesrepublik Deutschland wird als „Argument“ gegen die unmittelbare Demokratie immer wieder ein Theodor Heuß zugeschriebenes Zitat bemüht, nach dem die Volksabstimmung die Stunde der Demagogen sei. Allzu oft aber haben die Staats- und Gemeindevölker der Schweiz und Liechtensteins bereits über Sachfragen aller Politikbereiche abgestimmt. Wenn man es an der Wohlfahrt und dem Er19

Fürst Hans-Adam II. von Liechtenstein, Der Staat im dritten Jahrtausend, S. 177. Fürst Hans-Adam II. von Liechtenstein, Der Staat im dritten Jahrtausend, S. 122. 21 Fürst Hans-Adam II. von Liechtenstein, Der Staat im dritten Jahrtausend, S. 99.

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folg der beiden Länder misst, haben die Bürger dabei durchaus richtig und im Interesse ihrer Gemeinschaften abgestimmt. Allzu oft haben auf der anderen Seite die gewählten „Repräsentanten“ der Völker der indirekt-demokratisch regierten Länder erkennbar nicht im wahren Interesse ihrer Staatsvölker gehandelt. Außerdem müssten nach dieser Logik Wahlen gegenüber Sachentscheidungen umso mehr Sternstunden der Demagogen sein. Die in den Wahlwerbungen der Parteien zum Ausdruck kommende Attitüde führender Parteipolitiker gegenüber dem Volk ist für die indirekte Demokratie durchaus typisch. Die repräsentative Demokratie hat Fürst Hans-Adam mit gutem Grund als „Demokratie für Analphabeten“ bezeichnet (Unmöglichkeit der Durchführung der Landsgemeinde in großen Staaten und zugleich Unmöglichkeit schriftlicher Abstimmungen bei Analphabetismus)22: „Solange eine großer Teil der Bevölkerung aus Analphabeten bestand, war die Begrenzung des demokratischen Prinzips auf die indirekte Demokratie vielleicht verständlich. Heute ist dies schon schwerer zu begründen. Erstens sind die Bildungsunterschiede zwischen Regierenden und Regierten gering.“23 Außerdem habe man oft „nicht den Eindruck, dass immer die Regierenden zu den am besten gebildeten Schichten der Bevölkerung gehören“.24 Gleichwohl sind die Parolen, mit denen regierende Parteien oft ihre Alleinherrschaft absichern wollen, mancherorts auf fruchtbaren Boden gefallen und zuweilen verteidigen einfache Wähler und Parteimitglieder die sog. „repräsentative“ Demokratie mit Vehemenz. Aber dann, so Fürst Hans-Adam, „müssten diese Menschen konsequenterweise ebenfalls die indirekte Demokratie ablehnen. Es ist nun einmal einfacher, eine Sachentscheidung zu fällen als eine Personalentscheidung über einen Politiker, den man kaum kennt, und ein Parteiprogramm, von dem niemand weiß, ob es umgesetzt wird.“25 Somit spitzt sich die Frage nach der denkgesetzlich begründbaren Regierungsform auf eine Alternative zu: „Wer dem Bürger die Intelligenz abspricht, über eine Steuererhöhung oder Steuersenkung, die ihn direkt betrifft, zu entscheiden, wird den Bürger erst recht nicht mit der indirekten Demokratie belasten dürfen. Als Alternative verbleibt dann nur mehr der aufgeklärte Absolutismus, in dem Monarchen und Oligarchen über das Wohl des Volkes entscheiden.“26 In der Tat könnte ein Volk, das intellektuell zu Sachentscheidungen unfähig wäre, denklogisch auch in Form von Personalentscheidungen keine Legitimation verleihen. Wäre das Volk nicht in der Lage, Sachentscheidungen zu treffen, dann wäre es auch nicht in der Lage, der Herrschaft von „Repräsentanten“ irgendeine Legitimation zu verleihen. Bestünde also wirklich ein Grund, die direkte Demokratie auszuschließen, so wäre dies ein Grund gegen die Demokratie überhaupt und es könnte auch eine

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Fürst Hans-Adam II. von Liechtenstein, Der Staat im dritten Jahrtausend, S. 33. Fürst Hans-Adam II. von Liechtenstein, Der Staat im dritten Jahrtausend, S. 74. 24 Fürst Hans-Adam II. von Liechtenstein, Der Staat im dritten Jahrtausend, S. 74. 25 Fürst Hans-Adam II. von Liechtenstein, Der Staat im dritten Jahrtausend, S. 177, 74. 26 Fürst Hans-Adam II. von Liechtenstein, Der Staat im dritten Jahrtausend, S. 177.

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Parlaments- und Regierungsoligarchie, die sich selbst durch Wahlen legitimiert sehen will, in Wahrheit keine gültige Legitimation vom Volke erhalten. Konsequent fordert der Fürst die Politiker der repräsentativ regierten Staaten heraus: „So sehr ich das liechtensteinische Volk schätze, so sehr bin ich überzeugt, dass die anderen Völker dieser Erde genauso intelligent sind wie wir. Jene ausländischen Politiker, die dies bezweifeln und glauben, dass ihre Völker für Gemeindeautonomie und direkte Demokratie unfähig sind, sind herzlich eingeladen, über eine wissenschaftliche Studie zu untersuchen, ob ihre Völker tatsächlich dümmer sind als das liechtensteinische. Aber selbst wenn dem so wäre, wäre dies in einem demokratischen Rechtsstaat kein Grund, ihnen die Entscheidungsbefugnisse vorzuenthalten, wie ihre Steuergelder … verwendet werden“.27 4. Freiheitsgarantie durch substantielle Gewaltenteilung Zur Bewahrung bzw. Wiederherstellung der Freiheit des Bürgers spricht sich der Fürst von Liechtenstein weiter für eine substantielle Gewaltenteilung aus, die heute in der Verfassungswirklichkeit fast überall von der nur formal-organisatorischen „Gewaltenteilung“ verdrängt worden ist: „Trotz Gewaltentrennung beherrscht in der indirekten Demokratie die Oligarchie Gesetzgebung, Gerichte und Exekutive. Das Volk als Kleinaktionär kann alle vier Jahre an der Generalversammlung nur zwischen wenigen Aktionärssyndikaten wählen, den sogenannten Parteien.“28 „Die Problematik liegt darin, dass die Parteienoligarchie alle Schlüsselpositionen im Staat besetzt, von der Legislative über die Exekutive bis zur Gerichtsbarkeit. Wenn der Staat außerdem gegenüber früheren Jahrhunderten aufgrund seiner vielfältigen Aufgaben, die er übernommen hat, zu einer dominierenden Kraft in der Volkswirtschaft geworden ist, so wird die Freiheit des einzelnen Menschen langsam ausgehöhlt, bis nur mehr eine Fassade übrig bleibt.“29 Ernst Rudolf Huber fasste das hiermit geforderte Prinzip der substantiellen Gewaltenteilung mustergültig zusammen: „Eine nicht nur formal, sondern substantiell gewaltenteilende Verfassung aber setzte voraus, dass kein Verfassungsorgan, auch nicht die gewählte Volksvertretung, den Vollbesitz der politischen Macht für sich beanspruchen könne, sondern dass die Macht zwischen mehreren gleichberechtigten Verfassungsfaktoren aufgespalten sein müsse. Die klassische Gewaltenteilung verlangt, dass Legislative und Exekutive nicht nur organisatorisch getrennt und ihre Zuständigkeiten nicht nur begrifflich unterschieden werden. Ihre unumgängliche Bedingung ist vielmehr, dass die beiden politischen Grundgewalten wirkliche Eigenständigkeit besitzen … Das war nach Montesquieus Lehre am ehesten möglich,

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Fürst Hans-Adam II. von Liechtenstein, Der Staat im dritten Jahrtausend, S. 137. Fürst Hans-Adam II. von Liechtenstein, Der Staat im dritten Jahrtausend, S. 96. 29 Fürst Hans-Adam II. von Liechtenstein, Der Staat im dritten Jahrtausend, S. 119 f.

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wenn die Exekutive auf das monarchische Prinzip gegründet … war.“30 Das optimale Funktionieren der checks and balances setzt voraus, dass der Präsident oder Monarch überhaupt noch autonome politische Kraft in der Verfassungswirklichkeit sein kann. Auch die die Unabhängigkeit der dritten Gewalt sichernde Richterwahl spielt in den Überlegungen des Fürsten eine große Rolle.31 Die Verfassung des Fürstentums Liechtenstein stellt eine Mischung dar aus einer starken Stellung des Fürsten, unmittelbarer Demokratie und parlamentarischer Demokratie, für die es in Europa keine Parallele gibt.32 Die volle Wirksamkeit der Gewaltenteilung, das optimale Funktionieren der checks and balances, setzt wie gesagt voraus, dass dem Monarchen eine gewisse Eigenständigkeit und Unabhängigkeit verbleibt, setzt voraus, dass er überhaupt noch autonome politische Kraft sein kann. Offensichtlich war Kaiser Wilhelm dies schon 1914 nicht mehr in ausreichendem Maße, um den Krieg verhindern zu können.33 Im Falle Liechtensteins mit seinem relativ machtvollen Fürsten wird die Gewaltenteilung zwischen Volk, Fürst, Parlament und Regierung als Garantie für Stabilität und stetige Entwicklung verstanden, und zwar insbesondere dadurch, dass in einem – nicht bedeutungslosen – Staatsorgan eine Konstante geschaffen ist, bei deren Heimgang sofort ein vorher feststehender Nachfolger an ihre Stelle tritt.34 Man spricht in Liechtenstein vom „Einvernehmensprinzip“, das sich, so der ehemalige Regierungschef Mario Frick, durch die gesamte Verfassung zieht35 : „Das Einvernehmensprinzip geht von dem Grundsatz aus, dass alle wesentlichen Entscheidungen durch zwei oder mehr politische Behörden getragen werden müssen. … Negativ betrachtet bedeutet dies, dass in Konflikt- und Krisensituationen ein Patt entstehen kann. Die Geschichte belegt, dass auch ein kurzfristiges Patt eher eine Stärke denn eine Schwäche ist. So steht Liechtenstein heute sehr erfolgreich da.“36 Es wird darauf verwiesen, dass in Liechtenstein checks and balances in einer Weise implementiert sind37, wie sie in der Republik nicht denkbar ist; Gewaltenteilung und Gewaltenkontrolle könnten 30

Ernst Rudolf Huber, Das Kaiserreich als Epoche verfassungsstaatlicher Entwicklung (§ 4), in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band 1, 3. Aufl. Heidelberg 2003, § 4 Rdnr. 33 unter Hinweis auf Charles de Secondat, Baron de Montesquieu, De l’esprit des lois, Buch XI, Kap. 6, 1748. 31 Fürst Hans-Adam II. von Liechtenstein, Der Staat im dritten Jahrtausend, S. 87 f., 119 f. 32 Vgl. auch Menchaca, Liechtensteinische Verfassungslehre, S. 2. 33 Dazu unten, II. 1. 34 Frick, in: Kurt Ebert (Hrsg.), Pro Iustitia et Scientia, Festgabe zum 80. Geburtstag von Karl Kohlegger, S. 217 (218). 35 Verfassung des Fürstentums Liechtenstein vom 5. Oktober 1921, LGBl. 1921 Nr. 15, Art. 11, Art. 65, Art. 105; Frick, in: Kurt Ebert (Hrsg.), Pro Iustitia et Scientia, Festgabe zum 80. Geburtstag von Karl Kohlegger, S. 217 (218 f.). 36 Frick, in: Kurt Ebert (Hrsg.), Pro Iustitia et Scientia, Festgabe zum 80. Geburtstag von Karl Kohlegger, S. 217 (219). 37 Frick, in: Kurt Ebert (Hrsg.), Pro Iustitia et Scientia, Festgabe zum 80. Geburtstag von Karl Kohlegger, S. 217 (223).

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in dieser Verfassung mit einem starken Fürsten in einer außergewöhnlichen Weise gewährleistet werden.38 Das letzte Wort aber hat in Liechtenstein eindeutig das Volk. Es hat, ganz ausdrücklich, die Macht, sich eine neue Verfassung zu geben, auch die Monarchie und damit den anderen Träger der Staatsgewalt abzuschaffen. Es ist hierzu nicht auf den Weg der Revolution verwiesen, sondern die bestehende Verfassung erkennt diese Rechte des Volkes ausdrücklich an und trifft Vorkehrungen für entsprechende Initiativen und Referenden (Art. 112 Abs. 2, Art. 64, Art. 66 Abs. 2, Art. 113 Verfassung des Fürstentums Liechtenstein). Die Möglichkeiten einer Volksinitiative für ein Misstrauensvotum gegen den Fürsten und zur Abschaffung der Monarchie39 wurden eingeführt in der Folge einer Verfassungsinitiative, die von Fürst Hans-Adam und Erbprinz Alois zusammen mit anderen Bürgern eingebracht worden war. Die Reformvorschläge wurden durch Volksabstimmung vom 14. März 2003 mit einer Mehrheit von 64,3 % angenommen.40 5. Fazit: „Traditioneller Rechtsstaat mit indirekter Demokratie ist gescheitert“ Trotz aller Widerstände, die von den jetzt im Vollbesitz der Macht befindlichen Parteien zu erwarten sind, gibt sich Fürst Hans-Adam optimistisch: „Vielleicht zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte besteht die Möglichkeit, die Staaten in friedliche Dienstleistungsunternehmen zu verwandeln, die nicht nur Monarchen und Oligarchen dienen, seien diese gewählt oder nicht, sondern auch dem Volk. Damit dieser Umwandlungsprozess gelingt, genügt es nicht, die Staaten in traditionelle Rechtsstaaten mit indirekter Demokratie … zu verwandeln. Dieses Modell ist im Lauf der letzten zweihundert Jahre gescheitert und selbst dort, wo es einigermaßen funktioniert, sieht es so aus, als ob die Menschen in erster Linie dem Staat dienen und nicht umgekehrt.“41 II. Monarchie versus Republik im 20. Jahrhundert – eine Bilanz Offen ist an dieser Stelle noch die Frage, ob ein Monarch oder ein vom Volk gewählter Präsident die substantielle Gewaltenteilung garantieren soll. Welche „Performance“ haben die Staatsformen im Europa des 20. Jahrhunderts gezeigt, in dem auf eine „Urkatastrophe“ sogar eine noch schlimmere Katastrophe folgen sollte? War es eine geschichtliche Notwendigkeit, dass die Monarchie im deutschsprachigen Raum nach dem Ersten Weltkrieg fast vollständig verschwand? Was hat die Wahl der republikanischen Staatsform hier gebracht im Vergleich zu den monarchischen Staa38 Frick, in: Kurt Ebert (Hrsg.), Pro Iustitia et Scientia, Festgabe zum 80. Geburtstag von Karl Kohlegger, S. 217 (225). 39 Winkler, Der Europarat und die Verfassungsautonomie seiner Mitgliedstaaten, S. 2. 40 Winkler, Der Europarat und die Verfassungsautonomie seiner Mitgliedstaaten, S. 31, 43. 41 Fürst Hans-Adam II. von Liechtenstein, Der Staat im dritten Jahrtausend, S. 196.

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ten? Die Wiedereinführung eines im Sinne Max Webers traditionalen Herrschaftselements nach einer nun einmal faktisch unterbrochenen Tradition würde sicherlich voraussetzen, dass diese Fragen eindeutig zugunsten der Monarchie beantwortet werden könnten. 1. Der Erste Weltkrieg Um das Gewicht an Mitverantwortung, das die Monarchie trug für Krieg und Niederlage, etwas gerechter und seriöser beurteilen zu können, als dies gemeinhin geschieht, ist es unabdingbar, sich mit einigen – teilweise wenig bekannten – Fakten zu befassen: Es ist dokumentarisch belegt, dass Kaiser Wilhelm II. ein ausgesprochener Gegner des damals nicht selten vertretenen Gedankens war, ein Krieg zwischen den europäischen Großmächten jener Zeit sei unausweichlich und daher sei auch der Präventivkrieg zu erwägen, solange das militärische Kräfteverhältnis günstig sei.42 Allzu bewusst waren dem Kaiser die Konsequenzen eines kontinentalen Krieges, auch die katastrophalen Folgen für die wirtschaftliche Entwicklung.43 Die höheren Ränge des Militärs hegten schon lange vor der Jahrhundertwende Misstrauen gegen den von seiner christlichen Sendung überzeugten Wilhelm, der in ihren Kreisen mit spöttischem Unterton als „Friedenskaiser“44 bezeichnet wurde. Später, während des Krieges, sollte Wilhelm in einem Treffen mit einer Reichstagsdelegation im Zusammenhang mit der von ihm unterstützten deutschen Friedensinitiative Ende 1916 bei der ersten Erwähnung des Wortes „Frieden“ in Tränen ausbrechen.45 Was konkret die Lage auf dem Balkan anging, so waren sich noch im Herbst 1913 die europäischen Großmächte darin einig, dass serbische Ansprüche auf einen Teil Albaniens illegitim waren und sie unterstützen Österreich-Ungarn geschlossen darin, diese Ansprüche zurückzuweisen.46 Eine breite Unterstützung für die Position Österreich-Ungarns bestand zunächst auch noch nach dem Attentat von Sarajewo.47 Als Kaiser Wilhelm am 28. Juni 1914 auf der Yacht Hohenzollern von dem Mordanschlag erfuhr, kehrte er sofort nach Berlin zurück mit dem Ziel, die Situation selbst in die Hand zu nehmen und den Frieden Europas zu bewahren.48 Für die Tage nach dem Attentat ist hervorragend dokumentiert, dass der Kaiser versuchte, einen Krieg 42 Wolfgang J. Mommsen, Kaiser Wilhelm II and German Politics, Journal of Contemporary History 25 (1990), 308 (309); Christopher Clark, Kaiser Wilhelm II, Profiles in Power, London 2000, S. 216. 43 Clark, Kaiser Wilhelm II, S. 201 ff. 44 Clark, Kaiser Wilhelm II, S. 216. 45 Ernest R. May, The World War and American Isolation, 1914 – 1917, Cambridge MA 1959, S. 398. 46 Clark, Kaiser Wilhelm II, S. 197. 47 Clark, Kaiser Wilhelm II, S. 217. 48 Lamar Cecil, Wilhelm II, vol 2, Emperor and Exile, Chapel Hill NC und London 1996, S. 198.

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zu verhindern und er sich der sog. Kriegspartei in Regierung und Militärführung immer wieder in den Weg stellte.49 So kam es in dieser kritischen Zeit zu einer aufschlussreichen Begebenheit, an die Kaiser Wilhelm II. sich 1922 in seinen „Ereignissen und Gestalten“ sehr präzise erinnerte: „In tiefer Sorge über die Wendung, die die Dinge nehmen konnten, beschloß ich nun, meine geplante Nordlandreise aufzugeben und zu Haus zu bleiben. Der Reichskanzler und das Auswärtige Amt waren der entgegengesetzten Auffassung und wünschten gerade, ich solle die Reise ausführen, weil das auf ganz Europa eine beruhigende Wirkung ausüben werde. Ich habe mich lange dagegen gesträubt, angesichts der unsicheren Zukunft mein Land zu verlassen. Aber der Reichskanzler v. Bethmann erklärte mir kurz und bündig, wenn ich den nun einmal schon bekannten Reiseplan jetzt noch aufgeben würde, so werde das dazu führen, die Lage ernster erscheinen zu lassen, als sie bisher sei, und möglicherweise zum Ausbruch des Krieges beitragen, für den ich dann verantwortlich gemacht werden könne.“50 Am 25. Juli 1914 erfuhr der auf diese Weise aus dem Weg geschaffte Kaiser an Bord seiner Yacht „Hohenzollern“ von einer Stellungnahme des Zaren, nach der Russland bei einem Angriff Österreich-Ungarns auf Serbien nicht untätig bleiben werde. Dies war eine Wendung, die Wilhelm weder für wahrscheinlich gehalten hatte noch tatenlos hinzunehmen bereit war.51 Trotz der Nötigung durch den Reichskanzler trat der Kaiser unverzüglich die Rückreise an und traf am Nachmittag des 27. Juli in Berlin ein.52 Und nun zeigte sich, dass man den Kaiser in Wahrheit nicht zur Beruhigung der Lage in Europa auf Seereise geschickt hatte. Das Auswärtige Amt enthielt nun dem eigens zurückgekehrten Kaiser die Antwort Serbiens auf das Ultimatum Österreich-Ungarns vor bis zum Tage von dessen Ablauf, dem 28. Juli 1914. Nachdem Wilhelm schließlich doch die serbische Antwort zu sehen bekam, merkte er dazu an: „Aber damit fällt jeder Kriegsgrund fort“.53 Er versuchte auf diese Weise, den Frieden zu retten, obwohl die Antwort Serbiens entgegen einer häufig anzutreffenden Interpretation nicht sehr entgegenkommend war.54 Wilhelm aber nahm eine überaus pragmatische Haltung ein und bezeichnete die serbische Antwort als ein ausgezeichnetes Ergebnis für ein Ultimatum von 48 Stunden.55 Dies zeigt auch, dass er das Ultimatum Österreich-Ungarns als genuines Instrument der Diplo49

Clark, Kaiser Wilhelm II, S. 205 ff. Kaiser Wilhelm II., Ereignisse und Gestalten aus den Jahren 1878 – 1918, Leipzig/Berlin 1922, S. 209. 51 Luigi Albertini, The Origins of the War of 1914, vol 2, Oxford 1953, S. 159; Clark, Kaiser Wilhelm II, S. 205. 52 Lothar Reinermann, Der Kaiser in England, Wilhelm II. und sein Bild in der britischen Öffentlichkeit, Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London, Band 48, Paderborn u. a. 2001, S. 420. 53 Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht, Die Kriegspolitik des kaiserlichen Deutschland 1914 – 1918, 4. Aufl., Düsseldorf 1971, S. 69. 54 Clark, Kaiser Wilhelm II, S. 208. 55 Clark, Kaiser Wilhelm II, S. 208. 50

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matie, nicht als Vorwand zum Krieg begriff.56 Es war aber nicht nur der Blick auf Russland, der Wilhelm in dieser Situation überaus besonnen handeln ließ, sondern auch sein besonderes Herzensanliegen, keinen Konflikt aufkommen zu lassen mit Großbritannien, dem Land seiner geliebten Großmutter Victoria, an deren Sterbebett er gewacht hatte. Und der deutsche Botschafter Lichnowsky hatte bereits aus London berichtet, dass die dortige Regierung die Antwort Serbiens als zufriedenstellend ansehe.57 Der Kaiser stellte sich auf den Standpunkt, die noch strittigen Punkte seinen auf diplomatischem Wege zu lösen und befahl, Deutschland habe sich als Vermittler zwischen Österreich-Ungarn und Serbien einzubringen.58 Wilhelm selbst erklärte sich bereit, diese Rolle persönlich zu übernehmen.59 Er befahl Gottlieb von Jagow, Staatssekretär im Auswärtigen Amt, den Österreichern mitzuteilen, dass aus seiner Sicht jeder Grund zum Krieg entfallen war.60 Diese Anordnungen wurden durch v. Jagow und Kanzler v. Bethmann Hollweg teilweise gar nicht beachtet61 und teilweise so lange zurückgehalten, bis sie nicht mehr realisierbar waren – bis die Kriegserklärung der Regierung in Wien an Serbien abgegangen war und Belgrad bereits mit Geschützen beschossen wurde (29. Juli).62 Der britische Historiker Christopher Clark merkt hierzu an: „Perhaps the most striking thing about the letter to Jagow of 28 July is that it was not acted upon. Had Wilhelm enjoyed the plenitude of power that is sometimes attributed to him, this intervention might well have changed the course of the crisis and possibly of world history.“63 Auch nachdem die Kampfhandlungen auf dem Balkan nun einmal im Gange waren, versuchte Wilhelm noch einiges, um die Ausweitung der Krise zu einem großen Krieg zu verhindern, was Ursache zahlreicher Konflikte mit der Militärführung war.64 Fast rührend erscheinen im Rückblick die verzweifelten Telegramme an seinen Cousin „Nicky“, Zar Nikolaus II., der doch wohl nicht wegen Serbien einen großen Krieg riskieren werde. Auf die nachdrückliche Bitte Wilhelms setzte dieser die Generalmobilmachung am 29. Juli aus.65 Dem Zaren ging es aber ähnlich wie Wilhelm: Obwohl der Zar selbst einen extremen Haß gegen den Krieg gezeigt habe, wurde er von seiner Regierung, insbesondere Außenminister Sazonow, am 30. Juli schließlich doch davon überzeugt, dass die sofortige Generalmobilmachung notwendig sei. Dies 56

Clark, Kaiser Wilhelm II, S. 209. Clark, Kaiser Wilhelm II, S. 208 f. 58 Reinermann, Der Kaiser in England, S. 420. 59 Clark, Kaiser Wilhelm II, S. 208. 60 Clark, Kaiser Wilhelm II, S. 208. 61 Clark, Kaiser Wilhelm II, S. 208. 62 Reinermann, Der Kaiser in England, S. 421. 63 Clark, Kaiser Wilhelm II, S. 209. 64 Clark, Kaiser Wilhelm II, S. 211 ff. 65 Reinermann, Der Kaiser in England, S. 428. 57

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gelang der Regierung jedoch nur unter den größten Schwierigkeiten.66 Der dritte Kaiser, Franz Joseph, hatte das Ultimatum an Serbien als diplomatische Finte aufgefasst; er sei am Boden zerstört gewesen, als sich die Antwort dann aus Sicht der Regierung als unannehmbar herausstellte.67 Wilhelm war aber der einzige dieser Monarchen, der es wagte, den Kriegstreibern der jeweiligen Militärführung offen die Stirn zu bieten.68 Auch die britische Öffentlichkeit setzte in dieser kritischen Situation Hoffnungen auf Kaiser Wilhelm.69 So wurde über eine weitere Friedensinitiative in der Zeitung Daily News wie folgt berichtet: „The Kaiser, who sees this as plainly as any man, and feels his responsibility as keenly, has sent the Grand Duke of Hesse to St. Petersburg on a mission, which looks like a last effort to introduce common sense. Everybody will hope that it may succeed.“70 In jenen Tagen erkannten viele britische Zeitungen an, dass Kaiser Wilhelm alles in seiner Macht stehende tat, seinen gesamten Einfluss geltend machte, um den Frieden zu erhalten. Andererseits zweifelte man aber daran, ob seine Befugnisse ausreichen würden, um tatsächlich den Krieg zu verhindern.71 Leider waren diese Zweifel sehr berechtigt, wie sich bereits aus der oben geschilderten Chronologie des Kriegsausbruchs auf dem Balkan ergibt. Es würde im Rahmen dieses Beitrages zu weit führen, im einzelnen abzuklären, welchen Einfluss Kaiser Wilhelm auf das weitere Kriegsgeschehen hatte und inwiefern die Oberste Heeresleitung später unter Hindenburg und Ludendorff sich zu einer Quasi-Militärdiktatur entwickelte. Unverzichtbar erscheint es aber, noch einen kurzen Blick auf die folgenreichste und umstrittenste Frage der Kriegsführung zu werfen: die Entscheidung über den uneingeschränkten U-Boot-Krieg. Kaiser Wilhelm war von Anfang an gegen die U-Boot-Waffe, da er es nicht akzeptierte, dass unschuldige Zivilisten ihr zum Opfer fallen würden.72 Wilhelms Bemühungen, ihren Einsatz trotz der zu Hunger in der deutschen Bevölkerung führenden britischen Blockade in rigider Weise zu beschränken, führte zu – zunächst nicht angenommenen – „Rücktritten“ von Angehörigen der Führungsspitze der Marine, darunter der nach dem dritten Versuch schließlich wirklich entlassene Großadmiral Tirpitz.73 Für Wilhelm war neben dem humanitären Aspekt entscheidend die Gefahr eines Kriegseintritts der Vereinigten Staaten. Ein neuer Feind, von dem er zu Recht fürchtete, dass er den bisherigen Feinden Deutschlands mit praktisch unbegrenzten Geldmitteln helfen 66

Dominic C. B. Lieven, Nicholas II. Emperor of All the Russians, London 1993, S. 202. Steven Beller, Francis Joseph, London/New York 1996, S. 214. 68 Clark, Kaiser Wilhelm II, S. 215 f. 69 Reinermann, Der Kaiser in England, S. 420. 70 The Daily News, 31. Juli 1914, LA., S. 4. 71 Reinermann, Der Kaiser in England, S. 420 ff., insb. 431. 72 Konversation des Kaisers mit Holtzendorff, abgedruckt in: Görlitz (Hrsg.), The Kaiser and his Court: The Diaries, Note Books, and Letters of Admiral Georg Alexander von Müller, Chief of the Naval Cabinet, 1914 – 1918, 1961, S. 126; Cecil, Wilhelm II., vol 2, Emperor and Exile, vol 2, S. 221. 73 Clark, Kaiser Wilhelm II, S. 231 ff. 67

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würde, war, so die zutreffende Analyse Wilhelms, unbedingt zu vermeiden.74 In der Tat gibt es deutliche Anzeichen dafür, dass die Hauptkriegsgegner Russland, Großbritannien und Frankreich sich der deutschen Friedensinitiative von Ende 1916 nicht mehr lange hätten verschließen können, die Wilhelm aus seinem Verständnis der Verantwortung gegenüber Gott und aus Mitgefühl für das eigene Volk und das Volk des Feindes75 mit großer innerer Überzeugung unterstützte.76 Der Kriegseintritt der Vereinigten Staaten im April 1917 änderte diese Patt-Situation grundlegend. Die Kriegserklärung der Vereinigten Staaten war, wie vom Kaiser vorausgesehen, eine Folge des zum 1. Februar 1917 aufgenommenen uneingeschränkten U-BootKrieges. Der Kaiser hatte sich dieser Art der Kriegführung schließlich nicht mehr widersetzen können, weil große Teile der die Regierung stützenden Fraktionen im Reichstag im Sommer und Herbst 1916 zu enthusiastischen Anhängern der Idee des U-Boot-Krieges geworden waren und offen gegen die bisherige Zurückhaltung opponierten. Es bildete sich im Reichstag der sog. U-Boot-Block aus Konservativen und Nationalliberalen heraus und schließlich forderte auch das Zentrum, dass die Entscheidung über den U-Boot-Krieg in die Hände von Hindenburg und Ludendorff gelegt würde, deren Unterstützung für den Einsatz dieser Waffe hinlänglich bekannt war.77 Im Unterschied zum Kaiser übte also der Reichstag, der für die Kriegführung von essentieller Bedeutung war, hier keinen mäßigenden Einfluß auf die Militärführung aus. Der Krieg wäre ohnehin nicht zu führen gewesen, wenn nicht die im Reichstag vertretenen Parteien, auch die Mehrheitssozialisten, das Budget dafür bereitgestellt hätten.78 Die Parteien des Reichstages waren sich bei Ausbruch und im weiteren Verlauf des Krieges darin einig, der Reichsexekutive die zur Kriegsführung erforderlichen Mittel zur Verfügung zu stellen.79 Auch außerhalb des Budgetrechts beschloss der Reichstag, ebenfalls mit sozialdemokratischer Zustimmung, die Kriegführung flankierende Gesetze.80 In der Kriegspropaganda wurden aber nicht die Politiker des Reichstags diffamiert, sondern medienwirksam der Kaiser als der meistfotografierte und meistgefilmte Mensch seiner Zeit. Jetzt erhielt er im englischsprachigen Raum gar die 74

May, The World War and American Isolation, 1914 – 1917, S. 223. So Wilhelm zu Bethmann am 31. Oktober 1916, zit in May, The World War and American Isolation, S. 398 f.; Cecil, Wilhelm II., vol. 2, S. 242. 76 Clark, Kaiser Wilhelm II, S. 234. 77 Clark, Kaiser Wilhelm II, S. 233. 78 Siehe für die drei letzten Kriegskredite etwa Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V, Stuttgart u. a. 1978, S. 469. 79 Ernst Rudolf Huber, Das Kaiserreich als Epoche verfassungsstaatlicher Entwicklung (§ 4), in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band 1: Historische Grundlagen, 3. Aufl. Heidelberg 2003, Rdnr. 42, 47. 80 Etwa das Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst vom 5. Dezember 1916, RGBl. S. 1333. 75

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Rolle des „central enemy of the human race“.81 Im Inland musste er zum Ende des Krieges als Hauptsymbol der von der revolutionären Bewegung bekämpften Ordnung herhalten82: „Wie schon vor dem Krieg sah der Kaiser sich auch im Krieg vor dem Ausland und Inland immer wieder mit der Verantwortung für Fehlentscheidungen belastet, die in Wahrheit nicht er, sondern die leitenden Staatsmänner und Heerführer getroffen hatten.“83 Kaiser Wilhelm II., so viel wird man mit Golo Mann sagen dürfen, hatte den Mächtigen gespielt „und erschien darum zum Schluß schuldig an der Katastrophe, die er, wenn überhaupt, nur durch Schwäche mitverschuldet hatte“.84 Zum Weltkrieg, zum epochalen Ausmaß dieser „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ und zu den schlimmen Folgen dieses Krieges gerade für Deutschland ist es, soviel kann hier festgehalten werden, nicht wegen der Monarchie in Deutschland und Europa gekommen, sondern trotz der Monarchie. Die Monarchen wurden in ihrem Bemühen, den Frieden zu retten von den nicht mehr monarchisch, sondern oligarchisch geprägten Regierungen zu wenig respektiert, ihre Kompetenzen missachtet. 2. Die Revolution im November 1918 – Volksbewegung mit demokratischer Zielrichtung? Die nicht sehr ruhmreiche Rolle der Volksvertretung im Krieg musste bereits im Zusammenhang mit der fatalen Entscheidung für den uneingeschränkten U-BootKrieg erwähnt werden. Auch Volksvertretungen machen Fehler. Gott sei Dank konnte sich am Ende des Krieges die Idee nicht durchsetzen, dass sie deswegen abzuschaffen seien. Im Gegenteil: Die große Mehrheit der Bevölkerung wollte die parlamentarische Demokratie und, was heute kaum noch gesehen wird: Sie hatte sie bereits. Aufgrund der starken Stellung des Reichstages in der Verfassung von 1871, insbesondere infolge des Budgetrechts, hatte sich im Laufe der Jahre in der Verfassungswirklichkeit eine starke Annäherung an das parlamentarische Regierungssystem vollzogen.85 Beim Regierungsantritt Graf Hertlings als Reichskanzler am 1. November 1917 war in der Verfassungsrealität die Parlamentarisierung der Reichsleitung insofern schon erreicht, als der Kanzler sein Amt nur aufgrund einer Verständigung mit der Reichstagsmehrheit über das Regierungsprogramm hatte übernehmen kön81

Zu den bis heute nachwirkenden Diffamierungen siehe Reinermann, Der Kaiser in England, S. 447 ff. 82 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V, S. 621. 83 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V, S. 623. 84 Golo Mann, Gedanken zum Ende der Monarchie in Bayern, in: Hubert Glaser (Hrsg.), Wittelsbach und Bayern, Bd. III/1: Krone und Verfassung. König Max I. Joseph und der neue Staat, München 1980, S. 473 (474). 85 Klaus Kröger, Einführung in die jüngere deutsche Verfassungsgeschichte (1806 – 1933), München 1988, S. 98 f.; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V, S. 116 ff., 388 ff., 467 ff., 521 ff.

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nen.86 Die volle Parlamentarisierung als systematische Anpassung der geschriebenen Verfassung an diese Verfassungswirklichkeit scheiterte zunächst daran, dass die Mehrheitssozialisten im Reichstag, die in der Theorie Anhänger des parlamentarischen Systems waren, sich aus taktischen Gründen davor scheuten, feste Bindungen mit bürgerlichen Koalitionspartnern einzugehen. Sie fürchteten Verluste in der Wählergunst, sobald sie aus dem linksextremen Spektrum als „Regierungssozialisten“ angegriffen werden könnten. Einer im gänzlich parlamentarisierten System geforderten festen Koalition, die auch Verpflichtungen und Abhängigkeiten gegenüber Reichsleitung und bürgerlichen Parteien bedeutet hätte, zogen sie zu jener Zeit noch die Machtausübung ohne eigene Regierungsverantwortung vor, die in einer Unterstützung der Reichsleitung von Fall zu Fall lag.87 Gegen Ende des Krieges wuchs allerdings der Druck, das parlamentarische Regierungssystem auch formell zu vollenden, da dies als eine Vorbedingung für Waffenstillstandsverhandlungen angesehen wurde.88 Reichskanzler Graf Hertling, der die weitere Parlamentarisierung nicht mittragen wollte, wurde vom Kaiser entlassen. Nach einem entsprechenden Beschluss des Kronrats ordnete der Kaiser am 30. September 1918 im sog. Parlamentarisierungserlass an: „Ich wünsche, daß das deutsche Volk wirksamer als bisher an der Bestimmung der Geschicke des Vaterlandes mitarbeite. Es ist daher Mein Wille, daß Männer, die vom Vertrauen des Volkes getragen sind, in weitem Umfange teilnehmen an den Rechten und Pflichten der Regierung.“89 Damit ging im Reich die Ära des Konstitutionalismus, der dualistischen „Mischverfassung“ endgültig zu Ende.90 Die volle Parlamentarisierung der Reichsleitung – teilweise handelte es sich freilich nur um die auch formelle Festlegung einer bereits bestehenden Verfassungspraxis – erfolgte durch zwei verfassungsändernde Gesetze, die im Reichstag mit den Stimmen von Mehrheitssozialisten, Zentrums- und Fortschrittspartei, die die Regierung stützten, am 25. und 26. Oktober 1918 verabschiedet wurden. Obwohl damit auch die föderativen Grundsätze der alten Ordnung preisgegeben wurden, stimmte der Bundesrat den Vorlagen am 28. Oktober zu. Die Ausfertigung und Verkündung durch den Kaiser erfolgte noch am selben Tage.91 Das erste Reformgesetz hob Art. 21 Abs. 2 der Verfassung auf, so dass mit der Berufung in ein besoldetes Staatsamt kein Mandatsverlust der Reichstagsabgeordneten mehr eintrat. Das zweite Reformgesetz92 machte durch die Neufassung von Art. 11 für Kriegserklärungen und Friedensschlüsse die Zustimmung von Reichstag und Bundesrat erforderlich. Durch den neuen Art. 15 Abs. 3 erhielt der Reichstag vor allem die Möglichkeit, den Reichskanzler durch Misstrauensvotum zum Rücktritt zu zwingen. Nach 86

Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V, S. 388 ff., S. 467. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V, S. 469. 88 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V, S. 531. 89 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V, S. 531 f. 90 Vgl. auch Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V, S. 531 f. 91 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V, S. 588. 92 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V, S. 588. 87

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dem neuen Art. 15 Abs. 5 waren der Reichskanzler und seine Stellvertreter dem Bundesrat und dem Reichstag für ihre Amtsführung verantwortlich. Damit war die Abhängigkeit des Regierungschefs von der Volksvertretung mindestens so stark wie in irgendeinem anderen parlamentarisch regierten Land.93 Die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers wurde erstreckt auf „alle Handlungen von politischer Bedeutung, die der Kaiser in Ausübung der ihm nach der Reichsverfassung zustehenden Befugnisse vornimmt“ (Art. 15 Abs. 4). Damit gelangten nun auch solche Handlungen des Kaisers in den Verantwortungsbereich des vom Parlament kontrollierten Reichskanzlers, die einer formellen Gegenzeichnung nicht zugänglich waren, etwa kaiserliche Briefe, Presseverlautbarungen oder Reden, aber auch militärische Kommandoakte von politischem Rang.94 Mit Hilfe einiger weniger Änderungen bzw. Zusätze wurde in diesen Tagen problemlos der Übergang zu einem Regierungssystem vollzogen, in dem die politische Macht ausschließlich beim Parlament lag. Die Monarchie wurde ausdrücklich als „äußere Staatsform“ aufrechterhalten, wofür auch die Mehrheitssozialisten stimmten.95 Im Reichstag bestand eine breite Zustimmung für die Aufrechterhaltung der Monarchie, um das oberste Staatsorgan dem Parteienstreit zu entziehen und seine Neutralität zu bewahren.96 Damit hatte Deutschland durch Entscheidung des demokratisch legitimierten Reichstages die Verfassung einer parlamentarischen Monarchie.97 In der Tat hatte sich die Reichsverfassung hier als elastisch genug erwiesen, „um der staatsrechtlichen Weiterentwicklung hinreichend Raum zu lassen“.98 In einem die Reformgesetze begleitenden Erlass des Kaisers heißt es, er trete den Beschlüssen der Volksvertretung zusammen mit den übrigen verbündeten Regierungen bei, „in dem festen Willen, was an Mir liegt, an ihrer vollen Auswirkung mitzuarbeiten, überzeugt, daß Ich damit dem Wohle des deutschen Volkes am besten diene. Das Kaiseramt ist Dienst am Volk.“ Der Reichskanzler zögerte allerdings die Veröffentlichung dieses Bekenntnisses des Kaisers zur parlamentarischen Demokratie und zum Volk als Grund des Bestehens auch der Monarchie in dieser kritischen Situation trotz wiederholter Mahnungen durch Wilhelm so lange hinaus, bis es auf die Entwicklung der öffentlichen Meinung keine Wirkung mehr entfalten konnte.99 Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass zu diesem Zeitpunkt in Deutschland bereits eine parlamentarische Monarchie moderner Prägung erreicht 93

Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V, S. 590. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V, S. 590. 95 Wilhelm J. Wagner, Neuer Bildatlas zur deutschen Geschichte, 2002, S. 272. 96 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V, S. 622. 97 Vgl. Reinhold Zippelius, Kleine deutsche Verfassungsgeschichte, Vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart, 7. Aufl. 2006, S. 123. 98 Kröger, Einführung in die jüngere deutsche Verfassungsgeschichte (1806 – 1933), S. 99. 99 Hierzu Prinz Max von Baden, Erinnerungen und Dokumente, 1927, 2. Ausg. 1968, S. 496; Erich Matthias/Rudolf Morsey, Die Regierung des Prinzen Max von Baden, Düsseldorf 1962, S. 410; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V, S. 592. 94

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war. Der Europarat hat zu Beginn des 21. Jahrhunderts durch die sog. Venedig-Kommission grundsätzliche Anforderungen an die Verfassungen monarchischer Mitgliedstaaten erarbeitet, die sich insbesondere auf das Verhältnis des Monarchen zu Parlament und Regierung beziehen: „It has to be regarded as part of the European constitutional heritage that, where monarchies exist, the power of the monarch is regulated in a way which avoids a conflict with the democratic principle. European monarchs do not have wide political powers and the tendency, after the establishment of the Council of Europe, has been to further reduce their powers.“100 Weitere Anforderungen des Europarats betreffen die Verantwortlichkeit der Exekutive gegenüber dem Volk, den Primats des demokratisch gewählten Vertretungsorgans sowie die Rechtsstaatlichkeit: „The European monarchies members of the Council of Europe all respect a number of common democratic principles: The principle of representation requires inter alia that the executive is accountable to the people. … Moreover, it is a common feature of a representative and pluralistic democracy that the primacy of power rests with the representative and democratically elected body. … In the Council of Europe member States democracy is inseparable from the Rule of Law.“101 Aus den zur Parlamentarisierung gemachten Ausführungen ergibt sich, dass diese Anforderungen jedenfalls für den nach dem 26. Oktober 1918 vorzufindenden Verfassungsbestand des Deutschen Reiches ohne weiteres erfüllt waren. Zum Zeitpunkt der Revolution hatte die Verfassungsentwicklung in Deutschland somit ein Stadium erreicht, das dem Typus einer modernen parlamentarischen Demokratie mit monarchischem Staatsoberhaupt entsprach. Objektiv besehen gab es nur eine politische Perspektive, aus der gegen die nunmehr geltende Verfassungsordnung eine Revolution sinnvoll war: Die Perspektive der Ultralinken, die den gänzlichen Umsturz aller gesellschaftlichen Verhältnisse wollte. „Um das System des gewaltenteilenden parlamentarisch-demokratischen Verfassungsstaats voll zu verwirklichen, bedurfte es keiner Revolution. Die revolutionäre Bewegung verstand unter ,Demokratie‘ jedoch etwas anderes als das klassische Modell des pluralistischen parlamentarisch-demokratischen Mehrparteienstaats. ,Demokratie‘ war für die revolutionäre Linke eine Umschreibung für den Umsturz aller gesellschaftlichen Verhältnisse, den nur die ,Diktatur des Proletariats‘ bewirken und aufrechterhalten konnte.“102 Die heute weit verbreitete Vorstellung, am Ende des Krieges sei die Monarchie in Deutschland durch die Demokratie überwunden worden, könnte also falscher nicht sein. Es war vielmehr so, dass die zu diesem Zeitpunkt erreichte parlamentarische 100 European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Opinion on the Amendments to the Constitution of Liechtenstein proposed by the Princely House of Liechtenstein, Opinion no. 227/2002, CDL-AD (2002) 32, S. 4 f. 101 European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Opinion on the Amendments to the Constitution of Liechtenstein proposed by the Princely House of Liechtenstein, Opinion no. 227/2002, CDL-AD (2002) 32, S. 4 f. 102 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V, S. 619, Hervorhebung im Original.

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Monarchie in Deutschland Opfer von explizit antidemokratischen Kräften geworden ist, die nicht nur den Kaiser, nun ausdrücklich Diener des Volkes, sondern auch den bereits erreichten gewaltenteilenden parlamentarisch-demokratischen Verfassungsstaat beseitigen wollten. Nur wenige Tage nach der demokratisch legitimierten Einführung der parlamentarischen Monarchie im Wege der Verfassungsänderung, am 9. November 1918, hörte der Fraktionsvorsitzende der SPD im Reichstag, Philipp Scheidemann, um zwei Uhr nachmittags in einer Betriebsvertrauensleute betreffenden Sitzung von der Übergabe des Kanzleramts durch Max von Baden an Friedrich Ebert. Dies nahm er zum Anlass, sich mit einer improvisierten Ansprache an eine Gruppe von Demonstranten vor dem Reichstag zu wenden, um seine Freude mit diesen zu teilen und um seinem Hang zur Selbstinszenierung nachzugeben. Seine Stegreifrede gipfelte in den Worten „Es lebe die deutsche Republik!“ Das spontane Zustandekommen dieses dann als „Ausrufung der Republik“ in die Geschichte eingegangenen Ausspruchs spricht für die Vermutung Ernst Rudolf Hubers, dass es sich hierbei der Intention Scheidemanns nach nur um eine effektvolle rednerische Floskel im Sinne des in diesen Tagen öfter zu hörenden „Hoch auf die Republik“ handeln sollte, nicht aber um eine ernst gemeinte revolutionäre Proklamation im Sinne eines Umsturzversuches.103 Scheidemann hatte ebenso wie Friedrich Ebert und die von ihnen geführten Mehrheitssozialisten dem sog. Regentschaftsplan zugestimmt104, durch den die Monarchie trotz der Belastung Kaiser Wilhelms II. als Hauptsymbol der von den Linken bekämpften Ordnung105 bewahrt werden sollte. Als der SPD-Vorsitzende und neue Kanzler Ebert, der eine „parlamentarische und soziale“ Monarchie wollte106, von der „Ausrufung der Republik“ durch Scheidemann erfuhr, schrie er seinen Parteigenossen an: „Du hast kein Recht, die Republik auszurufen! Was aus Deutschland wird, ob Republik oder was sonst, das entscheidet eine Konstituante!“107 Hans Schneider merkt zu diesen Vorgängen an: „Nachdem das Wort ,Republik‘ öffentlich gefallen war, erledigten sich die Pläne, eine vorläufige Reichsverweserschaft einzusetzen und die Entscheidung über die künftige Staatsform in der Schwebe zu halten.“108 Eine merkwürdige Revolution war es, die sich gegen die Staatsform-

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Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V, S. 691. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V, S. 631. 105 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V, S. 621. 106 Rudolf Weber-Fas, Epochen deutscher Staatlichkeit, Vom Reich der Franken bis zur Bundesrepublik, Stuttgart 2006, S. 163; Wagner, Neuer Bildatlas zur deutschen Geschichte, S. 274 f. 107 Wagner, Neuer Bildatlas zur deutschen Geschichte, S. 274 f.; vgl. hierzu auch Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V, S. 691. 108 Hans Schneider, Die Reichsverfassung vom 11. August 1919, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. 1, 3. Aufl. 2003, § 5 Rdnr. 1. Zudem ließ die Aussage des Präsidenten der Vereinigten Staaten, man werde nicht mit „monarchischen Autokraten Deutschlands“ verhandeln, die Abdankung als Voraussetzung für Frieden erscheinen, vgl. 104

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wahl der Volksvertretung der ersten parlamentarischen Demokratie in Deutschland richtete. Zusammen mit den zahlreichen „Abdankungen“ in Einzelstaaten schuf sie aber Tatsachen. Tatsache war nunmehr – wie es bei Golo Mann heißt – „das kampflose Entschwinden der Monarchie überall in Deutschland, binnen drei Tagen, während doch so vieles, was unvergleichlich schuldiger gewesen war, nicht entschwand, nicht versank, und, wenn es momentan schwieg, nur zu bald wieder nur zu laut werden durfte. Die Strafe traf die Allerharmlosesten, jene, die gar keinen Harm hatten tun können, selbst wenn sie es gewollt hätten, traf die zugleich durch ihren Rang Exponiertesten und in Wirklichkeit Schwächsten, eben weil sie beides waren; nicht die Herren von der Obersten Heeresleitung und von der Admiralität, von der ,Vaterlandspartei‘, nicht jene Großindustriellen und Großagrarier, die noch vor kurzem einen Frieden ohne die verrücktesten Eroberungen als ,Verzichtfrieden‘ angeprangert hatten. So sonderbar kann es zugehen.“109 Im Gegensatz zur Einführung der parlamentarischen Monarchie durch den gewählten Reichstag verlief diese tiefgreifende faktische Veränderung der Verfassungsordnungen des Reiches und der Fürstenstaaten des Bundes ohne jede demokratische Legitimation. Die verfassunggebende Nationalversammlung, der Ebert die Entscheidung über die künftige Staatsform vorbehalten wollte, wurde erst am 19. Januar 1919110 gewählt. Die linksgerichteten Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD), deren Münchner Vorsitzender Kurt Eisner mit seiner Ausrufung des „Freien Volksstaates Bayern“ am 7. November 1918 den republikanischen Umsturz eingeleitet hatte111, erreichten nur 7,6 % der Stimmen112, während die Parteien, die sich im Reichstag für die parlamentarische Monarchie entschieden hatten, die überwältigende Mehrheit der Wählerstimmen erhielten. Gleichwohl sollte die am 31. Juli 1919 verabschiedete Weimarer Reichsverfassung als erste Bestimmung des Verfassungstextes – in Art. 1 Abs. 1 – den Satz enthalten: „Das Deutsche Reich ist eine Republik“. Diese neue Republik würde bald auf eine harte Bewährungsprobe gestellt. 3. Faschismus und Nationalsozialismus als Feuerprobe der Staatsformen Es ist durchaus möglich, dass Hitler in einer fortbestehenden Monarchie nie auch nur Reichskanzler hätte werden können, wie es etwa Vernon Bogdanor für möglich Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, Vom Frankenreich bis zur Wiedervereinigung Deutschlands, 5. Aufl., München 2005, S. 356 f. 109 Mann, in: Glaser (Hrsg.), Wittelsbach und Bayern, Bd. III/1: Krone und Verfassung. König Max I. Joseph und der neue Staat, S. 473 (477). 110 Am 2. Februar für die Soldaten des Ostheeres. 111 Siehe hierzu Albert Schwarz, § 20. Die Novemberrevolution in Bayern und die Regierung Eisner, 2. Der Sturz der wittelsbachischen Monarchie, in: Max Spindler (Hrsg.), Handbuch der Bayerischen Geschichte, Vierter Band, Das neue Bayern, Erster Teilband, München 1974, S. 395 ff. 112 Schneider, HStR I, 3. Aufl. 2003, § 5 Rdnr. 7.

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hält: „In Germany, the abdication of the Kaiser caused the Weimar regime to be deprived of that symbolic underpinning which might have prevented Hitler’s conquest of power.“113 Auch Winston Churchill dachte in dieser Richtung: „Emperors having been driven out, nonentities were elected“. Die Interpretation von Hindenburg als „Steigbügelhalter“ Hitlers wirft ein frappierendes Schlaglicht auf den Wegfall der Monarchie als Vorbedingung für die Errichtung der Nazi-Diktatur. Es erinnert unweigerlich an die oben zitierten Worte Golo Manns, macht man sich klar, dass schon wenige Jahre, nachdem man den Kaiser ins Exil geschickt hatte, am 26. April 1925 ausgerechnet Hindenburg seine Rolle als Staatsoberhaupt übernahm.114 Aber selbst wenn Hitler noch Reichskanzler geworden wäre – hätte er sich in einer Monarchie auch zum unumschränkten „Führer“ machen können? Auch hierauf fällt die Antwort erstaunlich klar aus: Am 1. August 1934 verfügte die Reichsregierung durch das „Gesetz“ über das Staatsoberhaupt des Deutschen Reiches115 die Vereinigung der Ämter und Befugnisse des Reichspräsidenten mit denen des Reichskanzlers. Diese vollzog sich mit dem Ableben Hindenburgs bereits am darauffolgenden Tage und Hitler bestimmte noch an diesem 2. August 1934 durch Erlass116, dass die beiden Ämter fortan unter dem Titel „Führer und Reichskanzler“ ausgeübt würden.117 Im unmittelbaren Anschluss hieran ließ Hitler alle deutschen Soldaten auf diese Formel und somit auf seine Person einen neuen Eid ablegen, der den Eid auf die Verfassung, der gegenüber Volk und Vaterland verpflichtete, ersetzte. Welche fatale Wirkung dies später auf die Herausbildung eines effektiven Widerstandes haben sollte, ist hinreichend dokumentiert worden. In einer Monarchie wäre eine Machtusurpation nach diesem Muster undenkbar gewesen. In der Monarchie heißt es: „Der König ist tot, es lebe der König!“118 Ein für den Diktator nutzbares Vakuum hätte in der Staatsform der Monarchie nicht entstehen können. Nur in der Republik konnte Hitler das Amt des Staatsoberhauptes an sich reißen und seine Person, beginnend mit dem „Führer“-Eid, schließlich zum Gegenstand kultischer Überhöhung machen. Die von niemand mehr anfechtbare Stellung, die nur so erreicht werden konnte, sollte ausschlaggebend werden für das ungeheuerliche Ausmaß der Katastrophen des Holocaust und des Zweiten Weltkrieges. Spanien zog später aus der Diktatur den Schluss, die für Jahrzehnte unterbrochene Monarchie tatsächlich wiederzubeleben.119 Das Land war seit 1947 offiziell eine 113

Bogdanor, The Monarchy and the Constitution, S. 299 f. Winston Churchill, The Second World War, Bd. 1: The Gathering Storm, 1948, S. 9. 115 RGBl I, S. 747. 116 RGBl I, S. 758. 117 Rolf Grawert, Die nationalsozialistische Herrschaft, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. 1, 3. Aufl. 2003, § 6 Rdnr. 24. 118 So für Liechtenstein Frick, in: Kurt Ebert (Hrsg.), Pro Iustitia et Scientia, Festgabe zum 80. Geburtstag von Karl Kohlegger, S. 217 (218). 119 Hierzu Walther L. Bernecker, Sozialgeschichte Spaniens im 19. und 20. Jahrhundert, Vom Ancien Régime zur Parlamentarischen Monarchie, Frankfurt am Main 1990, S. 323 ff. Spanien hatte übrigens schon in der – mangels geeigneter und politisch opportuner Kandidaten 114

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„Monarchie ohne Monarch“ und ein Referendum bekräftigte im Jahre 1966, dass die Monarchie künftige Staatsform Spaniens sein solle. Die transición hin zu einer freiheitlich-pluralistischen Demokratie monarchischer Staatsform nach dem Ableben Francos (1975) wird als eines der wenigen glücklichen Kapitel der spanischen Verfassungsgeschichte angesehen.120 Übrigens scheute man sich in Spanien auch unmittelbar nach dem Tode des Diktators nicht, diese Verfassungserneuerung dem Volke zur Annahme in einem Referendum vorzulegen (1976).121 1981 zahlte sich die Wahl der Staatsform der Monarchie aus, als sich König Juan Carlos unter extensiver Nutzung seiner Kompetenzen als König erfolgreich einem Putschversuch reaktionärer Kräfte entgegenstellte. Hätte man sich nicht auch im Parlamentarischen Rat fragen müssen, wie Italien relativ unbeschädigt aus dem Krieg herauskommen und seine Kulturgüter weitestgehend bewahren konnte, während in Deutschland zuerst die Städte dem Erdboden gleich sein mussten? Die Antwort auf diese Frage ist offenkundig: Im Juli 1943, genau zu jenem Zeitpunkt, als mit der Anweisung Arthur Harris’ „To destroy Hamburg“122 der Vernichtungskrieg gegen die deutschen Städte und ihre Bevölkerung begann, wurde in Italien nach den ersten Luftangriffen auf Rom der faschistische Diktator Mussolini von König Viktor Emanuel III. entlassen und der Faschismus für beendet erklärt. Freilich wäre es nicht gerechtfertigt, zu behaupten, dass sich König Viktor Emanuel III. in den zwanzig Jahren, in denen Mussolini unter ihm regierte, als Antifaschist verdient gemacht hätte. Im Gegenteil: Auch wenn er sich darauf berief, Mussolini 1922 zum Ministerpräsidenten ernannt zu haben, um Blutvergießen zu vermeiden123, stand er dem Ausbau der Macht des Diktators zunächst nicht im Wege.124 In zwanzig Jahren hatte er in seinen Auseinandersetzungen mit Mussolini immer wieder nachgegeben125, sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen und das Feld dem „Duce“ überlassen.126 Es mag auch sein, dass der König Mussolini noch nicht entlassen hätte, wenn er nicht von Teilen der Militärführung und von der wü-

für die Position des Königs – ohne Begeisterung der Bevölkerung am 11. Februar 1873 eingeführten Republik derart schlechte Erfahrungen gemacht, dass sich diese Republik nur für zehn Monate halten konnte, vgl. Bernecker, a. a. O., S. 163 ff. 120 Klaus Michael Rogner, Die Befugnisse der Krone im spanischen Verfassungsrecht, Umfang und Grenzen des staatsrechtlichen Handlungsermessens der Krone, Berlin 1999, S. 50. 121 Rogner, Die Befugnisse der Krone im spanischen Verfassungsrecht, S. 50. 122 So die Beschreibung der Intention in seinem Operation Order No. 173 – Bomber Command – vom 27. Mai 1943. 123 Denis Mack Smith, Italy and its Monarchy, New Haven, London 1989, Kapitel 5, 3. Mussolini is dismissed, 4, The armistice, S. 339. 124 Edgar R. Rosen, Königreich des Südens – Italien 1943/44 – Forschungsberichte der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft, Göttingen 1988, S. 18. 125 Rosen, Königreich des Südens – Italien 1943/44 – Forschungsberichte der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft, S. 18. 126 Mack Smith, Italy and its Monarchy, S. 267 f.

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tenden Bevölkerung nach den Bombenangriffen auf Rom (19. Juli 1943) zu diesem Schritt gedrängt worden wäre.127 Aber auf all diese persönlichen Unzulänglichkeiten Viktor Emanuels kommt es in der hier vorzunehmenden vergleichenden Betrachtung der Staatsformen im Faschismus bzw. Nationalsozialismus nicht entscheidend an. Entscheidend ist doch gerade, dass die Monarchie als Institution nicht völlig versagte, obwohl ein schwacher und unentschlossener Mensch König war. Entscheidend ist, dass der Monarch seine Fehler korrigiert hat, bevor das gesamte Land in Schutt und Asche lag, und er dies noch 1943, nach mehr als zwei Jahrzehnten der Regierungszeit Mussolinis, tun konnte. Entscheidend ist, dass zu dem Zeitpunkt, als die Lebensumstände unerträglich und die Gefahren für die Kultur zu groß wurden, neben der Person des Diktators noch eine zweite Institution an der Spitze des Staates existierte, um die herum sich der Widerstand formieren konnte und die in der Lage war, im Verhältnis zum Diktator eine vorrangige Loyalität in Anspruch zu nehmen. So teilte König Viktor Emanuel am 25. Juli 1943, die „Operation Gomorrha“ mit dem Ziel der Vernichtung Hamburgs lief an ihrem zweiten Tag, Mussolini mit, dass er Marschall Badoglio den Auftrag zur Kabinettsbildung erteilt habe und dieser angenommen habe. Mussolini wurde noch am selben Tage auf Anordnung des Königs verhaftet.128 Wäre zu diesem Zeitpunkt auch Hitler entlassen und verhaftet worden, wäre die überwältigende Mehrzahl der Morde in Konzentrationslagern und der Kriegstoten an den Fronten und in der Zivilbevölkerung verhindert worden. Es wäre Kulturgut von unschätzbarem Wert erhalten geblieben, anstatt unwiederbringlich verloren zu gehen. Allein, es gab in Deutschland niemanden, der Hitler hätte entlassen können. Die hier vertretene These geht wie gesagt nicht primär dahin, dass Hitler unter den Bedingungen einer Monarchie nie Reichskanzler geworden wäre129, obwohl das Verhältnis des Kaisers zum Nationalsozialismus schon in einem frühen Stadium, spätestens ab Anfang 1934, von einer sich immer weiter vertiefenden Feindseligkeit geprägt war.130 Hitler wäre aber ganz sicher nie Führer und Reichskanzler, nie Staatsoberhaupt und Regierungschef in Personalunion geworden und zu dem Zeitpunkt, als die Nazi-Diktatur ihr ganzes wahres Gesicht zeigte, hätte noch eine Institution bestanden, mit Hilfe derer man Hitler von seinen schlimmsten Verbrechen hätte abhalten können. Vielleicht wäre dieser Moment schon vor dem Überfall auf Polen erreicht gewesen, denn Kaiser Wilhelm war entsetzt, als er im November 1938 von der sog. „Reichskristallnacht“ erfuhr. Er erklärte, sich zum ersten Mal zu schämen, ein Deut127

Rosen, Königreich des Südens – Italien 1943/44 – Forschungsberichte der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft, S. 16 f. 128 Vgl. zu den Maßnahmen von Polizei und Militär an jenem Tage Carmine Senise, Quando ero capo della polizia 1940 – 1943, Rom 1946, S. 193 – 220. 129 Die beiden Treffen mit Göring in Huis Doorn 1931 und 1932 sollen hier nicht verschwiegen werden, vgl. hierzu Willibald Gutsche, Ein Kaiser im Exil, Der letzte deutsche Kaiser Wilhelm II. in Holland, Eine kritische Biographie, Marburg 1991, S. 111 ff.; Clark, Kaiser Wilhelm II., S. 251. 130 Clark, Kaiser Wilhelm II., S. 251.

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scher zu sein. Er bezeichnete das Pogrom als Schande und forderte alle anständigen Deutschen auf, gegen die Verfolgung durch die Nazis aufzustehen.131 Hitler seinerseits war es sehr bewusst, wie gefährlich ihm die bloße Idee der Monarchie132 werden konnte. Schon am 27. Januar 1934 hatte er befohlen, alle Feiern zum 75. Geburtstag des Kaisers aufzulösen. Einige Tage danach wurden alle monarchistischen Organisationen verboten, später auch das Zeigen kaiserlicher Bilder, Symbole und Memorabilia.133 Auch das Verhältnis der Chefs ehemals regierender Häuser der Einzelstaaten zu den Nationalsozialisten gibt Anlass zu Spekulationen, was geworden wäre, wenn Deutschland zu jener Zeit auf Landesebene zumindest teilweise noch aus Monarchien bestanden hätte. Man denke etwa an das Schicksal der Mitglieder der Häuser Wittelsbach und Mecklenburg-Strelitz unter der Gewaltherrschaft. Kronprinz Rupprecht von Bayern (1869 – 1955) musste wegen seiner Gegnerschaft zum Nationalsozialismus 1939 nach Italien ins Exil gehen und konnte sich später, zur Zeit der deutschen Besetzung, einer Verhaftung nur dadurch entziehen, dass er sich in Florenz verstecken ließ. Seine zu diesem Zeitpunkt bis Ungarn geflohene Familie wurde dort 1944 von der Geheimen Staatspolizei verhaftet und bis 1945 in den Vernichtungslagern Sachsenhausen, Flossenbürg und Dachau gefangen gehalten. Dem von den Nazis bekämpften „politischen Katholizismus“ wurden auch Georg Herzog zu Mecklenburg (1899 – 1963) und seine Familie zugerechnet. 1940 fiel ihr Wohnsitz, Schloss Remplin bei Malchin, der Brandstiftung durch die Nationalsozialisten zum Opfer. 1944 wurde Georg Herzog zu Mecklenburg im Vernichtungslager Sachsenhausen in Einzelhaft eingekerkert. Auch Philipp II. Albrecht Herzog von Württemberg (1893 – 1975) war ein ausgesprochener Gegner der Nazi-Machthaber. Er weigerte sich, am Kronprinzenpalais in Stuttgart die Hakenkreuzfahne anzubringen und wurde gezwungen, Stuttgart zu verlassen. Sein Bruder Carl Alexander war Benediktinerpater geworden, musste wegen Repressalien der Nazis emigrieren und machte sich von den Vereinigten Staaten aus um die Rettung deutscher Juden verdient. In Bayern hatte das konservative Bürgertum im Winter 1932/33 sehr deutlich die Rückkehr der Wittelsbacher als Rettung vor Adolf Hitler gefordert und man begann sogar, Kronprinz Rupprecht zu tadeln, weil er den Schritt zum Thron nicht tat. Dieser Versuch der Bayern, den Nationalsozialismus aufzuhalten, war aber schon infolge des Monarchieverbotes in der Weimarer Reichsverfassung aussichtslos, da der Chef des Hauses Wittelsbach nicht zu einem Staatsstreich gegen diese Verfassung bereit war.134

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Zit. bei Michael Balfour, The Kaiser and His Times, London 1964, S. 419. Vgl. hierzu Bogdanor, The Monarchy and the Constitution, S. 305. 133 Clark, Kaiser Wilhelm II., S. 251. 134 Mann, in: Glaser (Hrsg.), Wittelsbach und Bayern, Bd. III/1: Krone und Verfassung. König Max I. Joseph und der neue Staat, S. 473 (477). 132

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Konkret belegbar ist das segensreiche Wirken eines regierenden Monarchen in dieser Zeit für die besetzten Länder Südosteuropas: Während 81,2 % der Juden in der Republik Jugoslawien verschleppt und ermordet wurden, führte im benachbarten Bulgarien König Boris III. zusammen mit der Orthodoxen Kirche den Widerstand der Bevölkerung gegen die geplante Deportation an. Nicht einer der 48.000 jüdischen Bürger des Landes wurde deportiert.135 4. Ergebnis des „Stresstests“ 20. Jahrhundert: Gänzliches Versagen der Republik Weniger als 30 Jahre, nachdem die Weimarer Reichsverfassung das republikanische Prinzip für Reich und Bundesstaaten festgelegt hatte, musste schon wieder nach einem verlorenen Krieg über eine neue Verfassung für Deutschland beraten werden. Die Frage einer Rückkehr zur parlamentarischen Monarchie wurde aber im Parlamentarischen Rat nicht einmal andiskutiert. Eigentlich müsste dies erstaunen: Ansonsten klopfte man die Regelungen der Weimarer Reichsverfassung in jeder denkbaren Hinsicht darauf ab, inwiefern sie für Machtergreifung und Machterhalt Hitlers, für die humanitären Katastrophen des Holocaust und des Krieges „mitverantwortlich“ waren.136 So kaprizierte man sich etwa auf die konkrete Ausgestaltung der verfassungsrechtlichen Stellung des Reichspräsidenten, stellte sich aber nicht die grundlegende Frage, wie sich denn die republikanische Staatsform als solche in dieser Zeit bewährt hat. In Italien hat die Monarchie nicht überlebt, weil man Viktor Emanuel III. Komplizenschaft mit Mussolini vorwarf bzw. sein Versagen, sich ihm nicht früher in den Weg gestellt zu haben.137 Festzuhalten bleibt aber, dass die Staatsform der Monarchie in Italien in der größten Bedrohung für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Leib und Leben der Bevölkerung, ja für das Fortbestehen der Kulturnation, noch vieles zum Guten bewirken konnte. Misst man die „Leistung“ der Staatsform der Republik in Deutschland an diesem vorteilhaften Wirken der Monarchie in Italien, so kann der Republik nur ein gänzliches Versagen attestiert werden. III. Fazit: Monarchie und direkte Demokratie sind natürliche Verbündete gegen die ausufernde Macht der Oligarchie Auch dann, wenn wir uns heute in „besseren Zeiten“ wähnen, wenn wir davon ausgehen dürften, dass eine Bedrohung der Demokratie, wie sie in den zwanziger und dreißiger Jahren heraufzog, nicht mehr möglich sei: Noch immer gäbe es das wesentliche Argument für die Monarchie, das 1918 die demokratisch gewählte 135

The Daily Telegraph, Jan. 26, 2005, S. 10. Vgl. hierzu etwa Klaus Kröger, Einführung in die Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, München 1993, S. 23 ff. 137 Mack Smith, Italy and its Monarchy, S. 341. 136

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Reichstagsmehrheit für die Aufrechterhaltung der Monarchie stimmen ließ: Das Ziel, das Staatsoberhaupt aus der Parteipolitik herauszuhalten und seine Neutralität zu wahren.138 Darüber noch hinaus geht die Erwartung, in der Institution der Monarchie ein Gegengewicht zur ausufernden Parteienmacht zu haben und die Herausbildung einer Oligarchie zu verhindern, wie es oben bereits aus britischer und aus liechtensteinischer Sicht artikuliert wurde. Damit hängt eng zusammen die Rolle der Monarchie als einer Art „Katalysator“ einer echten, unmittelbaren Demokratie, wie sie in der Verfassungswirklichkeit Liechtensteins bereits eindrucksvoll gewirkt hat. All diese Funktionen setzen aber voraus, dass der Monarch mehr ist als ein „Grüß-August“139, mehr als ein Sprachrohr der Oligarchie. Für Deutschland und Österreich mag eine Rückkehr zur Monarchie aufgrund der unterbrochenen Tradition schwer vorstellbar sein. Unmöglich ist sie aber keineswegs, wie das erfolgreiche Beispiel der spanischen transición zeigt. Die hier vorgelegte Analyse mag es erleichtern, sich in der verbleibenden Zeit bis zum 100. Jahrestag der „Revolution“, der Anlaß zur Staatsformdiskussion geben sollte, mit dieser Vorstellung vertraut zu machen. Denn eine wichtige Erkenntnis der britischen Verfassungslehre gilt für Deutschland und Österreich ebenso wie in der ungebrochenen britischen Tradition: „Monarchy, after all, is essentially an institution of the imagination, as Disraeli and Bagehot so well understood.“140

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Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V, S. 622. Fürst Hans-Adam II. von Liechtenstein, Der Staat im dritten Jahrtausend. 140 Bogdanor, The Monarchy and the Constitution, S. 305; Walter Bagehot (1826 – 1877), brit. Verfassungstheoretiker und Ökonom, Autor von „The English Constitution“, 1867. 139

Der Beitrag Gabriel Riessers und Hermann Hellers zur Entwicklung der deutschen Staatsrechtswissenschaft Von Wilfried Fiedler, Saarbrücken I. Als Gabriel Riesser (1806 – 1863) am 17. Oktober 1860 zum Mitglied des Hamburger Obergerichts ernannt wurde, war er nicht nur der erste jüdische Richter in Deutschland, sondern er hatte einen Teil seines Lebenszieles erreicht: die Gleichberechtigung der Juden in Deutschland. Ein anderes Ziel blieb ihm allerdings verwehrt: die Erringung einer Professur an einer deutschen Universität.1 Seine Habilitationspläne in Heidelberg und Jena scheiterten an seiner Herkunft. Während seines Studiums hatte er Kontakt in Heidelberg mit Thibaut und Mittermaier, in München förderten ihn Schelling, Oken und Görres.2 Schließlich wurde er beruflich als Anwalt, Notar, Schriftsteller und Redner tätig. Er besuchte die jüdischen Gemeinden in vielen Regionen Deutschlands. Konsequent übernahm er die Verteidigung auch berühmter Zeitgenossen, wie Börne und Heine, gegen Anwürfe verschiedenster Art.3 Riesser lehnte es konsequent ab, sich dem geläufigen Brauch anzuschließen, sich durch den Übertritt zum Christentum die bislang versperrten Wege zu öffnen. Dies lag zu einem wesentlichen Teil an dem engen Kontakt zu seinem Vater, zu dem er seit seiner Kindheit eine enge Beziehung hatte4 und der ihm auch Unterricht in juristischen Partien des Talmuds gab.5 Riessers religiöse Ausrichtung war auch insofern vorbestimmt, als er elterlicherseits aus angesehenen Rabbiner-Familien stammte und ein entsprechendes Selbstverständnis aufbrachte. Er verbrachte seine Gymnasialzeit auf dem Hamburger Johanneum und am Lübecker Katharineum, wo er auch die Reifeprüfung ablegte. Aufsehen erregte er mit einer vielgerühmten, auf Griechisch gehaltenen Abschlussrede. Bereits damals war Riesser abhängig von der jeweiligen

1 Vgl. Fiedler, Vom Kampf für die Emanzipation der Juden zur freiheitlichen deutschen Verfassung, in: Heinrichs/Franzki/Schmalz/Stolleis (Hrsg.), 1993, 85 – 99, 88. 2 Vgl. Fiedler, ebd. 3 Vgl. Fiedler, Gabriel Riesser – Für verfassungsrechtliche Freiheit und Gleichstellung der Juden, in: Düwell/Vormbaum (Hrsg.), Recht und Juristen in der deutschen Revolution 1848/ 49, 1998, 47 – 92, 62 ff. 4 Vgl. Fiedler, ebd., 51 ff. 5 Vgl. Lehmann, Gabriel Riesser, ein Rechtsanwalt, 1881, 6.

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politischen Duldung in den norddeutschen Städten, die sich nach dem Abzug Napoleons änderte. Sein kämpferisches Eintreten für die Emanzipation der Juden brachte Riesser einen hohen Bekanntheitsgrad in Deutschland, und so blieb es nicht aus, dass er 1848 ins damals hochangesehene „Vorparlament“ berufen wurde.6 Hier setzte er sich besonders für das allgemeine und gleiche Wahlrecht für die Wahlen zur Paulskirchen-Versammlung ein und setzte es mit durch. Die Wahlen zur verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung fanden daher ohne Bedingung des Standes, des Vermögens oder des Glaubensbekenntnisses statt. Riesser wurde im Mai als Abgeordneter für die Nationalversammlung gewählt und vertrat dort das Herzogtum Lauenburg. Sehr bald wurde deutlich, dass eine der Hauptstärken Riessers in der sachlichen Argumentation lag. Hinzu kamen beträchtliche rhetorische Fähigkeiten, und so nimmt es nicht Wunder, dass er bald zum Vorsitzenden des Petitionsausschusses gewählt wurde und sein Einfluss in der Paulskirche beständig wuchs. Seit dem 7. September 1848 arbeitete als Mitglied des Verfassungsausschusses7, und im Oktober und November wurde er mit großer Mehrheit zum Vizepräsidenten des Parlaments gewählt. Berühmt wurde seine „Kaiserrede“ vom 21. März 1849, in der er als Schlußberichterstatter des Verfassungsausschusses die Zuhörer zu Beifallstürmen und tiefer Bewegung hinriss8. Georg Beseler meinte mit vielen anderen, Riesser habe sich als der größte Redner der Versammlung bewährt. „Man sah Riesser und Gagern sich in den Armen liegen“ schrieb Haym in seinem Rückblick auf die Stimmung nach Riessers Abschlussrede9. Es entsprach der großen Anerkennung Riessers in der Paulskirche, dass er als Mitglied der sog. „Kaiserdeputation“ dem preußischen König die Kaiserwürde (wenn auch vergeblich) antrug.10 Im sog. „Honoratioren-Parlament“ fand er sich unversehens neben so unterschiedlichen Persönlichkeiten wie Ernst Moritz Arndt11 oder Ludwig Uhland12. In den Auftritten als Redner und im Verfassungsausschuss war immer deutlicher geworden, dass Riessers Stärken in der geistigen Auseinandersetzung lagen. Er pflegte sie auch am Rande der parlamentarischen Tagesarbeit in privatem Kreise. 6 Näher zum Vorparlament E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, II, 1960, 598 ff. 7 Näher Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, 2. Aufl., 1998, 75 ff. 8 Vgl. Wigard (Hrsg.), Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen Constituierenden Nationalversammlung, 1848 – 49, Bd. 9, 5911. 9 Vgl. auch Friedländer, Das Leben Gabriel Riessers, 1926, 11 ff. 10 Vgl. E. R. Huber (Fn. 6), 847 ff. 11 Aus Rügen (Schoritz), gewählt für Solingen (gehörte dem „Steinernen Haus“ bzw. dem „Casino“ an). 12 Aus Tübingen, gewählt für Tübingen-Rottenburg, Mitglied des Vorparlaments (gehörte dem „Deutschen Hof“ an).

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So war es nur folgerichtig, dass er zusammen mit Robert von Mohl, Rümelin, Stedmann, Laube und anderen zu den rund vierzig Abgeordneten zählte, die das Zustandekommen der Verfassung im März 1849 erst ermöglichten.13 Der im Vorparlament eingeschlagenen Linie blieb er treu, als er in der Paulskirche bei der Vorbereitung des Wahlgesetzes die entsprechende Position vertrat. Das Wahlgesetz der Paulskirche14 wurde später auch von Bismarck herangezogen, der der Revolution von 1848 im Übrigen eher kritisch gegenüberstand. In der Grundrechtsdebatte ergriff Riesser im Plenum nur gelegentlich das Wort, arbeitete aber umso intensiver im Verfassungsausschuss mit. Ihm ist es auch zu verdanken, dass der Grundrechtsteil trotz entsprechender Anträge aus dem südwestdeutschen Raum keine (einschränkende) Sonderregelung für Juden enthielt. Hiergegen stimmte eine breite Mehrheit der Nationalversammlung und nahm insofern eine historische Weichenstellung vor. Wenn man versucht, Riessers politischen Standort näher zu bestimmen, so gerät sofort seine Zuordnung zu einer liberalen Position in den Blick, verbunden mit einer patriotischen Grundhaltung. Lange Zeit sträubte er sich gegen eine „kleindeutsche“ Lösung, die den Ausschluss Österreichs bedeutete, bevor er seinem Realitätssinn folgte. Parteipolitisch gehörte er zunächst dem „Württemberger Hof“ an, nach dessen Spaltung dem „Augsburger Hof“, womit er ab Dezember1848 an die Seite von von Gagern rückte, dessen Position er in vielen Punkten teilte. Trotz aller Kontroversen in der Paulskirche hielt Riesser an seiner ungebrochenen Verfassungstreue fest, was nicht nur in seiner späten Abreise aus Frankfurt zum Ausdruck kam, sondern auch in seinem Eintrag vom 12. September 1849 in das „Parlaments-Album“. Hier klingt bereits seine künftige Grundhaltung an, wenn er anstrebt, „in treuer, schwerer, beharrlicher Arbeit der Zeit“ etwas „abringen“ zu wollen15. Riesser verstand sich auch insofern als Parlamentarier, als er versuchte, mit seinen Wählern Kontakt zu halten, wie in seiner Schrift „Rechenschaftsbericht an meine Wähler zur Deutschen Nationalversammlung“ (1849) deutlich wird. Seine spätere Teilnahme an den Versammlungen in Gotha und Erfurt16 entsprach seiner zuvor gezeigten Nähe zum Verfassungsgedanken.

II. Gewiss, Gabriel Riesser wirkte in der Paulskirche, als der deutsche Parlamentarismus noch in den Kinderschuhen stand und viele Fragen zum ersten Mal gestellt waren. So musste sich die Frankfurter Nationalversammlung selbst eine Geschäftsordnung geben. Dennoch wurde in kürzester Zeit eine Verfassung geschaffen, die in 13

Vgl. E. R. Huber, ebd., 619. Näher Kühne (Fn. 7), 416. 15 Vgl. Fiedler, Die erste deutsche Nationalversammlung 1848/49. Handschriftliche Selbstzeugnisse ihrer Mitglieder, 1980, Bl. 186. 16 Zu den späteren Aktivitäten Riessers näher Fiedler (Fn. 1), 98 und Kühne (Fn. 7), 73 ff., 96 f., 579 f. 14

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späteren Perioden des Staatslebens als Vorbild galt. Sowohl die Weimarer Reichsverfassung als auch das Grundgesetz von 1949 lehnten sich an die Verfassung von 1849 an. Dass diese auch die Handschrift Gabriel Riessers trug, war nur den wenigsten bewusst. Entgegen einer über Jahrzehnte fortgeschleppten Ansicht ist die Frankfurter Verfassungsgebung keineswegs gescheitert.17 Sie verkörpert den Anfang des Parlamentarismus in Deutschland auf Reichsebene und bietet die Quelle zahlreicher verfassungsrechtlicher Ansätze. Der Name Gabriel Riesser ist damit zentral verbunden.18 III. Am Ende des 19. Jahrhunderts (17. 07. 1891) wurde Hermann Heller in der oberschlesischen Stadt Teschen geboren. Sein umfangreiches Werk übt bis in die Gegenwart erheblichen Einfluss auf die staatsrechtliche Entwicklung Deutschlands aus und konnte nach 1945 eine derart herausragende Wirkung erlangen, wie dies zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht zu vermuten war. Sogar in die Maastricht-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1993 fand es zur Verwunderung vieler Eingang19, allerdings in stark zu hinterfragenden europarechtlichen Bezügen. In der breiteren Öffentlichkeit wurde er bekannt durch seine Prozessvertretung der SPD-Landtagsfraktion im Verfahren „Preußen gegen Reich“ im Jahre 1932 vor dem Staatsgerichtshof20 und die Kontroverse mit Carl Schmitt. Größere Bedeutung erlangte jedoch die 1934 nach seinem Tode erschienene „Staatslehre“, deren Manuskript von den Assistenten, insbesondere von G. Niemeyer, in Sicherheit gebracht werden konnte.21 Hermann Heller wurde am 17. 07. 1891 in Teschen im Olsa-Gebiet geboren. Er verbrachte seine Gymnasialzeit zunächst in Teschen, wechselte später aber an das Kronprinz-Rudolf-Gymnasium in Friedeck. Teschen wies neben der deutschen auch erhebliche polnische und tschechische Bevölkerungsteile auf, doch entsprechend der jüdischen Familientradition wuchs H. Heller im deutschen Kulturkreis auf, der ihn entscheidend prägte und ihm erhebliche literarische Kenntnisse verschaffte, die später in seinem wissenschaftlichen Werk immer wieder zum Vorschein kamen. Nach seiner Reifeprüfung 1910 (Matura)22 begann er sein Studium der Rechtswissenschaften in Kiel, setzte es später aber in Innsbruck, Wien und Graz fort. Nicht ohne Reiz ist dabei festzustellen, dass er in Wien bereits Vorlesungen sei17

Ausführlich Kühne (Fn. 7), 73 ff., 579 f. Vgl. die Literaturangaben bei Fiedler (Fn. 3), 99. 19 EuGRZ 20 (1993), 429 ff., 438. 20 Vgl. Fiedler, Das Bild Hermann Hellers in der deutschen Staatsrechtswissenschaft. Leipziger Juristische Vorträge 2 (1994), 15. 21 Die erste Auflage erschien 1934. 6. Aufl.1983. 22 Das Datum seiner Reifeprüfung wurde jahrzehntelang unrichtig angegeben und musste in den neunziger Jahren erst in mühsamer Archivarbeit ermittelt werden. Näher Fiedler, Die Wirklichkeit des Staates als menschliche Wirksamkeit. Über Hermann Heller (Teschen 1891 – Madrid 1933). Oberschlesisches Jahrbuch 1995, 149 ff., 151. 18

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nes späteren Kontrahenten Hans Kelsen hörte.23 Schon in seiner Kieler Zeit war es eine Selbstverständlichkeit, bei der Immatrikulation das jüdische Glaubensbekenntnis anzugeben, worauf Heller stets großen Wert legte. Mit Kiel verbindet sich nicht nur die Zeit der Habilitation, sondern auch die enge Zusammenarbeit mit Gustav Radbruch, mit dem er versuchte, die Idee der Volkshochschule durchzusetzen. Überliefert ist auch das gefährliche Eingreifen Hellers in den Kapp-Putsch, der auch im Kieler Hafengebiet zu Turbulenzen führte. Gustav Radbruch hatte den kurz zuvor habilitierten H. Heller in das Kieler Hafengebiet geschickt mit einem Artilleriewaffen betreffenden Auftrag, doch gerieten beide schließlich in die Gefahr, standrechtlich erschossen zu werden, wovor sie nur das beherzte Eingreifen des damaligen Dekans Walter Jellinek bewahrte. H. Heller litt schon damals an einer Herzkrankheit, die er 1915 während des 1. Weltkrieges erlitten hatte und an der er 1933 in Madrid starb. H. Heller meldete sich als einjähriger Freiwilliger und nutzte 1915 einen Urlaub, um an der Universität Graz seine Promotion abzuschließen, bevor er nach Kriegsende seine akademische Karriere in Kiel fortsetzte. Der Habilitationsschrift über Hegel24 folgten mehr politisch geprägte Jahre in Leipzig25, während denen er sich stärker der praktischen Umsetzung der Volkshochschulidee widmete und eigenständige politische Vorstellungen entwickelte26. Heller orientierte sich in seinem gesamten wissenschaftlichen Werk an der Wirklichkeit des Staates und erfasste auch seine soziologischen und politikwissenschaftlichen Elemente. Auf strikte Ablehnung stieß jede Form des Rechtsformalismus, den er vor allem Hans Kelsen vorwarf. Anders als Rudolf Smend betonte er stärker organisatorische Elemente des Staates, den er auch als Kulturstaat verstand27. In der Konsequenz seines wissenschaftlichen Ansatzes liegt vor allem das Verständnis vom „materiellen Rechtsstaat“, das er in mehreren Schriften entwickelte28 und das ihn in krassen Gegensatz vor allem zu Kelsen brachte. Hinzu kam ein materielles Grundrechtsverständnis das jede Form des Formalismus und Positivismus ausschloss. Es fällt schwer, H. Heller einer der in der Diskussion gängigen Schulrichtungen zuzuordnen, da sein staatsrechtlicher Standort viele Facetten aufwies. Hinzu kam, dass er durch seine Arbeit als Referent am Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin (1926) mit dem Völkerrecht in Berührung kam und er die Außenbeziehungen des

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Vgl. Fiedler (Fn. 20). Hegel und der nationale Machtstaatsgedanke in Deutschland. Ein Beitrag zur politischen Geistesgeschichte, 1921. 25 Näher Fiedler, Das Bild Hermann Hellers in der deutschen Staatsrechtswissenschaft. Leipziger Juristische Vorträge, 2, 1994, 17 ff. 26 So lehnte Heller etwa den sozialistischen Internationalismus ab und geriet in Widerspruch zu seinen örtlichen Vertretern. 27 Näher Fiedler (Fn. 20), 20 ff. 28 Vgl. Fiedler, Materieller Rechtsstaat und soziale Homogenität, JZ 1984, 201 – 211. 24

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Staates in sein Staatsverständnis voll einbezog29. Die Rezeption H. Hellers greift diese Seite seiner Staatslehre ungern auf, um irgendeine Nähe zu Carl Schmitt zu vermeiden. In der Tat bestand trotz der Prozessgegnerschaft von 1932 weniger zu diesem als zu Hans Kelsen ein tiefgehender Gegensatz. Die Einbeziehung der Nation30 schuf weitere Verunsicherungen, auch wenn hier die Realität des Staates zentral getroffen ist. Man wird daher einen wesentlichen Beitrag Hellers gerade in der Einbeziehung nationaler und kultureller Elemente in seine Staatslehre sehen müssen. Insofern besteht der Beitrag Hellers zur Entwicklung der Staatsrechtswissenschaft auch darin, diese auf eine breitere Grundlage gestellt zu haben, statt „Offenheit“ mit einem falschen, nämlich wirklichkeitsfernen Zungenschlag beliebig, also auch begrenzt zu verstehen. Der Beitrag Hellers kann daher nicht auf pauschale Weise, sondern nur problemorientiert gesehen werden. Auf diese Weise verhindert das Werk Hellers die bequeme Einordnung im Sinne eines Schubladendenkens, andererseits bleibt es offen für zeitgemäße Anpassungen. Sein früher Tod im Jahre 1933 traf zusammen mit einer beginnenden internationalen Ausstrahlung und der Flucht nach Spanien, wobei er den Verlust seines Frankfurter Lehrstuhls in Kauf nehmen musste. Anders als Kelsen konnte er seine Karriere nach 1945 nicht in den USA fortsetzen, doch gewann sein bis 1933 geschaffenes Werk genügend Durchschlagskraft, um gängige staatsrechtliche Theorien zumindest mit einem Fragezeichen zu versehen. IV. Riesser und Heller können nur schwer verglichen werden. Sie lebten in unterschiedlichen historischen Zeiträumen und beeinflussten die deutsche Staatsrechtswissenschaft auf unterschiedliche Weise. Doch beide Persönlichkeiten gehörten der gleichen religiös bestimmten Sondergruppe an, auf die sie in besonderem Maße Wert legten und die sie in unterschiedlicher Weise in die staatsrechtliche Entwicklung einbrachten. Es ist dabei aufschlussreich zu sehen, auf welch verschiedenen Wegen sich die Zugehörigkeit zu einer historisch ausgeformten Sondergruppe staatsrechtlich auswirkte. Denn dass beide Personen die staatsrechtliche Entwicklung in Deutschland massiv beeinflussten, ist unbestritten. Die oben behandelte Thematik hält in der übergreifenden Frage der Gleichheit und des materiellen Rechtsstaates Verbindung zu dem Werk von Rudolf Wendt, der beide Themen aus unterschiedlicher Sicht immer wieder angesprochen und sie in sehr bemerkenswerter Weise entfaltet hat.

29 Vgl. die 1927 veröffentlichte Monographie „Die Souveränität. Ein Beitrag zur Theorie des Staates und Völkerrechts“. 30 Vgl. Fiedler (Fn. 20), 159 f.

170 Jahre Eigentumsschutz für gewerbliche Anlagen Anmerkungen zu § 51 GewO Von Karl Heinrich Friauf, Köln / Meersburg Meinem akademischen Schüler Rudolf Wendt zum 70. Geburtstag im Gedenken an gemeinsame fruchtbare Kölner Jahre und in bleibender Verbundenheit

1945, im Geburtsjahr unseres Jubilars, wäre – wenn in jenem Jahr nicht ganz andere Sorgen und Nöte die Deutschen bedrückt hätten – des 100. Jahrestages der preußischen Allgemeinen Gewerbe-Ordnung vom 17. Januar 1845,1 eines der bedeutsamsten Marksteine in der Entwicklung unseres Gewerberechts, zu gedenken gewesen. Dieses Gesetz, ausgefertigt von Friedrich Wilhelm IV., dem „Romantiker auf dem Königsthron“, brachte die preußische Reformgesetzgebung zum Gewerberecht, die mit den Stein-Hardenberg’schen Reformen, namentlich dem Gewerbesteueredikt vom 2. November 1810, begonnen hatte2, zum Abschluß. I. Von § 69 der Allgemeinen GewO 1845 zu § 51 GewO 1869 Die Allgemeine Gewerbe-Ordnung 1845 hat als § 69 die Bestimmung eingeführt, die noch heute, 170 Jahre später, mit praktisch identischem Wortlaut als § 51 GewO in Kraft ist, auch wenn sie seit Erlaß des Bundes-Immissionsschutzgesetzes einen wesentlichen Teil ihres ursprünglichen Anwendungsbereichs verloren hat: § 69: „Wegen überwiegender Nachtheile und Gefahren für das Gemeinwohl kann die fernere Benutzung einer jeden gewerblichen Anlage zu jeder Zeit untersagt werden. Doch muß dem Besitzer alsdann, für den erweislichen wirklichen Schaden, Ersatz geleistet werden.“

Der Wortlaut des § 51 GewO ist insofern noch älter als der des berühmten, seit 1869 unverändert geltenden § 1 GewO, den ich einmal als den rocher de bronce in unserem Gewerberecht bezeichnet habe3.

1

Pr. GS 1845, S. 41. Eingehend und materialreich zu der Entwicklung Kurt v. Rohrscheidt, Vom Zunftzwang zur Gewerbefreiheit, 1898, S. 183 – 586. 3 Friauf, § 1 Rdnr. 20, in: ders., Kommentar zur Gewerbeordnung. Gewerberechtlicher Teil, Stand: 282. Lfg., 2014. 2

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Nach der Errichtung des Norddeutschen Bundes, 1867, kamen alsbald Bestrebungen zur Einführung einer bundesweit einheitlichen Gewerbe-Gesetzgebung zum Tragen. Der endgültige (zweite) Entwurf einer „Gewerbe-Ordnung für den Norddeutschen Bund“, der vom Bundeskanzler unter dem 4. März 1869 beim Norddeutschen Reichstag eingebracht wurde,4 lehnte sich in der hier interessierenden Frage unmittelbar an das preußische Recht an. Er enthielt als § 49 die Vorschrift: „Wegen überwiegender Nachtheile und Gefahren für das Gemeinwohl kann die fernere Benutzung einer jeden gewerblichen Anlage durch die höhere Verwaltungsbehörde zu jeder Zeit untersagt werden. Doch muß dem Besitzer alsdann für den erweislichen wirklichen Schaden Ersatz geleistet werden.“

Damit wurde der Wortlaut des § 69 der Allgemeinen GewO 1845 vollständig und unverändert in den Gesetzentwurf übernommen. Er wurde lediglich durch die ausdrückliche Zuständigkeitszuweisung an die höhere Verwaltungsbehörde ergänzt. Bei den Beratungen des Norddeutschen Reichstages über den Gesetzentwurf, die – soweit § 49 betroffen war – im Wesentlichen in der 2. Lesung am 17. April 1869 stattgefunden haben,5 stand die Annahme der Vorschrift im Grundsatz nicht in Frage. Die Diskussion konnte sich deshalb auf einige Einzelfragen konzentrieren. Einvernehmen bestand darüber, daß der von der Vorschrift ermöglichte Eingriff in den Betrieb einer gewerblichen Anlage als Enteignung – „Expropriation“ – anzusehen sei, so daß die Regelung als „Expropriationsgesetz“ gewertet werden müsse, für das der allgemeine Verfassungsgrundsatz gelte: Es könne „kein Privateigenthum im Interesse der allgemeinen Wohlfahrt entzogen werden ohne volle Entschädigung“.6 Als Ergebnis der Beratungen wurde § 49 des Entwurfs – nunmehr in neuer Zählung als § 45 – mit der Maßgabe angenommen, daß der dem preußischen ALR entlehnte Terminus „erweislicher wirklicher Schaden“, da für den Bereich der nach gemeinem Recht lebenden Bundesländer nicht passend, schlicht durch „erweislicher Schaden“ ersetzt wurde. Außerdem wurde als Absatz 2 eine Rechtswegbestimmung angefügt: „Gegen die untersagende Verfügung ist der Rekurs zulässig; wegen der Entschädigung steht der Rechtsweg offen.“7 Die so ergänzte Bestimmung blieb in der abschließenden dritten Lesung vom 26. Mai 1869 unverändert.8 In der endgültig festgelegten Paragraphenfolge wurde sie zu § 51. Seit der Verabschiedung der Vorschrift durch den Norddeutschen Reichstag sind die beiden maßgeblichen Sätze, die heute den § 51 Satz 1 u. 2 GewO bilden, in4 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages des Norddeutschen Bundes, I. Leg.-Periode, Session 1869, Bd. 3, S. 94 ff., Aktenstück Nr. 13. 5 S. Sten. Berichte, a. a. O., Session 1869, Bd. 1, S. 439 – 442. 6 Dazu s. namentlich die eingehenden Ausführungen des Abgeordneten Miquél (Sten. Berichte, a. a. O., Session 1869, Bd. 1, S. 440, Spalten 1 u.2). 7 S. die Gesammt-Übersicht über die Geschäftsthätigkeit des Reichstages des Norddeutschen Bundes, I. Legislatur-Periode, 2. Sitzungs-Periode, Berlin 1869, S. XXI. 8 S. Sten. Ber., a. a. O., Session 1869, Bd. 2, S. 1093.

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haltlich unverändert geblieben. Lediglich die formale Zuständigkeitsregelung in Satz 1 „durch die höhere Verwaltungsbehörde“ ist durch die Worte „durch die zuständige Behörde“ ersetzt worden. Die Rechtswegbestimmung des zweiten Absatzes wurde durch das Inkrafttreten von Art. 14 Abs. 3 Satz 4 und Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes sowie §§ 42, 68 VwGO obsolet und ist schließlich 1986 auch formell aufgehoben worden (Art. 17 Nr. 10 des Bereinigungsgesetzes vom 18. 02. 1986, BGBl. I S. 265). Schließlich sind durch den mit § 68 Abs. 1 Nr. 5 des BundesImmissionsschutzgesetzes eingefügten § 51 Satz 3 GewO Anlagen insoweit, als sie dem BImSchG unterliegen, von der Anwendung des § 51 GewO ausgenommen worden. Diese Novellierungen lassen indessen den Regelungsgehalt des § 51 GewO in seinem verbleibenden Anwendungsbereich unverändert. Allein um diesen verbleibenden Anwendungsbereich geht es bei den nachfolgenden Überlegungen.

II. Die Untersagung einer Anlage als Eingriff in das Eigentum des Betreibers Eine Auseinandersetzung mit den einzelnen Rechtsfragen, die bei der Anwendung des § 51 GewO auftreten, setzt voraus, daß zunächst grundsätzlich Klarheit über den rechtlichen Charakter der durch Satz 1 der Vorschrift zugelassenen Untersagung der ferneren Benutzung einer gewerblichen Anlage besteht. Umso mehr muß auffallen, daß diese Frage in den bisher vorliegenden Kommentierungen zu § 51 GewO weithin übergangen wird. Eine ausdrückliche Aussage zu der Qualifizierungsfrage findet sich im neueren gewerberechtlichen Schrifttum, soweit feststellbar, lediglich im Kommentar von Fröhler/Kormann. Auch sie bleibt allerdings auf einen beiläufigen Halbsatz beschränkt: Es handle sich bei der Regelung in Satz 2 des § 51 „dem Grunde nach um eine besonders geregelte Enteignungsentschädigung“.9 Damit wird unausgesprochen vorausgesetzt, daß die durch § 51 Satz 1 GewO zugelassene Untersagung des Betriebs der im Einzelfall betroffenen gewerblichen Anlage den Tatbestand einer Enteignung erfüllt. Wo tatbestandsmäßig keine Enteignung vorläge, könnte auch eine Enteignungsentschädigung nicht gewährt werden. In der älteren Kommentar-Literatur zur GewO hat sich vor allem von Rohrscheidt ausdrücklich zu dieser Frage geäußert. Er stellt fest, „daß § 51 die Untersagung der Benutzung einer gewerblichen Anlage im Wege der Enteignung zul(asse)“ (Hervorhebung im Original). Demzufolge sei der „Entschädigungsanspruch … durch Untersagung eines rechtmäßig bestehenden Gewerbebetriebes bedingt“.10 Von Rohrscheidt konnte sich für diesen Standpunkt auf die Entstehungsgeschichte der Vorschrift berufen. Hinzuweisen ist dazu vor allem auf die bereits oben er9

Ludwig Fröhler/Joachim Kormann, Kommentar zur Gewerbeordnung, 1978, § 51 Rdnr. 5. 10 Kurt von Rohrscheidt, Gewerbeordnung für das Deutsche Reich, Bd. I, 2. Aufl. 1912, S. 383.

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wähnten eingehenden Ausführungen zu § 51 GewO, die der Abgeordnete Miquél (Johannes v. Miquél, der spätere Oberbürgermeister von Frankfurt und seit 1890 preußischer Finanzminister, auf den die sog. Miquel’sche Finanzreform mit der Einführung der progressiven Einkommensteuer in Preußen zurückgeht) bei der 2. Lesung im Norddeutschen Reichstag gemacht hat. Danach ist § 51 GewO als „Expropriationsgesetz“ anzusehen, für das die allgemeinen Grundsätze der Verfassung über die Entziehung von Privateigentum im Interesse der allgemeinen Wohlfahrt (Notwendigkeit einer vollen Entschädigung) gelten.11 Auch das preußische Oberverwaltungsgericht hat sich diesem Standpunkt angeschlossen. Namentlich die sehr eingehend begründete Grundsatzentscheidung zu § 51 GewO vom 12. November 1891 legt die Vorschrift dahin aus, daß durch sie „die Untersagung der ferneren Benutzung einer gewerblichen Anlage im Wege der Enteignung für zulässig erklärt“ werde.12 Sie gebe dem Rechtssatz Ausdruck, daß „auch der Betrieb gewerblicher Anlagen den Gegenstand einer Expropriation bilden“ könne.13 Notwendige Voraussetzung für die Anwendung des § 51 GewO im Einzelfall sei demzufolge, daß der jeweils zu untersagende Betrieb „zu Recht bestehe“. Dies folge „schon allein aus der rechtlichen Natur der Enteignung als einer aus Gründen des Gemeinwohls gegen Entschädigung stattfindenden Entziehung bestehender Rechte“.14 Dieser Konzeption ist jedenfalls im Ausgangspunkt insofern beizupflichten, als die durch § 51 GewO zugelassene Untersagung der ferneren Benutzung einer gewerblichen Anlage stets in das Eigentum des Betroffenen eingreift. Das hoheitliche Gebot, die zweck- und funktionsgerechte Nutzung der Anlage, wie sie bisher ausgeübt wird, zukünftig einzustellen, entzieht oder beschränkt die eigentumsrechtlich gewährleisteten Nutzungsbefugnisse. Soweit der zivilrechtliche Eigentümer die Anlage bisher selbst betreibt, bedarf das keiner weiteren Begründung, da sein durch Art. 14 Abs. 1 GG gewährleistetes Eigentum grundsätzlich das Recht auf zweckentsprechende Benutzung der Sache einschließt. Aber auch im Falle einer Nutzung der Anlage durch einen Dritten auf der Grundlage einer bloßen obligatorischen Berechtigung, namentlich eines Pachtverhältnisses, wird man von einer als Eigentum geschützten Position des Nutzers auszugehen haben. Ebenso wie bei dem auf Vertrag beruhenden Besitz- und Nutzungsrecht des Mieters, dessen Qualität als verfassungsrechtlich geschütztes Eigentum (jedenfalls im Verhältnis des Mieters zum Staat) anerkannt ist,15 greift auch

11

Sten. Berichte, I. Legislatur-Periode, Session 1869, Bd. 1, S. 440. Pr. OVG Urt. vom 12. 11. 1891, OVGE 23, 254, 262 – Hervorhebungen im Original. 13 OVGE 23, 254, 265. 14 OVGE 23, 254, 262 – 63. 15 Grundlegend insoweit BVerfGE 89, 1, 5 ff.; s. dazu Rudolf Wendt, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 3. Aufl. 2003, Art. 14 Rdnr. 139, S. 647; Jan-R. Sieckmann, in: Friauf/Höfling, Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Stand: 2014, Art. 14 Rdnr. 44; Karl 12

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zugunsten des Gewerbetreibenden, der einen Betrieb oder eine einzelne Anlage aufgrund eines Pachtverhältnisses nutzt, der Schutz des Art. 14 GG ein. Sowohl selbst nutzende Eigentümer einer gewerblichen Anlage als auch obligatorisch zur Nutzung Berechtigte, die beide in § 51 Satz 2 GewO als „Besitzer“ angesprochen werden, sind demnach durch eine Untersagung nach § 51 Satz 1 GewO in ihrem Eigentum betroffen. Zweifelhaft erscheint indessen, ob der aus der Untersagung der ferneren Benutzung einer gewerblichen Anlage resultierende Eingriff in das Eigentum des Benutzers aus heutiger Sicht noch als Enteignung im Sinne von Art. 14 Abs. 3 GG gewertet werden kann. Legt man die Eigentumsdogmatik, auf der die neuere verfassungsgerichtliche Judikatur insbesondere seit dem Naßauskiesungs-Beschluß von 198116 und der daran anknüpfenden Denkmalschutz-Entscheidung von 199917 beruht, und den aus ihr folgenden formalisierten Enteignungsbegriff zugrunde, dann sind die Voraussetzungen einer Enteignung nicht erfüllt. Die in Frage stehende Maßnahme greift nicht in die rechtliche Zuordnung der betroffenen Vermögensgegenstände ein. Sie ändert weder die Eigentumslage noch die bestehenden zivilrechtlichen Nutzungsberechtigungen (Pachtverträge usw.). Es kommt also nicht zu einer vollständigen oder teilweisen Entziehung von konkreten subjektiven Eigentumspositionen. Die Untersagung nach § 51 Satz 1 GewO dient auch nicht der Güterbeschaffung für einen bestimmten öffentlichen Zweck. Sie erfolgt nicht, um ein konkretes Vorhaben zu verwirklichen, das der Erfüllung öffentlicher Aufgaben dient. Unter diesen Umständen kann die nach § 51 Satz 1 GewO ausgesprochene Untersagung grundsätzlich nicht als Enteignung angesehen werden. Sie muß vielmehr aus verfassungsrechtlicher Sicht zumindest im Regelfall der Ebene einer „bloßen“ Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG zugeordnet werden. Ob in besonders gelagerten Ausnahmefällen die Grenze zum Tatbestand der Enteignung als überschritten angesehen werden kann, muß hier dahingestellt bleiben. Deshalb ist die Ersatzleistung nach § 51 Satz 2 GewO auch nicht als Enteignungsentschädigung zu qualifizieren.18 Für den schrankenziehenden Eingriff in das Eigentum hat der Gesetzgeber selbst in § 51 Satz 2 GewO einen Entschädigungsanspruch vorgesehen (dazu nachfolgend unter Ziffer III.). Deshalb braucht der Frage, ob und inwieweit bei Eingriffen von der Art und Intensität, wie sie § 51 GewO zuläßt, eine Entschädigungspflicht un-

Heinrich Friauf, Das Nutzungsrecht des Wohnungsmieters als Gegenstand der Eigentumsgarantie, in: Festschrift für Hans Hämmerlein, 1994, S. 207 ff. 16 BVerfGE 58, 300. 17 BVerfGE 100, 226. 18 A.A. Fröhler/Kormann, a. a. O. § 51 Rdnr. 5.

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mittelbar aus verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten abgeleitet werden könnte, an dieser Stelle nicht nachgegangen werden.19 III. Die Ersatzpflicht nach § 51 Satz 2 GewO Nach der seit 1869 unverändert geltenden Bestimmung des § 51 Satz 2 GewO „muß dem Besitzer alsdann (d. h. bei erfolgter Untersagung der Benutzung der Anlage nach Maßgabe von Satz 1 der Vorschrift) für den erweislichen Schaden Ersatz geleistet werden“. Der in § 69 der preußischen GewO von 1845 enthaltene Zusatz „den erweislichen wirklichen Schaden“, den auch der Regierungsentwurf zur GewO 1869 beibehalten wollte,20 ist bei der 2. Lesung im Norddeutschen Reichstag gestrichen worden (dazu s. oben unter Ziffer 1). Aus der Formulierung des § 51 Satz 2 GewO leitet die im Schrifttum ganz herrschende Meinung her, daß der Anspruch inhaltlich auf Leistung von vollem Schadensersatz nach Maßgabe des Bürgerlichen Gesetzbuchs gerichtet sei. Als charakteristisch kann etwa die Stellungnahme von Salewski21 gelten: Die Vorschrift gewähre dem von der Untersagung betroffenen Anlagenbetreiber „einen Anspruch auf vollen Schadensersatz, nicht etwa lediglich auf eine billige Entschädigung.“ Auf diesen Anspruch seien die Regelungen der §§ 249 ff. BGB anzuwenden. Anwendbar sei „insbesondere auch § 252 BGB, der den Ersatz für entgangenen Gewinn in den Anspruch auf Schadensersatz ausdrücklich einbezieh(e)“.22 Ähnlich meint Ennuschat, der Ersatzanspruch nach § 51 Satz 2 GewO sei „nicht – wie im Falle der Enteignung gem. Art. 14 Abs. 3 Satz 2 GG – auf eine angemessene Entschädigung gerichtet, sondern auf Schadensersatz. Dieser umfass(e) gem. §§ 249 ff. BGB den gesamten Schaden, einschließlich des entgangenen Gewinns“.23 Selbst Fröhler/Kormann, die den Anspruch zunächst als „eine besonders geregelte Enteignungsentschädigung“ werten, vertreten anschließend ohne jegliche Begründung die These, diese „Entschädigung geh(e) sachlich über die sonst übliche ,angemessene‘ Entschädigung für eine Enteignung hinaus; sie (sei) im Umfang ein Schadensersatzanspruch, auf den §§ 249 ff. BGB entsprechend anzuwenden“ seien. 19 Zur Problematik der Ausgleichspflicht in Fällen einer Inhaltsbestimmung des Eigentums im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG s. statt vieler Fritz Ossenbühl, Ausgleichspflichtige Inhaltsbestimmungen des Eigentums, in: Staat – Wirtschaft – Steuern, Festschrift für Karl Heinrich Friauf, 1996, S. 391 ff., ferner jüngst den eingehenden und materialreichen Überblick bei Fritz Ossenbühl/Matthias Cornils, Staatshaftungsrecht, 6. Aufl. 2013, S. 212 – 241. 20 Sten. Ber. über die Verhandlungen des Reichstages des Norddeutschen Bundes, I. Leg.Per., Session 1869, 3. Bd., S. 94 ff., 98. 21 Salewski, in: Landmann/Rohmer, Gewerbeordnung und ergänzende Vorschriften, Band I, Stand: März 2014, § 51 Rdnr. 24. 22 Salewski a. a. O. Hervorhebungen hinzugefügt. 23 Jörg Ennuschat, in: Tettinger/Wank/Ennuschat, Gewerbeordnung. Kommentar, 8. Aufl. 2011, § 51 Rdnr. 29. Der Auffassung von Salewski ist auch die Kommentierung von Biwer beigetreten; Bianca Biwer, in: Pielow, Gewerbeordnung, Kommentar, 2009, § 51 Rdnr. 18.

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Insbesondere müsse Ersatz für den entgangenen Gewinn nach § 252 BGB geleistet werden.24 Ähnlich inkonsequent hatte bereits vor einem Jahrhundert der Kommentar von Kurt von Rohrscheidt argumentiert: Er zog einerseits eine Parallele zwischen dem Anspruch nach § 51 Satz 2 GewO und dem im preußischen Allgemeinen Landrecht begründeten Entschädigungsanspruch für die Aufopferung individueller Rechte und Vorteile zugunsten des gemeinen Wohls (§ 75 Einleitung ALR), vertrat andererseits aber die Auffassung, bei der Bemessung des Anspruchs nach § 51 Satz 2 GewO seien die Schadensersatzvorschriften des BGB, namentlich auch § 252 BGB, anzuwenden.25 Der so zusammenfassend dargestellten herrschenden Meinung kann nicht gefolgt werden. Sie ist an keiner Stelle sachlich begründet worden, sondern beruht offenbar auf einer bloßen Wortlautinterpretation, nämlich einer rein verbalen Gleichsetzung des in § 51 Satz 2 GewO angeordneten Anspruchs auf „Ersatz für den erweislichen Schaden“ mit dem „Schadensersatz“ im Sinne von § 249 Abs. 1 BGB. Das führt dann bis zu der geradezu sinnwidrig erscheinenden Konsequenz, daß die nach § 51 Satz 2 GewO ersatzpflichtige Körperschaft verpflichtet sein soll, „regelmäßig den früheren Zustand in wirtschaftlich gleichwertiger Weise wieder herzustellen“.26 Soll sie demnach grundsätzlich verpflichtet sein, den von ihr gerade untersagten Betrieb der betroffenen gewerblichen Anlage wieder zu ermöglichen? Die dargestellte Meinung läßt zu Unrecht den entscheidenden Gesichtspunkt außer Betracht, daß § 51 GewO nicht unter der Geltung des erst 1900 in Kraft getretenen BGB erlassen worden ist. Der Gesetzgeber der Gewerbeordnung konnte und wollte deshalb auch nicht die Terminologie des BGB zugrunde legen. Die begriffliche Gleichsetzung des in § 51 Satz 2 GewO verwendeten Terminus „Ersatz des erweislichen Schadens“ mit dem Anspruch auf Schadensersatz im Sinne von § 249 BGB, auf dem die herrschende Kommentarmeinung beruht, erweist sich als schlichter Zirkelschluß. Die These, mit dem Inkrafttreten des BGB sei dessen Begrifflichkeit „automatisch“ in die fortgeltenden Bestimmungen der (älteren) Gewerbeordnung transplantiert worden, ließe sich schlechthin nicht begründen. § 51 Satz 2 GewO muß deshalb autonom, aus sich selbst heraus, interpretiert werden. Dafür drängen sich, da der bloße Wortlaut des Gesetzes nicht zu eindeutigen Ergebnissen im Hinblick auf den hier verwendeten Schadensbegriff führt, sowohl historische als auch systematisch-teleologische Auslegungskriterien auf. Der dem § 51 GewO vorausgegangene und ihm inhaltlich zugrunde liegende § 69 der preußischen Allgemeinen Gewerbe-Ordnung von 1845 (s. oben Abschnitt I.) sah einen Ersatz für den „erweislichen wirklichen Schaden“ vor. Dieser Begriff bezog sich auf die durch das Allgemeine Landrecht von 1794 geprägte Terminologie. Das Deliktsrecht des ALR unterscheidet bei den Rechtsfolgen einer Schädigung zwischen der „vollständigen Genugtuung“, die den „Ersatz des ge24

Fröhler/Kormann, a. a. O. § 51 Rdnr. 5, S. 374. von Rohrscheidt, Gewerbeordnung, 2. Aufl. 1912, Bd. I, § 51 Anm. 6, S. 385. 26 So Biwer, in: Pielow, a. a. O., § 51 Rdnr. 18.

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samten Schadens und des entgangenen Gewinns“ umfaßt (ALR 6 I § 7), einerseits und dem Ersatz des aus einem Delikt entstandenen „wirklichen Schadens“ (ALR 6 I § 12) andererseits. Auf „vollständige Genugtuung“ konnte der Schädiger nach ALR 6 I § 10 nur bei Vorsatz und „grobem Versehen“ in Anspruch genommen werden. Demgegenüber haftete er bei bloß „mäßigem Versehen“ (entsprechend der einfachen Fahrlässigkeit) lediglich „für den daraus entstandenen wirklichen Schaden“ (ALR 6 I § 12). Die Pflicht zum Ersatz des „wirklichen Schadens“, wie ihn § 69 der preuß. GewO 1845 vorsah, bildete also die mildere Haftungsform. Ein Anspruch auf Erstattung des entgangenen Gewinns war in ihr gerade nicht enthalten. Der im Norddeutschen Reichstag eingebrachte endgültige Gesetzentwurf zur Gewerbeordnung27 hielt in § 49, dem späteren § 51, ausdrücklich an der aus dem preußischen Recht übernommenen Beschränkung des Ersatzanspruchs auf den „erweislichen wirklichen Schaden“ fest. Bei der zweiten Lesung des Gesetzes kam es zu einer Diskussion über den Begriff des „wirklichen“ Schadens,28 weil dieser in den Rechtsordnungen der außerpreußischen Länder, die noch unter dem gemeinen (römischen) Recht lebten, nicht bekannt war und deshalb Anlaß zu Mißverständnissen gab. Das Wort „wirklich“ wurde schließlich in einer besonderen Abstimmung gestrichen,29 ohne daß die Aussprache, bei der die einzelnen Beiträge regelmäßig mehrere unterschiedliche Gesichtspunkte miteinander vermischten, volle begriffliche Klarheit gebracht hatte. Keine Anhaltspunkte ergeben sich jedenfalls für die Annahme, daß die Reichstagsmehrheit mit der Streichung des Zusatzes „wirklich“ bezweckt hätte, den Umfang des Ersatzanspruchs gegenüber dem Gesetzentwurf auszuweiten. Einvernehmen bestand offenbar über die vom Abgeordneten Miquél30 begründete Auffassung, daß der dem Besitzer der Anlage zu gewährende Ersatz nach den Grundsätzen über die Entschädigung bei Enteignungen (Expropriationen) bemessen und auch verfahrensmäßig in gleicher Weise wie eine Enteignungsentschädigung behandelt werden müsse. Die hier dargelegte Auffassung wird auch von der Rechtsprechung des Reichsgerichts bestätigt. In der sog. Pulverfabrik-Entscheidung31 geht das RG auf die Entstehungsgeschichte des § 51 GewO ein und stellt fest, die mit § 69 der preuß. GewO von 1845 übereinstimmende Fassung des Regierungsentwurfs zu § 51 GewO („Ersatz des wirklichen Schadens, im Gegensatz zum entgangenen Gewinne“) sei durch die Formulierung „erweislicher Schaden“ ersetzt worden, „ohne daß aus den Beratungen andere juristische Erwägungen hervorträten als die, daß der der Terminologie des preußischen Allgemeinen Landrechts entnommene Ausdruck ,wirk-

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Sten. Ber., a. a. O., I. Leg.-Per., Session 1869, 3. Bd., S. 94 ff. Sten. Ber., a. a. O., I. Leg.-Per., Session 1869, 1. Bd., S. 439 – 442. 29 Sten. Ber., a. a. O., S. 442, linke Spalte. 30 Sten. Ber., a. a. O., S. 440, linke u. rechte Spalte. 31 RG Urt. vom 12. 11. 1887, RGZ 19, S. 353. 28

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licher Schaden‘ ungeeignet sei in einem Gesetze, das für einen weiteren Geltungsbereich als das Allgemeine Landrecht bestimmt sei“.32 In systematisch-teleologischer Hinsicht muß in Rechnung gestellt werden, daß der durch § 51 Satz 2 GewO begründete Ersatzanspruch, in ausdrücklichem Gegensatz zu der Regelung des Schadensersatzes in §§ 249 ff. BGB, nicht in den Bereich der privatrechtlichen Haftung aus Vertrag und aus Delikt fällt. Es handelt sich auch nicht um eine Einstandspflicht für rechts- bzw. pflichtwidriges Verhalten staatlicher Organe (Staatshaftung). In Frage steht vielmehr ein vom Hoheitsträger zu erbringender Ausgleich für ein besonderes Vermögensopfer, das dem Betroffenen durch eine dem Schutz des Gemeinwohls vor „überwiegenden Nachteilen und Gefahren“ (§ 51 Satz 1 GewO) dienende Maßnahme rechtmäßig (!) abverlangt worden ist. Dieser Anspruch kompensiert, wie das generell bei ausgleichsbedürftigen Inhaltsbestimmungen im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG der Fall ist, Eingriffe in Eigentumspositionen, die einen Eigentümer unverhältnismäßig und/oder gleichheitswidrig treffen.33 Wertungsmäßig liegt ein derartiger rechtmäßiger Eingriff in das Eigentum auf derselben Ebene wie die Enteignung, als die er bei der Einführung des § 51 GewO 1869 konsequenterweise auch angesehen worden ist.34 Durch die Untersagung der ferneren Benutzung einer gewerblichen Anlage wird der dadurch in seinem Eigentum betroffene Betreiber in keinem denkbaren Fall härter getroffen, als wenn seine Anlage formal enteignet worden wäre. Da der Eingriff nach Maßgabe von § 51 Satz 1 GewO rechtmäßig erfolgt, hat auch der Gesichtspunkt einer notwendigen Kompensation für hoheitliches Unrecht aus der Betrachtung auszuscheiden. Unter diesen Umständen müssen, auch wenn die Untersagung des ferneren Betriebs gemäß § 51 Satz 1 GewO nach der Eigentumsdogmatik des BVerfG nicht als formale Enteignung im Sinne von Art. 14 Abs. 3 GG angesehen werden kann, die auf Art. 14 Abs. 3 Satz 3 GG beruhenden verfassungsrechtlichen Grundsätze über die Höhe der Entschädigung beachtet werden. Sie ist unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu bestimmen. Ein darüber hinausgehender Anspruch auf Ausgleich des vollen Schadens nach Maßgabe der §§ 249 ff. BGB läßt sich im Rahmen der verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht begründen. IV. Der nach § 51 Satz 2 GewO ausgleichsberechtigte „Besitzer“ der Anlage Nach § 51 Satz 2 GewO ist „dem Besitzer“ der von der Untersagung betroffenen gewerblichen Anlage für den erweislichen Schaden Ersatz zu leisten. Auch insoweit 32

RGZ 19, S. 353, 360. Vgl. dazu Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, a. a. O., S. 212 – 213. 34 S. vorstehend, namentlich die Ausführungen des Abgeordneten Miquél bei der zweiten Lesung des Gesetzentwurfs im Norddeutschen Reichstag (Sten. Ber., a. a. O., S. 440). 33

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stimmt die Vorschrift mit der Vorgängerregelung in § 69 der preußischen GewO von 1845 wortgleich überein. Auch im Hinblick auf den Terminus „Besitzer“ tendiert die herrschende Literaturmeinung, ähnlich wie bei der Anwendung des Begriffs „Ersatz des Schadens“ (vorstehend unter Ziffer III.), zu einer vorschnellen, nicht weiter problematisierten Implantation der Begrifflichkeit des BGB in die Anwendung des § 51 GewO. So gilt die Feststellung, daß unter dem entschädigungsberechtigten Besitzer der Anlage im Sinne von § 51 Satz 2 GewO sowohl der unmittelbare als auch der mittelbare Besitzer zu verstehen sei, als selbstverständlich und nicht weiter begründungsbedürftig.35 Offenbar sehen die Autoren die Anspruchsberechtigung in diesem Zusammenhang primär als eine Konsequenz aus dem hoheitlichen Eingriff in den Besitz an der Anlage, nicht dagegen aus dem Eingriff in das Eigentum an. Das wird z. B. deutlich, wenn Fröhler/Kormann postulieren, „auch“ (!) dem verpachtenden Eigentümer der Anlage sei „aber als mittelbarem Besitzer (!!) unter Umständen (!) zusätzlich (!) Ersatz zu leisten“.36 Ein Entschädigungsanspruch des Eigentümers soll demnach von einer Ableitung aus dem mittelbaren Besitz, den er als Verpächter innehat, abhängen. Besonders prononciert zeigt sich diese Auffassung bei Salewski, der aus dem Wortlaut der Vorschrift folgert, anspruchsberechtigt sei der Besitzer der gewerblichen Anlage, „gleichgültig, ob er auch Eigentümer des Grund und Bodens ist, auf dem sich die betroffene Anlage befindet“; „eine besondere gewerberechtlich relevante und gemäß § 51 zu beachtende Position komm(e) dem Eigentümer und Verpächter des Betriebsgrundstücks … nicht zu“.37 Ob und inwieweit in derartigen Fällen auch dem Grundstückseigentümer eine Entschädigung zugebilligt werden müsse, bemesse sich nach den Umständen des Einzelfalls. „In der Regel“ werde hier das Vorliegen eines Schadens „wegen der zwischen dem Eigentümer und dem Betreiber der Anlage bestehenden vertraglichen Beziehungen“ ausgeschlossen sein.38 Im Zusammenhang mit dieser Prämisse wird schließlich die nicht weiter erläuterte These aufgestellt, im Fall der Verpachtung einer Anlage komme „nur dann sowohl ein Schadensersatzanspruch des Eigentümers als auch des Pächters in Betracht, wenn das zivilrechtliche und das wirtschaftliche Eigentum an der Anlage selbst auseinanderfallen“.39 In der Tendenz übereinstimmend argumentiert auch Salewski.40 35 Tettinger/Wank/Ennuschat, a. a. O., § 51 Rdnr. 30; Biwer, in: Pielow, a. a. O., § 51 Rdnr. 19; vgl. auch Fröhler/Kormann, a. a. O., § 51 Rdnr. 5. 36 Fröhler/Kormann, a. a. O., § 51 Rdnr. 5, S. 374. 37 Salewski, in: Landmann/Rohmer, a. a. O. § 51 Rdnr. 25. 38 Salewski, a. a. O., § 51 Rdnr. 25; s. im gleichen Sinne Biwer, in: Pielow, a. a. O., § 51 Rdnr. 19. 39 So Biwer, in: Pielow, a. a. O. § 51 Rdnr. 19 a.E.; die Verweisung auf den Kommentar von Tettinger/Wank geht an dieser Stelle allerdings fehl. 40 In: Landmann/Rohmer, a. a. O., § 51 Rdnr. 25 a.E.

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Die zusammenfassend skizzierte Konzeption der herrschenden Meinung steht und fällt mit der von ihr stillschweigend vorausgesetzten Prämisse, daß die Qualität eines Anspruchstellers als „Besitzer“ im Sinne von § 51 Satz 2 GewO nach den Kriterien der §§ 854 ff. BGB zu bestimmen sei. Diese Prämisse muß indessen teleologisch hinterfragt werden. Ausgangspunkt dafür ist die Tatsache, daß es sich bei der Vorschrift um eine Entschädigungsregelung handelt, durch die ein im Interesse des Gemeinwohls vorgenommener hoheitlicher Eingriff in private Rechte ausgeglichen werden soll. Der in § 51 GewO, ebenso wie bereits in der Vorgängerregelung von 1845, verwendete Terminus Besitzer umschreibt den Kreis der Entschädigungsberechtigten. Die Entschädigungsberechtigung aber kann nur davon abhängen, ob ein Betroffener durch den Eingriff in einer ihm zustehenden rechtlich geschützten Position berührt worden ist und dadurch einen Vermögensnachteil erlitten hat. Ob es sich bei der nach § 51 Satz 2 GewO ausgleichsbedürftigen Position konkret um einen (unmittelbaren) Besitz an der Anlage im Sinne von § 854 Abs. 1 BGB oder um die Rechtsstellung des Eigentümers handelt, erscheint aus dieser Sicht von vornherein unerheblich. Der Auffassung von Salewski, nach der dem Eigentümer und Verpächter des Betriebsgrundstücks keine „gewerberechtlich relevante und gemäß § 51 zu beachtende Position“ zustehen soll,41 muß deshalb widersprochen werden. Der Eigentümer einer gewerblichen Anlage kann durch eine Untersagung nach § 51 Satz 1 GewO ebenso in einer ihm rechtlich zustehenden Position betroffen und dadurch mit ausgleichsbedürftigen wirtschaftlichen Nachteilen belastet werden wie ein Besitzer im Sinne des Bürgerlichen Rechts. Diese nachteilige Betroffenheit in seinem Eigentum durch den Eingriff von hoher Hand löst den Entschädigungsanspruch nach § 51 Satz 2 GewO aus. Es erscheint schlechthin widersinnig, wenn die hier abgelehnte Auffassung sich gezwungen sieht, einen Entschädigungsanspruch des in seinem Eigentum betroffenen Inhabers einer gewerblichen Anlage aufgrund seines Eigentums abzulehnen, um ihn anschließend konstruktiv auf dem Umweg über den ihm gleichzeitig zustehenden (unmittelbaren oder mittelbaren) Besitz an der Anlage zu begründen. In den praktisch häufigen Fällen, in denen der Eigentümer eines Betriebsgrundstücks die aufstehende gewerbliche Anlage nicht selbst nutzt, in denen vielmehr die Nutzung in der Hand eines Dritten liegt, ergeben sich bei der Anwendung des § 51 Satz 2 GewO verschiedene Fallgestaltungen, die jeweils nach Maßgabe der privatrechtlichen Ausgangslage unterschiedlich behandelt werden müssen. Steht die von dem Nutzungsverbot erfaßte Anlage, wie das in der Mehrzahl der Fälle zutreffen wird, als wesentlicher Bestandteil des Betriebsgrundstücks im Sinne von §§ 93, 94 BGB im Eigentum des Grundeigentümers, dann sind Eigentümer und Nutzer (Pächter) nebeneinander in ihrer Rechtsstellung betroffen. Beiden muß deshalb dem Grunde nach ein Anspruch aus § 51 Satz 2 GewO zugebilligt werden, wobei die Summe beider Ansprüche den Betrag nicht übersteigen darf, der einem die Anlage 41

Salewski, in: Landmann/Rohmer, a. a. O., § 51 Rdnr. 25.

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selbst nutzenden Eigentümer bei sonst übereinstimmenden Verhältnissen als Entschädigung zuzubilligen wäre. Für die Aufteilung des Gesamtbetrags der Entschädigung auf die beiden Beteiligten sind in erster Linie die zwischen ihnen bestehenden konkreten vertraglichen Beziehungen maßgeblich, aus denen sich ergibt, welchen Wert die durch das Verbot verhinderte weitere Nutzung der Anlage für den Pächter gehabt hätte. Namentlich wird dabei zu berücksichtigen sein, welche Kündigungsregelungen für das Pachtverhältnis bestehen. Je kurzfristiger der Pächter seine Nutzungsbefugnis ohnehin durch Ablauf oder durch Kündigung des Pachtvertrags hätte verlieren können, desto geringer wird der ihm gebührende Anteil an der Gesamtentschädigung sein. Nicht zu erkennen ist demgegenüber, welche Bedeutung die aus dem Bilanzsteuerrecht entlehnte Figur des sog. wirtschaftlichen Eigentums, die Salewski anführt,42 in diesem Zusammenhang gewinnen soll. Wenn andererseits die von dem Verbot betroffene Anlage im konkreten Fall lediglich zu einem vorübergehenden Zweck mit dem Grund und Boden verbunden worden ist, greift § 95 Abs. 1 Satz 2 BGB ein. Die Anlage wird dann nicht zum wesentlichen Bestandteil des Grundstücks und unterfällt nicht dem Grundstückseigentum, sondern verbleibt im Eigentum des Pächters. In diesem Fall wird grundsätzlich allein der Pächter als Anspruchsberechtigter nach § 51 Satz 2 GewO anzusehen sein. V. Der nach § 51 Satz 2 GewO zum Ersatz verpflichtete Hoheitsträger § 51 Satz 2 GewO begründet eine Verpflichtung zum Ersatz des durch die Untersagung einer Anlage entstandenen „erweislichen Schadens“, ohne aber klarzustellen, gegen wen sich der Anspruch des Betroffenen richten soll. Auf diese – bewußte! – Regelungslücke wurde bei der zweiten Lesung des Entwurfs zur GewO im Norddeutschen Reichstag von dem bereits oben erwähnten Abgeordneten Miquél mit der Bemerkung hingewiesen, eine ausdrückliche Regelung erscheine nicht notwendig, weil im Ergebnis „selbstverständlich“. Den Ersatz könne, „sofern die Landesgesetze nicht etwas Anderes bestimmen, nur der Staat zu leisten haben“. Da die Verwaltung bei dem Eingriff im Auftrag des Staates tätig würde, müsse „der Staat … nothwendig für ihre Handlungen aufkommen“.43 Als Regierungsvertreter stimmte der Präsident des Bundeskanzleramts, Delbrück, dieser Auffassung grundsätzlich zu. Der Gesetzentwurf überlasse die Regelung darüber, wer die in § 51 Satz 2 GewO bestimmte Entschädigung zu leisten habe und in welchem Verfahren sie festzusetzen sei, der Landesgesetzgebung. Der Landesge-

42 Salewski, in: Landmann/Rohmer, a. a. O., § 51 Rdnr. 25 a.E.; ihm folgend Biwer, in: Pielow, a. a. O., § 51 Rdnr. 19. 43 Abg. Miquél, Sten. Ber., a. a. O., I. Leg.-Per., Session 1869, Bd. 1, S. 440 linke Spalte.

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setzgebung bleibe es auch vorbehalten, die Entschädigungspflicht in bestimmten Fällen nicht dem Staat, sondern einem anderen Verpflichteten zuzuweisen.44 Von dieser Rechtslage ist auch aus heutiger Sicht auszugehen. Allerdings darf die grundsätzlich anzuerkennende Befugnis des Landesgesetzgebers, anstelle des Staates einen anderen Verpflichteten, namentlich eine andere Körperschaft des öffentlichen Rechts, mit der Ersatzpflicht zu belasten,45 nur aus auf den jeweiligen Eingriff bezogenen sachlichen Gründen ausgeübt werden. Sie bildet kein legitimes Mittel zur Verfolgung einseitig fiskalischer Zwecke. Insbesondere darf sie nicht eingesetzt werden, um den Entschädigungsberechtigten bei der Verfolgung seiner Ansprüche zu behindern. Erst wenn für eine bestimmte Fallgestaltung eine einschlägige landesgesetzliche Regelung über den Träger der Entschädigungslast fehlen sollte,46 kommen die allgemeinen Regeln des öffentlichen Entschädigungsrechts zum Tragen. Da es sich bei der Untersagung des Betriebs einer gewerblichen Anlage nach § 51 Satz 1 GewO um einen den Interessen des Gemeinwohls dienenden rechtmäßigen Eingriff in eigentumsrechtlich geschützte private Rechte handelt, sind die insoweit geltenden Grundsätze anwendbar. Danach trifft die Entschädigungspflicht grundsätzlich den Begünstigten, also die Körperschaft oder den sonstigen Rechtsträger, in deren bzw. dessen Interesse der Eingriff erfolgt ist.47 Als begünstigt gilt, auch wenn der Eingriff nicht zu besonderen (Vermögens-)Vorteilen geführt haben sollte, auf jeden Fall der Aufgabenträger, dessen Aufgaben vermittels der Untersagung der gewerblichen Anlage wahrgenommen worden sind. VI. Verdrängung des gewerbe-(eigentums-)rechtlichen Bestandsschutzes durch ordnungsbehördliche Inanspruchnahme? Der Eigentumsschutz, der den gewerblichen Anlagen seit nunmehr 170 Jahren auf der Grundlage von § 69 pr. Allg. GewO 1845 und § 51 Sätze 1 u. 2 GewO gewährt wird, gerät in dem Maße in Gefahr, in dem sich Bestrebungen durchsetzen, die darauf abzielen, die Entschädigungspflicht der öffentlichen Hand bei Untersagungen nach § 51 Satz 2 GewO durch einen Rückgriff auf polizeiliche bzw. ordnungsbehördliche Eingriffsbefugnisse zu unterlaufen. In diesen Bestrebungen manifestiert sich eine Tendenz, die Rolf Stober zu der nicht weiter begründeten These gelangen läßt, der Entschädigungsanspruch nach § 51 GewO – der immerhin auf 44

Delbrück, Sten. Ber., a. a. O., I. Leg.-Per., Session 1869, Bd. 1, S. 441 linke Spalte. S. auch Salewski, in: Landmann/Rohmer, a. a. O. § 51 Rdnr. 26; Biwer, in: Pielow, a. a. O., § 51 Rdnr. 20. 46 Nicht in jedem Fall von vornherein, wie Ennuschat, in: Tettinger/Wank/Ennuschat, a. a. O., § 51 Rdnr. 31, anzunehmen scheint. 47 Näher dazu Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, a. a. O. S. 256, 349 und passim, mit weit. Nachweisen; vgl. eingehend auch Karl Heinrich Friauf, Der Entschädigungspflichtige beim enteignungsgleichen Eingriff, in: Festschrift für Richard Lange, 1976, S. 963 ff.; in der Rechtsprechung grundlegend BGHZ 72, 211, 213 ff. 45

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einem geltenden Gesetz beruht! – werde „wegen Gemeinwohlbindung des Gewerbetreibenden als überholt angesehen“.48 Bei der Erörterung dieser Problematik muß vorab daran erinnert werden, daß der Anwendungsbereich des § 51 GewO sich auf Anlagen beschränkt, die rechtmäßig errichtet und in Betrieb genommen worden sind.49 Fehlte bei einer genehmigungsbedürftigen Anlage, auf die die Sätze 1 und 2 des § 51 GewO bis zur Einfügung des § 51 Satz 3 GewO durch das BImSchG ebenfalls anwendbar waren, im Einzelfall die erforderliche Genehmigung oder ist bei der Errichtung und Inbetriebnahme einer nicht genehmigungsbedürftigen Anlage gegen Anforderungen des geltenden Rechts verstoßen worden, dann scheidet die Vorschrift von vornherein aus der Betrachtung aus. Einer Anwendung des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts als Grundlage für eine gegen den Betreiber gerichtete Untersagungsverfügung steht dann nichts im Wege. Es handelt sich im Folgenden deshalb allein um Probleme des Einschreitens gegen gewerbliche Anlagen, deren ursprünglich rechtmäßige Errichtung und Inbetriebnahme außer Frage steht und auf die damit der Tatbestand des § 51 GewO zutrifft. Eine zentrale Bedeutung kommt in dem hier interessierenden Zusammenhang der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts im sog. FischgroßhandlungsFall50 zu. Das BVerwG bestätigt dort die Zurückweisung der Klage gegen eine ordnungsbehördliche Verfügung, mit der dem Inhaber einer Fischgroßhandlung als Zustands- und Handlungsstörer zum Schutz der Nachbarschaft eine Beschränkung der durch nächtlichen Ladebetrieb und LKW-Verkehr bedingten Geräuschemissionen aufgegeben worden war, bei deren Befolgung der Betrieb zum Erliegen kommen mußte. Die Entscheidung weist, soweit sie hier von Interesse ist, die Berufung des Betroffenen auf eine Verletzung von § 51 Satz 2 GewO zurück. Die (nicht ganz stringent und kohärent begründete) Entscheidung des BVerwG geht im Ansatzpunkt zutreffend davon aus,51 daß die in § 1 GewO gewährleistete Gewerbefreiheit die Zulässigkeit von einschränkenden Regelungen über die Art und Weise der Gewerbeausübung (u. a. auch durch Vorschriften des Polizei- und Ordnungsrechts) nicht in Frage stelle.52 Deshalb dürften polizeiliche bzw. ordnungsbehördliche Eingriffe die Gewerbeausübung aus Gründen der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung beschränken. Das gelte selbst dann, wenn ein Gewerbetreibender der Anordnung nur dadurch Folge leisten könne, 48

Stober/Eisenmenger, Besonderes Wirtschaftsverwaltungsrecht, 15. Aufl. 2011, S. 51. Dazu zutreffend Salewski, in: Landmann/Rohmer, a. a. O., § 51 Rdnr. 7; grundlegend pr. OVG Urt. vom 12. 11. 1891, OVGE 23, S. 254, 262 – 263. 50 BVerwG Urt. vom 24. 06. 1971, BVerwGE 38, S. 209 = DVBl. 1971, S. 751 = GewArch. 1972, S. 7 = NJW 1971, S. 1475; s. dazu auch die Entscheidung der Vorinstanz: OVG Münster Urt. vom 30. 11. 1966, GewArch 1967, S. 249. 51 BVerwGE 38, S. 209, 213 ff. 52 Vgl. näher Friauf, in: ders. (Hrsg.), Kommentar zur Gewerbeordnung, Stand: 2014, § 1 Rdnrn. 307 – 317. 49

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daß er den Betrieb an dem bisherigen Ort einstelle, denn auch dann bleibe „seine Befugnis zur Ausübung des Gewerbes als solche“ bestehen.53 Eine Grenze finde die ordnungsbehördliche Regelungsbefugnis erst dort, wo – wie etwa bei einem Verbot der Verwendung von Sprengstoffen in einem Steinbruch – Verhaltensweisen untersagt würden, ohne die das betreffende Gewerbe überhaupt nicht ausgeübt werden könne,54 so daß die Regelung wie eine generelle Zulassungsschranke für das Gewerbe wirke. Diese für die Anwendung des § 1 GewO entwickelten und insoweit zutreffenden Grundsätze überträgt das Gericht anschließend55 auf die Erörterungen zu § 51 GewO, ohne freilich vorab geprüft zu haben, ob die Baulichkeiten des Klägers die tatbestandsmäßigen Kriterien einer gewerblichen Anlage im Sinne dieser Vorschrift erfüllten, ob der Tatbestand des § 51 GewO also im konkreten Fall überhaupt einschlägig war. Es billigt dem § 51 GewO nur einen „engbegrenzen sachlichen Geltungsbereich“ zu, der „eine Folge der grundlegenden Regelung des § 1 GewO (sei), die gesetzlichen Einschränkungen der Berufsausübung nicht im Wege“ stehe.56 Da eine polizeiliche Anordnung in der Regel selbst dann mit § 1 GewO vereinbar sei, wenn sie praktisch dazu führe, daß „das Gewerbe nicht mehr an der bisherigen Stelle ausgeübt werden kann“, müsse „auch in einem solchen Falle (!) … daher (!!) die Polizei-oder Ordnungsverfügung nicht unbedingt (?) als eine Untersagung im Sinne des § 51 angesehen werden …“.57 Die Ermächtigung nach § 51 GewO berühre „demnach (?) nicht die Befugnis anderer Behörden, die Ausübung des Gewerbes auf Grund von polizeilichen und ordnungsbehördlichen Vorschriften der Länder einzuschränken“. Daran schließt sich die recht kryptische Feststellung an, die „Bedeutung des § 51 GewO lieg(e) vielmehr darin, daß er der Verwaltung eine Eingriffsmöglichkeit zur Verfügung stellt, die sie ohne diese Regelung nicht hätte“.58 Deshalb treffe es, so fährt die Entscheidung fort, auch nicht zu, wenn Vogel meine,59 § 51 GewO gehe als eine spezialgesetzliche Regelung den Bestimmungen des allgemeinen Polizeirechts vor. Eher sei das Gegenteil richtig.60 Eine Maßnahme nach § 51 GewO komme nur in Betracht, wenn Nachteile und Gefahren für das Gemeinwohl nicht auf der Grundlage anderer Rechtsvorschriften abgewehrt werden könnten. 53

BVerwG a. a. O., S. 214. BVerwG a. a. O., S. 214, 215. 55 BVerwG a. a. O., S. 216 – 218. 56 BVerwG a. a. O., S. 216. 57 BVerwG a. a. O., S. 217. 58 BVerwG a. a. O., S. 217. 59 Klaus Vogel, Der Verursachungsbegriff im Polizeirecht, JuS 1961, S. 91 ff., 93 mit Fn. 21; vgl. auch dens., in: Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, 9. Aufl., 1985, S. 172. 60 So BVerwG a. a. O., S. 217, unter Hinweis auf einen älteren Autor, der den „subsidiären Charakter der Vorschrift“ hervorhebe. 54

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Die Argumentation des Urteils erscheint schon in ihrem Ausgangspunkt nicht schlüssig. Sie vertauscht in nicht gerechtfertigter Weise die Problemebenen. Die Ausführungen des BVerwG über die begrenzte, nämlich durch gesetzliche Regelungen über die Gewerbeausübung einschränkbare Tragweite der Gewerbefreiheit nach § 1 GewO treffen zwar an sich zu. Sie können indessen nicht auf die Auslegung und Anwendung des § 51 GewO übertragen werden. Dort geht es, anders als bei § 1 GewO, gerade nicht um die Gewerbefreiheit des jeweiligen Betreibers und deren Grenzen, sondern um die auf einer anderen Ebene liegende Problematik des Investitionsschutzes für eine konkrete gewerbliche Anlage, die einmal rechtmäßig errichtet und in Betrieb genommen worden ist. Gewerbliche Anlagen sind typischerweise untrennbar mit dem Grund und Boden verbunden und deshalb ortsfest. Sie können grundsätzlich nicht oder allenfalls unter erheblichen Zerstörungen oder Eingriffen in ihre Substanz an einen anderen Ort verlagert werden. Es erscheint aufschlußreich, daß die Begründung zum Entwurf der GewO von 1869 als einziges Anwendungsbeispiel zu § 49 der Entwurfsfassung, dem definitiven § 51 GewO, gerade einen Sachverhalt anführt, der im ausschlaggebenden Punkt dem des Fischgroßhandlungs-Falls61 entspricht: nämlich die Situation einer gewerblichen Anlage, die ursprünglich störungsfrei in nicht oder nur lückenhaft/dünn bebautem Gelände errichtet worden ist und sich später infolge einer nachträglich herangerückten oder wesentlich verdichteten Bebauung in ihrem Umfeld als Störfaktor in einem städtischen Wohngebiet wieder findet.62 Die Untersagung einer Anlage nach § 51 Satz 1 GewO wegen Schädigung oder Gefährdung von wesentlichen Belangen des Gemeinwohls könnte, wenn man sie einseitig unter dem Blickwinkel des § 1 GewO betrachten wollte, durchaus als „bloße“ Regelung der Gewerbeausübung gewertet werden, weil sie ja die Befugnis des Inhabers, eine neue Anlage an anderer Stelle zu errichten und dort seine gewerbliche Tätigkeit in der gewohnten Weise fortzuführen, unberührt läßt. Das ändert indessen nichts daran, daß der Eingriff in das Eigentum des „Besitzers“ an der bisherigen Anlage, der seine frühere Investition entwertet, den Tatbestand des § 51 Satz 2 GewO erfüllt und damit den Entschädigungsanspruch auslöst. Zu Unrecht läßt das BVerwG auch die Fragen der Normkollisionen außer Betracht, die sich bei einer derartigen Fallgestaltung aufdrängen mußten. Man wird davon ausgehen können, daß in den typischen Anwendungsfällen des § 51 Satz 1 GewO (Beseitigung von Nachteilen oder Gefahren für das Gemeinwohl) praktisch stets auch eine Gefahr für eines der beiden Schutzgüter der polizeilichen bzw. ordnungsbehördlichen Generalklausel, nämlich die öffentliche Sicherheit oder zumindest die öffentliche Ordnung, gegeben sein wird. Damit treffen die bundesgesetzliche (die GewO ist nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 in Verb. mit Art. 125 GG Bundesrecht) Regelung des § 51 GewO und die landesrechtliche Generalklausel des 61

S. insoweit OVG Münster, GewArch 1967, S. 249, und BVerwGE 38, S. 209, 210. S. Sten. Ber., a. a. O., I. Leg.-Per., Session 1869, Bd. 3, S. 115 rechte Spalte, worauf a. a. O. S. 120, zu §§ 49 u.50, Bezug genommen wird. 62

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Ordnungsrechts tatbestandsmäßig aufeinander. Sie führen aber zu unterschiedlichen Rechtsfolgen, da das Landesrecht eine dem § 51 GewO entsprechende Entschädigungsregelung nicht kennt. Deshalb hätte zumindest die Problematik des Art. 31 GG angesprochen werden müssen. Darüber hinaus bleibt offen, ob bei einer spezifisch gewerberechtlichen Frage wie der Untersagung einer gewerblichen Anlage die GewO als das speziellere Gesetz den Anwendungsvorrang gegenüber den allgemeinen, unspezifischen Vorschriften des Polizei- und Ordnungsrechts beanspruchen kann. Bei der Würdigung des Urteils muß zudem in Rechnung gestellt werden, daß das BVerwG als Revisionsgericht sich an die Feststellung der Berufungsinstanz gebunden sah, die angefochtene Verfügung sei auf der Grundlage des anwendbaren Landesrechts rechtmäßig.63 Infolgedessen bleibt die in Fällen dieser Art vorgreifliche Frage, ob der Inhaber der betroffenen gewerblichen Anlage überhaupt als Störer im ordnungsrechtlichen Sinne angesehen werden kann, bei der Entscheidung von vornherein ausgeblendet.64 Diese Frage aber erscheint jedenfalls dann zweifelhaft, wenn die Anlage – wie im Ausgangsfall der Entscheidung – ursprünglich in einer neutralen, störungsfreien Umgebung errichtet worden und selbst unverändert geblieben ist, während die später virulent gewordene Gefahr für die Schutzgüter der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung allein auf externen Ursachen wie dem nachträglichen Heranrücken einer störungsanfälligen Wohnbebauung beruht, für die dem Eigentümer und dem Betreiber der Anlage keine Verantwortlichkeit angelastet werden kann.65 Auf die Stellungnahmen, die das Urteil des BVerwG im gewerberechtlichen Schrifttum ausgelöst hat, kann im Rahmen dieses Beitrags nicht näher eingegangen werden. Sie bewegen sich zwischen prinzipieller Ablehnung,66 vorsichtiger Kritik am formalistischen und in der Konsequenz zu weitreichenden Lösungsansatz des BVerwG67 bis hin zu stringenter Anwendung der Konzeption des Gerichts,68 durch die die bundesrechtliche Regelung des § 51 GewO auf eine bloßen Subsidiarität im

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BVerwGE 38, S. 209, 212 – 213. Vgl. auch den zutreffenden Hinweis bei Ludwig Fröhler, Das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb, GewArch 1972, S. 113 ff., 116. 65 Allgemein zu dieser Problemlage vgl. Friauf, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Eberhard Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 11. Aufl., 1999, S. 105 ff., Tz. 94 – 97; dens., Zur Frage des Rechtsgrundes und der Grenzen der polizeilichen Zustandshaftung, in: Festschrift für Gerhard Wacke, 1972, S. 293 ff.; dazu auch Steffen Augsberg, in: Wolfram Höfling (Hrsg.), Kommentierte Verfassungsdogmatik. Festgabe für Karl Heinrich Friauf, 2011, S. 97 ff. 66 Wohl am prononciertesten Ludwig Fröhler, in: Fröhler/Kormann, a. a. O., § 51 Rdnr. 3, S. 372; ders., GewArch 1972, S. 113 ff., insb. S. 116. 67 Salewski, in: Landmann/Rohmer, a. a. O., § 51Rdnr. 19. 68 Tettinger/Wank/Ennuschat, a. a. O., § 51 Rdnrn. 8 – 10. 64

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Verhältnis zu den landesrechtlichen Bestimmungen des Polizei- und Ordnungsrechts herabgestuft wird.69 Folgte man den Vertretern der Subsidiaritätskonzeption, für die die Kommentierung von Ennuschat als prototypisch angesehen werden kann,70 dann würde § 51 GewO, abgesehen von Übermaßfällen, erst dann Bedeutung erlangen, wenn eine ordnungsbehördliche Verfügung wegen Nichtvorliegens einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung unzulässig wäre (dann dürfte aber doch auch der Tatbestand des § 51 Satz 1 GewO schwerlich erfüllt sein !?) oder wenn die Ordnungsbehörde sich trotz Vorliegens einer Gefahr in pflichtgemäßer Ermessensausübung für ein Nichteinschreiten entschieden hätte. Wäre das richtig, dann käme die Anwendung von § 51 Satz 1 GewO mit der durch sie ausgelösten Entschädigungsfolge nach Satz 2 der Vorschrift praktisch nur bei minder schweren Gefährdungslagen in Betracht, bei denen aber eine Gefahr für das „Gemeinwohl“ nicht ohne weiteres zu bejahen sein dürfte. Nach Auffassung des Verfassers verdient im Grundsatz die von Ludwig Fröhler vertretene Ansicht71 den Vorzug.72 Denn sie allein gewährleistet den eigentumsrechtlichen Schutz, den das Gesetz denjenigen gewerblichen Anlagen zubilligen will, die einmal in Übereinstimmung mit den Anforderungen des geltenden Rechts errichtet und in Betrieb genommen worden sind. Dabei wird man in Zweifelsfällen dem Betreiber selbst die Beweislast für die ursprüngliche Rechtmäßigkeit seiner Anlage aufbürden können. Als der Bundesgesetzgeber mit dem Inkrafttreten des BImSchG zum 1. April 1974 die bis dahin ebenfalls in der GewO geregelten genehmigungsbedürftigen Anlagen aus dem Anwendungsbereich des Gewerberechts herausgenommen und durch die gleichzeitige Einführung des neuen § 51 Satz 3 GewO auch die Anwendung des § 51 GewO auf diese Anlagen ausgeschlossen hat, hat er die Sätze 1 und 2 der Vorschrift im Hinblick auf ihren darüber hinausgehenden Anwendungsbereich aufrechterhalten. Er hat damit die Anwendbarkeit des § 51 GewO auf die nicht genehmigungsbedürftigen Anlagen, die nicht den Vorschriften des BImSchG unterliegen, bestätigt. Diese ausdrückliche Entscheidung des Gesetzgebers darf nicht im Interpretationswege dadurch unterlaufen werden, daß man den zu abweichenden Rechtsfolgen führenden landesrechtlichen Bestimmungen des Polizei- und Ordnungsrechts einen Anwendungsvorrang vor § 51 Sätzen 1 und 2 GewO zubilligt.

69 In diesem Sinne z. B. auch Christoph Gröpl/Claudia Brandt, VerwArch 95 [2004], S. 223 ff., 245. 70 S. Ennuschat, in: Tettinger/Wank/Ennuschat, a. a. O., § 51 Rdnr. 9. 71 Fröhler, GewArch 1972, S. 113 ff.; ders., in: Fröhler/Kormann, a. a. O., § 51 Rdnr. 3. 72 S. dazu die obigen Ausführungen zu BVerwGE 38, S. 309 ff.; vgl. auch bereits Karl Heinrich Friauf, Latente Störung, Rechtswirkungen der Bauerlaubnis und vorbeugende Nachbarklage, DVBl. 1971, S. 713 ff.

Kopierschutz im Alten Reich Prozesse (insbesondere Appellationen und Vollstreckungsersuchen) über Kölner Privilegien gegen den Nachdruck (privilegia impressoria) vor dem Reichshofrat in Wien Von Thomas Gergen, Luxemburg* Geistiges Eigentum und seine Genese lassen sich nicht ohne das Privilegienwesen (privilegia impressoria) zum Schutze vor Nachdruck erklären. So bildeten die Privilegien und ihre Vergabe stets eine Schranke für die im Allgemeinen garantierte Druck- und Gewerbefreiheit. Mit dem Buchdruck hatte sich die frühneuzeitliche Gesellschaft bereits zu einer vernetzten „Informationsgesellschaft“ entwickelt. Köln – die Geburtsstadt des Jubilars Rudolf Wendt – hatte als Stadt des Buchdrucks und des Verlagswesens von vor allem gegenreformatorischem Schrifttum seit dem 16. Jahrhundert eine herausragende Bedeutung im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation.1 Für die in Köln ansässigen Buchdrucker und Verleger waren Privilegien gegen den Nachdruck eine wichtige Rechtsquelle, um die in mehreren Instanzen gestritten wurde. Die im Folgenden ausgewählten Fälle beweisen, dass der Reichshofrat als Instanz genutzt wurde, um gegen den unerlaubten Nachdruck einzuschreiten: einmal um kaiserliche Privilegien erstmals zu gewähren sowie später durchzusetzen, d. h. die Vollstreckung vor Ort zu erzwingen (im Sinne von Vollstreckungshilfeersuchen). Darüber hinaus gab es auch Appellationsprozesse, in denen vor dem Reichshofrat untergerichtliche Urteile über Privilegien verhandelt wurden. Der Reichshofrat war zuständig, weil Privilegien zu den kaiserlichen Reservatrechten gehörten, über die nur er allein zu befinden hatte.

* Der Autor hat an der European University for Economics and Management (eufom) in Luxemburg die Professur inne für Internationales und vergleichendes Zivil- und Wirtschaftsrecht mit Immaterialgüterrecht/Recht des Geistigen Eigentums, verbunden mit der Direktion des dortigen Forschungsbereiches für Geistiges Eigentum und Immaterielle Wirtschaftsgüter. Ferner ist er Co-Direktor des DFG-Projektes „Impressoria vor dem Reichshofrat“, das an der Forschungsstelle für die Geschichte des Geistigen Eigentums (GGE) an der Universität des Saarlandes angesiedelt ist, die dem Lehrstuhl von Rudolf Wendt seit langem in guter räumlicher Nachbarschaft verbunden war. 1 Dazu bereits ausführlich jüngst Gergen, Druck und Nachdruck von Büchern und Zeitungen im gegenreformatorischen Köln, S. 98 – 111.

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Im Allgemeinen urteilte der Reichshofrat kurz und bündig. Begründende Voten oder gar Relationen finden sich sehr selten in den Akten. Regelmäßig verwies der Reichshofrat auch an den Frankfurter Bücherkommissar. Die Vorrangstellung des Reichshofrates wurde definiert in Abgrenzung zu den territorialen Gerichten und Behörden (insbesondere zum Rat der Stadt Köln), die Machtbalance zwischen beiden stets neu ausgelotet. I. Druck und Nachdruck im Alten Reich Die Geschichte von Buchdruck und Buchhandel lässt sich bekannterweise nicht ohne die Geschichte des Nachdruckes bzw. des Kampfes gegen den unerlaubten Nachdruck schreiben.2 Bis ins 19. Jahrhundert wurden in Deutschland Privilegien gegen den Nachdruck (privilegia impressoria) zugunsten von Privilegierten ausgesprochen, die das regelmäßig befristete Verbot enthielten, eine bestimmte gedruckte Schrift nachzudrucken, solche Nachdruckexemplare zu verkaufen oder in anderen Herrschaftsgebieten nachgedruckte Exemplare einzuführen oder abzusetzen.3 Meist betrug die Frist drei bis zehn Jahre, mitunter auch ein Jahr oder manchmal sogar 25 oder 30 Jahre. Durch Androhung von Geldstrafe oder Konfiskation für den Fall der Zuwiderhandlung bekräftigte die Obrigkeit das von ihr ausgesprochene Gebot. Gemäß den deutschen kaiserlichen Privilegien,4 die den umfassendsten Schutz gewähren konnten,5 floss die Geldstrafe hälftig an die kaiserliche Kammer und den Berechtigten. Päpstliche Privilegien drohten stets mit der Exkommunikation. Während Generalprivilegien zum Schutz der gesamten Herstellung des privilegierten Druckers oder Verlegers ergingen, bezogen sich Spezialprivilegien auf bestimmte einzelne Druckwerke. Bei religiösen Orden ist zu beobachten, dass diese zunächst Generalprivilegien erhielten, ehe der Provinzial des Ordens wiederum Subprivilegien an bestimmte Drucker für gewisse einzelne Druckwerke verleihen durfte.6 Im Alten Reich wurden Druckprivilegien zunächst vom Reichsregiment und vom Kaiser, bald aber ebenfalls von den Reichsständen und sogar von Territorialstädten

2 Koppitz, Die kaiserlichen Druckprivilegien, S. VII; Leonhard/Ludwig/Schwarze, Medienwissenschaft, S. 469. 3 Gergen, Die Nachdruckprivilegienpraxis Württembergs; ders., Zum Urheberrecht Hannovers; ders., Badisches Urheberrecht. 4 Hoffmann, Von denen ältisten […] Bücher-Druck- oder Verlag-Privilegien. 5 Lehne, Zur Rechtsgeschichte der kaiserlichen Druckprivilegien; Koppitz, Die Privilegia impressoria; Gesätze und Verordnungen über das Bücherwesen im Reich, in: Rieffel, Der Reichshofrath 3, S. 409 – 435, 4, S. 318 – 320 (Druckprivilegien); Schottenloher, Die Druckprivilegien. 6 So z. B. bei den Jesuiten: HHStA Wien, RHR (= Reichshofrat), Den. rec. K. (= Karton) 791/7.

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erteilt, was oftmals zu Konkurrenzen der Schutzbereiche der Privilegien führte.7 Bis zum Ende des Alten Reiches im Jahre 1806 war und blieb der Reichshofrat das Organ, das für den kaiserlichen Schutz vor Nachdruck zuständig war: als kaiserliche Behörde bzw. Spruchkollegium für Streitigkeiten um Privilegien gegen den Nachdruck sowie als Höchstinstanz für Appellationen von territorialen Gerichten.8 1597 wurde zudem eine kaiserliche Bücherkommission in Frankfurt am Main eingesetzt, deren Aufgabe es war, genau zu überprüfen, ob die auf den Frankfurter Buchmessen angebotenen Schriften ordnungsgemäß zensiert worden waren.9 Der kaiserliche Bücherkommissar war zunächst zuständig für die Einhaltung der Vorschriften in den gewährten Schutzbriefen, welche auch Freiheiten oder Impressorien genannt wurden. Auf den Frankfurter Buchmessen machte er den Inhalt der kaiserlichen Schutzbriefe bekannt (Insinuation). Der Reichshofrat übersandte hierzu dem Bücherkommissar die Dokumente über Gewährung oder Ablehnung von Anträgen. Daneben war er befugt, dem Bücherkommissar Anweisungen zu erteilen wie etwa die Beschlagnahme verbotener Bücher.10 II. Aktenbestände in Wien und Köln Die Akten zu den Impressorien sind im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv (HHStA) in 80 Kartons zusammengestellt; die Sammlung ist unvollständig. Oft sind die ausgestellten Privilegien nicht im Original, sondern als Entwürfe oder beglaubigte Kopien erhalten. Denn die Originale wurden regelmäßig den Privilegienbegünstigten zugestellt, d. h. Buchdruckern, Buchhändlern, Verlegern, Autoren einschließlich der Komponisten und (bildenden) Künstlern, Gemeinschaften, Gesellschaften etc. Es begegnen mitunter Schutzbriefe (oft Generalprivilegien) zugunsten von Ordensgemeinschaften (Societas Jesu, Jesuiten) und anderen kirchlichen Einrichtungen (wie Druckereien von Waisenhäusern), weltlichen Institutionen sowie von Stadtverwaltungen. Hans-Joachim Koppitz hat zu den Akteneinheiten wesentliche Grundsätze herausgearbeitet.11 Dabei sind hervorzuheben die Akten besonderer Art, d. h. Beschwerden gegen das Nachdrucken und Nachweise darüber, dass Konkurrenten ein Privileg erschlichen hätten, mit anderen Worten privilegia ob- et subrepta, wofür als juristi7 Gieseke, Vom Privileg zum Urheberrecht, S. 39 – 42; Gramlich, Rechtsordnungen; Wittmann, Geschichte des deutschen Buchhandels, S. 19 – 22; Giesecke, Der Buchdruck, S. 441; Vogel, Deutsche Urheber- und Verlagsrechtsgeschichte; Bappert, Wege zum Urheberrecht; Widmann, Geschichte des Buchhandels. 8 Gross, Die Geschichte der deutschen Reichshofkanzlei; Gergen, Kaiserliche Privilegien, S. 440 – 441. 9 Wilke, Presse und Zensur, insbes. S. 149 – 150. Zu Aufgaben und Kompetenzen der Frankfurter Bücherkommission siehe ausführlich Eisenhardt, Die kaiserliche Aufsicht, S. 64 – 92. 10 Gschliesser, Der Reichshofrat, S. 65 – 66; Eisenhardt, Die kaiserliche Aufsicht, S. 3. 11 Koppitz, Die kaiserlichen Druckprivilegien, S. XIII–XIV.

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sche Autorität gerne David Mevius bemüht wird. In vielen Dossiers sind lediglich die Privilegienansuchen konserviert. Selten und mithin wertvoll für unsere Untersuchung sind die Gründe von Ablehnungen, die sich mittels Aktenstudium genauer herausschälen lassen. Reichshofratsprotokolle und Relationen könnten mehr Informationen liefern; allerdings hat eine erste Durchsicht einiger Relationen keine weiteren Hinweise gebracht.12 Die Abteilung des Frankfurter Stadtarchivs (heute Institut für Stadtgeschichte), die die an den Bücherkommissar ergangenen Anweisungen des Reichshofrats verwahrt hatte, kann nicht mehr konsultiert werden, weil die Messeakten im II. Weltkrieg restlos vernichtet wurden.13 Köln hatte als Buchdrucker- bzw. Verlegerstadt14 eine herausragende Bedeutung, v. a. als wichtiger Druckort gegenreformatorischen Schrifttums in einer medial dominierten Großepoche.15 In den Quellen oft vorkommende Namen von Druckern bzw. Verlegern sind Metternich, Bencard, Randerath, Fromart, Langenberg oder Steinbüchel. Das Stadtarchiv Köln konnte vor seinem Einsturz im Jahre 2009 von mir besucht und einschlägige Bestände eingesehen werden,16 von denen wohl einige unwiederbringlich verloren sind.17 Von den Quellenbeständen im Reichshofratsarchiv waren nicht zu sichten die Serien: Antiquissima18 (da vor 1500), Badische Akten19 sowie die Judicialia latinae expeditionis (die den Randbereich des Reiches betreffen). Die zu berücksichtigenden, da zeitlich, örtlich und thematisch einschlägigen Serien umfassen hingegen: Alte Prager Akten, Decisa, Denegata antiqua, Denegata recentiora, Judicialia miscella-

12 Bei den Relationen findet sich lediglich ein Blatt, als es 1760 um die Verlängerung des 1747 ergangenen Privilegs für Thomas Odendahl auf weitere 10 Jahre ging. Die Verlängerung wurde ohne substanzielle juristische Erläuterung und unter Einforderung von fünf Belegexemplaren gewährt. Dieselbe 1772 vorgetragene Bitte wurde gleichfalls erhört, vgl. HHStA Wien, RHR, Rel. K. 127 (01). Die Relation mit Votum des Ernest von der Ketten, gefunden im Stadtarchiv Köln (siehe zum letzten unserer Fälle), ist indes Erkenntnis erhellend, StadtA Köln 120/2622, f. 165r-166v. Sie ist keine Relation eines Reichshofrates, sondern wahrscheinlich eines Kölner Juristen, der die Chancen eines Appellationsprozesses vor dem Reichshofrat beleuchtet. In jedem Fall bleibt die Analyse weiterer Relationen m. E. ein Desiderat. 13 Koppitz, Die kaiserlichen Druckprivilegien, S. XVIII. 14 Benzing, Die deutschen Verleger 1316, zählt für Köln gut 100 Verleger auf. 15 Mölich/Schwerhoff, Die Stadt Köln, S. 13 – 16. 16 Deeters, Die Bestände des Stadtarchivs Köln, S. 49. 17 Schmidt-Czaia/Soénius, Gedächtnisort. 18 Die Antiqua (über 1.000 Kartons, wahrscheinlich ca. 18.000 Fälle) haben ihren Schwerpunkt im 17. Jahrhundert; lediglich die Antiquissima betreffen die Zeit vor 1500. 19 Die Badischen Akten sind für eine Auslieferung an Baden vorbereitete, das Gebiet Badens betreffende Judizial- und Gratialakten.

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nea, Obere Registratur, Relationen und die Vota.20 Dabei sind die Decisa und Denegata recentiora besonders fruchtbar. Beispiele für frühe privilegia impressoria finden sich auch in den Antiqua.21 Die Durchsicht des Fiskalarchivs bringt indes mäßige Resultate. Selbst wenn dort „puncto privilegii impressorii“ vermerkt steht, kreisen die Themen um die Einziehung von Strafen, weniger um Ansätze der Geschichte des Geistigen Eigentums. Durch Abgleich der Kölner Akten mit denen des Reichshofrats in Wien konnte ein vollständigeres Bild gewonnen werden. Zeitlich fallen die Fälle ins 17. Jahrhundert und gehäuft in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts. III. Köln als publizistische Hochburg der Gegenreformation Köln war bereits sehr früh ein Zentrum der Buchdruckerkunst; der Drucker Ulrich Zell22 steht mit dem Jahr 1464 an erster Stelle.23 Zur Zeit der Gegenreformation waren Buchdrucker bzw. Druckerverleger (in jenen Jahren waren Verlag, Druck und Buchhandel oft in einer Hand vereint) eine soziale Schlüsselgruppe in Köln, welches zu den „altgläubigen“ Städten und Territorien des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation gehörte. Während Frankfurt am Main, Leipzig, Nürnberg, Augsburg, Basel und Straßburg, mit Ausnahme des bi-konfessionellen Augsburg, protestantisch geworden waren, stellte die Reichsstadt Köln die einzige katholische Druckstadt von europäischem Rang in Deutschland dar: Buchdruck und Katholizität waren eng miteinander verwoben.24 Die seelsorgerlichen Möglichkeiten des Buchdrucks wurden von den Orden erkannt. Es ist bemerkenswert, dass just in der Kölner Kartause damit eine Tradition begründet wurde. Jacob von Paradies (Carthusiensis) zum Beispiel, von den eher weltabgewandten und seelsorgefernen Kartäusern, formulierte wohl als erster, dass der handwerklich geprägte Buchdruck zur Seelsorge genützt werden sollte. Darin war eine folgerichtige Anwendung der Ordensvorschrift des manibus praedicare zu sehen.25 Dieser Grundstein war schon vor der Reformation gelegt worden. Sowohl Luther und seine reformatorischen Weggefährten als auch ihre Kontrahenten auf der Seite der

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Bei den Vota stößt man auf eine interessante Akte, die über die Privilegierung der Römischen Breviere handelt und die den Reichshofrat dazu bewog, abstrakt-generell Stellung zur Privilegienvergabepraxis zu nehmen, HHStA Wien, RHR, Vota K. 7 (B3). 21 Siehe unseren ersten Fall. 22 Schmitz, Die Überlieferung deutscher Texte, S. 311 – 315. 23 Benzing, Die Buchdrucker, S. 233; ders., Bibliographie strasbourgeoise. 24 Enderle, Die Buchdrucker der Reichsstadt Köln, insbes. S. 167; Schmitz, Buchdruck; Boge, Literatur; Heitjan, Zum Buchhandelsunternehmen der Friessem; Chaix, Communautés religieuses; ders., Réforme et contre-réforme. 25 Cassiodor, Migne PL 153, Sp. 693 – 694, zitiert bei Mertens, Früher Buchdruck, S. 85 sowie ders., Jacobus Carthusiensis 138 – 148; Wienand, Die Kartäuser.

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alten Kirche nutzten intensiv das neue Medium des Drucks. Der Erfolg von Reformation bzw. Gegenreformation hing somit stark von der Publizistik ab.26 Die Kölner Druckerverleger als eine eigene, kleine soziale Gruppe spielten für die altgläubigen Teile des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation in den Jahren zwischen 1555 und 1648 eine tragende Rolle.27 Fast die Hälfte aller katholischen Buchdrucker war im Rheinland mit den Hauptdruckorten Köln und Mainz tätig. Der Rest verteilte sich auf Österreich, Bayern sowie den katholischen Teil des Südwestens und der Schweiz. Mit 38 von insgesamt 75 Druckerverlegern, die das Gros der katholischen Drucke jener Zeit herstellten, war Köln dominant.28 90 Offizinen arbeiteten in Köln. Zum Vergleich: In Wien arbeiteten 40 Drucker. Während München und Wien als Residenzstädte der Wittelsbacher und Habsburger die politischen Zentren des katholischen Deutschlands darstellten, lag die publizistische Hochburg hingegen in der Freien Reichsstadt Köln.29 Köln lag am Schnittpunkt wichtiger Fernhandelswege und verfügte seit Jahrhunderten über hervorragende Handelsbeziehungen zu London, dem niederländischen Raum, insbesondere Antwerpen, aber auch zu Paris und den wichtigsten größeren, günstig gelegenen deutschen Städten wie Mainz und Frankfurt. Neben dem Wirtschaftszentrum besaß Köln auch ein akademisches Zentrum mit seiner Universität. Dazu gesellten sich zahlreiche Konvente mit guten Bibliotheken. Köln verfügte über eine hohe intellektuelle und kulturelle Anziehungskraft.30 Die in Köln fest verankerten Jesuiten, die sich der wissenschaftlichen und publizistischen Auseinandersetzung mit ihren konfessionellen Gegnern widmeten, fanden in Köln eine hervorragende Druckinfrastruktur vor. Das publizistische Interesse der Jesuiten, die katholische Identität der Kölner Führungsschicht, zu der die großen Druckerverleger auch gehörten, sowie deren wirtschaftliche Interessen gingen eine ideale Verbindung ein.31 Die Kölner Drucker führten den lukrativen und einigermaßen stabilen akademischen Markt weiter, was sie bereits seit Beginn des Druckgewerbes in Köln getan hatten.32 Druckgewerbe und Absatzmarkt waren umkämpft; daher nimmt es nicht Wunder, wenn es zahlreiche Konflikte und Gerichtsprozesse um Privilegien gegen den Nachdruck von Büchern gab.

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Enderle, Die katholischen Reichsstädte. Enderle, Die Druckerverleger. 28 Enderle, Die Buchdrucker der Reichsstadt Köln, S. 168. 29 Ebd., S. 169.; Dirr, Hoheitsrechtliche Streitigkeiten, S. 69 – 75. 30 Chaix, Von der Christlichkeit zur Katholizität. 31 Enderle, Die Buchdrucker der Reichsstadt Köln, S. 174. 32 Ebd., S. 176. 27

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IV. Prozesse um Kölner Druckprivilegien vor dem Reichshofrat, insbesondere Appellationen und Vollstreckungsersuchen Einige ausgewählte Fälle um Nachdruckprivilegien aus Köln vor dem Reichshofrat werden uns im Folgenden beschäftigen. Eine frühe Akte aus der Mitte des 17. Jahrhunderts behandelt die Erteilung eines kaiserlichen Privilegs. Danach geht es um Appellationen, die aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts stammen, denen eine Entscheidung einer Vorinstanz in Köln vorangeht. Gleichfalls soll noch eine weitere Kategorie beleuchtet werden, nämlich Hilfeersuchen an den Kaiser, damit er darauf hinwirke, dass ein rechtskräftiges Kölner Urteil vor Ort in Köln vollstreckt werden soll. 1. Streit um die Verletzung des Druckprivilegs für die „Summa Theologica“ des Thomas von Aquin Ein sehr früh überlieferter Fall um privilegia impressoria aus Köln, der vom Reichshofrat entschieden wurde, spielt bereits ab dem Jahre 1641. Damals stritt Katharina Hierat, geborene von Berchem und Witwe des Buchhändlers Arnold Hierat, aus Köln mit dem Kölner Buchhändler Cornelius Egmont um die Rechte an der „Summa Theologica“ des Thomas von Aquin.33 Hierat führte aus, sie habe schon im Bücherkatalog der Frankfurter Herbstmesse von 1638 bekannt gegeben, dass sie dieses Werk in der Nachfolge ihres verstorbenen Mannes Arnold und dessen Vaters Anton weiterhin drucken wolle. Ihr 1640 erhaltenes zehnjähriges kaiserliches Druckprivileg für die „Summa“ habe sie allen Kölner Buchhändlern insinuiert. Dennoch habe ein „uncatholischer“ Buchdrucker namens Johann Bleuw in Amsterdam unter dem Namen des Kölner Buchhändlers Cornelius Egmont und vorgeblich in Köln das Werk drucken lassen. Egmont, dem sie das Druckprivileg ebenfalls bekannt gemacht habe, habe seine „Summa“ sogar im Bücherkatalog der Frankfurter Ostermesse von 1640 angekündigt und angeboten. Diese Verletzung ihres Privilegs hatte sie dem Kölner Rat angezeigt. Aber der ihr missgünstige Ratsmann und Buchhändler Hermann Milius habe im Rat vorgebracht, dass der Kaiser nicht berechtigt sei, für dieses Werk ein Privileg auszustellen, das jedermann drucken und verbreiten dürfe. Ihre Bitte um Bestätigung ihres alleinigen Druckrechtes sei deshalb am 25. April 1640 abgelehnt und sie an den kaiserlichen Bücherkommissar verwiesen worden. Auf ihren Antrag hin befahl der Reichshofrat mit Verfügung vom 4. Juli 1640 der Stadt Köln, der Stadt Frankfurt und dem Bücherkommis-

33 HHStA, Antiqua 73/2, 1641 sowie Reichshofratsprotokolle 122 (17. Jahrhundert), f. (= folio) 33, 36 und 37. Die Beschreibung des Falles Hierat contra Egmont stammt von Dr. Ulrich Rasche (Göttinger Akademie der Wissenschaften, Projekt: Die Erschließung der Akten des Kaiserlichen Reichshofrats), dem ich hierfür verbindlich danke. Siehe dazu nunmehr: Die Akten des Kaiserlichen Reichshofrats, Serie II: Antiqua, Band 2: Karton 44 – 135, hg. von Wolfgang Sellert, bearb. von Ulrich Rasche, Berlin 2014, Nr. 294, S. 246 f.

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sar, die Supplikantin in ihrem kaiserlichen Privileg zu schützen, die Exemplare der Egmontschen Ausgabe einzuziehen und zu berichten.34 Daraufhin trug die Klägerin vor, der Rat habe sie trotz des Mandats auf Einreden der Kölner Buchdrucker Hermann Milius und Johann Kincky daran gehindert, eine Schiffsladung mit dem in den Niederlanden gedruckten Werk mit Arrest belegen zu lassen, welches die Hieratsche Handlung exklusiv seit dreißig Jahren drucke. Sie bat daraufhin erneut um Mandate zum Schutz ihres Privilegs. Egmont erwiderte, er besitze erzbischöfliche Druckprivilegien von 1622 und 1624 und habe auf Wunsch von Studenten und Professoren der Kölner Universität 1634 mit seiner in Amsterdam produzierten handlichen Ausgabe der „Summa“ begonnen, welche 1639 fertig geworden sei. Der Werk werde seit 150 Jahren in Italien, Frankreich und in den Niederlanden, in Rom, Venedig, Lyon, Paris, in Antwerpen von seinen Verwandten, den Platins, und schließlich seit 1621 in Deutschland von den Hierats in Frankfurt gedruckt, ohne dass in all diesen Fällen ein Privileg vorgelegen habe, so dass sich „dieß opus also nit woll an ein oder anders privilegium laßet binden“.35 Es habe kein Privileg existiert, als er 1634 mit der Produktion seiner Druckausgabe begonnen habe; das Privileg sei vielmehr erst ausgestellt worden, als seine Druckausgabe bereits fertig gewesen sei. Die Durchsetzung des Privilegs würde ihn in den wirtschaftlichen Ruin treiben. Da ein solches Spezialprivileg sein vorher erworbenes allgemeines Privileg ohnehin nicht brechen könne, bat er darum, Katharinas Druckprivileg zu kassieren. Kurze Zeit später traf auch tatsächlich ein Fürbittschreiben des Kurfürsten von Köln für Egmont in Wien ein:36 Die Klägerin plane eine Folioausgabe, die noch längst nicht erhältlich sei. Die handliche Egmontsche „Studienausgabe“ der Summa sei unentbehrlich für das Theologiestudium in Köln, welches sich seit drei oder vier Jahren „in größeren flore alß niemalen zuvor“ befinde.37 Die Klägerin antwortete, das kurfürstliche Druckprivileg erstrecke sich nur auf das Gebiet des Erzstiftes. Der Egmontsche Druck sei nach Ausweis des Titelblattes nicht 1639, sondern erst 1640 fertig gestellt worden. Auch würde ihr die Zulassung des Egmontschen Drucks schweren wirtschaftlichen Schaden zufügen.38 Der Reichshofrat entschied am 1. Februar 1641, den Befehl über die Einziehung der Egmontschen Ausgabe beim Rat von Frankfurt und zu Köln zurückzuziehen; beide Seiten sollten fortan die „Summa“ in den von ihnen gewählten Formaten drucken: „ …hingegen aber die bej Ihnen privilegia impressoria über obgedachte Summen und bereits angefangenen Druck und Format allerdings zu schüzen, und handtzuhaben, daß der Gestalt, 34

Ebd. f. 12v. Ebd. f. 20v. 36 Ebd. f. 28 – 29. 37 Ebd. f. 28v. 38 Ebd. f. 30 – 36. 35

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daß beklagtem Egmondt an seinen, noch zuvor in anderem Format angefangenen und vollendten Druck hierdurch kein Nachtheil zugezogen, noch Ihnen distrahir: und Verkauffung der Exemplarien einiger Eintrag ohne Hindernüß nit zugefüget werden solle.“39

Aus diesem Fall resultiert, dass der Reichshofrat über konkurrierende Privilegien (kaiserliches bzw. kurfürstliches Privileg) zu entscheiden hatte und überdies eine möglichst schonende Lösung für beide Parteien zu finden imstande war. 2. Metternichs erfolglose Appellation gegen Bencard und Mayer a) „Hatt das Begehren nicht statt“ Die Appellation beim Reichshofrat gegen die Entscheidung in Sachen Franz Metternich (Köln) gegen Carl Joseph Bencard (Köln) und Johann Mayer (Mainz)40 ist für die Verfahrensgeschichte von Interesse, weil sie zeigt, wie der Reichshofrat gleich zweifach, in kurzer Zeit und mithin sehr effizient, die Appellationen des Metternich abschlägig beschied: Im Oktober 1716 und sogleich im Januar 1717 gab es hierzu wichtige Entscheidungen. Der Kölner Buchhändler Franz Metternich hatte kein kaiserliches Privileg, wollte aber den „Großen Baumgarten“ des Pater Martinus von Cochem drucken, der zu jener Zeit vielfach gedruckt und gelesen wurde. Hinderlich für ihn war, dass Bencard und Mayer Subprivilegien besaßen, deren Echtheit Metternich anzuzweifeln versuchte. Der Pater Provinzial der Kapuziner, Salentinus Cellensis, hatte bereits 1684 ein „Subprivileg“ an den „Vatter“41 von Carl Josef Bencard für das Gebetbuch des Kapuziners Pater Martinus von Cochem, der „Große Baumgarten genannt“, erteilt. Dem Pater Provinzial selbst war ein kaiserliches Privileg Leopolds I. „praeter morem & consuetudinem ordinis: in perpetuum“42 erteilt worden. Da Bencard nicht allein drucken konnte, band er Juden ein, denen sodann skandalöser Umgang mit dem Gebetbuch für Christen, liederlicher und unsauberer Druck vorgeworfen wurde. Und sogar inhaltlich seien Manipulationen aufgetreten: „Wobey es nicht allein verbleiben, sondern wie die Juden darin die Händt behalten, dißes Buch auch zimlich in ein und anderem reprobum sensum detorquirt worden, dass hinc inde zuweilen ärgerliche Wörter eingeflossen!“43 Die Einbeziehung von Juden in das Verlagswesen kam nach Auffassung des Appellanten einer Verwirkung des Privilegs gleich, was er in seiner Berufungsschrift stark betonte.

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Ebd. f. 41. Akten des Verfahrens: HHStA Wien, RHR, Den. rec. K. 791/5. 41 Libellus gravaminum, Beilage B in Klageschrift des Reichshofratsagenten Metternichs Philipp Wilhelm von Würtz, präs. (= praesentatum, präsentiert) 22. 9. 1716. 42 Ebd. 43 Ebd. 40

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Der Kapuzinerorden nahm wegen der unsauberen Drucke 1709 das an Bencard verliehene Privileg zurück. Bencard und Mayer taten sich daraufhin zusammen, sodass die Kapuziner schon 1711 zugunsten des Mayer in Mainz und des Bencard ein Druckprivileg ausstellten. Dem war der Metternichsche Vorwurf geschuldet, Mayer habe sich sein Privileg nur erschlichen, ja sogar „geraubt“. Es folgte Metternichs Bitte an den Kaiser, die „beym Cöllnischen Magistrat höchstbeschwehrliche Sentenz dahin zu reformieren und auszustreichen, daß gleichwie die schweizerische saubere Edition in gutem Schreib-Bapier jederzeit vorhin per tot annos unter […] /:wie nicht abgeläugnet werden kann, sondern in continenti erweißlich:/ im Heyl. Röm. Reich einzubringen und zu verkaufen geduldet werden, und Alwaldts Principaln keinen schlechten Druck hievon in gemeinem Bapier /:wie der Gegentheil thun und gethan haben:/ einzuführen gedenken oder gedacht, dadurch die das Privilegium violirt hätten. Dahero es auch also dabey verbleiben und die Buchhändler in dieser ihrer possession cum omnibus Expensis fästiglich gestüzt sayn sollen.“44

Beim Kölner Rat wurde Metternichs Gesuch nicht akzeptiert, das Privileg für Bencard und Mayer als nichtig zu erachten. Metternichs Begründung, ihm kraft Observanz und Gewohnheit und weil er den „echten“ und „sauberen“ Baumgarten druckte (so wie es das Kloster Einsiedeln/Schweiz vorgab) ein Recht zum legitimen Druck zuzugestehen, fand in Köln kein Gehör. Ein „ius acquisitum“ aufgrund des Druckes der Schweizer Edition wurde dem Kölner Buchhändler auf keinen Fall zugestanden. Die Appellation, die sich daher gegen die „bey dem Magistrat, zu Cölln den 10. July nuper: publicirten Sentenz“45 richtete, wurde nicht gehört; es hieß deutlich und prägnant: „1mo. Werden der gebettene processus appellationis abgeschlagen. 2do. Includatur Exhibitum dem Bücher Commissario um zu versuchen, wie die Unter denen Partheyen annoch übrige Differenzien vollends abgethan werden können, und wie es geschehen sub termino duorum mensium zu berichten“.46

Metternichs Anwalt, Philipp Wilhelm von Würtz, gab indes nicht auf. In seiner Eingabe an den Reichshofrat ging er auf die abgeschlagene Appellation zwar ein und lobte ausdrücklich die Entscheidung des Reichshofrats, den Frankfurter Bücherkommissar mit der Mediation der Differenzen zwischen den Parteien zu betrauen. Dafür dankte er sehr und fuhr fort: „Alldieweillen aber beyde Gegentheillen Carl Joseph Bencard, und Johann Mayer nicht allein in Frankfurth, wie schon allerunterthänigst geklaget, sondern auch bey dem Cöllnischen Magistrat super una eademque Causa Streit geführt.“

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Ebd. Schriftsatz Würtz, präs. 21. 6. 1717. 46 Bescheid des RHR vom 6. 10. 1716, Beilage C zum Schriftsatz Würtz, präs. 21. 6. 1717. 45

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In Frankfurt war darüber gestritten worden, ob Mayer und Bencard ihre Exemplare auf der dortigen Herbstmesse weiterhin feilbieten durften. Der Magistrat habe „in der Sach anmaßlich gesprochen“, und seine Partei „beschwährt“. Ferner trug er vor, dass es absonderlich sei, „da Niemand ex una eademque causa coram diversis judicibus in Recht zu stehen hat“. Der Kaiser möge doch eingreifen und dem Kölner Magistrat „wenigst per Conclusum zu gebiethen, daß derselbe sich der Sache weiters nicht anzumaßen, weniger zu attentiren, sondern bey solch Kayl. Allergnädster Verordnung oder Remission ad librorum Commissionem ruhiglich bewenden zu lassen habe“47. b) Im Zusammenhang mit der Appellation: Bitte um Erlass der „poen“ Rechtsmittel beim Reichshofrat wurde von Anwalt Philipp Wilhelm von Würtz erhoben „wegen einer zu besagtem Cöllen in faveur Carl Josephen Benckart, und Johann Mayer gantz incompetenter außgesprochener Sententz /:wo von rechtmäßig anhero appellirt worden:-/ bey Euer Kayl. Mayl. Höchstpreysl. Reichshofrath der Processus Appellationis aller unterthänigst gesucht, dieselbe zwar unterm 6ten octobris 1716 nechst hingelegten Jahrs abgeschlagen, die Sach aber mit Einschließung des exhibiti und libelli gravatorialis, umb noch übrige Differention unter den Parteyen abzuthun, vigore Lit. C. dem Bücher Commissario in Franckfurt allergnädigst committirt worden say, womit Anwaldt Principalen auch wohl zufrieden gewesen, und diesem allerunterthänigste parition leisten wollen; dahir in zwischen aber hernach der allerunterthgste Bericht von denen Bücher Commissarys in Franckfurt in puncto. Privilegy über P. Martin von Cochems großen Baumgarten einkommen, so haben Ewr. Kayl. Mayt. darauf unterm 20ten octobris berührten Jahres inhalts lit. D. allergnädigst befohlen, dass Frantz Metternich Anwaldts Principal den ratione violati privilegy dem Kaysl. Fisco zu kommenden poen fall innerhalb zwey Monathen abführen solle.“48

Im Schriftsatz wird darauf verwiesen, dass Bencard von den Kapuzinern das Privileg „darüber zwar erlangt, selbsten aber nicht im standt, die Bücher aus eigenen mitteln auffzulegen, sondern wie notorie in Franckfurt und überall bekandt, auß Mangel des Verlaags den Juden daselbst übergeben, die dann unter seinem Nahmen, umb nun allzu begierigen Gewinn zu haben, so liederlich Druck angeschafft, daß er schier nicht feyl zu bieten; zu geschweigen der ärgerlichen Sensuum, so hinc, inde in dem Buch eingeflossen: auch zuweilen einige Exemplarien bey ihm gar nicht zu haben waren, dass desßwegen das fürstl. Closter zu Maria Einsiedel, ersehend, wie das Kayl. Privilegium also zum Nachtheill andächtiger Christen missbraucht würde, veranlasset worden, zu Beförderung der andacht dies Buch in sauberem netten Druck, et in sensu iteru gennino auffzulegen, und zu redintegriren, welches die P.P. Capucini selbst mitapprobiert, und bey so geschehenem Missbrauch das Privilegy besagtem Bencart, solches wieder abgenohmen, und eingezogen; dadurch dann erfolgt, 47 48

Schriftsatz Würtz präs. 9. 11. 1716. Schriftsatz Würtz präs. 21. 6. 1717.

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dass das Buch von dieser Einsiedler Edition eingebracht, verkaufft, und genninos gangs geworden, auch bißhero blieben.“49

Das eingereichte Gnadenersuchen im Zusammenhang mit der Appellation war nach Auffassung des Reichshofrats ebenfalls unbegründet. Metternich musste die Fiskalstrafe von „20. Marck lötigen Goldts“ entrichten: „Communicetur dem Reichsfiscali das impetratische exhibitum.“50 3. Metternich versus Randerath: Vollstreckungsersuchen an den Kaiser wegen rechtskräftiger Sentenz des Kölner Rats, die von letzterem aber nicht vollstreckt wird In der Akte Franz Metternich, Buchhändler in Köln, gegen Conrad Randerath, Buchbinder in Köln, wird deutlich, dass sich der Reichshofrat, d. h. heißt das Reich, über Jahre offenbar nicht gegen den Rat der Stadt Köln durchsetzen konnte, welcher mit zahlreichen Beugemitteln dahin gebracht werden sollte, die Strafe gegen Randerath einzutreiben, was aber nicht geschah („Sub poena realis executionis“, in der Zeit vom 27. März 1732 bis 27. Januar 1733).51 Metternich druckte seit vielen Jahren das Gesangbuch „Das geistliche Psälterlein“, wofür er Privilegien gegen den Nachdruck hatte, zuletzt gewährt am 7. September 1714.52 Der Rat der Stadt Köln hatte bei Vorzeigung des Privilegs am 13. März 1711 allen Buchhändlern, -druckern und -bindern anbefohlen, „bey der dem Kayl. Privilegio einverleibter Straf keine andere, als von Anwaldts Principalen verlegte Exemplaria zu verhandeln, und zu verkauffen“. Dessenungeachtet tat Randerath genau dies. Die Klage beim Kölner Rat führte zum Einsatz einer unparteiischen „Special: Commission“ (24. August 1718), die die Verletzung des Privilegs untersuchen sollte. Randerath werde nicht „in poenam Privilegio insertam condemnirt“, sondern angewiesen, zu erklären, „wie vill der nachgedruckter Exemplarien von aller der Zeitt er distrahirt, und verkauft, und noch vorräthig hinter sich habe“. Der Bittsteller Metternich beklagt sich beim Kaiser, dass sein für ihn günstiges Urteil in Köln nicht vollstreckt wird, sondern die Gegenseite mit allen Mitteln versucht, die Volllstreckung des Urteils zu verhindern; daher sei „Rekurs“ beim Reichshofrat geboten: „Alß nun dieses Ratsurtheil ex causa privilegy in seiner Rechts-Kraft verstrichen, davon nicht appellirt et noch appellirt werden könne, cum alias in causis Privilegiorum, ubi inventum fuit corpus Deliciti, non detur appellatio, so hätte Anwaldts Princial. vermeinet, es 49

Ebd. Vermerk RHR an Reichsfiskal präs. 9. 8. 1717; zu Gnadenverfügungen jetzt Ortlieb, Lettere di intercessione imperiale. 51 Akten des Verfahrens: HHStA Wien, RHR, Den. rec. K. 791/9 sowie StadtA Köln 120/ 2367. 52 StadtA Köln 120/2367, f. 22r, 72r. 50

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wurde besagter Violator sich gütlichst eingestellet, und sich mit Ihm abgefunden haben. Es hat aber dieser Übertreter, wie der Rath zu Cölln sich mutiret; der alle halbe Jahr nun zu wechseln pfleget, und Anwaldts Principal. eben nacher Franckfurth in die Meß zu verreyßen in procinctu stünde, seine temps dabey in acht genohmen, und zu Verhinderung des judicati unterm 30ten Augusti 1719 bey damahligem Rath dahin supplicirt, gleichsam der eine Concommissarius Doctor von Oeckhoven Principalis Rathsgeber wäre, und deßfals Ihnen perhorresciren thäte, dass die Commissio indessen suspendirt geblieben, gestalten per Magistratum izt erwehntem Concommissarius Doctori Oeckhoven aufgeben worden sich zu erklehren, ob von selbstem der Commission sich entschlagen wollte.“53

In seinem Schriftsatz sucht der Anwalt von Würtz zugunsten von Metternich Schutz beim Kaiser, denn nur er konnte diesen Machenschaften des Rates ein Ende bereiten. Damit das Metternichsche Privileg geachtet werde, sollte dem Rat aufgegeben werden „bey disem so erfundenen und überzeügten Nachdruck /: wie in Dicta sich gezeiget:/ scharf unter nahmhafter Straff anzubefehlen, ihre unterm 22. Juni 1719 ergangene Sentenz wider Conradum Randerath mit dem fiscalischen poenfall zu exequiren, und davon Principali seinet medietatem Voranfolgen zu lassen, oder bey solcher Anstoßung und recusation dero Reichs-Hoffiscale wider denselben executive mit beystehend zu procediren, seines Amts zu erinnern.“54

Die Anrufung des Reichshofrats war offenbar das letzte Rechtsmittel, um kaiserlichen Schutz vor der Nichtvollstreckung der Kölner Sentenz zu erlangen. Das Verfahren nahm weiter seinen Lauf und in Köln wurde der Reichshofrat über Jahre hinweg ignoriert. An den Rat der Stadt Köln ging am 3. August 1728 ein Schreiben Kaiser Carls VI. mit dem Inhalt „wegen violirtem ksl. Privileg Straf von 6 Marck löth. Goldts bei Randerath einzutreiben.“ Ein Aussetzungsersuchen der Vollstreckung vom 10. November 1728 wurde vom Reichshofrat abgelehnt. Ein weiteres Reskript Carls VI. vom 24. September wiederholte die Aufforderung, die Strafe einzutreiben, am 11. Januar 1732 wurde Reichsagent Gay aufgefordert, tätig zu werden und Befolgung „sub poena trium Marc: argente anzuzeigen“. Erst am 23. Juni 1732 erhielt der Reichshofrat ein Schreiben Randeraths (vom 11. Juni 1732), in dem dieser des Kaisers „Clementz“ und Schutz vor dem „Bettelstab“ für sich und seine Familie erbat. Daraufhin legten die Reichshofräte dem Kaiser die Sache vor (votum ad Imperatorem). Weder aus der Akte noch aus den Vota kann ersehen werden, ob der Kaiser letztlich ein Dekret erlassen hat. Fest steht indes, dass es einen Entwurf zur Ausarbeitung eines Dekrets gab. Dort schlug der Reichshoffiskal als Vollstreckungsbehörde für die Strafe vor, wegen unentschuldigter „Verachtung der Kaiserlichen Hoheit“ vonseiten des Kölner Rates, d. h. wegen „ungebührlicher vexam“, die Strafe nicht zu erlassen. Die Not des Supplikanten solle aber die Entscheidung beeinflussen, wobei der Kaiser die Strafe aber „nicht vollkommentlich

53 54

StadtA Köln 120/2367, f. 82v-99r. Schriftsatz Würtz präs. 26. 2. 1720.

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nachsehen“ sollte, „sondern auf daß höchste ihm mit einer Verminderung willfahren werden.“55 Ob und wie das kaiserliche Dekret dann letztlich lautete, wissen wir zwar nicht, doch ist erkennbar, dass sich das Privilegienverfahren im Kern durch die langatmigen Vollstreckungsversuche über ein Jahrzehnt hin zog und dass soziale Umstände und Härten (Verarmung des Gegners Randerath) ein Vollstreckungshindernis bildeten. Der Reichshofrat blieb zwar beharrlich in seiner Vollstreckungsanordnung (noch bis 27. Januar 1733), doch konnte er sich wahrscheinlich in der Reichsstadt Köln nur schwerlich durchsetzen. 4. Metternich gegen Fromart: Anweisungen an den Kölner Rat Im Prozess Metternich gegen Eberhard Fromart (1713 – 1717) beobachten wir Anweisungen des Reichshofrats an den Kölner Rat zulasten des Nachdruckers Fromart.56 Es geht um die 1662 aus dem Spanischen ins Deutsche übertragenen „Betrachtungen“ des Jesuitenpaters Ludovicus de Ponte, wofür Fromart behauptet ein „privilegium in terminis perpetuis et illimitatis“ erhalten zu haben. Er habe es schon über 50 Jahre „ohne geringste Einrede und Contradiction“ gedruckt. Der Anwalt Johann Unrath nennt auch den Namen des Übersetzers: 1627 hatte Michael Dalium die geistlichen Betrachtungen des de Ponte aus dem Spanischen übersetzt. Unrath beantragt beim Reichshofrat die Konfiskation aller Metternichschen Exemplare, und zwar vermittels eines Rescripti Clementissimi. Johann Busarum (Busäus), Buchhändler „im Einhorn“57 zu Köln, hatte die „Betrachtungen“ in deutscher Sprache zum ersten Mal 1662 in Köln gedruckt und ein kaiserliches Privileg gegen den Nachdruck erhalten. Es heißt in der Urkunde: „In gegenwärtiger Edition ist hinzugesezt worden ein kurtzer Auszug vom Leben des auctoris und ein Register über dessen Werk freytätige Evangelien des gantzen Jahres juxta morem romanum mit Einwilligung der Oberen. Und Kayserl. Privilegio gedruckt zu Cölln ahm Rhein durch Johannem Busarum Buchhändler im Einhorn Anno M.D.C.L.XII“.58

Fromart habe sich des Weiteren erfrechet, das Buch vollständig nachzudrucken, und im offenen und freien Verkauf auf der Frankfurter Herbstmesse anzubieten. Der Anwalt Metternichs, von Würtz, forderte, dass die von Fromart „vermessentlich“ hergestellten Exemplare einbehalten und nicht bei der Ostermesse verkauft werden dürften. Die Verfügung des Reichshofrats lautete: „Communicetur Exhibitum um sich wegen des darinn vermeldeten Wider das Kayserl. Privilegium unternohmenen Drucks innerhalb Zeit zwey Monaten zu verantworten, des Fortdruckens aber sich

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Reichshoffiskal, präs. 12. 8. 1732. Akten des Verfahrens: HHStA Wien, RHR, K. 791/6; StadtA Köln 120/2044. 57 Heitjan, Gerwin. 58 StadtA Köln 120/2044, f. 48. 56

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unter Vermeidung einer weiteren Straff ad fünff Marcks löthigen Golds zu enthalten“.59 Damit wurde die Inhibition, also der Suspensiveffekt, angeordnet. Am 14. Juli 1713 wurde Fromart mitgeteilt, „adhuc terminus trimestris nun sich nicht allein wegen des Wider des Kayserl. Privilegium unternohmenen, sondern auch ohnerachtet des Conclusi vom 2. May Straffbahrlich festgesezten Drucks zu verantworten, mit fernerer Auflage, sich des Fortdruckens unter Vermeidung zehn Marcks Golds zu enthalten“.60 Für den 14. August 1713 wurde notiert: „Auf insinuirte Scedulam inhaesivae Appellationis, provocationis, protestationis ac reservationis cum adjuncto an Seiten Johann Everharden Frommard gegen Hr. Wilhelmen Metternich wird sothaner appellation, als von einem in conformität der Kayserl. hochlöblicher Reichshoff-Ratischer Urtheil/ und zu dessen Vollstreckung ergangene Decreto nicht deferirt/ sonderen denen ungehindert denen vor und nach in puncto deß forttrucks und recognitionis ergangenem Kayserl. als deß Raths-Schluß zu pariren ein nochmahliger terminus ad primam senatoriam zum Überfluß mit dem anhang praefigirt/ daß die Execution der comminirt und verwürckter straff ad fünff Goltgulden denen Herren Gewalt-Richteren hiemit committirt, seyn solle.“61

Am 15. Oktober 1713 gab es folg. Conclusum des Reichshofrates: „1. Comunicetur Exhibitum impetrato, umb erhebliche Ursache, wan derselbe einige habe innerhalb 2. Monathen hier einzubringen, warumb er in der Straff der fünf Mark löthigen Goldts nicht zu condemniren say, da widrigenfalls sothane condemnatio izt alsdan und dan alß izt erkannt sein solle. 2. Rescribatur dem Magistrat zu Cölln, alle vollkommentlich getruckte Exemplaria dem Impetrato fördersamst hinweg und biß auf weitere kays. Resolution in Verwahr zu nehmen, auch daß solches geschehen innerhalb 2. Monathen anhero zu berichten. 3. Fiat petita retraditio Exemplarium.“

Im Gegensatz zum vorhergehenden Fall hatte Metternich ein kaiserliches Privileg. Sein Privileg ging dem des Fromart vor, das letzterer nur behauptet hatte. Der Rat forderte Fromart mehrfach auf, darzulegen, wie viele Exemplare der „Betrachtungen“ er bereits gedruckt habe und befahl, weiteren Nachdruck künftighin zu unterlassen. Nach mehrfachem Hin und Her ordnete er einen Verweis an den Reichshofrat „als dahin ihrer Natur her gehörig“ an. Dagegen wandte sich Fromart, sein Antrag wurde allerdings abgeschlagen.

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Ebd. f. 56. Reskript vom 4. Mai 1713 (Lit. A). Ebd. f. 57 (Lit. B.). 61 Ebd. f. 58/59. 60

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5. Langenberg versus Randerath:62 Problem der Gefahr gegenteiliger Entscheidungen zwischen Köln und Wien sowie der Konkurrenz kaiserlicher Druckprivilegien Peter Langenberg stritt mit Conrad Randerath „in puncto violati impressorii und ferner gefundenen Nachdrucks P. Martini v. Cochem, Der Myrrhen-Garten genannt“. Randeraths Anwalt trug vor, dass das Amtsgericht in Köln unberechtigt die Herausgabe von ihm besessener Druckexemplare vollstreckt habe, obwohl er vor dem Reichshofrat bereits Rechtsschutz gesucht habe. Seine Bedenken richteten sich gegen das in erster Instanz vom „Stadt Cöllnischen Ambtsgericht“ verkündete Urteil. Das Gericht sei mit keinem Rechtsgelehrten „versehen“ gewesen: „und dem in ersterer Instanz bestehendem auch damals mit keinem rechts gelährten versehenen Stadt cöllnischen Ambtsgericht wider die zu Euer Kaysl. Maytt. Rechtlichst interponirte appellationes beschehenen Eingriffs quò ad Cognitionem in causis privilegiorum clementissime inhibitam allergnädigst zu verfügen gebotten hatt.“63 Während Randerath am 30. April 1703 für den Druck des „Myrrhen-Garten“ ein kaiserliches Privileg auf 6 Jahre erhalten habe, habe Langenberg am 9. Februar 1705 bei dem damaligen Kapuziner-Provinzial ein solches nur erschlichen. Der Provinzial habe die Privilegien „gantz partheyisch und nichtiglich überführet, der Gegentheil aber darwieder unterm falsch erdichtetem Vorwandt expirirter Jahren ein anderes a dicto Provinciali et quidem hinc subsecuta Caesarea confirmatione multo minus debita intimatione listiglich heraus practizirt […], in allermildest Rechtlichen Betracht, dass solcher Gestalt die Exceptio Sub- et obreptionis wider dem Gegentheilen dahir offenbahr stattfinden müsse cum juris expressissimi sit, quoad Princeps ea, qua sub et obreptitie ilicita fuere nunquam servari velit, wie schon mit vielen hierüber angeführten legum authoritatibis bestätiget.“ An dieser Stelle wird David Mevius zitiert.64 „Daß sonsten des Stadt Cöllnischen Magistratus Ambts-gericht denen zu Ewr. Kayl. Majtt. interponirten appellationibus und von jenem succesive ertheilten Conclusii zuwider gehandelt – Ewr. Kayl. Majt. Allerhöchsten reservato quo ad cognitionem in causis privilegiorum auch einen verbottenen Eingriff gethan, dardurch aber Anwalt Principalen wider Recht, und nichtiglich beschwehrt habe; Solches geruhen Ewr Kaysl. Mayt. aus hiebei vorigen diesseitigen Handlungen allergnädigst zu ersehen, welchen Anwald. das Sub. No. 5 anliegendes allergnädigst Kayserliches Rescriptum de anno- 1685 annoch beyzufügen, eine Nothdurft zu seyn erachtet hat. Krafft wessen dann denen Magistratibus in Privilegy Sachen die allermildeste Cognition nicht verstattet, vielmehr aber gestelten zweifelhaftigen Sachen nach der umbständliche Bericht, und behutsames umbgehen allergnädigst sorgfältigst anbefohlen 62

Akten des Verfahrens: HHStA Wien, RHR, Den. rec. K. 600/8. Schriftsatz Den. rec. 600/8, präs. 26. 11. 1726. 64 David Mevius, Decisiones super causis praecipuis ad summum Trib. Reg. Vismarense delatis, Weimar 1657, part 2, decisio 182, „per totum“. 63

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worden ist, welches allhier gleichwohlen mehr besagtes Ambtsgericht keineswegs observirt, sondern vielmehr dem Gegentheil zu faveur, mir aber zu unersetzlichem Schaden mit extradition der Bücheren quaestionis und Hintansetzung deren zu Ewr. Kayl. Maytt. interponirten vorbesagter Appelationem nebst zugelassener Auftreibung ohnverantwortlicher Kosten dadurch gefahren hat“.65

Zu dem Fall ist eine Relation von Ernest von der Ketten überliefert. Diese Relation entstammt offenbar von einem Juristen aus Köln, der die Erfolgsaussichten der einzulegenden Appellation vor dem Reichshofrat begutachten sollte. In der Relation, die lediglich in den Kölner Akten zu finden ist, heißt es,66 Conrad Randerath „hatt von anno 1691 bis annum 1697 das Erstere, von 1697 bis 1703 das Zweyte, und von anno 1703 bis 1708 das Dritte Kayserl. Privilegium über das von Patre Martino Cochem Capucino componirtes Bettbuch der Myrrhengarten genandt, erhalten, welches nach seinem anno 1706 erfolgten Todesfall auf deßen Stiefsohn Conradum Randerath verfallen und gerathen, welcher auch in deßen ruhigem Brauch und Ausschließung bis ad annum 1724 motam hanc litem verblieben, in dem völligen Lauf als solcher 17 Jahr nacheinander erhaltenen, und anno 1708 allererst auslaufenden Privilegii geht der Peter Langenberg, welcher dannach kaum zwey Hundert schritt. Von dem Sommer seelig67 und Randerath wohnhaft waren, und leicht erfahren, und vernehmen können, wie lang deßen Bücher dauern, und sein Privilegium laufen thäte, anno 1705 hinter diesem Randerath Herr, und verschweigendt, daß über dieses Bettbuch ein anderer ein Kayserl.privilegium hatte, und dieses Bettbuch so viele Jahre, schon getruckt war, erhaltet derselbe anno 1705 über eben dieses Buch auch ein privilegium Caesareum auf sechs Jahr, und nach denen sechs Jahren, id est anno 1711 ein abermahliges, nun fustiniert bey diesem Fall der Randerath erstlich, daß ihm unbenohmen geblieben gestalte, Von Kayserl. Mayestät sein Privilegium in vigore forthgangen, noch revozirt waren, daß bis zu diesem Ablauf zu trucken berechtiget gewesen, bis daß des Langenbergs ersteres Privilegium per sub- et opreptionem Veri, ein privilegium subreptium nullum et invalidum seye, drittens daß derselbe Ihm Randerath den per subreptionem verursachten Schaden, so sich […] dieses Bettbuch am stercksten gesucht worden, und mit viel Tausenden die Exemplaria zu verschleißen gewesen, sich auf eine große Summ belaufet, ersetzen solle und müße.“

In seiner Relation untersucht von der Ketten die Länge der Privilegien und arbeitet die jeweiligen Konkurrenzen hinsichtlich der Laufzeiten heraus. Die Vollstreckung, die gegen Randerath in dessen Haus durchgeführt wird, war allerdings unzulässig, denn die anhängige und zulässige Appellation Randeraths in Wien gehe den Entscheidungen des Kölner Untergerichts vor: „Hingegen hatt der Langenberg bey dem Ambtsgericht auf einmahl kraft seines letztren Privilegiy gebetten dem Randerath seine Exemplaria zu consigniren, wie dan auch erhalten, und dieses Gericht demselben ex abrepto ins Hauß gefallen, dieses Buchs Exemplaria aufgesucht und als der Randerath ihnen also einfallenden Entgegen gesetzt, daß er seine Bücher ex privilegio caesareo getrucket, und anterior et potior wäre, auch das Original Privilegium 65

Ebd. Fn. 63. Relatio cum Voto in causa Petri Langenberg contra Conradum Randerath in puncto Appellationis Viennam interposita, StadtA Köln 120/2622, f. 165r-166v. 67 Buchbinder Johann Sommer. 66

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dem Gerichtsschreiber vorgelegt, und gesagt, er möchte wenigst einhalten, bis daß die Richter also das Privilegium gesehen, und demnächst darüber fernere Cognition genommen hatten, hatt dieses nicht erhalten können, sondern, der actuarius hatt solches von sich geworfen, die consignation forthgesetzt, und das Ambtsgericht endtlich soweith verfahren, daß ein Decretum sequestrationys erkennt, von welchem, obschon von Randeradischer Seithe, an Ihro Kayserl. Mayestät appellirt, observatisch fatalibus introducirt, und Immer die Erkennung der Processen abgewartet werde, so seindt dieselbe dannach bis zur Zeit /: ein dieselbe Vermeinen per sollicitationes contrarias :/ nicht ausbragt, doch auch nicht abgeschlagen werden. Vermittels hatt dannach das Untergericht forthgefahren in dieser Sachen zu erkennen, und am 20ten Xbris 1726 ein Urtheyl außgesprochen, daß dem letzt Privilegierten alle des erstprivilegierten Exemplaria extradirt werden, falls vor welchem letzteren Urtheyl der erst privilegierte Ihro Kayserl. Mayestät ordentlich appellirt, und erforderte Fatalia in appelando, insinuando appellationem, acta ex rationes requerendo, ac oblationem ad quacunq. solemnia adjungendo observirt hatt“.

Da es um die Gültigkeit zweier kaiserlicher Privilegien in der Hauptsache ging, musste es auch dem Reichshofrat vorbehalten bleiben, in der Sache selbst zu entscheiden. Dies sollte folglich auch die Vollstreckung in Köln hemmen: „Bey welcher eygentlicher der Sache, Beschaffenheit ich salvo meliore nicht finden kann, wie man solcher appellation à sententia definitiva und solchem gravamine den ordentlichen Lauf finden könnte, sondern Vermeine, daß man deroselbe, dan ohngehindert laßen müßte, Umb damehr dannach, daß ich des Darfürhaltens, daß nicht allein das Ambtmannische Untergericht, sondern sogar Magistra Ius selbsten, in hac causa, in welcher über zwey Kayserl. in einer Zeith zugleich sich treffende privilegia impressoria super eorundem Validitate praeferentia, subreptione und continuatione der Haubtstreith, ex quaestio praejudicialis ist, judex incompetens sein würde, und niemandt, als Ihro Kayserl. Maytt. in dieser in dero Höchste Regalia einschlagender Sachen erkennen können, also die darüber geschlagenen acta a Notarie incompetente judice ex judicio decisa von sich Null und nichtig seyn, sondern, Vorhero erstlich dem Randerath der Truck, bis ad diem des Langenbergischen Privilegiy nemlich usque ad annum 1705, 2do den Truck bis ad annum 1708 als Auslauf des Randeradischen Privilegiy, ohne Hindernüß werde, es die Fraag, ob des Langenbergs ersteres von anno 1705 angehendes, und biß 1711 laufendes Privilegium, in welchem kein Buchstabe, daß von ihm der Sommer caesario cum privilegio schon 14 Jahr dieses Buch getruckt habe, und seines Privilegiy Jahre, in vollem Lauf annoch waren, Erfindtlich pro subrepto von Ihro Kayßerl. Maytt. erkennet werden könnte, wodurch es allerdings zweifelnde oder nicht pro securitate utriusque partis in dem Sequestro zu halten, die nach dem Jahr 1711 getruckten hingegen auß dem von dem Langenberg damahlig erhaltenen anderen Privilegio in hoc libro anno 1711 ab omne alio Privilegio Libero, von dem Randerath getruckte Bücher, dem Langenberg zu adjudiciren68, waren, Salvo per omnia melius sententia judicio Ernest von der Ketten“.

Schließlich sei noch die Akte Langenberg gegen Steinbüchel erwähnt, in der es ebenfalls um Martin von Cochems „Der Myrrengarten“ ging. Langenberg hatte den Reichshofrat angerufen, weil Steinbüchel ein in Köln gesprochenes Urteil vor dem Kölner Appellationsgericht angriff, welches die Sache aber bereits an den 68

Darüber wohl zur Klarstellung noch gesetzt: „extradiren“.

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Reichshofrat verwiesen hatte.69 So entstand erneut das Problem des „recursu ad plures instantias“. Es heißt: „[…] exhibendo alleruntertänigste Vorstellung, straffmäßig geschehene Sequestration von Beklagtem aber davon bey dem Cöllnischen Appellations Gericht geschehener provocation supplicat humilissime pro mandato praetensa appellationis cassatoris, et inhibitione poenali de non concedendo recursu ad plures instantias, sed relinquendo causam coram judices executiones“.

Um die Vollstreckung nicht zu verzögern, sollte der Rat der Stadt Köln dem Vollstreckungsrichter auch nicht im Wege stehn. Es wurde mit Conclusio vom 9. November 1724 verfügt, dass der Rat der Stadt Köln dem „judicio executionis in causa privilegy Caesarei keinen Einhalt zu thun, gestalten dem durch execution beschwehrt zu seyn, […] dere Kayl. Vorrechte berührende Sach, an denen anderen Richter, dem allein ohnmittelbahr an Ihro Kayl. Majt. der allerunterth. recurs zu nehmen gebühret.“ Einwände gegen die Vollstreckung gehörten damit nicht nach Köln, sondern letztlich in Wien vorgebracht. Auch hier hatte der Reichshofrat die Sache für sich entschieden und dem Rat mitgeteilt, dass der Exekutionsrichter in Köln die kaiserlichen Anweisungen befolgen sollte. V. Fazit 1. Köln hatte als Stadt des Buchdrucks und Verlages von vor allem gegenreformatorischem Schrifttum eine herausragende Bedeutung. Der Rhein war ausgezeichnetes Verkehrsmedium zur Papierverschiffung und Verschiffen der gedruckten Bücher. Seit der Inkunabelzeit stand die Buchproduktion in Köln international an vorderster Stelle. Köln verfügte über einen potentiell hohen Abnehmerkreis und war als religiöser Mittelpunkt neben Mainz die Stadt mit einem lesekundigen und lesefreudigen Publikum. Hier waren eine Universität und zahlreiche Konvente und Bursen zu Hause, die ihrerseits über umfangreiche Bibliotheken verfügten, wobei vor allem an Jesuiten und Kapuziner zu denken ist. Außerdem war die Kapitalkraft der Verleger bedeutend. Schon Ende des 16. Jahrhunderts befanden sich ca. 100 Drucker und Verleger in Köln, ab dem 17. Jahrhundert erlebten gedruckte Zeitungen und Zeitschriften, sodann Wochenzeitungen eine große Blüte. All dies wird mit der Kommunikations- und Medienrevolution der Frühen Neuzeit in Verbindung gebracht, in der Privilegien gegen den Schutz vor Nachdruck eine lebenswichtige Rechtsquelle darstellten, um die in mehreren Instanzen gestritten wurde. 2. Nicht nur beim Reichskammergericht,70 sondern auch beim Reichshofrat zeigt sich, dass das Prozessieren dort eine prestigeträchtige soziale Technik war. Auch für den Bereich des Nachdruckens können wir ein „aufwändiges, reputationssteigerndes

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Ebd. K. 600/9 sowie StadtA Köln 120, 2666. Über typische Inhalte der Kölner Reichskammergerichtsakten berichtet Kordes, Eine Akte ist noch keine Quelle, insbes. 85 – 95. 70

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Interaktionsmuster begüterter Schichten“ konstatieren.71 Die Fälle vor dem Reichshofrat, die sich allesamt um Kölner Nachdruckprivilegien drehen, beweisen, dass diese Instanz genutzt wurde, um gegen den unerlaubten Nachdruck einzuschreiten: in erster und als Appellationsinstanz sowie bei Ersuchen um Vollstreckungshilfe vor Ort, d. h. in Köln. 3. Der Reichshofrat urteilte knapp (Appellation wird abgeschlagen. Das Begehren findet nicht statt). Voten finden sich sehr selten, erst recht keine Relationen. In den Conclusiones gibt der jeweilige Richter vollstreckbare Anweisungen an den Rat, wenn auch bezweifelt werden kann, dass diese effektiv umgesetzt wurden, wofür die sich wiederholenden Anweisungen sprechen, die sich oft über Jahre hinziehen. 4. Kompetenzabschichtungen wurden ebenfalls vorgenommen. Die Vorrangstellung des Reichshofrats wurde definiert in Abgrenzung zu den territorialen Gerichten und Behörden, war der Reichshofrat ja auch Behörde und Gericht zugleich und jeweils funktional zuständig. Stets wurde damit die Machtbalance zwischen lokaler Behörde (Rat der Stadt Köln) und dem Reichshofrat ausgelotet. Uneinheitliche sowie „beschwehrliche“ Entscheidungen sollten unterbleiben. Der Reichshofrat galt als Wahrer des Rechtsfriedens, indem er die Sache an sich zog und eine zusätzliche Kontrollinstanz bieten konnte. Der Widerstand aus Köln war aber beharrlich. VI. Verwendete Literatur Walter Bappert, Wege zum Urheberrecht. Die geschichtliche Entwicklung des Urheberrechtsgedankens (Frankfurt am Main 1962). Josef Benzing, Bibliographie strasbourgeoise. Bibliographie des ouvrages imprimés à Strasbourg (Bas-Rhin) au XVIe siècle, Bd. 1 (= Répertoire bibliographique des livres imprimés en France au seizième siècle 148; Bibliotheca bibliographica Aureliana 80, Baden-Baden 1981). – Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet (= Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 12, Wiesbaden 21982). – Die deutschen Verleger des 16. und 17. Jahrhunderts. Eine Neubearbeitung, in: AGB (= Archiv für Geschichte des Buchwesens) 18 (1977) 1078 – 1322. Birgit Boge, Literatur für das „Catholische Teutschland“. Das Sortiment der Kölner Offizin Wilhelm Friessem im Zeitraum 1638 – 1668 (= Frühe Neuzeit 16, Tübingen 1993). Gérald Chaix, Communautés religieuses et production imprimée à Cologne au XVIe siècle, in: Le livre dans l’Europe de la renaissance: Actes du XXVIIIe Colloque International d’Études Humanistes de Tours (Tours 1988) 93 – 105. – Réforme et contre-réforme catholique. Recherches sur la chartreuse de Cologne au 16e siècle (= Analecta Cartusiana 80, Salzburg 1981). – Von der Christlichkeit zur Katholizität. Köln zwischen Tradition und Modernität (1500 – 1648), in: Rudolf Vierhaus u. a. (Hgg.), Frühe Neuzeit – Frühe Moderne? Forschungen 71

Ebd. 97 – 98.

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zur Vielschichtigkeit von Übergangsprozessen (= Veröffentlichung des Max-Planck-Instituts für Geschichte 104, Göttingen 1992) 233 – 244. Joachim Deeters, Die Bestände des Stadtarchivs Köln bis 1814. Eine Übersicht (Köln 1994). Kathrin Dirr, Hoheitsrechtliche Streitigkeiten zwischen den Kölner Erzbischöfen und der Stadt Köln auf Grundlage reichskammergerichtlicher Verfahren des 16. und 17. Jahrhunderts (= Rechtshistorische Reihe 313, Frankfurt a.M./Berlin u. a. 2005). Ulrich Eisenhardt, Die kaiserliche Aufsicht über Buchdruck, Buchhandel und Presse im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation (1496 – 1806). Ein Beitrag zur Geschichte der Bücher- und Pressezensur (= Studien und Quellen zur Geschichte des Deutschen Verfassungsrechts A/3, Karlsruhe 1970). Wilfried Enderle, Die Buchdrucker der Reichsstadt Köln und die katholische Publizistik zwischen 1555 und 1648, in: Georg Mölich / Gerd Schwerhoff (Hgg.), Köln als Kommunikationszentrum. Studien zur frühneuzeitlichen Stadtgeschichte (= Der Riss im Himmel 4, Köln 2000) 167 – 182. – Die Druckerverleger des katholischen Deutschlands. Zwischen Augsburger Religionsfrieden 1555 und Westfälischem Frieden 1648, in: Gert Kaiser / Heinz Finger / Elisabeth Niggemann (Hgg.), Bücher für die Wissenschaft. Bibliotheken zwischen Tradition und Fortschritt. Festschrift für Günter Gattermann zum 65. Geburtstag (München u. a. 1994) 37 – 59. – Die katholischen Reichsstädte im Zeitalter der Reformation und der Konfessionsbildung, in: ZRG KA 106 (1989) 228 – 269. Thomas Gergen, Druck und Nachdruck von Büchern und Zeitungen im gegenreformatorischen Köln. Ein Beitrag zum Umbruch der Wissensgesellschaft in der Frühen Neuzeit, in: UFITA. Archiv für Urheber- und Medienrecht I (2013) 87 – 151. – Kaiserliche Privilegien gegen den Nachdruck unter Maximilian I. (1493 – 1519), in: UFITA. Archiv für Urheber- und Medienrecht II (2012) 425 – 443. – Badisches Urheberrecht im 19. Jahrhundert: Die Fälle Pestalozzi, Allioli, Schleiermacher, Grillparzer sowie Goethe und Schiller, in: AGB 66 (2011) 109 – 143. – Die Nachdruckprivilegienpraxis Württembergs im 19. Jahrhundert und ihre Bedeutung für das Urheberrecht im Deutschen Bund, Habilitationsschrift Univ. Saarbrücken (= Schriften zur Rechtsgeschichte 137, Berlin 2007). – Zum Urheberrecht Hannovers im 18. und 19. Jahrhundert, in: ZRG GA 125 (2008), 181 – 198. Michael Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien (Frankfurt am Main 1991). Ludwig Gieseke, Vom Privileg zum Urheberrecht. Die Entwicklung des Urheberrechts in Deutschland bis 1845 (Göttingen 1995). Jürgen Gramlich, Rechtsordnungen des Buchgewerbes im Alten Reich. Genossenschaftliche Strukturen, Arbeits- und Wettbewerbsrecht im deutschen Druckerhandwerk, in: AGB 41 (1994) 1 – 145. Lothar Gross, Die Geschichte der deutschen Reichshofkanzlei von 1559 bis 1806 (= Inventare österreichischer staatlicher Archive 5. Inventare des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs 1, Wien 1933).

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Thomas Gergen

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Ein neues Fundament des Rückwirkungsverbots? Von Klaus Grupp, Saarbrücken Mit Beschluss vom 17. Dezember 20131 hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen einer konkreten Normenkontrolle auf Vorlage des Finanzgerichts Münster eine vom Bundesgesetzgeber im Gesetz zur Umsetzung der Protokollerklärung der Bundesregierung zur Vermittlungsempfehlung zum Steuervergünstigungsabbaugesetz (sog. „Korb II-Gesetz) vom 22. Dezember 20032 mit dem Ziel der redaktionellen Klarstellung3 getroffene Regelung einer Bestimmung im Gesetz über Kapitalanlagegesellschaften (KAGG)4 für verfassungswidrig erklärt, weil sie eine unzulässige Rückwirkung – für die steuerlichen Veranlagungszeiträume 2001 und 2002 – bedeute. Die Entscheidung ist im Ergebnis mit 5:3 Stimmen, hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Grundsätze mit 6:2 Stimmen ergangen. Der Richter Masing hat der Senatsentscheidung seine abweichende Meinung hinzugefügt, in der er dem Senat vorhält, das Fundament der Rückwirkungsrechtsprechung zu verändern; er entziehe ihr die im Vertrauensschutz liegenden Wurzeln und ersetze sie durch abstrakte, in der Sache fehlgeleitete Vorstellungen von der Gewaltenteilung5. Das sind gravierende Vorwürfe, die eine nähere Betrachtung rechtfertigen. I. In der Entscheidung vom 17. Dezember 2013 geht die Mehrheit im Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts von der herkömmlichen Unterscheidung zwischen echter und unechter Rückwirkung aus6 und erklärt, die streitige Norm entfalte schon in formaler Hinsicht echte Rückwirkung für die Veranlagungszeiträume 2001 und 2002, weil diese bei Verkündung der Vorschrift bereits abgelaufen gewesen seien und die Neuregelung damit nachträglich einen abgeschlossenen Sachverhalt 1

BVerfG NVwZ 2014, 577. BGBl. I S. 2840. 3 So die Begründung des Gesetzentwurfs zu § 40a Abs, 1 Satz 2 KAGG (BT-Drs. 15/1518, S. 17). 4 Vom 16. April 1957 (BGBl. I S. 378), zul. geänd. durch Gesetz vom 21. Juni 2002 (BGBl. I S. 2010), aufgehoben mit Wirkung vom 1. Januar 2004 durch Gesetz vom 15. Dezember 2003 (BGBl. I S. 2676). 5 BVerfG NVwZ 2014, 577 – Sondervotum Rn. 2, 3. 6 BVerfG NVwZ 2014, 577 Rn. 40 f. mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung des Gerichts. 2

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Klaus Grupp

betreffe7. Darüber hinaus besitze die Bestimmung konstitutive Wirkung und damit echte Rückwirkung, weil sie die vorangegangene Rechtslage materiell verändere8. Zur Begründung ihrer Auffassung legt die Mehrheit im Senat eingehend dar, unter welchen Voraussetzungen auch klarstellende Regelungen konstitutiven Charakter und damit normative Wirkung aufweisen9. Ob eine rückwirkende Gesetzesänderung deklaratorisch oder konstitutiv wirke, hänge von dem zumeist durch Auslegung zu ermittelnden Inhalt des alten und des neuen Rechts ab; die in einer Gesetzesbegründung vertretene Ansicht, eine Vorschrift habe lediglich klarstellenden Charakter, sei für die rechtsprechende Gewalt, die prinzipiell zur verbindlichen Auslegung einer Norm berufen sei, nicht verbindlich. Die Auslegung des einfachen Rechts, die Wahl der hierbei anzuwendenden Methoden sowie die Anwendung des Rechts auf den Einzelfall sei primär Aufgabe der dafür zuständigen Fachgerichte10, doch gälten für die Klärung, ob eine rückwirkende Regelung konstitutiven oder deklaratorischen Charakter habe, Besonderheiten; aus verfassungsrechtlicher Sicht sei eine rückwirkende Vorschrift „stets schon dann als konstitutiv anzusehen, wenn sie sich für oder gegen eine vertretbare Auslegung einer Norm entscheidet und damit ernstliche Auslegungszweifel im geltenden Recht beseitigt“11. Eine rückwirkende Klärung der Rechtslage durch den Gesetzgeber sei jedenfalls als konstitutiv rückwirkende Regelung anzusehen, wenn der Gesetzgeber damit nachträglich einer höchstrichterlich geklärten Auslegung des Gesetzes den Boden zu entziehen suche12. Eine nachträgliche Klärung der Rechtslage sei aber grundsätzlich auch dann als konstitutiv rückwirkende Regelung anzusehen, wenn die rückwirkende Vorschrift eine in der Fachgerichtsbarkeit kontroverse Auslegungsfrage entscheide, die noch nicht höchstrichterlich geklärt sei13. Für die Feststellung einer konstitutiven rückwirkenden Gesetzesänderung genüge es, wenn – wie im vorliegenden Fall14 – das Fachgericht vertretbar einen Standpunkt zur Auslegung des alten Rechts einnehme, den der Gesetzgeber mit der rückwirkenden Neuregelung ausschließen wolle15. Vor diesem Hintergrund hält die Mehrheit im Senat die streitige Regelung für verfassungswidrig, weil und soweit sie hinsichtlich der Veranlagungszeiträume 2001 und 2002 mit echter Rückwirkung versehen sei16. Die im Rechtsstaatsprinzip und in den Grundrechten verankerten Prinzipien der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes stünden Gesetzen mit echter Rückwirkung grundsätzlich entgegen, 7

BVerfG NVwZ 2014, 577 Rn. 43. BVerfG NVwZ 2014, 577 Rn. 44. 9 BVerfG NVwZ 2014, 577 Rn. 46 ff. 10 BVerfG NVwZ 2014, 577 Rn. 50. 11 BVerfG NVwZ 2014, 577 Rn. 49. 12 BVerfG NVwZ 2014, 577 Rn. 55. 13 BVerfG NVwZ 2014, 577 Rn. 56. 14 BVerfG NVwZ 2014, 577 Rn. 59. 15 BVerfG NVwZ 2014, 577 Rn. 57. 16 BVerfG NVwZ 2014, 577 Rn. 61. 8

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eine der von der Rechtsprechung anerkannten Ausnahmen vom Rückwirkungsverbot liege nicht vor und auch sonst sei kein Grund für die Rechtfertigung der echten Rückwirkung erkennbar17. Zur Begründung verweist die Mehrheit im Senat auf die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und führt aus, dass dann, wenn der Gesetzgeber die Rechtsfolge eines der Vergangenheit angehörenden Verhaltens nachträglich belastend ändere, dies einer besonderen Rechtfertigung vor dem Rechtsstaatsprinzip und den Grundrechten bedürfe18. Von dem grundsätzlichen Verbot echt rückwirkender Gesetze bestünden jedoch Ausnahmen; das Rückwirkungsverbot finde im Prinzip des Vertrauensschutzes nicht nur seinen Grund, sondern auch seine Grenze. Es gelte nicht, sofern sich kein Vertrauen auf den Bestand des geltenden Rechts bilden konnte oder ein Vertrauen auf eine bestimmte Rechtslage sachlich nicht gerechtfertigt und daher nicht schutzwürdig war; dabei sei für die Frage, ob mit einer rückwirkenden Änderung der Rechtslage zu rechnen war, bedeutsam, ob die bisherige Regelung bei objektiver Betrachtung geeignet war, Vertrauen auf ihren Fortbestand zu begründen19. Eine Ausnahme vom Rückwirkungsverbot sei gegeben, wenn die Betroffenen mit einer Änderung der gesetzlichen Regelung rechnen mussten, weil die Rechtslage so unklar und verworren war, dass eine Klärung erwartet werden musste, oder wenn das bisherige Recht so systemwidrig und unbillig war, dass ernsthafte Zweifel an seiner Verfassungsmäßigkeit bestanden; der Vertrauensschutz müsse ferner zurücktreten, wenn überragende Belange des Gemeinwohls, die dem Prinzip der Rechtssicherheit vorgehen, eine rückwirkende Änderung der Rechtslage erfordern oder der Betroffene sich nicht auf den durch eine ungültige Norm erzeugten Rechtsschein verlassen durfte oder wenn durch die sachlich begründete rückwirkende Gesetzesänderung kein oder ein nur ganz unerheblicher Schaden verursacht wird20. Im vorliegenden Fall kämen von den in der Rechtsprechung anerkannten Fallgruppen zulässigerweise echt rückwirkender Gesetze nur diejenigen der Unklarheit und Verworrenheit der ursprünglichen Gesetzeslage oder ihrer Systemwidrigkeit und Unbilligkeit in Betracht, doch könne keine von beiden die Rückwirkung auf die Veranlagungszeiträume 2001 und 2002 rechtfertigen21. Allein die Auslegungsbedürftigkeit einer Norm rechtfertige nicht deren rückwirkende Änderung; erst wenn die Auslegungsoffenheit ein Maß erreiche, das zur Verworrenheit der Rechtslage führe, dürfe der Gesetzgeber eine klärende Neuregelung auf die Vergangenheit erstrecken22. Die Unsicherheit über den Inhalt einer Norm sei keine Besonderheit, die ein grundsätzlich berechtigtes Vertrauen zerstören könne23 ; sähe man jede erkennbare Auslegungsproblematik als Entstehungshindernis für verfassungsrechtlich schutzwürdiges Vertrauen an, stünde es dem Gesetzgeber frei, das geltende 17

BVerfG NVwZ 2014, 577 Rn. 62. BVerfG NVwZ 2014, 577 Rn. 63. 19 BVerfG NVwZ 2014, 577 Rn. 64. 20 BVerfG NVwZ 2014, 577 Rn. 65. 21 BVerfG NVwZ 2014, 577 Rn. 66. 22 BVerfG NVwZ 2014, 577 Rn. 67. 23 BVerfG NVwZ 2014, 577 Rn. 68. 18

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Recht immer schon dann rückwirkend zu ändern, wenn es ihm opportun erscheine24. Auf diese Weise bestünde schließlich die Gefahr, dass die echte Rückwirkung nicht mehr grundsätzlich unzulässig bliebe, sondern wie die unechte Rückwirkung grundsätzlich zulässig wäre, was mit den Grundsätzen des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit nicht vereinbar wäre25. Die eine echt rückwirkende gesetzliche Klärung rechtfertigende Unklarheit einer Rechtslage erfordere zusätzliche qualifizierende Umstände, die das geltende Recht so verworren erscheinen ließen, dass es keine Grundlage für einen verfassungsrechtlich gesicherten Vertrauensschutz mehr bilden könne. Eine solche Verworrenheit liege insbesondere dann vor, wenn auch unter Berücksichtigung von Wortlaut, Systematik und Normzweck völlig unverständlich sei, welche Bedeutung die fragliche Norm haben solle26. Die ursprüngliche Bestimmung im Gesetz über Kapitalanlagegesellschaften habe verschiedene vertretbare Auslegungen zugelassen, aber keine verworrene Rechtslage begründet, so dass eine Klarstellung durch ein echt rückwirkendes Gesetz nicht gerechtfertigt sei27. Das ursprüngliche einfache Recht sei auch nicht in einer Weise systemwidrig und unbillig gewesen, dass dies die angeordnete echte Rückwirkung hätte rechtfertigen können28. Die unterschiedlichen Auslegungen der ursprünglichen Regelung seien weder von Verfassungs wegen zwingend geboten noch führten sie zu einem Ergebnis, das in einem Maße systemwidrig und unbillig sei, dass ernstliche Zweifel an seiner Verfassungsmäßigkeit bestünden29. Auch sonstige Gründe, die jenseits der anerkannten Fallgruppen ausnahmsweise eine gesetzliche Regelung mit echter Rückwirkung rechtfertigen könnten, lägen nicht vor30. Nach Auffassung der Mehrheit im Senat besteht auch kein Anlass, für die Fälle, in denen der Gesetzgeber die geltende Rechtslage für die Vergangenheit klarstellen will, von dem im Rechtsstaatsprinzip und in den Grundrechten verankerten Vertrauensschutz und dem darin wurzelnden Ausnahmecharakter zulässiger echter Rückwirkung abzuweichen31. II. Masing geht in seiner abweichenden Meinung davon aus, die Mehrheit im Senat verkürze die Reichweite der Gestaltungsbefugnis des Gesetzgebers für unklare, offen gebliebene Rechtsfragen der Vergangenheit – dem Parlament werde in Umkehrung der bisherigen Rechtsprechung die rückwirkende Klarstellung ungeklärter Rechtsfragen nun nicht erst bei einem entgegenstehenden Vertrauen der Bürger, sondern 24

BVerfG NVwZ 2014, 577 Rn. 69. BVerfG NVwZ 2014, 577 Rn. 71. 26 BVerfG NVwZ 2014, 577 Rn. 72. 27 BVerfG NVwZ 2014, 577 Rn. 73. 28 BVerfG NVwZ 2014, 577 Rn. 74. 29 BVerfG NVwZ 2014, 577 Rn. 75 – 78. 30 BVerfG NVwZ 2014, 577 Rn. 79 – 81. 31 BVerfG NVwZ 2014, 577 Rn. 82. 25

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grundsätzlich abgeschnitten32. An die Stelle des Schutzes subjektiver Freiheit trete die Absicherung eines objektiv-rechtlichen Reservats der Fachgerichtsbarkeit33. Die Übernahme politischer Verantwortung für Altfälle werde dem Parlament aus der Hand geschlagen; darin liege eine gravierende Störung der Balance zwischen Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip34. Der Senat hebe die angegriffene Vorschrift wegen eines Verstoßes gegen das Rückwirkungsverbot auf, obwohl er selbst der Auffassung sei, dass die ursprüngliche Rechtslage kein Vertrauen vermittelt habe, das durch die Gesetzesänderung enttäuscht worden sei; damit entziehe er dem Rückwirkungsverbot sein auf subjektive Freiheitssicherung ausgerichtetes Fundament35 und gebe die Fundierung des Rückwirkungsverbots im Vertrauensschutz auf36. Dem Gesetzgeber werde die rückwirkende Klärung einer Frage verboten, die die Gerichte durch Auslegung der strittigen Norm herbeiführen dürften37. Obwohl die alte Rechtslage kein Vertrauen der Bürger begründet habe, solle der Gesetzgeber an einer Klärung durch das – aus dem Vertrauensschutz hergeleitete – Rückwirkungsverbot gehindert sein38. Durch die Entscheidung des Senats werde das Vertrauen in die Chance einer für die Betroffenen günstigen Rechtsprechung geschützt; das Rückwirkungsverbot sichere nicht mehr das Vertrauen in eine berechenbare Rechtsordnung, damit der Einzelne sein Verhalten im Blick auf vorhersehbare Rechtsfolgen selbstbestimmt ausrichten könne, sondern lediglich die Chance, dass die Rechtsprechung möglicherweise zu einer vorteilhafteren Klarstellung der ungeklärten Position führe als eine demokratisch-politische Entscheidung des Parlaments39. Aus dem Schutz subjektiver Freiheit werde die Durchsetzung objektiver Gewaltenteilungsvorstellungen und hierbei eines Reservats der Rechtsprechung40. Dieses Verhältnis von Gesetzgebung und Rechtsprechung lasse sich aus dem Grundgesetz nicht herleiten41. Ausgehend von dem aus dem Demokratieprinzip folgenden legislativen Zugriffsrecht des Parlaments könne sich der Gesetzgeber aller drängenden Fragen des Gemeinwohls annehmen; dies betreffe grundsätzlich auch die Entscheidung über in der Vergangenheit wurzelnde Probleme oder die Klärung offen gebliebener und lösungsbedürftiger Streitfragen, und diese demokratische Verantwortung sei nicht auf die Zukunft beschränkt42. Freilich sei der Gesetzgeber in seiner Gestaltungsbefugnis rechtsstaatlich begrenzt; selbstverständlich könne er 32

BVerfG NVwZ 2014, 577 – Sondervotum Rn. 1, 2. BVerfG NVwZ 2014, 577 – Sondervotum Rn. 2. 34 Ebd. 35 BVerfG NVwZ 2014, 577 – Sondervotum Rn. 3. 36 BVerfG NVwZ 2014, 577 – Sondervotum Rn. 4. 37 BVerfG NVwZ 2014, 577 – Sondervotum Rn. 5. 38 Ebd. 39 BVerfG NVwZ 2014, 577 – Sondervotum Rn. 6. 40 Ebd. 41 BVerfG NVwZ 2014, 577 – Sondervotum Rn. 7. 42 BVerfG NVwZ 2014, 577 – Sondervotum Rn. 9.

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nicht ohne Weiteres nachträglich in bestands- oder rechtskräftig abgeschlossene Einzelverfahren eingreifen oder für abgeschlossene Zeiträume ein Verhalten neu bewerten und mit Sanktionen belegen, mit denen die Betroffenen nicht rechnen mussten, aber solche Einschränkungen des Gesetzgebers müssten sich jeweils mit einem spezifischen Schutzbedürfnis des Betroffenen begründen lassen, sie ergäben sich nicht generell aus einer abstrakten Grenze der Regelungsbefugnis des Gesetzgebers43. Aus Gewaltenteilungsgesichtspunkten spreche vielmehr alles dafür, in ungeklärten Rechtslagen die rückwirkende Klarstellung offener und umstrittener Fragen auch durch den Gesetzgeber grundsätzlich für zulässig zu halten; wenn sich bei der Anwendung eines Gesetzes herausstelle, dass wichtige Fragen von allgemeiner Bedeutung offen geblieben oder Regelungen unklar oder missverständlich formuliert seien, gehöre es zur Aufgabe der Volksvertretung, dass sie in politisch-demokratischer Verantwortung klarstellen könne, wie diese Fragen in den noch offenen Verfahren zu beantworten seien44. Während die Gerichte angesichts unklarer Rechtslagen nach dem vom Gesetzgeber gemeinten Sinn zu suchen hätten und sich, wenn es hieran fehle, unter Umständen zu demokratisch nicht angeleiteten Setzungen eigener Gerechtigkeitsvorstellungen genötigt sähen, werde dem Gesetzgeber vom Senat die Möglichkeit genommen, eine solche Klarstellung zur Entlastung der Gerichte vorzunehmen45. Damit liege in der Mehrheitsentscheidung zugleich eine tiefgreifende Wende der Rückwirkungsrechtsprechung und ein Bruch mit den diesbezüglichen bisherigen Wertungen46, was Masing mit einer Analyse von Fällen aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nachzuweisen sucht47: Es gebe keinen Fall, in dem die Klarstellung einer unsicheren Rechtslage, die kein Vertrauen begründen konnte, für verfassungswidrig erklärt worden sei48, und vergleiche man die Fälle mit der vorliegenden Konstellation, in der die Rechtslage höchstrichterlich ungeklärt, zwischen Literatur und Fachgerichtsbarkeit vielfältig umstritten und damit in jeder Hinsicht als offen bezeichnet werden könne, so werde offensichtlich, dass im vorliegenden Verfahren ein Vertrauensschutz nach den Kriterien der bisherigen Rechtsprechung nicht ansatzweise begründet sei49. Ein konsequentes Abstellen auf das Vertrauenskriterium lasse den Grundsatz des Verbots echt rückwirkender Gesetze nicht schon als solchen hinfällig werden50 und öffne dem Gesetzgeber auch künftig keinen Weg, der es ihm erlaube, angesichts der generellen Auslegungsbedürftigkeit des Rechts praktisch beliebig Klärungsbedarf geltend zu machen und damit gesetzliche Entscheidungen ohne Weiteres nachträglich umzudrehen51. Die 43

BVerfG NVwZ 2014, 577 – Sondervotum Rn. 10. BVerfG NVwZ 2014, 577 – Sondervotum Rn. 11. 45 BVerfG NVwZ 2014, 577 – Sondervotum Rn. 15. 46 BVerfG NVwZ 2014, 577 – Sondervotum Rn. 17. 47 BVerfG NVwZ 2014, 577 – Sondervotum Rn. 19 – 30. 48 BVerfG NVwZ 2014, 577 – Sondervotum Rn. 23. 49 BVerfG NVwZ 2014, 577 – Sondervotum Rn. 31. 50 BVerfG NVwZ 2014, 577 – Sondervotum Rn. 32. 51 BVerfG NVwZ 2014, 577 – Sondervotum Rn. 34. 44

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streitbefangenen Normen gäben auch sachlich keinen Anlass, von Vertrauen auszugehen52; nur durch ein konsequentes Abstellen auf ein berechtigtes Vertrauen in die bestehende Rechtslage behalte die Rückwirkungsrechtsprechung ihren Charakter als Schutz individueller Freiheit und Selbstbestimmung53.

III. Masing kritisiert die Mehrheit im Senat unter zwei Aspekten: sie trenne das Rückwirkungsverbot vom Vertrauensschutz (1.) und sie verforme die Rückwirkungsrechtsprechung zu einem Instrument der Absicherung eines kompetentiellen Vorbehaltsbereichs der Rechtsprechung gegenüber dem Gesetzgeber54 (2.). 1. Grundlage der Überlegungen Masings ist die Subjektivierung des Rückwirkungsverbots und des sein Fundament bildenden Vertrauensschutzes. Dementsprechend hebt er mehrfach hervor, dass das Rückwirkungsverbot dem Schutz subjektiver Freiheit diene55; eine Beschränkung des Gesetzgebers, nachträglich in abgeschlossene Verfahren einzugreifen oder für abgeschlossene Zeiträume ein Verhalten neu zu bewerten und mit Sanktionen zu belegen, mit denen die Adressaten nicht rechnen mussten, lasse sich nur mit einem spezifischen Schutzbedürfnis des Betroffenen begründen56. In konsequenter Fortführung dieser Auffassung verneint Masing im zugrunde liegenden Fall die Bildung von Vertrauen in die frühere Rechtslage mit dem Argument, die betroffenen Banken mussten von Anfang an mit einem ungünstigen Verständnis der umstrittenen Normen rechnen, zumal da sie über kompetente Rechtsabteilungen verfügten, die Unklarheiten im Gesetz im Zweifel schneller als die Finananzbehörden erkennten57. In den Ausführungen Masings bleibt freilich offen, worauf sich der Vertrauensschutz bezieht – auf die normative Basis oder das Normverständnis. Zutreffend haben Buchheim/Lassahn dargelegt, dass berechtigtes Vertrauen nur auf die gesetzliche Grundlage bestehen kann, nicht aber auf das Ergebnis ihrer Interpretation58. Gesetzesvertrauen kann indes trotz des subjektiv-rechtlichen Fundaments des Rückwirkungsverbots nicht individuell, sondern – worauf Hey zu Recht hingewiesen hat – nur abstrakt bestimmt werden59; die Eignung einer Vorschrift zur Begründung von Vertrauen lässt sich lediglich normativ, nicht jedoch empirisch feststellen. Entgegen der 52

BVerfG NVwZ 2014, 577 – Sondervotum Rn. 35 – 43. BVerfG NVwZ 2014, 577 – Sondervotum Rn. 50. 54 BVerfG NVwZ 2014, 577 – Sondervotum Rn. 6. 55 BVerfG NVwZ 2014, 577 – Sondervotum Rn. 2, 6, 50. 56 BVerfG NVwZ 2014, 577 – Sondervotum Rn. 10. 57 BVerfG NVwZ 2014, 577 – Sondervotum Rn. 44. 58 Johannes Buchheim/Philipp Lassahn, Alles neu oder alles wie gehabt? Zur aktuellen Rückwirkungsrechtsprechung des BVerfG, in: NVwZ 2014, 562 ff. (563). 59 Johanna Hey, Verbot rückwirkender Klarstellung als Weg zu besserer Gesetzgebung?, in: NJW 2014, 1564 ff. (1566). 53

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Meinung Masings kommt es deshalb nicht darauf an, ob der Rechtsunterworfene die fragliche Norm kannte, ihre Mängel erkennen konnte oder überhaupt sein Handeln nach ihr ausrichtete60, maßgeblich ist vielmehr allein, ob die Bestimmung objektiv geeignet war, Vertrauen zu begründen, und der Betroffene daher vertrauen durfte und demgemäß handelte. Dem entspricht auch die Begründung der Senatsmehrheit für das getroffene Ergebnis61: Für die Frage, ob die Adressaten der Norm mit einer Änderung der Rechtslage rechnen mussten, ist bedeutsam, ob die bisherige Regelung bei objektiver Betrachtung geeignet war, Vertrauen in ihre Fortgeltung zu begründen. Damit setzt die Mehrheit des Senats die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts fort, während die auf die subjektive Beeinträchtigung abstellenden Überlegungen Masings deutlich hiervon abweichen. Mit dem Verständnis der Senatsmehrheit bleibt auch – entgegen dem von Masing erhobenen Vorwurf – der Zusammenhang zwischen Vertrauensschutz und Rückwirkungsverbot gewahrt: Da die umstrittene Norm objektiv geeignet war, Vertrauen zu begründen, weil sie weder so unklar und verworren war, dass mit ihrer Änderung gerechnet werden musste, noch in einem Maße systemwidrig und unbillig, dass ernsthafte Zweifel an ihrer Verfassungsmäßigkeit bestanden, durfte der Gesetzgeber die Rechtslage nicht mit belastender Wirkung für einen bereits abgeschlossenen Zeitraum ändern62. 2. Masings Auffassung, die Mehrheit des Senats räume der Rechtsprechung verfehlt einen kompetentiellen Vorbehalt zu Lasten des Gesetzgebers ein, beruht auf seiner Annahme eines durch das Demokratieprinzip legitimierten Vorrangs der gesetzgebenden Gewalt63, die sich kraft des legislativen Zugriffsrechts des Parlaments sämtlicher drängenden Fragen des Gemeinwohls annehmen könne, auch der Entscheidung über in der Vergangenheit wurzelnder Probleme oder der Klärung offen gebliebener und lösungsbedürftiger Streitfragen, und zwar nicht nur für die Zukunft64. Demgemäß sei es grundsätzlich als zulässig anzusehen, wenn in ungeklärten Rechtslagen der Gesetzgeber offene und umstrittene Fragen rückwirkend klarstelle, und es gehöre zur Aufgabe des Parlaments, wenn sich bei der Gesetzesanwendung herausstelle, dass wichtige Fragen von allgemeiner Bedeutung offen geblieben oder unklar oder missverständlich geregelt seien, wie diese Fragen in noch nicht abgeschlossene Fällen zu beantworten seien65. Nach Masings Meinung ist der Gesetzgeber somit prinzipiell zur authentischen Interpretation der Normen befugt; das Verbot echt rückwirkender Gesetze soll hiernach nur eingeschränkt für bereits beendete Verfahren gelten66. 60

Hey, ebd. BVerfG NVwZ 2014, 577 Rn. 64 unter Bezugnahme auf BVerfGE 32, 111 (123). 62 BVerfG NVwZ 2014, 577 Rn. 65 m. w. N. 63 BVerfG NVwZ 2014, 577 – Sondervotum Rn. 9, 11. 64 Ebd. 65 BVerfG NVwZ 2014, 577 – Sondervotum Rn. 11. 66 BVerfG NVwZ 2014, 577 – Sondervotum Rn. 10. 61

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Ein derartiger Vorrang der gesetzgebenden Gewalt ist indes im Grundgesetz nicht angelegt. Die Verfassung weist zwar die Aufgabe der Gesetzgebung der Volksvertretung zu, bindet diese aber zugleich an die in ihr statuierten Grenzen, zu denen die Unterscheidung zwischen Rechtsetzung und Rechtsanwendung gehört67. Aus dem Rechtsstaatsgebot folgt sodann das Erfordernis rechtlicher Kontrolle der Rechtsanwendung durch die rechtsprechende Gewalt68, die damit im gewaltenteilenden System des Grundgesetzes ihre eigene gleichgewichtige verfassungsrechtliche Legitimation empfängt; das „Reservat der Rechtsprechung“, dessen angebliche Schaffung durch die Senatsmehrheit Masing rügt, besteht schon von Verfassungs wegen, wie nicht zuletzt deren IX. Abschnitt über die Rechtsprechung – insbesondere mit den Regelungen über die Verfassungsgerichtsbarkeit – belegt69. Indessen tragen die Erörterungen zur Gewaltenteilung nichts zur Antwort auf die Frage nach der generellen Zulässigkeit rückwirkender Rechtsetzung bei70, Bedeutung erlangen sie im Entscheidungszusammenhang nur für die von Masing71 vertretene Ansicht, dass der Gesetzgeber für klarstellende Regelungen eine Ausnahme von dem grundsätzlichen Verbot echt rückwirkender Gesetze beanspruchen könne72. Dem begegnet die Mehrheit des Senats zutreffend mit dem Hinweis, dass die allgemeine Auslegungsfähigkeit und -bedürftigkeit des Rechts regelmäßig einen Klärungsbedarf begründen ließe73 und damit der rechtsstaatlich gebotene Schutz des Vertrauens in die Stabilität des Rechts empfindlich geschwächt würde74. In der Tat ist die „Fehleranfälligkeit moderner Gesetzgebung“75 nicht zu leugnen und sie könnte dem Rückwirkungsverbot weitgehend die Schutzwirkung für die betroffenen Normadressaten nehmen. Zwar ist der Gesetzgeber befugt, Vorschriften auch für die Vergangenheit zu erlassen, zumal da neue gesetzliche Regelungen stets an Sachverhalte tatsächlicher oder rechtlicher Natur anknüpfen, die – wenngleich in unterschiedlicher Form – in der Vergangenheit wurzeln76, und er ist nicht gehindert, dabei Klarstellungen vorzunehmen, aber er bleibt an die vom Bundesverfassungsgericht entwickelten verfassungsrechtlichen Kriterien gebunden, wonach belastende Gesetze mit echter Rückwirkung grundsätzlich unzulässig, belastende Gesetze mit unechter Rückwirkung hingegen ebenso wie begünstigende Gesetze grundsätzlich zulässig 67 Vgl. etwa Bernd Grzeszick in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Kommentar, 1958 ff. (Stand: Juli 2014), Art. 20 V Rn. 58. 68 S. auch Grzeszick, ebd. 69 Vgl. dazu beispielsweise Christian Hillgruber in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Kommentar, 1958 ff. (Stand: Juli 2014), Art. 92 Rn. 13. 70 Vgl. Buchheim/Lassahn (Fn. 58), S. 564 f.; ebenso Hey (Fn. 59), S. 1566. 71 BVerfG NVwZ 2014, 577 – Sondervotum Rn. 9 ff. 72 Ebenso Hey (Fn. 59), S. 1566. 73 BVerfG NVwZ 2014, 577 Rn. 53; s. auch Hey, ebd. 74 BVerfG, ebd. 75 Hey (Fn. 59), S. 1564. 76 Vgl. nur Grzeszick in: Maunz/Dürig (Fn. 67), Art. 20 VII Rn. 71 m. w. N.

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Klaus Grupp

sind77. Eine klarstellende Bestimmung, die nur – beispielsweise durch eine Neufassung des Wortlauts – das bislang geltende Recht bestätigt, mag daher echte Rückwirkung aufweisen, weil sie nachträglich für einen abgeschlossenen Sachverhalt gilt, sie bleibt jedoch zulässig, weil sie keine materiell belastende, konstitutive Änderung des bisher geltenden Rechts, keine „Rückbewirkung von Rechtsfolgen“78 darstellt79, sondern nur deklaratorisch wirkt. Ob eine echt rückwirkende Gesetzesänderung lediglich deklaratorischen Charakter in diesem Sinne besitzt oder das bis zu ihrem Inkrafttreten geltende Recht materiell neu gestaltet, ist durch Auslegung zu ermitteln, die verbindlich regelmäßig durch die Gerichte erfolgt80. Dieses durch Art. 92 GG garantierte „Reservat der Rechtsprechung“ ist kein kompetentieller Vorbehalt zu Lasten des Gesetzgebers und hindert diesen deshalb nicht an der Korrektur des noch geltenden Rechts – aufgrund seines „legislativen Zugriffsrechts“ kann er sich grundsätzlich „aller drängenden Fragen des Gemeinwesens annehmen“81, sowohl mit Wirkung für die Zukunft als auch rückwirkend. Handelt es sich dabei um echt rückwirkende Gesetzesänderungen mit belastendem Gehalt, so stehen dem freilich, falls nicht Ausnahmen vom Rückwirkungsverbot vorliegen, die im Rechtsstaatsprinzip und in den Grundrechten verankerten Prinzipien der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes entgegen82, nicht jedoch fachgerichtliche Entscheidungen. Entgegen der Auffassung Masings ist es dem Gesetzgeber somit prinzipiell nicht verwehrt, „in ungeklärten Rechtslagen die rückwirkende Klarstellung offener und umstrittener Fragen“83 vorzunehmen, und er ist, worauf die Senatsmehrheit hinweist, auch befugt, „eine Rechtsprechung zu korrigieren, mit der er nicht einverstanden ist“84, doch gelten hierfür die auch im Übrigen der rückwirkenden Rechtsänderung gezogenen Grenzen – die Absicht der Klarstellung allein rechtfertigt keine Ausnahme vom Rückwirkungsverbot85. IV. Die Argumentation Masings erweist sich somit bei näherer Betrachtung insgesamt als nicht stichhaltig: Weder entzieht die Senatsmehrheit dem Rückwirkungsverbot die Verwurzelung im Vertrauensschutz – sie stützt ihre Auffassung vielmehr hier77

St. Rspr., vgl. BVerfGE 45, 142; 101, 239 (262); 132, 132, 302 (318); näher dazu beispielsweise Grzeszick, a.a.O, Art. 20 VII Rn. 75 ff. m. w. N. 78 BVerfGE 72, 201 (241 f.); 72, 302 (321 f.); 87, 48 (60 f.); 92, 277 (343 f.); 97, 67 (78 f.); 127, 1 (16 f.). 79 So die Mehrheit des Senats im vorliegenden Fall: BVerfG NVwZ 2014, 577 Rn. 45. 80 Vgl. BVerfGE 65, 196 (215); 111, 54 (107); 126, 369 (392); s. im vorliegenden Fall die Begründung der Senatsmehrheit: BVerfG NVwZ 2014, 577 Rn. 48 ff. 81 Masing, BVerfG NVwZ 2014, 577 – Sondervotum – Rn. 9. 82 Vgl. Senatsmehrheit, BVerfG NVwZ 2014, 577 Rn. 62. 83 BVerfG NVwZ 2014, 577 – Sondervotum – Rn. 11. 84 BVerfG NVwZ 2014, 577 Rn. 48. 85 Vgl. BVerfGE 126, 369 (392); Hey (Fn. 59), S. 1565.

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auf – noch entwickelt sie fehlsame Vorstellungen von der Gewaltenteilung und begründet einen kompetentiellen Vorbehaltsbereich der Rechtsprechung gegenüber dem Gesetzgeber. Die von der Mehrheit im Senat beschlossenen Entscheidungsgründe halten sich innerhalb der in ständiger Rechtsprechung vom Gericht gezogenen Grenzen; sie machen zwar deutlich, wovon die Verfassungsmäßigkeit einer als klarstellend bezeichneten Gesetzesänderung abhängt, aber sie enthalten keine neuen Maßstäbe für deren Beurteilung86. Deshalb legt der Beschluss vom 17. Dezember 2013 auch kein neues Fundament für das Rückwirkungsverbot – dies wäre nur dann der Fall, wenn die Senatsmehrheit den Argumenten Masings gefolgt wäre und den Weg frei gemacht hätte für echt rückwirkende konstitutive Gesetzesänderungen im Mantel der Klarstellung.

86 So auch Buchheim/Lassahn (Fn. 58), S. 565; weitergehend Hey (Fn. 59), S. 1567, die darin eine Grundsatzentscheidung sieht.

Die Zukunft des Berufsbeamtentums Zwischen europarechtlich induzierter Erosion und nationaler Sinnsuche Von Peter M. Huber, Karlsruhe / München Die öffentlichen Finanzen bilden einen, wenn nicht den Schwerpunkt im wissenschaftlichen Œuvre von Rudolf Wendt. Für die öffentlichen Finanzen sind Personalkosten, die in manchen Ländern beinahe die Hälfte des Haushaltsvolumens ausmachen, eine zentrale Steuerschraube. Das Berufsbeamtentum wirkt in dieser Perspektive als eher sperrige, die Handlungsoptionen der Politik beschränkende und angesichts der Versorgungslasten noch dazu teure Einrichtung, deren Bedeutung für das Gemeinwohl, für die Funktionsfähigkeit und Verlässlichkeit von Staat und Verwaltung sich den meisten Akteuren nicht ohne weiteres erschließt. Die seit den 1990er Jahren anhaltende „Flucht in die Privatisierung“ auf Bundes-1 wie auf Landesebene2 belegt dies ebenso wie die zunehmende Spreizung der Einkommensverhältnisse zwischen den Ländern seit mit der Föderalismusreform I 2006 die Zuständigkeit für die Beamtenbesoldung auf die Länder übergegangen ist. Angesichts der in Deutschland übermächtigen Fixierung auf die Budgetkonsolidierung, die in der Schuldenbremse verfassungskräftigen Ausdruck findet (Art. 109 Abs. 3 und Art. 115 Abs. 2 GG) und durch immer zahlreichere unionale Vorgaben zusätzlich akzentuiert worden ist,3 geraten andere Anforderungen an ein solides Gemeinwesen leicht aus dem Blick. Mehr und mehr zeigt sich freilich, dass der Staat seit Jahren auch im Hinblick auf sein Personal „auf Verschleiß gefahren“ wird. Schon heute ist die Ministerialverwaltung oftmals nicht mehr in der Lage, kompliziertere Gesetzentwürfe zu erstellen, die Konsistenz der exekutiven Willensbildung lässt zu wünschen übrig, Verwaltung und Justiz verlieren die Augenhöhe mit (international operierenden) Unternehmen, Rechtsanwälten und Interessengruppen, ein effektiver Gesetzesvollzug wird ebenso prekär wie die Gleichheit vor dem Gesetz. Deutschland ist insoweit freilich kein Einzelfall. Seit der Zeitenwende der Jahre 1989/90 ist in fast allen Staaten Europas der öffentliche Dienst im Allgemeinen und das Berufsbeamtentum im Besonderen Gegenstand andauernder Reformen und Reformüberlegungen gewesen. In einzelnen Staaten ist das Beamtentum sogar abge1

BVerfGE 130, 52 (69 f.) – Beamte bei Postnachfolgeunternehmen. BVerfGE 130, 76 ff. – Hessischer Maßregelvollzug durch Beliehene. 3 Siehe dazu R. Streinz, Was bleibt vom Budgetrecht des Bundestages in der Fiskalunion?, in dieser Festschrift. 2

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schafft worden; überall ist es in seiner Legitimität heute angefochtener denn je. Das rechtfertigt einige grundlegendere Überlegungen zur Zukunft des Berufsbeamtentums. I. Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen 1. Der gemeineuropäische Befund Die Einrichtung eines durch ein besonderes Dienst- und Treueverhältnis zum Staat gekennzeichneten Berufsbeamtentums, dessen Angehörige über eine lebenslange Anstellung verfügen und damit zumindest wirtschaftlich einigermaßen unabhängig sind, gehört zum gemeineuropäischen Erbe.4 In Deutschland, Griechenland, Italien, Österreich Polen und Spanien ist, um nur einige Beispiele zu nennen, die Existenz eines Berufsbeamtentums sogar unmittelbar in der Verfassung verankert.5 Für seine Ausgestaltung im Einzelnen gilt in der Regel ein – in seinen Grundzügen oftmals verfassungsrechtlich vorgezeichnetes, mitunter in den territorialen Untergliederungen der Nationalstaaten differenziertes6 – Sonderregime. Gleichwohl ist der öffentliche Dienst in der Mehrzahl der europäischen Staaten durch ein Nebeneinander von Beamten und Beschäftigten auf privatrechtlicher Grundlage (sog. Tarifbeschäftigten) geprägt. Den Beamten (Richtern und Soldaten) obliegt dabei typischerweise die Unterstützung der Staatsleitung in der Ministerial4 Für Deutschland W. Kahl, Grundzüge des Verwaltungsrechts in gemeineuropäischer Perspektive: Deutschland, in: v. Bogdandy/Cassese/Huber (Hrsg.), IPE V, 2014, § 74 Rn. 54; für Frankreich P. Gonod, Grundzüge des Verwaltungsrechts in gemeineuropäischer Perspektive: Frankreich, in: IPE V, § 75 Rn. 61 ff.; für Griechenland P.-M. Efstratiou, Grundzüge des Verwaltungsrechts in gemeineuropäischer Perspektive: Griechenland, in: IPE V, § 76 Rn. 33 ff.; für Italien D. de Pretis, Grundzüge des Verwaltungsrechts in gemeineuropäischer Perspektive: Italien, in: IPE V, § 78 Rn. 39 f.; für Österreich M. Holoubek, Grundzüge des Verwaltungsrechts in gemeineuropäischer Perspektive: Österreich, in: IPE V, § 79 Rn. 61 ff.; für Polen S. Biernat/D. Dabek, Grundzüge des Verwaltungsrechts in gemeineuropäischer Perspektive: Polen, in: IPE V, § 80 Rn. 98 ff.; für Portugal V. Pereira da Silva/A. Salgado de Matos Grundzüge des Verwaltungsrechts in gemeineuropäischer Perspektive: Portugal, in: IPE V, § 81 Rn. 63 ff.; für Schweden L. Marcusson, Grundzüge des Verwaltungsrechts in gemeineuropäischer Perspektive: Schweden, in: IPE V, § 82 Rn. 15 ff.; für Spanien O. Mir, Grundzüge des Verwaltungsrechts in gemeineuropäischer Perspektive: Spanien, in: IPE V, § 84 Rn. 42 ff.; für Ungarn Z. Szente, Grundzüge des Verwaltungsrechts in gemeineuropäischer Perspektive: Ungarn, in: IPE V, § 85 Rn. 64 ff. Großbritannien kennt hingegen keinen besonderen Beamtenstatus, auch wenn die Grundlagen des öffentlichen Dienstes seit der Constitutional Renewal Bill 2008 gesetzlich geregelt worden sind, P. Craig, Grundzüge des Verwaltungsrechts in gemeineuropäischer Perspektive: Großbritannien, in: IPE V, § 77 Rn. 21 f. 5 Für Deutschland Art. 33 Abs. 4 und 5 GG; für Griechenland Art. 103 f. Verf.; P.-M. Efstratiou (Fn. 4), Rn. 33 f.; für Italien Art. 98 Cost; für Österreich Art. 20 Abs. 1 B-VG, M. Holoubek (Fn. 4), § 79 Rn. 62; für Polen Art. 153 Verf.; für Spanien O. Mir (Fn. 4), § 84 Rn. 42. 6 Für Deutschland Art. 74 Abs. 1 Nr. 27 GG; für Frankreich P. Gonod (Fn. 4), § 75 Rn. 34; für die Schweiz T. Jaag, Grundzüge des Verwaltungsrechts in gemeineuropäischer Perspektive: Schweiz, in: IPE V, § 83 Rn. 87.

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verwaltung sowie die Ausübung hoheitlicher Gewalt in Militär, Polizei, Verwaltung und Justiz. Obgleich vielfach ein Teil des monarchischen Erbes, wird das Beamtentum heute als personalwirtschaftlicher Garant für eine demokratisch und rechtsstaatlich rückgebundene Verwaltung begriffen.7 Das französische Verwaltungsrecht stellt es darüber hinaus in den Dienst des service public; zugleich soll es die Unabhängigkeit der Verwaltung von der Politik sicherstellen, was zwar mit der demokratischen Rückkopplung der Verwaltung kollidieren mag, allgemein jedoch als Voraussetzung dafür angesehen wird, dass die Verwaltung ihre Kenntnisse auch bestmöglich einsetzen kann.8 So gesehen ist es nur konsequent, dass das Leistungsprinzip als vorrangige Leitlinie für die Ausgestaltung des Beamtenstatus sowohl bei der Anstellung als auch bei Beförderungen Beachtung verlangt.9 Dies stärkt die Unabhängigkeit des öffentlichen Dienstes von der (Partei-)Politik, deren Einfluss allgemein als schädlich angesehen wird.10 2. Eckpunkte der deutschen Rechtslage Die Rechtslage in Deutschland entspricht weitgehend dem gemeineuropäischen Befund. Das Berufsbeamtentum wird hier durch eine institutionelle Garantie abgesichert (a)), deren Ratio die Sicherstellung eines kompetenten und loyalen Personalkörpers für den öffentlichen Dienst ist (b)). Das schließt eine Fortentwicklung nicht aus (c)). a) Institutionelle Garantie Das Berufsbeamtentum ruht in Deutschland auf zwei Säulen: der Funktionsgarantie des Art. 33 Abs. 4 GG, wonach die Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse als ständige Aufgabe in der Regel Personen anzuvertrauen ist, die in einem öffentlichrechtlichen Dienst- und Treueverhältnis stehen, und den in Art. 33 Abs. 5 GG verankerten hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums. Prägend sind insoweit einerseits die Verpflichtung der Beamten zur lebenslangen „vollen Hingabe“,11 zu Loyalität und Unparteilichkeit, andererseits die Verpflichtung des Dienstherrn zu Alimentation und Fürsorge für seine Beschäftigten. Die Beamten können sich heute zudem, wie alle anderen Beschäftigten auch, gegenüber dem Dienstherrn auf ihre Grundrechte berufen und gegen ihn klagen. Auch wenn mit dem Beamtenstatus bestimmte Beschränkungen – etwa im Bereich der Meinungs- (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG) oder Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG) – fortdauern, so ist doch die aus dem Konstitutionalismus stammende Konzep7

W. Kahl (Fn. 4), § 74 Rn. 56. P. Gonod (Fn. 4), § 75 Rn. 26 und 61 f. 9 Für Deutschland Art. 33 Abs. 2 GG; für Frankreich P. Gonod (Fn. 4), § 75 Rn. 26; für Polen S. Biernat/D. Dabek (Fn. 4), § 80 Rn. 102, 104 f. 10 Für Frankreich P. Gonod (Fn.4), § 75 Rn. 26. 11 BVerfGK 13, 35 (45). 8

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tion des besonderen Gewaltverhältnisses nach dem Zweiten Weltkrieg nach und nach aufgegeben worden.12 b) Ratio und Inhalt aa) Sinn des Berufsbeamtentums, wie er sich aus Art. 33 GG ergibt, ist es, die Bindung der Verwaltung an Recht und Gesetz personalwirtschaftlich zu umhegen.13 Es handelt sich insoweit um eine institutionelle Garantie, die ebenso im Dienste des Demokratie-14 wie des Rechtsstaatsprinzips steht. bb) Vor allem aus dem Funktionsvorbehalt des Art. 33 Abs. 4 GG erhellt die demokratische Dimension des Berufsbeamtentums. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts soll Art. 33 Abs. 4 GG die Kontinuität hoheitlicher Funktionen des Staates sichern15 und gewährleisten, dass die Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse regelmäßig den von Art. 33 Abs. 5 GG für das Berufsbeamtentum institutionell garantierten besonderen Sicherungen qualifizierter, loyaler und gesetzestreuer Aufgabenerfüllung unterliegt.16 Der Einsatz von Beamten soll insoweit zu einer möglichst effektiven Verwirklichung des (parlamentarisch gebildeten) Mehrheitswillens beitragen, Weil dies auch von der Akzeptanz bei Bürgerinnen und Bürgern abhängt, bestimmt Art. 33 Abs. 1, 2 und 4 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 1 und 2 GG darüber hinaus, dass die Ausübung der Staatsgewalt grundsätzlich durch eigene Staatsangehörige erfolgt; m. a. W.: Beamte müssen grundsätzlich Deutsche im Sinne von Art. 116 GG sein. Die Durchsetzung des demokratisch gebildeten Mehrheitswillens zu Lasten der eigenen Rechte und Interessen – nichts anderes ist die Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse – wird der Einzelne umso eher hinnehmen, je stärker er dies als einen von ihm mitbestimmten oder doch bestimmbaren Vorgang wahrnimmt.17 § 7 Abs. 1 und 2 BBG, § 7 Abs. 1 und 2 BeamtStG spiegeln diese Wertung zwar nicht so deutlich wieder, weil sie auf den ersten Blick eine weitgehende Gleichstellung von Staatsangehörigen, Unionsbürgern anderer Mitgliedstaaten (lit. a), Angehörigen von Mitgliedstaaten des EWR (lit. b) und Angehörigen eines Drittstaates vorsieht, dem Deutschland und die Europäische Union vertraglich einen entsprechenden Anspruch auf Anerkennung von Berufsqualifikationen eingeräumt haben (c). Sie lassen eine dem ver12 Für Deutschland grundlegend BVerfGE 33, 1 – Strafgefangene; für Frankreich siehe P. Gonod (Fn. 4), § 75 Rn. 62 f. 13 P. Badura, Reichweite des Funktionsvorbehalts nach Art. 33 Abs. 4 GG unter besonderer Berücksichtigung aktueller Privatisierungstendenzen sowie der Auswirkung der europäischen Integration und der Entwicklung in den neuen Ländern, Forschungsprojekt für das Bundesministerium des Innern, 1995, S. 5; P. M. Huber, Das Berufsbeamtentum im Umbruch, DV 29 (1996), 437 (441). 14 P. M. Huber, Der Staatsangehörigenvorbehalt im deutschen Beamtenrecht, in: FS für Leisner, 1999, S. 937 (949). 15 BVerfGE 88, 103 (114). 16 BVerfGE 130, 76 (111 f.). 17 P. M. Huber (Fn. 14), S. 937 (951).

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fassungsrechtlichen Leitbild entsprechende Handhabung angesichts des Staatsangehörigenvorbehalts in § 7 Abs. 2 BBG bzw. § 7 Abs. 2 BeamtStG jedoch ohne weiteres zu. Ebenso problematisch wie erstaunlich ist jedoch, dass trotz der insoweit parallelen Rechtsprechung des (Europäischen) Gerichtshofes zu Art. 45 Abs. 4 AEUV (vgl. unter II. 1.) und der Existenz vergleichbarer Vorgaben in vielen kontinentaleuropäischen Staaten18 das Bewusstsein für die Verbindungslinien zwischen Demokratie, Staatsgewalt und Staatsangehörigkeit nicht präsent ist. Dass ihre Relevanz ungebrochen ist, zeigen etwa die Diskussionen um den Europäischen Haftbefehl,19 die Europäische Ermittlungsanordnung20 oder die Nacheile im Rahmen des Schengener Abkommens.21 cc) Nach Art. 33 Abs. 2 GG hat zunächst jeder Deutsche – und nach Art. 45 Abs. 1 und 4 AEUV auch jeder Unionsbürger – gemäß seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung ein Recht auf Zugang zu jedem öffentlichen Amt. Das betrifft die Einstellung ebenso wie Beförderungen. Für die Inhaber eines Amtes gehören die amtsangemessene Alimentation des Beamten und seiner Familienangehörigen, die grundsätzlich hauptamtliche Beschäftigung sowie die lebenslange Anstellung zu den wichtigsten Rechtspositionen. Im Gegenzug sind die Beamten verpflichtet, dem Dienstherrn in „voller Hingabe“ zu dienen; sie schulden ihm Loyalität und ein aktives Eintreten für die verfassungsmäßige Ordnung sowie eine unparteiische Amtsführung. Diese hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums stehen freilich, wie ein Blick auf wichtige beamtenrechtliche Judikate der letzten Jahre zeigt, erkennbar unter Druck. Vor allem der Landespolitik sind sie eher weniger willkommen, weil sie einen Großteil der den Ländern zur Verfügung stehenden Ressourcen binden und damit politische Gestaltungsspielräume verengen. So wurde etwa in Bayern und Nordrhein-Westfalen versucht, Ämter mit leitender Funktion wiederholt auf Zeit zu vergeben, um der politischen Führung mehr Spielraum in der Personalpolitik zu verschaffen; dass man damit bei den betroffenen Beamten auch eine höhere Gewähr für Wohlverhalten erreichen konnte, wurde zumindest als nicht unwillkommene Nebenfolge in Kauf genommen. Beide Regelungen verstießen gegen die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums im Sinne von Art. 33 Abs. 5 GG bzw. Art. 95 Abs. 1 Satz 2 BV.22 Das galt auch für eine antragslose Teilzeitbeschäf18

Für die griechische Rechtslage siehe P.-M. Efstratiou (Fn. 4), § 76 Rn. 33 ff. BVerfGE 113, 273 ff.; EuGH, Rs. C-399/11, Urt. v. 26. 02. 2013 – Stefano Melloni. 20 Siehe dazu etwa Legislative Entschließung des Europäischen Parlaments vom 27. Februar 2014 zu dem Entwurf einer Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen (09288/2010 – C7 – 0185/2010 – 2010/ 0817(COD)) (Ordentliches Gesetzgebungsverfahren: erste Lesung). 21 Art. 18 lit. c Schengener Abkommen. 22 Bayern: BayVerfGHE 57, 129 ff. – Art. 32a Abs. 1 Satz 4 BayBG a. F.; zur Neuregelung nun BayVerfGH, Entscheidung v. 09. 09. 2014 – Vf. 2-VII-14 –, juris, Rn. 59 ff.; NordrheinWestfalen: BVerfGE 121, 205 (221 ff.) – § 25b LBG NW. 19

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tigung, zu der das Land Niedersachsen seine Beamten verpflichten wollte.23 Hier standen sowohl der Grundsatz der Hauptberuflichkeit als auch die amtsangemessene Alimentation in Frage. Leistungsgrundsatz (Art. 33 Abs. 2 GG) und Unabhängigkeit könnten, um ein weiteres Beispiel zu nennen, auch durch die in vielen Bereichen praktizierte „Topfwirtschaft“ beeinträchtigt werden, d. h. durch die dauerhafte Entkoppelung des Amts im statusrechtlichen und des Amts im konkret funktionalen Sinne.24 c) Weiterentwicklungsmöglichkeit Art. 33 Abs. 4 und 5 GG enthalten eine institutionelle Garantie, die sich nicht nur gegenüber staatlichen Interventionen im Einzelfall als wehrfähig erweist, sondern auch mit Blick auf gesetzliche Regelungen, die das Berufsbeamtentum anders als bisher ausgestalten (wollen).25 Nicht überzeugend geklärt erscheint in diesem Zusammenhang, was vor allem dem Schutz von Art. 33 Abs. 5 GG unterfällt, welche Anforderungen an eine Weiterentwicklung der institutionellen Garantie gestellt werden müssen und welche Bedeutung die im Jahre 2006 vorgenommene Änderung der Vorschrift besitzt. aa) Von einem hergebrachten Grundsatz im Sinne des Art. 33 Abs. 5 GG spricht man, wenn es um Regelungen geht, die das Bild des Berufsbeamtentums in seiner überkommenen Gestalt so prägen, dass ihre Beseitigung auch das Berufsbeamtentum als solches antasten würde. Die hergebrachten Grundsätze betreffen daher nach ständiger Rechtsprechung und allgemeiner Auffassung in der Literatur nur jene Strukturprinzipien, die allgemein oder doch überwiegend und während eines längeren, traditionsbildenden Zeitraums, mindestens unter der Weimarer Reichsverfassung verbindlich anerkannt waren.26 So sehr die Bezugnahme auf Weimar in den ersten Jahren nach 1949 auch zur inhaltlichen Konturierung der hergebrachten Grundsätze geeignet gewesen sein mag, so überholt wirkt sie heute. Sinn einer institutionellen Garantie ist es vor allem, in einem bestimmten Lebensbereich nur schrittweise Fortentwicklungen zuzulassen und Brüche zu untersagen, so dass sich der Inhalt der Garantie nur allmählich wandeln kann. Dazu bedarf es zwar in der Tat eines längeren Zeitraums, in dem bestimmte Regelungen gegolten haben und anerkannt gewesen sind; was es jedoch nicht braucht und angesichts der Natur einer institutionellen Garantie auch gar nicht geben kann, ist die Bindung an einen bestimmten historischen Zeitpunkt. Deshalb erscheint die Anbindung von Art. 33 Abs. 5 GG an die Weimarer Reichsverfassung heute verfehlt, weil die mittlerweile bald 70jährige Verfassungspraxis unter dem Grundgesetz die hergebrachten Grundsätze viel stärker prägen konnte als die 23

BVerfGE 119, 247 ff. – NdsBG. BVerfG, 2. Senat, 1. Kammer, ZBR 2013, 346; BVerfG, eA v. 09. 07. 2014 – 2 BvR 951/ 14 –, juris; siehe auch BVerwGE 140, 83 ff. 25 BVerfGE 117, 372 (380); 121, 205 (220). 26 BVerfGE 8, 332 (343); 83, 89 (98); 117, 330 (344 f.). 24

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knapp 40 Jahre zwischen 1919 und 1958, auf die das Bundesverfassungsgericht in seinen frühen Entscheidungen abstellen konnte.27 bb) Die institutionelle Garantie des Berufsbeamtentums bedeutet somit nicht, dass es in seiner überlieferten Form verfassungsrechtlich in allen Einzelheiten vorgegeben wäre. Dem Gesetzgeber steht es vielmehr frei, auch die hergebrachten Grundsätze den sich ändernden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen entsprechend weiterzuentwickeln und sie den Erfordernissen des freiheitlich-demokratischen Staates entsprechend anzupassen.28 Nach ständiger Rechtsprechung und herrschender Meinung steht einer Fortentwicklung des Beamtenrechts deshalb nichts entgegen, solange keine strukturelle Veränderung an den für die Institution des Berufsbeamtentums wesentlichen Regelungen vorgenommen wird,29 was in der Sache auf eine Art Kernbereichsgarantie hinausläuft. Auch dies erscheint ein wenig zu grobschlächtig, weil es der Notwendigkeit einer kontinuierlichen, Brüche vermeidenden Weiterentwicklung30 der institutionellen Garantie nicht ausreichend Rechnung trägt. Eine solche setzt voraus, dass Eingriffe in die überkommene Ausgestaltung einer institutionellen Garantie und ihre Veränderung durch sachliche Gründe gerechtfertigt sein müssen, die schwerer wiegen, als jene, die für die Aufrechterhaltung des Status quo streiten. Insoweit folgt aus einer institutionellen Garantie ein Regel-Ausnahme-Verhältnis zugunsten des Überkommenen und eine entsprechende Begründungslast für den veränderungswilligen Gesetzgeber.31 Damit vermittelt sie den konkreten – einfachgesetzlichen – Ausprägungen einen relativen „Normbestandsschutz“,32 auf den sich auch die einzelnen Berechtigten berufen können. cc) Der damit eröffnete Gestaltungsspielraum ist auch dadurch noch ein wenig erweitert worden, dass die Föderalismusreform des Jahres 2006 Art. 33 Abs. 5 GG modifiziert hat. Während er früher bestimmte, dass das Recht des öffentlichen Dienstes unter Berücksichtigung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums zu regeln ist, spricht die Neufassung auch von deren Fortentwicklung. Zwar schloss es die Bindung an die hergebrachten Grundsätze auch bis dahin nicht aus, sie veränderten Umständen anzupassen und organisch fortzuentwickeln, so dass vielfach die Ansicht vertreten wird, dass diese Verfassungsänderung nur kodifiziert habe, 27

BVerfGE 8, 332 ff.; dazu auch P. M. Huber (Fn. 13), 437 (462). BVerfGE 7, 155 (162); 114, 258 (288); 117, 330 (348 f.); für die Landesebene BayVerfGHE 57, 129 (137). 29 BVerfGE 121, 205 (220). 30 Institutionelle Garantien eignen sich insofern in besonderer Weise für den von J. Ipsen, Der Staat der Mitte, 2009, VIII, und A. Voßkuhle entwickelten Gedanken, dass es sich bei der Bundesrepublik Deutschland um einen Staat und eine Gesellschaft des Maßes und der Mitte handelt. 31 Zu vergleichbaren Reorganisationsmaßnahmen im Sozialrecht P. M. Huber, Selbstverwaltung und Systemgerechtigkeit, VSSR 2000, 369 (394); allgemeiner W. Kluth, Funktionale Selbstverwaltung, 1997, S. 535. 32 Zur Figur G. Lübbe-Wolff, Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1988, S. 105 ff. 28

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was ohnehin geltendes Verfassungsrecht gewesen sei.33 So sicher erscheint das freilich nicht.34 Nach der Entstehungsgeschichte war diese Änderung ein Projekt der SPD-geführten Landesregierungen von Nordrhein-Westfalen und Berlin. Diese wollten los von Restriktionen des Art. 33 Abs. 5 GG – Nordrhein-Westfalen, wo die sog. Bull-Kommission die Abschaffung des Berufsbeamtentums empfohlen hatte, und Berlin aus eher ideologischen Gründen. Auch wenn dies für das Verständnis der Norm nicht ausschlaggebend sein kann, weil Gesetze bekanntlich immer klüger sind als ihre Urheber, so spricht der geänderte Wortlaut doch auch für einen modifizierten Regelungsgehalt: Da Verfassungsvorschriften so auszulegen sind, dass sie ihre Wirkkraft möglichst gut entfalten,35 muss die Ergänzung des Art. 33 Abs. 5 GG auch einen spezifischen Sinn haben. Dieser dürfte in einer die Fortentwicklung der hergebrachten Grundsätze begünstigenden, restriktiveren Interpretation der einzelnen hergebrachten Grundsätze liegen. II. Europäisierung und Nivellierung 1. Unionsrechtliche Anforderungen, Art. 45 Abs. 4 AEUV Da der (Europäische) Gerichtshof in den 1980er-Jahren damit begonnen hat, den heute in Art. 45 Abs. 4 AEUV verankerten Vorbehalt für die öffentliche Verwaltung restriktiv auszulegen und nur noch auf solche Funktionen anzuwenden, die entweder unmittelbar der Staatsleitung oder der Ausübung hoheitlicher Befugnisse zuzuordnen sind,36 ist es unter dem Einfluss der Europäisierung in vielen Mitgliedstaaten zu einer Öffnung und Neuausrichtung des Beamtenrechts gekommen. So haben eine Reihe von Staaten den Beamtenstatus entweder von vornherein auf die von Art. 45 Abs. 4 AEUV erfassten Fälle beschränkt37 oder ihn im Wesentlichen auch für Unionsbürger anderer Mitgliedstaaten geöffnet.38 Die aus der Arbeitnehmerfreizügigkeit folgenden Fragen sind mittlerweile geklärt und dogmatisch zufriedenstellend gelöst. Ob das auch für die rechtspolitischen Konsequenzen und langfristigen institutionellen Folgen dieser Entwicklung gilt, ist hingegen unklar. 2. Der EGMR und das Streikrecht für Beamte Die nächste größere Debatte im Zusammenhang mit der Europäisierung des Berufsbeamtentums droht allerdings nicht aus Luxemburg, sondern aus Straßburg. 33

In diesem Sinne wohl BVerfGE 121, 205 (219 f.). U. Battis, in: Sachs (Hrsg.), GG, 7. Aufl., 2014, Art. 33 Rn. 61a. 35 Zu dem methodischen Gebot BVerfGE 8, 210 (221). 36 EuGH, Rs. 66/85, Slg. 1986, 2121 – Lawrie Blum. 37 Für Italien D. de Pretis (Fn. 4), § 78 Rn. 39 f., unter Einschluss der Universitätsprofessoren; für Portugal V. Pereira da Silva/A. Salgado de Matos (Fn. 4), § 81 Rn. 67; für Spanien O. Mir (Fn. 4), § 84 Rn. 45. 38 Für Deutschland § 7 Abs. 1 BBG; W. Kahl (Fn.4), § 74 Rn. 59. 34

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Denn in Deutschland genießen Beamte, anders als in Frankreich oder Griechenland,39 kein Streikrecht. Dies gehört zu den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums im Sinne von Art. 33 Abs. 5 GG. Da der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dies anders zu sehen scheint,40 wird sich die Frage nach der konventionskonformen Weiterentwicklung des Streikverbots stellen. Das Bundesverwaltungsgericht hat in einem Urteil vom 27. Februar 2014 auf diesen Konflikt schon einmal hingewiesen und deutlich gemacht, dass Art. 11 EMRK in seiner bindenden Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte allen Angehörigen des öffentlichen Dienstes, die nicht in den Streitkräften, der Polizei und der genuinen Hoheitsverwaltung tätig sind, sowie ihren Gewerkschaften ein Recht auf Kollektivverhandlungen und darauf bezogene kollektive Kampfmaßnahmen gewährleiste, das mit dem statusbezogenen Verbot des Art. 33 Abs. 5 GG in Bezug auf Beamte, die außerhalb der genuinen Hoheitsverwaltung eingesetzt sind, inhaltlich unvereinbar sei.41 Es ist daher der Auffassung, dass es Aufgabe des Gesetzgebers sei, diese Kollisionslage aufzulösen und im Wege der praktischen Konkordanz einen Ausgleich herbeizuführen. Sieht man einmal davon ab, dass es zwischen dem verfassungsrechtlich durch Art. 33 Abs. 5 GG abgesicherten Streikverbot und Art. 11 EMRK, der in der deutschen Rechtsordnung den Rang eines Bundesgesetzes (Art. 59 Abs. 2 GG) besitzt, keine „praktische Konkordanz“ geben kann, so wird sich gleichwohl die Frage stellen, ob Art. 33 Abs. 5 GG nicht im Lichte von Art. 11 EMRK und der einschlägigen Rechtsprechung des EGMR ausgelegt werden muss. Insoweit gelten die Maßstäbe, wie sie das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zur Sicherungsverwahrung vom 4. Mai 2011 herausgearbeitet hat: „Der Konventionstext und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte dienen nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf der Ebene des Verfassungsrechts als Auslegungshilfen für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes, sofern dies nicht zu einer – von der Konvention selbst nicht gewollten (vgl. Art. 53 EMRK) – Einschränkung oder Minderung des Grundrechtsschutzes nach dem Grundgesetz führt (…). Im Rahmen der Heranziehung der Europäischen Menschenrechtskonvention als Auslegungshilfe berücksichtigt das Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auch dann, wenn sie nicht denselben Streitgegenstand betreffen. (…) Die innerstaatlichen Wirkungen der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte erschöpfen sich insoweit nicht in einer aus Art. 20 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 59 Abs. 2 GG abzuleitenden und auf die den konkreten Entscheidungen zugrundeliegenden Lebenssachverhalte begrenzten Berücksichtigungspflicht, denn das Grundgesetz will vor dem Hintergrund der zumindest faktischen Präzedenzwirkung der Entscheidungen internationaler Gerichte Konflikte zwischen den völker39 Für Frankreich P. Gonod (Fn. 4), § 75 Rn. 64; für Griechenland P.-M. Efstratiou (Fn. 4), § 76 Rn. 36. 40 EGMR, Nr. 68959/01, Urt. v. 21. 04. 2009 – Enerji Yapi-Yol Sen/Türkei. 41 BVerwG, Urt. v. 27. 02. 2014 – 2 C 1/13, ZBR 2014, 195 ff.

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rechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland und dem nationalen Recht nach Möglichkeit vermeiden (…). Die Heranziehung der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als Auslegungshilfe auf der Ebene des Verfassungsrechts über den Einzelfall hinaus dient dazu, den Garantien der Menschenrechtskonvention in der Bundesrepublik Deutschland möglichst umfassend Geltung zu verschaffen, und kann darüber hinaus Verurteilungen der Bundesrepublik Deutschland vermeiden helfen. Die inhaltliche Ausrichtung des Grundgesetzes auf die Menschenrechte kommt insbesondere in dem Bekenntnis des deutschen Volkes zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten in Art. 1 Abs. 2 GG zum Ausdruck. Das Grundgesetz weist mit Art. 1 Abs. 2 GG dem Kernbestand an Menschenrechten einen besonderen Schutz zu. Dieser ist in Verbindung mit Art. 59 Abs. 2 GG die Grundlage für die verfassungsrechtliche Pflicht, auch bei der Anwendung der deutschen Grundrechte die Europäische Menschenrechtskonvention in ihrer konkreten Ausgestaltung als Auslegungshilfe heranzuziehen. Art. 1 Abs. 2 GG ist daher zwar kein Einfallstor für einen unmittelbaren Verfassungsrang der Europäischen Menschenrechtskonvention, die Vorschrift ist aber mehr als ein unverbindlicher Programmsatz, indem sie eine Maxime für die Auslegung des Grundgesetzes vorgibt und verdeutlicht, dass die Grundrechte auch als Ausprägung der Menschenrechte zu verstehen sind und diese als Mindeststandard in sich aufgenommen haben (…). Grenzen der völkerrechtsfreundlichen Auslegung ergeben sich aus dem Grundgesetz. (…) Im Übrigen ist auch im Rahmen der konventionsfreundlichen Auslegung des Grundgesetzes – ebenso wie bei der Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auf der Ebene des einfachen Rechts – die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte möglichst schonend in das vorhandene, dogmatisch ausdifferenzierte nationale Rechtssystem einzupassen (…).“42

III. Rechtliche und rechtspolitische Probleme des Berufsbeamtentums in Deutschland Unter dem Eindruck der seit den 1980er-Jahren forcierten Ökonomisierung nahezu aller Lebensbereiche ist auch das Beamtentum unter Druck geraten. Seither ist es immer wieder Gegenstand von Reformbemühungen, deren Ziel es ist, tatsächliche oder vermeintliche Leistungsdefizite zu beheben. Die öffentliche Meinung ist kritisch und betrachtet den Beamtenstatus in weiten Teilen als ungerechtfertigte Privilegierung. Sinn und Nutzen für die Allgemeinheit scheinen ihr nicht vermittelbar. 1. Kommunikations- und Vermittlungsprobleme Status quo und Praxis im deutschen Beamtenrecht zeichnen sich zum einen durch einen eher unreflektierten, nicht an Art. 33 Abs. 4 GG orientierten Einsatz von Beamten aus. Dieser erfolgt oftmals nach zufälligen historischen Gegebenheiten oder orientiert sich an (kurzfristigen) politischen Anliegen, wie der Verhinderung von 42 Dazu grundlegend BVerfGE 128, 326 (367 ff.) – Sicherungsverwahrung, st. Rspr.; siehe auch vgl. BVerfGE 111, 307 (327) – Görgülü.

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Streiks oder der Einsparung von Sozialversicherungsbeiträgen. Grundlegendere institutionelle und ordnungspolitische Erwägungen finden sich kaum. Zahlreiche hoheitliche Aufgaben werden mittlerweile durch Tarifbeschäftigte wahrgenommen,43 weil der Staat nicht willens oder nicht in der Lage ist, das notwendige Personal zu rekrutieren. Soweit nach der Wiedervereinigung in den neuen Ländern der Versuch unternommen wurde, etwa bei Lehrern zu einer rationaleren Verbeamtungspraxis zu gelangen,44 ist er weitgehend im Sande verlaufen.45 Das wirkt delegitimierend. Soweit in der öffentlichen Verwaltung zum anderen neben Beamten auch (Tarif-) Beschäftigte eingesetzt werden, auf die in der Regel die allgemeinen arbeitsvertraglichen Bestimmungen Anwendung finden, empfängt das zivile Arbeitsrecht zwar auch Impulse aus dem Beamtenrecht; deutlich mehr strahlt das Arbeits- und Tarifrecht jedoch auch auf das Beamtenrecht aus. Die Arbeitszeitregelungen, die Besoldungsanpassungen im Gefolge von Tarifabschlüssen und die Parallelisierung von Beihilfe- und Sozialversicherungsregelungen seien hier nur pars pro toto genannt. Das hat zu einer Nivellierung der Unterschiede zwischen Beamten und Tarifbeschäftigten geführt sowie zu einer zunehmenden Homogenität des öffentlichen Dienstes46 und erhöht den Druck auf eine noch weitere Angleichung der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen. Dass auch dies zu einer nachhaltigen Delegitimierung des Beamtenstatus beiträgt, liegt auf der Hand. 2. Tatsächliche Probleme Zu den tatsächlichen Problemen des Beamtenrechts gehört eine zunehmend unattraktive Besoldung. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur W2-Besoldung in Hessen,47 das Urteil des Verfassungsgerichtshofes Nordrhein-Westfalen zur Besoldung des höheren Dienstes48 sowie zahlreiche Richtervorlagen nach Art. 100 Abs. 1 GG zeigen, dass sich hier über die Jahre hinweg ein zunehmend problematischer Befund aufgebaut hat, der die Leistungsfähigkeit des Staates insgesamt in Frage stellen kann. In manchen Bereichen, etwa in der Psychiatrie oder im Bankensektor, gelingt es schon heute nicht mehr, geeignetes Personal zu rekrutieren, und nicht wenige Privatisierungen sind bzw. waren auch von dem Bestreben getragen, Personal zu gewinnen, das für eine beamtenrechtliche Alimentation nicht zur Verfügung stand.

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BVerfGE 130, 76 ff. – Hessischer Maßregelvollzug durch Beliehene. Siehe dazu P. M. Huber (Fn. 13), DV (1996), 437 (457 ff.). 45 Eine gewisse Ausnahme bildet insoweit der Freistaat Sachsen. 46 Für Frankreich P. Gonod (Fn. 4), § 75 Rn. 62; für Österreich M. Holoubek (Fn. 4), § 79 Rn. 63; für Schweden L. Marcusson (Fn. 4), § 82 Rn. 17. 47 BVerfGE 130, 263 ff. – W2-Besoldung. 48 Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 01. 07. 2014 – 21/13 –, juris. 44

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Als Hindernis für einen leistungsfähigen öffentlichen Dienst – nicht nur in Deutschland – erweist sich auch die Ämterpatronage durch die politischen Parteien.49 Zwar kann ihr mit Instrumenten wie dem Bundes- oder Landespersonalausschuss oder der beamtenrechtlichen Konkurrentenklage ansatzweise begegnet werden; ein Allheilmittel sind sie jedoch nicht. Und es sind nicht immer nur die Bestqualifizierten, die von diesem Instrument Gebrauch machen. In der Summe ist all dies geeignet, das Ethos des Berufsbeamtentums, die im Interesse von Rechtsstaat und Demokratie bestehende Verpflichtung zur „vollen Hingabe“ zu schwächen. Die Krankenstände mancher Behörden, aber auch der Widerwille, mit dem nach 1990 viele Einrichtungen ihren Umzug an Standorte in den neuen Ländern bekämpft haben, machen deutlich, dass hier nicht alles zum Besten steht. IV. Perspektiven Im Ergebnis erscheint ein rationalerer, an Art. 33 Abs. 4 GG ausgerichteter Einsatz von Beamten für die langfristige Akzeptanz des Berufsbeamtentums unverzichtbar. Er würde die Anzahl der Beamten zugleich begrenzen und zu einer Parallelisierung des deutschen Beamtenrechts mit den Wertungen von Art. 45 Abs. 4 AEUV und Art. 11 EMRK führen. Das Berufsbeamtentum gewönne damit wieder ein klares Profil und wäre im besten Sinne zukunftsfähig. Gelingt dies nicht, wird sich auf mittlere Sicht die von der Bull-Kommission bereits aufgeworfene Frage nach dem Verzicht auf das Berufsbeamtentum stellen, wie ihn etwa die Schweiz vor noch nicht allzu langer Zeit vollzogen hat.50 Demokratie und Rechtsstaat in Deutschland wäre damit eher nicht gedient.

49 50

Für Griechenland P.-M. Efstratiou (Fn. 4), § 76 Rn. 40. Für die Schweiz T. Jaag (Fn. 6), § 83 Rn. 86.

Verfassungsrechtliche Grenzen der Steuerfahndung Von Friedhelm Hufen, Mainz I. Steuerfahndung und Grundrechtsschutz: Zwei getrennte Welten? Das Thema „Grenzen der Steuerfahndung1“ liegt nicht im Trend der Zeit. Angesichts aktueller Fälle erklingt landauf landab vielmehr der Ruf nach einer Intensivierung der Steuerfahndung. Obwohl nach allen amtlichen Statistiken die Steuereinnahmen sprudeln wie noch nie, will es gelegentlich scheinen, als ob Steuerhinterziehung zu den größten Problemen organisierter und nicht organisierter Kriminalität gehörten. Die atemberaubende Karriere der Steuerhinterziehung vom Kavaliersdelikt zum Staatsverbrechen äußert sich nicht nur im nationalen, sondern im internationalen Bereich. Da werden befreundete Staaten schon einmal mit Indianern verglichen, denen man mit der Kavallerie drohen muss2. Die Millionenzockerei eines Fußballmanagers und das Schwarzgeldkonto einer militanten Feministin in der Schweiz beschäftigen über Monate nicht nur die Boulevardpresse, sondern auch die rechtspolitische Diskussion. Steuerstrafverfahren erregen öffentliches Interesse und öffentliche Empörung wie sonst nur Schwerverbrechen oder Kinderpornographie. Politik und auch höchstrichterliche Rechtsprechung weisen Steuerdelikten heute ähnliches Gewicht zu wie früher Hochverrat und Kapitalverbrechen. Steuerhinterziehung als „Hochverrat am Sozialstaat“ führt zu ansonsten seltenen höchstrichterlichen Direktiven wie der „eine Million-Regel“ des BGH, wonach ab einer Summe von mehr als einer Million hinterzogener Steuer eine Bewährungsstrafe in der Regel nicht mehr in Betracht komme3. Das Stopfen von „Steuerschlupflöchern“ und die Verschärfung von Fahndungsmaßnahmen an den Grenzen sind überaus populär – so populär, dass schon die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Mittel oder nach der Legitimität der Maßnahmen fast anrüchig erscheint. Was es bedeutet, wenn die Behörden eines Rechtsstaats Millionenbeträge an Steuergeldern einsetzen, um von höchst fragwürdigen „Vertragspartnern“ nicht nur nach dem Strafrecht des Herkunftslandes, sondern auch nach deutschem Strafrecht (§ 353 d StGB; § 17 Abs.1 UWG) strafbaren Geheimnis1 Der Begriff der Steuerfahndung wird hier nicht im engeren Sinne des § 208 AO verstanden, sondern soll auch diejenigen Stadien des Steuerstrafverfahrens erfassen, die sich auf die Erforschung von Steuerstraftaten und Steuerordnungswidrigkeiten beziehen. 2 So der ehemalige Bundesfinanzminister Steinbrück in einem Interview anlässlich des G 20 Gipfels 2009. 3 BGH, NJW 2009, 528; BGH, NJW 2012, 1458.

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verrat – bekannt geworden unter dem Stichwort „Ankauf einer Steuer-CD“ – zu bezahlen und damit – ganz nebenbei – einen lukrativen Markt für solche „Produkte“ zu schaffen, gerät dabei vollends aus dem Blick. Umso mehr in den Blick einer sensationsgierigen Öffentlichkeit kommen aber Prominente, die in den Verdacht der Steuerhinterziehung geraten sind. Da werden schon einmal Presse und Fernsehen direkt oder indirekt von einer bevorstehenden Verhaftung informiert, die dann geradezu zur öffentlichen Schaustellung gerät. Schon die Eröffnung eines Steuerstrafverfahrens beendet politische und wirtschaftliche Karrieren. Stichworte wie Unschuldsvermutung und Persönlichkeitsrechte der Betroffenen werden geradezu mühelos übersprungen. Einer vor Schadenfreude sabbernden Öffentlichkeit wird – wenn schon nicht der Delinquent in Anstaltskleidung und mit Brotsuppe – so doch wenigstens das Innere seiner mutmaßlichen Zelle im Rahmen eines „Tages der offenen Tür“ einer Justizvollzugsanstalt vorgeführt4. Ich möchte nicht missverstanden werden: Steuerhinterziehung ist ein Vergehen und schwere Steuerhinterziehung kann und muss schwer bestraft werden. Weder ein chaotisches Steuersystem noch das Ausbleiben einer auch nur die gröbsten Missstände beseitigenden Reform rechtfertigen die „Selbsthilfe“ durch unkorrektes oder strafbares Handeln. Auch der gelegentlich zu lesende sanfte Hinweis, dass es neben den großen Steuerhinterziehern die vielen kleinen Abrechnungsbetrüger und Auftraggeber für Schwarzarbeit gibt, ändert nichts an diesem Befund: Steuerfahndung muss sein und Steuerstraftaten müssen verfolgt und bestraft werden. Die Frage nach den verfahrensrechtlichen und verfassungsrechtlichen Grenzen der Steuerfahndung und des Steuerstrafverfahrens scheint gleichwohl angebracht. Anders als Rudolf Wendt ist der Verfasser dieser Zeilen nicht Steuerrechtler. Aber die jahrzehntelange Befassung mit Grundrechten, rechtsstaatlichen Verfahren, Fehlern im Verfahren, die gerade in den vergangenen Jahren eingeübte Sensibilität für die Verletzlichkeit von Persönlichkeitsrechten – auch und gerade von sogenannten Prominenten – verstärken jedoch den Eindruck: Wer sich aus rechtsstaatlicher und grundrechtlicher Sicht mit Steuerfahndung und Steuerstrafverfahren befasst, befindet sich plötzlich in einer „anderen Welt“. Im Folgenden wird es um den Versuch einer Annäherung beider Welten gehen. Das bedeutet vor allem, die Einhaltung rechtsstaatlicher Verfahren und des Grundrechtschutzes auch und gerade dort einzufordern, wo es um die Öffentlichkeit so sehr elektrisierenden Steuerstraftaten prominenter Bürgerinnen und Bürger geht. Mit Rudolf Wendt ist dieser Beitrag einem Freund und Kollegen gewidmet, der wie nur wenige andere in beiden Welten, denen des Steuerrechts und des Verfassungsrechts, heimisch ist und immer wieder die Brücke von Steuerrecht und Steuerverfahren zu

4 Die JVA Landsberg veranstaltete angesichts des anbrandenden Medieninteresses offenbar einen solchen „Tag der offenen Tür“, um der Presse gewünschte Bilder über die Haftbedingungen des prominenten Häftlings U. H. zu liefern. Scharfe Kritik auch bei R. Hank/von Petersdorff, FAS, 09. 02. 2014, S. 22.

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Grundrechten wie Eigentum, Persönlichkeitsrecht, Meinungs- und Pressefreiheit betreten und weitergebaut hat5. Aus der Fülle der sich mit dem Thema „Grenzen der Steuerfahndung“ aufdrängenden Fragen sollen dabei die Grenzen der Sachaufklärung und insbesondere der Ankauf und die Verwertung von widerrechtlich erlangten Steuerdaten (II.) unter die Lupe des Verfassungsrechts genommen werden. Im zweiten Themenbereich wird es um die grundrechtlichen Schranken der Öffentlichkeitsarbeit von Steuerbehörden, Staatsanwälten und Gerichten gehen (III.). II. Grenzen der Sachaufklärung – Anfangsverdacht durch „Steuer-CD“? Dieses Szenario hat sich in jüngster Zeit vielfach abgespielt: Name und Konto – also nicht etwa die Höhe zu zahlender oder gar hinterzogener Steuer – tauchen auf einer durch die Finanzverwaltung eines Bundeslandes von einem Insider erworbenen CD mit Bankdaten aus der Schweiz, Liechtenstein oder Luxemburg auf. Das zuständige Amtsgericht ordnet daraufhin die Durchsuchung von Privatwohnungen der betroffenen Kunden, aber z. B. auch von Kanzleiräumen einer Vermögensberatungsgesellschaft an – letztere wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung. Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass nur ein Bruchteil nach diesem Szenario ablaufender Verfahren zu einer Bestrafung der Täter oder gar der Helfer führte. Gleichwohl haben sich anscheinend nur wenige Betroffene über Beschwerdeverfahren hinaus gegen die Maßnahmen gewehrt. Nachdem eine Kammer des BVerfG bereits im Jahr 2009 die Verwertung derartiger Daten jedenfalls für den Regelfall und bei oberflächlicher Betrachtungsweise gebilligt hatte6, galt das Thema als „erledigt“: „Das“ BVerfG habe „grünes Licht“ für Ankauf und Verwertung von Steuer-CDs gegeben. Allerdings ist gegenwärtig noch mindestens ein weiteres „prominentes Verfahren“ beim BVerfG anhängig7. Ausführlich mit der Problematik befasst hat sich neuerdings auch der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz8, wobei in den einschlägigen Reaktionen der Presse und der Politiker allerdings die deutlichen Mahnungen einer stärkeren gerichtli5 Exemplarisch etwa die Beiträge zum Recht am eigenen Bild als strafbewehrter Schranke der verfassungsrechtlich geschützten Kommunikationsfreiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG (AfP 2004, 181 ff.); die Kommentierung zu Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und Rundfunkfreiheit im Kommentar von v. Münch/Kunig sowie zu Art. 14 im GG Kommentar von Sachs sowie – last but not least – die umfassende Habilitationsschrift zum Kardinalthema: „Eigentum und Gesetzgebung“ (1985). 6 BVerfG, Kammer NJW 2011, 2417; ähnl. bereits BVerfG, Kammer, 2. 7. 2009, NJW 2009, 3225. 7 AZ 2 BvR 2551/12. 8 VerfGH Rh.-Pf., NJW 2014, 1434. Der Verf. war als Mitglied des VerfGH an diesem Urteil beteiligt; die Darstellung gibt ausschließlich seine persönliche wissenschaftliche Meinung wieder.

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chen Kontrolle und die durch den VerfGH gesetzten Schranken der Sachaufklärung geflissentlich übersehen und das Urteil vor allem als Bestätigung der Ankaufpraxis gedeutet wurde. Auf dieses Urteil wird zurückzukommen sein. Würde man die Fälle „klausurmäßig lösen“, so ginge es nicht um die abstrakte Frage der Verfassungsmäßigkeit „der“ Steuerfahndung oder auch isoliert um die Erhebung und Verwertung derartiger Daten als solche. Auf letztere konzentriert sich die Praxis aber nahezu ausschließlich, zäumt damit aus grundrechtlicher Sicht allerdings das Pferd vom Schwanze her auf. Maßgeblich wäre aber, ob eine konkrete Maßnahme – in unserem Szenario also die Wohnungsdurchsuchung – den Schutzbereich eines Grundrechts – also hier vor allem der Wohnungsfreiheit (Art. 13 GG) – berührt (1), ob darin ein Eingriff liegt (2) und ob der Eingriff verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist (3). Das ist er nur dann, wenn eine gesetzliche Eingriffsgrundlage vorliegt, diese grundrechtskonform angewandt wurde und die Maßnahme verhältnismäßig ist. Erhebung und Verwertung der Steuer-CD sind also erst auf der dritten Stufe unter dem Stichwort „rechtmäßiges Verfahren“ zu beurteilen9. 1. Schutzbereich der Wohnungsfreiheit (Art. 13 GG) Dass es sich bei einer Privatwohnung des Steuerzahlers um eine verfassungsrechtlich geschützte Wohnung im Sinne von Art. 13 GG handelt, muss nicht begründet werden10. Dieses Grundrecht ist auch auf die Geschäftsräume einer Vermögensberatungsgesellschaft und einer Anwaltskanzlei anwendbar11. Für letztere tritt dabei weniger der Schutz der individuellen Lebenssphäre als vielmehr der Schutz der in den Räumen bewahrten Daten, Informationen und Geschäftsgeheimnisse in den Mittelpunkt12. Im Hinblick auf die Suche nach persönlichkeitsrelevanten Daten besteht ein Überschneidungsbereich mit dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung13. Soweit bei der Durchsuchung auf Computer und andere elektronische Daten zugegriffen wird, sind die entsprechenden Eingriffe ferner im Lichte des Grundrechts auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme zu überprüfen14. 2. Eingriffe Im vorgestellten Ausgangsszenario waren Privat- und Geschäftsräume Objekt einer „ziel- und zweckgerichteten Suche durch staatliche Organe nach Sachen 9 Landesverfassungsrechtlich bedingt, wählt der VerfGH Rheinland-Pfalz einen etwas anderen Ansatz, in dem er das nach Art. 7 I RhPfVerf. gesondert geschütztes Recht auf ein faires Verfahren zum Prüfungsmaßstab nimmt, NJW 2014, 1434. 10 BVerfG 109, 279, 309 – Großer Lauschangriff; ausführlich Hufen, StaatsR II, 4. Aufl. 2014, § 15 Rn. 3ff. 11 BVerfGE 32, 54, 68; 96, 44, 51; zuletzt BVerfGE 120, 274, 309. 12 BVerfGE 109, 279, 309. 13 BVerfGE 65, 1 ff. – allg. dazu Hufen, Staatsrecht II. Grundrechte 4. Aufl. 2014, §12. 14 BVerfGE 120, 274, 302 – Online Durchsuchung.

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bzw. zur Ermittlung eines Sachverhalts, um etwas aufzuspüren, was der Inhaber der Wohnung von sich aus nicht offenlegen oder herausgeben will“, also einer Durchsuchung im Sinne von Art. 13 Abs. 2 GG15. In dem Durchsuchungsbeschluss, dessen Bestätigung durch das Amtsgericht und ggf. das Landgericht im Beschwerdeverfahren und der auf dessen Basis durchgeführten Durchsuchung einschließlich der Beschlagnahme zahlreicher Unterlagen und gespeicherter Daten, liegen gravierende Eingriffe in das Grundrecht aus Art. 13 GG und Art. 2 Abs. 1 i.V. mit Art. 1 GG. In der Speicherung und Weitergabe derjenigen Informationen, die durch eine Durchsuchung erlangt wurden, liegt ein Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung16. 3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung a) Gesetzesvorbehalt Die genannten Grundrechtseingriffe sind als gezielte Durchsuchungen nur dann verfassungsrechtlich gerechtfertigt, wenn Sie die Voraussetzungen des Art. 13 Abs. 2 GG erfüllen. Obwohl Art. 13 Abs. 2 GG keinen förmlichen Gesetzesvorbehalt enthält, besteht Einigkeit, dass Durchsuchungen nur auf gesetzlicher Grundlage erfolgen dürfen17. Eingriffsgrundlage ist – soweit es um potentielle Täter geht – § 102 StPO, bei anderen Personen (etwa Vermögensberatern und Banken) § 103 StPO. Zu beachten ist ferner, dass eine Durchsuchung einschließlich des sie anordnenden Beschlusses nur in der gesetzlich vorgesehenen Form erfolgen darf. Ein Durchsuchungsbeschluss und die auf seiner Basis durchgeführte Durchsuchung sind also verfassungsrechtlich nur gerechtfertigt, wenn die gesetzlichen Formvorschriften eingehalten wurden. b) Hinreichend begründeter Tatverdacht Unabhängig von der Herkunft der verdachtsbegründenden Daten ist ein hinreichend konkreter Verdacht einer Straftat Voraussetzung jeder Durchsuchung. Der Verdacht muss auf konkreten Tatsachen beruhen; vage Anhaltspunkte oder bloße Vermutungen reichen nicht aus18. Auch muss der Verdacht bereits bestehen und darf nicht etwa erst durch die Durchsuchung begründet werden. Schon insofern ist es höchst fraglich, ob die Führung eines Kontos in der Schweiz oder ein als solcher nicht verbotener Kapitaltransfer ins Ausland einen hinreichenden 15 BVerfGE 75, 83, 89 – st. Rspr.; Hermes, in: Dreier GG, Art. 13, Rn. 44; Hufen, Staatsrecht II, 3. Aufl. § 15, Rn. 11. 16 BVerfGE 109, 279, 374 – großer Lauschangriff. 17 Papier, in: Maunz/Dürig, GG Art. 13, Rn. 21; Jarass/Pieroth, GG, 13. Aufl. (2014), Art. 13, Rn 16; Hermes, in: Dreier, GG, 3. Aufl. (2013), Art. 13, Rn. 48 f.. 18 BVerfGE 44, 353, 381; 59, 95, 97; BVerfG, Kammer, 05. 05. 2011, NJW 2011, 2275; BVerfG, Kammer, 05. 03. 2012, NJW 2012, 2097.

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Tatverdacht der Steuerhinterziehung begründen. Selbst die auf einer „Steuer-CD“ angegebenen Kontenstände besagen als solche nichts aus über eine strafbare Steuerhinterziehung. Schon gar nicht kann die Beschäftigung eines früheren Bankmitarbeiters einer Luxemburger Bank (wie in einem nordrhein-westfälischen Fall geschehen) die Durchsuchung bei dessen jetzigem Arbeitgeber rechtfertigen19. c) Insbesondere: Das Problem des Ankaufs und der Verwendung der „Steuer-CD“ Keineswegs abschließend geklärt ist bis jetzt die Frage, ob der für eine Wohnungsdurchsuchung erforderliche Anfangsverdacht einer Steuerhinterziehung auf Daten gestützt werden kann, die sich auf eine unter Verstoß gegen geltendes Recht – insbesondere strafbaren Geheimnisverrat – gewonnene Informationsquelle stützen20. Amts- und Landgerichte drücken sich um die damit verbundenen Probleme in der Regel dadurch, dass sie zum einen nur die Frage eines möglichen Verwertungsverbots stellen, bei der in der Tat der bereits zitierte Kammerbeschluss des BVerfG21 – abgesehen von Eingriffen in den unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung22 sowie „schwerwiegenden, bewussten oder willkürlichen Verfahrensverstößen, bei denen die grundrechtliche Sicherungen planmäßig oder systematisch außer Acht gelassen worden sind“ – denkbar großzügige Maßstäbe walten läßt. Die Frage eines durch die Gerichte durchaus noch zuvor zu prüfenden Erhebungsverbots wird dabei erst gar nicht gestellt. Zum anderen finden sich Argumente wie: Der Ankauf sei nicht als Hehlerei strafbar, da es sich nicht um eine Sache im Sinne von § 259 StGB handle; ein möglicherweise völkerrechtswidriges Geschehen sei im Zeitpunkt des Ankaufs bereits abgeschlossen und eine mögliche Straftat des Informanten jedenfalls dem Staat nicht zurechenbar23. Verfassungsjuristen müssen angesichts solcher Argumente eigentlich die Haare zu Berge stehen: Abgesehen davon, dass es im Rechtsstaat nicht nur um die Vermeidung von „schwerwiegenden, bewussten oder willkürlichen Verfahrensverstößen“ 19

So die Beschlüsse des Amtsgerichts Bochum vom 14. 10. 2011, AZ 64 Gs 3520/11, und vom 17. 02. 2012, AZ 64 Gs 3520/11, sowie des Landgerichts Bochum vom 04. 10. 2012, AZ II-6 Qs-360; Js 1/11 (1809)-2/12. 20 Vgl. nur die teilweise scharfe Kritik in der Literatur, etwa Haensle/Reichhold, Heiligt der Zweck die Mittel? Zur rechtlichen Zulässigkeit des Ankaufs von Steuerdaten, DVBl. 2010, 1277; Pawlik, Zur strafprozessualen Verwertbarkeit rechtswidrig erlangter ausländischer Bankdaten, JZ 2010, 693; F. Reimer, Nochmals: Zum Ankauf rechtswidrig erlangter ausländischer Bankdaten durch deutsche Behörden, FS Bryde 2013, 443 ff.; Schwabenbauer, Verwertung von Zufallsfunden einer verfassungswidrigen Durchsuchung, NJW 2009, 3207. 21 BVerfG, Kammer, NJW 2011, 2417 und zuletzt auch BVerfG, NJW 2013, 1499 – Antiterrordateigesetz. 22 BVerfG, NJW 2011, 2417, Rn. 29, unter Berufung auf BVerfGE 113, 29, 61 – Anwaltsdaten. 23 Exemplarisch LG Bochum, NStZ 2010, 351.

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und die Sicherung gegen „planmäßig oder systematisch außer Acht gelassene Grundrechtseingriffe“ geht, sondern dass Behörden und Gerichte grundsätzlich an Gesetz und Recht gebunden sind und auch „unplanmäßig und unsystematisch“ nicht in die Grundrechte der Bürger eingreifen dürfen, lenkt die Konzentration auf das Verwertungsverbot von der eigentlich relevanten Frage ab, ob überhaupt Behörden und Gerichte aufgrund einer strafbaren Handlung erlangte Daten erheben, sich also – zumindest im untechnischen Sinne – zu Hehlern und zu Profiteuren einer Straftat machen dürfen. Diesen Unterschied hat – anders als die zitierte Kammer des BVerfG – der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz in seinem Urteil vom 24. 02. 201424 klar hervorgehoben. Auch er betont zwar, dass selbst eine rechtswidrige Beweiserhebung nicht ohne weiteres zu einem Verwertungsverbot führe, trennt aber strikt Erhebung und Verwertung der Daten und ruft in Erinnerung, dass es auch im Strafverfahren keine Wahrheitserforschung um jeden Preis geben könne. Bereits bei der Anordnung einer die Grundrechte eingreifenden Maßnahme müsse die Rechtmäßigkeit der Beweiserhebung im Blick behalten und nicht etwa allein an den engeren Voraussetzungen als Beweisverwertungsverbot ausgerichtet werden. Bestehen greifbare Anhaltspunkte dafür, dass Informationen in rechtswidriger oder gar strafbarer Weise gewonnen worden sein könnten, so resultiere nicht zuletzt aus dem Recht auf ein faires Verfahren eine umfassende Prüfungspflicht des jeweiligen Gerichts, ob ein Verwertungsverbot in Betracht komme. Insofern müsse auch der Sachverhalt der Informationserhebung aufgeklärt werden, um auf dieser Grundlage ggf. nach Abwägung der für und gegen die Verwertung sprechenden Gesichtspunkte zu entscheiden. Wenn der VerfGH dies auch nicht am Prüfungsmaßstab der Wohnungsfreiheit, sondern anhand des Grundsatzes des nach rheinland-pfälzischem Verfassungsrecht besonders geschützten fairen Verfahrens entwickelt, so wird doch deutlich, dass der Steuerfahndung und der deren Ergebnisse verwertenden Gerichte künftig deutliche Grenzen gesetzt sind. Insbesondere dürfen sie Informationen nicht allein mit der Erwägung beschaffen oder zulassen, dass der Rechtsverstoß jedenfalls nicht ohne weiteres ein Verwertungsverbot mit sich bringt. Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass jedenfalls nach rheinland-pfälzischem Verfassungsrecht künftig ein Überspringen der Frage des Erhebungsverbots nicht mehr in Betracht kommt. So ist zu Recht vermutet worden, dass der VerfGH absehbar eine Situation gekommen sieht, in der der dauerhafte Ankauf von Steuerdaten-CD durch deutsche Finanzbehörden als eine Anstiftung zu einer Straftat zum Nachteil der jeweiligen ausländischen Banken zu bewerten ist25. Die Gerichte dürfen also nicht mehr darauf vertrauen, dass solche Beweismittel nicht in rechtswidriger oder strafbarer Weise erlangt wurden. Angesichts der Bedeutung der Fragestellung kann man nur hoffen, dass auch das BVerfG in den noch anhängigen Verfahren die Verantwortung der Gerichte nicht nur 24 25

VerfGH Rhld.-Pf., NJW 2014, 1434, 1435. Wegner, Steuerkartei 2014, 106.

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für willkürfreies und vollkommen planwidriges Eingreifen, sondern auch für ein grundsätzlich rechtmäßiges Verhalten der Behörden betont und damit dem rechtsstaatlichen Horrortrip des Handels mit gestohlenen Daten ein Ende bereitet. d) Weitere Voraussetzungen der Verfassungsmäßigkeit: Bestimmtheit, Richtervorbehalt, Verhältnismäßigkeit Aus naheliegenden Gründen bildete die Frage der „Steuer-CD“ einen besonderen Schwerpunkt dieses Beitrags. Aus ebenso naheliegenden Gründen bleibt für die weiteren Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen wenig Raum. Allerdings befindet sich der Verfassungsjurist von nun an auch auf vertrautem Terrain. Grenzen der Hausdurchsuchung im Rahmen des Steuerstrafverfahrens ergeben sich zum einen aus dem Bestimmtheitsgrundsatz. So muss die richterliche Durchsuchungsanordnung nicht nur im Hinblick auf den konkreten Tatverdacht, sondern auch bei der Festlegung des Durchsuchungszieles und der zu suchenden Gegenstände rechtsstaatlichen Begründungs- und Bestimmtheitsanforderungen genügen, um im Rahmen des Möglichen und Zumutbaren sicherzustellen, dass der Grundrechtseingriff messbar und kontrollierbar bleibt26. Unter keinen Umständen – und schon gar nicht allein aufgrund der bloßen Nennung auf einer „Steuer-CD“ – durfte es unter den Kunden Schweizer oder Luxemburger Banken zu einer Art „Raster- oder „Schleppnetzfahndung“ kommen, die ohne konkrete Anhaltspunkte darauf vertraut, man werde bei einer Durchsuchung aus der Fülle des Materials schon etwas Belastendes finden. Bei allen Formen und Anlässen von Wohnungsdurchsuchungen spielt ferner der Richtervorbehalt des Art. 13 Abs. 2 GG – abgesehen von der Ausnahme der Anordnung durch andere Organe bei Gefahr im Verzug – eine rechtsstaatlich unabdingbare Rolle. Dabei darf die Einschaltung des Richters nicht bloße Formsache sein. Sinn des Richtervorbehalts ist gerade, dass eine unabhängige und eigenverantwortliche Prüfung der Durchsuchungsmaßnahme und deren Gründe gewährleistet wird27. Dazu gehört – wie dargelegt – auch die Prüfung, ob nicht nur die Verwertung, sondern auch die Erhebung bestimmter Daten zulässig ist. Da die Schranke des Art. 13 GG keine materiellen Anforderungen an die Zulässigkeit einer Durchsuchung normiert, kommt der Prüfung der Verhältnismäßigkeit sowohl im Hinblick auf die Schwere der Tat28 als auch auf das Gewicht der Verdachtsmomente besondere Bedeutung zu. Diese muss auch bei Steuerdelikten die

26

BVerfGE 20, 162, 223; BVerfGE 103, 142, 151; BVerfG, Kammer, NJW 1992, 551; BVerfG, NStZ 2000, 601. 27 BVerfGE 51, 97, 110; 57, 346, 355; 96, 44, 51; 103, 142, 150; BVerfG, Kammer, NJW 2009, 2516; Hermes, in: Dreier, GG, 3. Aufl. (2013), Art. 13, Rn. 50. 28 BVerfGE 59, 95, 97; BVerfG, Kammer, NJW 2011, 291.

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„wohlbegründete Ausnahme“29 sein. Besondere Anforderungen bestehen im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit von Durchsuchungen bei nicht unmittelbar beteiligten Dritten, also den „anderen Personen“ im Sinne von § 103 StPO30. Nochmals strenger sind die Anforderungen, wenn es sich bei dem Dritten um den Angehörigen eines Berufes handelt, der in besonderer Weise auf das Vertrauen seines Mandanten angewiesen ist, also z. B. Rechtsanwalt31, Notar32, aber auch Steuer- und Vermögensberater. III. Grenzen der Öffentlichkeitsarbeit von Steuerfahndung und Staatsanwaltschaft 1. Der „Fall Zumwinkel“ Auch der zweite Teil dieses Beitrags hat sein Ausgansszenario: Am frühen Morgen des 14. Februar 2008 findet sich ein Großaufgebot von Fernseh- und Presse vor dem Privathaus des damaligen Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Post AG Klaus Zumwinkel ein. Unter Anwesenheit der zuständigen Staatsanwältin (bei wie vielen Verhaftungen wird sie wohl sonst persönlich anwesend sein?) wird der blasse Beschuldigte durch ein Spalier von Journalisten und Kameraleuten hindurch abgeführt. Zeitgleich wird das Büro des Managers in der Konzernzentrale in Bonn durchsucht. Wenig später wird der Haftbefehl gegen Kaution ausgesetzt. Das Steuerstrafverfahren wegen Entziehung von knapp unter einer Million Steuern durch eine Stiftungskonstruktion in Liechtenstein endet mit einer Bewährungsstrafe von zwei Jahren. Der Betroffene, so heißt es, hat Deutschland inzwischen verlassen. Erneut stellt sich die Frage der verfassungsrechtlichen Grenzen der Steuerfahndung und des Steuerstrafverfahrens – hier der Öffentlichkeitsarbeit der Staatsanwaltschaft. Immerhin ist es undenkbar, dass Presse und Fernsehen in so großem Umfang anwesend waren, ohne einen „Wink“ von den Ermittlungsbehörden oder der Staatsanwalt erhalten zu haben. 2. Ebenen des Schutzbereichs des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 GG) Die personenbezogene Öffentlichkeitsarbeit der Staatsanwaltschaft kann das allgemeine Persönlichkeitsrecht in mehrfacher Weise tangieren. Legt man die „Sphä-

29 BVerfGG 20, 162, 186; 42, 212, 220; 44, 353, 371; 57, 346, 355; nachdrücklich auch Hermes, in: Dreier, GG Art. 13, Rn. 51. 30 BVerfGE 44, 353, 371. 31 BVerfG, Kammer, NJW 2005, 1707; BVerfG, Kammer, NJW 2008, 1937; BVerfG, Kammer, NJW 2008, 2422; BVerfG, Kammer, NJW 2012, 2096; vgl. auch EGMR, NJW 2010, 2109; Papier, HdBGr IV § 91, Rn. 17. 32 BVerfG, Kammer, NJW 2012, 2096.

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rentheorie“33 zugrunde, dann ist – soweit die Kameraleute wenigstens nicht ins Schlafzimmer vorgelassen werden – zwar nicht der innerste Kern der Persönlichkeit (die „Intimsphäre“) betroffen. Umgekehrt gehören aber eingeleitete Steuerstrafverfahren auch bei Prominenten keineswegs zur der Öffentlichkeit zugänglichen Sozialsphäre, sondern zur geschützten Privatsphäre34, zumal in der Regel jeder Bezug zum öffentlichen Amt oder zur herausgehobenen Stellung in Politik oder Wirtschaft fehlt. Für den Grad des Persönlichkeitsschutzes schafft die Einleitung eines Strafverfahrens keine neue Lage. Deshalb dürfen weder die Polizei noch die Staatsanwaltschaft bei „gewöhnlichen Staatsbürgern“ den Namen eines Beschuldigten in einem Ermittlungsverfahren bekannt geben35. Ist der Name – wie im Falle eines Prominenten – bekannt, so gehören das Strafverfahren und insbesondere der Bereich der privaten Wohnung gleichwohl zur die Öffentlichkeit in der Regel nichts angehenden Privatsphäre. Auch eine angebliche „Vorbildfunktion“ leitender Persönlichkeiten kommt zur Öffnung des geschützten Privatbereichs nicht in Betracht36. Zu letzterem zählen auch unbedingt Wohnung und Privatgrundstück, in die zwar im Rahmen einer gerechtfertigten Hausdurchsuchung oder Verhaftung Vollzugsbeamte eindringen dürfen, die aber damit keineswegs der Presse und sonstigen Dritten offenstehen. „Prominente“ können hier wie jedermann vielmehr grundsätzlich selbst entscheiden, was an Informationen und Bildern aus ihrer Privatsphäre an die Öffentlichkeit gelangt37. Auch das Recht am eigenen Bilde (§ 23 Abs. 1 KUG) gilt in diesem Bereich uneingeschränkt. Kommt es zu Strafverfahren, Durchsuchung und Verhaftung, so hat die Unschuldsvermutung besondere Bedeutung und schützt zumindest bis zur rechtskräftigen Verurteilung – und teilweise über diese hinaus – vor Vorverurteilung und öffentlichem „Pranger“38. 3. Eingriff Schon die Weitergabe von Informationen über ein eingeleitetes Strafverfahren, erst recht aber der „Wink“ aus dem Bereich von Polizei und Staatsanwaltschaft über eine bevorstehende Verhaftung, stellen schwerwiegende Eingriffe in das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen dar. 33 Zu den Grundlagen BVerfGE 27, 1 – Mikrozensus; BVerfGE 34, 238, 245 – Heimliche Tonbandaufnahmen; BVerfGE 80, 367, 373 – Tagebuchaufzeichnung; BVerfGE 101, 361, 379 ff. – Caroline von Monaco: Hufen, Staatsrecht II § 11, Rn. 4. 34 Allg. Albers, Grundrechtsschutz der Privatheit, DVBl. 2010, 1061; zur heutigen Infragestellung des Privaten grundsätzlich Volkmann, Die Tyrannei der Publizität, FAZ 26. 02. 2009. 35 BGH, NJW 1994, 1950, 1951 ff. 36 Anders aber teilweise Jahn, Unangenehme Wahrheiten für Prominente, NJW 2009, 3344. 37 BVerfGE 35, 202, 224 – Lebach; BVerfGE 54, 148, 154, 158 – Eppler; zum besonderen Gewicht von Bildveröffentlichungen etwa BVerfG, Kammer, NJW 2011, 740 – Tochter Caroline; Nettesheim/Diggelmann, Grundrechtsschutz der Privatheit, VVDSTRL 70 (2011) 50, 50. 38 BGH, NJW 2010, 2728 – „Sedlmayer-Mörder“.

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4. Rechtfertigung des Eingriffs Anders als Hausdurchsuchung und Verhaftung findet die Informationstätigkeit von Steuerbehörden und Staatsanwaltschaft keine Eingriffsgrundlage im Strafprozessrecht. Da eine Einwilligung der Betroffenen in der Regel ausscheidet, die presserechtlichen Informationsansprüche (§ 4 LPresseG) keine Befugnis zum Eingriff in Grundrechte verleihen39 und die Informationsfreiheitsgesetze Ausnahmen für laufende Verfahren sowie persönliche und Geschäftsgeheimnisse vorsehen, kommt als Rechtfertigung nur das legitime Informationsinteresse der Öffentlichkeit und damit letztlich die Presse- und Rundfunkfreiheit in Betracht. So sind sowohl behördliche Hinweise als auch die Bereitstellung von Bildern zur Veröffentlichung in Medien bei Personen der Zeitgeschichte durch Presse- und Rundfunkfreiheit in der Regel gerechtfertigt. Die Funktion einer kritischen Presseberichterstattung als „Wachhund der Öffentlichkeit40“ umfasst auch Informationen über Straftaten bekannter Personen41. Das heißt aber nicht, dass jede derartige Mitteilung oder gar das Eindringen in die Privatsphäre gerechtfertigt wären. Auch bei einem bestehenden Tatverdacht und dem Vorliegen von Haftgründen greift die Unschuldsvermutung auch gegenüber der Vorverurteilung in der Öffentlichkeit. Nicht jedes Interesse der Öffentlichkeit ist insofern ein legitimes öffentliches Interesse. Selbst bei schweren Straftaten und dringendem Tatverdacht haben Fotografen auf dem Privatgrundstück eines Prominenten nichts zu suchen – auch und gerade, wenn dieser im Morgengrauen von der Staatsanwaltschaft abgeholt wird. Selbst wenn man – viel zu weitgehend – einen allgemeinen Informationsanspruch über die Straftat eines Prominenten annimmt, gilt hinsichtlich der Mittel der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz42. Bei dessen Anwendung sind die verheerenden Folgen für den Einzelnen gegen das Interesse der Öffentlichkeit gerade an diesen Informationen in diesem Stand des Verfahrens abzuwägen43. Öffentlich zelebrierte Hausdurchsuchung und Verhaftung – ob mit Handschellen oder ohne – kommen unter heutigen Bedingungen stets einer Vorverurteilung in der Öffentlichkeit gleich, stellen den Betroffenen an den Pranger und lassen die Unschuldsvermutung zur grauen Theorie werden. Schließlich gehört die Unschuldsvermutung im Steuerstrafrecht nicht weniger als im allgemeinen Strafrecht zu den „Kernelementen europäischer Rechtsstaatlichkeit44. Betroffene sind bis zum rechtskräftigen Abschluss eines Strafverfahrens in jeder Hinsicht als unschuldig zu behandeln45. All das nützt dem Betroffenen aber nichts, wenn der Verdacht erst einmal in die Öffentlichkeit gelangt. Dann werden Firmen und Familien 39

Dazu Hufen, Staatsrecht II § 27, Rn. 23. So EGMR, NJW 2006, 1645. 41 BVerfG, Kammer, NJW 2006, 2835 – Ernst August von Hannover. Schwerwiegender Verkehrsverstoß Geschwindigkeitsüberschreitung von 81 km/h; BGH, NJW 2006, 599. 42 Ständige Rechtsprechung seit BVerfGE 17, 108, 117. 43 Gounalakis, Verdachtsberichterstattung durch den Staatsanwalt, NJW 2012, 1473. 44 Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG Art. 20 Rn. 26; BVerfGE 74, 358, 370. 45 BVerfGE 74, 358, 370 ff. 40

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in Mitleidenschaft gezogen, Karrieren beendet und persönliche Beziehungen gefährdet. Ein Trommelfeuer von weiteren Informationsbegehren, Paparazzi und „shitstorms“ im Internet wird ausgelöst und führt insgesamt zu dem, was mit „Prangerwirkung“ zu Recht als unbedingt zu vermeiden und die Menschenwürde tangierend bezeichnet wird46. Zu beachten ist hierbei auch, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht nicht nur als Abwehrrecht gegenüber unmittelbaren staatlichen Eingriffen gilt; alle beteiligten staatlichen Organe trifft vielmehr auch eine Schutzpflicht gegen jede Durchbrechung der Persönlichkeitssphäre und persönlicher Geheimnisse durch Dritte47. Nach alledem lief bei der Verhaftung des Steuerverdächtigen Zumwinkel aus rechtsstaatlicher und grundrechtlicher Sicht alles schief, was nur schief laufen konnte. Schon der offensichtliche „Wink“ an Fernsehen und Presse war ein eklatanter und rechtswidriger Grundrechtseingriff. Die anwesende Staatsanwältin und Polizeibeamten hätten die Journalisten und Kameraleute energisch des Grundstücks verweisen und dafür Sorge tragen müssen, dass der Betroffene unbeeinträchtigt und unerkannt ins Polizeipräsidium und wieder heraus gelangen konnte. Auch das „Durchsickern“ von Selbstanzeigen verletzt das Persönlichkeitsrecht und stellt gerade den Zweck des ganzen Verfahrens in Frage. IV. Prüfungsmaßstab Berufsfreiheit (Art. 12 GG) – Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen Nicht untypisch ist die zeitgleiche Durchsuchung der Geschäftsräume des Unternehmens, dessen Vorstandsvorsitzender der Angeschuldigte war. Dabei ist hier nicht bekannt, ob und wie lange die Arbeitsfähigkeit der „Vorstandsetage“ beeinträchtigt wurde. In den eingangs geschilderten Fällen der Durchsuchung bei einer Vermögensgesellschaft wurden nicht nur die Räume blockiert, durch die Beschlagnahme von Computern und Akten wurde auch die Arbeitsfähigkeit des Unternehmens sowie dessen Ruf in der Öffentlichkeit nachhaltig geschädigt. Soweit Geschäftsgeheimnisse offenbart wurden, kommt gleichfalls Art. 12 GG als verletzt in Betracht. Firmen und Kanzleien haben keine Persönlichkeitsrechte, aber sie können durch Informationen nachhaltig geschädigt werden. Ohne hier den bekannten Streit aufzugreifen, ob wahrheitsgemäße Informationen einen Grundrechtseingriff darstellen48, gefährden öffentliche Durchsuchungen und die Verhaftung leitender Mitarbeiter immer den guten Ruf und das Vertrauen, auf die gerade Vermögensberatungsgesellschaften, Steuerberater und Rechtsanwälte angewiesen sind. Prüfungsmaßstab ist, selbst wenn man einmal das Recht auf den eingerichteten und ausgeübten Gewerbe46 So im Ergebnis auch Gröpl, Der Fall Zumwinkel – Wie weit darf der Rechtsstaat gehen?, NJW-Editorial Heft 12/2008; R. Hank/von Petersdorff, Die Amoral des Staates, FAS, 09. 02. 2014, S. 22. 47 So zu Recht Sydow, Staatliche Verantwortung für den Schutz privater Geheimnisse, DV 2005, 35 ff. 48 BVerfGE 105, 252, 265 – Glykolwein; krit. Schoch, DVBl. 1991, 667.

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betrieb außer Acht lässt49, insoweit Art. 12 GG. Dieser schützt auch den guten Ruf eines Unternehmens sowie Betriebs- und Geschäftsgeheimisse50. Auch hier stellt die voreilige Bekanntgabe des Verdachts einer Beteiligung an Steuerstraftaten einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff dar, auch hier drohen Häme und Ansehensverlust51. Deshalb gelten für die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs52 und die Abwägung mit dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit dieselben Grundsätze wie bei Privatpersonen, was dazu führt, dass außer bei schwerwiegenden Straftaten, einem besonders naheliegenden Tatverdacht und einer besonderen öffentlichen Funktion der Firma eine derartige Bekanntgabe zumindest in diesem Stadium des Verfahrens nicht in Frage kommt. V. Zum guten Schluss Die hier gezeigten Szenarien und Fälle sollen Nachdenken bewirken: Darüber, dass ein demokratischer Rechts- und Sozialstaat Steuerhinterziehung verfolgen muss, will er nicht – wie selbst aus dem Bereich von EU-Mitgliedsstaaten bekannt ist – zum fiskalischen „Problemstaat“ werden; aber auch darüber, dass rechtsstaatlich korrekte Verfahren und Achtung vor den Persönlichkeitsrechten zu den Minimalvoraussetzungen von Legitimität und Akzeptanz des Staates und seines Steuersystems gehören. Die unbedingte Rechtstreue des Staates ist Mindestvoraussetzung der unbedingten Rechtstreue seiner Bürger. Greift der Staat selbst zu unkorrekten Mitteln, dann darf er sich nicht wundern, wenn auch Rechtstreue und Akzeptanz auf Seiten der Bürger Schaden nehmen. Außerdem: Bei allem Verständnis für das Informationsinteresse der Öffentlichkeit zeigen die Fälle auch, dass wir über den Schutz des Persönlichkeitsrechts – auch und gerade von „Prominenten“ – neu nachdenken müssen. Aber es gibt auch eine noch tiefere Dimension unseres Themas. So wichtig Steuerdisziplin und damit auch Steuerfahndung sind, so deutlich wird auch der Zusammenhang zum unerfüllten Auftrag eines gerechten und glaubwürdigen Steuersystems. Ist dieses in seinen Regeln, Privilegien und Ausnahmen nicht mehr nachvollziehbar, belastet es in so auffälliger Weise nicht nur die Spitzenverdiener, sondern 49 Offen gelassen in BVerfGE 66, 116, 145 – Wallraff; zuletzt BVerfG, Kammer, NJW 2010, 3501 – Genmilch. 50 Zum Schutz von Betriebsgeheimnissen BVerfGE 115, 205, 229 242 – Telekom; BVerfGE 128, 1, 56 – Gentechnik; H. A. Wolff, Der verfassungsrechtliche Schutz der Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse, NJW 1997, 98. 51 So fand sich etwa im Internet nach der Bekanntgabe einer Hausdurchsuchung bei einer Vermögensberatungsgesellschaft nicht nur der übliche Hinweis auf die Zugehörigkeit zu einem Großkonzern („Milliardärsfirma im Visier“), sondern eine handfeste verallgemeinernde Vorverurteilung: „Machen wir uns doch nichts vor: Firmen, die sich Vermögens-Management GmbH schimpfen, sind einzig und alleine dazu da, Vermögen erfolgreich vor dem Finanzamt zu verstecken“. 52 Zu dessen Anwendung bei Art. 12 GG BVerfGE 30, 292, 315.

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auch die Leistungsträger des Mittelstandes und der Facharbeiter durch die „kalte Steuerprogression“, kann der Einzelne weder Bemessungsgrundlagen noch Absetzungsmöglichkeiten nachvollziehen, wird der Steuerberater weit vor Arzt, Notar und Architekt zum wichtigsten Lebensberater der Menschen, dann wird offenbar, dass die Probleme letztlich nur durch die längst überfällige grundlegende Reform des Steuerrechts zu lösen sind – und dies nicht nur in Deutschland, sondern im zusammenwachsenden Europa. Rudolf Wendt teilt hier das Schicksal aller wirklichen Experten des Steuerrechts: Es gibt kaum ein Gebiet, in dem die Politik so viel von der Wissenschaft lernen könnte wie im Steuerrecht – und es gibt kein Gebiet, in dem die Politik so wenig auf die Experten hört wie im Steuerrecht. Die Folgen sind bekannt.

Eigentumsschutz alter Rechte Von Jörn Ipsen, Osnabrück Rudolf Wendt hat mit seiner 1985 erschienenen Habilitationsschrift „Eigentum und Gesetzgebung“ einen wesentlichen Beitrag zur Dogmatik des Art. 14 GG geleistet. Auch in seinem ferneren Œuvre hat ihn der Eigentumsschutz wiederholt beschäftigt. Naheliegend war es deshalb, dem Kollegen und Freund aus Anlass seines 70. Geburtstags einen Beitrag aus eben jenem Themenkreis zu widmen. Im Folgenden sollen der verfassungsrechtliche Eigentumsbegriff skizziert (I.) und die Erscheinungsformen alter Rechte einschließlich ihrer gesetzlichen Regelungen dargestellt werden (II.). Ferner wird die Zuordnung alter Rechte zum öffentlichen oder bürgerlichen Recht diskutiert (III.), um die Voraussetzungen für ihre Aufhebung zu umreißen (IV.). I. Der verfassungsrechtliche Eigentumsbegriff Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss vom 9. Januar 1991 den Schutz der Eigentumsgarantie im Privatrecht dahingehend definiert, dass hierunter „grundsätzlich alle vermögenswerten Rechte fallen, die dem Berechtigten von der Rechtsordnung in der Weise zugeordnet sind, dass er die damit verbundenen Befugnisse nach eigenverantwortlicher Entscheidung zu seinem privaten Nutzen ausüben darf.“1

Diese Formel ist mehrfach wiederholt worden2, sodass sie als ständige Rechtsprechung gelten darf. In der Literatur wird ihr geradezu kanonischer Charakter mit der Folge beigemessen, dass die einzelnen Definitionsmerkmale als subsumtionsfähig angesehen werden.3 Rudolf Wendt zählt in seiner Kommentierung des Art. 14 GG mehr als zwei Dutzend einzelner Rechte auf, die in der Rechtsprechung als vermögenswert anerkannt und damit dem Schutz der Eigentumsgarantie unterstellt worden sind.4 Die hier und in anderen Kommentierungen5 aufgeführten vermögenswerten 1

So BVerfGE 83, 201 (209). Vgl. BVerfGE 101, 239 (258); 112, 93 (107); 115, 97 (111). 3 Vgl. nur J. Wieland, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 3. Aufl. 2013, Art. 14 Rdnr. 76. 4 Vgl. R. Wendt, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 7. Aufl. 2014, Art. 14 Rdnr. 24 ff. 5 Vgl. etwa H. J. Papier, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz. Kommentar (Losebl., Stand: 2002), Art. 14, Rdnr. 55 ff. 2

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Rechte ergeben sich regelmäßig aus Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs, gelegentlich auch des Bundesverwaltungsgerichts.6 Diese Gerichte haben sich nur am Rande mit „alten Rechten“ beschäftigt7, sodass es an einer gesicherten Judikatur fehlt. Gleichwohl haben „alte Rechte“ auch in der Gegenwart eine nicht zu unterschätzende faktische Bedeutung. Dies erstaunt umso mehr, als dem Gesetzgeber – auf Bundes- und Landesebene – im Übrigen die Tendenz nachgesagt wird, auch noch den letzten Winkel des Gemeinwesens auszuleuchten und normativ zu überformen. Insofern stehen „alte Rechte“ paradigmatisch auch für legislatorische Zurückhaltung, werfen indes eine Vielzahl ungelöster Rechtsprobleme auf. II. Erscheinungsformen alter Rechte und gesetzliche Regelungen Alte Rechte – oder ihre Synonyme „Gerechtigkeiten“, „Gerechtsame“ oder „Berechtigungen“ – haben gemeinsam, dass sie aus vorkonstitutioneller, vielfach aus vorindustrieller Zeit stammen. Sie beruhen zum Teil auf heute noch erhaltenen Urkunden, andererseits auf bloßem Herkommen. Unbeschadet ihres Entstehungsgrundes – förmlicher Rechtstitel oder Herkommen – stellen alte Rechte die Rechtsordnung stets vor besondere Probleme. Verwaltungsbehörden haben Ansprüche zu erfüllen oder Rechtspositionen zu beachten, die seit unvordenklichen Zeiten bestehen. Sofern ihr Inhalt streitig ist, bilden sie den Gegenstand von Gerichtsverfahren. Auch hat es der Gesetzgeber gelegentlich als seine Aufgabe angesehen, Inhalt und Fortgeltung alter Rechte zu bestimmen. Im Folgenden seien Beispiele alter Berechtigungen aufgeführt, ohne dass hiermit Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden könnte. 1. Gemeindegliedervermögen Der Begriff des „Gemeindegliedervermögens“ ist durch § 65 DGO geprägt worden. Es handelt sich um Nutzungsrechte am Gemeindevermögen, dessen Ertrag nach bisherigem Recht nicht den Gemeinden, sondern anderen Berechtigten zusteht.8 Als „sonstige Berechtigte“ sind die Einwohner der Gemeinde oder besondere Gruppen von Einwohnern – etwa Grundbesitzer – zu verstehen. Die Nutzungsrechte gehen vielfach auf das Recht alter Markgenossenschaften zurück, wofür der gelegentliche Gebrauch des Begriffs „Allmende“ spricht.9

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Vgl. J. Ipsen, Staatsrecht II (Grundrechte), 17. Aufl. 2014, Rdnr. 722 ff. Vgl. BVerfG – 3. Kammer des Ersten Senats – NVwZ 2002, S. 1365; BGH, Urt. v. 13. 06. 2008 – V ZR 132/07 –, Juris, Rdnr. 15 ff.; BVerwG, DVBl. 1987, S. 490 = NVwZ 1986, S. 1012. 8 So die Definition in § 134 Abs. 1 NKomVG. 9 Vgl. O. Gönnenwein, Gemeinderecht, 1963, S. 454. 7

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Das Gemeindegliedervermögen wird zwar in den Gemeindeordnungen der Bundesländer geregelt10; die Regelungen beschränken sich indes regelmäßig darauf, diese alten Rechte zu bestätigen und eine Ablösung nur gegen Entschädigung zu gestatten.11 Nutzungsrechte am Gemeindegliedervermögen sind zwar häufig mit dem Grundeigentum verbunden – im bürgerlich-rechtlichen Sinne also „dinglich“ –, werden aber dem öffentlichen Recht zugeordnet.12 Die Umwandlung des Gemeindegliedervermögens in „freies“ Gemeindevermögen bedeutet nichts anderes als einen Entzug dieser Rechte13 und ist nur gegen eine angemessene Entschädigung statthaft.14 Die gesetzlichen Regelungen lassen sich dahin deuten, dass der (Landes-)Gesetzgeber das Gemeindegliedervermögen einerseits anerkennt, aber in behutsamer Weise auf seine Aufhebung drängt. Im Einzelfall ist der Versuch einer Gemeinde zur Aufhebung derartiger Nutzungsrechte zwar gescheitert15, andererseits hat das Oberverwaltungsgericht Münster angedeutet, dass der Zweck des Gemeindegliedervermögens weggefallen sein und eine Anpassung der Zielsetzung an die geänderten sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse ausgeschlossen sein könnte.16 2. Anmeldung und Erlöschen alter Rechte nach dem Wasserhaushaltsgesetz Nach § 15 WHG i. d. F. der Bekanntmachung vom 19. August 200217 waren Erlaubnisse und Bewilligungen nicht erforderlich für im Einzelnen aufgeführte Gewässerbenutzungen. Nach § 15 Abs. 2 WHG a.F. waren Erlaubnisse oder Bewilligungen ferner nicht erforderlich für Benutzungen aufgrund gesetzlich geregelter Planfeststellungsverfahren und aufgrund hoheitlicher Widmungsakte. Die Länder konnten aufgrund der Landeswassergesetze zugelassene Bestimmungen diesen Benutzungen gleichstellen (§ 15 Abs. 3 WHG a.F.). Nach § 16 Abs. 1 WHG a.F. waren alte Rechte und alte Befugnisse, soweit sie bekannt waren, von Amts wegen in das Wasserbuch einzutragen. Die Inhaber alter Rechte und alter Befugnisse konnten öffentlich aufgefordert werden, sie binnen einer Frist von drei Jahren nach der öffentlichen Aufforderung zur Eintragung in das Wasserbuch anzumelden (§ 16 Abs. 2 Satz 1 WHG a.F.). Alte Rechte und alte Befugnisse, die bis zum Ablauf dieser Frist weder bekannt geworden noch angemeldet worden waren, sollten zehn Jahre nach der öffentlichen Aufforderung erlöschen; auf diese Rechtsfolge war in der öffentlichen Aufforderung hinzuweisen (§ 16 Abs. 2 Satz 2 WHG a.F.). 10

Vgl. nur Art. 80 BayGO; § 99 GO NRW; § 119 HGO; § 134 NKomVG. Vgl. O. Gönnenwein, Gemeinderecht, 1963, S. 455. 12 Vgl. nur OVG Münster, NVwZ 1993, S. 502. 13 So T. Koch, in: Ipsen (Hrsg.), Nds. Kommunalverfassungsgesetz, 2011, § 58 Rdnr. 64. 14 Vgl. nur § 99 GO NRW. 15 Vgl. OVG Münster, NVwZ 1993, S. 502. 16 So OVG Münster, NVwZ 1993, S. 503. 17 BGBl. I, S. 3245. 11

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Das Wasserhaushaltsgesetz in der Fassung vom 31. Juli 200918 regelt die alten Rechte und alten Befugnisse mit im Wesentlichen gleichem Inhalt. Nach § 20 Abs. 2 Satz 1 WHG können alte Rechte und alte Befugnisse gegen Entschädigung widerrufen werden, soweit von der Fortsetzung der Gewässerbenutzung eine erhebliche Beeinträchtigung des Wohls der Allgemeinheit zu erwarten ist. Ohne Entschädigung können sie unter den in § 20 Abs. 2 Satz 2 WHG genannten Voraussetzungen, die mit den in § 16 Abs. 2 WHG a.F. genannten im Wesentlichen übereinstimmen, widerrufen werden. Nach § 21 Abs. 1 Satz 1 WHG konnten alte Rechte und alte Befugnisse, die bis zum 28. Februar 2010 noch nicht ins Wasserbuch eingetragen oder zur Eintragung angemeldet worden waren, bis zum 1. März 2013 bei der zuständigen Behörde zur Eintragung in das Wasserbuch angemeldet werden. Alte Rechte und alte Befugnisse, die nicht nach den Sätzen 1 und 2 angemeldet worden sind, erlöschen am 1. März 2020, soweit sie nicht bereits zuvor aus anderen Gründen erloschen sind (§ 21 Abs. 1 Satz 2 WHG). 3. Enteignung alter Rechte und Verträge nach dem Bundesberggesetz Nach § 149 Abs. 1 BBergG bleiben alte Rechte und Verträge, die im Einzelnen aufgeführt werden, aufrechterhalten, soweit diese Rechte und Verträge innerhalb von drei Jahren nach Inkrafttreten des Gesetzes unter Beifügung der zum Nachweis ihres Bestehens erforderlichen Unterlagen bei der zuständigen Behörde angezeigt werden und ihre Aufrechterhaltung von der zuständigen Behörde bestätigt wird. Die Bestätigung darf nur versagt werden, wenn die im Gesetz bezeichneten Voraussetzungen nicht nachgewiesen sind. Rechte und Verträge, die nicht oder nicht fristgemäß angezeigt worden sind, erlöschen drei Jahre nach Ablauf der Anzeigefrist (§ 149 Abs. 5 Satz 1 BBergG). Nicht unter diese Bestimmung fallende Rechte und Verträge, denen die Bestätigung versagt wird, erlöschen mit dem Eintritt der Unanfechtbarkeit der Versagung (§ 146 Abs. 5 Satz 2 BBergG). Dieses Erlöschen tritt kraft Gesetzes ein; einer besonderen Verfügung der zuständigen Behörde über das Erlöschen bedarf es nicht. Sie hat lediglich beim Erlöschen von Rechten, die im Grundbuch eingetragen waren, das Grundbuchamt um die Löschung des Rechts zu ersuchen (§ 149 Abs. 6 BBergG).19 Nach § 160 BBergG können alte Rechte und Verträge enteignet werden. Voraussetzung hierfür ist, dass von dem Fortbestand dieser Rechte oder der Fortsetzung ihrer Nutzung eine Beeinträchtigung des Wohles der Allgemeinheit zu erwarten ist (§ 160 Abs. 1 Satz 1 BBergG). Diese Voraussetzungen liegen insbesondere vor, wenn sich das Recht oder der Vertrag auf Bodenschätze von besonderer volkswirtschaftlicher Bedeutung bezieht und diese Bodenschätze nur deshalb nicht gewonnen werden, weil der Berechtigte das Recht nicht nutzt (§ 160 Abs. 1 Satz 2 BBergG).

18 19

BGBl. I, S. 2585. Vgl. Piens/Schulte/Graf Vitzthum, Bundesberggesetz, 2. Aufl. 2013, § 149 Rdnr. 58.

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4. Holzberechtigungen Gewissermaßen im Windschatten der Bemühungen des Bundesgesetzgebers, alte Wasser- und Bergrechte in den Griff zu bekommen, haben sich Holzberechtigungen gegenüber gesetzlichen Regelungen als resistent erwiesen. Holzberechtigungen – synonym: „Holzgerechtsame“, „Holzgerechtigkeiten“, „Beholzungsrechte“ oder „Waldgrundgerechtigkeiten“ – werden auf den allmählichen Übergang ursprünglich genossenschaftlich genutzter Wälder in das Eigentum des Landesherrn zurückgeführt.20 Mit der Begründung von Eigentum an Wäldern und der hiermit verbundenen Ausschließung anderer Nutzer und Nutzungen ging die urkundlich in zahlreichen Fällen nachweisbare Begründung von Holzberechtigungen einher.21 Holzberechtigungen wurden somit durch Rechtsakte begründet, mit denen der Landesherr den Gemeinden („Gemeinen“), Kirchen oder einzelnen Grundbesitzern das Recht gewährte, jährlich eine bestimmte Menge und Art Holz aus den landesherrlichen Waldungen zu beziehen. Üblicherweise sind in diesen Urkunden Menge und Art des Holzes sowie dessen Bestimmung genau festgelegt.22 Neben der Entstehung durch Rechtsakt (Verleihung, Vertrag, Schenkung) wird die Verjährung (Ersitzung) der ursprünglich vergünstigungsweise bewilligten – oder ohne Erlaubnis ausgeübten – Holznutzung angeführt.23 Als dritter Entstehungsgrund wird die Umwandlung von genossenschaftlichem Eigentumsrecht in ein bloß servitutisches Nutzungsrecht angesehen.24 Die Holzberechtigungen konnten entweder Bauholz (oder anderes Nutzholz), Brennholz oder Leseholz zum Inhalt haben und wiesen damit unterschiedliche wirtschaftliche Funktionen auf. Wesentliche Bedeutung erlangten die Bauholzberechtigungen zur Entwicklung des Bergbaus und standen insofern in Zusammenhang mit den Bergfreiheiten.25 Bauholz war überdies für den Bau und die Erhaltung von Wohnhäusern und Nebengebäuden bestimmt und kann deshalb als Frühform der Förderung des Bergbaus und der Landwirtschaft gelten. Die Holzberechtigungen begründeten ein Rechtsverhältnis zwischen dem Berechtigten und dem Eigentümer des Waldes, das von wechselseitigen Rechten und 20 Vgl. J. H. G. Hermann, Ueber Holzgerechtigkeiten, 1797, S. 6 ff.; B. Danckelmann, Die Ablösung und Regelung der Waldgrundgerechtigkeiten, Erster Theil, 1880, S. 35 ff.; M. Endres, Forstrechte, in: Handbuch der Forstpolitik, 1905, S. 566; G. Hieb, Die Beholzungsrechte und ihre Ablösung im Herzogtume Braunschweig, 1912, S. 3 ff.; Th. Mylius, Die Ablösung der Holzberechtigungen im Freistaate Braunschweig, ihre Notwendigkeit und Möglichkeit, Diss. München 1926, S. 3 ff. 21 Vgl. nur die Nachweise bei G. Hieb, Beholzungsrechte, S. 3 ff.; Th. Mylius, Ablösung der Holzberechtigungen, S. 4 ff. 22 Vgl. nur B. Danckelmann, Waldgrundgerechtigkeiten, S. 35 f.; G. Hieb, Beholzungsrechte, S. 16 ff. 23 So G. Hieb, Beholzungsrechte, S. 5. 24 So G. Hieb, Beholzungsrechte, S. 5. 25 Vgl. G. Hieb, Beholzungsrechte, S. 11 f.

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Pflichten gekennzeichnet war. Die historische Bedeutung der Holzberechtigungen wird nicht zuletzt dadurch belegt, dass im Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten (1794) der „Holzgerechtigkeit“ nicht weniger als 41 einzelne Bestimmungen (§§ 198 bis 239 I 22 ALR) gewidmet sind. Nach den Regelungen des Allgemeinen Landrechts stellte sich die Holzberechtigung als ein Nutzungsrecht an einem in fremdem Eigentum stehenden Wald dar, das auf eine bestimmte Menge von Holz bestimmter Art und zu bestimmten Zwecken gerichtet war. Die nähere Qualifizierung der Berechtigung konnte nur anhand der Rechtsakte erfolgen, durch die sie begründet worden war. Die Geschichte der Holzberechtigungen ist gleichzeitig die Geschichte ihrer Ablösung. Schon im 19. Jahrhundert hat es gesetzgeberische Bemühungen zur Ablösung von Holzberechtigungen gegeben.26 Eine reichsrechtliche Regelung erfolgte durch die Verordnung zur Förderung der Nutzholzgewinnung vom 30. Juli 1937, die ebenfalls die Ablösung gegen Entschädigung vorsah.27 III. Zuordnung „alter Rechte“ zum öffentlichen oder bürgerlichen Recht? „Alte Rechte“ werden zum Teil dem Privatrecht, teilweise aber auch dem öffentlichen Recht zugeordnet. Nutzungsrechte am Gemeindegliedervermögen werden in der Rechtsprechung dem öffentlichen Recht zugeordnet, was zur Folge hat, dass der Verwaltungsrechtsweg eröffnet ist (§ 40 Abs. 1 VwGO).28 Alte Rechte und alte Befugnisse auf dem Gebiet des Wasserrechts werden ebenfalls dem öffentlichen Recht zugeordnet, was schon aus dem Umstand folgt, dass sie nach den gesetzlichen Regelungen widerrufen werden können (§ 15 Abs. 4 WHG a.F., § 21 Abs. 1 WHG). Allerdings ist der Widerruf nur gegen Entschädigung statthaft. Hinsichtlich der durch das Bundesberggesetz geregelten „Rechte und Verträge“ ist eine Zuordnung zum öffentlichen oder privaten Recht nicht eindeutig. Die von den gesetzlichen Bestimmungen erfassten „Verträge“ dürften überwiegend privatrechtlicher Natur sein, während die „Rechte“ auch hoheitlicher Natur sein können. Letztlich kommt es auf die Zuordnung aber nicht an, weil die „Rechte und Verträge“ in jedem Fall der behördlichen Bestätigung bedürfen und es sich hierbei fraglos um einen Verwaltungsakt handelt.29 Holzberechtigungen sind in der Rechtsprechung – jedenfalls in neuerer Zeit – dem bürgerlichen Recht zugeordnet worden.30 An diese Zuordnung schloss sich eine seit mehr als 100 Jahren geführte Kontroverse an, ob es sich hierbei um Reallasten oder 26

Vgl. die Aufzählung bei G. Hieb, Beholzungsrechte, S. 104. Vgl. hierzu im Einzelnen H. Westermann, Die Forstnutzungsrechte, 1942, S. 184 ff. 28 So OVG Münster, NVwZ 1993, S. 502; VGH München, BeckRS 1992, 10793; BeckRS 1992, 10794; BeckRS 1993, 11017; BeckRS 1996, 15147. 29 Vgl. Piens/Schulte/Graf Vitzthum, Bundesberggesetz, § 149 Rdnr. 49 ff. 30 So VGH München, Beschl. v. 10. 08. 2012 – 4 C 12.886 –, Juris. 27

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Grunddienstbarkeiten handelt.31 Zutreffend ist in der Rechtsprechung bemerkt worden, dass die Zuordnung zum öffentlichen oder privaten Recht historisch bedingt ist und nicht zu unterschiedlichen Folgerungen hinsichtlich der Entziehung führen darf.32 Auch bei der Zuordnung zum öffentlichen Recht – wie es bei der Nutzung von Gemeindegliedervermögen der Fall ist – müsste entscheidend auf den Vermögenswert und damit auf die Vergleichbarkeit zu privaten Nutzungsrechten abgestellt werden.33 IV. Aufhebung alter Rechte 1. „Alte Rechte“ als Anachronismus der Rechtsordnung Goethe lässt den als Faust verkleideten Mephisto in der Schülerszene sagen: „Es erben sich Gesetz’ und Rechte Wie eine ew’ge Krankheit fort; Sie schleppen von Geschlecht sich zum Geschlechte, Und rücken sacht von Ort zu Ort. Vernunft wird Unsinn,Wohltat Plage; Weh’ dir, daß du ein Enkel bist! Vom Rechte, das mit uns geboren ist, Von dem ist leider! nie die Frage.“34

Damit ist die rechtliche Problematik alter Rechte mit zeitloser Gültigkeit umschrieben. Waren es zu Goethes Zeit noch die Grundsätze des Gemeinen Rechts oder unvordenklicher Territorialgesetze, die sich über die Jahrhunderte hinweg „schleppten“, so haben wir es in der Gegenwart ebenfalls mit Rechten zu tun, die teilweise aus vorindustrieller Zeit stammen und sich in unsere Rechts- und Verfassungsordnung nicht einfügen wollen. Vielfach sind die Entstehungsbedingungen für alte Rechte weggefallen. Dieser Umstand lässt sich exemplarisch an den Holzberechtigungen darstellen. Waren sie ursprünglich als Entschädigung für die Vereinnahmung der Wälder durch den Landesherrn bestimmt oder verfolgten sie Ziele der Wirtschaftsförderung, so sind beide Entstehungsgründe inzwischen weggefallen. Bezeichnend hierfür ist der einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs zugrundeliegende Anspruch eines Bauern auf den Bezug von „Geschirr-Losholz“, also Nutzholz zur Anfertigung von Gespannen. Der Kläger verfügte zwar noch über ein Gespann, nutzte dieses aber nicht mehr in seinem landwirtschaftlichen Betrieb, der inzwischen vollständig technisiert war. Der Bundesgerichtshof wies die Revision mit der Begründung zurück, dass der Kläger die Voraussetzungen für den Bezug von Geschirr-Losholz nicht mehr erfülle.35 31

Grundlegend hierzu H. Westermann, Die Forstnutzungsrechte, 1942, S. 94 ff. Vgl. OVG Münster, NVwZ 1993, S. 502. 33 So OVG Münster, NVwZ 1993, S. 502. 34 J. W. Goethe, Faust I, Z. 1972 – 1979. 35 So BGH, Urt. v. 13. 06. 2008 – V ZR 132/07 –, Juris, Rdnr. 15 ff. 32

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Eine ähnliche Entwicklung ist bei Holzberechtigungen zu verzeichnen, die auf die Lieferung einer bestimmten Menge von Brennholz gerichtet sind. Während die Berechtigungen noch bis in das vorige Jahrhundert und der seinerzeit noch verbreiteten Ofenheizung ihren Sinn hatten, sind sie angesichts von Öl-, Gas- oder Solarheizungen nicht mehr zeitgemäß. Berechtigte sind längst dazu übergegangen, das ihnen zustehende Brennholz zu veräußern oder – Vernunft wird Unsinn – eine Entschädigung in Geld zu verlangen. Selbst für den Fall, dass Holzberechtigungen ursprünglich eingeräumt worden sind, um Bedürftigen in Notlagen zu helfen, ist die moderne Sozialgesetzgebung hierüber hinweggegangen. Nach § 29 SGB XII gehört es zur Hilfe zum Lebensunterhalt, dass Leistungen für die Unterkunft erbracht werden. Leistungen für Heizung werden in tatsächlicher Höhe erbracht, soweit sie angemessen sind (§ 29 Abs. 3 Satz 1 SGB XII). Wenn aber der Sozialgesetzgeber unserer Zeit bereits dafür Sorge getragen hat, dass Sozialhilfeempfänger Leistungen für die Heizung erhalten, lassen sich entsprechende Holzberechtigungen nicht mehr mit der Bedürftigkeit der Berechtigten rechtfertigen. Das Grundgesetz verfasst nicht nur eine „privilegienfeindliche Demokratie“36 ; die Rechts- und Verfassungsordnung ist auch in hohem Maße durch Rationalität gekennzeichnet. Dies will heißen, dass staatliches Handeln stets einer nachvollziehbaren Begründung bedarf. Das ubiquitär geltende Übermaßverbot ist im Grunde nichts anderes als eine juristische Umschreibung einer verfassungsrechtlichen Gewährleistung rationalen Staatshandelns. Vor diesem Hintergrund stellen sich alte Rechte durchweg als Anachronismus dar, weil sie unter historischen Bedingungen entstanden sind, die in der Gegenwart nicht mehr bestehen. Wenn gleichwohl zäh an alten Berechtigungen festgehalten wird und der Gesetzgeber sie zumeist schonend behandelt oder eine Regelung schlechthin unterlässt, so stellt sich verfassungsrechtlich doch die Frage, inwieweit eine solche Zurückhaltung geboten ist. 2. Anerkennung alter Rechte als Inhaltsbestimmung im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG Da alte Rechte zum Teil auf Rechtstiteln, häufig indes auf reinem Herkommen beruhen, stellt sich zunächst die Frage, ob sie überhaupt anzuerkennen sind. Voraussetzung hierfür ist ihre Anmeldung und Prüfung in einem behördlichen Verfahren. Der Anmeldung sind die Unterlagen beizufügen, auf die sich die Berechtigung stützt und die der Behörde die Gelegenheit gibt, die Entstehungsbedingungen zu überprüfen. Sowohl im Wasserhaushaltsgesetz als auch im Bundesberggesetz sind entsprechende Anmeldungen bzw. Anzeigen vorgesehen.37 Bei unterlassener Anmeldung ist die regelmäßige Rechtsfolge das Erlöschen der alten Rechte. Bedenken hinsichtlich des Schutzes wohlerworbener Rechte sind aus Art. 14 Abs. 1 GG nicht herzuleiten, weil das Erlöschen der Nutzungsrechte nicht 36 37

So BVerfGE 40, 296 (317). Vgl. oben S. 155 f.

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durch Hoheitsakt eintritt, sondern Folge der Versäumung einer gesetzlichen Frist ist. In der Sache handelt es sich hierbei um eine Präklusionsvorschrift; mit anderen Worten wird der (vorgeblich) Berechtigte von der weiteren Geltendmachung seiner Berechtigung ausgeschlossen, wenn er sie nicht angemeldet hat. Die Berufung auf Art. 14 Abs. 1 GG müsste schon deshalb versagen, weil mit der Anmeldung ein Verfahren zur Prüfung eingeleitet wird, ob Rechte, die gegebenenfalls unter den Eigentumsschutz fallen, anzuerkennen sind. Verzichtet der (vorgeblich) Berechtigte darauf, die gesetzlich vorgesehene Anmeldung vorzunehmen, kann hierin die konkludente Erklärung gesehen werden, die von ihm beanspruchte Berechtigung nicht mehr geltend machen zu wollen. Das Erlöschen der Rechte kann auch für den Fall vorgesehen werden, dass sie innerhalb eines bestimmten Zeitraumes nicht ununterbrochen wahrgenommen worden sind. Angesichts der unsicheren Entstehungsgründe und des häufigen Fehlens urkundlicher Nachweise stützen sich alte Rechte vielfach auf das Herkommen und damit auf ihre regelmäßige Inanspruchnahme. Wurden sie innerhalb eines gesetzlich zu bestimmenden Zeitraums nicht oder nicht regelmäßig ausgeübt, so kann durch Gesetz deren Verwirkung vorgeschrieben werden, ohne dass es sich hierbei um eine Enteignung im Sinne des Art. 14 Abs. 3 Satz 1 GG handeln würde. Vielmehr würde der Gesetzgeber an ein Unterlassen des Berechtigten anknüpfen und dieses Unterlassen dahingehend werten, dass Rechte nicht mehr bestehen. Ein Beispiel für eine solche Regelung bietet die Bayerische Gemeindeordnung, die in Art. 80 Abs. 1 Satz 2 bestimmt, dass Gemeindenutzungsrechte nur begründet sind, wenn ein besonderer Rechtstitel vorhanden ist oder wenn das Recht mindestens seit dem 18. Januar 1922 ununterbrochen kraft Rechtsüberzeugung ausgeübt wird. Wie lange der Zeitraum zu bemessen ist, innerhalb dessen das Recht ausgeübt sein muss, ist eine Frage gesetzgeberischen Ermessens, wobei sich der Gesetzgeber aber im Rahmen des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG bewegt. Erst durch die Anerkennung bzw. „Bestätigung“ der alten Rechte entsteht ein vermögenswertes Recht im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das dem Schutz des Art. 14 Abs. 1 GG unterfällt und dessen Entziehung nur unter den Voraussetzungen des Art. 14 Abs. 3 GG statthaft ist. 3. Entziehung alter Rechte Nach Art. 14 Abs. 3 Satz 1 GG ist eine Enteignung nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig. Sie darf nur durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes erfolgen, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt (Art. 14 Abs. 3 Satz 2 GG). Die Entschädigung ist unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu bestimmen (Art. 14 Abs. 3 Satz 3 GG). Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Entscheidung angedeutet, dass es neben der Enteignung auch eine entschädigungspflichtige Inhaltsbestimmung geben könne38, damit allerdings die vom 38

So BVerfGE 58, 137 (150 f.).

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Verfassungsgeber gewollte Grenze zwischen Art. 14 Abs. 1 Satz 2 und Art. 14 Abs. 3 GG verwischt.39 Festzuhalten ist indes daran, dass die Inhaltsbestimmung nach dem Willen des Verfassungsgebers gerade keine Entschädigungspflicht auslösen soll und überdies die Sozialbindung des Eigentums zu berücksichtigen hat (Art. 14 Abs. 2 GG). Wenn ein altes Recht kraft gesetzlicher Bestimmung nicht – mehr – anzuerkennen ist, weil es am Rechtstitel fehlt oder das Recht nicht regelmäßig ausgeübt worden ist, so fehlt es an einer Begründung für eine Entschädigung. Diese allerdings muss gewährt werden, wenn die Entziehung des Rechts eine Enteignung im Sinne des Art. 14 Abs. 3 Satz 1 GG darstellt, wobei zu bemerken ist, dass der Begriff „Enteignung“ sich in unserer Zeit zum Unwort entwickelt hat und deshalb von Gesetzgebung und Verwaltung tunlichst vermieden wird. Die entscheidende Frage ist indes, ob die Entziehung alter Rechte die Enteignungsvoraussetzungen erfüllt, und das will heißen „dem Wohle der Allgemeinheit“ dient. Vorauszuschicken ist hierbei, dass alten Rechten nicht ihres Alters wegen eine besondere Dignität zukommt. In einer durch Rationalität und „Transparenz“ gekennzeichneten Rechtsordnung kommt es stets auf die Gründe an, auf denen alte Rechte beruhen und andererseits auf die Gemeinwohlbelange, die ihre Entziehung rechtfertigen würden. Derartige Gründe können nur bereichsspezifisch ermittelt werden und sind naturgemäß im Wasserrecht andere als im Bergrecht und wiederum andere beim Gemeindegliedervermögen. Wählt man als Beispiel alter Rechte die gesetzlich nur bruchstückhaft geregelten Holzberechtigungen, so wird das Spannungsverhältnis zwischen ihrer Begründung und den Gemeinwohlgründen zu ihrer Entziehung besonders deutlich. Ihre Entstehungsbedingungen sind angesichts der heutigen Wirtschafts- und Sozialordnung weggefallen. Sie stellen für die Verpflichteten – Staat und Gemeinden – eine Belastung dar, die erheblich ist. Wenngleich fiskalische Gründe als solche des Gemeinwohls im Sinne des Art. 14 Abs. 3 Satz 1 GG umstritten sind,40 würde die Entziehung alter Holzberechtigungen doch nicht nur fiskalisch begründet werden. Vielmehr stellt sich unausweichlich das Gleichheitsproblem, warum einzelne Grundeigentümer über derartige Rechte verfügen und andere nicht. Wiederum liegt der Zirkelschluss nahe, dass alte Rechte lediglich mit ihrem Alter begründet werden. Ein wesentlicher Gemeinwohlgrund liegt in der ordnungsgemäßen Forstwirtschaft, die durch Holzberechtigungen nachhaltig beeinträchtigt werden kann. Müssen nämlich aus Wäldern alte Rechte ständig bedient werden, sind – abgesehen von dem Arbeits- und Verwaltungsaufwand – Rückwirkungen auf die übrige Forstwirtschaft nicht zu vermeiden. Letztlich hat auch die moderne Sozialgesetzgebung den verbleibenden Entstehungsgrund – Unterstützung von Bedürftigen – überholt; denn für Wohnung und Heizung ist Sozialhilfe zu gewähren.

39 40

Kritisch hierzu J. Wieland, in: Dreier (Hrsg.), GG Bd. I Art. 14 Rdnr. 154. Vgl. nur J. Wieland, in: Dreier (Hrsg.), GG Bd. I Rdnr. 117 m.w.N.

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Der Jubilar hat in seiner vor 30 Jahren erschienenen Habilitationsschrift eine Fülle von Fragen behandelt, die sich im Spannungsverhältnis von Eigentum und Gesetzgebung stellen. Der ihm gewidmete Beitrag mag als Beleg dafür dienen, dass die Eigentumsgarantie nicht nur neue Probleme aufwirft – etwa die Entschädigung für wertlos gewordene Erlaubnisse auf dem Energiesektor –, sondern auch alte Rechte gesetzlicher Regelung zugänglich sind und ihrer gegebenenfalls auch bedürfen.

Corriger la fortune? Zur Chancengleichheit alter und junger Parteien im Saarland Von Josef Isensee, Bonn I. Streit um die Finanzierung parteinaher Stiftungen Die Glaubwürdigkeit der Demokratie hängt nicht zuletzt ab von der Chancengleichheit der politischen Parteien im Wettbewerb um Wählergunst und um Zugang zu parlamentarischer Macht. Der Staat gewährleistet die rechtlichen Rahmenbedingungen des Wettbewerbs, aber er hütet sich, von sich aus in den Wettbewerb einzugreifen. Besondere Vorsicht ist für ihn angezeigt, wenn er die Parteien positiv fördern will, weil sich die Chancengleichheit gerade hier als besonders sensibel erweist. Die rechtliche Gewähr der Gleichheit stößt auf reale Ungleichheit der Parteien, die, unterschiedlich nach Alter und Wahlerfolg, nach Marken-Image und Stammwählerschaft, nach gesellschaftlicher Verankerung und Klientel, nach Erfahrung und Organisation, unter ungleichen Bedingungen im politischen Wettbewerb agieren. Ungleich ist auch ihre Finanzausstattung. Die finanzielle Ungleichheit wirkt sich vor allem zum Nachteil jener Parteien aus, die neu auf dem demokratischen Markt auftreten und erstmals in das Parlament einziehen. Damit stellt sich die Frage, ob der Staat nicht berufen, vielleicht sogar verpflichtet ist, zugunsten der Newcomer um der Offenheit und Chancengleichheit des Wettbewerbs willen korrigierend einzugreifen und für den Ausgleich der ökonomischen Unterschiede zu sorgen. Das Gleichheitsproblem zeigt eine eigentümliche Facette im Saarland. Als im Jahre 1969 die Saarbrücker Zeitung, damals in staatlicher Hand, privatisiert wurde, erhielten die politischen Stiftungen, die den drei im Landtag vertretenen Parteien nahestanden, Geschäftsanteile. Jahrzehnte später fordern Parteien, die nunmehr in den Landtag eingerückt sind, unter Berufung auf die Chancengleichheit, daß die ihnen nahestehenden Stiftungen beteiligt werden oder daß diese wenigstens kompensatorische Zuwendungen aus dem Staatshaushalt erhalten. Sie rechnen die Stiftungen ohne weiteres den jeweiligen Parteien zu und wollen hinsichtlich ihrer Stiftungen so gestellt werden wie die alten Parteien. Historisch gewachsene Ungleichheit soll egalitären Vorgaben von heute weichen. Der Konflikt löste einen Organstreit aus, den der saarländische Landesverband der Partei Die Linke vor dem Verfassungsgerichtshof des Saarlandes gegen den

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Landtag führte mit dem Antrag, festzustellen, erstens daß die vom Landesparlament unterlassene Änderung der praktizierten staatlichen Förderung parteinaher Stiftungen im Saarland den Landesverband in seinem verfassungsmäßigen Recht auf Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 GG verletze und zweitens, daß bei Fortführung einer staatlichen Finanzierung der parteinahen Stiftungen – gleich in welcher Form – die Beseitigung der aktuellen verfassungswidrigen Rechtslage nur im Wege eines dynamischen, an den jeweiligen Bürgerzuspruch der Patronatspartei gekoppelten Finanzierungsmodells erzielt werden könne.1 Der Verfassungsgerichtshof wies den ersten Antrag als unbegründet, den zweiten Antrag als unzulässig ab.2 Dem Urteil vom 16. April 2013 ist auf ganzer Linie zuzustimmen. Das Urteil enthält bemerkenswerte Ausführungen zur Chancengleichheit zwischen neuen und etablierten Parteien, zum Status der parteinahen („politischen“) Stiftungen, zur Möglichkeit einer Kompensation privatwirtschaftlicher Ungleichheit durch staatliche Finanzleistungen, zur Gleichheit zwischen den Generationen, zur Folgenverantwortung des Staates für eine Privatisierung. Das Urteil verdient Anmerkungen. Sein Thema bedarf ergänzender Betrachtung. II. Singuläre Finanzquelle im Saarland 1. Gesellschaft für Staatsbürgerliche Bildung Saar mbH (GSB) Alle parteinahen Stiftungen im Saarland partizipieren an den Global- und Projektzuschüssen, die der Bund den korrespondierenden Stiftungen auf Bundesebene leistet. Dagegen weist ihnen das Saarland im Unterschied zu anderen Ländern keine eigenen Fördermittel zu. Drei Stiftungen beziehen privatwirtschaftliche Einnahmen über ihre Beteiligung an der Gesellschaft für staatsbürgerliche Bildung Saar mbH. (GSB). Diese umfaßt die (der CDU nahestehende) Union-Stiftung e.V. mit einem Geschäftsanteil von 40 % des Stammkapitals, die (der SPD nahestehende) Demokratische Gesellschaft Saarland e.V. ebenfalls mit 40 % sowie die (der FDP nahestehende) Villa Lessing, Liberale Stiftung Saar e.V. mit einem Geschäftsanteil von 20 % des Stammkapitals.3 Die Gesellschaft verteilt ihre Erträge nach dem Schlüssel 2:2:1 an ihre drei Gesellschafter. Der Gesellschaft gehören 28 % an dem Verlags- und Druckereiun-

1 Der von Martin Morlok verfaßten Antragsschrift des saarländischen Landesverbands der Partei Die Linke vom 15. 8. 2011 geht voraus ein Rechtsgutachten Morloks „Zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des Modells der Finanzierung der parteinahen Stiftungen im Saarland“, Typoskript 2011. 2 SaarlVerfGH, Urteil vom 16. April 2013 – LV 15/11 –, auszugsweise in: NVwZ-RR 2013, S. 537 ff. 3 Im Folgenden wird vereinfachend von (politischen) Stiftungen gesprochen, ohne Rücksicht auf den Namen des jeweiligen Bildungswerkes und auf die Rechtsform als eingetragene Vereine. Zur Rechtsform BVerwGE 106, 177 (186).

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ternehmen Saarbrücker Zeitung Verlag und Druckerei GmbH.4 Das Verlagsunternehmen hat sich heute zu einem Konzern entwickelt, dem neben der Saarbrücker Zeitung weitere Zeitungen gehören, so der Trierische Volksfreund, der Pfälzische Merkur und die Lausitzer Rundschau. Dank der bisher guten Ertragslage fließen der Gesellschaft und über sie den drei Stiftungen erhebliche Summen zu.5 2. Forderung neuer Parteien nach Gleichstellung ihrer Stiftungen Die Gesellschaft für staatsbürgerliche Bildung Saar (GSB) umfaßte zur Zeit ihrer Gründung die Stiftungen der drei Parteien, die langfristig im Landtag vertreten waren (im Fall der FDP freilich mit Unterbrechungen). Grosso modo spiegelte die Gesellschaft das langfristige politische Kräfteverhältnis im Lande. Die Lage hat sich verändert, seit im Jahre 1994 die Grünen, im Jahre 2009 die Linke, im Jahre 2012 die Piraten in den Landtag eingezogen sind. Zunächst die Grünen, sodann die Linke drängen darauf, daß die ihnen nahestehenden Stiftungen finanziell gleichgestellt werden. Beim Bündnis 90/Die Grünen handelt es sich um die Heinrich Böll Stiftung Saar e.V., bei der Linken um die Peter Imandt Gesellschaft e.V. (Verein für politische Bildung und Kultur im Saarland). Als verfassungsrechtliches Argument dient vor allem die Chancengleichheit der Parteien6 und die Gleichbehandlung ihrer Bildungswerke.7 Als Wege zur Gleichstellung werden verschiedene Möglichkeiten erörtert: - die Aufnahme der neuen Stiftungen in die GSB mit der Folge einer Reduzierung der Anteile der bisherigen Gesellschafter (Beteiligungsmodell), - die Umleitung der Ausschüttungen der GSB in den Landeshaushalt und die Förderung der Stiftungen aus Landesmitteln (Umleitungsmodell), - die Verstaatlichung der GSB (Auflösungsmodell), - Ausgleichszahlungen des Landes an die neuen Stiftungen nach Maßgabe ihres Erfolges bei der letzten Landtagswahl (Kompensationsmodell),8 - subsidiäre staatliche Leistungen an alle Stiftungen, soweit und solange sie nicht Zuwendungen der GSB erhalten (Anrechnungsmodell). 4

Im Folgenden: Saarbrücker Zeitung. Die Höhe der Zuwendungen wird nicht veröffentlicht. Der im Bundesanzeiger veröffentlichte Jahresabschluß der GSB zum Geschäftsjahr vom 1. 1. 2013 bis zum 31. 12. 2013 weist zum 31. 12. 2013 einen Bilanzgewinn von 42.041.347,42 E aus; doch läßt das keine Rückschlüsse auf die Erträge der Saarbrücker Zeitung und auf die Höhe der Ausschüttungen an die drei Gesellschafter zu. Für das Jahr 1995 war die Rede von rund 8 Mio. DM an Ausschüttungen (Der Spiegel 15/1997, S. 33). Zur Finanzlage der Saarbrücker Zeitung und der GSB: Morlok (Fn. 1), S. 23 ff. 6 Dazu BVerfGE 73, 40 (88 ff.); 82, 322 (337 ff.); 85, 264 (296 ff.); 111, 382 (398); SaarlVerfGH (Fn. 2), S. 539. 7 Repräsentativ die Landtagsdebatte am 18. Mai 2011 (Protokoll Pl. 14/21, S. 1644 ff.). 8 Dazu Morlok (Fn. 1), S. 47, 49. 5

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Das Umleitungsmodell wurde 1996 von den Grünen gefordert; ihre Gesetzesinitiative scheiterte im Landtag.9 Desgleichen scheiterte 2011 die Gesetzesinitiative der Linken zugunsten des Kompensationsmodells.10 Sowohl die Grünen als auch die Linke bemühten sich vergeblich, ihrerseits in die Gesellschaft aufgenommen zu werden.11 Die Linke versuchte schließlich, das Kompensationsmodell vor dem Verfassungsgerichtshof des Saarlandes einzuklagen, jedoch ohne Erfolg.12 Alle Modelle beziehen sich auf die GSB, gleich, ob sie diese öffnen und ändern, abschaffen oder ergänzen wollen. Sie erscheint als Grund der Ungleichheit, Stein des Anstoßes, Gegenstand der Begehrlichkeit oder als Maß für eine Kompensation. Ehe die rechtliche Möglichkeit oder sogar die rechtliche Notwendigkeit einer Änderung des status quo geprüft werden kann, bedürfen der geltende Rechtszustand und seine Genese der Untersuchung. III. Die Privatisierung der Staatszeitung 1. Vorgeschichte Der eigentümliche Finanzierungsmodus, wie er sich nur im Saarland findet, erklärt sich aus der Geschichte des Landes. a) Entprivatisierung der Saarbrücker Zeitung Die Saarbrücker Zeitung, die bis in das Jahr 1761 zurückreichende älteste und auflagenstärkste Zeitung der Region, ursprünglich in privater Hand, geriet nach dem Ersten Weltkrieg zunehmend unter öffentlichen Einfluß. Eigentümerin war seit 1920 eine Aktiengesellschaft, an der das Deutsche Reich über ein Treuhandsystem indirekt mit 60 % beteiligt war. Die verbliebenen privaten Anteile von 40 % gingen 1935 auf nationalsozialistische Einrichtungen über. Am Ende der NS-Ära befand sich der Zeitungsverlag, die „Buchgewerbehaus GmbH“, zur Gänze in dem durch Zwischengesellschaften vermittelten Eigentum des Zentralverlages der NSDAP (Franz-Eher-Verlag München). In der Besatzungszeit stellte Frankreich das Saarbrücker Unternehmen unter die Verwaltung eines Sequesters. Dieser verpachtete den Betrieb 1947 an die eigens gegründete „Presse-Verlag Saarbrücker Zeitung GmbH“, die heute als „Saarbrücker Zeitung, Verlag und Druckerei GmbH“ firmiert. 1951 wurde die Pächterin zur Eigentümerin dadurch, daß ihr sämtliche An9 So die rückblickende Darstellung des Abg. Willger (B 90/Grüne) in der Debatte des Landtags am 18. Mai 2011, in: Landtagsprotokoll Saarland, 14. Wahlperiode, 21. Sitzung, S. 1650 f. Der SaarlVerfGH stellt das Projekt der Grünen allerdings als ein Anrechnungsmodell dar (Fn. 2, Umdruck S. 7 f.). 10 Entwurf des Gesetzes über die staatliche Finanzierung und Gleichstellung parteinaher Stiftungen (Landtags-Drucksache 14/481). 11 Abg. Lafontaine (Die Linke), LT-Prot. 14/21, S. 1651. 12 S. o. Fn. 2.

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teile an dem sequestrierten Betrieb unentgeltlich übertragen wurden. Den beherrschenden Einfluß übte die französische Protektoratsmacht. Nach dem Saar-Referendum vom 23. Oktober 1955 stellte die neue Regierung des Saarlandes die Rechtswirksamkeit der Eigentumsübertragung in Frage und bemühte sich, die Saarbrücker Zeitung dem Einfluß Frankreichs zu entziehen. Am 27. Oktober 1956 fanden das Saarland und Frankreich zum Ausgleich im Luxemburger „Protokoll über die Regelung der Angelegenheit ,Saarbrücker Zeitung‘“ dahin, daß die im Fremdbesitz befindlichen Anteile des Verlags gegen Zahlung einer Abfindung an ein Konsortium dreier Banken, das „bis zu einer später erfolgenden Endregelung treuhänderischer Besitzer“ sein solle, übertragen werden sollten. Der „überparteiliche Charakter der Zeitung“ solle sowohl in der Übergangszeit als auch bei der Endregelung gewährleistet bleiben. Damit fiel der Regierung des Saarlandes die Verfügung über das Zeitungsunternehmen zu.13 b) Reprivatisierung der Saarbrücker Zeitung Nachdem das Provisorium der treuhänderischen Verwaltung durch das Bankenkonsortium 13 Jahre gewährt hatte, entschied sich die Regierung für eine endgültige Lösung: daß sich der Staat aus dem Zeitungsunternehmen zurückziehen und die Trägerschaft der Saarbrücker Zeitung in private Hände geben solle.14 Das Verlagsunternehmen sollte jedoch in seiner bereits bestehenden Form als GmbH fortgeführt werden, indes das Saarland seine Geschäftsanteile auf privatrechtlichem Wege veräußern wollte. Die Neuregelung erfolgte durch Beschluß der Landesregierung. Dieser bedurfte aus haushaltsrechtlichen Gründen15 der Zustimmung des Landtags, die am 5. November 1969 erteilt wurde.16 Die Veräußerung der Geschäftsanteile sollte laut Beschluß der Landesregierung so erfolgen, daß „(aa) 26 % der Geschäftsanteile unentgeltlich auf eine gemeinnützige Institution, die die Interessen des Saarlandes an der Saarbrücker Zeitung wahrzunehmen hat, übertragen werden; bis zu deren Gründung sind diese Anteile treuhänderisch durch einen vom Landtag des Saarlandes zu wählenden Gründungsausschuß zu verwalten, der aus zehn Personen besteht und innerhalb eines Jahres die Geschäftsanteile auf die vorgenannte Institution übertragen soll, (bb) auf der Grundlage eines durch Sachverständigengutachten zu ermittelnden Kaufpreises, mindestens jedoch zu einem Kaufpreis von 25 Mio. Deutsche Mark = 100 % 13 Allein auf die rechtliche Verfügungsmacht kommt es in diesem Kontext an. Der SaarlVerfGH läßt dahinstehen, ob das Saarland förmlich Eigentum erworben habe (Fn. 2, S. 539). 14 Antrag des Ministers für Finanzen und Forsten vom 29. 10. 1969 auf Änderung der Rechtsverhältnisse an der Saarbrücker Zeitung, in: Landtag des Saarlandes, 5. Wahlperiode, Drs. Nr. 1436 (im Folgenden: Antrag). 15 § 47 RHO-Saar. 16 Landtag des Saarlandes, Protokoll der 75. Sitzung, S. 2076 f., 2111 (im Folgenden: LTProtokoll).

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1. der Belegschaft der Saarbrücker Zeitung 15 % des Stammkapitals unter Zubilligung einer Treueprämie in Höhe von 20 % des von ihr zu entrichtenden Kaufpreises; 2. dem Verleger Georg von Holtzbrinck, Stuttgart, 49 % des Stammkapitals; 3. der Saarländischen Kreditbank AG, Saarbrücken, der Landesbank und Girozentrale Saar, Saarbrücken und der Bank für Gemeinwirtschaft AG, Frankfurt am Main, Filiale Saarbrücken je ein Drittel der restlichen Geschäftsanteile“ übertragen werden.“

Den Part einer gemeinnützigen, „rein saarländischen Institution“ mit 26 % der Geschäftsanteile übernahm zunächst der vom Landtag gewählte Gründungsausschuß in der Form einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts.17 Dieser wurde abgelöst durch die „Gemeinnützige Fördergesellschaft ,Saarbrücker Zeitung mbH‘“. Diese Gesellschaft war eigens zu dem Zweck gegründet worden, als Inhaberin der Geschäftsanteile am Zeitungsverlag der Neugliederungskonzeption gemäß die Interessen des Saarlandes an der Zeitung zu vertreten. Der Gesellschaftsvertrag war am 24. Juli 1970 geschlossen worden zwischen der Union Stiftung e.V. Saarbrücken, der Friedrich-Ebert-Stiftung-Saarland e.V. Saarbrücken, sowie der Friedrich-Naumann-Stiftung, Landesbüro Saarland. Die Friedrich-Naumann-Stiftung wurde später abgelöst durch die Villa Lessing, Liberale Stiftung Saar e. V. Die ursprüngliche Firma wurde ersetzt durch die nunmehrige „Gesellschaft für staatsbürgerliche Bildung Saar mbH“ (GSB).18 Im Jahr 2012 schied Holzbrinck aus der Saarbrücker Zeitung aus. Die RheinischBergische Verlagsgesellschaft rückte ein und übernahm 56 % des Stammkapitals. Nunmehr erhöhte sich der Anteil der Beteiligungsgesellschaft von 15 % auf 16 %, der Anteil der Gesellschaft für staatsbürgerliche Bildung von 26 % auf 28 %. 2. Rückzug des Staates a) Art der Privatisierung Im Jahre 1969 gab das Saarland die Saarbrücker Zeitung endgültig und vorbehaltlos in private Hände. Darin lag eine substantielle Verlagerung aus dem Bereich der demokratischen Verantwortung des Staates in den der grundrechtlich gewährleisteten Privatautonomie. Es handelte sich um materielle Privatisierung, nicht lediglich um formelle (Organisations-)Privatisierung.19 Das Land gründete nicht etwa eine „Public Private Partnership“, wie sie oftmals hergestellt wird, um privaten Sachverstand und private Arbeitskraft für die Erfüllung einer Verwaltungsaufgabe 17

Vertrag v. 12. 2. 1970. Satzung der Gesellschaft für staatsbürgerliche Bildung Saar mbH, Stand Januar 2011 (zitiert: Satzung). 19 Begriffe: Jörn Axel Kämmerer, Verfassungsstaat auf Diät?, in: JZ 1996, S. 1042 (1043 f.); Martin Burgi, Privatisierung, in: HStR IV, 32006, § 75 Rn. 8; Wolfgang Rüfner, Daseinsvorsorge und soziale Sicherheit, ebd., § 96 Rn. 43 ff., 46. 18

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zu aktivieren, die weiterhin dem Staat verbleibt. Eine solcherart („funktionale“) Aufgabenprivatisierung liegt hier nicht vor.20 Die Gesellschafter der Saarbrücker Zeitung fungieren nicht als bloße Vollzugshelfer,21 sondern als Anteilseigner und Gesellschafter eines privaten Unternehmens. Der Staat entließ die Zeitung in den Markt, ohne sich spezifische Einflußrechte vorzubehalten, die über die für alle geltenden Gesetze wie die des Gesellschafts- und des Kartellrechts hinausgehen. Er wälzte keine eigene Aufgabe auf die neuen Gesellschafter ab. Im Gegenteil: er überführte eine ihm wesensfremde Sache, die ihm durch kontingente Umstände zugefallen war, in die Hände, in die sie von Verfassungs wegen gehören, nämlich in die Hände von Grundrechtsträgern. Die Privatisierung beseitigte die historische Anomalie einer Staatszeitung und führte den verfassungsrechtlich gesollten Zustand der Normalität herbei. Insofern mag man von einer Aufgabenprivatisierung sprechen,22 doch in einer atypischen Erscheinung. Typisch ist die Übertragung einer staatlichen Aufgabe auf Private. Hier aber geht eine private Aufgabe in private Hände zurück. Für ähnliche Fälle wird in der Literatur die Bezeichnung als „liquidatorische Popularprivatisierung“ vorgeschlagen: daß nämlich der Staat eine bestimmte Funktion vollständig einstellt und den Marktteilnehmern anheimgibt, eine gleichartige Tätigkeit aufzunehmen.23 Doch auch diese Umschreibung trifft den vorliegenden Fall nicht. Denn das Saarland hat die Saarbrücker Zeitung nicht gleichsam derelinquiert und beliebigen Interessenten überlassen, sie sich als herrenlose Materie anzueignen. Vielmehr hat es planmäßig seine private Nachfolge geordnet, die Nachfolger bestimmt und die Übergabe vertraglich vollzogen. b) Privatrechtliche und privatwirtschaftliche Voraussetzungen der Pressefreiheit Die Landesregierung folgte der Rechtsauffassung, daß die institutionelle Garantie der Pressefreiheit dem Staat verwehre, das Zeitungswesen unmittelbar oder mittelbar zu reglementieren und zu steuern, sei es durch Subventionierung, sei es durch gesellschaftsrechtliche Beteiligung an Presseunternehmen, sei es durch Schaffung eigener oder abhängiger Zeitungen.24 In der Tat hätte der Verbleib der größten Tageszeitung der Region im Verfügungsbereich der Landesregierung zum Konflikt mit der Pressefreiheit geführt. Allerdings nicht mit dem Individualgrundrecht. Denn die staatliche Verfügungsmacht über die Zeitung bildete keinen Eingriff

20 Kategorie: Martin Burgi, Funktionale Privatisierung und Verwaltungshilfe, 1999, S. 100 ff., 170 ff. – Zutreffende Qualifikation des SaarlVerfGH: keine Privatisierung saarländischen Vermögens im Sinne einer „Aufgabenprivatisierung“ (Fn. 2, S. 540). 21 Dazu Burgi (Fn. 19), § 75 Rn. 8. 22 Zu dem Typus Burgi (Fn. 20), S. 10, 61, 64, 66, 71 ff.; ders. (Fn. 19), § 75 Rn. 9. Dazu auch Kämmerer (Fn. 19), S. 1044 f. 23 Kämmerer (Fn. 19), S. 1044. 24 Begründung des Antrags (Fn. 14), S. 4 ff.

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in die grundrechtlich geschützte Position eines Einzelnen. Aber sie widersprach der Pressefreiheit als Institution. Hinter dem Individualgrundrecht steht die institutionelle Garantie der staatsunabhängigen Presse als eines notwendigen Faktors der Information und der Meinungsbildung in einer offenen Gesellschaft und einer freiheitlichen Demokratie.25 Die Presse leistet Dienste für das Gemeinwohl und erfüllt darin eine „öffentliche“ Aufgabe.26 Doch „öffentlich“ heißt nicht „staatlich“. Der Staat (im engeren Sinne als Ämterorganisation) hat kein Monopol auf die Herstellung des Gemeinwohls. Vielmehr geht dieses aus arbeitsteiligen Leistungen aller Kräfte der res publica hervor, der privaten wie der staatlichen.27 Die verfassungsrechtliche Grundlage ist auf der einen Seite die grundrechtlich gewährleistete Freiheit, auf der anderen die grundrechtsverpflichtete, demokratisch legitimierte Staatsgewalt. Die Presse hat ihren Ort im grundrechtlichen Raum. „So wichtig die … der Presse zufallende ,öffentliche Aufgabe‘ ist, so wenig kann diese von der organisierten staatlichen Gewalt erfüllt werden. Presseunternehmen müssen sich im gesellschaftlichen Raum frei bilden können. Sie arbeiten nach privatwirtschaftlichen Grundsätzen und in privatwirtschaftlichen Organisationsformen. Sie stehen miteinander in geistiger und wirtschaftlicher Konkurrenz, in die die öffentliche Gewalt grundsätzlich nicht eingreifen darf.“28 Ein Eingriff läßt sich auch dann nicht rechtfertigen, wenn eine Tageszeitung in ihrer Region eine monopolähnliche oder jedenfalls eine beherrschende Stellung einnimmt. Denn eine staatliche Tageszeitung könnte den Mangel an Staatsfreiheit nicht kompensieren, weil es gerade auf den nichtstaatlichen Ursprung ankommt, jene private Authentizität, die einer noch so um Richtigkeit und Fairneß bemühten staatlich gelenkten Presse nun einmal abgeht. Eine Einflußnahme des Staates wäre mit der Verfassung allenfalls vereinbar, wenn sie in Konkurrenz träte mit einer Fülle staatsunabhängiger Zeitungen und Zeitschriften und sich somit an dem Bild der freien Presse substantiell nichts ändern würde.29 Eben diese Voraussetzung lag zu der Zeit der Privatisierung der Saarbrücker Zeitung nicht vor. Andererseits bestand aber auch nicht jener technisch-ökonomische Engpaß, der im Jahr 1961 den freien Zugang zur Gründung von Rundfunk- und Fernsehanstalten verhinderte. Denn damals war der Markt im Pressewesen noch relativ offen und er bot einer Vielzahl konkurrierender Zeitungen Raum,30 wenn auch nicht durchwegs auf regionaler, so doch auf überregionaler Ebene. Deshalb verbot sich die Überführung der Saarbrücker Zeitung in eine öffentlich-rechtliche Anstalt nach dem 25

BVerfGE 10, 118 (121); 12, 205 (260); 20, 162 (174 f.). Zu den Kategorien Josef Isensee, Staatsaufgaben, in: HStR IV, § 73 Rn. 5, 12 ff. 27 Josef Isensee, Gemeinwohl im Verfassungsstaat, § 71 Rn. 110 ff., 132 ff. 28 BVerfGE 20, 162 (175). So auch BVerfGE 66, 116 (133); Rudolf Wendt, in: von Münch/ Kunig (Hg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 62012, Art. 5 Rn. 39 ff., 54 b. 29 BVerfGE 12, 205 (260). 30 BVerfGE 12, 205 (261). 26

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Muster der Rundfunkanstalten, die einen Mangel an Außenpluralismus auf dem Medienmarkt durch einen hoheitlich regulierten Binnenpluralismus aller gesellschaftlich relevanten Kräfte kompensieren sollte.31 Heute hat sich allerdings die ursprüngliche Rechtfertigung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten aus der Knappheit der Ressourcen erledigt mit der Erschließung weiterer, zumal digitaler Kommunikationswege.32 Was anfangs notwendig war, ist heute Privileg, und da das Privileg sich zu dauerhafter Mächtigkeit entwickelt hat, gebiert es weitere Privilegien, so die verfassungswidrige Finanzierung durch eine eigene Steuer (die freilich weiterhin als Beitrag kaschiert wird) und durch eine Bestands- und Entwicklungsgarantie, die sich aus der vom Bundesverfassungsgericht kreierten, zur Lebenslüge tauglichen Figur der „Grundversorgung“ der Bürger herleitet.33 Die Organisation der Presse nach solchem Muster würde die Funktionsschwächen des öffentlichrechtlichen Rundfunks nachziehen.34 Zu Recht hält Rudolf Wendt die Umwandlung der Presseverlage in öffentlich-rechtliche Anstalten für verfassungswidrig. „Der nicht nur Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG zu entnehmende elementare Grundsatz einer staatsfreien, privat verantwortlichen Kommunikation spricht … gegen die verfassungsrechtliche Zulässigkeit. Publizistisch verfehlt wären öffentlich-rechtliche Zeitungs-Anstalten allemal.“35 c) Keine Beleihung Die Privatisierung der Zeitung hat nichts zu tun mit einer Beleihung. Die Beleihung vertraut einem Privaten als Verwaltungshelfer an, was des Staates ist und was des Staates verbleibt.36 Hier dagegen gibt die Privatisierung dem privaten Unternehmen, was allein ihm angemessen ist und was der Staat nur als Grundrechtsverweser zeitweilig hatte übernehmen dürfen. Das Saarland wollte sich vollständig von der Zeitung lösen, um jeden möglichen Konflikt mit der Pressefreiheit auszuschließen. Es handelt sich also um das Gegenteil einer Privatisierung von Staatsaufgaben, wie sie in Bereichen der privatrechtlichen Dienste, des öffentlichen Verkehrs, der Energieversorgung stattfindet. Dort fungiert der Private in der Tat als Verwaltungshelfer, indes dem Staat eine Gewährleistungsverantwortung37 und ein Sicherstellungsauftrag verbleiben.38

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BVerfGE 12, 205 (262); 57, 295 (325 f.); 73, 238 (296 ff.); Martin Bullinger, Freiheit von Presse, Rundfunk, Film, in: HStR VII, 32009, § 163 Rn. 97 ff. – Kritik: Wendt (Fn. 28), Art. 5 Rn. 52 ff. 32 Wendt (Fn. 28), Art. 5 Rn. 54 b. 33 BVerfGE 73, 118 (157 ff.); 74, 297 (324 f., 325 ff.); 83, 238 (297, 298 ff.); 90, 60 (91). Skeptisch zur „Grundversorgung“: Wendt (Fn. 28), Art. 5 Rn. 54 ff. 34 Bullinger (Fn. 31), § 163 Rn. 46. Zustimmend Wendt (Fn. 28), Art. 5 Rn. 43. 35 Wendt (Fn. 28), Art. 5, Rn. 43. 36 SaarlVerfGH: keine Übertragung einer hoheitlichen Aufgabe (Fn. 2, S. 540). 37 Burgi (Fn. 19), § 75 Rn. 1 ff., 26 f., 28 ff. 38 Herman Butzer, Sicherstellungsauftrag, in: HStR IV, 32006, § 74 Rn. 1 ff., 19 ff.

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Die Regierung hatte zunächst als Alternative zu der getroffenen Lösung erwogen, die Zeitung in eine Stiftung einzubringen oder die Sperrminorität einer Stiftung zu überweisen,39 diese Möglichkeit jedoch schließlich verworfen, weil sich eine Stiftung der staatlichen Stiftungsaufsicht hätte unterwerfen müssen, die sich mit dem Grundrecht der Pressefreiheit nicht vertragen hätte. Die Aufsicht hätte eine Reibungsfläche zur Pressefreiheit geschaffen und den Staat mit Verantwortung für die Zeitung belastet. Die Zeitung sollte in voller Unabhängigkeit vom Staat und von den politischen Parteien sich auf privatwirtschaftlicher Grundlage entwickeln. Im Übrigen wäre eine Stiftung ihrer Organisationsform nach wirtschaftlich und rechtlich immobil gewesen und so im Konkurrenzkampf der Medien benachteiligt.40 Dagegen verschaffte die Privatisierung der Zeitung die ihr gemäße gesellschaftsrechtliche Form, in der sie sich im Wettbewerb der Medien behaupten und entfalten sollte. Der praktischen Wirkung nach handelte es sich um eine Vermögensprivatisierung,41 allerdings nicht die übliche im fiskalischen, sondern eine atypische im ordnungspolitischen Interesse. Sie sorgte dafür, daß die privatrechtlichen und die privatwirtschaftlichen Voraussetzungen für die Ausübung der individuellen Pressefreiheit hergestellt wurden.42 d) Die Zwecktauglichkeit der drei politischen Bildungswerke Die drei Stiftungen entsprachen den Intentionen der Landesregierung, „ein möglichst breites Bild der derzeitigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kräfte im Saarland darzustellen“. In den drei Stiftungen und in der Relation ihrer Geschäftsanteile spiegelten sich zu der maßgeblichen Zeit, im Jahr 1970, die wesentlichen weltanschaulichen Richtungen des Saarlandes, in der Sprache des Bundesverfassungsgerichts die „dauerhaften, ins Gewicht fallenden politischen Grundströmungen“.43 Die Wahlergebnisse bildeten nicht den Maßstab, sondern lediglich den Indikator für die nachhaltigen Grundströmungen. Daher hängt die Beteiligung an der Gesellschaft nicht ab von den wechselnden, aktuellen Wahlerfolgen, noch nicht einmal, wie das Beispiel der FDP zeigt, von der aktuellen Zugehörigkeit zum Landtag. Das Bundesverfassungsgericht akzeptiert, daß sich der Gesetzgeber bei der Vergabe öffentlicher Mittel an parteinahe Stiftungen „an den Stärkeverhältnissen der politischen Grundströmungen“, wie sie sich in den Wahlergebnissen der ihnen nahestehenden politischen Parteien bei den Bundestagswah-

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Begründung der Landesregierung (Fn. 14), S. 5 ff. Begründung (Fn. 14), S. 5 ff. Das BVerwG sieht in der Stiftungsaufsicht sogar eine Gefahr für die Staatsfreiheit der Patronatspartei (E 106, 177 [186]). 41 Begriff: Kämmerer (Fn. 19), S. 1044. Dagegen verwechselt Morlok Vermögensprivatisierung mit (funktionaler) Aufgabenfinanzierung (Fn. 5, S. 31). 42 Allgemein Josef Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, in: HStR IX, 32011, § 190 Rn. 63, 161 ff., 178 ff. 43 So auf die Bundesrepublik Deutschland bezogen BVerfGE 73, 1 (38). 40

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len spiegeln, orientiert hat.44 Wenn sich die Zusammensetzung der Gesellschaft für politische Bildung und der Verteilungsschlüssel auch grosso modo an den vorhandenen Parteien ausrichtete, so war dies doch kein echter Parteiproporz, der die genauen Stärkeverhältnisse zwischen den Fraktionen abbildete. Die Landesregierung hatte denn auch von Anfang an abgelehnt, den Einfluß auf die Saarbrücker Zeitung nach Parteiproporz zu bemessen.45 3. These der fortdauernden Verantwortung des Staates für die Privatisierungsfolgen Die Übertragung der Geschäftsanteile an die drei Stiftungen war ein einmaliger und einziger Akt, der sich in seiner Durchführung erschöpft hat.46 Die Maßnahme stößt auf verfassungsrechtliche Kritik: das Saarland habe einen Rechtsfehler begangen, weil es sich bei der Übertragung der Geschäftsanteile an die GSB aller Einwirkungsbefugnisse begeben und sich nicht Mitwirkungs- oder Kontrollrechte vertraglich gesichert habe. Denn der Staat erfülle hier, wenngleich unsichtbar, weiterhin eine eigene Aufgabe. Er trage immer noch die (Verwaltungs-)Verantwortung,47 und zwar in der Spielart einer Privatisierungsfolgenverantwortung.48 Unklar bleibt allerdings, um welche staatliche Aufgabe es sich handeln soll. a) Politische Bildung als Staatsaufgabe Zu denken ist an die politische Bildung. Deren Förderung ist eine obligatorische Aufgabe des Staates, jedoch keine ausschließliche, sondern eine konkurrierende, die er neben den freien Potenzen der Gesellschaft ausübt.49 Er erfüllt seine Bildungsaufgabe in eigener Regie über seine Schulen und Hochschulen, über seine Öffentlichkeitsarbeit50 und mittelbar durch Förderung privater Bildungsträger, durch Vergünstigungen wie jene für gemeinnützige Körperschaften (§ 52 Abs. 2 Nr. 1 und 3 AO) oder durch Zuwendungen. Mit der unentgeltlichen Übertragung von Geschäftsanteilen an die GSB hat der Staat nicht eigene Bildungsarbeit aus44 BVerfGE 73, 1 (38 f.). – Zu Kriterien bei einer Landesförderung OVG Weimar, in: LKV 2009. S. 234 (235). 45 Ministerpräsident Röder in der Landtagsdebatte über den Antrag, LT-Drs., S. 2056. 46 SaarlVerfGH (Fn. 2), S. 540. 47 So Morlok (Fn. 1), S. 33 ff., 37 ff. – Die Verständlichkeit der Ausführungen leidet darunter, daß Morlok die „öffentliche“ Aufgabe für eine ausschließliche Staatsaufgabe hält (S. 30) und die Aufgabenprivatisierung (die er in der Sache meint) mit einer Vermögensprivatisierung verwechselt (S. 31, 32). 48 Begriff: Hartmut Bauer, Privatisierung von Verwaltungsaufgaben, in: VVDStRL 54 (1995), S. 243 (279). Anwendung auf die GSB: Morlok (Fn. 1), S. 38. 49 Zutreffend SaarlVerfGH (Fn. 2), S. 540. Zu den Begriffspaaren ausschließliche/konkurrierende und obligatorische/fakultative Staatsaufgaben Josef Isensee, Staatsaufgaben, in: HStR IV, 32006, § 73 Rn. 27 f., 29 f. 50 BVerfGE 44, 125 (147).

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gelagert und auch nicht seinen eigenen Bildungsauftrag privatisiert. Privatisiert wurden lediglich die Geschäftsanteile an der Zeitung. Die eigene Bildungsarbeit geht in ihren unterschiedlichen Formen weiter. Das Engagement für politische Bildung steht jedermann frei, Personen wie Institutionen, Laien wie professionellen Bildungsstätten, wissenschaftlichen wie politischen Einrichtungen, den politischen Parteien selbst.51 Das Spektrum der relevanten Grundrechte reicht vom Elternrecht über die Weltanschauungs-, Medienund Berufsfreiheit bis zur Parteifreiheit. Die parteinahen Stiftungen sind nur ein Einflußfaktor unter den vielen einer offenen Gesellschaft. Nur im Wettbewerb mit ihnen können sie ihrer Stimme Gehör verschaffen. Der Staat hat keinen Grund, hier besondere Einfluß- und Aufsichtsrechte zu inaugurieren. b) Parteiparitätische Finanzierungen der Stiftungen Mit der Privatisierung erschloß das Saarland für nichtstaatliche Bildungseinrichtungen eine neue Finanzquelle. Das war jedoch nicht der eigentliche Sinn der Einbeziehung der Stiftungen in das Medienunternehmen,52 sondern nur eine (erwünschte) Folge. Das Saarland war nicht verpflichtet, die parteinahen Stiftungen zu finanzieren.53 Es lag in seinem Ermessen. Als es sich zur Übertragung der Geschäftsanteile entschloß, mußte es aber die Grundrechte beachten, insbesondere die Gleichheit.54 Eben das tat es, indem es alle damals politisch relevanten Parteien berücksichtigte nach einem Schlüssel, der in typisierter Form der langfristigen, bisherigen Bedeutung der Patronatsparteien entsprach. Die Verfassung verlangt nicht, vorausschauende Regelungen zu treffen, die auch den künftigen, noch nicht vorhandenen und nicht vorhersehbaren politischen Bildungswerken gerecht werden könnten.55 Diesen Schlüssel kritisiert Morlok als verfassungswidrig, zum einen, weil er sich nicht genau an das jüngste Wahlergebnis im Zeitpunkt der Privatisierung gehalten habe, zum anderen, weil er starr ausgefallen und nicht dynamisiert, den künftigen Wahlergebnissen nicht angepaßt worden sei. Morlok hält es für „unerklärlich“ und „problematisch“, daß sich der Verteilungsschlüssel nicht an dem zur Zeit des Vermögensübergangs bestehenden Wahlergebnis vom 14. Juni 1970 orientiert habe

51 Eigens als Aufgabe der Parteien genannt in § 1 Abs. 2 PartG. Dazu BVerfGE 73, 1 (33 f.). 52 Das aber ist die Absicht Morloks (Fn. 1), S. 30 ff. 53 SaarlVerfGH (Fn. 2), S. 539. Zum Bundesrecht Philip Kunig, Parteien, in: HStR III, 3 2005, § 40 Rn. 102; Rudolf Streinz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hg.), GG, 2. Bd., 62010, Art. 21 Abs. 1 Rn. 181. 54 SaarlVerfGH (Fn. 2), S. 539. Zur Gleichheit bei Privatisierungsmaßnahmen BVerfGE 12, 354 (367 ff.) – Volkswagenwerk. 55 SaarlVerfGH (Fn. 2), S. 540, 541.

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(CDU 47,8 %, SPD 40,8 %, FDP 4,4 %).56 Doch äußert er sich nicht dazu, ob die Wählerstimmen oder die Parlamentsmandate maßgebend sein sollen. Im zweiten Fall wäre die Stiftung der FDP zunächst leer ausgegangen, später aber einbezogen worden, auch das nur zeitweilig. So oder so, wahlergebnis- oder fraktionsproportional, müßten sich die Quoten von Wahl zu Wahl verschieben. Die GSB wäre zu einer Verteilungsstelle für Stimmrechte und Zuwendungen geraten, die notwendig der staatlichen Aufsicht bedurft hätte. Der Gesellschaftsvertrag bietet nach Wortlaut wie Sinn keine Grundlage für die dynamische Verweisung solcher Art, wobei offenbleiben mag, ob das Gesellschaftsrecht eine solche Regelung überhaupt ermöglicht hätte. Zu Recht stellt der Verfassungsgerichtshof des Saarlandes fest, daß das Land bei der Privatisierung vom status quo ausgehen durfte und von Verfassungs wegen nicht verpflichtet war, vorausschauend Regelungen zu treffen, die auch künftig neu entstehenden Stiftungen oder Bildungseinrichtungen Rechnung getragen hätten.57 Nach Vorstellung der Landesregierung sollte die Zusammensetzung der „rein saarländischen Institution“ ein Bild der derzeitigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kräfte wiedergeben,58 der derzeitigen also, nicht der jeweiligen Kräfte. Es ging um den Zustand, der zur Zeit der Privatisierung bestand. Anders gewendet: um eine Momentaufnahme, nicht um einen Film der fortlaufenden Entwicklung. Die Entstehungsgeschichte ergibt keinen Grund für die ergänzende Vertragsauslegung dahin, daß sich die Gesellschaft den jeweiligen Kräfteverhältnissen anzupassen habe. Eine Anpassungspflicht hätte die Verantwortung des Staates für die GSB und mittelbar für die Zeitung perpetuiert und stetige Beobachtung und Direktion gefordert. Das aber widersprach dem Willen der Landesregierung, die sich endgültig und vorbehaltlos aus dem Presseunternehmen zurücknehmen, einen Schlußstrich ziehen und keinerlei Ingerenzbefugnisse beibehalten wollte.59 Der Staat wollte „loslassen“. Die Parteiakzessorietät der Geschäftsanteile wäre verfassungswidrig gewesen. Denn sie hätte die unmittelbare Abhängigkeit der politischen Stiftung von der Patronatspartei bewirkt und die Förderung der Stiftung als Förderung der Partei behandelt. Doch gerade in finanzieller Hinsicht gilt die Stiftung als unabhängig von ihrer Partei. Der ideologischen Nähe korrespondiert die finanzielle wie organisatorische Distanz.60 c) Zwischenbilanz Die nunmehrigen Eigner der Saarbrücker Zeitung haben keinen nachwirkenden Einfluß des Staates zu gewärtigen. Das Saarland trägt keine Folgenverantwortung. 56

Morlok (Fn. 1), S. 16. Die Kritik müßte sich auch gegen die Zuschüsse an die Stiftungen aus dem Bundeshaushalt richten. Denn diese werden nach dem Durchschnitt des Erfolgs der Parteien bei den letzten vier Bundestagswahlen verteilt. 57 SaarlVerfGH (Fn. 2), S. 540. 58 Antrag (Fn. 14), S. 8. 59 SaarlVerfGH (Fn. 2), S. 540. 60 BVerwGE 106, 177 (185); SaarlVerfGH (Fn. 2), S. 538.

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Die Gewinnausschüttungen sind „als die eines Privatunternehmens zu betrachten und nicht – mittelbar – als weitere Zuwendungen des Staates“.61 Vorteile, welche die Stiftungen genießen, werden nicht vom Staat erbracht, sondern von der Saarbrücker Zeitung erwirtschaftet. Ob überhaupt und in welcher Höhe Ausschüttungen möglich werden, hängt vom Geschäftserfolg des Medienunternehmens ab.62 4. Die verfassungsrechtliche Konsequenz: grundrechtlicher Status der Gesellschaft und ihrer Gesellschafter Mit dem Übergang von der staatlichen in die private Verfügungsmacht hat die Saarbrücker Zeitung Verlag und Druckerei GmbH einen grundrechtlichen Status erlangt. Die Anteile an ihr bilden Eigentum im Sinne des Art. 14 GG. Das Gesellschaftsrecht gestaltet hier das Recht am Unternehmen und das Anteilseigentum aus und prägt so den Inhalt des Eigentums, das den Gegenstand der verfassungsrechtlichen Garantie bildet.63 Als grundrechtliches Eigentum werden nicht nur die Geschäftsanteile der GSB an der Saarbrücker Zeitung geschützt, sondern auch die der Stiftungen an der GSB, denen damit das „Eigentum am Unternehmen“ der GSB zukommt.64 Das Zeitungsunternehmen steht unter dem Schutz der Pressefreiheit. Darüber hinaus genießt es wie ihre Eigner, die GSB und ihre Gesellschafter, die grundrechtliche Vereinigungsfreiheit. Ihnen kommt zusätzlich die Berufsfreiheit zu, die nicht dadurch ausgeschlossen wird, daß sie nicht auf Gewinn ausgehen.65 Aus der Sicht der Verfassung des Saarlandes ergibt sich nichts Neues. Die Landesgrundrechte stimmen mit den Bundesgrundrechten im Wesentlichen überein. Die Eigentumsgarantie nach Art. 18 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 51 SaarlVerf entspricht ihrem Wortlaut nach weitgehend der Garantie des Art. 14 GG.66 Die Berufsfreiheit wird zwar nicht ausdrücklich gewährleistet, jedoch durch andere Grundrechte abgedeckt: partiell durch die Gewerbefreiheit (Art. 44 SaarlVerf), im Übrigen durch die Allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 S. 1 SarlVerf).67 Eine durchgängige grundgesetzkonforme Auslegung liegt nahe. Sollten gleichwohl die Landesgrundrechte in Umfang oder Schutzwirkung hinter den Bundesgrundrechten

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SaarlVerfGH (Fn. 2), S. 540. Zutreffend SaarlVerfGH (Fn. 2), S. 540 f. 63 Grundsätzlich Rudolf Wendt, Eigentum und Gesetzgebung, 1985, S. 273 f., 275 f. Vgl. auch ders. zu Art. 18 S. 1 SaarlVerf, in: Wendt/Rixecker (Hg.), Verfassung des Saarlandes, 2009, Art. 18 Rn. 10. 64 Wendt (Fn. 63), S. 273 f. 65 Grundlegend Otto Depenheuer, Staatliche Finanzierung und Planung im Krankenhauswesen, 1986, S. 109 ff. 66 Kommentierung: Wendt (Fn. 63), Art. 18 Rn. 5 ff.; Art. 51 Rn. 4 ff. 67 Anette Guckelberger, in: Wendt/Rixecker (Fn. 63), Art. 2 Rn. 2 – unter Berufung auf SaarlVerfGH, Beschl. v. 19. 3. 2004, Lv 4/03. 62

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zurückbleiben, so läge darin kein Widerspruch, sondern nur ein Minus.68 Der Status nach den Bundesgrundrechten bliebe unberührt. IV. Der besondere Auftrag der Gesellschaft für staatsbürgerliche Bildung Saar 1. Politische Bildung in saarländischer Bodenhaftung Die Privatisierung folgte nicht ausschließlich fiskalischen Gesichtspunkten. Sie berücksichtigte soziale Belange in der Beteiligung der Belegschaftsangehörigen und landespolitische in der Beteiligung der GSB. Der Staat hat nichts zu verschenken.69 Während er die meisten Geschäftsanteile an der Saarbrücker Zeitung gegen einen marktgemäßen Kaufpreis veräußerte (der freilich für die Belegschaft der Saarbrücker Zeitung um eine Treueprämie vermindert wurde), erhielt einzig die „rein saarländische Institution“ ihre Geschäftsanteile unentgeltlich, ohne eine Gegenleistung. Doch jenseits eines Synallagmas sollte sie eine Leistung im öffentlichen Interesse erbringen: die Repräsentation saarländischer Belange,70 die Wahrnehmung einer dem spezifischen Gemeinwohl des Landes dienenden Aufgabe. Nach Vorstellung der Landesregierung werde es der saarländischen Institution obliegen, Kultur, Wissenschaft und Bildung zu fördern und in konfessioneller und politischer Neutralität die Interessen des Saarlandes innerhalb der Saarbrücker Zeitung zu vertreten. Regierung und Opposition waren sich einig, die Saarbrücker Zeitung als saarländische Angelegenheit71 und als Sprachrohr des Landes zu erhalten. Die Satzung der GSB stellt klar, daß die Gesellschaft ihre Aufgaben nicht notwendig in eigener Regie erfüllen muß, sondern daß sie sich anderer Institutionen und Gesellschaften als Mittler bedienen kann, und bestätigt so die Praxis, daß die Dachgesellschaft nur zu einem geringen Teil selber in Aktion tritt, etwa in der Förderung von Filmprojekten und sonstigen Kulturvorhaben, daß sie überwiegend die Erträge an ihre Gesellschafter, die drei politischen Stiftungen, nach dem Paritätenschlüssel weiterleitet, die, als solche gemeinnützig und auf analoge Ziele wie die GSB ausgerichtet, die eigentliche Bildungsarbeit leisten. Der Dachgesellschaft selbst kommt denn auch der steuerrechtliche Status der Gemeinnützigkeit nicht zu.

68 Jost Pietzcker, Zuständigkeitsordnung und Kollisionsrecht im Bundesstaat, in: HStR VI, 2008, § 134 Rn. 71. 69 Zur Preisgestaltung bei der Veräußerung öffentlichen Vermögens BVerfGE 12, 354 (364 ff.) – Volkswagen-Werk. 70 Richtungweisende Monographie: Joseph H. Kaiser, Die Repräsentation organisierter Interessen, 21978. 71 So der Abg. Conrad (SPD) in der Landtagsdebatte über den Antrag (S. 2052). Verfassungsrechtliche Sicht SaarlVerfGH (Fn. 2), S. 540. 3

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2. Politische Neutralität der GSB Die Wahrung saarländischer Belange hätte auch die Universität des Saarlandes oder eine andere Einrichtung im Lande übernehmen können. Doch die Regierung entschied sich für die drei politischen Stiftungen. Als gemeinnützige Bildungsträger taugten sie dazu, ideelle Belange in das Zeitungsunternehmen einzubringen. Das Risiko parteipolitischer Einseitigkeit wurde gebannt dadurch, daß sie nicht als einzelne und nicht unmittelbar am Zeitungsunternehmen beteiligt wurden, sondern vermittelt über die GmbH, deren Gesellschafter sie waren. In dieser gelangen die unterschiedlichen politischen Weltanschauungen der Parteien zum Ausgleich. Die „politische Neutralität“, die das Gründungsdokument anstrebt,72 pendelt sich innerhalb des gesellschaftsrechtlichen Konstrukts von selber ein, ohne daß es der staatlichen Nachhilfe bedarf. Die politische Neutralität bezieht sich auf die GSB, auf die Ausübung ihrer Rechte im Zeitungsunternehmen und auf ihre eigene Bildungsarbeit. Dagegen werden die einzelnen Gesellschafter der GSB, die drei parteinahen Stiftungen, nicht neutralisiert und nicht genötigt, sich völlig von „ihrer“ Partei zu trennen, so daß sie ihre Parteinähe verlören und damit ihre Identität einbüßten. Der Umstand, daß die Stiftungen aller drei konkurrierenden Parteien nach einem Paritätenschlüssel bedacht wurden, der, auf längere Zeit gesehen, dem Kräfteverhältnis der Parteien im Saarland annäherungsweise entsprach, berücksichtigte „alle dauerhaften, ins Gewicht fallenden Grundströmungen“ und trug der „pluralen Struktur der gesellschaftlichen und politischen Kräfte Rechnung“, wie es der Gleichheitssatz gebietet.73 Die Anbindung der Stiftungen an die Landesverbände der Parteien gibt Seßhaftigkeit und Bodenhaftung. Das gesellschaftsrechtliche Konstrukt der GSB bietet aus sich heraus die Gewähr dafür, daß die öffentlichen Belange des Privatisierungsvorhabens wirksam werden, gleichsam über eine List der Vernunft, die sich der politischen Interessen bedient. Die Landesregierung konnte sich guten Gewissens mit der Privatisierung aus ihrer Verantwortung für die Saarbrücker Zeitung zurückziehen. Die Stiftungen operieren nicht im rechtsfreien Raum. Sie sind an die Regeln der allgemeinen Gesetze gebunden, zumal an die des Gesellschafts- und des Gemeinnützigkeitsrechts. Zugleich unterliegen sie den richterrechtlichen Geboten der relativen Distanz zu ihren jeweiligen Parteien: als „rechtlich und tatsächlich unabhängige Institutionen“, die sich „selbständig, eigenverantwortlich und in geistiger Offenheit“ ihrer Bildungsaufgabe widmen, gegenüber den Parteien, die sie gegründet haben,74 „,Selbstläufer‘ nach der Art einer einmal ins Rollen gebrachten Kugel“.75 Ihnen ist die Teilnahme am Machtwettbewerb versagt. Sie engagieren 72

Antrag der Landesregierung (Fn. 14), S. 7 f. SaarlVerfGH (Fn. 2), S. 540. 74 BVerfGE 73, 1 (32). 75 BVerwGE 106, 177 (184). 73

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sich nicht im Wahlkampf, und sie unterstützen „ihre“ Partei nicht finanziell, indem sie Spenden aufbringen, einwerben und vermitteln. Der Gemeinwohlauftrag der GSB ändert nichts an ihrem grundrechtlichen Status als Anteilseigner der Zeitung. Grundrechtlich gesehen, wird die GSB gegenüber den anderen Gesellschaftern, dem Medienkonzern wie der Belegschaft, weder benachteiligt noch bevorzugt. V. Rechtliche Wege einer Gleichstellung der neuen Parteien Auf drei Wegen ist eine Gleichstellung der neuen mit den etablierten Parteien denkbar, über: - die interne Anpassung der GSB im Rahmen des geltenden Privatrechts, - die externe Anpassung der GSB durch hoheitliche Regelung, - kompensatorische Leistungen aus dem Staatshaushalt. 1. Anpassung im Rahmen des geltenden Privatrechts Die Grünen wie die Linke haben sich bei der GSB vergeblich um Aufnahme ihrer Bildungswerke bemüht. Die Frage ist, ob die Gesellschaft kraft ihres Gesellschaftsvertrages oder kraft Gesetzes gezwungen ist, sich diesen zu öffnen. a) Vertragliche Aufnahmepflicht Die GmbH bestimmt kraft ihrer Privatautonomie selbst, wer ihr als Gesellschafter angehört oder wer unter welchen Voraussetzungen von ihr als Mitglied aufgenommen werden kann. Insofern gilt für die GmbH nichts anderes als für den rechtsfähigen Verein. „Die Vereinsfreiheit als Bestandteil der Privatautonomie begriffen, birgt grundsätzlich die Rechtsmacht in sich, Mitglieder aufzunehmen oder Bewerber abzuweisen. Nach der herrschenden Meinung gibt es keinen allgemeinen Anspruch auf Aufnahme in einen Verein, und zwar grundsätzlich nicht einmal dann, wenn der Bewerber die in der Satzung festgelegten Voraussetzungen einer Vereinsaufnahme erfüllt.“76 In seiner ursprünglichen Fassung von 1970 führt der Gesellschaftsvertrag die drei Stiftungen auf, die den Vertrag geschlossen und die Gesellschaft gegründet haben. Er regelt lediglich die Verfügung über die Geschäftsanteile. Diese sind vinkuliert. Die Gesellschaft kann, wenn ein Gesellschafter seinen Anteil veräußern will, diesen selbst übernehmen oder an von ihr benannte Personen übertragen.77 76

Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 42002, S. 707. Vgl. auch Friedrich Kübler/HeinzDieter Assmann, Gesellschaftsrecht, 62006, S. 131, 543. 77 § 4 Abs. 1 und 2 Gesellschaftsvertrag von 1970 bzw. § 5 Abs. 1 und 2 Gesellschaftsvertrag von 2000. Vgl. § 15 Abs. 5 GmbHG.

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Eine Aufnahmepflicht ergäbe sich allerdings aus dem Gesellschaftsvertrag, wenn er eine dynamische Verweisung auf die jeweilige Parteienkonstellation im Saarland enthielte. Doch das ist gerade nicht der Fall.78 Die Übertragung der Geschäftsanteile erfolgte nicht unter der stillschweigenden Bedingung oder Auflage, daß sich die GSB weiteren Stiftungen als Gesellschaftern offenhalten müsse.79 Die Privatisierung der Zeitung baute nicht auf die unsinnige Erwartung, daß die Zusammensetzung des Landtags sich niemals ändern könne. Sie war ein einmaliger und endgültiger Akt, bei dem Prognosen solcher Art keine Rolle spielten. Deshalb ist der Rückgriff auf die Figur eines Wegfalls der Geschäftsgrundlage nicht möglich. b) Gesetzliche Aufnahmepflicht Von vornherein scheidet das Gleichbehandlungsgebot für politische Parteien (§ 5 PartG) als mögliche Rechtsgrundlage für einen Aufnahmezwang aus. Denn die politischen Stiftungen fallen nicht unter den Begriff der Parteien. Eine private Gesellschaft ist auch nicht Adressatin der Pflicht zur Gleichbehandlung, sondern nur die Träger öffentlicher Gewalt. – Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz ist nicht anwendbar. Es schützt natürliche Personen vor Benachteiligung, nicht aber juristische Personen. Nicht zum Zuge kommt auch die Vorschrift des § 20 Abs. 5 GWB: daß Wirtschafts- und Berufsvereinigungen die Aufnahme eines Unternehmens nicht ablehnen dürfen, wenn die Ablehnung eine sachlich nicht gerechtfertigte ungleiche Behandlung darstellt und zu einer unbilligen Behandlung des Unternehmens im Wettbewerb führen würde. Wirtschafts- und Berufsvereinigungen verbinden mitgliedschaftliche Unternehmen, um wirtschaftliche, berufliche oder soziale Interessen zu fördern und zu repräsentieren.80 Zwecke dieser Art sind einer Gesellschaft fremd, die Wissenschaft, Kultur und Bildung uneigennützig fördert und unternehmensintern die Belange des Saarlandes vertritt. Als gesetzliche Grundlage für einen Aufnahmezwang, der seinerseits Unterfall eines Kontrahierungszwangs ist, erkennt die Rechtsprechung seit den Tagen des Reichsgerichts die Generalklausel des § 826 BGB an.81 Dieser Anspruch ist an enge Voraussetzungen geknüpft: an die Monopolstellung des Verbandes, die Sittenwidrigkeit der Ablehnung, die Existenznotwendigkeit der Mitgliedschaft für den Bewerber, an die Erfüllung der satzungsmäßigen Aufnahmebedingungen durch den Bewerber.82 Keine dieser Voraussetzungen ist erfüllt. Die GSB hat keine Monopolstellung. Sie agiert auf einem offenen Markt der Bildungsanbieter. Die neuen 78

S. o. III. 3. b). Etwa gemäß § 525 Abs. 2 BGB. 80 Helga Scholz-Hoppe, Das Recht auf Aufnahme in Wirtschafts- und Berufsvereinigungen, in: Festschrift für Gerd Pfeifer, 1988, S. 785 (787). 81 RGZ 60, 94 (102 ff.); 106, 120 ff. 82 Kübler/Aßmann (Fn. 76), S. 544. 79

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politischen Stiftungen sind nicht auf die Beteiligung an der GSB angewiesen, um überleben zu können. Sie kämpfen lediglich um eine Einnahmequelle. Die Ablehnung der Aufnahme wäre denn auch nicht notwendig ein Akt offenbarer Willkür und Ausdruck verwerflicher Absichten, mithin nicht per se sittenwidrig. Eine weitergehende Grundlage für einen Aufnahmezwang wird über eine Paragraphenkette konstruiert: §§ 823 Abs. 2, 826 BGB und §§ 20 Abs. 5, 21, 33 GWB.83 Hier wird nicht mehr eine Monopolstellung des Verbandes vorausgesetzt, sondern nur noch seine soziale Mächtigkeit. Doch diese allein zieht noch keinen Aufnahmezwang nach sich. Auch ein sozial mächtiger Verband kann sich auf seinen bisherigen Mitgliederbestand beschränken. Auch er darf kraft seiner Verbandsautonomie Mitgliederselektion betreiben.84 Ein Aufnahmezwang kommt nur dann in Betracht, wenn die Ablehnung den Beitrittswilligen ohne sachlich rechtfertigenden Grund benachteiligen würde.85 Eine offene Frage ist, ob der Aufnahmezwang sich auf wirtschaftliche und politische Verbände beschränkt, so daß ihm Idealverbände, wie die Gesellschaft für staatsbürgerliche Bildung, von vornherein nicht unterliegen.86 Jedenfalls muß der Verband „im wirtschaftlichen und sozialen Bereich eine überragende Marktstellung“ innehaben.87 Eine solche spricht der Bundesgerichtshof dem Deutschen Sportbund gegenüber einem Radsportverband zu88 oder einer Einheits-Gewerkschaft gegenüber einem Beitrittskandidaten.89 Doch damit läßt sich das Verhältnis der GSB zu den Aufnahmeprätendenten nicht vergleichen. Jener kommt keine soziale Überlegenheit zu; diese sind auf die Aufnahme nicht angewiesen, um gesellschaftliche Wirksamkeit zu erlangen. Sie haben nicht jenes „wesentliche oder grundlegende Interesse“, vor dem in einer Interessenabwägung die Verbandsautonomie zurücktreten müßte.90 Im Schrifttum wird ein Aufnahmezwang für einen Verband angenommen, der mit der Wahrnehmung öffentlicher Funktionen betraut oder vom Staat privilegiert ist.91 Die These hat sich jedoch nicht durchgesetzt.92 Der Umstand, daß die Gesellschaft ihre wirtschaftliche Basis einer mehr als vier Jahrzehnte zurückliegenden Privatisierungsmaßnahme verdankt, bedeutet heute kein Privileg. Ihre spezifische Gemeinwohlverpflichtung auf saarländische

83

Schmidt (Fn. 76), S. 708 f.; Kübler/Assmann (Fn. 76), S. 544 ff. Schmidt (Fn. 76), S. 709. 85 BGHZ 63, 282 (285); 140, 74 ff.; Scholz-Hoppe (N 80), S. 786 f.; Kübler/Assmann (Fn. 76), S. 544 ff.; Schmidt (Fn. 76), S. 709 f. 86 So B. Grunewald, Vereinsaufnahme und Kontrahierungszwang, in: AcP 182 (1982), S. 182 (213). Ablehnend Scholz-Hoppe (Fn. 80), S. 786 ff. 87 BGHZ 93, 151 (152); 110, 156 (164); 140, 74 (77 f.). 88 BGHZ 63, 282 (285). 89 BGHZ 93, 151 (152) – IG Metall. 90 BGHZ 93, 151 (152). Zu den verfassungsrechtlichen Daten der Abwägung ScholzHoppe (Fn. 80), S. 788 ff. 91 G. Teubner, Organisationsdemokratie und Verbandsverfassung, 1978, S. 275 ff. 92 Kübler/Assmann (Fn. 76), S. 546 – „offene Fragen“. 84

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Interessen kann nicht die Pflicht nach sich ziehen, sich anderen Organisationen im Saarland zu öffnen. Das Bundesverfassungsgericht kontrolliert privatrechtliche Beziehungen auf ihre Übereinstimmung mit grundrechtlichen „Werten“ und schränkt die Privatautonomie ein, wenn ein wirtschaftliches oder soziales Ungleichgewicht vorliegt, um die Position der schwächeren Seite zu schützen.93 Der „Schutzauftrag“ aktualisiert sich, wo eine rechtsgeschäftliche, zumal eine vertragliche Abhängigkeit besteht, die der stärkeren Seite die Pflicht zur Fürsorge, Solidarität oder Rücksichtnahme auferlegt. Nichts von dem findet sich im Verhältnis zwischen den „alten“ und den „neuen“ Stiftungen bzw. zwischen letzteren und der GSB. Eher lassen sich hier Ansätze zum Wettbewerb zwischen den politischen Stiftungen erkennen. Die Voraussetzungen für eine sozialstaatliche Schutzpflicht fehlen. 2. Hoheitliche Anpassung der GSB a) Widerstand der Grundrechte Da das Privatrecht versagt, kommt eine hoheitliche Regelung in Betracht. Die Gleichstellung der „neuen“ und „alten“ Stiftungen könnte dadurch erreicht werden, daß der Gesetzgeber die „neuen“ Stiftungen der GSB als Gesellschafter aufzwingt, die GSB verstaatlicht oder aber ihre Ausschüttungen in den Landeshaushalt überführt und diese nach neuem Schlüssel unter allen Stiftungen der im Landtag vertretenen Parteien verteilt.94 Alle diese Maßnahmen stoßen auf Grundrechte der GSB sowie die ihrer Gesellschafter.95 Der Oktroi von weiteren Gesellschaftern trifft die GSB wie ihre bisherigen Gesellschafter in ihrer Vereinigungsfreiheit, zu der die Entscheidung über die Aufnahme von Mitgliedern gehört.96 Eine im Zivilrecht gründende Einschränkung der Privatautonomie für Monopolverbände und sozial oder wirtschaftlich mächtige Vereine kommt hier nicht in Betracht.97 Eine Regelung, die nicht an den Gesellschafterbestand der GSB rührte, aber ihre Ausschüttungen auf den Landeshaushalt umleitete, griffe ebenfalls in das Grundrecht des Art. 9 Abs. 1 GG ein, sowohl aufseiten der Gesellschaft als auch aufseiten der Gesellschafter. Für letztere bedeutete es die Enteignung ihrer Geschäftsanteile. Die Staatsleistungen böten keine angemessene Entschädigung, und das nicht allein deshalb, weil bei größerer Zahl der Destinatare die Quote für den einzelnen geringer ausfiele als zuvor, sondern 93 Leitentscheidungen: BVerfGE 81, 242 (254 ff.) – Handelsvertreter; 89, 214 (229 ff.) – Bürgschaft. Zu dieser „sozialstaatlichen“ Schutzpflicht mit weit. Nachw. Josef Isensee, Privatautonomie, in: HStR VII, 32009, § 150 Rn . 100 ff., 113 ff., 127 f.; ders., Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: HStR IX, 32011, § 191 Rn. 196 ff. 94 S. o. II. 2. 95 S. o. IV. 4. 96 Detlef Merten, Vereinsfreiheit, in: HStR VII, 32009, § 165 Rn. 48. 97 S. o. V. 1. a).

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auch deshalb, weil eine staatliche Dotation kein gleichwertiger Ersatz für den Geschäftsanteil wäre. Der Widerspruch zur Vereinigungsfreiheit und zur Eigentumsgarantie fiele noch krasser aus, wenn die GSB liquidiert oder verstaatlicht würde. b) Verbot des Einzelfallgesetzes Der Eingriff in den Bestand oder in die Struktur der Gesellschaft löst den Vorbehalt des Gesetzes aus. Doch nicht jedes Gesetz kommt in Betracht, sondern nur ein solches, das allgemein ist und nicht für den Einzelfall gilt (Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG). Die formelle Allgemeinheit des Gesetzes wirkt darauf hin, daß der Einzelfall materiell verallgemeinerungsfähig geregelt wird und die grundrechtsbeschränkende Maßnahme mit dem grundrechtlichen Erfordernis der Gleichheit vereinbar ist. Das Verbot des Einzelfallgesetzes sichert überdies die Gewaltenteilung zwischen der Legislative und der Exekutive ab und verhindert eine Minderung des Rechtsschutzes.98 Die Umgestaltung oder die Liquidation der GSB träfe ausschließlich diese eine Gesellschaft und ihre drei Gesellschafter und erschöpfte sich in der Regelung dieses Einzelfalles. So würden die denkbaren Eingriffe schon an der formellen Voraussetzung der Allgemeinheit der gesetzlichen Grundlage scheitern. Daher braucht die Sachfrage, wieso gerade die Betroffenen ein Sonderopfer erbringen sollen und ob sich dieses vor dem Gleichheitssatz rechtfertigen läßt, erst gar nicht erörtert zu werden. Das Grundgesetz statuiert allerdings eine Ausnahme vom generellen Verbot des Einzelfallgesetzes, indem es neben der Administrativ-Enteignung „aufgrund eines Gesetzes“ die (Legal-)Enteignung „durch Gesetz“ vorsieht (Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG). Die Ausnahme kommt jedoch nur für solche Eingriffe in Betracht, die enteignenden Charakter haben und soweit sie diesen haben und nicht zugleich andere Grundrechte betreffen – wie hier die Vereins- und die Berufsfreiheit. Doch unabhängig von diesem Anwendungshindernis kommt die Legalenteignung nicht ohne weiteres zum Zuge. Das reguläre Verfahren ist die Administrativenteignung. Die Legalenteignung, die sich an der Gewaltenteilung wie an der Rechtsschutzgarantie reibt, ist nur in eng begrenzten Fällen zulässig. Sie bedarf der Rechtfertigung durch besondere Umstände des Einzelfalles,99 wie sie etwa in den ersten Jahren nach der deutschen Wiedervereinigung bei der Planfeststellung zur „Südumfahrung Stendal“ vorlagen, als es von der Sache her geboten war, das Enteignungsverfahren abzukürzen.100 Solche Umstände liegen hier nicht vor.

98 Gregor Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes, 2009, S. 196 ff.; ders., Allgemeinheit des Verfassungsgesetzes, in: HStR XII, 32014, § 267 Rn. 11 ff. 99 BVerfGE 24, 367 (401 f.); 45, 297 (331 f., 333); 95, 1 (22 f.); G. Kirchhof, (N 98), S. 227 ff.; Klaus Stern, in: ders./Florian Becker (Hg.), Grundrechte-Kommentar, 2010, Art. 14 Rn. 238 ff. – Analog zu Art. 51 Abs. 2 S. 1 SaarlVerf Rudolf Wendt, in: Wendt/Rixecker (N 63), Art. 51 Rn. 14. 100 BVerfGE 95, 1 (22 ff.).

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3. Kompensatorische Leistungen aus dem Staatshaushalt a) Distanz und Nähe zwischen Partei und Bildungswerk Die Vor- und Nachteile „alter“ und „neuer“ politischer Stiftungen können nicht ohne weiteres den politischen Parteien, denen sie nahestehen, zugerechnet werden. Denn die Stiftungen sind von den Parteien organisatorisch und finanziell unabhängig. Sie verfolgen ihre eigenen Ziele und nehmen nicht teil am Wettstreit „ihrer“ Parteien um die parlamentarische Macht.101 Dennoch schließt der Saarländische Verfassungsgerichtshof nicht von vornherein aus, daß eine unterschiedliche staatliche Förderung der Stiftungen die Chancengleichheit der Parteien verletzen könne, weil die Parteien aus der Arbeit der ihnen nahestehenden Stiftungen „regelmäßig einen größeren Vorteil“ zögen als andere. Das genügt dem Gericht, um der „benachteiligten“ Partei die Antragsbefugnis im Organstreit zuzuerkennen.102 Die Prämisse ist jedoch, daß es sich bei den Ausschüttungen um eine „staatliche Förderung“ handelt.103 Eben das ist nicht der Fall. b) Kein Ausgleich für Kapitalerträge Mit der Privatisierung hat sich das Saarland vollständig von der Saarbrücker Zeitung, der eigentlichen Finanzquelle, gelöst. Die Gesellschaftsanteile der Stiftungen sind reguläres Privatvermögen, die Ausschüttungen Kapitalerträge, nicht aber Staatsleistungen. Diese unterliegen dem Gleichbehandlungsgebot, nicht aber private Kapitalerträge. Daher scheidet eine Ausgleichspflicht von vornherein aus. Die Kapitalerträge mögen mittelbar auch die korrespondierenden Parteien tatsächlich begünstigen. Doch die mittelbar wirkenden realen Vorteile sind rechtlich nicht anders zu beurteilen als die realen Vorteile, welche die Parteien unmittelbar genießen. Wenn bürgerliche Parteien mehr Spenden aus Wirtschaftskreisen erhalten als sozialistische, so können letztere doch nicht verlangen, am Spendenaufkommen beteiligt zu werden oder Ausgleichszahlungen aus der Staatskasse zu erhalten. Der üppige Medienbesitz, den die SPD in ihrer langen Geschichte aufgebaut hat, mag ihr politisch nützen, doch braucht sie ihren Reichtum nicht mit den wirtschaftlich darbenden und auf den Medieneinfluß neidischen Konkurrenzparteien zu teilen. Diese erhalten auch keinen Anspruch auf ein Surrogat. Sollte sich der hartnäckige Verdacht einmal bestätigen, daß die SED/PDS in den letzten Tagen ihrer DDRHerrschaft gigantische Vermögensmassen versteckt104 und daß Die Linke als ihre Nachfolgepartei davon heimlich gezehrt habe, so könnten die anderen Parteien 101

BVerfGE 75, 1 (31 ff.). SaarlVerfGH (Fn. 2), S. 538. SaarlVerfGH (Fn. 2), S. 538 f. BVerwGE 106, 177 (183 f.). 103 SaarlVerfGH (Fn. 2), S. 539. 104 Bericht der Unabhängigen Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Parteien und Massenorganisationen der DDR, Bd. 2 – SED/PDS-Vermögen, 1998 (BT-Drs. 13/11353), S. 67 ff., 71 ff., 75 ff., 83 ff. 102

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nicht verlangen, mit ihr die Beute zu teilen oder sich von der Staatskasse schadlos halten zu lassen. Falls das Saarland sich entschlösse, allen politischen Stiftungen Zuwendungen aus der Staatskasse zu leisten, jedoch die Ausschüttungen der Saarbrücker Zeitung bzw. der GSB darauf anrechnete, diese so behandelte, als ob sie ihrerseits Staatsleistungen wären, so diskriminierte sie die „alten“ Stiftungen. Der Gleichheitssatz bildet nicht etwa eine Grundlage für Anrechnung und Ausgleich, er verbietet sie geradezu. c) Ungleiche Startbedingungen im politischen Wettbewerb Die Parteien treten unter gleichen rechtlichen, aber ungleichen realen Bedingungen in den demokratischen Wettbewerb ein: ungleich an Alter, Mitgliederzahl, Erfahrung, Reputation, Geschick wie auch an Organisationspotential und Finanzkraft. Doch die Ungleichheit der Startbedingungen wirkt sich nicht notwendig auf den Wahlerfolg aus. Was in ökonomischer Sicht günstig erscheint, kann sich im politischen Wettstreit als nachteilig erweisen, wenn Newcomer aus der Not eine Tugend machen, sich gegen die Etablierten und Saturierten, die Privilegierten und Verbrauchten profilieren als die Vitalen, die Spontanen, die Unprofessionellen und Unkorrumpierten und so den Charme der Sansculotten ausstrahlen. Die Chancengleichheit, wie sie das Verfassungs- und Parteienrecht gewährleisten,105 wird von alledem nicht berührt. Sie bezieht sich auf die rechtlichen Rahmenbedingungen des Wettbewerbs und auf die Ingerenzen des Staates in dem Wettbewerb, nicht aber auf die reale Basis der Wettbewerber, mag diese selbstbestimmt oder durch die gesellschaftlichen Umstände vorgegeben sein. „Der Grundsatz der Chancengleichheit verlangt nicht, vorgegebene Unterschiede auszugleichen mit dem Ziel, faktische Wettbewerbsgleichheit herzustellen. Er verwehrt es dem Staat allerdings, durch finanzielle Zuwendungen bestehende faktische Ungleichheiten der Wettbewerbschancen zu verschärfen.“106 d) Erfolgsprämien des Staates, nicht Starthilfen Generell obliegt dem Verfassungsstaat die Aufgabe, angesichts der realen Ungleichheit der Lebensverhältnisse für die realen Voraussetzungen der Ausübbarkeit der Freiheitsrechte zu sorgen.107 Er erfüllt diese Aufgabe, indem er im Parteien- und im Wahlrecht die rechtlichen Voraussetzungen für den politischen Wettbewerb bereitstellt. Die Frage ist jedoch, ob er darüber hinaus auch für die realen, vor allem für die finanziellen Voraussetzungen zu sorgen hat. Im wirtschaftlichen Bereich nimmt er sich dieser Aufgabe an, wenn er in bestimmten Branchen jungen Unternehmen eine Starthilfe bietet oder insolvenzgefährdete „systemische“ Unternehmen 105

Art. 21 Abs. 1 GG, Art. 60 Abs. 1 und Art. 63 Abs. 1 SaarlVerf, § 5 PartG. SaarlVerfGH (Fn. 2), S. 537. 107 Isensee (Fn. 42), § 190 Rn. 161 ff.

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finanziell stützt. Doch derartige Subsidien versagt er sich gegenüber den Parteien. Die Parteien, die an der Wahl teilnehmen, bekommen keine Starthilfe, sondern nur eine Erfolgsprämie, nämlich die Erstattung der Wahlkampfkosten nach Maßgabe des Wahlerfolgs.108 Der Erfolg bildet auch den Maßstab, wenn die öffentliche Hand Leistungen für die Parteien erbringt, aber genötigt ist, Prioritäten zu setzen und Abstufungen zu treffen. Sie richten sich nach der Bedeutung der Partei, die sich ihrerseits nach den Ergebnissen vorausgegangener Wahlen bemißt.109 So trägt die staatliche Finanzierung im Ergebnis eher dazu bei, den Machterhalt der „alten“ Parteien abzusichern als den Machtzugang für die „jungen“ Parteien zu erleichtern. – Vollends erweist sich die Sperrklausel als Starthindernis. Sie erschwert den Zugang zum Parlament. Sie mindert den Erfolgswert der Wählerstimmen auf Kosten der kleineren, gerade auch der neuen Parteien, und sie prämiert die etablierten Parteien, auch wenn das nicht der Zweck der Sperrklausel ist, sondern nur der Effekt der Verwirklichung des eigentlichen Zwecks, der Sicherung der Handlungsund Entscheidungsfreiheit des Parlaments.110 e) Kein sozialer Ausgleich Das soziale Staatsziel, das den Ausgleich realer Ungleichheit zugunsten der schwächeren Seite anstrebt, findet hier kein Substrat. Es bezieht sich auf Abhängigkeitsverhältnisse, in denen Freiheit und Menschenwürde gefährdet sind, nicht aber auf den demokratischen Wettbewerb. Hier waltet das liberale Verständnis der freien Konkurrenz, in der die öffentliche Gewalt nichts zu suchen hat.111 VI. Keine Gleichstellung des Ungleichzeitigen Grundrechtliche Gleichheit bezieht sich nur auf Gleichzeitiges. Chancengleichheit gilt nur für Zeitgenossen, und für diese nur innerhalb desselben Zustandes der Rechtsentwicklung.112 Die rechtliche Gunst der Stunde kommt und geht. Sie läßt sich nicht mit verfassungsrechtlichen Mitteln verewigen. Die Verfassung gewährleistet keinen Ausgleich, wenn den Späteren die Gunst vorenthalten wird, die den Früheren zuteil wurde. Umgekehrt werden die Früheren nicht entschädigt, wenn sie 108

§ 18 PartG. § 5 Abs. 1 PartG. 110 Vgl. BVerfGE 82, 322 (388 f.); 95, 408 (419 ff.). 111 Theorie des demokratischen Wettbewerbs Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (englisch 11942), dt. 21950, S. 427 ff. 112 Ein anderes Thema ist die (hier irrelevante) Möglichkeit des Vertrauensschutzes für eine einmal begründete rechtliche Position gegenüber einer Verschlechterung der gesetzlichen Grundlagen. Zu Letzterem Walter Leisner, Das Gesetzesvertrauen des Bürgers (1973), in: ders., Staat, 1994, S. 599 ff.; Anna Leisner(-Egensperger), Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, S. 455 ff.; Hartmut Maurer, Kontinuitätsgewähr und Vertrauensschutz, in: HStR IV, 3 2006, § 79 Rn. 17 ff., 75 ff. 109

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einstmals unter ungünstigeren Bedingungen wirken mußten, als sie derzeit für Alt und Jung bestehen. Gnade wie Ungnade der späten wie der frühen Geburt bilden keine Rechtstitel für soziale Umverteilung. Das mag manchem als ungerecht erscheinen. Doch falls es überhaupt ungerecht ist, handelt es sich nicht um gegenwärtige Ungerechtigkeit, die sich heute beheben ließe und behoben werden müßte, sondern um historische Ungerechtigkeit, die, einmal erlitten, nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Geschichte läßt sich nicht mit Hilfe des Gleichheitssatzes revidieren. Das verkennen die „jungen“ Parteien, die einen Vorteilsausgleich einfordern. Der Verfassungsgerichtshof des Saarlandes erteilt die grundsätzliche Lehre, daß der Staat nicht zu „intergenerationeller“ Gleichbehandlung gehalten ist. „Niemand, der Empfänger einer staatlichen Leistung sein müßte, würde sie heute gewährt, kann von Verfassungs wegen verlangen, daß ihm Ausgleich für eine Anderen in der Vergangenheit gewährte staatliche Leistung verschafft wird.“113 Fazit: Die Verfassung gibt kein Argument dafür, eine vorhandene reale Ungleichheit in der Ausstattung der Parteien auszugleichen. Sie bereitet einem etwaigen Versuch des Ausgleichs sogar Hindernisse.

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Der Maßstab der Sachgerechtigkeit Von Heike Jochum, Osnabrück Früh positionierte sich der Jubilar nachdrücklich gegen die Behauptung einer Nivellierung des Grundrechtsschutzes durch das Übermaßverbot. Er setzte der Diskussion den je spezifischen Garantiegehalt der Freiheitsrechte entgegen und gewann aus diesen Überlegungen den Maßstab der Sachgerechtigkeit.1 Auch die Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes hat stets einen festen Platz im wissenschaftlichen Wirken des Jubilars eingenommen. Vor allem spürte er der Frage nach, ob und inwieweit sich die Strukturen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung für die Fortentwicklung der gleichheitsrechtlichen Dogmatik fruchtbar machen lassen.2 Manch angeregte Diskussion konnten wir darüber während der gemeinsamen Zeit an der Universität des Saarlandes führen. Diese Gedanken verdienen der Vertiefung. I. Das Übermaßverbot und der Garantiegehalt der Freiheitsrechte Ausgangspunkt der Überlegungen ist das Übermaßverbot verstanden als Oberbegriff für die Gebote der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne. In ihm ist vor allem eine Aktualisierung und Effektuierung des grundrechtlichen Freiheitsschutzes zu erkennen. Sein umfassender Geltungsanspruch im Grundrechtsbereich hatte in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts bemerkenswerte Theorien hervorgebracht.3 Der Befund, dass es offenbar durchgängig Aufgabe und Funktion des Übermaßverbots ist, in oft fallentscheidender Weise Regeln für das jeweils zulässige Maß von Grundrechtseinschränkungen zur Verfügung zu stellen, soweit überhaupt ein Grundrechtsbereich betroffen ist, führte zu der Frage nach einer Nivellierung der Grundrechte, die das vom Grundgesetz intendierte System differenzierten Grundrechtsschutzes überrollt. Es hatte den Anschein, dass das Übermaßverbot zum Instrument nicht hinnehmbarer Gleichschaltung sämtlicher 1 Rudolf Wendt, Der Garantiegehalt der Grundrechte und das Übermaßverbot, AöR 104 (1979), S. 414 (468 ff.); aus neuerer Zeit vgl. dazu umfassend Benjamin Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, Tübingen 2009, 173 ff. 2 Rudolf Wendt, Der Gleichheitssatz, NVwZ, 1988, 778 (785); aus jüngerer Zeit Rudolf Wendt, Die Weiterentwicklung der „Neuen Formel“ bei der Gleichheitsprüfung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Festschrift für Klaus Stern zum 80. Geburtstag, hrsg. von Michael Sachs und Helmut Siekmann, Berlin 2012, S. 1553 ff. 3 Bernhard Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, Berlin 1976; Jürgen Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, Selbstverlag 1977.

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Grundrechte – also von der ihm zugedachten Funktion der Schranken-Schranke zu einer Art „nivellierender Super-Grundrechtsschranke“4 – mutieren könnte, weil es in seiner Wirkkraft nicht an ein bestimmtes Grundrecht gebunden ist. II. Der freiheitsrechtliche Maßstab der Sachgerechtigkeit Rudolf Wendt hat mit großer Klarheit den „Gegenbeweis“ angetreten und gezeigt, dass etwa den Beschränkungsvorbehalten mehr als eine bloß „nominelle“ Unterschiedlichkeit zukommt und dass die einzelnen Grundrechte wirklich über einen spezifischen Gewährleistungsgehalt verfügen, dessen Besonderheiten in einer echten Güterabwägung zum Tragen gebracht werden. An dieser Stelle muss darauf verzichtet werden, diese Ausführungen im Einzelnen nachzuzeichnen. Der gedankliche Faden ist vielmehr dort aufzunehmen und weiterzuspinnen, wo Wendt seine Überlegungen in der Ableitung des Maßstabs der Sachgerechtigkeit aus dem spezifischen Schutzgehalt des jeweiligen Grundrechts zusammenführt, welcher der jeweiligen freiheitsrechtlich determinierten Abwägung ihr individuelles, unverwechselbares Gepräge verleiht. Wenn es nämlich so ist, dass den einzelnen Grundrechten bei der Abwägung eine je spezifische Funktion zukommt, die nicht ebenso gut von einer anderen Grundrechtsgarantie erfüllt werden kann, dann lässt sich aus diesem spezifischen Schutzgehalt der Grundrechte ein Maßstab der Sachgerechtigkeit ableiten, der für Art und Ausmaß des gesetzgeberischen Eingriffs Bedeutung gewinnen, der jeweiligen Abwägung ihr individuelles Gepräge geben und ihre Überzeugungskraft erhöhen kann. Mit „Sachgerechtigkeit“ ist dabei das besondere Abgestelltsein einer freiheitsverkürzenden Regelung auf die inhaltliche Sachgesetzlichkeit des jeweiligen Grundrechts bzw. der von der Thematik des Grundrechts erfassten Belange gemeint. Vor diesem Hintergrund hat Rudolf Wendt eine treffende Formel entwickelt, die allgemein dazu taugt, freiheitsrechtliche Abwägungsentscheidungen zu strukturieren und in ihrer rationalen Überzeugungskraft ganz erheblich zu stärken. Danach gilt: „Je stärker die innere Beziehung der mit der Regelung zu lösenden Aufgabe hierzu (sic: der Sachgesetzlichkeit des jeweiligen Grundrechts) ist, desto größer ist die Legitimationskraft des gesetzgeberischen Anliegens. Je weniger „schutzgutspezifisch“ dagegen das mit dem Eingriff verfolgte Anliegen ist, desto höheren Anforderungen unterliegt die Rechtfertigung.“5

4 Rudolf Wendt, Der Garantiegehalt der Grundrechte und das Übermaßverbot, AöR 104 (1979), S. 414 (422). 5 Rudolf Wendt, a. a. O., S. 414 (468).

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III. Der gleichheitsrechtliche Maßstab der Sachgerechtigkeit Schon früh wurde betont, dass das im freiheitsrechtlichen Kontext herangezogene Kriterium der willkürfreien Sachgerechtigkeit nicht identisch sei mit dem Willkürverbot bzw. dem Erfordernis der Sachgerechtigkeit im Sinne von Art. 3 Abs. 1 GG. Dieses sei als Maßstab auf Fälle beschränkt, in denen die rechtliche Operation darin bestehe, zwei Tatbestände miteinander zu vergleichen, um eine eines plausiblen Grundes ermangelnde, „willkürliche“ Verschieden- oder Gleichbehandlung feststellen zu können.6 Nun ist allerdings zu konstatieren, dass die gleichheitsrechtliche Dogmatik in den vergangenen Jahrzehnten nicht zuletzt aufgrund substanzieller Beiträge des Jubilars eine ganz erhebliche Konturierung erfahren hat. Ging die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anfangs von einem recht grob geschnittenen Willkürverbot aus und deutete differenzierendere Prüfungsansätze nur an,7 entwickelte das Gericht beginnend mit der sogenannten „Neuen Formel“8 nach und nach ein feiner strukturiertes Prüfungsprogramm, das in nun gefestigter Rechtsprechung dem allgemeinen Gleichheitssatz je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen gesetzgeberischen Handelns entnimmt, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen.9 Es lassen sich insoweit immer stärker „Ansätze einer Integration von Willkürverbot und Gebot verhältnismäßiger Gleichheit“10 erkennen. Umstritten ist allerdings bis heute, inwieweit bei der damit aufgegebenen Verhältnismäßigkeitsprüfung auf die Grundsätze der zu den Eingriffen in Freiheitsrechte entwickelten Verhältnismäßigkeitsprüfung zurückgegriffen werden kann.11 Die nachfolgenden Überlegungen wagen den Versuch einer weiteren Klärung dieses Streits. Im Zentrum steht die Frage, ob dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG ein Maßstab der Sachgerechtigkeit zu entnehmen ist, der die gleichheitsrechtlich gebotenen Wertungen und Abwägungen in ähnlicher Weise determiniert und prägt, wie dies für die freiheitsrechtliche Dogmatik nachgewiesen wurde.

6 Gemeinschaftsgutachten Peter Badura/Fritz Rittner/Bernd Rüthers, Mitbestimmungsgesetz 1976 und Grundgesetz, 1977, S. 190 ff. zitiert nach Rudolf Wendt, Der Garantiegehalt der Grundrechte und das Übermaßverbot, AöR 104 (1979), S. 423 FN 42. 7 BVerfGE 1, 14 (52); 11, 245 (253); 14, 142 (150); 78, 104 (121). 8 BVerfGE 55, 72 (88); 60, 123 (133 f.), 65, 104 (112 f.); 82, 60/86. 9 BVerfGE 88, 87 (96). 10 Lerke Osterloh, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 7. Aufl., München 2014, Art. 3 GG Rdnr. 30. 11 Rudolf Wendt, Die Weiterentwicklung der „Neuen Formel“ bei der Gleichheitsprüfung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Festschrift für Klaus Stern zum 80. Geburtstag, hrsg. von Michael Sachs und Helmut Siekmann, Berlin 2012, S. 1553 (1554 Fn. 6); ablehnend Jörn Ipsen, Staatsrecht II, 15. Aufl., München 2012, Rdnr. 813 ff., der eine nicht mehr kontrollierbare Abwägungsdiffusion befürchtet; befürwortend Gerrit Manssen, Staatsrecht II, 9. Aufl., München 2012, Rdnr. 839 ff.

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1. Gleichheitsrechtliche Wertungen Offenkundig unterscheidet sich die Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes ganz erheblich von der der Freiheitsgrundrechte.12 Es liegt zwar auf der Hand, dass auch insoweit zahlreiche rechtliche Wertungen vorzunehmen sind. Doch sind diese in eine grundlegend andere Konzeption eingebettet.13 Zu fragen ist a) nach der Vergleichbarkeit von Personen oder Sachverhalten14 und nicht etwa nach den Grenzen eines sachlichen und personellen Schutzbereichs wie er von den Freiheitsrechten her bekannt ist. Weiter sind b) staatliche Differenzierungen oder Gleichbehandlungen dahingehend zu überprüfen, ob sie nach Art und Gewicht den vorgefundenen Gemeinsamkeiten und Unterschieden bei wertender Betrachtung entsprechen; mit einer freiheitsrechtlichen Eingriffsprüfung haben solche Überlegungen wenig gemein. Am ehesten findet sich eine Parallelität gleichheits- und freiheitsrechtlicher Kontrolle, wenn c) der Frage nach der Rechtfertigung staatlichen Handelns nachzugehen ist. Insoweit gilt es hier wie da wertend und abwägend auszuloten, ob die angeführten legitimierenden Belange und Interessen nach ihrer Art und ihrem Gewicht in der Lage sind, den an sich von Verfassungs wegen gebotenen Schutz zu versagen. a) Die Frage der Vergleichbarkeit Die Anwendung des allgemeinen Gleichheitssatzes setzt einen Vergleich voraus und dieser wiederrum hat zur Vorbedingung, dass die zueinander in Beziehung gesetzten Personen überhaupt vergleichbar sind, also Kommensurabilität besitzen.15 Notwendig ist also zunächst die Feststellung, dass die vom Gesetzgeber ungleich behandelten Personen in wesentlichen Elementen miteinander vergleichbar sind. Dabei ist bekanntermaßen keine vollständige Identität zu verlangen;16 vielmehr wird ebenso vorausgesetzt, dass stets gewisse Verschiedenheiten vorzufinden sind, die jedoch bei rechtlicher Wertung als unwesentlich einzuordnen sind. An dieser Stelle erreicht der Rechtsanwender einen ersten „Knackpunkt“ der Gleichheitsprüfung: das Entwickeln eines (Vergleichs-)Maßstabes, der es erlaubt, im konkreten Anwendungsfall zu bestimmen, welche Gemeinsamkeiten respektive welche Unterschiede als wesentlich anzuerkennen oder als unwesentlich aus der weiteren Betrachtung auszublenden sind. 12

Zum Verständis von „Gleicheit als Freiheitsrecht“ siehe aber Walter Leisner, in dieser Festschrift, S. 273 (276). 13 Jörn Ipsen, Staatsrecht II, 17. Aufl., München 2014, Rdnr. 813 ff. 14 Letztlich ist stets auf den personalen Bezug aller Sachverhalte bzw. Verhaltensweisen abzustellen. Daher wird im Folgenden nur noch auf Personen rekurriert; vgl. Rudolf Wendt, Die Weiterentwicklung der „Neuen Formel“ bei der Gleichheitsprüfung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Festschrift für Klaus Stern zum 80. Geburtstag, hrsg. von Michael Sachs und Helmut Siekmann, Berlin 2012, S. 1553 (1561). 15 Rudolf Wendt, Der Gleichheitssatz, NVwZ, 1988, 778 (782). 16 Jörn Ipsen, Staatsrecht II, 17. Aufl., München 2014, Rdnr. 800.

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aa) Bereichsspezifische Konkretisierung des allgemeinen Gleichheitssatzes Die knappe Formulierung des allgemeinen Gleichheitssatzes in Art. 3 Abs. 1 GG stellt hohe Anforderungen an jeden, der sich anschickt, diese fundamentale Verfassungsnorm im konkreten Fall zur Anwendung zu bringen. Maßstab und Kriterien der Gleichbehandlung durch und vor dem Gesetz sind bereichsspezifisch zu entwickeln, da die Norm solche selbst nicht bereithält. In der Verfassung finden sich zwar einige besondere Gleichheitsrechte (z. B. Art. 3 Abs. 2 und 3 GG, Art. 33 Abs. 1 GG), deren Funktion im Kern darin besteht, bestimmte vom Verfassungsgeber als inakzeptabel erkannte Merkmale als Differenzierungskriterium von vornherein auszuschließen.17 Anders als beim Freiheitsschutz verzichtet das Grundgesetz jedoch darauf, die Gleichheitsgarantie mit Blick auf unterschiedliche in der sozialen und wirtschaftlichen Lebenswirklichkeit vorzufindende konkrete Lebensbereiche und -situationen bereichsspezifisch auszuformen. Staatliche Handlungsfelder werden vielmehr allgemein einer übergreifenden Gleichheitsgarantie unterworfen. Konzeptionell fehlt es daher weitgehend an von der Verfassung vorgegebenen, spezifischen Gewährleistungsgehalten. Vielmehr ist zunächst der Gesetzgeber, daneben aber auch der Rechtsanwender aufgerufen, den allgemeinen Gleichheitssatz je nach Anwendungsbereich um Bewertungsmaßstäbe und -kriterien zu ergänzen. Als prominentes Beispiel lässt sich insoweit etwa das Prinzip der Besteuerung nach Maßgabe der individuellen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit anführen, das es zu wahren gilt, um die Steuerlast im Sinne des Art 3 Abs. 1 GG gleich und gerecht zu verteilen. Damit ist festzuhalten: Es liegt in der Hand des Gesetzgebers, den allgemeinen Gleichheitssatz bereichsspezifisch zu konkretisieren. Ihm ist es anheimgestellt, im Rahmen seiner demokratisch-legitimierten Entscheidungsmacht und unter Beachtung der übrigen verfassungsrechtlichen Vorgaben, wie etwa des Rechtsstaatsprinzips, die grundlegenden Maßstäbe eines jeden Regelungsbereichs zu definieren. Hat er dies getan, bindet ihn der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG grundsätzlich an diese einmal getroffene Grundentscheidung.18 Liegt diese mit ihrer maßstabbildenden Wirkkraft nicht offen zutage, hat der Rechtsanwender sie unter Rückbesinnung auf die Zwecke und Grundgedanken der gesetzlichen Regelung herauszuarbeiten. Auf diese Weise wird regelmäßig zugleich der Vergleichsmaßstab freigelegt, der es erlaubt, die gleichheitsrechtlich relevanten Gemeinsamkeiten respektive Unterschiede zu identifizieren und sie von irrelevanten oder jedenfalls unwesentlichen Aspekten abzugrenzen.

17

Jörn Ipsen, Staatsrecht II, 17. Aufl., München 2014, Rdnr. 823; zu Normqualität und systematischer Stellung der besonderen Gleichheitsrechte Rudolf Wendt, § 127 Spezielle Gleichheitsrechte, in: Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Band V, hrsg. von Detlef Merten/Hans-Jürgen Papier, Heidelberg 2013, S. 1015 (1016 f.). 18 BVerfGE 99, 88 (95); 105, 73 (112); 116, 164 (180); 122, 210 (233); so bereits Rudolf Wendt, Der Gleichheitssatz, NVwZ, 1988, 778 (783).

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bb) Tertium comparationis Mit dem Auffinden des bereichsspezifisch zu beachtenden Vergleichsmaßstabes geht regelmäßig die Identifikation eines gemeinsamen, den zu vergleichenden Personen übergeordneten Bezugspunkts einher, der deswegen als tertium comparationis erlaubt, relevante Gemeinsamkeiten und Unterschiede von unerheblichen zu unterscheiden. Betrachtet man noch einmal als Beispiel das Gebiet des Steuerrechts, so folgt aus dem prägenden Grundprinzip der gerechten und gleichmäßigen Verteilung der Steuerlast entsprechend der individuellen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, dass eben diese Leistungsfähigkeit der gemeinsame übergeordnete Bezugspunkt zweier Steuerpflichtiger ist, die es im konkreten Fall einander gegenüber zu stellen gilt.19 Die Frage, ob beide sich in einer vergleichbaren Situation befinden, ist insoweit allein mit Blick auf ihre jeweilige wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu beantworten. Gemeinsamkeiten und Unterscheide, die bei der Betrachtung der beiden erkennbar werden, sind allein aus dieser Perspektive auf ihre Relevanz und Bedeutung zu untersuchen. Damit ist offensichtlich, dass Aspekte wie etwa die Staatsangehörigkeit oder die Hautfarbe ebenso wenig von Bedeutung sein können wie z. B. politische Überzeugungen oder die kulinarischen Interessen. cc) Relevanz und Wesentlichkeit im engeren Sinne Ist der bereichsspezifisch konkretisierende Vergleichsmaßstab erkannt, steht die eigentliche gleichheitsrechtliche Wertung aber noch aus. Zwar mögen sich mit Blick auf diesen einige der vorgefundenen Gemeinsamkeiten oder Unterschiede ohne weiteres als unbeachtlich erweisen; sie kommen dann als sachfremd daher und ähneln in dem spezifischen Kontext sogar den schon vom Verfassungsgeber mit Hilfe der besonderen Gleichheitssätze – etwa Art. 3 Abs. 3 GG – als per se irrelevant ausgesonderten Aspekten. Es fehlt in gleichheitsrechtlicher Hinsicht dann schlicht an der Relevanz dieser Merkmale, sodass sie überhaupt nicht als Anknüpfungspunkt staatlicher Maßnahmen dienen können. Sehr viel höhere Anforderungen stellen jedoch jene Gemeinsamkeiten oder Unterschiede, die aus der Perspektive des anzulegenden Vergleichsmaßstabes als durchaus relevant erkannt werden. Sie sind in einem weiteren Schritt mittels rechtlicher Wertung daraufhin zu analysieren, welche Bedeutung und welches Gewicht ihnen zukommt. Nur wenn auch diese Frage geklärt ist, kann beurteilt werden, ob eine daran anknüpfende staatliche Maßnahme dem allgemeinen Gleichheitssatz genügt; nur dann lassen sich Art und Umfang der staatlichen Maßnahme einerseits mit Bedeutung und Gewicht der als relevant identifizierten Gemeinsamkeiten oder Unterschiede andererseits abgleichen. Der Aspekt der Wesentlichkeit umfasst somit bei genauerer Betrachtung zwei Teilaspekte: Zu fragen ist zunächst, ob vorgefundene Gemeinsamkeiten oder Unterschiede aus gleichheitsrechtlicher Sicht überhaupt zu beachten sind (Relevanz). Erst wenn diese Frage bejaht werden kann, ist in einem 19

Heike Jochum, Grundfragen des Steuerrechts, Tübingen 2012, S. 20 ff.

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nächsten Schritt zu klären, inwiefern ihnen gleichheitsrechtliche Bedeutung zukommt (Wesentlichkeit im engeren Sinne). Scheitert die gleichheitsrechtliche Prüfung schon auf der ersten Stufe, handelt es sich um sachfremde Merkmale, die von vornherein nicht als Anknüpfungspunkt staatlicher Maßnahmen taugen. Stellt man gleichwohl auf sie ab, setzt man sich dem Vorwurf der Willkür aus. b) Korrelieren der staatlichen Differenzierung nach Art und Umfang Die gleichheitsrechtliche Prüfung ist komplex und erstreckt sich über mehrere Ebenen. Ist die grundsätzliche Frage der Vergleichbarkeit von Personen geklärt und sind die maßgeblichen Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausgearbeitet, ist die staatliche Maßnahme in den Blick zu nehmen. Diese muss nicht nur an überhaupt relevanten Merkmalen anknüpfen; vielmehr muss sie sich nach Art und Umfang als angemessene staatliche Reaktion auf die vorgefundenen und nach Art und Gewicht überprüften Gemeinsamkeiten und Unterschiede darstellen, also mit ihnen korrelieren.20 Dabei ist zu verlangen, dass die Rechtsfolgen ihrer Eigenart nach in einem inneren sachlichen Zusammenhang zu den vorgefundenen Verschiedenheiten stehen.21 An dieser Stelle der gleichheitsrechtlichen Beurteilung treffen somit zwei rechtliche Wertungen aufeinander und sind miteinander abzustimmen. Diese rechtliche Operation geht dabei weit darüber hinaus, „zwei Tatbestände miteinander zu vergleichen, um eine eines plausiblen Grundes ermangelnde, „willkürliche“ Verschieden- oder Gleichbehandlung feststellen zu können“22. Ein Beispiel aus dem Bereich des Steuerrechts soll die Zusammenhänge veranschaulichen: Die Besteuerung von Dividendeneinkünften stellt sich höchst unterschiedlich dar, je nachdem, ob die betroffenen Anteile im Privat- oder im Betriebsvermögen gehalten werden. Einkünfte aus privat gehaltenen Anteilen unterfallen der 25 %igen Abgeltungsteuer (§ 32d EStG), während für Einkünfte aus Anteilen im Betriebsvermögen der individuelle Steuersatz Anwendung findet (§ 32a EStG). Mustert man das gleichheitsrechtliche Prüfungsraster durch, so ist die Vergleichbarkeit der Anteilseigner ohne weiteres zu bejahen. Mit Blick auf die für die Besteuerung maßstabsetzende individuelle wirtschaftliche Leistungsfähigkeit macht es keinen Unterschied, ob Anteile im Privat- oder im Betriebsvermögen gehalten werden. Gemeinsam ist beiden die Einkünfteerzielung am Markt; irrelevant oder doch jedenfalls unwesentlich erscheint demgegenüber vor dem Hintergrund des Leistungsfähigkeitsprinzips die Zuordnung der Anteile zum Privat- oder zum Betriebsvermögen.

20

So wohl auch Gerrit Manssen, Staatsrecht II, 11. Aufl., München 2014, Rdnr. 840. Rudolf Wendt, Der Gleichheitssatz, NVwZ, 1988, 778 (781). 22 Gemeinschaftsgutachten Peter Badura/Fritz Rittner/Bernd Rüthers, Mitbestimmungsgesetz 1976 und Grundgesetz, 1977, S. 190 ff. zitiert nach Rudolf Wendt, Der Garantiegehalt der Grundrechte und das Übermaßverbot, AöR 104 (1979), S. 423 Fn. 42. 21

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Der sogenannte „Dualismus der Einkunftsarten“23 ändert daran nichts, da seit Einführung der Abgeltungsteuer auch die privat gehaltenen Anteile ungeachtet ihrer Bedeutung als Quelle der Einkunftserzielung selbst steuerverstrickt sind.24 Diesem Befund, also dem Vorliegen wesentlicher Gemeinsamkeiten und dem Fehlen überhaupt relevanter Unterschiede oder doch jedenfalls wesentlicher Unterschiede, sind die vom Gesetzgeber geschaffenen Regelungsmodelle gegenüberzustellen. Mit Blick auf den zentralen Vergleichsmaßstab, das Prinzip der Besteuerung nach Maßgabe der individuellen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, sind dabei Art und Umfang der durch die beiden verschiedenen Regelungsmodelle ausgelösten Belastungsunterschiede zu ermitteln. In Rechnung zu stellen sind daher nicht nur die unterschiedlichen Steuersätze – 25 %-Sondersteuersatz einerseits und individueller Steuertarif andererseits. Bei wertender Betrachtung ist vielmehr auch zu berücksichtigen, dass die Abgeltungsteuer mit einer weitgehenden Beschränkung der Verlustverrechnung (§ 20 Abs. 6 EStG)25 und einem Verbot des Werbungskostenabzugs (§ 20 Abs. 9 EStG)26 verbunden ist, eine Kompensation für die körperschaftsteuerliche Vorbelastung der Einkünfte aus den gehaltenen Anteilen aber nicht vorsieht, während eine solche bei Einkünften aus betrieblichen Anteilen in Form des Teileinkünfteverfahrens (§ 3 Nr. 40 EStG) sehr wohl gewährt wird und dies ohne jede Beschränkung der Verlustverrechnung oder des Betriebsausgabenabzugs.27 Bestimmt man solchermaßen Art und Umfang der staatlichen Differenzierung, so ist im Beispiel festzuhalten, dass diese Differenzierung ihrer Art nach höchst komplex und intransparent ist.28 Ihrem Umfang nach reicht sie offenkundig weit, wobei gerade die Komplexität der Regelungsmodelle einer exakten Bestimmung der Belastungsunterschiede ihrem Umfang nach entgegensteht. Vor dem Hintergrund, dass steuerlich relevante Unterschiede zwischen den Anteilseignern nicht oder doch nur solche von unwesentlicher Bedeutung zu finden sind, liegt das Verdikt des Gleichheitsverstoßes nahe. Art und Bedeutung der unter Leistungsfähigkeitsgesichtspunkten relevanten Unterschiede korrespondieren nicht mit Art und Umfang der daran anknüpfenden staatlichen Maßnahmen. Diese stellen sich vielmehr als gesetzgeberische „Überreaktion“ dar.

23 Zur Entstehung Paul Kirchhof, in: Einkommensteuergesetz, Kommentar, hrsg. v. Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, Loseblatt, Lieferung 248, Stand Juni 2014, Band 2, § 2 Rdnr. A 437 f. 24 Heinz Kußmaul/Christian Schwarz, Steuersystematische und verfassungsrechtliche Aspekte der Abgeltungsteuer, in dieser Festschrift, S. 843 (847 ff.). 25 Heike Jochum, a. a. O., § 20 Rdnr. A 27 ff., H 1 ff. 26 Heike Jochum, a. a. O., § 20 Rdnr. A 32 ff., K 1 ff. 27 Heike Jochum, a. a. O., § 20 Rdnr. A 34 ff. 28 Johanna Hey, in: Steuerrecht, hrsg. von Tipke/Lang, 21. Aufl., Köln 2013, § 8 Rdnr. 507.

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c) Art und Gewicht von Rechtfertigungsgründen Ergibt eine gleichheitsrechtliche Prüfung, dass ergriffene staatliche Maßnahmen lediglich insoweit differenzieren, wie es den in der Lebenswirklichkeit vorgefundenen Gemeinsamkeiten und Unterschieden bei wertender Betrachtung nach Maßgabe des bereichsspezifisch zu wahrenden Vergleichsmaßstabs entspricht, kann der Rechtsanwender den Fall zur Seite legen. Die Maßnahme stellt sich dann als bloß angemessene Reaktion des Staates29 dar, die keinen gleichheitsrechtlichen Bedenken begegnet und keiner weiteren als dieser Rechtfertigung bedarf.30 Anders liegen die Dinge dagegen, wenn die Analyse wie im Beispiel eine staatliche „Überreaktion“ entlarvt. Schießt die staatliche Maßnahme nach Art und Umfang ihrer Differenzierung über das hinaus, was nach Art und Relevanz der gegebenen Gemeinsamkeiten und Unterschiede an sich geboten ist, stellt sich auf der dritten und letzten Prüfungsebene die Frage nach der Rechtfertigung des staatlichen Tuns mit größerer Brisanz. Dann sind es nicht (nur) die als wesentlich erkannten Unterschiede zwischen den einander gegenübergestellten Personen selbst, die direkt und ohne weiteres die staatliche Maßnahme rechtfertigen. Vielmehr ist dann nach legitimierenden Zielsetzungen, Interessen und Belangen zu forschen, die über die erkannten Unterschiede hinausgehen und damit regelmäßig außerhalb des Vergleichsverhältnisses liegen dürften (externe Zwecke). Gleiches gilt, wenn es an wesentlichen oder überhaupt relevanten Unterschieden gänzlich fehlt, der Gesetzgeber aber gleichwohl differenziert. Insoweit muss der Gesetzgeber mit der unterschiedlichen Behandlung vergleichbarer Personen nicht immer ein spezifisches Differenzierungsziel verfolgen;31 diese Verpflichtung trifft ihn nur, soweit seine Regelung stärker differenziert als es die vorgefundenen Unterschiede erlauben. Im Beispiel der Besteuerung von Dividenden aus Anteilen, die im Privat- oder im Betriebsvermögen gehalten werden, ist daher nach einer (zusätzlichen) Rechtfertigung der staatlichen Differenzierung zu suchen. Allein die unterschiedliche Zuordnung der Anteile zum Privatvermögen einerseits und zum Betriebsvermögen andererseits vermag die sehr unterschiedliche steuerliche Behandlung der Einkünfte nicht zu legitimieren. Es ist daher nach zusätzlichen legitimierenden Gründen zu suchen. Ausweislich der Gesetzesmaterialien zur Einführung der sogenannten Abgeltungsteuer liegt ihr Regelungszweck in einer erheblichen Vereinfachung der Besteuerung privater Kapitaleinkünfte. Jedenfalls reklamiert der Gesetzgeber diesen Grund und hat deswegen zu zahlreichen Typisierungen und Pauschalierungen gegriffen.32 Dage29

Vgl. Rudolf Wendt, Der Gleichheitssatz, NVwZ, 1988, 778 (784). Diese Konstellation dürfte gemeint sein, wenn in der Literatur auf die Gefahr eines Zirkelschlusses hingewiesen wird; vgl. Jörn Ipsen, Staatsrecht II, 17. Aufl., München 2014, Rdnr. 820. 31 Vgl. Jörn Ipsen, Staatsrecht II, 17. Aufl., München 2014, Rdnr. 817. 32 Kritisch zur Vermischung verschiedener Typisierungsansätze Heike Jochum, in: Einkommensteuergesetz, Kommentar, hrsg. v. Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, Loseblatt, Lieferung 248, Stand Juni 2014, Band 13, § 20 Rdnr. A 35. 30

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gen ist im Grundsatz auch nichts einzuwenden. Namentlich im Steuerrecht bildet der Gesetzgeber seine Tatbestände nach sozialtypischen Befunden ab, erfasst dabei das Individuelle im Typus, verallgemeinert das Konkrete und vergröbert damit Unterschiedlichkeiten.33 Und gerade soweit die Besteuerung privater Kapitaleinkünfte in Rede steht, verspricht die Abgeltungsteuer damit im Ausgangspunkt ein mehr an Belastungsgerechtigkeit: Das bekannte Problem der Verifikation entfällt. Der Teufel steckt gleichwohl wie so oft im Detail. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass die Vereinfachungseffekte der Abgeltungsteuer deutlich geringer sind als erwartet.34 Diesem eher bescheidenen Erfolg stehen erhebliche Belastungsunterschiede gegenüber,35 die – und dieser Aspekt wiegt schwer – aufgrund der in Kauf genommenen Komplexität des Regelungsmodells nicht einmal belastbar ermittelt werden können. Der Typisierung und Pauschalierung fehlt das gebotene Maß an Realitätsgerechtigkeit; jedenfalls ist der Gesetzgeber den Nachweis derselben schuldig geblieben.36 2. Der gleichheitsrechtliche Maßstab der Sachgerechtigkeit Die Betrachtung zeigt, dass nicht allein in der Dogmatik der Freiheitsrechte rechtliche Wertungen am Maßstab einer grundrechtsspezifischen Sachgerechtigkeit auszurichten sind. Unbestreitbar unterscheiden sich die Konzeption der freiheitsrechtlichen Dogmatik und die Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes.37 Der freiheitsrechtliche Maßstab der Sachgerechtigkeit, der aus dem jeweiligen Gewährleistungsgehalt eines jeden Freiheitsgrundrechts zu gewinnen ist38 und der prüfenden Abwägung ein je spezifisches Gepräge gibt, kann daher nicht mit dem Willkürverbot oder dem Erfordernis der Sachgerechtigkeit gemäß Art. 3 Abs. 1 GG identisch sein.39 Und doch zeigt die Untersuchung, dass die gleichheitsrechtliche Prüfung in ähnlicher Weise prägende (Vergleichs-)Maßstäbe hervorbringt. Dem freiheitsrechtlichen Maß33

BVerfGE 93, 121 (140); BVerfGE 99, 246 (264).; BVerfGE 105, 73 (177). Johanna Hey, in: Steuerrecht, hrsg. von Tipke/Lang, 21. Aufl., Köln 2013, § 8 Rdnr. 507. 35 Heinz Kußmaul/Christian Schwarz, Steuersystematische und verfassungsrechtliche Aspekte der Abgeltungsteuer, in dieser Festschrift, S. 843 (855 f.). 36 Heike Jochum, Die Abgeltungsteuer 2009 – Sündenfall der Typisierung und Pauschalierung im Steuerrecht, in: Gedächtnisschrift für Malte Schindhelm, Köln 2009, S. 405 (418); dieselbe, in: Einkommensteuergesetz, Kommentar, hrsg. v. Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, Loseblatt, Lieferung 248, Stand Juni 2014, Band 13, § 20 Rdnr. A 36, K 61 ff. 37 Vgl. Rudolf Wendt, Die Weiterentwicklung der „Neuen Formel“ bei der Gleichheitsprüfung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Festschrift für Klaus Stern zum 80. Geburtstag, hrsg. von Michael Sachs und Helmut Siekmann, Berlin 2012, S. 1553 (1554 FN 6). 38 Grundlegend dazu Rudolf Wendt, Der Garantiegehalt der Grundrechte und das Übermaßverbot, AöR 104 (1979), S. 414 (436 ff.). 39 Vgl. Gemeinschaftsgutachten Peter Badura/Fritz Rittner/Bernd Rüthers, Mitbestimmungsgesetz 1976 und Grundgesetz, 1977, S. 190 ff. zitiert nach Rudolf Wendt, Der Garantiegehalt der Grundrechte und das Übermaßverbot, AöR 104 (1979), S. 423 Fn. 42. 34

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stab der Sachgerechtigkeit steht gleichsam ein gleichheitsrechtlicher Maßstab der Sachgerechtigkeit zur Seite.40 Dieser ist jeweils aus dem bereichsspezifisch konkretisierten Gewährleistungsgehalt der allgemeinen Gleichheitsgarantie zu gewinnen. Suchende Wendungen des Bundesverfassungsgerichts, wie etwa die Frage nach „aus der Natur der Sache folgenden oder sonst sachlich einleuchtenden Gründen“41, sind daher nur vordergründig auf den zugrundeliegenden konkreten Sachverhalt zu beziehen; bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass es vielmehr auf den inneren Bezug zu den Eigenarten der normierten Materie42 ankommt, d. h. dem Rechtsgebiet oder dem sonst einschlägigen Normenkomplex. Denn nur daraus lässt sich der Maßstab der Sachgerechtigkeit gewinnen, welcher bereichsspezifisch den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG ergänzt und zur Entfaltung bringt. So erfüllt etwa auf dem Gebiet des Steuerrechts das Prinzip der gleichen und gerechten Verteilung der steuerlichen Belastung nach Maßgabe der individuellen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit die maßstabsetzende Funktion. Die Gleichheitsgarantie entwickelt angereichert durch diesen Maßstab einen bereichsspezifischen Schutzgehalt, der für die Beurteilung von Art und Ausmaß staatlicher Differenzierung Bedeutung gewinnt und der Bewertung ihrer Korrelation mit Art und Gewicht der vorgefundenen Gemeinsamkeiten und Unterschiede ihr individuelles Gepräge gibt. Gleiches gilt für die Abwägung externer Zwecke des Staates, soweit allein die vorgefundenen Gemeinsamkeiten und Unterscheide nicht zur Rechtfertigung seines Tuns genügen. Dabei kommt der inneren Nähe und Sachbezogenheit der gewählten Regelung auf die Sachgesetzlichkeit des bereichsspezifisch konkretisierten allgemeinen Gleichheitssatzes entscheidende Bedeutung zu. Je enger diese Nähebeziehung ist, umso größer ist die Legitimationskraft der staatlicherseits verfolgten Ziele; sie ist umso geringer, je weniger sachbezogen die Regelung erfolgt. Das zeigt sich deutlich in dem Beispiel der Besteuerung von Dividendeneinkünften im Privat- bzw. im Betriebsvermögen. Entscheidend sind hier Ausmaß und Gewicht der mit Hilfe der Abgeltungsteuer und der ihr eigenen Typisierungen und Pauschalierungen erreichten Steuervereinfachung. Typisierung in diesem Sinne bedeutet, dass die Normalfälle als typisch erfasst und die abweichenden Fälle mit diesen

40 Siehe dazu bereits Rudolf Wendt, Der Gleichheitssatz, NVwZ, 1988, 778 (782 ff.), der einen sachlichen Bezug, einen inneren Zusammenhang zwischen den vorgefundenen Verschiedenheiten und der differenzierenden Regelung fordert. Differenzierungen sollen dem Gesetzgeber nur erlaubt sein, wenn die betroffenen Sachverhalte speziell hinsichtlich eines solches Gesichtspunkts ungleich sind, der innere Bezüge zu der Eigenart der normierten Materie aufweist; ebenso Peter Selmer, Finanzordnung und Grundgesetz, AÖR 101 (1976), S. 238 (444); Karl-Heinrich Friauf, Gleichmässigkeit der Besteuerung bei den Versorgungsbezügen der Unselbständigen, DStZ 1974, 57 f.; derselbe, Steuergleichheit, Systemgerechtigkeit und Dispositionssicherheit als Prämissen einer rechtsstaatlichen Einkommensbesteuerung, StuW 1985, 308 (315). 41 BVerfGE 1, 14 (52). 42 Peter Selmer, Finanzordnung und Grundgesetz, AÖR 101 (1976), S. 238 (444).

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gleichbehandelt werden.43 Bestehende Unterschiede werden aus übergeordneten Erwägungen vernachlässigt. Der Gesetzgeber weicht also von einem vorhandenen Differenzierungsschema ab und fasst unterscheidungsbedürftige Tatbestände zusammen, in aller Regel um den Normvollzug zu vereinfachen.44 Eine typisierende Tatbestandsbildung kann dabei durchaus einen wesentlichen Beitrag zur materiellen Steuerbelastungsgleichheit leisten, sofern sie den Kern des unausweichlichen Belastungsgrundes erfasst, ohne an trotz gleichen Erwerbserfolgs veränderliche Einzelmerkmale anzuknüpfen.45 Die steuerliche Belastungsgleichheit vermag dadurch besser gewährleistet zu werden, als durch eine im Streben nach Individualisierung überbordend spezialisierte Gesetzgebung, die notwendig in unpraktikabler und ineffizienter Überkomplexität mündet.46 Ein mehr an Differenzierung geht nicht notwendigerweise mit einem mehr an individueller Gerechtigkeit einher.47 Aus diesem Grund weisen die Instrumente der Typisierung und Pauschalierung eine sehr enge innere Nähe zu dem zentralen Prinzip der gerechten und gleichmäßigen Besteuerung nach Maßgabe der individuellen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit auf. Ihrem Zweck und ihrer Auswirkung nach sind die Instrumente der Typisierung und Pauschalierung „in der Sache selbst begründet“, soweit sie durch Vereinfachung der Steuergerechtigkeit dienen. Die Legitimationswirkung dieses gesetzgeberischen Anliegens ist daher im Grundsatz stark. Das gilt aber dann gerade nicht, wenn durch Typisierung und Pauschalierung entgegen der eigentlichen Natur dieser Instrumente die Komplexität einer Materie erhöht und sie zur Verschleierung der tatsächlichen Belastungswirkung missbraucht werden. Die innere Nähebeziehung wird damit pervertiert und muss daher gerade umgekehrt zu einer ganz erheblichen Minderung der Legitimationskraft des staatlicherseits verfolgten Zwecks führen. Wird der Vereinfachungszweck verfehlt, ist auch dem Gerechtigkeitsanliegen nicht gedient; das staatliche Handeln widerspricht dann der Sachgesetzlichkeit des allgemeinen Gleichheitssatzes in doppelter Hinsicht.

43 Paul Kirchhof, Verfassungsrechtliche Maßstäbe für die Auslegung von Steuergesetzen, in FS 75 Jahre Reichsfinanzhof, 1993, S. 285 (299 f.); Monika Jachmann, Die Fiktion im öffentlichen Recht, Berlin 1998, S. 205. 44 Monika Jachmann, a. a. O., Berlin 1998, S. 206. 45 Paul Kirchhof, in: Kirchhof, Einkommensteuergesetz Kommentar, 13. Aufl., Köln 2014, Einl. Rdnr. 33. 46 Paul Kirchhof, Besteuerung durch Gesetz, in: FS Heinrich Wilhelm Kruse, 2001, S. 17 (20); Heike Jochum, Sündenfall der Typisierung und Pauschalierung im Steuerrecht, in: Gedächtnisschrift für Malte Schindhelm, Köln 2009, S. 405 (409); dieselbe, Grundfragen des Steuerrechts, Tübingen 2012, S. 69. 47 Paul Kirchhof, in: Kirchhof, Einkommensteuergesetz Kompaktkommentar, 13. Aufl., Köln 2014, Einl. Rdnr. 33; vgl. auch Rainer Wernsmann, Typusbegriff und Typisierung, Beihefter zu DStR Heft 31/2011, 72 (72).

Freiheitssicherung durch Gewaltengliederung – Studien zu Mazedonien, Irak, Äthiopien Von Ulrich Karpen, Hamburg I. Deutsche Beratung bei Verfassungsrechtsreformen im Ausland Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind die wichtigsten Instrumente zur Freiheitssicherung im modernen Verfassungsstaat. Deutschland sendet seit Jahrzehnten staatsrechtliche Experten in andere Länder, um diese beim Neubau, Umbau oder der Stabilisierung ihrer verfassungsrechtlichen Ordnung zu unterstützen. Das wird gern „Globaler Rechtstransfer“1, noch plakativer „Export des Grundgesetzes“2 genannt, obwohl es so schlicht nicht ist. „Export“ und „Import“ sind an sich Begriffe der wirtschaftlichen Terminologie. Hier geht es um den Austausch eines Kulturgutes3. Recht ist kein stofflicher Gegenstand, der einfach „weitergegeben“ oder „aufgenommen“ werden kann. In Wirklichkeit vollzieht sich eine kulturelle Integration von höchst verwickelter und wandelbarer Schichtung, einem Prozess, in dem die andere Rechtsgemeinschaft nicht Objekt, sondern Subjekt der Rezeption ist. Ein Volk kann fremdes Recht nur übernehmen, wenn es dieses zu einem Element des eigenen Lebens und Denkens macht. Außerdem ist es ein Vorgang wechselseitiger Beeinflussung, in dem der Gebende genauso viel gewinnt wie der Nehmende. Man kann aus der Sicht der deutschen Verfassungsberatung drei Gruppen von beratenen Ländern unterscheiden. Da sind zunächst die Länder, die im Wettbewerb der zusammenwachsenden Welt ihre Verfassungsordnungen modernisieren. Das gilt für

1

Siehe den eindrucksvollen Rechenschaftsbericht der Arbeitsgruppe Globaler Wissenstransfer, Projekte und Forschung 2002 – 2012 des Max-Planck-Institutes für Ausländisches Öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg, 2013. 2 Siegfried Kauder, Deutsches Recht – ein Exportartikel, in: Stefan Hülshörster/Dirk Mirow (Hrsg.), Deutsche Beratung bei Rechts- und Justizreformen im Ausland. 20 Jahre Deutsche Stiftung für Internationale Rechtliche Zusammenarbeit, Berlin 2012, S. 31 f. 3 Ulrich Karpen, Das Grundgesetz als „Exportartikel“ – Föderative Strukturen bei der Verfassungsreform in Südafrika, Bosnien-Herzegowina und Afghanistan, in: Rainer Pitschas/ Arnd Uhle (Hrsg.) Wege gelebter Verfassung in Recht und Politik, Festschrift für Rupert Scholz zum 70. Geburtstag, Berlin 2007, S. 615 (616).

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die lateinamerikanischen Länder4, aber auch China. Für diese Gruppe soll ein Blick auf Äthiopien geworfen werden. Eine zweite Gruppe bilden die Transformationsländer des ehemaligen sozialistischen Wirtschafts-, Sozial- und Rechtssystems, also die Nachfolgestaaten der Sowjetunion, aber auch Jugoslawiens 5. Für diese Gruppe stehe Mazedonien. Die Beratung ist sehr praktisch ein Teil der gemeinsamen Hinführung in den europäischen Verfassungsraum. Letztlich gibt es eine dritte Gruppe von Ländern, die Rechtsberatung aus Deutschland wünschen. Es sind solche Staaten, die nach Revolutionen und tiefgreifenden Umbrüchen ganz neue Rechtsordnungen benötigen: Südafrika6, Tunesien, Libyen, Sudan. In diese Gruppe gehört der Irak. Wesentlicher Bestandteil einer freiheitssichernden Verfassung ist die rechtsstaatliche Gewaltengliederung: Legislative, Exekutive, Judikative. In jeder Staatsverfassung eigentümlich geregelt, liegt ihr doch der Kerngedanke einer die Staatsmacht aufteilenden Funktionengliederung zugrunde7. Die genannten Länder wurden deshalb untersucht, weil sie im Rahmen des verfassungsstaatlichen Gewaltenschemas jeweils Besonderheiten aufweisen, die – meist traditionell bedingt – das reibungslose Funktionieren des Rechtsstaates zu behindern geeignet sind und die deshalb – auf Einladung von Institutionen des jeweiligen Landes – mit ausländischen Verfassungsrechtlern erörtert wurden und werden. Mazedonien weist solche Probleme auf dem Feld der Normsetzung (II.), Irak in Bezug auf die Verwaltung (III.) und Äthiopien bei der (Verfassungs-)Rechtsprechung (IV.) auf. II. „Bessere Rechtsetzung“, Das Beispiel Mazedonien 1. Verfassung und Recht Das im östlichen Balkan gelegene Land umfasst 25.700 km2 ; die Hauptstadt Skopje hat 486.000 Einwohner. Die Bevölkerung des Landes beträgt 2.022.000 Einwohner. Der Größe nach steht Mazedonien auf Platz 146 der Länder der Welt. Ethnisch sind 60 % der Bürger Mazedonier, 25 % Albaner, der Rest Serben, Türken, Roma und Vlachen, eine lateinisch sprechende Minderheit. 70 % sind christlich(-orthodox), 25 % Muslime. Die ethnische Segregation zwischen Mazedoniern und Albanern dominiert das politische, gesellschaftliche und kulturelle Leben. Es gibt ei4 Ulrich Karpen, Condiciones de la Efficiencia del Estudo de Derecho Especialmente en los Paises en Desarrollo y en Despagne, in: Horst Schönbohm (Hrsg.), Derechos Humanos – Estado de Derecho – desarrollo social en Lainoamerica y Alemania, Caracas 1994, S. 209 f. 5 Ulrich Karpen, Der Distrikt Brcˇko [Bosnien und Herzegowina] – Verfassung und Recht, JÖRNF 59 (2011), S. 665 f.; ders., Draft Law on Administrative Procedures of the Republic of Croatia – Introduction and arguments of the legal text – A Drafting Report –, JÖRNF 60 (2012), S. 431 f. 6 Ulrich Karpen, Südafrika auf dem Wege zu einer demokratisch-rechtsstaatlichen Verfassung. JÖRNF 55 (1996), S. 609 f. 7 Ulrich Karpen, Blaupause für junge Demokratien. Grundgesetz, Deutschlands Verfassung ist Vorbild für viele Länder. Die nationalen Eigenarten müssen gewahrt bleiben. Das Parlament, Nr. 22/23 vom 30. Mai 2011.

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gentlich keine einheitliche Staatsnation, sondern zwei nationale Teilgesellschaften8. Allenfalls auf höchster staatlicher Ebene kann die Polarisierung teilweise überwunden werden. Amtssprachen sind Mazedonisch (eine slawische Sprache) und Albanisch. Das BIP beträgt 7,3 Mio. E, davon 11 % Landwirtschaft, Industrie 28 %, Dienstleistungen 61 %. Das Bruttonationaleinkommen je Einwohner beträgt 4.730,– US-Dollars. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 32 %. Im Zuge der Dismembration Jugoslawiens im Jahre 1991 proklamierte das Land – das ab 1944 Jugoslawien als Teilrepublik angehörte – am 25. 1. 1991 seine Unabhängigkeit. Sie wurde am 8. 9. 1991 durch Referendum bestätigt. Die neue Verfassung stammt vom 17. 11. 19919. Sie ist mit 134 Artikeln schlank und konzentriert. Allerdings haben sich in über zwanzig Jahren zahlreiche Verfassungsänderungen angelagert (63 Artikel), die allerdings vielfach tagespolitischen Notwendigkeiten Rechnung tragen. Der 1. Teil der Verfassung enthält die Staatsstrukturbestimmungen, unter ihnen in Art. 8 die Grundwerte, u. a. Pluralismus, Humanismus, Marktwirtschaft und im 2. Teil folgen die Grundrechte. Es sind fünfzig Artikel, was nicht zuletzt auf ausführlich entfaltete wirtschaftliche, soziale und kulturelle Grundrechte zurückzuführen ist, die allerdings i. d. R. „nach Maßgabe von Gesetz und kollektiver Vereinbarung“ gelten, wie das Recht auf „Sozialversicherung“ (Art. 34) oder „auf Arbeit“ (Art. 33). Der Vorrang von Verfassung und – in ihrem Rahmen – Gesetz ist in Art. 51 verankert. Der Gesetzesvorbehalt für grundrechtsbeschränkende Akte ist garantiert (Art. 12, 19, 27, 30 usw.). Mazedonien ist eine parlamentarische Republik, jedoch mit ausgeprägtem Referendumscharakter. Die Staatsorganisation ist im 3. Teil der Verfassung geregelt. Das Parlament, die Sobramie, besteht aus 120 Abgeordneten (Art. 61 ff). Seine Rolle als oberste Staatsgewalt ist dadurch gestärkt, dass das Recht der gouvernmentalen Gesetzesauflösung fehlt. Das Parlament erlässt Gesetze und interpretiert sie authentisch (Art. 68), neben den anderen üblichen Kompetenzen. Art. 98 ff sind der Gerichtsbarkeit gewidmet, an der Spitze dem Supreme Court. Ein eigener 4. Teil der Verfassung richtet ein Verfassungsgericht ein. Ihm gehören neun vom Parlament mit absoluter Mehrheit gewählte Richter an (Art. 109). Nach Art. 110 entscheidet das Gericht über die Vereinbarkeit von Gesetzen mit der Verfassung sowie über die Vereinbarkeit von Kollektivvereinbarungen und anderen Regulierungen mit der Verfassung und den Gesetzen. Mazedonien strebt die Mitgliedschaft in der EU an. Auf dem Zagreb-Gipfel vom 24. November 2000 lud die EU alle früheren Teilstaaten des Bundesstaates Jugoslawiens zum Beitritt ein, also auch Mazedonien. Das Stabilitäts- und Assoziierungs8

Heinz Willemsen, Das politische System Mazedoniens, in: Wolfgang Ismayr (Hrsg.) Die politischen Systeme Osteuropas, Opladen, 2002, S. 731 (733). 9 Sluzben Vesnik (SV) 52, 1991, Pos. 998. CSV ist das mazedonische Gesetz-, Verordnungs- und Verkündungsblatt, s. Klaus Schrameyer, The Republic of Macedonia, in: Nora Chronowski/Timea Drinoczi/Tamara Takacs (eds), Governmental Systems of Central and Eastern European States, Warszawa, 2011, S. 684 f.

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abkommen (SAA) zwischen der EU und Mazedonien trat am 1. April 2004 in Kraft. Der Beitrittsantrag des Landes wurde am 22. März 2004 in Dublin überreicht. Dem Land wurde von Kommission und Rat am 15./16. Dezember 2005 der Status eines Beitrittskandidaten erteilt. Die Beitrittsverhandlungen sind bereits weit fortgeschritten10. Verzögerungen gibt es durch den leidigen völkerrechtlichen Streit mit dem Nachbarn Griechenland wegen des Staatsnamens: „Mazedonien“ oder „Former Yugoslav Repubulic of Macedonia (FYROM)“. 2. Verbesserung der Rechtsetzung In allen Mitgliedsstaaten strebt die EU seit Jahren eine Verbesserung der Normsetzung auf allen Ebenen an: Gesetzgebung, Verordnungserlass, Satzungen, Verwaltungsvorschriften. Das gilt auch für die Beitrittskandidaten und ist immer Bestandteil der Verhandlungen über die Einführung des acquis communautaire. Dabei hat sich europaweit ein Kriterienkatalog für „Better Regulation“ herausgebildet und bewährt, der 5 Kapitel umfasst: Methodik der Gesetzgebung, Ziele und Mittel des Gesetzes, Qualitätsmaßstäbe, Gesetzgebungstechnik.11 Dieser Katalog ist Bestandteil der (Europäischen) Gesetzgebungslehre (Legistics, Legisprudence).12 Die Methodenlehre befasst sich mit dem Regulierungszirkel. Der Problemanalyse folgt die Policy-Phase, in welcher Lösungsmöglichkeiten erörtert werden, u. a. auch – aber nicht nur – gesetzgeberische Maßnahmen. Wird ihre Notwendigkeit bejaht, folgt die Zielsetzung und die Wahl geeigneter Gesetzesinstrumente zur Zielerreichung. Dem Gesetzeserlass im gestuften Verfahren schließt sich das Umsetzungsund Bewertungsverfahren (Folgenanalyse, Folgenabschätzung) an. Bei Bedarf läuft der Zirkel in ein Novellierungsverfahren ein. Verfassungsrechtliche Prinzipien „guter Gesetzgebung“ sind Notwendigkeit, Verhältnismäßigkeit, Transparenz und Partizipationsverantwortlichkeit, Zugänglichkeit, Einfachheit, Konsistenz, Legalität, Stabilität und das Verbot der Rückwirkung. Bei Lichte betrachtet lassen sich diese Gesetzgebungsstandards als Elemente des demokratischen (Grundrechte-) Rechtsstaates entwickeln. Die Ziele des Gesetzes richten sich nach Sachgebiet und Kompetenzen. Das gilt vor allem für gestufte Staaten wie den Bundesstaat und für autonome Einheiten. Die Sozial- und Umweltstaatklauseln sowie das Subsi-

10

Konrad Adenauer Stiftung, Länderbericht Mazedonien, 16. Okt. 2012, www.KAS/Maze donien. 11 Ulrich Karpen, Gesetzgebung im Rechtsvergleich, in: W. Kluth/G. Krings (Hrsg.), Gesetzgebung. Rechtsetzung durch Parlamente und Verwaltungen sowie ihre gerichtliche Kontrolle. Heidelberg 2014, S. 159 – 188; ders. Comparative Law: Perspectives of Legislation, in: Legisprudence, International Journal for the Study of Legislation, Vol. 6, 2012, 149 ff. 12 Ulrich Karpen, Good Governance through the transparent application of Rule of Law, namely Better Legislation in the context of European Integration, in: Political Thought, – Challenges in Implementing the Rule of Law in Macedonia and the Region. Institute for Democracy – Societas Civilis, Skopje, Year 8, 2010, 21 ff.

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diaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprinzip sind als Wertorientierungen bei der Zielsetzung heranzuziehen. Große Sorgfalt gebührt der Mittelwahl. Es macht einen Unterschied, ob der Gesetzgeber ursachen- oder systemorientiert, punktuell oder umfassend an die Problemlösung herangeht13, ob es sich um präventive oder repressive, verbietende oder gebietende, motivierende und stimulierende Maßnahmen handelt („carrots and sticks“). Entscheidend für die Mittelwahl ist der Adressatenkreis: Öffentliche Organe, die Wirtschaft, der Bürger. Schließlich geht es um die Bindungswirkung: (Europäische) Richtlinie, (Verfassungs-)Gesetz, Verordnung, Satzung, Empfehlung bis hin zu „symbolischer Rechtsetzung“. Vor, während und nach der Verabschiedung der Rechtsetzung müssen die Qualität der Gesetze evaluiert, seine Folgen abgeschätzt oder erhoben werden, prospektive, mitlaufende, retrospektive Gesetzesfolgenabschätzung (ex ante – concurrent – ex post – Evaluation). Qualitätskriterien sind Zielerreichungsgrad, Effektivität und Effizienz (efficacy – effectiveness – efficiency). Letztlich geht es um die Gesetzgebungstechnik, um die Struktur und Gliederung des Normenstoffes, die Sprache, die Verweisungstechnik, die – besonders schwierige und oft anfechtbare – Technik von Änderungsgesetzen. Gerade für diesen technischen Komplex haben die Kommission, das Europäische Parlament und die meisten Mitgliedsstaaten14 Gesetzgebungsfäden entwickelt, die einen hohen Grad an – europaweit angeglichener – Normsetzungsqualität erlauben, würden sie denn immer beachtet. 3. Probleme mazedonischer untergesetzlicher Rechtsetzung Wenn auch die genannten Verfahrensschritte und Qualitätskriterien der Normsetzung für die formelle Gesetzgebung entwickelt wurden, sind sie gleichwohl für die Ausarbeitung untergesetzlicher generell-abstrakter Normen, wie Rechtsverordnungen, Satzungen, auch Verwaltungsvorschriften von Belang. Will man sie als Europäische Standards guter Normsetzung in einem Transformationsland wie Mazedonien anwenden, so ist zunächst eine Feldforschung notwendig, welche Vorschriftenklassen existieren und klassifikatorisch zum Gebiet von „Normen“ gehören. Erst dann lassen sich die europaweit entwickelten Maßstäbe für Organisation und Verfahren, Ziele, Mittel, formale Techniken, Evaluation fruchtbar einsetzen und erlauben dann auch konkrete Verbesserungsvorschläge. So ist es in Mazedonien.15 Die OSCE hat sich mit ihrer in Skopje residierenden „Spillover Mission“ nicht nur für Wahlen und die Verbesserung der Polizeiarbeit in13 Schweizerischer Gesetzgebungsleitfaden, Leitfaden für die Ausarbeitung von Erlassen des Bundes, 3. Aufl., Bern, 2007, S. 125 ff. 14 Vgl. die Übersicht bei Ulrich Karpen, Instructions for Law Drafting, European Journal of Law Reform, Vol. 10, 2008, 169 f. 15 Zur gegenwärtigen rechtlichen Situation in Mazedonien und der deutschen Beratungstätigkeit s. Aneta Arnaudovska, Die Akademie für Richter und Staatsanwälte der Republik

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teressiert, sondern auch das Projekt „Ausarbeitung eines Leitfadens für untergesetzliche Normsetzung“ ausgeschrieben und betreut.16 Es sind insbesondere die folgenden Besonderheiten mazedonischer Sekundargesetzgebung, die nach rechtsstaatlicher Verbesserung verlangen. Da ist zunächst die verwirrende Vielfalt von Normkategorien. Gezählt werden 17 verschiedene Gruppen, von der Rechtsverordnung, über die Regelung, die Entscheidung, Satzungen, den Plan, das Programm usw. Bei einigen Regelungen ist es unklar, ob sie erga omnes oder inter partes gelten. Einige sind publiziert, andere nicht. Vergleichbares gilt für die zum Erlass autorisierte Stelle. Neben der Regierung erlassen Ministerien und unabhängige Stellen Normen; Verordnungen und Satzungen, letztere – wenn auch nicht immer so bezeichnet – werden von Universitäten, Städten und Gemeinden erlassen. Die Verfassung enthält keine konkrete Ermächtigung für Rechtsverordnungen und andere untergesetzliche Normen, wie es in Art. 290 I des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union und Art. 80 I GG der Fall ist. Art. 91 Vorstrich 5 der mazedonischen Verfassung ermächtigt die Regierung ganz allgemein zum Erlass von Satzungen und „Akten zur Ausführung der Gesetze“; Art. 115 enthält eine Garantie der kommunalen Selbstverwaltung, die auch das Satzungsrecht umfasst. Organisation und Verfahren der untergesetzlichen Rechtsetzung richten sich nach dem Regelungssubjekt. Besonderer Aufmerksamkeit bedürfen die ex ante Evaluation, Partizipation und Publikation. Es muss gesichert werden, dass Grundrechtsbeeinträchtigungen nur dann zulässig sind, wenn eine entsprechend detaillierte Ermächtigung durch das Parlament vorliegt. Unterentwickelt ist das Partizipationsverfahren, sei es durch Anhörung der Betroffenen, Einschaltung von Verbänden und Vor- und Nacharbeit der Implementierung der Vorschriften durch die Medien. Das Publikationsverfahren ist unübersichtlich und unzureichend. Vorausschauend entwickelt ist das Verfahren der Angleichung der Rechtsetzung an den Europäischen Aquis. Das Land hat, wie andere Beitrittsländer auch, z. B. Kosovo und die Türkei, ein „Nationales Programm“17 für die Rechtsvereinheitlichung mit europäischem Recht beschlossen und regelmäßig fortgeschrieben. Organisatorischer und verfahrensmäßiger Kern ist die Einrichtung eines Sekretariats für Europäische Angelegenheiten im Amt des Ministerpräsidenten. Alle Vorschläge der Ministerien und anderer normsetzender Behörden müssen diesem Sekretariat eingereicht werden, unter Beifügung von Tabellen, die ausweisen, welche Europäische Rechtsnorm betroffen ist und wie die Übereinstimmung gewährleistet ist. Mazedonien, in: Hülshörster (Fn 2), S. 423 f.; Fredrick-Christian Schröder, Die internationale Rechtsberatung nach dem Zusammenbruch des „Sozialismus“ und die Lehre von den Rechtskreisen, in: Hülshörster (Fn 2), S. 393 f. 16 Zunächst der Bericht OSCE/ODIHR Assessment Report on the Lawmaking and Regulatory Management in the Former Yugoslav Republic of Macedonia, www.oecd.org/dataoecd/ 42/21/1823473.pdf.org. Sodann OSCE – Tatjana Temelkoska/Ulrich Karpen, Manual on secondary Legislation, Skopje, 2011, auch in JÖRNF Bd. 62, 2014. 17 Off. Gazette of the Rep. of Mac. No. 46/05, 30/07, 133/07, 92, 10.

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III. „Bessere Verwaltung“ – Das Beispiel Irak 1. Verfassung und Recht Der Irak hat eine Bevölkerung von 32 Mio. Er gliedert sich in 18 Bezirke, wovon 3 zur autonomen Region Kurdistan gehören (Erbil, Duhok und As-Sulaimaniyya). Dieser soll im Folgenden die besondere Aufmerksamkeit gelten. Kurdistan grenzt an den Iran, die Türkei und Syrien. Die Kurden identifizieren sich mehrheitlich eher mit den iranischen Kurden als mit ihren irakischen Mitbürgern. Die beiden wichtigsten Politiker sind Marsud Barzani, Vorsitzender der Demokratischen Partei Kurdistans, Präsident der autonomen Region, und Dschalal Talabani, Vorsitzender der Patriotischen Union Kurdistans, ehemaliger Präsident des Irak. Die kurdische Regierung kümmert sich vorwiegend um die Regionalverwaltung.18 Kurdistan ist wohlhabend. Seine Anteile an den irakischen Erdöleinnahmen betragen 17 %. De facto fungiert die kurdische Regionalverwaltung in Erbil wie ein unabhängiger Staat in allen internen Belangen, wenn auch nach außen ein gewisser Schein der Einheit Iraks gewahrt wird. Es gibt größere Gebietskonflikte zwischen der Regionalverwaltung und der Zentralregierung, bei denen es um die Zugehörigkeit der Provinzen Kirkuk und Mossul geht. Sowohl Araber wie Kurden behaupten, die rechtmäßigen Einwohner zu sein und beanspruchen die jeweiligen Gebiete jeweils für Kurdistan beziehungsweise den Irak. Die irakische Verfassung wurde am 15. Oktober 2005 per Volksentscheid angenommen. Irak ist eine Bundesrepublik mit islamischer Staatsreligion. In der Präambel wird das Regierungssystem als republikanisch, föderal, demokratisch, pluralistisch und rechtsstaatlich bezeichnet. Die Verfassung umfasst in 6 Abschnitten 144 Artikel. Im 1. Abschnitt finden sich die Fundamentalprinzipien. Art. 2 I A enthält die für islamische Staaten übliche Vorschrift, dass kein Gesetz den Grundsätzen des Islam widersprechen darf. Art. 2 II betont die Wahrung der islamischen Identität der Mehrheit der irakischen Bevölkerung, garantiert aber zugleich die Religionsfreiheit der anderen Bekenntnisse wie der Christen, der Yaziden und Sabäer (Sabah), Art. 7 verbietet verfassungswidrige Parteien, u. a. ausdrücklich die Saddamsche Baath Partei. Der 2. Abschnitt ist den Grundrechten gewidmet, mit 33 Artikeln sehr umfangreich. Art. 19 garantiert die Unabhängigkeit der Justiz. Im 3. Abschnitt ist die gewaltenteilende Struktur der Bundesorgane geregelt; zunächst das Repräsentantenhaus, sodann der Bundesrat. Letzterer besteht aus den Vertretern der Regionen und der Provinzen, die keiner Region angehören (Art. 65). Die Einzelheiten der Kompetenzen und der Organisation des Bundesrates werden dort mit Zweidrittelmehrheitsentscheidung des Repräsentantenhauses geregelt. Die Exekutive des Landes besteht nach Art. 66 aus dem Präsidenten und der Regierung. Erstere wird vom Repräsentantenhaus mit Zweidrittelmehrheit gewählt. Premierminister und Kabinett werden mit absoluter Mehrheit gewählt. Art. 87 wiederholt, dass die Gerichtsbarkeit 18 James Dingley, Kurdistan zwischen Autonomie und Selbstverantwortung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 9/2011, S. 31 (33).

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unabhängig ist. Nach Art. 90, 91 gibt es einen Hohen Justizrat (Oberster Richterrat), dem die Aufsicht über das gesamte Gerichtswesen obliegt. Art. 92 – 94 regelt Aufgaben und Organisation des Obersten Gerichtshofes. Er übt die Normenkontrolle aus, entscheidet über Bundes-, Regions-/Provinzentscheidungen und über Verfassungsbeschwerden. In Art. 109 – 114 sind die Bundesangelegenheiten aufgelistet; alle anderen Angelegenheiten stehen nach Art. 114 den Regionen und Provinzen zu. Art. 112 nimmt sich ausführlich der Verteilung der Öl- und Gaseinnahmen an. Der 5. Abschnitt der Verfassung ist den Regionen gewidmet. Kurdistan wird in Art. 117 als Region anerkannt. Kurdistan wurde 1970 von dem damaligen irakischen Vizepräsidenten Saddam Hussein und kurdischen Vertretern gegründet. Weitere Regionen gibt es bisher nicht. Solche können allerdings nach der Bundesverfassung gebildet werden. Die Hauptstadt Bagdad ist eine Provinz. Der 6. Abschnitt enthält die Übergangs- und Schlussbestimmungen. Der Entwurf einer kurdischen Verfassung wurde vom kurdischen Parlament am 24. 06. 2009 beschlossen. Nach dem Art. 122 soll sie 60 Tage nach Annahme in einem Referendum in Kraft treten. Ein solches hat nicht stattgefunden. Gleichwohl wird sie als geltende Verfassung angewandt. Sie umfasst 6 Abschnitte. Im 1. Abschnitt finden sich die Fundamentalprinzipien, im 2. die Grundrechte. Wichtig sind hier die Rechte der verschiedenen Ethnien (Kurden, Türken, Araber, Syrer usw.) und Religionen. Abschnitt 3 ist den gewaltengegliederten Funktionen gewidmet: der Legislative (Art. 39 – 58), der Exekutive (Präsident, vom Volk direkt gewählt, und Regierung, vom Parlament gewählt) und der Judikative (mit Richterrat, Verfassungsgericht, Berufungsgericht usw.). Nach Art. 101 wird ein Shura-Rat, ein beratendes Gremium gebildet, das – wie zu zeigen ist – sowohl legislative, exekutive wie judikative Aufgaben erfüllt. Abschnitt 5 der Verfassung ist der lokalen Selbstverwaltung, Abschnitt 6 unabhängigen Behörden und Kommissionen gewidmet. 2. Prinzipien demokratischer und rechtsstaatlicher Verwaltung Nach dem Sturz der Gewaltherrschaft Saddam Husseins19 ging es darum, rasch eine funktionierende Verwaltung einzurichten, was mit Hilfe ausländischer Helfer gelang, in Kurdistan – wie manches andere – schneller und effektiver als in den übrigen Landesteilen. Die demokratisch-rechtsstaatlichen, auf die Sicherung der Freiheit ausgerichteten Vorschriften der irakischen und der kurdischen Verfassung bieten für einen Neubau der Verwaltung gute Voraussetzungen. Für Verwaltungsorganisation, -verfahren und Rechtschutz gegen die Verwaltung gilt vor allem der Grundsatz der Menschenwürde als Quellpunkt der Menschen- und Bürgerrechte. In den Ländern, die sich neue Rechtsordnungen geben, wie der Irak, gilt es zunächst Verständnis 19

Hennes Fürtig, Kleine Geschichte des Irak, 2. Aufl., München, 2004, S. 146; Kanan Makiya, Republic of Fear. The Politics of Modern Iraq, 2nd ed., Berklely 1998, p. 23; Ulrich Tilgner, Der inszenierte Krieg. Täuschung und Wahrheit beim Sturz Saddam Husseins, 3. Aufl., Berlin, 2003, S. 164 f.; Wolfgang Sofsky, Operation Freiheit. Der Krieg im Irak, Frankfurt/Main, 2003, S. 176.

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dafür zu wecken, dass der Bürger im Zentrum des Verwaltungshandelns steht. Die Verwaltung ist für den Bürger da, nicht umgekehrt.20 Die Verwaltung ist dazu da, die Rechte des Bürgers zu schützen und für ihn und die Gemeinschaft lebenswichtige Leistungen zu erbringen. Dabei ist der Gleichheitsgrundsatz Menschenrecht und Demokratieelement. Eine moderne Verwaltung ist verpflichtet, die Bürger durch Organisation und Verfahren zu schützen und zu fördern, und zwar durch einen transparenten und zugänglichen Aufbau der Behörden und Verfahrensinstrumente wie Partizipation an Entscheidungen, rechtliches Gehör und Rechtsmittel. Das Demokratieprinzip – angewandt auf die öffentliche Verwaltung – umfasst drei wesentliche Aspekte. Jede Verwaltungsinstanz, sei sie auf zentralstaatlicher, regionaler oder lokaler Ebene angesiedelt, schöpft legitime Autorität aus dem Willen des Volkes, wie er durch Verfassung und in ihrem Rahmen durch Gesetze und untergesetzliche Normen konkretisiert ist. Zweitens ist das Handeln von Behörden gegenüber dem Bürger, der Wirtschaft, gesellschaftlichen Gruppen durch demokratische Elemente geprägt. Eine demokratische Gesellschaft erwartet eine verantwortungsbewusste Verwaltung, die einerseits Wächter der öffentlichen Interessen ist und andererseits Agentur für Infrastruktur und Leistungen gegenüber der Gesellschaft und dem Einzelbürger. Die praktische Seite einer demokratischen Verwaltung stellt sich drittens in der möglichst effektiven Partizipation der Bürger und Betroffenen an Verwaltungsagenden dar. Es gibt mannigfache Formen der Beteiligung, die von kontrollierender Beobachtung, Anhörung und Kooperation bis zur Mitentscheidung bei der Gliederung von Verwaltungsaufgabenreichen. Das Rechtsstaatsprinzip ist das dritte konstituierende Element eines modernen Verfassungsstaates. Es ist ausgeformt in zahlreichen Bausteinen von Organisation und Verfahren, nicht nur der Regierung und Verwaltung, sondern auch der Gesetzgebung und Rechtsprechung. Regierung und Verwaltung handeln im gewaltenteilenden Rechtsstaat in fein abgestufter Arbeitsteilung mit der Legislative und der – unabhängigen – Judikative. Neben dieser horizontalen Gewaltenteilung tritt im Irak die vertikale Schichtung – Zentralstaat, Region, Provinz, Stadt und Gemeinde-, die ebenfalls freiheitssichernden Charakter hat: Gesamtstaatliche Leistungsfähigkeit und Selbstverwaltung, Verbürgung von nationaler Integration und Bürgernähe. Im Einzelnen haben sich im gewaltengliedernden Rechtsstaat einige Institutionen herauskristallisiert und durchgesetzt. Dazu gehören die Höchstrangigkeit und Unverbrüchlichkeit der Verfassung, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, Rechtsvertrauen, Vorhersehbarkeit von Entscheidungen, klare Kompetenzen und Verantwortung, transparente Organisation, objektive Verfahren, Rechtsschutz gegen Verwaltungsentscheidungen unter Einschluss unabhängiger Gerichte. Wichtige Bestandteile des Rechtsstaatsprinzips, gerade in Bezug auf die Verwaltung haben sich im Grundsatz des „fairen Verfahrens“ („due process“) konkretisiert und bewährt. Solche Bestandteile sind u. a. Persönlichkeitsschutz, unter Einschluss des Datenschutzes, Schutz vor rückwir20 Ulrich Karpen (Fn 5), Draft Law on General Administrative Procedures of the Republic of Croatia, S. 446.

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kenden Rechtsakten, rechtliches Gehör, Rechtshilfe, Teilnahme in mündlicher, schriftlicher, elektronischer Form, Recht auf Informationszugang, Ausschluss von befangenen Personen im (Gerichts-)Verfahren, Recht auf eine Entscheidung in angemessener Zeit, Schadensersatzrechte. Zusammen bilden diese Prinzipien und Standards eine „Waffengleichheit“ zwischen Bürger und Verwaltung. Ein letztes, überragendes Prinzip rechtsstaatlicher Verwaltung – und nicht nur dieser – ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip21, Einfluss der Grundrechte als Bestandteil rechtsstaatlicher Staatlichkeit. 3. Der Rat und die kurdische Verwaltung Shura (Rat, Beratung, Ratgebergremium, Urteilsberatung, Advisory Council) ist eine wichtige Einrichtung des islamischen Rechtes22, beruhend auf einem koranischen Gebot: „… und ratschlage mit ihnen über die Angelegenheit! Und wenn du dich erst einmal zu etwas entschlossen hast, dann vertrau auf Gott.“23 Wie das Ratgebergremium („Madschlis asch-Shura“) einzuordnen ist, ist unter Islamkennern umstritten. Während die einen in der Shura einen Keim der Demokratie sehen, ist er nach anderer Meinung eher eine elitäre, undemokratische Versammlung von Notabeln.24 Die Einrichtung des kurdischen Rates beruht auf Art. 101 der kurdischen Verfassung und Gesetz Nr. 14 aus dem Jahre 2008.25 Die Kompetenzen stellen eine eigenartige Bündelung von Gesetzgebungsfunktionen und Verwaltungsgerichtsaufgaben dar, die mit der herkömmlichen Gewaltenteilungsdoktrin nicht zu vereinbaren sind. Der Rat besteht aus dem Vorsitzenden, seinem Stellvertreter und nicht weniger als fünf, nicht mehr als neun Beratern. Er gliedert sich in eine Präsidialkommission, eine allgemeine Abteilung, und eine Abteilung für Disziplinarsachen der Mitarbeiter der Region. Der Rat ist verwaltungsmäßig beim Justizminister eingerichtet und hat seine Amtsräume im Ministerium. Nach Artikel 6 gehört zu den Aufgaben des Rates einmal die Ausarbeitung von Gesetzentwürfen und ferner die „Geltendmachung seines Standpunktes und die Beratung in Bezug auf gesetzliche und Verwaltungsangelegenheiten in der Region“. Soweit es die Gesetzgebung (Kap. 1) angeht, bereitet er Gesetzentwürfe vor, wozu die Ausformulierung des Textes gehört, wenn die Regierung 21

Karpen (Fn 5) Draft Law, S. 448. Mathias Rohe, Das islamische Recht. Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl., München 2001, S. 249; Werner Ende/Udo Steinhack, Der Islam in der Gegenwart, München 1984, S. 67, 73, 339; Joseph Schacht, An Introduction to Islamic Law, Oxford, 1986, S. 199 ff.; Nadjma Yassari (ed.), The Sharia in the Constitutions of Afghanistan, Iran and Egypt – Implications for Private Law, Tübingen, 2005, S. 23 ff, S. 163 ff. 23 Sure 3, Vers 159 in der Übersetzung von Rudi Paret, Der Koran, Stuttgart, 1980, S. 84. 24 Rohe (Fn 22) S. 249. 25 Publ. in off. Gaz (Al Waqi Kurdistan) No (93) on 01. 12. 2008, Shwan Hhyaadden, Law of Consulting (SHURS) Council Kurdistan Region – Iraq, Erbil 2010 und Shiwan Mohiadeen, Dr. Mazuinlilo, Guide to Kurdistans Region Advisors Council. Brief History. Its Judges and advisors. Its Consulting, Judicial, and Drafting role. Judicial Procedure, Erbil, 2010. 22

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oder Fachminister es wünschen. Soweit Entwürfe von der Regierung oder einzelnen Ressorts ausgearbeitet werden, obliegt dem Rat die Inhalts- wie Rechtsförmlichkeitsprüfung. Unter der Formel „seinen Standpunkt deutlich machen“ subsumiert das Gesetz (Kap. 2) die Klärung von Rechtsstreitigkeiten zwischen Ministerien und unabhängigen Behörden mit bindender Wirkung und die authentische Auslegung von Rechtsvorschriften. Dieses Recht steht dem Rat gegenüber Gerichten nicht zu. Man könnte die beiden letztgenannten Funktionen als richterliche kennzeichnen. Kap. 3 beschäftigt sich mit „Verwaltungsangelegenheiten“. Zunächst geht es um die Verwaltungsgerichtsbarkeit. In den Artikeln 12 und 13 sind solche Verwaltungsentscheidungen, die Gegenstände einer Klage sein können, in herkömmlicher Weise aufgeführt. Die Gerichtsentscheidung kann nach Art. 14 und 18 innerhalb einer Frist von 30 Tagen beim Rat – allgemeine Abteilung – durch Berufung angefochten werden. Seine Entscheidung ist endgültig. Die allgemeine Abteilung ist nach Art. 19 auch befugt, die Einzelheiten des Verwaltungsgerichtsverfahrens zu regeln. Die Disziplinarabteilung entscheidet in Sachen der Regierungs- und Verwaltungsmitarbeiter. Berufung ist möglich an die allgemeine Abteilung. Vermittels der Auslegungs- und quasirichterlichen Entscheidungskompetenz hat der Rat also eine wichtige Position in der kurdischen Verwaltung. Die Verbindung von beratenden und entscheidenden Kompetenzen in Gesetzgebung, Verwaltung und Gerichtsbarkeit gibt dem Rat also eine im Gewaltenteilungssinne etwas vage Stellung „oberhalb“ der drei Staatsfunktionen, die sich nur aus der koranisch-islamischen Tradition, dem institutionenbezogenen Konzept der Konsensfindung und der Höchstrangigkeit der Sharia erklären lässt.26 IV. Verfassungsgerichtsbarkeit und Freiheit – Das Beispiel Äthiopien 1. Verfassung und Recht Äthiopien ist ein multikultureller, multireligiöser, ethnisch sehr vielfältiger Staat, der zweitgrößte Staat Afrikas (77 Mio. Einwohner) und der einzige Staat Afrikas, der bis zum 20. Jahrhundert niemals unter Kolonialherrschaft stand. Die christliche Orthodoxie war über Jahrhunderte die Klammer, die das Land zusammenhielt. Im 19. Jhd. erhielt das Land seine jetzige Gestalt, nicht zuletzt durch den überragenden Kaiser Menelik (1889 – 1913)27, der im 20. Jhd. in Haile Selassi (1930 – 1974) einen ebenbürtigen Nachfolger fand. Das kommunistische Militärregime unter der Führung von Mengistu Hailemarian (1974 – 1991) führte zur Zentralisierung und ökono-

26

Rohe (Fn 22), S. 249. Bahru Zewde, A History of Modern Ethiopia 1935 – 1991, 2nd ed, Oxford, 2001, S. 111 f. 27

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misch wie gesellschaftlich zu einer langandauernden Krise28, letztlich zur Abspaltung von Eritrea. Nach dem Erfolg der demokratischen Befreiungsbewegung wurde deren Anführer, Meles Zenawi, Ministerpräsident. Er starb 2012 und sein Außenminister folgte ihm nach. Das Land macht starke Anstrengungen, wirtschaftlich aufzuholen und vor allem die Infrastruktur zu verbessern. Äthiopien ist ein parlamentarischer Bundesstaat. Die Verfassung stammt vom 21. Aug. 1995. Sie umfasst 11 Kapitel. Die Kap. 1 und 2 enthalten Regelungen zu Sprachen, Territorien, Staatssymbolen und die Staatsstrukturbestimmungen. Das 3. Kap. ist den Grundrechten gewidmet und ist mit 40 Artikeln sehr ausführlich. Die Bundesstaatlichkeit, die im 4. Kap. geregelt ist, ist außerordentlich differenziert. Nach Art. 45 II haben „Nationen, Nationalitäten, Völker“ innerhalb der 9 Länder jederzeit das Recht, ihre eigenen Länder zu gründen. Art. 5 bestimmt, dass alle Aufgaben, die nicht ausdrücklich dem Bund zugewiesen sind, von den Ländern erledigt werden. Kap. 5 behandelt die gewaltengliedernde Struktur sowohl des Bundes wie der Länder. Auf Bundesebene ist das Repräsentantenhaus der Gesetzgeber. Zweites Haus ist der Bundesrat (House of the Federation, HoF). Ihm gehören die Vertreter der Nationen, Nationalitäten und Völker an, für jede Gruppierung mindestens einer sowie je ein weiterer für jede Million Einwohner. Nach Art. 62 hat das HoF keine gesetzgeberischen Befugnisse, vielmehr nach Abs. I das Recht der Interpretation der Verfassung in den Verfahrensarten des Bund-Länder-Streites, der Organklage, der Richtervorlage und der Verfassungsbeschwerde, wie zu erläutern ist. Das HoF ist kein Verfassungsgericht sondern ein politisches Organ, wenngleich Kompetenzen und auch Verfahren dem eines Verfassungsgerichtes gleichen. Pate haben der Supreme Court der USA und das Bundesverfassungsgericht gestanden.29 Kap. 7 und 8 sind dem Präsidenten und der Bundesregierung gewidmet. Kap. 9 behandelt die Gerichtsbarkeit und den Federal Supreme Court an der Spitze. In den Art. 82 – 84 sind die Einzelheiten des beim HoF eingerichteten Council of Constitutional Inquiry (CCI) geregelt. Diese Einrichtung erledigt die quasi-verfassungsgerichtlichen Aufgaben des HoF. Die abschließenden Kap. 10 und 11 regeln die Staatsziele und die Übergangsbestimmungen. 2. Verfassungsinterpretation In vielen Ländern, die eine Verfassungsgerichtsbarkeit oder – wie Äthiopien – eine andere Form authentischer Verfassungsinterpretation eingeführt haben, sind die Prinzipien der Verfassungsauslegung erst im Stadium der Entfaltung. Es wird anerkannt, dass die Verfassung das höchstrangige Gesetz, das Grundgesetz des Landes ist. Als „politisches Recht“ umfasst es Großbegriffe (wie Demokratie, Rechtsstaat usw.), die schwer einer undiskutierbaren Interpretation zugänglich sind. Das gilt 28 Angelika Murdes, Ohne Perspektive? Flüchtlinge und Vertriebene im östlichen Afrika, in: Auslandsinformationen der Konrad-Adenauer-Stiftung 1/2/13, S. 66 (85); ferner Wendy James et. al. (eds.), Remapping Ethiopia, Socialism and After, Oxford 2002. 29 Assefa Fiseha, Constitutional Adjudication in Ethiopia: Explosing the Experience of the House of Federation (HoF). Mizan Law Review, Vol 1, No 1, June 2007, S. 1 (6).

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auch für werthaltige Begriffe (wie Menschenwürde, Gleichheit, Verhältnismäßigkeit). Vergleichbar vage bleibt der Inhalt von offenen Begriffen (wie unabhängig, Recht auf Arbeit, Entwicklung usw.). Jede Verfassungsauslegung muss von den allgemeinen Auslegungsgrundsätzen ausgehen, also „klassisch“ Wort- und Satzzusammenhang ins Auge fassen, logisch, systematisch, historisch vorgehen. Die Entstehungsgeschichte ist zu prüfen, die Teleologie der Norm zu konkretisieren und – mehr und mehr – auch Rechtsvergleichung zu betreiben. Die Verfassung ist offen gegenüber dem politischen Prozess, beeinflusst ihn und wird von ihm beeinflusst. Der Verfassungsinterpret ist ein Mitspieler auf dem politischen Feld. Ohne soziologisches, ökonomisches, sozialpsychologisches Verständnis wird es nicht gehen. Medien, die öffentliche Meinung, die Gemeinschaft der Interpreten haben etwas zu sagen. Immer ist es eine topische, problemorientierte Auslegung. Es gibt keine einzige unhinterfragte „richtige“ Auslegungsmethode, sondern Methodenvielfalt. Einige Prinzipien geben dem Interpreten Orientierung, wie etwa die „Einheit der Verfassung“, die „praktische Konkordanz“, rechtsstaatliche Unterprinzipien, der Sozialstaat. Das Ziel der Auslegung ist die Harmonisierung von Verfassungsrecht, unter Anwendung der Prinzipien der Geeignetheit, Erforderlichkeit, „Kosten-Nutzen-Optimierung“, der „Originalität“ (wie sie etwa der US-Supreme-Court anwendet). Hinzu treten die Leitlinien der Subsidiarität, der erstrebten Stabilität wie der notwendigen Flexibilität. Integration, nicht Desintegration sind wichtige Verfassungszwecke. Ein gewisses „Vorurteil“ für die Verfassungsmäßigkeit des zu prüfenden Handelns mag hilfreich sein. Jedenfalls sollte im Zweifel ein Auslegungsergebnis angestrebt werden, das für die Verfassungsmäßigkeit steht. Die Länder, deren Verfassungen Grundrechtskataloge haben und welche eine die Interpretation anfeuernde Verfassungsbeschwerde kennen, haben oft eine reiche Theorie der Grundrechtsinterpretation entwickelt. Das gilt schon für die Klassifikation: Menschen- und Bürgerrechte, Grundrechte der 1., 2., 3. Generation. Das gilt ferner für das Verständnis der Grundrechte: als liberale Abwehrrechte, Institutionen, objektive Wertträger, politische Rechte, Teilhabe- und Teilnahmerechte. Grundrechte müssen gegeneinander abgewogen werden. Folgenbewertung ist notwendig. Und es gilt der Satz: in dubio pro libertate. Sehr genau wird unterschieden zwischen strikt bindenden Rechten und eher „programmatisch“ wirkenden Rechten: Grundrechte können organisationsbestimmend sein, Drittwirkung haben; sie können „Leuchttürme“ für das Verständnis einfachen Rechts sein und damit das ganze Rechtssystem überziehen und prägen. Auch die Schrankensystematik ist sehr ausgefeilt: schrankenfreie und generell beschränkte Grundrechte, besondere Schranken, der Gesetzesvorbehalt, Zugang zu Gerichten, Schadensersatzansprüche. Insgesamt lässt sich sagen, dass die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts30 anerkannt ist und weltweit – so auch in Äthiopien – zur Kenntnis genommen wird.31 30 Dieter Hömig, Die Verfassungsgerichtsbarkeit als Garant von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, dargestellt am Beispiel des Bundesverfassungsgerichts, in: Hülshörster/Mirow (Fn 2), S. 77 (85), Jens Meyer-Ladewig, Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, in: Hülshörster/Mirow (Fn 2), S. 89 (98).

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3. Der Council of Constitutional Inquiry (CCI) des House of Federation (HoF) Der CCI übt quasi verfassungsgerichtliche Funktionen aus. Das HoF ist die Vertretung der vielfältigen ethnischen Gruppen, Völker und Stämme Äthiopiens. Es ist ein politisches Organ. Das CCI hat keine richterliche Unabhängigkeit. Seine Rechtsgrundlagen sind Art. 82 – 84 der Verfassung und die Gesetze Nr. 250 und 251 vom 6. Juli 2001.32 Es stellen sich zwei Fragen. Zunächst ist zu prüfen, warum es zur Entscheidung des äthiopischen Verfassungsgebers gekommen ist, die zweite Kammer mit Verfassungsinterpretationsaufgaben zu betrauen, kein eigenes Verfassungsgericht zu bilden und insgesamt dem obersten Bundesgericht erhebliche Materien zu entziehen. Richtig ist zwar, dass zweite Kammern in parlamentarischen Systemen nicht ausschließlich – wenn auch überwiegend – Gesetzgebungsaufgaben haben.33 Als Beispiel für die Wahrnehmung von Rechtsprechungsaufgaben ist an die inzwischen abgelöste verfassungsrechtliche Regelung von Großbritannien zu denken, wonach das House of Lords als High Court of Parliament höchstrichterliche Aufgaben hatte.34 Durch den Court Reform Act 2005 sind diese Rechte der „Law Lords“ mit Wirkung von 200935 auf einen neu eingerichteten Supreme Court übergegangen. Zwei Gründe sind – anders als in der englischen Tradition – für die Interpretationshoheit des HoF maßgeblich gewesen.36 Nach Art. 8 der Verfassung sind die Nationen, Nationalitäten und Völker souverän. Als souveräne Träger der Staatsgewalt sollten allein sie die Macht haben, den durch die Verfassung strukturierten „Bund“ – einen Vertrag – zu ändern. Letztlich ist es also der starke föderale Gedanke, der die Lösung trägt. Ferner befürchteten die Verfassungsgeber, ein Verfassungsgerichtshof würde „richterlichen Aktivismus“, gar „richterliches Abenteuertum“ entfalten, ein Gedanke, der Juristen in Deutschland und Europa nicht fremd ist. Die verfassungsrechtliche Frage ist die, warum das Repräsentantenhaus in zwei Gesetzen die Einzelheiten von Organisation und Verfahren der zweiten Kammer geregelt hat. Die Grundlagen des HoF und des CCI sind in der Verfassung recht ausführlich bestimmt. Man hätte erwartet, dass das HoF die Einzelheiten durch Geschäftsordnung selbst hätte regeln können und sollen. Diese Frage hat der CCI noch nicht aufgegriffen. Sie liegt aber auf der Hand und wird geprüft werden müssen. 31 Justice and Legal Systems Research Institute, Report of Needs Assessment for Training on Constitutional Interpretation in Ethiopia, Addis-Abeba, 2012. 32 Federal Negarit Gazetta vom 6. Juli 2001, S. 1599 und 1606. 33 Gisela Riescher/Sabine Ruß/Christoph M. Haas (Hrsg.), Zweite Kammern, 2. Aufl., München 2010, S. 11. 34 Karl Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis von Großbritannien, Band II, Berlin 1967, S. 3 f. 35 State Instruction 2009, 1604, Commencement No 11, order 2009; vgl. dazu Alex Carroll, Constitutional and Administrative Law, 5th ed., London, 2009, S. 42 ff. 36 Fiseha (Fn 29) S. 10.

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Dem CCI gehören nach § 4 des Gesetzes Nr. 250 an: Der Präsident des Obersten Bundesgerichtes, sein Vizepräsident, sechs Rechtsexperten, ernannt vom Staatspräsidenten auf Empfehlung des Parlamentes, drei Mitglieder des HoF. Dem CCI sind die Details der rechtlichen und verfahrenstechnischen Fallbehandlung übertragen. Das Verfahren hat gerichtsähnliche Züge. Die Verfahrensarten haben viel mit denen des Supreme Court der USA und des Bundesverfassungsgerichts gemeinsam. Zunächst gibt es den Organstreit zwischen Bundesorganen.37 Bisher ist ein solcher Fall noch nicht entschieden worden. Der Normenkontrolle unterliegen Bundesund Landesgesetze.38 Ferner entscheidet das HoF über Bund-Länder-Streitigkeiten und solche zwischen Ländern.39 Die Ausübung des Sezessionsrechtes von Nationen, Nationalitäten und Völkern gehört ebenfalls vor die zweite Kammer40; es gibt die Richtervorlage.41 Die Verfassungsfrage kann vorgelegt werden, muss aber nicht. Die Verfassungsbeschwerde42 ist möglich, hat aber bei weitem noch nicht die Popularität erlangt, wie es etwa beim Bundesverfassungsgericht der Fall ist, dem die Verfahrensbestimmungen nachempfunden sind. Das CCI kann die Initiative zu verfassungsrechtlichen Untersuchungen ergreifen.43 Im Übrigen werden die Anträge von Bund- oder Landesorganen, Gerichten oder Einzelnen vorgelegt. Das CCI kann nicht selbst verbindlich entscheiden. Es prüft, ob die vorgelegte Frage einer verfassungsrechtlichen Interpretation bedarf. Bejaht es die Frage, legt es die Sache dem HoF vor. Dieser entscheidet mit verbindlicher Wirkung.44 Verneint es sie, verweist das CCI die Sache an den Antragsteller zurück. Wenn dieser die Entscheidung nicht akzeptiert, kann er beim HoF Berufung einlegen.45

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§ 23 IV des Ges. 250. § 6 II des Ges. 250. 39 § 23 des Ges. 251. 40 § 3 III des Ges. 251 41 § 21 I des Ges. 250. 42 § 23 I des Ges. 250. 43 § 6 I des Ges. 250. 44 § 4 I des Ges. 251. 45 § 4 II des Ges. 251. 38

Was schützt der Schutz des Eigentums? Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG zwischen Freiheitssicherung, Rechtsbewahrung und Werterhalt Von Jan Henrik Klement, Saarbrücken Schon in seiner Habilitationsschrift „Eigentum und Gesetzgebung“ hat Rudolf Wendt die eigenständige Bedeutung der grundrechtlichen Gewährleistung des Eigentums für die individuelle Freiheit herausgearbeitet.1 In seiner vielgelesenen Kommentierung des Art. 14 GG2 hat er der Freiheit später einen zweiten Schutzzweck gleichberechtigt an die Seite gestellt: die Rechtsbewahrung, verstanden als „Rechtssicherheit hinsichtlich der durch die Rechtsordnung anerkannten Vermögensrechte“. Noch in einer anderen Hinsicht hat sich das Denken des Jubilars im Laufe der Jahre verändert. Während der frühe Wendt ein streng rechtsorientiertes Verständnis des Eigentumsgrundrechts vertrat,3 will der spätere Wendt den Schutzbereich nicht mehr auf die formelle Integrität individueller vermögenswerter Rechte beschränkt wissen, sondern auf faktische Umstände ausdehnen, die für die Nützlichkeit der geschützten Rechte und mithin für ihren Wert von Bedeutung sind.4 In beiden Punkten möchte ich Partei für das Frühwerk meines geschätzten Vorgängers auf dem Saarbrücker Lehrstuhl ergreifen und damit seinen neueren Standpunkten widersprechen. Zunächst lege ich dar, weshalb ein rein freiheitsorientiertes und rechtsbezogenes Verständnis der Eigentumsgewährleistung vorzugswürdig ist (nachfolgend I.). Daran anknüpfend ist die praktische Bedeutung der Lehren zu Zweck, Gegenstand und Schutzrichtung von Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG anhand des Rentenversicherungsrechts zu verdeutlichen (II.). Die Frage lautet zugespitzt: Gibt es ein Grundrecht auf Rentenerhöhungen? Wendt bejaht die Frage5; ich werde sie verneinen.

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R. Wendt, Eigentum und Gesetzgebung, 1985, S. 11 f., 68, 72 f., 80 ff. R. Wendt, in: M. Sachs (Hrsg.), GG, 7. Aufl. 2014, Art. 14 Rn. 4, 28. 3 R. Wendt (Fn. 1), S. 17 ff. 4 Der Nachweis dieser Position wird unter I. 2. und I. 3. b) geführt. 5 R. Wendt (Fn. 2), Art. 14 Rn. 34. 2

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I. Zweck, Gegenstand und Schutzrichtung der Eigentumsgewährleistung 1. Zweck: Schutz der Freiheit, nicht Schutz des Vertrauens In kluger Zurückhaltung meidet das Grundgesetz in Art. 14 Abs. 1 Satz 1 den Begriff der Freiheit und alle seine Ableitungen. Eine „Freiheit des Eigentums“ gibt es nicht, auch wenn die verbreitete Rede von einer „Eigentumsfreiheit“ etwas anderes suggerieren mag. Freiheit ist die Abwesenheit von Hindernissen für die freie Entfaltung einer Persönlichkeit durch ein mit der Umwelt interagierendes Handeln.6 Das Eigentumsgrundrecht indes schützt kein Handeln, sondern Zustände: die Integrität der individuellen Zuordnung vermögenswerter Rechte im Hinblick auf rechtliche und – in noch darzulegenden Grenzen – faktische Eingriffe. Weshalb ist Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG gleichwohl als Freiheitsgrundrecht zu verstehen? a) Eigentum als Grundlage der Persönlichkeitsentfaltung Die als Eigentum geschützten Rechtspositionen vermitteln ihren Trägern in einer wirksamen Rechtsordnung tatsächliche Möglichkeiten des Handelns und Bewirkens. Beispielsweise beinhaltet das bürgerlich-rechtliche Sacheigentum gemäß § 903 Satz 1 BGB das Recht, mit der Sache nach Belieben zu verfahren und andere von jeder Einwirkung auszuschließen. Die tatsächliche Wirksamkeit der dem Eigentümer de iure eröffneten Möglichkeiten wird durch die vielfältigen Sanktionen gewährleistet, die zivilrechtliche, strafrechtliche und öffentlich-rechtliche Vorschriften an den bürgerlich-rechtlichen Begriff des Eigentums knüpfen und mit Hilfe subjektiver Rechte und anderer Kompetenzen größtenteils dem Willen des Eigentümers unterstellen.7 In der tatsächlichen Freiheit des Handelns findet die Rechtsposition des Eigentums früher oder später ihre Erfüllung. Wenn die Vorschrift des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG das Eigentum gewährleistet, dann sichert sie mithin zugleich eine Grundlage zukünftigen Freiheitsgebrauchs8 und ermöglicht damit eine Entfaltung der Persönlichkeit in der Sozialsphäre.9 Dieser Zusammenhang rechtfertigt es nach überkommenem Verständnis, das Eigentumsgrundrecht als Freiheitsgrundrecht in eine Reihe mit denjenigen Grundrechten zu stellen, die – wie zum Beispiel die Berufsfreiheit, die Meinungsfreiheit oder die allgemeine Handlungsfreiheit – unmittelbar ein

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Näher J. H. Klement, Wettbewerbsfreiheit, 2015, 3. Kap., IV. 1., 6. (im Erscheinen). Vgl. die Definition des subjektiven Rechts bei G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl., 1905, S. 79. 8 Vgl. BVerfGE 97, 350 (370). 9 Das BVerfG spricht in stetiger Rechtsprechung davon, dass Art. 14 Abs. 1 GG dem Grundrechtsträger einen „Freiheitsraum im vermögensrechtlichen Bereich“ sichern solle (siehe nur BVerfGE 97, 350 [371]; 105, 252 [277]; 134, 242 Rn. 167); zur Freiheitsorientierung des Art. 14 Abs. 1 GG auch P. Kirchhof, Rückbesinnung auf ein Grundrecht, in: O. Depenheuer (Hrsg.), Eigentumsverfassung und Finanzkrise, 2009, S. 7 (7). 7

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Handeln oder Entscheiden schützen.10 In den Worten Wendts: Beim Eigentum handelt es sich um „ein über die Innehabung und Herrschaft hinsichtlich des Vermögensgegenstands vermitteltes Verhältnis von Person zu Person, durch das individuelle Freiheit erst ermöglicht und verwirklicht wird“11. Der Gedanke eines mittelbaren Freiheitsschutzes durch den Schutz von „Integritäten“ oder „Sphären“ einer Person ist eine Besonderheit, aber kein Alleinstellungsmerkmal des Eigentums. Er ist das innere Band, das auch andere Grundrechte wie beispielsweise den Lebens- und Gesundheitsschutz,12 das allgemeine Persönlichkeitsrecht13 oder die „Unverletzlichkeit“ der Wohnung14 an den Freiheitsbegriff zurückbindet und damit die Freiheitsgrundrechte als größte und wichtigste Grundrechtsfamilie zusammenhält. Speziell im Fall von Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG genügt der Verweis auf die in der Integrität oder Sphäre „aufbewahrten“ Handlungspotentiale meines Erachtens aber nicht, um den Grundrechtsschutz sachlich zu rechtfertigen und damit die verschiedenen Prüfungsschritte der Grundrechtsdogmatik in Zweifelsfällen anzuleiten. Der Schutz des Eigentums ist ein Schutz von Recht gegen Recht. Ein bestehendes Recht wird einem neuen Recht prima facie vorgezogen. Die dem Eigentümer vermittelte individuelle Freiheit begründet diese Wertung nicht, denn ihre Kehrseite ist eine Beschränkung der individuellen Freiheiten anderer Personen. Der Inhalt und Schranken des Eigentums bestimmende Gesetzgeber erweitert die Handlungsmöglichkeiten der einen und verkürzt damit zugleich den Handlungsraum der anderen, die das Recht zu respektieren haben, die zu etwas verpflichtet werden. § 903 Satz 1 BGB macht das anschaulich. Die vieldiskutierte Drittwirkung der Grundrechte ist bei Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG der Normalfall.15 Es muss also einen dritten normativen Bezugspunkt geben, der die im Eigentumsgrundrecht angelegte Bevorzugung der Freiheit der beati possendi gegenüber der Freiheit der anderen rechtfertigt.

10 BVerfGE 53, 257: „Die Garantie des Eigentums ist ein elementares Grundrecht, das in engem innerem Zusammenhang mit der persönlichen Freiheit steht.“; noch deutlicher BVerfGE 112, 1 (21); M. Sachs, in: K. Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, 1988, § 66 II 2, S. 624, 627; anders K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 363, 41. 11 R. Wendt (Fn. 1), S. 67. 12 W. Brugger, JZ 1987, S. 633 (638): Lebensschutz als „Vitalvoraussetzung individueller Persönlichkeitsentfaltung“. 13 W. Schmidt, JZ 1974, S. 241 (244 f.); W. Kahl, Die Schutzergänzungsfunktion von Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz, 2000, S. 9. 14 BVerfGE 120, 274 (309). 15 R. Wendt (Fn. 1), S. 67, spricht von einem „wesensimmanenten Drittbezug“ des Eigentums.

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b) Rechtsbewahrende Funktion des Eigentums An dieser Stelle brächte Wendt nun vermutlich die Rechtsbewahrung als die zweite Aufgabe ins Spiel, die Art. 14 Abs. 1 GG seiner Ansicht übertragen ist. Der Gedanke lässt sich so fassen, dass der status quo des Bestehens eines vermögenswerten Rechts allein um seiner selbst Willen nach Möglichkeit zu erhalten ist. Es kommt nicht darauf an, ob die gegebene Zuordnung und Verteilung der Rechte gerecht oder nützlich ist, sondern es geht darum, das in ihren Fortbestand gesetzte Vertrauen nicht zu enttäuschen und – ökonomisch gesprochen – keine Transaktionskosten für die Änderung der Rechtslage zu verursachen. Diese Sichtweise akzentuiert die Bedeutung einer verlässlichen Rechtsordnung als Voraussetzung jeder langfristig angelegten Strategie einer selbstbestimmten Persönlichkeitsentfaltung.16 In der Tat arrangieren sich die Freiheitsträger mehr oder weniger gut mit einer gegebenen Ordnung. Sie können mit Rücksicht auf die erbrachte Anpassungsleistung und die daraus erwachsenden relativen Vorteile selbst dann ein Interesse an dem Fortbestand einer Ordnung haben, wenn sie sich ihr niemals freiwillig unterworfen hätten. Das Stabilitätsinteresse allein erlaubt es aber nicht, die Bewahrung von Rechten unabhängig von ihren Inhalten (!) als Schutz der Freiheit zu bezeichnen.17 Ließe sich die Eigentumsgewährleistung nur mit dem Rechtsbewahrungsgedanken erklären, wäre Art. 14 Abs. 1 GG mithin aus der Familie der Freiheitsgrundrechte herausgelöst. Die Eigentumsgewährleistung wäre auf eine lex specialis des aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3, Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG) herzuleitenden Vertrauensschutzgrundsatzes reduziert. Dieser Schritt hätte weitreichende Folgen. Die teleologische Rechtfertigung eines Grundrechts entscheidet nicht nur über die Weite seines Schutzbereichs, sondern auch über die Strukturierung der weiteren Grundrechtsverletzungsprüfung und insbesondere über das Gewicht des Grundrechts bei der Erörterung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne. Das nackte Interesse am Erhalt eines nicht anderweitig legitimierten Zustands hätte dem demokratisch legitimierten Veränderungsinteresse wenig entgegenzusetzen. Ein eigenes Gewicht erhielte die Eigentumsgewährleistung nur als „Grundrecht“ der ökonomischen Vernunft.18 Die Verbindungslinien zur Idee der Persönlichkeitsentfaltung, die alle Grundrechte zusammenhält, wären unterbrochen. Die duale Schutzzweckkonzeption überzeugt daher nicht. Die Verlässlichkeit der Rechtsordnung ist zwar eine „wesentliche Voraussetzung für Freiheit“19 im Sinne von selbstbestimmter Persönlichkeitsentfaltung. Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG gewährt 16 Sehr weitgehend das Gebot der Rechtskontinuität bei A. Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, S. 165. 17 J. H. Klement (Fn. 6), 11. Kap., II. 1. 18 Siehe schon die These von M. Kriele, Zur Geschichte der Grund- und Menschenrechte, in: Festschrift H. U. Scupin, 1973, S. 187 (200 ff., 210): Das Eigentum werde nicht allein um der individuellen Freiheit willen, sondern auch um des Funktionierens des Marktsystems willen gewährleistet. 19 BVerfGE 113, 273 (301 f.); 132, 302 (Rn. 41).

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dem Eigentümer deshalb nach Maßgabe der Schranken-Schranken des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes20 und des Vertrauensschutzgrundsatzes Rechtssicherheit hinsichtlich der als Eigentum geschützten Güter.21 Eine Rechtsposition wird aber nicht als Eigentum geschützt, weil ihr Inhaber auf ihren Fortbestand vertraut. Die gedankliche Reihenfolge ist umgekehrt: Das Vertrauen in den Fortbestand eines Rechts wird geschützt, weil und soweit dieses Recht unter den Begriff des Eigentums zu subsumieren ist. Das Vertrauen in den Fortbestand eines Rechts konstituiert nicht das Schutzgut, ist nicht ratio essendi eines Freiheitsgrundrechts. c) Freiheitsorientiertes Verständnis des Eigentums Ein rein freiheitsorientiertes Verständnis des Eigentumsschutzes ist möglich. In den als Eigentum geschützten rechtlichen Zuordnungsbeziehungen sind nicht nur zukünftige Handlungsmöglichkeiten gespeichert. Vielmehr sind im Eigentum auch die Erfolge von Leistungen der Vergangenheit aufbewahrt. Die Möglichkeit einer rechtlichen Verstetigung, einer „Thesaurierung“ des Erfolgs bringt gegenüber einer hypothetischen Rechtsordnung ohne Eigentumsrechte gewichtige Vorteile für den Handelnden. Er muss die tatsächlich erlangten Vorteile nicht fortlaufend physisch-real verteidigen, sofort konsumieren oder in neue Aktivitäten zur Vorteilserlangung investieren.22 Einmalige Anstrengung im Wettbewerb mit anderen Freiheitsträgern sichert dem Handelnden und seinen Rechtsnachfolgern potentiell zeitlich unbegrenzten Genuss der Vorteile eines absoluten Rechts. Die Aussicht auf dieses Honorar ist Antrieb und Kalkulationsgrundlage für den Gebrauch der individuellen Handlungsfreiheit aller Eigentümer und derer, die es noch werden wollen. Der hoheitliche Zugriff auf das Eigentum ist deshalb ein mittelbarer Zugriff auf die Freiheit des Handelns und Entscheidens. Mit ihm wird die Erwartung enttäuscht, dass der Staat die Rechte dauerhaft respektiert, die nach der im Zeitpunkt des Handelns maßgeblichen Rechtsordnung erworben wurden. Das Bundesverfassungsgericht23 verdient deshalb Zustimmung, wenn es öffentlich-rechtliche Rechte, die zwar einen Vermögenswert besitzen, aber nicht auf eigener Leistung beruhen, aus dem Schutz des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG ausklammert. In dem von Wendt als Alternative zum Leistungskriterium entwickelten Kriterium eines qualifizierten normativen Zugehörens dürfte sich demgegenüber schon seine spätere duale Schutzzweckkonzeption andeuten.24 20

K. F. Gärditz, in: K. H. Friauf/W. Höfling (Hrsg.), GG, Art. 20 (6. Teil) Rn. 207 (Stand: Januar 2011). 21 BVerfGE 45, 142 (168). 22 Zu den geringeren Produktionsanreizen in einer Anarchie F. Breyer/M. Kolmar, Grundlagen der Wirtschaftspolitik, 4. Aufl. 2014, S. 88. 23 BVerfGE 45, 142 (170); 69, 272 (300 f.); zutreffend auch W.-R. Schenke, Sozialversicherungsrechtliche Ansprüche und das Eigentumsgrundrecht, in: Festschrift für Egon Lorenz, 2004, S. 715 (723 ff.). 24 R. Wendt (Fn. 1), S. 118 ff.; siehe auch ders. (Fn. 2), Art. 14 Rn. 29 ff. Eine qualifizierte normative Zugehörigkeit spricht für ein erhöhtes Vertrauen in den Fortbestand des Rechts; es

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Im Ergebnis ist festzuhalten: Die Eigentumsgewährleistung bezweckt nicht den Schutz des Vertrauens in den Fortbestand individueller Rechtszuordnungen um ihrer selbst willen. Sie gewährleistet das mit dem Erwerb des Vermögensrechts durch eigene Leistung betätigte Vertrauen des Freiheitsträgers in den Fortbestand dieses Rechts im Zeitablauf und damit die Freiheit des Handelns und Entscheidens selbst. Der Gedanke der Speicherung der Erfolge vergangener Leistungen ist der den verfassungsrechtlichen Schutz des Eigentums als Grundrecht – und damit jenseits ökonomischer Zweckmäßigkeiten – innerlich rechtfertigende Grund. Wer sich von ihm abwendet, löst das innere Band zwischen Eigentumsgewährleistung und Freiheitsschutz und macht Art. 14 Abs. 1 GG zur lex specialis des auf die Bewahrung des status quo gerichteten Vertrauensschutzgrundsatzes und zu einem dienenden Grundrecht. 2. Gegenstand: Normen, nicht Faktizitäten Immer wieder wird Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG als Paradebeispiel eines normgeprägten Grundrechts genannt.25 Anders als beim Lebens-, Gesundheits-, Persönlichkeits- und Wohnungsschutz wird das Schutzgut Eigentum erst durch den Gesetzgeber geschaffen. Genau genommen ist das Grundrecht also nicht nur „normgeprägt“, sondern „normkonstituiert“. Das ist weniger eine Schwäche als vielmehr eine Stärke. Das Grundrecht unterwirft sich zwar dem historischen, nicht aber dem gegenwärtigen Gesetzgeber. Es profitiert von der Präzision des in der Vergangenheit produzierten einfachen Rechts. In seiner Habilitationsschrift hat Wendt den Gedanken der Normkonstitution ausführlich begründet und gegen Tendenzen verteidigt, den Schutzbereich auf rein faktische Herrschaftsbeziehungen auszudehnen.26 Bloße Erwartungen, Chancen und wirtschaftliche Vorteilslagen, so schreibt er, seien nicht in den grundrechtlichen Schutz einzubeziehen, weil damit ein „handhabbarer Rechtsbegriff des Eigentums aufgegeben und die Grenzen des juristisch erfassbaren gesprengt würden“.27 Die bloße Faktizität ermögliche „keine verläßliche Abgrenzung und Zuordnung einer Sphäre“, wie dies für die rechtliche Herrschaft in Bezug auf einen Vermögensgegenstand kennzeichnend sei.28 Es sei nicht der Sinn der Grundrechte, die reine Tatsächlichkeit einer Macht zu sanktionieren, die von einem Grundrechtsträger gegenüber Dritten ausgeübt werde.29 Vordergründig wird diese Position heute kaum mehr in Frage gestellt. Schon in der Nassauskiesungsentscheidung definierte das Bundesverfassungsgericht den Begriff

ist wohl dieses Vertrauen, das den Eigentumsschutz öffentlich-rechtlicher Rechte rechtfertigen soll. 25 C. Bumke, Ausgestaltung von Grundrechten, 2009, S. 17. 26 R. Wendt (Fn. 1), S. 17 ff., 33 f., 62 ff., 71. 27 R. Wendt (Fn. 1), S. 64. 28 R. Wendt (Fn. 1), S. 65. 29 R. Wendt (Fn. 1), S. 67.

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des Eigentums als „Zuordnung eines Rechtsgutes an einen Rechtsträger“.30 Faktizitäten und damit insbesondere auch „in der Zukunft liegende Chancen und Verdienstmöglichkeiten“31 sind nach stetiger Rechtsprechung nicht von Art. 14 Abs.1 GG erfasst. Auch die Faustformel zur Abgrenzung der Anwendungsbereiche der Eigentumsgewährleistung und der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG), der zufolge jene das „Erworbene“ und diese den „Erwerb“ schütze, nimmt auf eine normative Zuweisungsentscheidung Bezug und gewinnt allein durch sie die erforderliche Klarheit. In der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zum europäischen Eigentumsgrundrecht (nunmehr Art. 17 GRCh) hat sich die Lehre von der Normkonstitution ebenfalls durchgesetzt.32 Der verfassungsrechtliche Begriff des Eigentums unterliegt zwar nicht der Bestimmungsgewalt des einfachen Rechts. Vom Gesetz geschaffen sind aber die Gegenstände, auf die sich der verfassungsrechtliche Schutz bezieht. 3. Schutzrichtung: rechtliche und faktische Eingriffe Es bleibt die Frage, vor was die vermögenswerten individuellen Rechte geschützt werden. Der Konflikt zwischen einem rechtsorientierten und einem tatsachenorientierten Verständnis des Grundrechts kehrt hier in anderem Gewand zurück. Verbietet das Grundrecht nur den Erlass neuer Rechtsnormen, welche die geschützte rechtliche Zuordnung aufheben oder schwächen? Oder wird neben der rechtlichen Integrität auch der reale Wert der Rechte für den Freiheitsträger verteidigt? Schützt das Grundstückseigentum vor dem Lärm der Feuerwehrsirene? Beeinträchtigt die Sperrung einer Straße das Eigentum am Kraftfahrzeug? a) Schutz vor einer Beeinträchtigung der tatsächlichen Verwendbarkeit der Gegenstände, auf welche sich die Rechte beziehen Der reale Wert eines Rechts ist durch die Möglichkeiten eines den Zwecken des Freiheitsträgers nützlichen Gebrauchs bestimmt. Der Schutz des Wertes ist also ein Schutz von Merkmalen der tatsächlichen Umwelt des Rechts. Wenn es der Zweck des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG ist, die im Eigentum aufbewahrten persönlichen Leistungen als Grundlage zukünftigen Freiheitsgebrauchs zu sichern, dann genügt der Schutz allein gegenüber rechtsförmlichen Angriffen nicht. Das Eigentumsrecht kann durch faktische Einwirkungen entwertet werden, ohne dass der Eigentümer durch eine Inhalts- und Schrankenbestimmung im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG zu einer Hinnahme der Beeinträchtigung verpflichtet wäre. Das grundrechtsgebundene hoheitliche Handeln setzt hier nicht bei der Zuordnungsbeziehung, sondern beim Zuordnungsobjekt an. Insoweit ist eine faktische Dimension von Art. 14 30

BVerfGE 58, 300 (330). BVerfGE 105, 252 (277); BVerfG, DVBl. 2010, S. 522 (Rn. 38). 32 Siehe etwa EuGH, Urt. v. 5. 10. 1994 – Rs. C-280/93, Deutschland/Rat, Slg. 1994, I-4973 (Rn. 79). 31

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Abs. 1 GG anzuerkennen. Das Grundrecht schützt vor faktischen Eingriffen33 in die tatsächliche Verwendbarkeit der körperlichen Gegenstände, auf die sich die Eigentumsrechte beziehen, zu einem von der Rechtsordnung erlaubten Gebrauch.34 Es geht dabei vor allem um die physische Integrität. Ein Substanzverlust ist für die Aktivierung des Schutzes nicht erforderlich, so dass auch nicht-körperliche Einwirkungen wie die von der Feuerwehrsirene ausgehenden Immissionen erfasst sind. Die Einbeziehung der Faktizität der bestimmungsgemäßen Verwendbarkeit des Gegenstands in den Schutz der Eigentumsrechte ist unter dem Gesichtspunkt der Normenklarheit vertretbar, weil das Recht selbst das Zuordnungsobjekt definiert und die Grenzen seiner rechtmäßigen Verwendbarkeit bestimmt. b) Schutz vor einer Beeinträchtigung der Möglichkeit eines nützlichen Gebrauchs der Gegenstände, auf welche sich die Rechte beziehen Nicht zu folgen ist hingegen der Erweiterung der faktischen Dimension des Eigentumsgrundrechts, für die das Bundesverfassungsgericht in der Garzweiler-II-Entscheidung aus dem Jahr 2013 eingetreten ist.35 Die Zulassung des Rahmenbetriebsplans für den Tagebau Garzweiler I/II greift nach Ansicht des Gerichts in Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG ein, weil damit „in den von einem Tagebau betroffenen Gemeinden der Abwanderungsprozess von Menschen, Betrieben und sonstigen öffentlichen und privaten Einrichtungen angestoßen wird, der zu einer zunehmend massiven Veränderung des mit einem Wohneigentum verbundenen sozialen und städtebaulichen Umfelds führt“.36 Das Eigentum der in dem Tagebaugebiet gelegenen Grundstücke bleibt rechtlich unberührt und auch seine tatsächliche Verwendbarkeit wird nicht beeinträchtigt. Geschmälert wird aber (auf längere Sicht) die Möglichkeit eines nützlichen Gebrauchs: Die Aussicht darauf, dass eine Gemeinde in absehbarer Zukunft „verschwinden“ wird, entwertet schon heute die sozialen Beziehungen, welche die Grundstückseigentümer mit Hilfe und auf der Grundlage ihrer Rechtsposition „hergestellt“ haben und die nach der typisierenden Einschätzung des Gerichts Grundlage ihres Lebensentwurf sind. Der Schutz des Rechts wird auf die eigentumsbasierten sozialen Beziehungen des Grundrechtsträgers zu seiner Umwelt und damit eine Fak-

33 Mit U. Ramsauer, Die faktischen Beeinträchtigungen des Eigentums, 1980, S. 33 ff., ist dabei zwischen Folgebeeinträchtigungen (durch rechtliche Regelungen verursachte faktische Beeinträchtigungen), Drittbeeinträchtigungen (Beeinträchtigungen des Eigentums Dritter durch rechtliche Regelungen) und Beeinträchtigungen durch schlicht-hoheitliches Handeln zu unterscheiden. 34 BVerfGE 58, 300 (352): Schutz des rechtlichen und tatsächlichen (!) Zustands; R. Wendt (Fn. 2), Art. 14 Rn. 52 f., 121 f.; H. D. Jarass, in: ders./B. Pieroth, GG, 13. Aufl. 2014, Art. 14 Rn. 26 f.; J. Wieland, in: H. Dreier (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2013, Art. 14 Rn. 102. 35 BVerfGE 134, 242. 36 BVerfGE 134, 242 (Rn. 277).

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tizität erweitert, die im allseitigen Vertrauen auf den Bestand der Rechte gewachsen ist.37 Die Bedeutung dieser Aussagen ist nicht auf den Braunkohletagebau beschränkt. Die „sozialen Bezüge“ des Grundstückseigentums sind nicht präzise zu definieren und abzugrenzen. Sie sind vom Eigentümer nicht einseitig zu kontrollieren und in ihrem Wert von individuellen, allenfalls typisierbaren Präferenzen abhängig. Wenn diese sozialen Bezüge von Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG geschützt wären, dann müsste dies für klarer definierte und in ihrem Wert objektiv feststehende Handlungspotentiale erst recht gelten. Insbesondere müsste auch der wirtschaftliche Tauschwert von körperlichen Gegenständen und Forderungen auf dem Markt der Eigentumsgewährleistung unterfallen. Zu bejahen wäre namentlich die vom Bundesverfassungsgericht in verschiedenen Entscheidungen zur Einführung und Rettung des Euro zunächst verneinte38 und später offengelassene39 Frage, ob Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG die Kaufkraft des Geldes (das heißt von Geldeigentum und von auf Geldzahlung gerichteten Ansprüchen) schützt.40 Die Abwehr der Geldentwertung wäre wohl sogar der klarste Anwendungsfall der neuen Dogmatik: Die Inflation lässt den formalen Bestand des Geldeigentums und der Anspruchspositionen unberührt, denn der Geldwert ist keine normativ festgelegte Größe. Sie mindert aber den im Geld aufbewahrten Tauschwert und damit eine Möglichkeit eigentumsbasierter Bedürfnisbefriedigung, die mit der Begründung von Geldeigentum nicht nur typischerweise, sondern von schlechthin allen Akteuren angestrebt wird.

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BVerfGE 134, 242 (Rn. 270, 277). BVerfGE 97, 350 (371). 39 BVerfGE 129, 124 (Rn. 111 f.); 132, 195 (Rn. 96); EuGRZ 2014, S. 193 Rn. 131. 40 Während ein genereller Schutz des Tauschwerts durch Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG nahezu einhellig abgelehnt wird (BVerfGE 105, 252 [277]; anders W. Hoffmann-Riem, Rechtsfragen der Währungsparität, 1969, S. 55 ff.), ist der Schutz des Tauschwerts in Bezug auf Geldeigentum umstritten. Für einen Inflationsschutz wird vor allem vorgebracht, dass sich der funktionale Nutzen des Geldes in seiner Eintauschbarkeit erschöpfe, der bloße Schutz des Gebrauchswerts also nichts zur Schaffung eines Freiraums eigenverantwortlicher Betätigung beitragen könne. Siehe dazu W. Sammler, Eigentum und Währungsparität, 1975, S. 51 f.; H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14 Rn. 186 (Stand: Juli 2010); D. Kröger/T. Gas, Das Grundrecht auf Preisstabilität nach Art. 14 Abs. 1 GG, VersR 1998, S. 1338 (1340); C. Herrmann, Währungshoheit, Währungsverfassung und subjektive Rechte, 2010, S. 345 ff.; H.-W. Forkel, ZRP 2011, S. 140 (142); M. Pagenkopf, NVwZ 2011, S. 1473 (1475 f.); K. A. Schachtschneider, Verfassungsbeschwerde und Antrag auf einstweilige Anordnung v. 29. 6. 2012, http://www.kaschachtschneider.de/files/Verfassungsbeschwerde-ESM.pdf, abgerufen am 15. 12. 2014, S. 41 f., 47, 56, 69, 115, 117; M. Elicker/V.-P. Heintz, Zum verfassungsrechtlichen Schutz des Geldwertes, DVBl. 2012, S. 141. Gegen einen Schutz vor Inflation O. Lepsius, Geld als Schutzgut der Eigentumsgarantie, JZ 2002, S. 313 (315 ff.); U. Häde, Der verfassungsrechtliche Schutz des Geldwertes, WM 2008, S. 1717 (1721 ff.); B.-O. Bryde, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2012, Art. 14 Rn. 24; O. Depenheuer, in: H. v. Mangoldt/ F. Klein/C. Starck (Hrsg.), GG, Bd. 1, 6. Aufl. 2010, Art. 14 Rn. 157; J. Wieland (Fn. 34), Art. 14 Rn. 69; P. Axer, in: V. Epping/C. Hillgruber (Hrsg.), GG, 2. Aufl. 2013, Art. 14 Rn. 54. 38

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Die vorgeschlagene Erweiterung des Schutzbereichs von Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG auf die Bedingungen des nützlichen Gebrauchs von Rechten überzeugt nicht. Der Bezugspunkt einer richterrechtlichen Erweiterung des Eigentumsgrundrechts ist der Begriff der Freiheit. Es ist zu fragen, ob der Schutz der Realisierbarkeit des Willens des Eigentümers der Freiheit dient. Nach dem hier zugrunde gelegten Verständnis41 ist der Begriff der Freiheit seinerseits durch die Persönlichkeitsentfaltung bestimmt, die als positives Ziel hinter den negativen Freiheitsgewährleistungen der Grundrechte steht. Persönlichkeitsentfaltung findet in einer Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Umwelt statt, in der sich beide Seiten verändern und der menschliche Wille in seinem Gegenüber und in den objektiven Umständen nicht nur Verwirklichung, sondern auch Begrenzung erfährt. Die Grundrechte schützen deshalb zwar die Freiheit des Handelns und Entscheidens, also des Hineinwirkens in die Umwelt. Sie können aber nicht sämtliche Bedingungen erfassen, die dafür maßgeblich sind, ob die Freiheitsträger mit ihrem Handeln die von ihnen gewünschten Erfolge erzielen können. Faktische Integritäten oder „Sphären“ können die Grundrechte stets nur in einem eng begrenzten Umfang schützen, weil sie sonst die Freiheit der Interaktion begrenzen und damit die Persönlichkeitsentfaltung durch vorgeprägte Bilder steuern würden. Mindestbedingung eines Schutzes von „Integritäten“ ist deshalb ein hohes Maß an individueller Zurechenbarkeit und sozialer Offenkundigkeit. Die Möglichkeit, einen Gegenstand in bestimmter Weise wirksam zu gebrauchen, erfüllt diese Bedingungen nicht. Der Tauschwert von Eigentum – einschließlich des Eigentums von Geld – ist nicht objektiv bestimmbar, sondern von unzähligen Bedingungen abhängig, zu denen neben den objektiven Verhältnissen von Angebot und Nachfrage auch die beiderseitig verfügbaren Informationen und subjektiven Erwartungen zählen. Diese Faktoren sind vom Grundrechtsträger weder individuell beherrschbar, noch gehören sie sozial offenkundig zu seiner „Sphäre“, wie das bei anderen grundgesetzlich geschützten „Realintegritäten“ wie beispielsweise bei Leben und Gesundheit oder bei der Wohnung der Fall ist.42 Angesichts der Komplexität der Wirkungszusammenhänge kann selbst weit entferntes staatliches Handeln auf den „sozialen Sinn“ eigentumsrechtlich geschützter Positionen einwirken. Auf der Prüfungsstufe des Grundrechtseingriffs ließen sich die aufgeworfenen Fragen deshalb nicht bewältigen; die Zurechnungskriterien der Finalität und Schwere könnten die erforderliche Begrenzung der grundrechtlichen Kontrolle nicht sinnvoll leisten.43 Zu einer nachgerade grotesken Grundrechtshypertrophie führte schließlich der Versuch, das weite Schutzbereichsverständnis mit der grundsätzlich auch für Art. 14 GG 41

Siehe näher J. H. Klement (Fn. 6), 14. Kap., III. 1. b). Zum Geldwert hat das Bundesverfassungsgericht zutreffend ausgeführt, dieser sei „in besonderer Weise gemeinschaftsbezogen und gemeinschaftsabhängig“: BVerfGE 97, 350 (371). 43 Auf die Schwierigkeiten, die eine verfassungsrechtliche Kontrolle der „Inflationswirkungen“ des staatlichen Handelns bereiten würde, hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Griechenland-Entscheidung hingewiesen: BVerfGE 129, 124 (Rn. 112). 42

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anerkannten Schutzpflichtendimension der Grundrechte zu kombinieren. Der Staat wäre prima facie dazu verpflichtet, die sozialen Bezüge des Grundstückseigentums zu erhalten, indem er die Menschen an einem Wegzug aus den Dörfern des Garzweiler-Gebiets oder aus strukturschwachen Gebieten hindert. Er müsste sich zu hohen Tarifabschlüssen in den Weg stellen und auch sonst gegen inflationstreibende Entwicklungen des Marktes vorgehen. Ob sich Rudolf Wendt von den hier vorgetragenen Argumenten überzeugen lässt? In seiner Habilitationsschrift spricht er sich noch klar für ein rechtsorientiertes Verständnis der Eigentumsgewährleistung aus. In der jüngsten Neuauflage des von Michael Sachs herausgegebenen Grundgesetzkommentars findet die GarzweilerII-Entscheidung aber die ausdrückliche Zustimmung des Jubilars.44 Auch eine Mobilisierung des Grundrechts gegen inflationsverursachendes oder -verstärkendes Staatsverhalten schließt Wendt nicht (mehr) aus.45 Wie sich die Haltung des Jubilars im Laufe der Zeit verändert hat, wird am Beispiel des Renteneigentums besonders deutlich. II. Das Eigentumsgrundrecht und der Schutz des Wertes der Renten Rudolf Wendt bejaht unter bestimmten Voraussetzungen einen Anspruch auf Ausgleich von inflationsbedingten Kaufkraftverlusten der gesetzlichen und berufsständischen Renten.46 Die von ihm in der Tiefenstruktur der Eigentumsgewährleistung vorgenommenen Weichenstellungen – die Entwicklung einer dualen Schutzzweckkonzeption und die Lockerung der Normkonstitution des Grundrechts – zeigen hier Wirkung. Auf der Grundlage eines freiheitsorientierten und rechtsorientierten Verständnisses von Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG ist ein Anspruch auf Rentenerhöhungen hingegen abzulehnen. 1. Nominale Kürzung der Renten als Grundrechtseingriff Die Versicherten erwerben in den verschiedenen Rentenversicherungssystemen durch ihre Beitragszahlungen und damit durch ihre Arbeitsleistung Anwartschaften und schließlich Rentenansprüche. Es besteht Einigkeit, dass diese Rechtspositionen trotz ihres öffentlich-rechtlichen Charakters vermögenswerte Rechte im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG sind und mithin dem Schutz des Grundrechts unterstehen.47 Geschützt sind nicht nur die bereits entstandenen Ansprüche auf die Zahlung einer 44

R. Wendt (Fn. 2), Art. 14 Rn. 5. R. Wendt (Fn. 2), Art. 14 Rn. 40. 46 R. Wendt (Fn. 2), Art. 14 Rn. 34. 47 Für die Ansprüche in der gesetzlichen Rentenversicherung BVerfGE 53, 257 (289 – 292); 58, 81 (109); 100, 1 (32 f.); 122, 151 (180); für Ansprüche in berufsständischen Versorgungswerken BVerwG, NJW 2006, S. 711 (712); OVG des Saarlandes, Urt. v. 19. 1. 2011 – Az. 3 A 414/09, S. 21 f.; OVG Rheinland-Pfalz, NZA-RR 2012, S. 200 (202). 45

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Rente, sondern auch die Anwartschaften.48 Die Anwartschaft erstarkt zwar erst beim Eintritt weiterer Voraussetzungen, etwa bei Ablauf der Wartezeit und Eintritt des Versicherungsfalles, zum Vollrecht und ist deshalb sorgfältig von einer nicht durch das Grundrecht geschützten bloßen Erwerbschance abzugrenzen. Sie kann aber, und das ist letztlich entscheidend, nach den geltenden rechtlichen Regeln nicht mehr gegen den Willen des Berechtigten beseitigt und in ihrer Entwicklung zum Vollrecht gehemmt werden. Anders als bloße Chancen auf Gewinn im freien Spiel marktwirtschaftlicher Kräfte sind Anwartschaften durch das Recht definiert und sozial offenkundig einer bestimmten Person zugeordnet. Damit sind die Voraussetzungen für einen eigentumsrechtlichen Schutz erfüllt. Das Eigentumsrecht schützt den Versorgungsanspruch gegenüber allen für den Berechtigten nachteiligen Veränderungen der für die Berechnung der Anspruchshöhe oder die Modalitäten des Anspruchs maßgeblichen Bestimmungen und gegenüber einer rechtswidrigen Nicht- oder Falschanwendung dieser Vorschriften. Dabei sind die einzelnen Rechtsvorschriften allerdings nicht als solche, sondern nur als Faktoren zur Bestimmung des Inhalts des Rentenanspruchs geschützt. Ein Eingriff in Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG liegt (nur) in der Verkürzung des im Ergebnis bestehenden Rentenanspruchs, der durch die Veränderung der Berechnungsfaktoren hervorgerufen wird. Schutzobjekt ist die „rentenversicherungsrechtliche Position insgesamt“.49 Damit wird vermieden, dass die Modifikation eines Berechnungsfaktors als Entzug einer Rechtsposition und mithin als entschädigungspflichtige Enteignung (Art. 14 Abs. 3 GG) qualifiziert werden muss, was eine Reform der Rentenversicherung, die auch die gegenwärtigen und nicht allein zukünftige Generationen von Erwerbstätigen belastet, im praktischen Ergebnis unmöglich machen würde. Die nominale Kürzung von durch Gesetz oder durch Satzung begründeten Anwartschaften oder Versorgungsansprüchen ist eine Inhalts- und Schrankenbestimmung (Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG),50 die einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung bedarf, dieser aber zum Zweck des Erhalts eines langfristig finanzierbaren, die Lasten gerecht unter den Generationen verteilenden Systems aber auch zugänglich ist. 2. Anspruch auf realwerterhaltende Rentenerhöhungen Ein Realwerterhalt der Renten, wie ihn Rudolf Wendt befürwortet,51 ist mit der Abwehr von Rentenkürzungen allein nicht bewerkstelligt. Erforderlich ist ein Anspruch auf eine fortlaufende Erhöhung des nominalen Zahlbetrags, weil nur so der seit der jeweils letzten Rentenanpassung eingetretene Kaufkraftverlust ausgeglichen werden kann. Mit der Anerkennung eines solchen Rechts wäre das Schutzgut von 48

Für die gesetzliche Rentenversicherung BVerfGE 53, 257 (289 ff.); 117, 272 (292); 122, 151 (180 f.). 49 BVerfGE 58, 81 (109); 75, 78 (98); 117, 272 (293). 50 H. Sodan, Verfassungsrechtliche Determinanten der gesetzlichen Rentenversicherung, NZS 2005, S. 561 (563). 51 R. Wendt (Fn. 2), Art. 14 Rn. 34.

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Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG nicht mehr die Stabilität von Rechten, sondern von wirtschaftlichen Werten. Wendt wagt an dieser Stelle allerdings keine Verallgemeinerung. Zur Begründung seiner Position verweist er auf die „besondere[n] Beschaffenheit des Renteneigentums“. Was damit gemeint ist, verdeutlicht die von ihm zitierte Entscheidung des 4. Senats des Bundessozialgerichts52. Das Gericht begründet die Pflicht zum Inflationsausgleich letztlich damit, dass der Einzelne aufgrund seiner zwangsweisen Einbindung in die gesetzliche Rentenversicherung nicht die Möglichkeit habe, die Wertstabilität seiner Altersvorsorge selbst zu beeinflussen, und er deshalb in besonderer Weise auf den Schutz der Grundrechte angewiesen sei. Auch wenn die Eigentumsgarantie im Grundsatz nur den Bestand und nicht den Tauschwert vermögenswerter Rechte umfasse, müsse für die Renten eine Ausnahme gemacht werden. Zutreffend ist, dass die Versicherungspflicht der §§ 1 – 4 SGB VI in die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) der Versicherten eingreift und dieser Eingriff schwer wiegt, weil er den Versicherten für den Aufbau einer kapitalgedeckten Altersvorsorge erforderliche Mittel entzieht.53 Zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit dieses Eingriffs treffen den Staat Obliegenheiten bei der Ausgestaltung des Versicherungsschutzes, die auch Aspekte der Gleichbehandlung und der Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung betreffen.54 Eine Per-se-Verpflichtung zur Sicherung des Realwerts der Renten ist mit diesem Ansatz aber nicht zu begründen, zumal der Gesetzgeber diese Pflicht bei einer schlechten wirtschaftlichen Entwicklung nur durch einen massiven Einsatz von Steuergeldern (§§ 213 – 215 SGB VI) erfüllen könnte. Inflationssicherheit würden die Grundrechtsträger auch bei privater Vorsorge nicht erlangen. Davon abgesehen würde eine Pflicht zur Realwerterhaltung, wenn sie anzuerkennen wäre und sie verletzt würde, nur zur Verfassungswidrigkeit der Versicherungspflicht führen. Einen verfassungsunmittelbaren Anspruch auf Rentenerhöhung kann sie nicht begründen. Die Jurisprudenz ist zwar daran gewöhnt, Gesetze verfassungskonform auszulegen. Der 4. Senat des Bundessozialgerichts hingegen benutzt die Verfassungsauslegung, um ein einfaches Gesetz vor dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit zu retten. Die „Besonderheiten“ des Renteneigentums erweisen sich mithin als nicht tragfähiges Argument zur Begründung eines Anspruchs auf Rentenerhöhungen aus Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG. Auch ein allgemeiner Schutz der Geldwertstabilität ist aus den oben vorgebrachten Gründen abzulehnen. Selbst wenn man dies anders sehen und Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG als Inflationsabwehrrecht interpretieren wollte, 52 BSG, NJW 2003, S. 1474; ähnlich J. Adam, Eigentumsschutz in der gesetzlichen Rentenversicherung, 2009, S. 101 f.; siehe auch A. Lenze, Wie sicher sind verfassungsrechtlich die Pensionen?, NVwZ 2006, S. 1229 (1233). 53 Vgl. BVerfGE 89, 365 (376); 92, 53 (68 f.); 97, 271 (286). 54 Näher T. Hebeler, Der Gleichheitssatz des Art. 3 I GG als Schlüssel für die Pflicht zu einer generationengerechten Ausgestaltung des Rechts der gesetzlichen Altersrenten, DRV 2002, S. 270.

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wäre das Unterlassen einer Rentenerhöhung nicht als Eingriff zu qualifizieren.55 Das Abwehrrecht verbietet dem Grundrechtsadressaten Einwirkungen auf den Rentenrealwert durch inflationssteigernde Maßnahmen. Ein Entschädigungsanspruch in Geld kommt nur bei einer Verletzung dieser Pflicht in den Grenzen des Vorrangs des Primärrechtsschutzes56 in Betracht. Wurde der Kaufkraftverlust nicht zurechenbar durch ein grundrechtsgebundenes hoheitliches Handeln hervorgerufen, scheidet ein Abwehranspruch aus. Ein Anspruch auf einen Realwerterhalt der Renten kann mithin nur bejahen, wer der Geltung originärer grundrechtlicher Leistungsrechte auch jenseits der vom Grundgesetz ausdrücklich geregelten Fälle das Wort redet.57 Erforderlich ist dafür eine sozialstaatliche Aufladung des Freiheitsbegriffs. Das wäre ein sehr weitreichender Schritt, der hier nicht diskutiert werden kann. Wenn ein verfassungsrechtliches Leistungsrecht auf realwerterhaltende Rentenerhöhungen anzuerkennen wäre, dann jedenfalls nicht als definitives Recht, sondern nur als prinzipieller Auftrag an den Gesetzgeber.58 3. Schutz von Rentenanpassungsklauseln Möglicherweise ist der Anspruch auf Rentenerhöhungen anders zu konstruieren, nämlich als abwehrrechtlicher Schutz des Bestands und der Anwendung der im positiven Recht enthaltenen sogenannten Rentenanpassungsklauseln. Die wichtigste Rentenanpassungsklausel findet sich seit der im Jahr 1992 in Kraft getretenen Rentenreform59 in den Vorschriften zur Gesetzlichen Rentenversicherung. Nach § 63 Abs. 6 SGB VI ergibt sich der Monatsbetrag einer Rente, indem die unter Berücksichtigung des Zugangsfaktors ermittelten persönlichen Entgeltpunkte mit dem Rentenartfaktor und dem sog. aktuellen Rentenwert multipliziert werden. Mit Hilfe des letztgenannten Faktors wird eine Dynamisierung der Rentenhöhe entsprechend der vom Statistischen Bundesamt ermittelten Entwicklung der beitragsbelasteten Bruttolöhne und -gehälter bewirkt (§ 68 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 SGB VI). Die Rentner werden mithin an den von der nachfolgenden Generation erwirtschafteten Wohlstandsgewinnen beteiligt (sog. Produktivitätsrente60). Der im Jahr 2004 eingeführte sog. Nachhaltigkeitsfaktor (§ 68 Abs. 1 Nr. 3 SGB VI) wirkt zur Sicherung der langfristigen Finanzierbarkeit des Systems mindernd auf den aktuellen Rentenwert ein. Aufgrund der sog. Schutzklausel des § 68a Abs. 1 SGB VI ist eine Absenkung 55

Vgl. H.-J. Papier (Fn. 40), Art. 14 Rn. 148. BVerfGE 58, 300 (323); BVerfG, NVwZ 2014, S. 211 (214 Rn. 169). 57 Siehe zu dieser Frage statt vieler C. Starck, in: H. v. Mangoldt/F. Klein/C. Starck (Fn. 40), Art. 1 Abs. 3 Rn. 188 ff. 58 Vgl. C. Enders, in: K. H. Friauf/W. Höfling (Hrsg.), GG, Bd. 1, vor Art. 1 Rn. 73 (Stand: Oktober 2000). 59 Gesetz zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung (Rentenreformgesetz 1992), BGBl. 1989, I-2261. 60 Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung, BR-Drucks. 120/89, S. 139 f. 56

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des aktuellen Rentenwerts allerdings unter allen Umständen ausgeschlossen, also selbst bei einer negativen Entwicklung der Löhne und Gehälter. Die Bundesregierung hat den aktuellen Rentenwert bis zum 30. Juni eines jeden Jahres entsprechend den gesetzlichen Vorschriften durch Rechtsverordnung anzupassen (§ 63 Abs. 6, § 69 Abs. 1 SGB VI). Unter Berücksichtigung des neuen aktuellen Rentenwerts werden die Renten zum 1. Juli eines jeden Jahres neu festgesetzt (§ 65 SGB VI). Die rechtliche Determination der Rentenanpassung und die Verlagerung der Entscheidungszuständigkeit vom Parlament auf die Bundesregierung führen zu einer gewissen „Entpolitisierung“ und Verstetigung der Rentenentwicklung. In Sicherheit wiegen können sich die Rentner gleichwohl nicht. Mehrfach kam es nach der Reform von 1992 zu Eingriffen des Gesetzgebers in die Berechnung des aktuellen Rentenwerts, um eine Entlastung der Beitragszahler, aber auch des Bundeshaushalts zu erreichen. Vor diesem Hintergrund ist die Frage aufgeworfen, ob eine Aufhebung oder Modifikation der Pflicht zur jährlichen Anpassung oder eine für die Rentenbezieher nachteilige Veränderung der die Bestimmung des aktuellen Rentenwerts regelnden Vorschrift des § 68 SGB VI oder eine rechtswidrige Missachtung der gesetzlichen Vorschriften durch die Bundesregierung als Eingriff in Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG anzusehen ist. Das Bundesverfassungsgericht hat bisher offengelassen, inwieweit eine im geltenden Recht vorgesehene Anpassung von Renten in den Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG einbezogen ist.61 Das Bundessozialgericht und das Bundesverwaltungsgericht sind einen Schritt weitergegangen. Der 4. Senat des Bundessozialgerichts hat in seiner vorstehend schon behandelten Entscheidung die Auffassung vertreten, dass die vom Gesetz vorgesehene lohn- und gehaltsorientierte Rentenanpassung insoweit Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG unterwiesen sei, wie sie „innerhalb der Systemgrenzen der gesetzlichen Rentenversicherung dem Schutz bereits erworbener geldwerter Rechte vor inflationsbedingten Einbußen (also dem Schutz des realen Geldwertes des Rechts auf Rente) zu dienen bestimmt ist“62. Der Senat sieht seine Rechtsprechung, wie oben dargelegt, als Ausnahme von dem Grundsatz, dass Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG grundsätzlich nur den Bestand, nicht den Tauschwert vermögenswerter Rechte schützt.63 In der Sache aber nimmt das Gericht auf die Inhalte des Gesetzes Bezug, auf die von ihm sogenannte Rechtsinstitution der jährlichen Rentenanpassung, die, soweit sie dem Inflationsausgleich diene, in den Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG einzubeziehen sei. Der Gedanke eines originären grundrechtlichen Realwertschutzes wird also letztlich durch einen Normenschutz abgelöst. Nicht um den Werterhalt des Rentenanspruchs geht es, sondern um den Erhalt des rechtlichen Bestands der Rentenanpassungsklausel.64 Noch deutlicher wird die61

BVerfG, NZS 2008, S. 254; zuvor BVerfGE 64, 87 (97); 100, 1 (44); 112, 368 (396); siehe auch BVerfGE 36, 73 (85). 62 BSG, NJW 2003, S. 1474 (1476). 63 BSG, NJW 2003, S. 1474 (1477). 64 Deutlicher in diese Richtung der 12. Senat in BSG, NZS 2007, S. 663 (664), der die Frage nach dem eigentumsgrundrechtlichen Schutz der Rentenanpassungsklausel im Ergebnis

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Jan Henrik Klement

ser Ansatz beim Bundesverwaltungsgericht entfaltet. Die in der Rentensatzung eines berufsständischen Versorgungswerks vorgesehene Anpassung der Rentenhöhe an veränderte wirtschaftliche Verhältnisse ist nach Ansicht des Gerichts ein Bestandteil der von Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG geschützten Position.65 Eine die Dynamisierung abschwächende Satzungsänderung sei am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und am Vertrauensschutzgrundsatz zu messen,66 wobei zugunsten der Bestandsrentner strenge Anforderungen zu gelten hätten. Richtigerweise erfüllen die Rentenanpassungsklauseln die Merkmale des verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriffs im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG nicht:67 Erstens sind die Bestimmungen zur Rentenanpassung den von ihnen wirtschaftlich Begünstigten nicht normativ zugeordnet.68 Der Auftrag zur Anpassung des aktuellen Rentenwerts ist an die Bundesregierung gerichtet.69 Die „Transformation“ in eine subjektive Berechtigung der Rentner erfolgt erst durch die Neufestsetzung der Renten in individuellen Bescheiden nach § 65 SGB VI. Eine Möglichkeit, die Anpassung des aktuellen Rentenwerts zu erzwingen, sieht das Gesetz nicht vor. Die Rentner sind nur faktisch begünstigt, aber nicht normativ berechtigt. Mit einer ähnlichen Überlegung hat der 4. Senat des Bundessozialgerichts den von ihm selbst formulierten Gedanken eines Schutzes der Rentenanpassungsklauseln zwischenzeitlich verworfen.70 Zweitens: Rentenanpassungsklauseln schützen nicht das Erworbene, sondern versprechen einen zukünftigen Erwerb. Ihr Gehalt unterscheidet sich deutlich von den Vorschriften zur Berechnung der individuellen Rentenhöhe, die dem Schutz des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG unterfallen. Während diese Vorschriften auf „interne“, in der Vergangenheit verwirklichte Faktoren des Versicherungssystems wie Dauer und Höhe der Beitragszahlung Bezug nehmen und dadurch eine gewisse Verfestigung erfahren können, sind die Rentenanpassungsklauseln per definitionem an externen Faktoren ausgerichtet, die gesellschaftlichen Veränderungen ausgesetzt sind und weder vom Rentner noch vom Gesetzgeber vollständig kontrolliert werden können. Die Gewährleistung von subjektiver Äquivalenz und Generationengerechtigkeit in der Rentenversicherung ist eine niemals abgeschlossene Aufgabe. Es ist deshalb von vornherein klar, dass die Rentenanpassungsklauseln laufender politiaber offenlässt. Siehe auch BSG, Urt. v. 13. 11. 2008 – Az. B 13 R 13/08 R, Juris, Rn. 25 ff.; Urt. v. 21. 1. 2009 – Az. B 12 R 1/07 R, Juris, Rn. 25 ff. 65 BVerwG, NJW 2006, S. 711 (712, 714). 66 BVerwG, NJW 2006, S. 711 (713 f.). 67 Zutreffend W.-R. Schenke (Fn. 23), S. 753 ff.; vor der Reform von 1992 F. Rauschenbach, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Eigentumsschutz in der gesetzlichen Rentenversicherung, ZfSH/SGB 1984, S. 396 (397 f.). 68 BVerfGE 69, 272 (300), verlangt für einen Schutz durch Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG eine rechtliche Zuordnung „nach Art eines Ausschließlichkeitsrechts“. 69 Nach W.-R. Schenke (Fn. 23), S. 755, sind Positionen, die erst durch eine weitere Entscheidung eines Hoheitsträgers zu subjektiven Rechten werden, nicht geschützt. 70 BSG, Urt. v. 20. 12. 2007 – Az. B 4 RA 9/05 R, Juris, Rn. 19 ff.

Was schützt der Schutz des Eigentums?

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scher Kontrolle unterliegen. Es fehlt an einer eigentumsähnlich verfestigten Rechtsposition.71 Drittens: Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG schützt nach der hier entwickelten Konzeption die Erwartung des Freiheitsträgers, dass die von ihm im Gebrauch seiner Freiheit geschaffenen rechtlichen Zuordnungsbeziehungen vom Staat respektiert werden. Diese Überlegung greift zumindest bei rein umlagefinanzierten Rentenanpassungsklauseln wie § 63 Abs. 6, § 68 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2, § 65 SGB VI ins Leere. Die Rentenanpassung ist nicht im Geringsten „durch die persönliche Leistung des Versicherten mitbestimmt“72, sondern wird allein aus den Beiträgen der gegenwärtigen und zukünftigen Arbeitseinkommen und damit aus den Leistungen der aktiven Beschäftigten finanziert.73 Was zur Begründung eines Schutzes von Rentenanpassungsklauseln bleibt, ist eine duale Schutzzweckkonzeption, welche die Rechtsbewahrung neben die Freiheitssicherung stellt. Nicht von ungefähr argumentiert das Bundesverwaltungsgericht schon auf der Ebene des Schutzbereichs ausschließlich mit der Schutzwürdigkeit des Vertrauens der Rentner auf den Bestand des Versorgungsrechts unter Beibehaltung des darin angelegten Realwerterhalts74 und hebt Art. 14 GG als „Ort des Vertrauensschutzes“75 hervor. Das verwechselt Ursache und Wirkung: Eine Rechtsposition ist nicht allein deshalb als Eigentum zu qualifizieren, weil jemand auf ihren Fortbestand vertraut.76 Der eigentumsrechtliche Vertrauensschutz setzt das Vorhandensein von Eigentum voraus. III. Schluss Mein Beitrag zur Generationengerechtigkeit ist damit abgeschlossen. 30 Jahre nach Veröffentlichung der Habilitationsschrift von Rudolf Wendt kehrt sein 30 Jahre jüngerer Nachfolger zu den Anfängen des Jubilars zurück. Er weiß noch nicht, wie sich sein eigenes Denken im Laufe der Zeit verändern wird, wünscht sich aber auf seinem Weg die intellektuelle Freude, Offenheit und Menschlichkeit, die Rudolf Wendt auszeichnen.

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Zu diesem Erfordernis BVerfGE 45, 142 (170). BVerfGE 100, 1 (33). 73 A. Lenze, Die Rentenanpassung unter dem Eigentumsschutz des Grundgesetzes, NJW 2003, S. 1427 (1428); W.-R. Schenke (Fn. 23), S. 755 f.: „Akt staatlicher Fürsorge“. 74 BVerwG, NJW 2006, S. 711 (712, 714). 75 BVerwG, NJW 2006, S. 711 (714). 76 Zutreffend BVerwG, Beschl. v. 16. 4. 2010 – Az. 8 B 118.09, Juris, Rn. 6. 72

Zum Ringen um unmittelbare Grundrechtsgeltung in der Weimarer Nationalversammlung* Von Jörg-Detlef Kühne, Hannover I. Bekanntes Scheitern Unzweifelhaft hat die Weimarer Reichsverfassung (WRV) gegenüber dem Kaiserreich zu einer spürbaren Verbesserung der Grundrechtslage geführt. Dies gilt zum einen aufgrund des ausgedehnten Katalogs gesamtstaatlich klassischer bis innovativ sozialer Freiheitsrechte.1 Und zum anderen aufgrund einer verstärkten Geltung verglichen mit den gliedstaatlichen Grundrechtsverbürgungen der vorangehenden Zeit, was kurz verdeutlicht sei. Noch 1913 hatte das Sächs. OVG2 gleichsam als Quintessenz der damals gemeindeutschen Grundrechtsauslegung formuliert, Grundrechte richteten im Zweifel keine verfassungsrechtlichen Schranken für den Staat auf. Sie enthielten vielmehr nur einen Programmsatz mit der Folge, dass sie, um zu gelten, grundsätzlich der sog. Positivierung durch einfachgesetzliche Umsetzung bedürften. Demgegenüber resümierte Anschütz als führender Kommentator der WRV drei Jahrzehnte später die umgekehrte Regel: „Im Zweifel spricht die Vermutung nicht gegen die Aktualität der grundrechtlichen Normen, sondern für sie.“3 Dass und wie sehr es aufgrund dessen im Verlauf der Weimarer Republik zur Ausweitung unmittelbar geltender Grundrechte gekommen war, belegte in der Untergangsphase der Weimarer Republik beispielhaft die sog. Reichstagsbrandverordnung. Hält sie es

* Weniger geläufige Abkürzungen: BA = Bundesarchiv; BRV = Bismarcksche Reichsverfassung v. 16. 4. 1871; BVP = Bay. Volkspartei; DDP = Deutsche Demokratische Partei; DNVP = Deutschnationale Volkspartei; DVP = Deutsche Volkspartei; FRV = Frankfurter Reichsverfassung v. 28. 3. 1849; UA = Unterausschuß zur Vorbereitung der Grundrechte des Weimarer VerfA; VRT = Verhandlungen des Reichstags (bzw. der verfassunggebenden Dt. Nationalvers.), Sten. Berichte und Anlagen, folgt Bd. u. S.; Z = Zentrumspartei. 1 Art. 153 – 165 WRV. 2 In: Jb. Sächs OVG 20 (1914), S. 151 (153 f.). 3 So Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs v. 11. Aug. 1919, 14. Aufl. 1933, vor Art. 109 Bem. 6 (S. 516) unter Berufung auf die Staatsrechtler Richard Thoma u. Albert Hensel; detailliert Klaus Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, 1988, S. 1188 f. Dazu auch Horst Dreier, Die Zwischenkriegszeit, in: Hb. der Grundrechte I, 2004, § 4 Rn. 12 f.

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doch Ende Febr. 19334 für rechtlich erforderlich, die für den Bestand der damaligen Demokratie wesentlichen Grundrechte „bis auf weiteres außer Kraft zu setzen“. Gegenüber der aufgezeigten Ausgangsmaxime für Weimar ist bislang nur bruchstückhaft bekannt, wie sehr bereits während der Beratungen über die WRV innerhalb der dt. Nationalversammlung von 1919 weitergehende Geltungsvorschläge diskutiert worden waren. Immerhin findet sich beim vorerwähnten Kommentator5 dazu der spurenhafte Hinweis auf einen Vorentwurf der WRV. Danach sollte ähnlich § 130 FRV dem Grundrechtsabschnitt folgender Einleitungsartikel vorangestellt werden: „Die Grundrechte und Grundpflichten bilden Richtschnur und Schranke für die Gesetzgebung, die Verwaltung und die Rechtspflege im Reich und in den Ländern.“ – Wenn diese vom VerfA beschlossene Junifassung des Einleitungsartikels knapp einen Monat später im Plenum der Nationalversammlung ohne Mehrheit blieb,6 so deshalb, weil man ihn, wie Anschütz7 die Debatte zusammenfasste, als „praktisch unbrauchbar“ ansah. Als Begründung dafür hieß es unter Verweis auf die seinerzeitigen Debattenbeiträge weiter, diese Bestimmung gebe kein Kriterium für das eigentliche Grundrechtsproblem, da sie die Frage unmittelbarer Geltung unentschieden lasse. Allerdings erwähnen seine weiteren Kommentarausführungen nicht, dass die Ablehnung nur noch den Schlusspunkt einer anfänglich weiterreichenden, mehraktigen Normierung zur unmittelbaren Grundrechtsgeltung bildete, worauf gleich zurückzukommen ist. Immerhin wird erwähnt, dass die mehrheitliche Ablehnung des vorgeschlagenen Einleitungsartikels im Plenum zuvor auf Widerspruch gestoßen war. Zugleich in Übereinstimmung mit voraufgehenden Äußerungen seiner VerfAKollegen S. Katzenstein (SPD), E. Koch-Weser (DDP) und K. Beyerle (Z)8 formulierte der Anwaltsabg. O. Cohn (USPD)9 mit bemerkenswerter rechtsvergleichender Argumentation, ihm schwebe als Inhalt und Zweck des Einleitungsartikels eine ähnliche Befugnis vor, wie sie dem am. Richter nach der Rechtsentwicklung in den Vereinigten Staaten gegeben sei. Dieser habe in jedem einzelnen Rechtsfall gegenüber jeder Verwaltungsmaßnahme und gegenüber jeder unterverfassungsrechtlichen 4 VO des Reichspräs. zum Schutz von Volk und Staat v. 28. 2. 1933 (RGBl. I, S. 83), die sich auf Art. 114 (Freiheit der Person), Art. 115 (Wohnungsfreiheit), Art. 117 (Brief- u. Postgeheimnis), Art. 118 (Meinungs- u. Pressefreiheit), Art. 123 (Versammlungs- u. Vereinsfreiheit) wie Art. 153 (Eigentumsgarantie) erstreckte. – VO-Abdr. auch bei Ernst Rudolf Huber, Dokumente zur dt. Verfassungsgeschichte, Bd. 4, 3. Aufl. 1991, Nr. 503. 5 Anschütz (Fn. 3) vor Art. 109, Bem. 6 (S. 515) mit Zitat von Art. 107 des Verfassungsentwurfs i. d. F. der 2. Lesung des Weimarer VerfA v. 18. 6. 1919. Vgl. mit § 130 FRV bei Heinze (DVP), VRT 328, S. 1500 (54. Sitz., 11. 7. 1919). 6 Vgl. VRT 328, S. 1559 (57. Sitz., 15. 7. 1919); dazu auch Wilhelm Ziegler, Die Dt. Nationalvers. 1919/1920 u. ihr Verfassungswerk, 1932, S. 173 u. Ernst Rudolf Huber, Dt. Verfassungsgeschichte, Bd. V (1978), S. 1789, rev. Nachdr. 1992, S. 1199. 7 Wie Fn. 5. 8 Katzenstein, in: VRT 336, S. 369 (32. Sitz., 28. 5. 1919), Koch-Weser u. Beyerle, in: VRT 328, S. 1501 (54. Sitz., 11. 7. 1919). 9 In: VRT 328, S. 1559 (57. Sitz., 15. 7. 1919).

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Norm zu prüfen, ob sie mit dem Geist, mit dem Zweck und Inhalt der Verfassung vereinbar sei. Deshalb spreche für den verbliebenen Richtschnur-Satz des Einleitungsartikels sein verpflichtender Antrieb für Verwaltungsbehörden wie Richter, sich immer wieder auf den lebendigen Geist zu besinnen, der sich in den Grundrechten und Grundpflichten widerspiegele und die künftige Rechtsentwicklung beherrschen solle. Wenngleich diese Argumentation den Artikel nicht zu retten vermochte, lässt sich der voraufgehenden Plenardebatte doch entnehmen, dass das Parlament damit den Vorschlag seines verfassungskompetent besetzten VerfA in gewisser Weise desavouierte.10 II. Anfängliche Mehrgliedrigkeit des gescheiterten Eingangsartikels 1. Maientwurf Die Ursprünge des grundrechtlichen Eingangsartikels finden sich im Unterausschuß (UA) für die Vorbereitung der Grundrechte, der vom Weimarer VerfA eingesetzt im Mai 1919 arbeitete.11 Dabei lagen seiner Arbeit ausweislich seiner lange unveröffentlicht gebliebenen Ergebnisprotokolle „Vorschläge zu einer Stoffgliederung und Stoffgestaltung des Verfassungsabschnitts über die Grundrechte des Deutschen Volkes“12 zugrunde. Sie hatte der Rechtshistoriker Beyerle als Mitglied des VerfA, von dessen Vors. Haußmann dazu beauftragt,13 dem UA vorgelegt, dem er ebenfalls, und zwar wegweisend zugehörte. Der von ihm vorgeschlagene Normtext hatte aus zwei Sätzen bestanden und begann mit der allgemeinen Gewährleistungsformel: (Satz 1) „Dem Deutschen Volke und seinen Bürgern werden die nachstehenden Grundrechte gewährleistet.“14 Es folgte Satz 2 als unmittelbare Vorlage für die im Juli gescheiterte Fassung des Einleitungsartikels: „Sie bilden Richtschnur und Schranke für die Verfassung, die Gesetzgebung und die Verwaltung im Reiche und in den Ländern.“ Dazu verwies Beyerle15 auf einen Privatentwurf der WRV, 10 Dazu nur: Ziegler (Fn. 6), S. 189 ff., Ludwig Richter, Kirche u. Schule in den Beratungen der Weimarer Nationalvers., 1996, S. 285 ff.; dazu demnächst umfassend meine gerade abgeschlossene Edition zur Entstehung der WRV. 11 Dazu eingehend Thomas Wirth, Der Unterausschuß für die Grundrechte u. seine Arbeit für die Weimarer Nationalvers., in: Jb. Hambach-Ges. 2 (1989), S. 129 ff. Zu den Mitgliedern ebd., S. 139 ff., mit Anhang der nicht ganz zuverlässigen UA-Protokolle ab S. 170; dazu demnächst genauer meine o. gen. Arbeit (Fn. 10). 12 Vom 29. 4. 1919 (nebst Verweis auf Normvorbilder anderer Verfassungen u. Verfassungsvorschläge), gut greifbarer Abdr. bei Th. Hense, Konrad Beyerle, 2002, S. 245 ff. 13 So vor dem Plenum Beyerle, in: VRT 328, S. 1503 (44. Sitz., 11. 7. 1919). 14 S. o. Fn. 12; mit der danach schon im UA aufgegebenen Doppeladressierung sollten offensichtlich – in heutiger Rechtssprache – die objektiven u. subjektiven Grundrechte des Katalogs erfasst werden. 15 In: Vorschläge zu einer Stoffgliederung … v. 29. 4. 1919 (s. o. Fn. 12), Verweis auf Art. 51 Entw. zur Verfassung eines Dt. Reichs, hrsg. v. Verfassungsausschuß des Vereins Recht

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der sich seinerseits deutlich an der FRVorientierte. Zunächst mehrfach wegen offensichtlicher verfassungspolitischer Vorklärungs- wie Abstimmungsbedürfnisse zurückgestellt, wird er in der vorletzten Sitzung des UA am 29. 5. 1919 beraten, wobei die allgemeine Gewährleistungsformel in Satz 1 entfällt und der Richtschnur-Satz als Abs. 1 an die erste Stelle rückt, und zwar mit leicht verändertem Beginn, der bis zur von Beyerle umgeformten Juni-Vorlage im Gesamt-VerfA allerdings wieder aufgegeben wird: „Zur Gewähr der Freiheit und zur Förderung des Gemeingeists bilden die Grundrechte Richtschnur (usw.) …“.16 Dabei knüpfte die Gemeingeistformulierung ersichtlich an die Forderung an, die F. Naumann (DDP),17 der anfänglich den Vorsitz des UA übernahm, schon im Plenum erhoben hatte, nämlich Grundrechte und Grundpflichten als eine Art Katechismus für Volk und Staat zu begreifen. Dies sollte in der späteren Plenardebatte über den Eingangsartikel erneut zur Sprache gebracht werden,18 ohne freilich dessen bereits erwähntes Scheitern abwenden zu können. Wichtig ist in unserem Zusammenhang weiter, dass die Beratungen des UA für den Eingangsartikel weiter einen aus drei Sätzen bestehenden Abs. 2 ergaben.19 Als konkrete Gewährleistungsformel hieß es in Satz 1 i. S. exekutiven Grundrechtsschutzes: „Über die Grundrechte und Grundpflichten wacht die Reichsregierung.“ Satz 2 folgte mit generell formuliertem justiziellen Grundrechtsschutz: „Eingriffe von Behörden in die dem einzelnen gewährten Grundrechte können, sofern nicht bereits ein gesetzlicher Schutz besteht, nach Maßgabe eines Reichsgesetzes angefochten werden.“ Und Satz 3 schloss mit einer einschlägigen Rechtsweggarantie ab: „Soweit zu diesem Reichsgesetze nicht ein anderer Rechtszug eröffnet wird, sind die Verwaltungsgerichte des Reichs zuständig.“ Satz 2 und 3 gingen also, wenngleich unter gesetzlichem Maßgabevorbehalt, von grundsätzlich unmittelbarer Grundrechtsgeltung aus.

u. Wirtschaft, Berlin (Jan.) 1919, der eingestandenermaßen an der FRV Maß nahm. Zu dem Entwurf, an dem u. a. die Staatsrechtler E. Kaufmann u. H. Triepel mitgewirkt hatten und der in 5 seiner 9 Abschnittsüberschriften wortwörtlich solche der FRV übernahm, meine Arbeit, Die Reichsverfassung der Paulskirche, 2. Aufl. 1998, S. 143 sowie Karin Dubben, Die Privatentwürfe zur Weimarer Verf., 2009, S. 10 ff. 16 S. die zu diesem Punkt i. Wes. zuverlässig wiedergegebenen UA-Protokolle bei Wirth (Fn. 11), S. 181 (7. Sitz., 29. 5. 1919). Zur abw. Vorlage im Juni: VRT 336, S. 543 (42. Sitz., 18. 6. 1919), s. die zugrunde liegende Antragsformulierung von Beyerle, BA R 101/1894, Bl. 605 R. 17 Ders., VRT 336, S. 179 (18. Sitz., 31. 3. 1919): Volks- u. S. 180: Staatskatechismus; seinen Vors. im UA musste er krankheitsbedingt nach der 5. UA-Sitz. (14.5.) aufgeben. Lt. A. Düringer, VRT 328, S. 1496 (54. Sitz., 11. 7. 1919) amtierte Naumann formal als stellv. Vors. 18 Von E. Koch-Weser (DDP), VRT 328, S. 1501 (54. Sitz., 11. 7. 1919). 19 S. o. Fn. 16.

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Interessant ist nun, dass und wie über diesen UA-Vorschlag des ursprünglichen Einleitungsartikels erst nach dreifacher Zurückstellung20 in der letzten veröffentlichten Sitzung des Gesamt-VerfA Mitte Juni entschieden wird. Im Ergebnis wird es danach beim Richtschnur-Satz des Abs. 1 als Satz 1 belassen, der dann, wie bereits erwähnt, Mitte Juli 1919 in der 2. Lesung der Verfassung im Plenum fallen sollte.21 Abs. 2 ist hingegen zwischenzeitlich als Vorlage für den Gesamt-VerfA um die Gewährleistungsformel (Satz 1) eingekürzt, im Satz 2 durch Entfall des Maßgabevorbehalts etwas verschärft und dafür im letzten Satz abgeschwächt worden. Sein Inhalt erscheint nun unter Aufgabe der Absatzbildung als Satz 2 und 3 in folgender Fassung: „Eingriffe von Behörden in die dem einzelnen gewährleisteten Grundrechte können angefochten werden. Sofern nicht bereits ein gesetzlicher Schutz besteht, bestimmt ein Reichsgesetz die zuständige Behörde.“22 – Indessen werden diese beiden Sätze auf dringendes Anraten eines Regierungsvertreters hin vom VerfA sang- und klanglos gestrichen, d. h. ohne dem Protokoll entnehmbare Debatte, geschweige denn Widerspruch.23 2. Erodierte Junifassung Die Zusammenstreichung im Juni muss erstaunen, jedenfalls wenn man dafür nicht allein die Hektik und Entlastungsneigung in den damals schwärenden Tagen kurz vor der Entscheidung über das Für und Wider des Versailler Friedens24 ins Feld führen will. Denn die Hauptargumentation des Regierungsvertreters25 für Streichung war widersprüchlich. Er wandte sich nämlich, obwohl es nur um die dem Einzelnen gewährten Grundrechte ging und Satz 3 noch ein späteres Ausführungsgesetz verlangte, dagegen, in aller Eile ein Rechtsverfahren einzuführen, dessen Konsequenzen noch nicht zu überblicken seien. Und er fügte weiter die jedenfalls für heutige Ohren provokante Bemerkung hinzu, es sei nicht der Zweck von Grundrechtsfestsetzungen, dem Einzelnen ein klagbares Recht zu geben. Dies mochte noch der h. M. der Kaiserzeit entsprechen, näherte sich aber nach den Vorüberlegungen im UA und VerfA einem Affront. Dass dem Regierungsvertreter dennoch ohne erkennbaren Widerspruch gefolgt wurde, erscheint umso erstaunlicher, als es zu den nun gestrichenen Regelungen noch drei Wochen zuvor im UA aufgrund eines interfraktionellen Antrags der Ver-

20 Vgl. Vors. Haußmann im Gesamt-VerfA, VRT 336, S. 370 r. Sp. (31. Sitz., 28. 5. 1919); zuvor war der Einleitungsartikel bereits im UA zweimal zurückgestellt worden, und zwar in dessen 1. (2.5.) u. 6. (28. 5. 1919) Sitz., vgl. Wirth (Fn. 11), S. 170 u. 180. 21 Am 15. 7. 1919 (s. o. Fn. 6). 22 VRT 336, S. 543 (42. Sitz., 18. 6. 1919). 23 VRT 336, S. 544, wobei das genaue Abstimmungsverhältnis bzw. -verhalten nicht protokolliert ist; dazu näher s. u. Fn. 28. 24 Zu den hochdramatischen Tagen vor der letztlichen Annahme am 23. 6. 1919 nur Huber (Fn. 6), S. 1159 ff. 25 H. Frhr. v. Welser, VRT 336, S. 543 f. (42. Sitz., 18. 6. 1919).

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treter aller Fraktionen gekommen war.26 Bei dieser einhelligen Befürwortung fehlte zwar der USPD-Vertreter Cohn, doch kann dessen Unterstützung aufgrund seiner oben erwähnten späteren Einlassung27 zugunsten des Richtschnur-Satzes unterstellt werden. Hinsichtlich der Frage aktueller wie effektiver Grundrechtsgeltung handelte es sich mithin um einen unbeachtet gebliebenen scharfen Kontrast zwischen der befürwortenden Allparteienphalanx im UA und dem kurzen Prozess der überraschenden Ablehnung im Gesamt-VerfA.28 Dabei zeigt sich der Kontrast erst recht in voller Schärfe, wenn man kurz auf Ende Mai zurückblickt und die Entstehung des interfraktionellen Antrags im UA beleuchtet. Denn wie archivalisch überliefert29 waren darin die beiden nun verworfenen Sätze durch etliche sich überschneidende Einzelanträge vorgespurt worden, die z. T. noch weitergingen. Abgesehen von der dem VerfA Mitte Juni nicht mehr vorgelegten konkreten Gewährleistungsformel gilt das vor allem für den justiziellen Grundrechtsschutz. Die weitergehenden Anträge stammten hierzu keineswegs von radikalen Neuerern, sondern von den Liberalen B. Ablaß und C. Haußmann (beide DDP), die als Schutzgegenstand ganz umfassend „Grundrechte und Grundpflichten“ bzw. „Grundrechte und [organisatorische] Verfassung“ benannten.30 Für den Wortlaut des interfraktionellen UA-Antrags wurde jedoch der gemäßigtere Vorschlag von Beyerle Vorbild, der ebenso wie die Anträge K. Heinze (DVP) und ähnlich A. Düringer (DNVP) allein auf „die dem Einzelnen gewährten Grundrechte“ abstellte.31 Und für die Rechtsweggarantie in Satz 3 waren unverkennbar die Anträge von Heinze und Düringer maßgeblich, indem sie die subsidiäre Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte des Reichs forderten.32 Sie gingen mit dieser ursprünglichen Konkretion des Einleitungsartikels also weiter als die obsiegende Fassung, die dann Mitte Juni vom Gesamt-VerfA gestrichen werden sollte.

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S. Protokolle des UA bei Wirth (Fn. 11), S. 81 (7. Sitz., 29. 5. 1919). S. o. Fn. 9. 28 Die Annahme von Walter Pauly, Grundrechtslaboratorium Weimar, 2004, S. 55, der meint, es habe sich um eine Zufallsmehrheit gehandelt, erscheint zweifelhaft. Denn sie bezieht sich auf eine Angabe bei K. Beyerle, Der vorl. Staatsgerichtshof für das Dt. Reich, in: DJZ, Sp. 230 (231), mit der die 11:11-Entscheidung gegen eine konkrete Normenkontrolle, in: VRT 336, S. 486 (39. Sitz., 6. 6. 1919), auf Antrag von 100 Mitgliedern des Reichstags gemeint gewesen sein dürfte. Dass die Entscheidung nicht völlig widerstandslos gefallen ist, dafür spricht allerdings die Bemerkung von E. Koch-Weser, Die Grundrechte in der Verfassung, DJZ 1919, Sp. 609 (613 f.), der von „glücklicherweise“ spricht. Ein genaueres Abstimmungsverhältnis ließ sich bislang auch nach Durchsicht verschiedener damals bedeutender Zeitungen nicht ermitteln. 29 BA Berlin (Fn. 16), Bl. 388 – 392. 30 Die beiden Anträge in: BA Berlin (Fn. 16), Bl. 391. 31 S. BA Berlin (Fn. 16), Bl. 389 (Antr. Beyerle), 330 (Antr. Heinze) u. 392 (Antr. Düringer). 32 Wie Fn. 31. 27

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Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach den Gründen des Gesinnungswandels, der zur Streichung des 2. und 3. Satzes geführt hat, noch verschärft. Sucht man darauf eine Antwort zu geben, ist zunächst zu beachten, dass der Regierungsvertreter H. v. Welser, der erfolgreich zur Streichung aufrief, entgegen der Angabe im amtlichen Protokoll des VerfA33 nicht dem Reichsjustizministerium angehörte. Bislang völlig unbemerkt geblieben handelte es sich vielmehr um den Verfassungsreferenten aus dem Reichsinnenministerium unter Minister Preuß und damit im Prozess der Verfassunggebung um dessen engsten Mitarbeiter und rechte Hand.34 Wie seinem Chef oblag ihm die Aufgabe, die Regierungsvorlage in den parlamentarischen Beratungen zu vertreten und sie zu gedeihlichem Abschluss zu führen. Angesichts dieser Gegebenheit kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich v. Welser ohne Einvernehmen seines Chefs gegen die Klagbarkeit der Grundrechte gewandt hat. In einer so wichtigen Angelegenheit, die unter den gegebenen Umständen einen massiven Rückschnitt und jedenfalls aus heutiger Sicht eine Amputation des Grundrechtsgedankens bedeutete, hat man vielmehr von vorheriger interner Abstimmung auszugehen. Dies wird indirekt dadurch bestätigt, dass Preuß seine Übereinstimmung drei Wochen später in der Plenardebatte über die Grundrechte darlegte.35 Als es um den Richtschnur-Satz als Rest des zuvor schon eingekürzten Einleitungsartikels ging, lehnte er es ab, angesichts der Wortlautunterschiede in den einzelnen Grundrechtsartikeln generell deren unmittelbare Geltung annehmen zu können. Vielmehr bleibe sie von den Formulierungen der jeweiligen Grundrechte abhängig, die vielfach so allgemein gehalten seien, dass sie ohne weitere unterverfassungsrechtliche Ausführung praktisch nicht umsetzbar seien. Dass Preuß damit auf der Linie seiner bisherigen Grundrechtshaltung blieb und dadurch zugleich offene Türen bei etlichen Parlamentariern einrannte, ist im Folgenden zu zeigen. III. Ausmaß der seinerzeitigen Grundrechtskontroverse 1. Gründe der Haltung von Preuß Bereits ein erster Entwurf der regierungsseitigen Verfassungsvorlage zeigte, dass die Aufnahme von Grundrechten für Preuß kein vorrangiges Anliegen war.36 Er teilte

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VRT 336, S. 543 (42. Sitz., 18. 6. 1919); so unkrit. übernommen etwa bei Erich Portner, Die Verfassungspolitik der Liberalen 1919, 1973, S. 177 u. Pauly (Fn. 28), S. 54. 34 Zu ihm 1919 vor allem: Willibalt Apelt, Jurist im Wandel der Staatsformen, 1965, S. 91 ff.; zu seiner beruflichen Vita insges.: Joachim Lilla, Der Reichsrat, 2006, Nr. 782. 35 VRT 328, S. 1502 (54. Sitz., 11. 7. 1919), ebd. Zustimmungsrufe aus dem Plenum u. der Bericht von Düringer, ebd., S. 1496, dass es unter den Abgg. zu großen Zweifeln über den Richtschnur-Satz gekommen sei. 36 Vgl. dort §§ 18 – 23 Entwurf v. 3. 1. 1919, d. h. Gleichheit, Glaubensfreiheit, Schulwesen, ethnischer Minderheitenschutz, Grundsätze betr. Bodengesetzgeb., Arbeitervertretungen; abgedr. bei Susanne Miller/Heinrich Potthoff, Die Regierung der Volksbeauftragten 1918/19, 2. Teil 1969, S. 249 ff.

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die Ansicht von in- und ausländischer Seite37, wonach die in Deutschland seit 1848/ 49 virulenten Grundrechte inzwischen weitgehend positiviert, d. h. einfachgesetzlich umgesetzt worden seien. Insofern musste er hinsichtlich einer nennenswerten Grundrechtsaufnahme zum Jagen getragen werden, wozu es in der Kabinettsbesprechung seines Erstentwurfs Mitte Januar 1919 kommt. Denn als sich auch Ebert38 mit knappen Grundrechtsvorschlägen nicht zufrieden zeigt und die Frage ihrer Erweiterung im Raume steht, reagiert der damalige Verfassungsreferent von Preuß mit dem zunächst intern gebliebenen, inzwischen legendären Wort: „Ich werde sie aus der 48er Verfassung abschreiben, soweit sie heute noch paßt.“39 Die auffällige Traditionsbehaftetheit der in der schließlichen Regierungsvorlage aufgeführten Grundrechte wird dann in der Nationalversammlung als so unbefriedigend erachtet,40 dass es zu einem parlamentarischen Ergänzungsschub kommt, durch den der Grundrechtskatalog bis zum abschließenden Inkrafttreten der WRV quantitativ mehr als vervierfacht wird.41 Dies geschieht, obwohl Preuß in den Parlamentsdebatten von Anfang an darum bemüht ist, die Beratung über die Grundrechte in jeder Hinsicht knapp zu halten. Zum einen aus zeitlichen Gründen entsprechend dem frühen Hinweis von Naumann, dass das Werk von 1848/49 auch wegen der übermäßigen Grundrechtsbehandlung gescheitert sei.42 Ganz im Banne der primär programmatischen Bedeutung der Grundrechte zur Kaiserzeit betont Preuß weiter, dass Entscheidende bei ihnen seien die unterverfassungsrechtlichen Ausführungsgesetze. Wenn er deshalb bar jeder Leidenschaft empfahl, an Grundrechte „von vornherein mit einer gewissen Resignation heran[zu]gehen“43, so empfahl er damit grundrechtliche Ernüchterung. Nicht allein, dass er44 sich deshalb vor dem Plenum für die Regierung ausdrücklich weigern sollte, die Vaterschaft des sich abzeichnenden umfangreichen zweiten Hauptteils der WRV zu übernehmen. Im Ergebnis gab er auch zu erwägen, zugunsten der organisatorischen Verfassung die Verabschiedung der Grundrechte zurückzustellen, was Quarck (SPD) dann dezidiert propagieren sollte. Überdies lehnte Preuß es zuvor noch ab, sich für den Richtschnur-Satz als noch verbliebenen, schmalen Rest 37 Vgl. Preuß, in: Miller/Potthoff (Fn. 36), S. 242 (Kabinettssitz. v. 14. 1. 1919); die Ansicht wurde hierzulande schon früh im Kaiserreich vertreten, vgl. Kühne (Fn. 15), S. 125 u. später auch im Ausland s. Jean de Grandvilliers, Essai sur le libéralisme allemand, 1914, S. 40. 38 Bei Miller/Potthoff (Fn. 36) S. 447 (14. 1. 1919), s. zuvor schon R. Leinert (SPD), ebd., S. 243. 39 So Geheimrat R. A. Schulze, in: Miller/Potthoff (Fn. 36) S. 247. 40 Vgl. Naumann, VRT 336, S. 179 (18. Sitz., 31. 3. 1919). 41 Vgl. Art. 28 – 40 in der Reg.-Vorlage (abgedr. VRT 335, S. 84 ff.). Sowie Art. 109 – 165 WRV, d. h. gegenüber 13 nun 57 Artikel. 42 Naumann, VRT 336, S. 176 (18. Sitz., 31. 3. 1919); Preuß, ebd., S. 369 (32. Sitz., 28. 5. 1919) und VRT 328, S. 1502 (54. Sitz., 11. 7. 1919). 43 VRT 336, S. 185 (18. Sitz., 31. 3. 1919). 44 Preuß, VRT 328, S. 1502 (54. Sitz., 11. 7. 1919), ebd., S. 1503 seine Rückstellungserwägung; zu ihr Quarck, ebd., S. 1504 f.

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des anfänglichen Einleitungsartikels zu verwenden. Denn die Vorschrift könne nicht und wolle nicht sagen, Grundrechte bildeten lediglich eine Richtschnur und besäßen mithin keine unmittelbare Rechtswirkung. Diese anzuordnen, müsse vielmehr der jeweiligen grundrechtlichen Textierung überlassen bleiben. Im Ergebnis sollte er sich dann jedoch einer dezidierten Ablehnung des Restbestands des präambelartigen Einleitungsartikels entziehen, und zwar dadurch, dass er dessen Regelung auch für den Fall des Beibehalts keine positiven Rechtsvorschriften entnehmen zu können meinte, was freilich nicht unbestritten blieb.45 2. Parlamentarierhaltungen a) Befürworter Geht man danach auf die parlamentarischen Vorkämpfer der Parteien ein, die eine entschiedene Ausweitung des in der Regierungsvorlage noch schmalbrüstigen Grundrechtskatalogs befürworten, so sind vor allem zwei zu nennen. Es handelt sich neben Preuß’ Parteifreund Naumann, der alsbald mit einem eigenen Grundrechtsentwurf hervortrat,46 vor allem um K. Beyerle. Dieser wird aufgrund seiner Vorlagen und sonstigen Arbeit für und im UA bereits im Plenum nicht nur als „Schöpfer der Grundrechte“ gewürdigt, sondern wollte bereits – wie hernach vom Grundgesetz verwirklicht – den Grundrechtsteil an die Spitze der WRV rücken.47 Während der Naumannsche Grundrechtsentwurf der eines Nichtjuristen war, der mit bewusst volksnahen Formulierungen dem Stand der seinerzeitigen Kulturentwicklung gerecht zu werden suchte, wollte der Rechtsgelehrte Beyerle (Z/BVP) demgegenüber einen stärker juristisch gefassten Katalog und materiell eine moderne Magna Charta, wobei er zugleich an Sanktionen dachte.48 Dabei ging es im Anschluss an die Regierungsvorlage trotz der Warnung, Vergangenes fortzuschreiben, zum einen um „Goldkörner aus der Paulskirche“.49 Weiter lag 45 Anders bereits Naumann, VRT 336, S. 176 (18. Sitz., 31. 3. 1919) und später vor allem Cohn (USPD), VRT 328, S. 1559 (57. Sitz., 15. 7. 1919). 46 VRT 336, S. 171 ff. (18. Sitz., 31. 3. 1919) mit Begründung ebd., S. 176 ff. 47 Das Zitat von Koch-Weser (DDP), VRT 328, S. 1501 (54. Sitz., 11. 7. 1919); zur Voranstellung des Grundrechtsteils s. meine Arbeit, Zum Neuerungsgehalt der Weimarer Grundrechte. Genetische Aspekte zu ihrer Platzierung u. Textgestalt, in: Der grundrechtsgeprägte Verfassungsstaat, FS Klaus Stern, 2012, S. 59 ff. 48 Vgl. das entspr. Lob Beyerles durch den Berichterst. des VerfA A. Düringer (DNVP) im Plenum, VRT 328, S. 1496 (54. Sitz., 11. 7. 1919); zum Magna Charta-Gedanken „einer neuen Zeit“ Beyerle, Die Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen, in: Illustrirte Zeitung, Leipzig, Bd. 153 (1919), Nr. 3968 v. 17. 7. 1919, S. 4 – 6 (4), zu Sanktionen ders., VRT 336, S. 368 (32. Sitz., 28. 5. 1919). 49 Zu den Regelungsmotiven i. e. Konrad Beyerle, Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen, in: Germania. Ztg. für das Dt. Volk v. 4. 7. 1919 (Nr. 298, S. 1); sein Zitat: VRT 326, S. 464 (19. Sitz., 3. 3. 1919); Warnung etwa bei W. Schücking (DDP), VRT 326, S. 478 (19. Sitz., 3. 3. 1919), der insoweit krit. von Ladenhütern sprach.

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ihm wie seiner konfessionell orientierten Partei die Grundrechtsthematik von Schule und Kirche besonders am Herzen, was hinsichtlich Letzterer zu einer Regelungsqualität führte, die später das Grundgesetz50 zu weitgehender Übernahme veranlassen sollte. Und nicht zuletzt stand der innovative Ausbau der Dimension sozialer Grundrechte an. Dazu drängten in der Nationalversammlung nicht nur die sozialistischen Kräfte der SPD und USPD, sondern auch sozial orientierte Liberale wie Naumann. Er51 verwies dazu auf die steigende Freiheitsbedrohung durch intermediäre Gewalten namentlich der Großwirtschaft, bezeichnete gegenüber der früher stärkeren Individualstellung des Einzelnen den Verbandsmenschen als Normalität der Gegenwart und betonte damit – in heutiger Rechtssprache – auch die grundrechtliche Drittwirkungsdimension. Zugleich kam es zur Abwehr des Einwands von Naumanns Parteifreund KochWeser52, dass Grundrechte im Obrigkeitsstaat Sinn machten, im jetzigen demokratischen bzw. Volks-Staat hingegen wegen der Konfusion von geschütztem und regierendem Volk die Bedeutung verloren hätten. Doch wurde demgegenüber von Katzenstein53 (SPD) bleibend darauf hingewiesen, dass Grundrechte nicht minder in der Demokratie ihren Sinn behielten, und zwar als Rechte der Minderheit. Zusätzlich wird man nun über die abwehrrechtliche Dimension hinaus dezidiert die aufbauend staatsstützende Funktion der Grundrechte betonen,54 was ansatzweise bereits in die Richtung ihres heutigen Verständnisses als objektive Werteordnung weist. Dies geschieht etwa, wenn Beyerle55 die Grundrechte als „lebendige Pfeiler der Rechtsordnung“ und „als Schatz oberster Richtlinien (bezeichnet) …, durch welche das Wohl des einzelnen wie das der Gesamtheit gewährleistet wird.“ – Überdies wird in Verbreiterung des im Weimarer VerfA entwickelten Grundpflichtgedankens56 immer wieder der erzieherische Wert der Grundrechte betont. So wenn Naumann von Volks- und KochWeser von Bürgerkatechismus sprechen,57 Ersterer aber auch von Staatsgrundbekenntnis und Staatskatechismus, womit unüberhörbar Amtswalter in Reich und Ländern eingebunden werden sollten. Beide Aspekte finden sich im Wort des weiteren VerfA- und UA-Mitglieds Ablaß, der die WRV samt ihren Grundrechten wenig später als „staatsrechtliche Bibel“ werten sollte.58 50

Vgl. Art. 140 GG. Naumann, VRT 336, S. 180 (18. Sitz., 31. 3. 1919). 52 Ders., VRT 328, S. 1500 (54. Sitz., 11. 7. 1919). 53 VRT 336, S. 186 (18. Sitz., 31. 3. 1919) und bereits H. Sinzheimer (SPD), ebd., S. 183. 54 Naumann (DDP), VRT 336, S. 179 f. (18. Sitz., 31. 3. 1919); Beyerle (Z/BVP), VRT 328, S. 1503 (54. Sitz., 11. 7. 1919); o. Cohn (USPD), ebd., S. 1506. 55 In der Reihenfolge der Zitate: Beyerle (Fn. 48), S. 4 sowie ders. in seinem Aufsatz (Fn. 49), S. 1; ähnlich H. Sinzheimer (SPD), VRT 336, S. 183 (18. Sitz., 31. 3. 1919). 56 Dazu Naumann, VRT 336, S. 177 (18. Sitz., 31. 3. 1919) u. K. Beyerle, Zehn Jahre Reichsverfassung, 1929, S. 21. 57 Dazu Naumann, VRT 336, S. 179 f. (218. Sitz., 31. 3. 1919); Koch-Weser (DDP), VRT 328, S. 1501 (54. Sitz., 11. 7. 1919), s. auch Beyerle, ebd., S. 1501. 58 So Bruno Ablaß (DDP), Des Deutschen Reiches Verfassung, 1919, S. 73. 51

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Bleibt unter positiven Vorzeichen noch zu erwähnen, dass hinsichtlich der Grundrechtsbefürwortung allenfalls die Zentrumsfraktion ein relativ geschlossenes Bild bot, während die anderen Fraktionen und insbesondere die der grundsätzlich verfassungstragenden DDP sowie auf Seiten der Opposition auch die DNVP59 hingegen gespalten oder wie die DVP relativ geschlossen dagegen waren. b) Gegner Geht man damit zu den parlamentarischen Grundrechtsgegnern über, so sind zunächst der faktische Vorsitzende der oppositionellen DVP-Fraktion, der freilich im Schatten von G. Stresemann stehende K. Heinze, sowie sein Parteifreund, der Rechtsgelehrte W. Kahl zu nennen. Für sie60 ist der weitgehende Grundrechtsverzicht der BRV vorbildlich, was mit entsprechender Begründung nun auch dogmatisch zu untermauern gesucht wird. Etwa durch die gegen sozialprogrammatische Grundrechte gerichtete fragwürdige These, dass Zukunftsperspektiven nicht in eine Verfassung gehörten.61 Und gegenüber den Grundrechten insgesamt wird unter Ausblendung jeden Rechtsvergleichs das Fehlen eines geschlossenen Systems beanstandet,62 was allerdings bei parlamentarischer Erstellung unvermeidlich ist und praktisch für alle großen Freiheitsrechtskataloge gilt. Dass diese Kritik mit Worten63 wie „interfraktionelles Parteiprogramm“ oder „salatähnliche Komposition“ auch von Vertretern verfassungstragender Fraktionen geteilt wird, macht die Sache nicht besser, lenkt den Blick vielmehr darauf, dass sich Grundrechtsgegner und -skeptiker damals sowohl in den Reihen der Verfassungsopposition wie -koalition finden. Best dokumentiertes Beispiel dafür ist der Liberale Koch-Weser64 (DDP), der innerhalb seiner Fraktion im VerfA nach dem krankheitsbedingten Ausfall von Naumann mehr und mehr in eine verfassungspolitische Führungsrolle hineinwächst. Seine Gegnerschaft sollte über das Ende der Weimarer Republik hinaus bis in seinen

59 Dafür namentlich Düringer (DNVP), VRT 336, S. 181 (22. Sitz., 31. 3. 1919), der die Bedeutung der Grundrechte gerade für die Konservativen in der aktuellen Lage sozialer Veränderungen klar erkannte, und zwar im Gegensatz zu anderen Teilen seiner Partei. Näher dazu Christian Trippe, Kons. Verfassungspolitik 1918 – 1923, 1995, S. 159 ff. 60 Heinze, VRT 328, S. 1498 (54. Sitz., 11. 7. 1919) und zuvor Kahl, VRT 336, S. 185 (18. Sitz., 31. 3. 1919), zur schmalen Grundrechtsbilanz der BRV s. nur deren Art. 3, 22 f. und 57. 61 So Kahl, (DVP) wie vorst. Fn.; dagegen Beyerle (Fn. 48), S. 6. 62 So Heinze (Fn. 60), dagegen bereits A. Düringer (DNVP), VRT 336, S. 370 (32. Sitz., 28.5.) u. VRT 328, S. 1496 (54. Sitz., 11. 7. 1919). 63 Die nachst. beiden Zitate von Koch-Weser (DDP), VRT 328, S. 1501 (54. Sitz., 11. 7. 1919) u. Quarck (SPD), ebd., S. 1505. 64 Vgl. seine Stellungnahme in VRT 328, S. 100 ff. (54. Sitz., 11. 7. 1919) sowie seinen Aufsatz: Die Grundrechte in der Verfassung, DJZ (1.8.) 1919, Sp. 609 ff.

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Exilentwurf von 1941/42 für eine deutsche Nachkriegsverfassung konstant bleiben.65 Dies beruht für ihn i. Wes. auf dem typischen Abbreviaturcharakter von Grundrechten, ihrer damit verbundenen hohen Interpretationsoffenheit und der daraus resultierenden, von ihm auch als gefährlich bezeichneten Unklarheit darüber, inwieweit sie wirksam sein wollen. Unklar bleibe etwa, ob sie Wirksamkeitsfolgen für bestehende oder nur künftige Gesetze hätten und welche konkreten Sanktionen und Sanktionszuständigkeiten gegeben seien. Und weiter erscheine fraglich, inwieweit sie nur allgemeine Richtlinien enthielten oder lediglich politisch-ethische Bedeutung besäßen.66 Es liegt auf der Hand, dass sich diese Argumentation in der Sache gegen jede Form eines generalisierenden Einleitungsartikels richtete. Freilich drückte dieser liberale Politiker seine klare Gegnerschaft in der parlamentarischen und sonstigen Öffentlichkeit von 1919 politisch-taktisch vorsichtiger aus. Unverhüllt machte er sich seinerzeit nur in zweifacher Hinsicht Luft. Zum einen in einer einschlägigen, unmittelbar nach Inkrafttreten der WRV erschienenen Aufsatzveröffentlichung67 und zum anderen temperamentvoll in seinem Tagebuch. Darin findet sich über die Grundrechtsdebatte im VerfA Mitte Juni 1919 im Zeichen der aufgewühlten Leidenschaften wegen Versailles: „zum Verzweifeln! Man … redet … in den Grundrechten über alle Dinge … der Erde. Inzwischen rückt der Feind ein und schlägt alles kurz und klein, was es an Grundrechten und Grundpflichten gibt.“68 Und einen Monat später heißt es nach der Grundrechtsberatung im Plenum hinsichtlich der vorerwähnten Zurückstellungsanregung von Preuß (DDP) wie Quarck (SPD): „Sehr vernünftig, hätte aber vor vier Wochen durchgesetzt werden müssen“, um wenig später ebenso bitter wie pessimistisch einzutragen: „Die Grundrechte ruinieren uns.“69 Wie bereits gesagt, gibt sich Koch-Weser allerdings öffentlich moderater. Zwar lässt er auch hier deutliche Skepsis erkennen, ist andererseits aber Politiker genug, um nicht auch den Befürwortern in seiner Fraktion entgegenkommen zu wollen. Sein Vorschlag geht deshalb dahin,70 die Grundrechte unverändert „in Kauf“ (sic) zu nehmen, wie sie nun einmal gestaltet seien, weil es politisch unmöglich sei, insoweit das Rad zurückzudrehen. – Indirekt belegte diese Einsicht nicht nur Einfluss und Stärke der grundrechtsbefürwortenden Kräfte. Vielmehr sprach für die Beibehaltslösung auch, dass eine Streichung für das politische Ansehen der Nationalversammlung desaströs gewesen wäre, hätte sie damit doch das Verdikt auf sich gezogen, 65 Vgl. Erich Koch-Weser, Und dennoch aufwärts!, 1933, S. 19 ff.; zu seinem Entwurf (1941/42) s. Erich Portner, Koch-Wesers Verfassungsentwurf, in: VfZG 14 (1966), S. 280 ff. (285), der vom überaus mageren Grundrechtskatalog spricht. 66 So Koch-Weser (DDP), in: DJZ (Fn. 64), Sp. 611 f. 67 Ders., DJZ (Fn. 64), Sp. 414: „Das Beste wäre …, die Grundrechte würden ganz aus der Verfassung rausgestrichen.“ 68 Tagebucheintrag v. 17. 6. 1919, s. Koch-Weser (BA Koblenz, NL 1012, Nr. 16), Bl. 167. 69 Die zit. Tagebucheintragungen v. 12. 7. 1919 (Fn. 68), Bl. 213 und v. 15. 7. 1919, ebd., Bl. 233. 70 VRT 328, S. 1502 (54. Sitz., 11. 7. 1919).

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die Zeit ihrer zweieinhalbmonatigen Grundrechtsberatung praktisch völlig vertan zu haben. IV. Blockadegefahr und Ausweg 1. Grundrechtskrise innerhalb der verfassungstragenden Kräfte Es wäre zu kurz gegriffen, wenn man sich hinsichtlich der Gründe der Mitte Juli 1919 erfolgten gänzlichen Streichung des bereits im Juni eingekürzten Einleitungsartikels lediglich auf die amtlich publizierten VerfA- und Plenarberatungen der Weimarer Nationalversammlung beschränken würde. Denn diese Veröffentlichungen lassen nur indirekt die Intensität der zugleich geführten besonderen Hintergrundgespräche erkennen,71 durch deren Erschließung die einschlägige Plenardebatte erst voll verständlich wird. In den Blick zu rücken ist damit die parlamentarische Subebene interfraktioneller Auseinandersetzungen. Sie führen zu einer alles in Frage stellenden grundrechtsrelevanten Zerreißprobe,72 und zwar nach dem Versailles-bedingten Austritt der DDP aus der verfassungstragenden damaligen Dreierkoalition. In der anschließend noch bestehenden Regierungskoalition aus SPD und Zentrum geht der Streit vor allem um das diametrale Widereinander von konfessioneller und weltlicher Schule, d. h. die Fassung des späteren Art. 146 WRV.73 Dabei ist die erstgenannte Schulform für die Zentrumspartei und die letztere für die SPD politisches Kernanliegen, ja jeweils lang gehegter Herzenswunsch. Da der SPD in diesem Grundsatzstreit eine wichtige Stütze durch den Koalitionsaustritt der DDP weggebrochen ist, wittert das Zentrum nun Morgenluft, seinen Standpunkt stärker durchzusetzen. Hierzu braucht der genaue Ablauf des daraus resultierenden grundrechtlichen Schulstreits hier nicht näher aufgerollt zu werden, der Anfang Juli vertraulich verhandelt zunächst mit dem am 18. Juli im Plenum angenommenen Kompromissantrag von Löbe/Gröber beendet wird.74 Näherhin kann auf die eingehende, vorzügliche Untersuchung von L. Richter75 verwiesen werden. Danach ist für unseren Zusammenhang wichtig, dass die SPD-Fraktion auch wegen der Blockadegefahr für die Gesamtverfassung ihre Verhandlungsführer in der Auseinandersetzung wiederholt beauftragt, „die Her-

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Z. B. Haußmann (DDP), VRT 328, S. 1507 (54. Sitz., 11.7.), A. Düringer (DNVP), ebd., S. 1558 (57. Sitz., 15.7.) u. K. Weiß (DDP), ebd., S. 1712 (60. Sitz., 18. 7. 1919), der vom Kompromiss hinter verschlossenen Türen spricht. 72 Dazu eingehend L. Richter (Fn. 10), S. 494 ff. 73 Guter Überblick zum Textierungswandel bis zum Inkrafttreten des Art. 146 WRV bei Godehard Jos. Ebers, Die Verfassung des Deutschen Reichs v. 11. 8. 1919, S. 82 f. 74 Vgl. den SPD/Z-Antrag Löbe/Gröber v. 15. 7. 1919, VRT 337, Nr. 566, angenommen VRT 328, S. 1717 (60. Sitz., 18. 7. 1919); s. a. Heinrich Potthoff/Hermann Weber, Die SPDFraktion in der Nationalvers. 1919 – 1920, 1986, S. 139 Fn. 2. 75 S. o. (Fn. 10), S. 494 ff.

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ausnahme der Grundrechte aus der Verfassung zu erreichen“.76 Insoweit brachte die vorerwähnte Zurückstellungsanregung von Preuß und Quarck (SPD) eisbergspitzenhaft Schwierigkeiten aus den laufenden Koalitionsverhandlungen ans Licht. Sie wurden auch dadurch bestätigt, dass es von Beyerle und anderen seiner Fraktionskollegen zu erregten Zwischenrufen kam,77 die offensichtlich wegen der baldigen Koalitionseinigung durch entsprechende Herausstreichungen in der Korrekturfassung der amtlich veröffentlichten stenografischen Berichte keinen Abdruck gefunden haben. – Wegen des damit laut werdenden Koalitionsstreits kam es jedenfalls zum Abbruch der Plenardebatte mittels Vertagung und noch am selben Tag zu interfraktionellen Verhandlungen.78 In ihnen konnte die Zurückstellung der Grundrechte vom Zentrum erfolgreich durch Androhung des Regierungsaustritts abgewendet werden.79 Erst danach gelang am 14. 7. 1919 eine sachliche Einigung der Koalition, die auch als erster Weimarer Schulkompromiss bekannt geworden ist.80 Diese Einigung stieß freilich innerhalb der SPD-Fraktion noch auf eine Ablehnungsquote von über 40 %81 und bot damit kein gutes Vorzeichen für eine nachdrückliche Grundrechtsentscheidung, geschweige denn eine dezidierte Ansage zu ihrer unmittelbaren Geltung. Dies umso weniger, als einer der Stimmführer der SPD im VerfA, nämlich Katzenstein,82 die Geltungsfrage schon früh von der Grundrechtsnormierung als solcher getrennt hatte, was dogmatisch zutreffend, praktisch indessen unbefriedigend war. Es kam hinzu, dass sich Art. 146 Abs. 2, S. 3 WRV im Ergebnis als Sperrgesetz gegen die Ausweitung konfessioneller Schulen handhaben ließ. Dies jedenfalls dann, wenn man von einem Einleitungsartikel, der unmittelbare Geltung oder Richtliniencharakter der Grundrechte vorschrieb, absah. Das wurde schon früh gesehen83 und sollte in der Weimarer Republik dauerhaft genutzt werden.84

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Vgl. Potthoff/Weber (Fn. 74), S. 122 f. (3.7.), S. 127 (7.7.) sowie K. Haenisch, ebd., S. 135 (11. 7. 1919). 77 Detaillierter Nachweis bei L. Richter (Fn. 10), S. 511 Fn. 112. 78 Zur Vertagung: Haußmann (DDP) und Präs. Fehrenbach, VRT 328, S. 1507 (54. Sitz., 11. 7. 1919). 79 Zur interfraktionellen Besprechung am selben Tag s. L. Richter (Fn. 10), S. 511 f. 80 Dazu näher Huber (Fn. 6), S. 1201 f., Potthoff/Weber (Fn. 74), S. 139 Fn. 2 und eingehend L. Richter (Fn. 10), S. 512 ff. Zum zweiten Weimarer Schulkompromiss Huber (wie vor) u. eingehend Richter (wie vor), S. 594 ff. 81 Nach Potthoff/Weber (Fn. 74), S. 140 (15. 7. 1919), wonach die Annahme mit 35:25 Stimmen erfolgte. 82 Ders., VRT 336, S. 186 (18. Sitz., 31. 3. 1919). Dagegen Cohn (USPD), VRT 328, S. 1559 (15. 7. 1919): „wertlos“. 83 Vgl. H. Schulz (SPD), in: Potthoff/Weber (Fn. 74), S. 135 (11. 7. 1919) u. Luppe (DDP), VRT 328, S. 1704 (60. Sitz., 18. 7. 1919). 84 Zur Regelungsunterlassung nur Günther Grünthal, Reichsschulgesetz u. Zentrumspartei in der Weimarer Republik, 1968.

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2. Bewusste und faktisch obsiegende Kompromisslösung Vor der gänzlichen Streichung des bis Juli verbliebenen restlichen Einleitungsartikels sollte es indessen aus den Reihen der DDP noch zu einem Kompromissantrag kommen, den ihre aufstrebenden Politiker H. Luppe und O. Nuschke stellten.85 Ähnlich dem Einführungsgesetz über die Grundrechte von Ende 1848,86 das 1919 bemerkenswerterweise keine Rolle spielt und vergessen scheint, sah der Antrag einen Einleitungsartikel mit unmissverständlichem Geltungsansagen vor.87 Führte er doch ein gutes Dutzend i. Wes. individueller Grundrechte ziffern- wie absatzmäßig präzise auf, die fortan unmittelbar gelten sollten. Dieser Antrag blieb jedoch ebenso chancenlos wie eine weitere dazu angekündigte Vorlage, die deshalb letztlich unterblieb.88 Denn nach dem Ringen um den Schulkompromiss war man mit dem Erleben der gerade überstandenen Zerreißprobe zwischen SPD und Zentrum samt der Erwägung, die Grundrechte zurückzustellen, gewissermaßen erschöpft. Und grundrechtsmüde war man schon zuvor wegen der gravierenden Enttäuschung über Versailles, das trotz der hiesigen Schaffung einer demokratischen Verfassung und weitgreifender Grundfreiheiten kein nennenswertes Entgegenkommen gezeigt89 und damit für die Regierungskoalition zu einer politisch angespannten Lage geführt hatte, die zur Fertigstellung des organisatorischen Teils

85 Der Abänderungsantrag, der erst in der Sitzung am 15.7. übergeben wird, findet sich in VRT 328, S. 1597 (15. 7. 1919), wobei dann Satz 2 wenig später durch die Antragsteller korrigiert worden ist, ebd., S. 1559, Mitt. v. Haußmann (DDP). Zur Korrektur von Satz 3 s. u. Fn. 87. Luppe wird zu den bedeutendsten Kommunalpolitikern der Weimarer Zeit gehören u. Nuschke war Chefredakteur, Geschäftsführer der DDP, Abg. im Preußischen Landtag bis 1933 u. später der CDU-Vors. in der DDR. 86 Vom 27. 12. 1848 (RGBl, S. 57). Der zweite Teil dieses Gesetzes mit seinen präzisen Geltungsvorschriften findet sich bis heute erstaunlich selten nachgedruckt. Zu den zwei weiteren Abdrucken bis 1919 vgl. Kühne (Fn. 15), S. 185 Fn. 178. 87 S. o. Fn. 85, wobei in Satz 3 die erstgen. Artikel- und Absatzangabe aufgrund offensichtlichen Druckfehlers richtig: „Art. 108 Abs. 3 – 6“ heißen muss und damit Regelungen der Gleichheit (Art. 109 WRV) betrifft. Weiter geht es – bei jeweils einer Ziffer niedriger Entwurfszählung – um die späteren Art. 110 Abs. 2, 111, 112 Abs. 1 u. 3, 114 – 117, 118 Abs. 2, 123 Abs. 2, 124, 126, 135 f. u. 139 WRV. 88 Ablehnung durch Annahme des weitergehenden Antrags auf gänzliche Artikelstreichung, VRT 328, S. 1559 (57. Sitz., 15. 7. 1919); die im Anschluss an Luppe (DDP) von Katzenstein (SPD), beide ebd., S. 1597 f. gemachte Vorbehalt zugunsten einer verbesserten Antragsvorlage in der 3. Lesung blieb unrealisiert. 89 Die außenpolitische Wirkung i. S. einer alliierten Mäßigung klingt bereits an bei Naumann (DDP), VRT 336, S. 180 (22. Sitz., 31. 3. 1919) u. weiter bei Beyerle, Die Grundrechte … (Fn. 55), S. 4 u. Düringer, VRT 328, S. 1558 (57. Sitz., 15. 7. 1919) sowie deutlich in dem frühen Vorwurf des Oppositionellen G. Stresemann als Vors. der DVP in der Sitzung ihres Zentralvorstandes am 12./13. 4. 1919, in: Eberhard Kolb/Ludwig Richter (Bearb.), Nationalliberalismus in der Weimarer Republik, 1. Bd., 1999, S. 83, wonach er der Regierungskoalition vorhält, hstl. der Wirkung der geschehenen wie geplanten Verfassungsveränderungen auf die Westmächte Illusionspolitik zu betreiben.

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Jörg-Detlef Kühne

der Verfassung drängte.90 Überdies litt der vorgelegte Antrag politisch darunter, dass er darauf verzichtete, die Schulartikel91 in die Reihe der unmittelbar geltenden Grundrechte aufzunehmen. Wegen der daraus resultierenden Gefahr eines zu nur programmatischer Geltung führenden Umkehrschlusses92 musste der Antrag mithin für das Zentrum und wegen der Nichtaufnahme sozialer Grundrechte – übrigens einschließlich der relativen Eigentumsgarantie in Art. 153 WRV93 – auch für die SPD und somit für die Mehrheit der Nationalversammlung inakzeptabel sein. Dies übergeht Luppe in seinen Erinnerungen, wenn er94 als Grund des Scheiterns seines Antrags nur sehr allgemein angibt, man habe jede Präzisierung der Geltungsfrage für aussichtslos gehalten. Stellt man nunmehr auf damals noch weiter denkbare Kompromissmöglichkeiten für einen Einleitungsartikel mit generalisierter Geltungsansage ab, so war es ebenso wenig eine tragbare Lösung, dem angedeuteten Vorschlag des Oppositionssprechers Heinze95 (DVP) zu folgen, der eine Beschränkung auf den knappen Grundrechtskatalog der Regierungsvorlage empfahl. Wäre doch dadurch das Ansehen der Nationalversammlung beschädigt worden, da dies, wie bereits erwähnt, ihre zweieinhalbmonatige Grundrechtsarbeit desavouiert hätte. Und schließlich schied auch die von Preuß und Quarck96 vorgeschlagene Zurückstellung der Grundrechte aus, nachdem es zur Einigung auf den Schulkompromiss Mitte Juli gekommen war. Angesichts der grundsätzlichen Spannungen zwischen Grundrechtsbefürwortern und -gegnern blieb als Lösung damit praktisch nur noch der Weg, den die Nationalversammlung mit der eingangs berichteten97 abschließenden Streichung beschritt. Ohne dass dies ausdrücklich gesagt worden wäre, handelte es sich nämlich nach allem, was zu ermitteln ist, um einen faktischen, bislang unbemerkt gebliebenen Kompromiss. Die Grundrechtsbefürworter erhielten „ihre“ Grundrechte, die Grundrechtsgegner hingegen deren Einführung ohne generell angeordnete „vollstreckbare Kraft“, womit davon abgesehen wurde, „bestehende Einrichtungen und Einschrän90

Vgl. Koch-Weser, Tagebuch (Fn. 67), Bl. 155 (3.6.); Haußmann als Vors. des VerfA, VRT 336, S. 489 (40. Sitz., 17.6.) u. ders., in: Ulrich Zeller (Hrsg.), Schlaglichter. Reichstagsbriefe u. Aufzeichnungen von C. Haußmann, 1924, S. 291 (16. u. 19. 6. 1919). 91 In der Entwurfsfassung zur Zeit des Antrags Art. 141 – 146 später: Art. 144 – 149 WRV. 92 Insb. bei Preuß findet sich zu den Grundrechten mehrfach das Umkehrschlussargument. Vgl. ders., VRT 336, S. 184 (18. Sitz., 31. 3. 1919) gegen Nichtaufnahme des Eigentums u. VRT 328, S. 1502 (54. Sitz., 11. 7. 1919) zum Richtschnur-Satz des später gestrichenen Einleitungsartikels. 93 Zu der sozial ausgerichteten Entstehung als relative Eigentumsgarantie s. meinen Beitrag, Die Genese des Eigentumsschutzes in der WRV, in: Nachdenken über Eigentum, FS Alexander v. Brünneck, 2011, S. 37 ff. 94 Hermann Luppe, Mein Leben, 1977, S. 36. 95 VRT 328, S. 1498 (54. Sitz., 11. 7. 1919), wonach die Regierungsvorlage damit recht getan habe, die Grundrechte auf das allergeringste Maß zu beschränken. 96 S. o. Fn. 44. 97 S. o. mit Fn. 5.

Unmittelbare Grundrechtsgeltung in der Weimarer Nationalversammlung

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kungen mit sofortiger Wirkung (zu) beseitigen“.98 Der Weimarer Grundrechtskatalog war damit nicht nur hinsichtlich des Inhalts seiner Tatbestände ein Kompromiss, sondern auch hinsichtlich deren Geltungsfolgen. Mit offenem Interpretationshinweis99 blieben sie zeitlich unbestimmt der künftigen Rechtsentwicklung überlassen.

98

In der Reihenfolge der Zitate: Katzenstein (SPD), VRT 336, S. 186 (18. Sitz. 31. 3. 1919) u. S. 2 des Antrags Luppe/Nuschke (DDP) in verbesserter Fassung s. o. Fn. 85. 99 Dazu nur Preuß, VRT 328, S. 1502 (54. Sitz, 11. 7. 1919) und später sich u. a. darauf berufend Anschütz (Fn. 3), vor Art. 109 Bem. 6 (S. 515).

Zur Bedeutung des allgemeinen Gleichheitssatzes bei grenzüberschreitenden Steuersachverhalten Von Steffen Lampert, Osnabrück I. Vorbemerkung Rudolf Wendt hat sich in seinem Wirken vielfach mit den Gleichheitssätzen des Grundgesetzes und daher auch mit dem allg. Gleichheitssatz als dem zentralen verfassungsrechtlichen Maßstab der Überprüfung des Ertragsteuerrechts auseinandergesetzt.1 Hieran anknüpfend widmet sich der folgende Beitrag der Frage nach der Wirkkraft des Art. 3 Abs. 1 GG bei grenzüberschreitenden Sachverhalten. Schrifttum und Rechtsprechung befassten sich mit dieser Problematik mit wenigen Ausnahmen2 lange Zeit allenfalls am Rande. So schienen etwa die sich aus dem Auslandsbezug ergebenden Grenzen der Sachaufklärung, die Gefahr sog. missbräuchlicher Gestaltungen oder auch die Individualität abkommensrechtlicher Vereinbarungen vielfach Grund genug gewesen zu sein, dem Thema keine nähere Beachtung zu schenken. Das Ergebnis freilich war und ist eine faktische Zweiteilung der verfassungsrechtlichen Überprüfung von Steuergesetzen: Während dem Gesetzgeber bei innerstaatlichen Sachverhalten zumindest eine Begründungsrationalität abgenötigt wird, kann er bei der Regelung grenzüberschreitender Sachverhalte unter dem Mantel des Auslandsbezugs weitgehend unbehelligt von derartigen Zwängen fiskalische Interessen verfolgen. Zeugnis hiervon gibt der Vorlagebeschluss des ersten Senats des BFH zur Verfassungsmäßigkeit des § 50d Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 EStG,3 denn dessen – letztlich verworfene – Erwägung, dass diese Regelung einer

1 So z. B. Rudolf Wendt, Der Gleichheitssatz, NVwZ 1988, 788; ders., Empfiehlt es sich, das Einkommensteuerrecht zur Beseitigung von Ungleichbehandlungen und zur Vereinfachung neu zu ordnen?, DöV 1988, 710; ders., Steuerreform durch Tarifbegrenzung für gewerbliche Einkünfte als Rechtsproblem, FR 1993, 1. 2 So z. B. Steffen Lampert, Doppelbesteuerungsrecht und Lastengleichheit, Baden-Baden 2009; Harald Schaumburg, Das Leistungsfähigkeitsprinzip im internationalen Steuerrecht, in: Lang, Die Steuerrechtsordnung in der Diskussion, Köln 1995, S. 125 ff.; s. auch Ingo Jankowiak, Doppelte Nichtbesteuerung im internationalen Steuerrecht, Baden-Baden 2009, S. 98 ff.; Christian Waldhoff, Verfassungsrechtlich relevante Vollzugsdefizite bei Steuerfällen mit Auslandsbezug am Beispiel von §§ 7 ff. AStG, StuW 2013, 121 (123 ff.). 3 BFH, Beschl. v. 20. 08. 2014 – I R 86/13 –, IStR 2014, 812.

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Steffen Lampert

gleichmäßigen Besteuerung dienen könnte,4 war dem Gesetzgeber selbst gar nicht in den Sinn gekommen.5 Da es außer Frage steht, dass die Besonderheiten bei grenzüberschreitenden Sachverhalten Anlass zu berechtigten Differenzierungen geben, liegt es allerdings fern, über das deutsche internationale Steuerrecht ein Verdikt der Gleichheitswidrigkeit zu sprechen. Befremdlich ist allerdings die Selbstverständlichkeit, mit der sich der Gesetzgeber offenbar der innerstaatlichen Grundrechtsbindung in diesem Bereich entledigt sieht. Sie fordert es geradezu heraus, die Frage nach der Bedeutung des Gleichheitssatzes bei grenzüberschreitenden Sachverhalten in den Fokus zu rücken – dies tat im Übrigen jüngst auch der erste Senat im erwähnten Vorlagebeschluss sowie bei Vorlage des § 50d Abs. 8 EStG6. Auch wenn diese „Entdeckung“ des allg. Gleichheitssatzes als Prüfungsmaßstab auch bei grenzüberschreitenden Steuersachverhalten vor allem dem Wandel in der Einschätzung der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit des treaty override geschuldet sein dürfte, so könnte er doch das BVerfG dazu bringen, ihn in seiner Rspr. ins Kalkül zu ziehen. Da eine umfassende Auseinandersetzung mit der noch im Fluss befindlichen Materie den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde, ist die vorliegende Abhandlung notwendigerweise in vielfacher Hinsicht selektiv und konzentriert sich auf einige grundsätzliche Fragestellungen: Ausgehend von der Prämisse, dass die Besteuerungsgleichheit auf den Säulen der Gleichheit der normativen Steuerpflicht und der Gleichheit bei deren Durchsetzung in der Steuererhebung ruht,7 wird sie sich zum einen der grundlegenden Systematik der einfachgesetzlichen Ausgestaltung des deutschen Außensteuerrechts zuwenden, zum anderen der Bedeutung des allg. Gleichheitssatzes für die Amtshilfe. Beides setzt allerdings voraus, sich zunächst seine Wirkkraft bei unterschiedlichen Formen des Auslandsbezuges zu vergegenwärtigen. II. Die Bindung des Gesetzgebers an den allg. Gleichheitssatz bei Sachverhalten mit Auslandsbezug Da Art. 1 Abs. 3 GG die Ausübung der deutschen Staatsgewalt unabhängig davon an die Grundrechte bindet, wo ihre Wirkung eintritt, besteht an ihrer Grundrechtsbindung auch bei grenzüberschreitenden Sachverhalten dem Grunde nach kein Zweifel.8 4

BFH IStR 2014, 812 (817 f.). Die Reg.-Begründung (16/2712, S. 61 f.) jdf. gibt nicht zu erkennen, dass diese Regelung auch der Besteuerungsgleichheit dienen soll, vgl. auch BFH IStR 2014, 812 (818). 6 BFH, Beschl. v. 10. 01. 2012 – I R 66/09 –, DStR 2012, 949. 7 BVerfG, Urt. v. 27. 06. 1991 – 2 BvR 1493/89 –, BVerfGE 84, 239 (271); BVerfG, Beschl. v. 11. 11. 1998 – 2 BvL 10/95 –, BVerfGE 99, 280 (289). 8 St. Rspr., z. B. BVerfG, Beschl. v. 21. 03. 1957 – 1 BvR 65/54 –, BVerfGE 6, 290 (295); Beschl. v. 25. 03. 1981 – 2 BvR 1258/79 –, BVerfGE 57, 9 (23); Urt. v. 10. 01. 1995 – 1 BvF 1/ 90, 1 BvR 342, 348/90 –, BVerfGE 92, 26 (41 f.); Matthias Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 3 Rn. 74; Meinhard Schröder, Zur Wirkkraft der Grundrechte bei Sachverhalten mit grenzüberschreitenden Elementen, in: von Münch, Staatsrecht – Völkerrecht – Europa5

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Allerdings sagt Art. 1 Abs. 3 GG nichts über den materiellen Umfang der Bindung der Staatsgewalt aus.9 Insoweit empfiehlt es sich im Ausgangspunkt zwischen zwei Faktoren zu differenzieren: Knüpft eine deutsche Rechtsnorm an ein im Ausland ausgeübtes Verhalten an, müssen – gleichsam als Kehrseite der exterritorialen Anknüpfung – die spezifischen rechtlichen und tatsächlichen Bedingungen, unter denen dieses Verhalten stattfindet, berücksichtigt werden.10 Dies gilt auch im Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 1 GG. So kann ein sachlicher Grund, der eine Ungleichbehandlung zu rechtfertigen vermag, auch im Auslandsbezug des Sachverhalts wurzeln. Zu diesen Differenzierungskriterien sind etwa die Förderung deutscher außenwirtschaftlicher Interessen sowie tatsächliche und rechtliche Unterschiede in den weltweit vorgefundenen Lebensbedingungen zu zählen.11 Hinzu kommt allerdings, dass Regelungen von Auslandssachverhalten eine spezifisch völkerrechtliche Komponente immanent ist, die in den zwischenstaatlichen Beziehungen Deutschlands begründet liegt. Hier kann eine von Deutschland eingegangene völkerrechtliche Bindung eine besondere Grundrechtseinschränkung gerade wegen des internationalen Kontexts rechtfertigen.12 Sucht man diese spezifisch völkerrechtlichen Aspekte zu ordnen, lässt sich insb. danach differenzieren, ob Deutschland bei der Normsetzung und beim Gesetzesvollzug von der Zusammenarbeit mit anderen Völkerrechtssubjekten abhängig ist oder aber ohne derartige Bindungen und damit „autonom“ handeln kann und darf. Die völkerrechtliche Legitimation staatlichen Handelns ist dabei eng mit der Territorial- und Personalhoheit verknüpft. Während erstgenannte Staaten dazu berechtigt sind, diejenigen Verhältnisse zu regeln, die einen völkerrechtlich anerkannten Anknüpfungspunkt zum Staatsgebiet aufweisen, meint letztgenannte die Befugnis zur Regelung der rechtlichen Beziehungen zu den Staatsangehörigen.13 Das Bestehen eines derartigen Anknüpfungspunktes berechtigt den Staat indes nicht dazu, ein Rechtsverhältnis unter jedem denkbaren Gesichtspunkt regeln und durchsetzen zu dürfen. Zu unterscheiden ist insoweit vielmehr zwischen der Hoheitsmacht, Rechtsregeln zu erlassen (jurisdiction to prescribe) und der Hoheitsmacht, Rechte durchzusetzen

recht, Berlin u. a. 1981, S. 138; Rainer Hofmann, Grundrechte und grenzüberschreitende Sachverhalte, Berlin u. a. 1994, S. 13 ff.; für das dt. int. Steuerrecht z. B. BFH, Urt. v. 04. 02. 1987 – I R 252/83 –, RIW 1987, 407 (408); Moris Lehner/Christian Waldhoff, in: Kirchhof/ Söhn/Mellinghoff, Einkommensteuergesetz, § 1 Rn. A 184. Die sich aus dem Verhältnis zum Unionsrecht ergebenden Besonderheiten sollen hier außer Betracht bleiben. 9 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 19. 10. 1982 – 1 BvL 34, 55/80 –, BVerfGE 61, 126 (137); Gunther Elbing, Zur Anwendbarkeit der Grundrechte bei Sachverhalten mit Auslandsbezug, Berlin 1992, S. 183 f. 10 Vgl. BVerfGE 92, 26 (41 f.). 11 Vgl z. B. BVerfGE 92, 26 (50 ff.). 12 Vgl. Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 3 Rn. 74; Klaus Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, München 1988, Bd. III/1, S. 1231. 13 Vgl. Bleckmann, Völkerrecht, Baden-Baden 2001, Rn. 445a ff., 473.

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(jurisdiction to enforce).14 Da die unbeschränkte und beschränkte Einkommen- und Körperschaftsteuerpflicht ganz überwiegend an territoriale Bezugspunkte anknüpft,15 handelt der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Ertragsteuerrechts aus eigener Machtvollkommenheit. Zwar betrifft die Rechtsetzung auf Tatbestandsebene auch Lebenssachverhalte, die auf dem Hoheitsgebiet eines anderen Staates verwirklicht werden, doch führt dies – anders als im Fall der Verwaltungsvollstreckung – nicht dazu, dass die Bundesrepublik hierfür in irgendeiner Form des Einverständnisses eines anderen Staates bedürfte. Der Grund hierfür liegt darin, dass sich die Rechtsfolgen des Handelns ausschließlich auf das Inland beziehen.16 Deutschland übt insoweit sein Besteuerungsrecht gleichrangig neben anderen Staaten aus. Bei derartigen unilateralen Regelungen, die in keinem Zusammenhang zu einem völkerrechtlichen Vertrag stehen, besteht daher kein Grund, von einer aufgrund des Auslandsbezugs lediglich eingeschränkten Wirkkraft des allg. Gleichheitssatzes auszugehen. Da die Sachverhaltsermittlung und die Verwirklichung des deutschen Besteuerungsanspruchs im Ausland durch die deutsche Staatsgewalt mit dem Souveränitätsanspruch des Staates, in dessen Territorium die Akte vorgenommen werden sollen, unvereinbar sind, bedarf es hierfür zwingend der Mitwirkung dieses Staates. Was dagegen die Bestimmungen eines Doppelbesteuerungsabkommens (DBA) über die Verteilung des Steuersubstrats anbelangt, so handelt es sich auch hier um gegenseitige völkerrechtliche Verpflichtungen. Im Unterschied zur Amtshilfe ist allerdings zu beachten, dass Deutschland die vertraglich zugesagten Rechtsfolgen – Steuerfreistellung oder -anrechnung – auch unilateral regeln könnte und dies in § 34c Abs. 1 EStG auch getan hat. Es drängt sich daher die Frage auf, ob und inwieweit allein der Umstand, dass sich Deutschland völkerrechtlich zu diesen Methoden der Vermeidung der Doppelbesteuerung verpflichtet hat, überhaupt eine reduzierte Grundrechtsbindung rechtfertigen kann. Durch diese Dreiteilung völkerrechtlicher Implikationen ist die Struktur der weiteren Ausführungen vorgezeichnet. So werden zunächst diejenigen Regelungen in den Blick zu nehmen sein, die nicht auf Völkervertragsrecht beruhen, sondern „autonom“ sind. Dies gilt z. B. für die Bestimmungen über Steueranrechnung und Steuerabzug sowie die Hinzurechnungsbesteuerung. Anschließend wird der Frage nachzugehen sein, was sich an der gleichheitsrechtlichen Bewertung ändert, wenn die zu 14

Vgl. Karl Doehring, Völkerrecht, Heidelberg 1999, Rn. 808. Z. B. Wohnsitz (§ 1 Abs. 1 S. 1 EStG, § 8 AO), Ort der Geschäftsleitung (§ 1 Abs. 1 S. 1 KStG, § 10 AO), Belegenheit der Betriebsstätte (§ 49 Abs. 1 Nr. 2 lit. a EStG, § 12 AO); zur völkerrechtlichen Würdigung Hofmann, Grundrechte, S. 330; Rudolf Weber-Fas, Völkerrecht und Steuerhoheit, RIW 1979, 585 (586); wird zur Bestimmung der „Staatsangehörigkeit“ juristischer Personen auf deren Sitz abgestellt (Doehring, Völkerrecht, Rn. 73), kann die Anknüpfung an den Sitz in § 1 Abs. 1 S. 1 KStG, § 11 AO als Ausfluss der Personalhoheit verstanden werden. 16 Vgl. Lehner/Waldhoff, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 1 Rn. A 184; s. auch Hofmann, Grundrechte, S. 330. 15

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überprüfende Norm völkerrechtlichen Ursprungs ist, es sich bei ihr also um unmittelbar vollzogenes oder transformiertes Völkerrecht handelt. III. Fälle „autonomer“ Rechtssetzung 1. Die Entscheidung für die Welteinkommensbesteuerung und ihre Rechtfertigung Zieht man zunächst die Fälle der soeben beschriebenen autonomen Rechtssetzung in Betracht, so gilt auch hier im Ausgangspunkt die vom BVerfG verwendete Formel, dass Gleiches gleich und Ungleiches im Verhältnis zu seiner Ungleichheit ungleich zu behandeln ist.17 Der Schweizer Jurist Hans Nef hat hierzu zutreffend angemerkt, dass sie vorerst bestechend sei, aber jeden praktischen Wert verliere, sobald man sich darüber klar geworden sei, dass alles überhaupt Vergleichbare gleich und ungleich zugleich sei, sodass man im einzelnen Fall doch wieder nicht wisse, ob nun Gleiches oder Ungleiches zuzuteilen sei.18 Das BVerfG nähert sich diesem Problem, indem es ausführt, gleichbehandelt werden solle nur, was wesentlich gleich ist.19 Was aber ist wesentlich, auf welche Gemeinsamkeiten oder Unterschiede kommt es angesichts der „Unendlichkeit möglicher Vergleichsbeziehungen“20 an?21 Die Antwort hierauf ergibt sich namentlich für das Steuerecht nicht allein aus der Seinswelt. Vielmehr ist ihr eine Wertung inhärent, die in der durch den Gesetzgeber geschaffenen Steuerrechtsordnung zu suchen ist. Es sind daher vor allem die von ihm getroffenen grundlegenden Belastungsentscheidungen, welche die spezifischen Vergleichskriterien und Bezugspunkte liefern, an denen sich die konkrete Anwendung des Gleichheitssatzes zu orientieren hat.22 In räumlicher Hinsicht ist dies die Differenzierung zwischen der an einen Inlandsbezug des Steuerpflichtigen anknüpfenden und das Welteinkommen umfassenden unbeschränkten Steuerpflicht einerseits23 und der an den Inlandsbezug des Steuerobjekts anknüpfenden beschränkten Steuerpflicht andererseits.24 17

Adolf Lasson, System der Rechtsphilosophie, Berlin und Leipzig 1882, S. 223. Hans Nef, Gleichheit und Gerechtigkeit, Zürich 1941, S. 105. 19 Vgl. nur BVerfG, Urt. v. 23. 10. 1951 – 2 BvG 1/51 –, BVerfGE 1, 14 (52); Beschl. v. 09. 08. 1978 – 2 BvR 831/76 –, BVerfGE 49, 148 (165); vgl. auch Lasson, Rechtsphilosophie, S. 224. 20 Christian Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 6. Aufl. München 2010, Art. 3 Abs. 1 Rn. 14. 21 Zu dieser Frage aus nationaler Sicht auch Heike Jochum, Der Maßstab der Sachgerechtigkeit, in dieser FS, S. 191 (196 ff.) 22 Vgl. Karl Heinrich Friauf, Steuergleichheit, Systemgerechtigkeit und Dispositionssicherheit als Prämissen einer rechtsstaatlichen Einkommensbesteuerung, StuW 1985, 308 (315); vgl. auch BVerfGE 49, 148 (165). 23 § 1 Abs. 1 EStG bzw. § 1, § 8 Abs. 1 S. 1 KStG. 24 § 49 EStG i.V.m. § 1 Abs. 4 EStG bzw. § 2, § 8 Abs. 1 S. 1 KStG. 18

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Freilich liegt bereits dieser Grundentscheidung eine Ungleichbehandlung zugrunde, die letztlich auf äquivalenztheoretischen Erwägungen fußt. So findet die beschränkte Steuerpflicht ihre Rechtfertigung in einer auf das Steuerobjekt bezogenen Generaläquivalenz, denn die Steuer ist zwar keine konkrete, aber doch allg. Gegenleistung für die erwerbsbezogene Nutzung öffentlicher Güter.25 Die äquivalenztheoretische Begründung des Welteinkommensprinzips setzt dagegen primär am Steuersubjekt an. Neben der Erwägung, dass sich aus der Inanspruchnahme der deutschen Rechts- und Sozialordnung eine Sozialpflichtigkeit auch im Hinblick auf das im Ausland erwirtschaftete Einkommen ergibt,26 steht der Gedanke, dass der Einzelne staatliche Leistungen im Privatbereich größtenteils im Ansässigkeitsstaat nutzt27 und dieser typischerweise personenbezogene Aufwendungen steuerlich berücksichtigt28. 2. Steueranrechnung und Steuerfreistellung a) Regel-Ausnahme-Verhältnis Was die Methoden zur Vermeidung der Doppelbesteuerung anbelangt, so knüpft allein die Steueranrechnung an die weltweite Bemessungsgrundlage an, während die Steuerfreistellung von diesem Grundsatz abweicht und daher der Rechtfertigung bedarf. Unter dem Gesichtspunkt der Leistungsfähigkeit liegt der Unterschied also darin, dass bei der Freistellung nicht auf die Gesamt-, sondern auf eine Teilleistungsfähigkeit abgestellt wird. Die Steueranrechnung ist somit Regelmethode, die hinsichtlich der Bemessungsgrundlage eine Gleichbehandlung mit anderen unbeschränkt Steuerpflichtigen verwirklicht. Ungleichbehandlungen entstehen dort, wo ggü. einem Inlandssachverhalt spezifische Merkmale des Auslandsbezugs berücksichtigt werden. Eine besonders augenfällige Ungleichbehandlung ist dabei die Differenzierung zwischen Steueranrechnung und Steuerabzug,29 wobei die Steueranrechnung gem. § 34c Abs. 1 Satz 1 EStG nur für ausländische Einkünfte i.S.d. § 34d EStG zugelassen wird. Die Anrechnung ausländischer Steuern findet ihren 25 Paul Kirchhof, Empfiehlt es sich, das Einkommensteuerrecht zur Beseitigung von Ungleichbehandlungen und zur Vereinfachung neu zu ordnen?, Gutachten F für den 57. Deutschen Juristentag, München 1988, S. 16 ff.; ders., in: Isensee/Kirchhof, HbStR Bd. IV, § 88 Rn. 116; so auch Karl Heinrich Friauf, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Gesetzgebung über die Steuern vom Einkommen und vom Ertrag, in: ders., Steuerrecht und Verfassungsrecht (DStJG Bd. 12), Köln 1989, S. 6. 26 Friauf, DStJG Bd. 12, S. 7. 27 Vgl. BFH, Beschl. v. 14. 04. 1993 – I R 29/92 –, BFHE 170, 454 (457 f.); Helmut Debatin, Konzeptionen zur Steuerpflicht, FR 1969, 277 (278 f.); Horst W. Endriss, Wohnsitzoder Ursprungslandprinzip, Köln 1967, S. 65 f.; differenzierend Klaus Vogel, Die Besteuerung von Auslandseinkünften, in: ders., Grundfragen des Internationalen Steuerrechts, Köln 1985, S. 27; dem zustimmend Michael Elicker, Die Zukunft des deutschen internationalen Steuerrechts, 2006, S. 55; vgl. hierzu sowie zur Rechtfertigung der Körperschaftsteuer Lampert, Doppelbesteuerungsrecht, S. 246 ff. m.w.N. 28 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 09. 02. 2010 – 2 BvR 1178/07 –, NJW 2010, 2419 (2420). 29 § 34c Abs. 1 u. 2 EStG.

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Grund darin, dass der Zugriff auf exterritorial erwirtschaftete Einkünfte notwendigerweise mit dem Besteuerungsanspruch desjenigen Staates kollidieren muss, in dessen Territorium sich die Einkunftsquelle befindet. Nur soweit es sich um derartige ausländische Einkünfte i.S.d. § 34d EStG handelt, ist die Anerkennung der im Ausland gezahlten Steuer zu Lasten des dt. Fiskus geboten. Besteuert der andere Staat dagegen exzessiv, also aus Sicht Deutschlands ohne hinreichenden Anknüpfungspunkt, muss eine Anrechnung ausscheiden. Da dem in Deutschland unbeschränkt Steuerpflichtigen aber gleichwohl durch die Zahlung der ausländischen Steuern Werbungskosten oder Betriebsausgaben entstehen, ist es richtig, gem. § 34c Abs. 3 EStG ihren Abzug zuzulassen.30 Mit der Steuerfreistellung verfolgt der Gesetzgeber primär das Ziel, die spezifisch im Ausland vorgefundenen Erwerbsbedingungen bei der Besteuerung zu berücksichtigen: Derjenige, der im Ausland den dort geltenden Wettbewerbsbedingungen unterliegt, soll auch zu den dort geltenden steuerlichen Bedingungen am Markt konkurrieren können, so dass insoweit Wettbewerbsneutralität besteht.31 Dies setzt voraus, dass der Steuerpflichtige bei seiner erwerbswirtschaftlichen Betätigung dem ausländischen Wirtschaftsraum intensiv ausgesetzt ist.32 Eine Freistellung wird dagegen typischerweise nicht gewährt, wenn es an einer hinreichend engen Eingliederung in die ausländische Wirtschaftsordnung fehlt, wie es bei den naheliegenderweise als „passiv“ bezeichneten Einkünften angenommen wird.33 b) Rückausnahmen zur Freistellung Führt man den Gedanken „Grundsatz der Welteinkommensbesteuerung“ – „Steueranrechnung als Regelmethode und Steuerfreistellung als Ausnahme“ fort, so geraten auf der nachfolgenden Ebene Normen in den Blick, die eine Rückausnahme von der Freistellung anordnen, also einen Wechsel zur Regelmethode der Anrechnung vorsehen. Zu diesen „switch-over“-Klauseln zählen die erwähnten Abs. 8 und 9 des § 50d EStG. Lässt man zunächst die völkervertraglichen Besonderheiten, die sich aus einem „treaty override“ ergeben können, außer Betracht, so ist eine Rückausnahme nur dann gerechtfertigt, wenn ein im Regelfall bestehender Grund für die Steuerfreistellung ausnahmsweise nicht gegeben ist. Dies ist die eigentliche Funkti30

Vgl. Lampert, Doppelbesteuerungsrecht, S. 266 ff. Mitunter wird als Grund der Freistellung auch die Verwaltungsvereinfachung genannt (z. B. Horst W. Endriss, Wohnsitz- oder Ursprungslandprinzip, Köln 1967, S. 103; Otto Jacobs u. a., Internationale Unternehmensbesteuerung, 7. Aufl. München 2011, S. 21 f.), was nur für die Körperschaftsteuer gelten kann, weil es dort keinen Progressionsvorbehalt gibt. 32 Fälle einer derartigen Verflechtung in den Verteilungsartikeln der DBA, welche die Freistellung an die Belegenheit eines Grundstücks oder einer Betriebsstätte sowie die Ausübung persönlicher Dienste knüpfen (Art. 6 Abs. 1; 7 Abs. 1 S. 2; 13 Abs. 1 u. 2; 15 Abs. 1, jeweils i.V.m. Art 23 A Abs. 1 OECD-MA). 33 Vgl. Art.10 – 12 OECD-MA; zur Diff. zwischen Portfolio- und Direktinvestitionen vgl. Otto Gandenberger, Der Einfluß der Einkommen- und Körperschaftsteuer auf die internationalen Wirtschaftsströme, in: Vogel (Fußn. 27), S. 41 ff. 31

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on der sog. Aktivitätsklauseln. Diese ordnen trotz einer an und für sich für die Art der wirtschaftlichen Betätigung vorgesehenen Freistellung ausnahmsweise die Steueranrechnung an, und zwar insb. in solchen Fällen, in denen es aus Sicht des Gesetzgebers an einem hinreichend engen Auslandsbezug fehlt. Diesem Zweck dienen allerdings weder § 50d Abs. 8 noch § 50d Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 EStG, die lediglich auf die Vermeidung einer abkommensrechtlich begründeten doppelten Nichtbesteuerung abzielen. In den Blick genommen werden soll hier zunächst § 50d Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 EStG, der später noch eine Rolle bei der Berücksichtigung spezifisch völkerrechtlicher Gesichtspunkte spielen wird. Diese Regelung ordnet einen Wechsel von der Freistellungs- zur Anrechnungsmethode an, wenn eine in Deutschland unbeschränkt steuerpflichtige Person im Ausland mit ihren dort erzielten Einkünften nicht der beschränkten Steuerpflicht unterliegt. In dem Fall, der dem eingangs erwähnten Vorlagebeschluss des ersten Senats zugrunde lag, wurden die Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, die ein in Deutschland ansässiger Pilot in Irland erzielte, dort nicht der Besteuerung unterworfen. Aus gleichheitsrechtlicher Sicht ist hierzu festzustellen, dass die doppelte Nichtbesteuerung Konsequenz der Herstellung von Wettbewerbsneutralität im Quellenstaat ist: Zielt die Freistellung darauf ab, es dem Steuerpflichtigen zu ermöglichen, im Ausland unter den dort geltenden Bedingungen tätig zu sein, schließt dies auch Fälle ein, in denen im Ausland keine Steuern erhoben werden oder aber ein Steueranspruch tatsächlich nicht vollzogen wird. Das Bestehen einer doppelten Nichtbesteuerung führt daher nicht per se dazu, dass die Steuerfreistellung ungerechtfertigt ist und daher von Verfassungs wegen korrigiert werden muss.34 3. Die Prüfungsdichte am Beispiel der Hinzurechnungsbesteuerung Zum Abschluss der Betrachtung der Wirkkraft des allg. Gleichheitssatzes bei autonomer Rechtssetzung richtet sich der Blick auf die spezifischen, im Auslandsbezug wurzelnden Rechtfertigungsgründe und die Intensität der Überprüfung derartiger Ungleichbehandlungen. In Anlehnung an die Rspr. des EuGH zu den zwingenden Gründen des Allgemeininteresses35 lassen sich zwei grundlegende Typen von Rechtfertigungsgründen unterscheiden, nämlich die Gefahr der Steuerflucht (auch bezeichnet als „Abwehr missbräuchlicher Gestaltungen“ oder „Gefahr der Steuerum-

34 Dies schließt es indes nicht aus, dass der Gesetzgeber aus sachlichen Gründen von der Freistellung abweichen kann, was indes im Hinblick auf den typischerweise darin liegenden „treaty override“ verfassungsrechtlich bedenklich ist. 35 Zurückgehend auf die Entscheidung in der Rs. Cassis-de-Dijon v. 20. 02. 1979, Rs. C120/78, Slg. 1979, 649; so z. B. auch EuGH, Urt. v. 21. 09. 1999, Rs. C-307/97, Saint-Gobain ZN, Slg. 1999 I-6161, Rn. 51; bisweilen ist auch von zwingenden Gründen des öff. Interesses die Rede, so z. B. EuGH, Urt. v. 02. 05. 2006, Rs. C-196/04, Cadbury Schweppes, Slg. 2006 I7995, Rn. 47; Urt. v. 21. 11. 2002, Rs. C-436/00, X & Y, Slg. 2002 I-10829, Rn. 49.

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gehung“)36 und die aus dem Rechtfertigungsgrund der Kohärenz entwickelte Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse. Da auf den zuletzt genannten Rechtfertigungsgrund noch im Zusammenhang mit der Überprüfung abkommensrechtlicher Bestimmungen einzugehen sein wird, widmen sich die folgenden Ausführungen – nur kursorisch – der Bekämpfung der Steuerflucht und zwar am Beispiel der Hinzurechnungsbesteuerung. Da von dieser nur im Ausland ansässige Tochtergesellschaften erfasst werden, kommt es zu einer Ungleichbehandlung zwischen in- und ausländischen Tochtergesellschaften, die von der Art der durch sie erzielten Einkünfte sowie deren Besteuerung im Ausland abhängt. Als der EuGH zur Gemeinschaftsrechtskonformität der brit. Hinzurechnungsbesteuerung in der Rs. Cadbury Schweppes entschied, tat er dies nach einem heute geläufigen Muster, indem er die Ungleichbehandlung von in- und ausländischen Sachverhalten als Beschränkung der Niederlassungsfreiheit erachtete, den Grund der Differenzierung zwar grds. billigte, ihre konkrete Ausgestaltung aber als unverhältnismäßig ansah.37 Dabei verwies er darauf, dass das Sekundärrecht Instrumente der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Steuersachen bereithalte, die es dem nationalen Gesetzgeber verbieten, niedrig besteuerte Auslandsgesellschaften ungeachtet ihrer konkreten Geschäftstätigkeit der Hinzurechnungsbesteuerung zu unterwerfen.38 Bekanntlich hat der deutsche Gesetzgeber es daraufhin durch § 8 Abs. 2 AStG dem Steuerpflichtigen erlaubt, den Nachweis zu führen, dass die Gesellschaft einer tatsächlichen wirtschaftlichen Tätigkeit in diesem Staat nachgeht, wenn flankierende Instrumente zur Sachverhaltsaufklärung existieren.39 Hätte dagegen das BVerfG am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG über die §§ 7 ff. AStG entschieden, so ist anzunehmen, dass es die Vermeidung der Steuerflucht als legitimes Ziel und damit taugliches Differenzierungskriterium angesehen hätte. Hätte das BVerfG auch eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchgeführt, hätte es allerdings die Frage aufwerfen müssen, ob nicht auch bei Drittstaatensachverhalten hinreichende zwischenstaatliche Instrumente der Sachverhaltsaufklärung existieren, die einen differenzierten Ansatz erfordern. Zwei Gründe nähren allerdings Zweifel daran, dass das BVerfG diesen Weg eingeschlagen hätte. Zum einen fehlt es zwischenstaatlichen Regelungen über den Informationsaustausch in Steuersachen40 an der Einordnung in ein übergeordnetes institutionelles Gefüge, so dass – anders als auf Unionsebene durch EuGH und Kommission – kein Instrumentarium existiert, um die Durchführung der Amtshilfe zumindest theoretisch zu gewährleis36 Vgl. z. B. EuGH, Urt. v. 13. 12. 2005, Rs. C-446/03, Marks & Spencer, Slg. 2005 I10837, Rn. 49; Urt. v. 16. 07. 1998, Rs. C-264/96, ICI, Slg. 1998 I-4695, Rn. 27; Urt. v. 08. 03. 2001, Rs. C-397/98 und 410/98, Metallgesellschaft/Hoechst, Slg. 2001 I-1727, Rn. 49 ff. 37 EuGH, Rs. C-196/04, Rn. 42 ff. 38 EuGH, Rs. C-196/04, Rn. 71. 39 Art. 24 Nr. 3 Buchst. b des Gesetzes v. 20. 12. 2007, BGBl 2007 I, 3150. 40 Vgl. die Art. 26 OECD-MA sowie dem OECD-MA über den Informationsaustausch nachgebildeten Bestimmungen.

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ten.41 Zum anderen wäre zu bedenken, dass selbst bei Durchführung einer „strengen“ Verhältnismäßigkeitsprüfung nach Maßgabe der „Neuen Formel“ zwei wesentliche Parameter dieser Prüfung nur schwach ausgeprägt sind. So weisen die Differenzierungen typischerweise weder eine Nähe zu den personenbezogenen Merkmalen des Art. 3 Abs. 3 GG auf,42 noch wirken sie sich besonders stark auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten aus.43 Und gerade hierin liegt ein maßgeblicher Unterschied zu den Grundfreiheiten: Während diese nämlich gleichsam den Wesenskern des Unionsrechts bilden, genießen grenzüberschreitende wirtschaftliche Aktivitäten unter dem Grundgesetz keinen besonderen Schutz. IV. Besonderheiten bei völkerrechtlichen Verträgen 1. Zur Wirkkraft des allg. Gleichheitssatzes Was änderte sich nun ggü. den zuvor44 erörterten Fällen an der verfassungsrechtlichen Überprüfung von „switch-over“-Klauseln, wenn Deutschland die Steuerfreistellung – wie es ja zumeist der Fall ist – abkommensrechtlich vereinbart hat? Da der Abschluss eines völkerrechtlichen Vertrages nicht anders als bei zivilrechtlichen Verträgen stets Ausgleich widerstreitender Interessen ist, trägt ein DBA stets Züge eines Kompromisses. Dennoch ist nicht zu verkennen, dass die Motive der Steuerfreistellung sowohl aus Perspektive des Staat-Bürger-Verhältnisses als auch der zwischenstaatlichen Aufteilung des Steuersubstrats im Kern übereinstimmen: Ist nämlich der Erwerbstätige den Bedingungen im Ausland intensiv ausgesetzt, führt dies dazu, dass sich die Wertschöpfung (fast) ausschließlich unter Nutzung der dortigen Infrastruktur vollzieht. Die zwischenstaatlich vereinbarte Steuerfreistellung beruht somit auch auf dem Gedanken, dass der andere Vertragsstaat aus Sicht der Bundesrepublik unter Äquivalenzgesichtspunkten ein „besseres Besteuerungsrecht“ hat als sie selbst. Allerdings folgt nicht jede abkommensrechtliche Bestimmung derartigen offensichtlich sachbezogenen Erwägungen. Und selbst die grundlegende äquivalenztheoretische Rechtfertigung der Freistellung könnte man anzweifeln, denn auch die Anrechnung ausländischer Steuern, die zu Lasten des deutschen Steueraufkommens geht, beruht auf der Anerkennung eines besseren Besteuerungsrechts des ausländischen Staates. Der Freistellung bedürfte es hierzu also streng ge41

Zwingend ist diese Erwägung allerdings nicht, wenn man der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes entnimmt, dass grds. davon auszugehen ist, dass der andere Vertragsstaat seine Verpflichtungen erfüllt. 42 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 07. 10. 1980 – 1 BvL 50, 89/79, 1 BvR 240/79 –, BVerfGE 55, 72 (89); Beschl. v. 26. 01. 1993 – 1 BvL 38, 40, 43/92 –, BVerfGE 88, 87 (96); BVerfGE 92, 26 (51). 43 BVerfG, Beschl. v. 16. 03. 1982 – 1 BvR 938/81 –, BVerfGE 60, 123 (134); Beschl. v. 30. 05. 1990 – 1 BvL 2/83, u. a. –, BVerfGE 82, 126 (146); 88, 87 (96); es dürfte sich vielmehr (nur) um eine verhaltensbezogene Ungleichbehandlung handeln, vgl. hierzu BVerfGE 55, 72 (89). 44 S. III. 1.

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nommen gar nicht. Würde man die Abkommen, soweit sie unmittelbare Auswirkungen auf die Rechtsstellung des Einzelnen haben, allerdings einer umfassenden Überprüfung am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG unterwerfen, beeinträchtigte dies die außenpolitische Handlungsfreiheit Deutschlands erheblich. Die Auflösung des Konflikts zwischen Vertragscharakter und dem Schutz der Grundrechte der Rechtsunterworfenen ist kein Spezifikum des Steuerrechts. Die Fragestellung hat daher in der Rspr. des BVerfG eine lange außersteuerrechtliche Tradition. Dabei ist zu konstatieren, dass es einer völkervertraglich begründeten Abschwächung der Geltung der Grundrechte außerhalb des Bereichs des „hochpolitischen“ zunächst mit Zurückhaltung begegnete.45 In jüngerer Zeit hat das BVerfG eine Einschränkung der Grundrechtsbindung im Zusammenhang mit der EMRK angenommen46 und die sich aus der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes ergebende Pflicht, das Völkerrecht zu respektieren, betont.47 Inwieweit sich hieraus Schlüsse für die Wirkkraft der Grundrechte im Hinblick auf DBA ziehen lassen, ist bislang nicht geklärt.48 Die Entscheidung des BVerfG auf die Vorlagen des ersten Senats des BFH wird hier hoffentlich Klarheit bringen. Unabhängig davon sind generell zwei grundlegende Szenarien denkbar: Einerseits ist zu erwägen, dass sich der Staat verfassungsrechtlichen Bindungen nicht entledigen darf, indem er einen völkerrechtlichen Vertrag schließt.49 Andererseits kann es die in ihren Konturen freilich nicht ganz klare „Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes“ gebieten, die Vertragstreue als verfassungsrechtlich zu beachtenden Belang anzusehen. Gelangte man i.R. der Auflösung einer Kollision zwischen Völkerrechtsfreundlichkeit und Grundrechten zu einer bloß eingeschränkten Wirkkraft des allg. Gleichheitssatzes, so dürfte aufgrund des Art. 79 Abs. 3 GG der Wesensgehalt der Grundrechte i.S.d. Art. 19 Abs. 2 GG nicht unterschritten werden.50 Hieraus ist abzuleiten, dass eine innerstaatlich wirkende völkervertraglich vereinbarte Regelung jdf. nicht evident unsachlich sein darf. Nach beiden Szenarien käme es freilich nur dann zu Unterschieden im Schutzniveau, wenn das BVerfG Art. 3 Abs. 1 GG bei 45

Vgl. z. B. Schröder, Zur Wirkkraft der Grundrechte, S. 144 ff.; Hofmann, Grundrechte, S. 31 ff. 46 So hat es in der „Görgülü“-Entscheidung festgestellt, dass es nicht dem Ziel der Völkerrechtsfreundlichkeit widerspreche, wenn der Gesetzgeber ausnahmsweise Völkervertragsrecht nicht beachtet, sofern nur auf diese Weise ein Verstoß gegen tragende Grundsätze der Verfassung abzuwenden ist“ (BVerfG, Beschl. v. 14. 10. 2004 – 2 BvR 1481/04 –, BVerfGE 111, 307 (319)); zur Auslegung dieser Entscheidung vgl. auch Lampert, Doppelbesteuerungsrecht, S. 222 ff., insb. Fußn. 1165. 47 BVerfG, Beschl. v. 26. 10. 2004 – 2 BvR 955/00, 1038/01 –, BVerfGE 112, 1 (26 ff.); Urt. v. 04. 05. 2011 – 2 BvR 2365/09 u. a. –, BVerfGE 128, 326 (365 ff.). 48 Bejahend z. B. BFH IStR 2014, 812 (816); BFH DStR 2012, 949 (951 f.). 49 Vgl. Lampert, Doppelbesteuerungsrecht, S. 232. 50 Vgl. BVerfG, Urt. v. 22. 03. 1983 – 2 BvR 457/78 –, BVerfGE 63, 343 (379); Hofmann, Grundrechte, S. 64; auf ein solches Verständnis deutet auch die Aussage des BVerfG hin, nach der im Auslieferungsverkehr das Willkürverbot als äußerste Grenze zu beachten ist (BVerfG, Urt. v. 06. 07. 2005 – 2 BvR 2259/04 –, BVerfGE 113, 154 [166]).

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grenzüberschreitenden Sachverhalten grds. eine ggü. dem Willkürverbot striktere Bindung des Gesetzgebers entnehmen würde. Für die praktisch bedeutsame Wahl der Methode zur Vermeidung der Doppelbesteuerung ist dies allerdings kaum anzunehmen, so dass der Gesetzgeber letztlich in beiden Fällen bei der Ausgestaltung eines Abkommens weitgehend freie Hand hinsichtlich der Vereinbarung von Steuerfreistellungs- und Steueranrechnungsmethode haben dürfte.51 2. Folgerungen für die zwischenstaatliche Aufteilung des Steuersubstrats a) Auswirkungen auf die Wahl der Vergleichsgruppe Unter der Prämisse, dass die Wahl der Methode zur Vermeidung einer Doppelbesteuerung richterlicher Überprüfung i. d. R. entzogen ist, liegt es nahe, die Wahl der Vergleichsgruppe entsprechend anzupassen und nicht am Welteinkommensprinzip anzusetzen, sondern an der Entscheidung für die Freistellung der Einkünfte. Zur Illustration soll hier der Fall dienen, der dem Vorlagebeschluss des ersten Senats des BFH vom 10. Januar 201252 zugrunde lag: Ein in Deutschland unbeschränkt steuerpflichtiger Arbeitnehmer – hier X genannt – erzielte in der Türkei Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, die nach dem DBA Deutschland-Türkei53 in Deutschland steuerfrei zu belassen sind. Die Steuerbefreiung wird gem. § 50d Abs. 8 Satz 1 EStG allerdings nur gewährt, wenn der Steuerpflichtige einen Nachweis über den Verzicht auf die Besteuerung oder über die Steuerentrichtung für den auf die Tätigkeit in der Türkei entfallenden Arbeitslohn erbrachte. Der Senat konzentrierte sich auf den Vergleich zwischen dem Arbeitnehmer und einem – hier A genannten – in Deutschland unbeschränkt Steuerpflichtigen, der in der Türkei Einkünfte erzielte, die ebenfalls nach dem DBA freigestellt sind, aber nicht § 50d Abs. 8 Satz 1 EStG unterfallen (wie z. B. Einkünfte aus einer dort belegenen Betriebsstätte). Beide Steuerpflichtigen sind also gleich hinsichtlich der Ansässigkeit, des Ortes der Einkünfteerzielung sowie der Methode zur Vermeidung der Doppelbesteuerung. Die durch § 50d Abs. 8 Satz 1 EStG ausgelöste Ungleichbehandlung erachtete der Senat als nicht gerechtfertigt und verwies zur Begründung insb. darauf, dass beide Arten der Einkünfteerzielung geeignet seien, eine „Keinmal-

51 Auf dieser Erwägung fußt auch die Rspr. des EuGH, denn liegt es in der Gestaltungsfreiheit des Steuergesetzgebers, auf dem Vertragswege eine Freistellung zu vereinbaren, liegt darin nichts anderes als eine „Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse“. 52 BFH DStR 2012, 949. 53 Art. 23 Abs. 1 lit. a S. 1 i.V.m. Art. 15 Abs. 1 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen vom 16. 04. 1985 (BGBl II 1989, 867) i.V.m. dem dazu ergangenen Zustimmungsgesetz vom 27. 11. 1989 (BGBl II 1989, 866).

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besteuerung“ nach sich zu ziehen, falls ein in Deutschland unbeschränkt Steuerpflichtiger seine Einkünfte im anderen Vertragsstaat nicht pflichtgemäß erkläre.54 Ausgehend von der Entscheidung des Gesetzgebers für die Welteinkommensbesteuerung wäre es daneben ebenso denkbar, den Arbeitnehmer X mit einer in Deutschland unbeschränkt steuerpflichtigen Person B zu vergleichen, die Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit im Inland bezieht.55 Beide wären also gleich hinsichtlich der Ansässigkeit und der Art der Einkünfte sowie – bei Anwendung des § 50d Abs. 8 Satz 1 EStG – hinsichtlich des Belastungserfolgs. Es stellte sich dann die Frage, ob zwischen ihnen dennoch ein derart gewichtiges Unterscheidungsmerkmal besteht, dass sie für Zwecke der Besteuerung als wesentlich ungleich anzusehen sind. Anknüpfend an die vorherigen Aussagen ist dies zu bejahen, denn der wesentliche Unterschied zwischen X und B liegt darin, dass die Entscheidung des Gesetzgebers für die Freistellung der Einkünfte zu berücksichtigen ist. Die Erwägung, dass die Sicherstellung der Einmalbesteuerung eine Rückausnahme erfordern könnte, trägt hier m. E. nicht, denn die abkommensrechtliche Freistellung ist sachlich begründet. Zu demselben Ergebnis gelangte auch der erste Senat, wenngleich unter anderer Akzentuierung. So verwarf er ein Abstellen auf diese Vergleichsgruppe, da ausschließlich im Inland tätige Steuerpflichtige in einem anderen Regelungszusammenhang agierten.56 Damit hält er – in der Diktion des BVerfG – beide Gruppen wegen des unterschiedlichen Regelungszusammenhangs für wesentlich verschieden, so dass eine Differenzierung zwischen ihnen sachlich gerechtfertigt ist. Unabhängig von der Wahl der Vergleichsgruppe kommt es somit entscheidend darauf an, ob die Freistellung sachlich gerechtfertigt ist. b) Fälle der Sachwidrigkeit der Freistellung Gestattet man dem Gesetzgeber bei der Wahl der Methode zur Vermeidung der Doppelbesteuerung einen weitgehenden Gestaltungsspielraum, so drängt sich die Frage auf, ob es überhaupt Fälle gibt, in denen eine Steuerfreistellung als evident unsachlich anzusehen ist – mit der Folge, dass eine Rückausnahme, die die Anwendung der Anrechnungsmethode vorsieht, sogar verfassungsrechtlich geboten wäre. War dies in den von § 50d Abs. 8 Satz 1 und Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 EStG erfassten Fällen in Übereinstimmung mit dem ersten Senat des BFH zu verneinen, gerät nun § 50d Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 EStG in den Blick. Dieser soll, wie seine Stellung im Gefüge des § 50d EStG vermuten lässt, ebenfalls Doppelfreistellungen vermeiden, und zwar in Fällen, in denen der andere Staat die Bestimmungen des Abkommens so anwendet, dass die Einkünfte dort von der Besteuerung auszunehmen sind. Die doppelte Freistellung beruht also nicht auf einer Steuerbefreiung nach nationalem Recht des 54

BFH DStR 2012, 949 (954 f.). Ausführlich hierzu Lampert, Die Wahl der zutreffenden Vergleichsgruppe bei der Anwendung des allgemeinen Gleichheitssatzes auf grenzüberschreitende Steuersachverhalte, NVwZ 2013, 195. 56 BFH DStR 2012, 949 (953). 55

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anderen Vertragsstaates, sondern auf einer divergierenden Abkommensanwendung. Zielgerichtete Freistellungen nach dem innerstaatlichen Recht des anderen Vertragsstaats, etwa zur Schaffung von Investitionsanreizen, erfasst § 50d Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 EStG nach vorzugswürdiger Auffassung dagegen nicht.57 Die Begründung des Reg.-Entwurfs zum JStG 2007 liefert für eine derartige Konstellation ein anschauliches Beispiel: Veräußert eine in Deutschland unbeschränkt steuerpflichtige Person ihre Beteiligung an einem ausländischen Rechtsgebilde, das nach einem Typenvergleich als Mitunternehmerschaft anzusehen ist, liegt darin abkommensrechtlich aus Sicht des dt. Rechtsanwenders i. d. R. eine Veräußerung unbeweglichen und/oder beweglichen Betriebsvermögens einer Betriebsstätte.58 Etwaige Veräußerungsgewinne sind in Deutschland daher entsprechend Art. 13 Abs. 1 u. 2 i.V.m. Art. 23 A Abs. 1 OECD-MA steuerfrei zu stellen. Erachtet dagegen der andere Vertragsstaat den Vorgang als Veräußerung eines Anteils an einer Kapitalgesellschaft, weil er das Rechtsgebilde als Rechts- und Steuersubjekt ansieht, stellt er die Veräußerung entsprechend Art. 13 Abs. 5 OECD-MA ebenfalls steuerfrei.59 Da die Voraussetzungen des § 50d Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 EStG damit erfüllt sind, kommt lediglich eine Steueranrechnung in Betracht, die aufgrund der vollständigen Steuerbefreiung im anderen Vertragsstaat leer läuft. Würdigt man diese Norm unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung, so ist zu konstatieren, dass sie – ebenso wie Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 – eine Gleichbehandlung mit einem in Deutschland unbeschränkt Steuerpflichtigen, der inländische Einkünfte erzielt, herbeiführt. Zugleich weicht sie damit aber von einem DBA, das seinem Wortlaut nach eine Freistellung in Deutschland vorsieht, ab. Aus deutscher Sicht ist die Freistellung allerdings gerechtfertigt, denn die Veräußerung der Anteile ist der letzte Akt der Einkommenserzielung durch die ausl. Betriebsstätte. Da der andere Staat hierin allerdings kein unternehmerisches Engagement, sondern eine reine Kapitalbeteiligung sieht, fehlt es aus dessen Sicht an einer hinreichend intensiven Marktteilnahme zwar nicht des Rechtsgebildes, wohl aber des in Deutschland unbeschränkt Steuerpflichtigen. Aus diesem Grund erkennt er auch an, dass er kein „besseres Besteuerungsrecht“ ggü. Deutschland als dessen Ansässigkeitsstaat hat. Die zwei maßgeblichen Motive der Freistellung – Wettbewerbsneutralität und Verteilung des Steueraufkommens nach äquivalenztheoretischen Erwägungen – liegen damit zwar aus Sicht des auf die ausländische Betriebsstätte abstellenden deutschen Rechtsanwenders vor, nicht aber aus Perspektive des anderen Vertragsstaates. Dessen Sicht der Dinge ist hier aber beachtlich, denn soll die Freistellung die Teilnahme im Ausland zu den dort geltenden Bedingungen ermöglichen, kann es 57 Jens Schönfeld, in: Flick/Wassermeyer/Baumhoff, Außensteuerrecht, § 50d EStG Rn. 71; Siegfried Grotherr, Zum Anwendungsbereich der unilateralen Rückfallklausel gemäß § 50d Abs. 9 EStG, IStR 2007, 265 (266); Dietmar Gosch, in: Kirchhof, EStG, 13. Aufl. Köln 2014, § 50d Rn. 41b. 58 Vgl. Harald Schaumburg, Internationales Steuerrecht, 3. Aufl. Köln 2011, Rn. 16.388. 59 BT-Drs. 16/2712, S. 61.

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schlechterdings nicht darauf ankommen, ob der Steuerpflichtige den Bedingungen im Ausland intensiv ausgesetzt wäre, wenn der ausländische Staat ebenso wie Deutschland dem Transparenzprinzip folgte. Erachtet der andere Staat die dort erzielten Einkünfte aber als passiv, so fällt es schwer, einen sachlichen Grund für die Freistellung zu erkennen. Lässt sich diese aber nicht rechtfertigen, so diente § 50d Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 EStG der Wiederherstellung der verfassungsrechtlich gebotenen Gleichbehandlung mit einem Steuerpflichtigen, der Einkünfte aus der Veräußerung der Beteiligung an einer inländischen Mitunternehmerschaft gem. § 16 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG erzielt. Ein treaty override bestünde dann nicht, weil das Zustimmungsgesetz insoweit ohnehin nicht angewendet werden dürfte. All dies setzte allerdings voraus, dass ein DBA (bzw. das Zustimmungsgesetz) nur in dem Sinne ausgelegt werden kann, dass Deutschland auch bei einem derartigen Qualifikationskonflikt freistellen muss. Dies allerdings ist angesichts des Verzichts auf das Besteuerungsrecht im anderen Vertragsstaat zweifelhaft. Verneinte man eine völkerrechtliche Verpflichtung zur Freistellung, wäre § 50d Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 EStG ebenfalls nicht als „treaty override“ anzusehen.60 V. Steuervollzug 1. Zurechenbarkeit eines Vollzugsdefizits? Vor gut 25 Jahren hat das BVerfG im „Zinsurteil“ ausgeführt, Art. 3 Abs. 1 GG verbiete eine Regelung der Steuererhebung, welche die Gleichheit des Belastungserfolgs prinzipiell verfehle, woraus es folgerte, dass ein materielles Steuergesetz in ein normatives Umfeld eingebettet sein muss, welches die Gleichheit der Belastung auch hinsichtlich des tatsächlichen Erfolges prinzipiell gewährleistet.61 Dies sei nicht gegeben, wenn eine Steuerbelastung nahezu allein auf der Erklärungsbereitschaft des Steuerpflichtigen beruhe, weil die Erhebungsregelungen Kontrollen der Steuererklärungen weitgehend ausschlössen.62 Dies zugrunde gelegt drängt sich die Erwägung auf, ob nicht die Besteuerung insb. passiver im Ausland erzielter Einkünfte verfassungswidrig ist, soweit es an effektiven Instrumenten zur Verifikation der Erklärungen der Steuerpflichtigen fehlt. Denn neben volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen deutet nicht zuletzt die Flut an Selbstanzeigen, die nach dem Bekanntwerden des Ankaufs steuerrelevanter Daten durch den Fiskus einsetzte, darauf hin, dass erhebliche Defizite bei der tatsächlichen Besteuerung ausländischer Einkünfte bestehen. Ob etwa die mit zahlreichen sog. Oasenstaaten abgeschlossenen Informationsaustauschabkommen, die keinen automatischen Datenaustausch vorsehen, geeignet sind, zukünftig zu einer gleichmäßigen Besteuerung zu führen, ist allerdings zweifelhaft. Denn da diese voraussetzen, dass die Übermittlung der Daten, wenn sie im Oasenstaat überhaupt verfügbar sind, „foreseeably relevant“ sind, muss ein Anfangs60

Vgl. auch Lampert, Doppelbesteuerungsrecht, S. 303 ff. BVerfGE 84, 239 (271). 62 BVerfGE 84, 239 (273).

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verdacht vorliegen.63 Unklar ist aber, wo dieser herrühren soll, wenn nicht von zufällig gewonnenen Erkenntnissen (etwa durch Erwerb eines Datenträgers). Allerdings führt nicht jedes Vollzugsdefizit per se zur Verfassungswidrigkeit, denn neben weiteren Voraussetzungen, auf die hier nicht eingegangen werden kann, verlangt das BVerfG, dass dieses Defizit dem Gesetzgeber zuzurechnen ist.64 Im Hinblick auf ausländische Einkünfte streifte das BVerfG die Problematik des Vollzugsdefizits in seiner Entscheidung zur Besteuerung privater Spekulationsgewinne bei Wertpapieren. Dabei stellte es fest, dass bei den Kapitaleinkünften „wegen der ins Ausland transferierten ,Fluchtgelder‘“ möglicherweise knapp zwei Drittel der Zinsgutschriften nicht versteuert würden.65 Da aber im Ausland das Instrument der Quellensteuer nicht greife und die Finanzverwaltung nicht unerhebliche Anstrengungen unternommen habe, um die Besteuerung von Einkünften aus Kapitalvermögen, das ins Ausland transferiert wurde, sicherzustellen,66 stellte es insoweit kein strukturelles Vollzugsdefizit fest.67 Der BFH vertritt hieran anknüpfend in st. Rspr. die Auffassung, dass hinsichtlich der im Ausland bezogenen, im Inland steuerbaren Kapitalerträge eine Verantwortlichkeit des Gesetzgebers für die Nichtüberprüfbarkeit des Erklärungsverhaltens der Steuerpflichtigen wegen des Territorialitätsprinzips nicht besteht.68 Zwar fügt sich diese Rspr. in die vom BVerfG entwickelte Dogmatik ein, indem es diese auf die völkerrechtlichen Grenzen hoheitlicher Machtausübung überträgt. Sie provoziert aber auch die Frage, ob nicht bereits die Entscheidung des Gesetzgebers für die Welteinkommensbesteuerung die Verantwortlichkeit für ein Defizit bei der Realisierung des staatlichen Steueranspruchs begründen kann. 2. Reduziertes Schutzniveau beim Informationsaustausch Im Bereich der Amtshilfe lässt die Rspr. des BVerfG eine Tendenz zu einem Mindestgrundrechtsschutz erkennen, indem es eine Bindung an völkerrechtliche Verträge nur dann verneint, wenn im Ausland gewisse „Mindestanforderungen an die Rechtsstaatlichkeit“ nicht erfüllt werden69 oder die Anwendung des Vertrages zu 63 Vgl. z. B. Stephen Hecht/Steffen Lampert/Kay A. Schulz, Das Auskunftsabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Fürstentum Liechtenstein – Implikationen aus steuerrechtlicher Sicht, BB 2008, 2727 (2729) zu Art. 1 TIEA-LIE. 64 BVerfGE 84, 239 (272); ausführlich zur Problematik am Beispiel der Hinzurechnungsbesteuerung Waldhoff, StuW 2013, 121. 65 BVerfG, Urt. v. 09. 03. 2004 – 2 BvL 17/02 –, BVerfGE 110, 94 (133); vgl. auch BFH, Urt. v. 07. 09. 2005 – VIII R 90/04 –, DStR 2005, 1984 (1986). 66 Ebd. 67 Vgl. hierzu auch BFH, Urt. v. 07. 09. 2005 – VIII R 90/04 –, DStR 2005, 1984 (1986). 68 BFH, Urt. v. 18. 02. 1997 – VIII R 33/95 –, BFHE 183 45 (54); BFH DStR 2005, 1984 (1985); insb. stellte der Senat darauf ab, ob Versäumnisse beim Zustandekommen oder bei der Umsetzung der EU-Zinsrichtlinie bestanden, die dem Gesetzgeber zugerechnet werden könnten. 69 BVerfGE 63, 343 (378).

Zur Bedeutung des allgemeinen Gleichheitssatzes

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einem Verstoß gegen den ordre public führte.70 Der Grund hierfür liegt darin, dass Deutschland durch allzu hohe Grundrechtsstandards nicht mehr in der Lage sein könnte, Amtshilfeabkommen zu schließen und durchzuführen. Da der Fiskus zur Verwirklichung des Welteinkommensprinzips auf die Übermittlung von Informationen durch andere Vertragsstaaten angewiesen ist, besteht diese Lage auch im Ertragsteuerrecht. Die Finanzverwaltung muss daher reziprok Informationen ins Ausland übermitteln, selbst wenn dort niedrigere Grundrechtsstandards existieren. Das Welteinkommensprinzip trägt somit i.V.m. mit Art. 3 Abs. 1 GG auch dazu bei, dass die Schutzwirkung anderer Grundrechte – namentlich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung – abgeschwächt wird.71 VI. Schlussbemerkung Es bleibt zu resümieren, dass die Wirkkraft des allg. Gleichheitssatzes bei grenzüberschreitenden Sachverhalten maßgeblich davon abhängt, wie stark das Völkervertragsrecht auf Rechtsetzung und Vollzug einwirkt. Soweit unilaterale Regelungen völkervertragliche Verpflichtungen unberührt lassen, besteht zwar kein Grund für eine Modifizierung des Schutzniveaus, allerdings erweitert sich der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers dadurch, dass dieser auch an Differenzierungskriterien anknüpfen darf, die einen spezifischen Zusammenhang zum Auslandsbezug aufweisen. Eine stärker an der Verhältnismäßigkeit ausgerichtete Anwendung des allg. Gleichheitssatzes könnte dem Gesetzgeber hier einen bislang faktisch nicht bestehenden Begründungs- und Rechtfertigungszwang auferlegen. Besteht dagegen eine völkervertragliche Bindung, so deutet einiges auf eine beschränkte Wirkkraft des allgemeinen Gleichheitssatzes hin, wenngleich Gewissheit hierüber erst die zu erwartende Entscheidung des BVerfG bringen könnte. Was das Gebot tatsächlicher Belastungsgleichheit anbelangt, so ist zu konstatieren, dass namentlich im Bereich der passiven ausländischen Einkünfte Vollzugsdefizite fortbestehen dürften, die, selbst wenn sie als „strukturell“ anzusehen wären, dem Gesetzgeber durch die Rspr. nicht zugerechnet werden. Geradezu paradox mutet der Umstand an, dass die bestmögliche Verwirklichung einer tatsächlichen Belastungsgleichheit durch Amtshilfe aufgrund deren Reziprozität mittelbar zu einer Abschwächung anderer Grundrechte im Bereich des Informationsaustauschs führt. Da die Ursache hierfür allerdings im Welteinkommensprinzip liegt, dürfte sich an diesem Befund in absehbarer Zeit aber nichts ändern.

70

BVerfGE 113, 154 (163). Vgl. hierzu z. B. Steffen Lampert/Till Meickmann, Informationsaustausch mit Drittstaaten – von der Auskunfts- zur Verweigerungspflicht?, ISR 2014, 306 (308 f.). 71

Gleichheit als Grundrecht Güterbesitz als Freiheit? Von Walter Leisner, Erlangen Rudolf Wendt, einem der großen Lehrer des „Eigentums als Freiheit“ ist dieser Beitrag gewidmet – in geistiger Verbundenheit

I. Die Statuslehre der Grundrechte: Abwehr von Freiheitsverletzungen – Teilhabe an deren „gesetzlicher Organisation“ Die folgenden Gedanken beschäftigen sich mit einer Grundfrage der Gleichheit, ja der Grundrechtsdogmatik als solcher: (Anspruch auf gleichen) Güterbesitz als Freiheit(sinhalt)? In zahllosen Beiträgen und Randbemerkungen wird dies seit Generationen vertieft, erwähnt, gestreift. Ein, wenn nicht das Grundproblem der Sozialpolitik, ja der National-Ökonomie ist damit angesprochen. Das Staatsrecht befasst sich mit dieser Problematik längst nicht in vergleichbarer Intensität und Vertiefung. Ausgehend von der Allgemeinen Rechtslehre werden bei den Grundrechten zwar Abwehr-, Teilnahme- und Teilhaberechte unterschieden (Status negativus1, activus, positivus). Erst neuerdings rückten aber, ausgehend von der „Sozialstaatlichkeit“, die materiellen Grundlagen der Freiheit in den Mittelpunkt einer Grundsatzdiskussion2, welche an manchen ihrer Ränder erkennbar Züge einer neo-marxistischen Renaissance aufwies. Angesichts der international-politischen Gesamtsituation trat dies allerdings, in seiner klassischen Grundsätzlichkeit, nicht erkennbar in Erscheinung. Im Verständnis der Gleichheit blieb, wie bei allen anderen Grundrechten, die Freiheitsrechtlichkeit als Ausgangspunkt erhalten3, und auch als grundsätzliches dogmatisches Strukturprinzip: Sie wird (weiterhin) als ein Abwehrrecht aufgefasst gegen

1 Dies ist die unbestrittene, als solche wahrhaft „klassische“ Grundrechtsfunktion, vgl. BVerfGE 7, 198 (204); 50, 290 (337) – st. Rspr. 2 Vgl. dazu Leisner, W. G., Existenzsicherung im Öffentlichen Recht, 2007, S. 161 ff. 3 Für Abwehrrechtlichkeit Kirchhof, P., HbStR3 Bd. V, 2007, § 124 Rn. 222; Betonung der Gleichbehandlungsfunktion bei Jarass, in: Merten/Papier (Hg.), HbGr Bd. II, 2006, § 38 Rn. 39, oder gar als ein eigener Status, a. a. O. Rn. 41 ff.

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staatliche Diskriminierungen4. Allerdings wurde dies nun, in der redaktionellen Weite der grundrechtlichen Verbürgungen, auf die staatlich normative Sicherung gewisser gesellschaftlicher Rahmendaten erstreckt, die hier und in weiteren, noch spezieller bestimmten Bereichen, nicht nur zu sichern, sondern durch die Gesetzgebung zu schaffen waren, auch gegenwärtig noch Förderung verlangen5. Nichts anderes gilt ja aber auch für die Freiheitsrechte, man denke nur an die Schaffung strafprozessualer Mechanismen (Art. 101 ff.) als Sicherung des zentralen Freiheitsrechts nach Art. 2 Abs. 2 GG. In all dem erfolgt stets eines: Abwehr von Eingriffen auf grundrechtliche Freiheit wird, nach Verfassungsgeboten der demokratische Staatsform, einfachgesetzlich organisiert. Dieser Schutz des Status negativus der Freiheit wird teilnahmerechtlich gesichert, in ganz großer, übergreifender Form, durch das Allgemeine, Gleiche Wahlrecht (Art. 38 Abs. 1 GG)6, welches daher zutreffend als „grundrechtsgleiches Recht“ abwehrrechtlich in einem verfassungsrechtlichen Status activus gesichert ist. Gleiches geschieht etwa über den abwehrrechtlichen Grundrechtsschutz der Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 1, 3 GG) hinsichtlich der Teilnahmerechte von Bürgern an der „Organisation des negativen Freiheitsschutzes“ durch die Gesetzgebung. Auch der Status activus wird also grundrecht(sähn)lich grundsätzlich durch Verfassungsrecht gesichert, und dies wird dann, über die demokratischen Mechanismen des Art. 20 GG, im Staatsorganisationsrecht weiter konkretisiert. Auch für die Gleichheit gilt also: Sie ist ein verfassungsrechtliches Grundrecht wie alle Schutzbereichs-Sicherungen7 des Grundgesetzes. Es ist daher ein Schutzbereich dieses Abwehrrechts (status negativus) zu ermitteln, der im demokratischen Staat durch grundrecht(sähn)liche Teilhaberechte der Bürger an dessen wirksamer Sicherung (status activus), insbesondere durch Gesetzgebung, aufgrund allgemeinen, gleichen Wahlrechts gewährleistet wird.

II. Der Schutzbereich der Gleichheit als Grundrecht 1. Grundrechtliche Schutzbereiche sind gewisse Räume menschlichen Verhaltens in einem ganz allgemeinen, grundsätzlich unbegrenzten Sinn; sie sind durch die Verfas4 Dies ist auch hier die „Grundrechtswirkung“. Darüber hinaus gehende „Ausstrahlungswirkungen“ des Gleichheitsgebots ergeben sich (lediglich) aus der insoweit verfassungskonformen Privatrechtsordnung (vgl. BVerfGE 89, 276 (285 f.); BVerfG-K, NJW 207, 137). 5 Art. 6 Abs. 5: Gleichstellung der Außerehelichen – als verfassungsrechtliches Abwehrrecht, vgl. BVerfGE 96, 56 (65). 6 Die Wahlgleichheit des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG soll nach neuerer Auffassung die Anwendung des Allgemeinen Gleichheitssatzes als lex specialis ausschließen (BVerfGE 99, 1 [8]) – die früher h. L. (vgl. noch BVerfGE 95, 408 [417 f.]) sah dies anders. 7 Eindeutig ergibt sich dies aus Art. 1 Abs. 3: „Die nachfolgenden Grundrechte“ (vgl. auch Art. 94 Abs. 1 Nr. 4 a) – also eben auch, vor allem, die „Gleichheit als Grundrecht“.

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sung speziell rechtlich gesichert: wegen ihrer spezifischen Bedeutung für die Gemeinschaftsordnung und (damit auch) der besonderen Bedrohungen, denen sie ausgesetzt sind seitens der öffentlichen Gewalt (Staatsrichtung), wie auch durch andere Rechtssubjekte (Drittrichtung)8 . Diese Räume menschlichen Verhaltens werden in Form von Bereichen rechtlich abgegrenzt und besonders geschützt, in denen sich diese „gemeinschaftssensible Freiheit“ vor allem auswirkt. Derartige Bereiche sind (damit) zwar eingrenzbar, und eben auch verfassungs-rechtlich eingegrenzt. Als solche sind sie aber, eben als „Freiheiten“, diesem selben eingrenzenden Recht vorgegeben. In diesem Sinn handelt es sich, vom Ursprung her, um „natürliche Freiheiten“, um solche also, die „aus dem Menschsein als solchem kommen“, aus ihm sich, auch und gerade in ihrem Gemeinschaftsbezug, in ihrer Ordnungsbedeutung, rechtfertigen – eben als „Menschenrechte“9. So übersetzt die Verfassung den Satz „der Mensch ist frei und gleich geboren“. 2. Darin liegt der Menschenrechts-, weil: der Freiheitsgehalt der Gleichheit, und nur darin: in der „gleichen Menschenqualität“. Diese ist – gewissermaßen in einer ersten, sehr allgemeinen Annäherung – mehr beschrieben als definiert in der „Menschenwürde“ (Art. 1 Abs. 1 GG). Näher entfaltet, abgegrenzt, damit bereits (rahmenmäßig) definiert wird diese Freiheit zunächst allgemein, als solche, in Art. 2 Abs. 1 GG (Entfaltungsfreiheit10, anschließend näher in Art. 2 Abs. 2 GG) und Art. 3 Abs. 1 GG (Allgemeiner Gleichheitssatz – auch hier dann wieder sogleich näher in den speziellen Gleichheitssätzen des Art. 3 Abs. 2 GG verdeutlicht). Noch weiter wird die Gleichheit, als Grundrecht, schutzbereichsmäßig näher konkretisiert, und damit bereichsweise definiert in anderen, noch spezielleren Gleichheitssätzen (etwa Art. 6 Abs. 5 GG) – so wie die „Freiheit“ des Art. 2 Abs. 1 GG nähere „Bereichskonkretisierungen“11 findet, damit echte „Definitionen spezieller Freiheiten“, in den Grundrechten der Art. 4 ff., 101 ff. GG.

8

Zur Drittwirkung der Grundrechte vgl. für Viele Leisner, W., Grundrechte und Privatrechte, 1960; Schwabe, J., Die sog. Drittwirkung der Grundrechte, 1971; Rupp, H.-H., AöR 101 (1976), 161 (170 ff.); Canaris, C. W., in: FS f. Leisner, 1999, S. 413 ff. 9 Dieser „Menschenrechtsbezug“ der Grundrechte kommt in Art. 1 Abs. 1, Abs. 3 GG redaktionell deutlich zum Ausdruck; eine begriffliche Unterscheidung zwischen „Menschenrechten“ und „Grundrechten“, wie es dies doch nahelegt („deshalb“), kommt jedoch in der Verfassungsdogmatik nicht hinreichend deutlich zum Ausdruck (vgl. immerhin BVerfGE 66, 39 [56 f.]). 10 Der Aspekt – Gehalt – gerade der „Entfaltung“ in Art. 2 Abs. 1 GG ist allerdings von Anfang an zurückgetreten hinter die – um nicht zu sagen untergegangen in der – allgemeine(n) Handlungsfreiheit, in der Rechtsprechung des BVerfG, vgl. neuerdings BVerfGE 115, 97 (109). 11 Wobei „die Freiheit des Art. 2 Abs. 1 GG“ allerdings als solche, dogmatisch missverständlich, als subsidiär hinter diese zurücktreten soll, vgl. BVerfGE 116, 202 (221).

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3. Die dogmatische Struktur der Gleichheit ist also dieselbe wie die „der Freiheit“, spezielle, Einzel-Gleichheiten gibt es ebenso wie Einzelfreiheiten. „Abwehr durch die Gleichheit“ gilt all den (möglichen) Kategorien und Kriterien, in deren Formen eine staatliche oder private Regelung diese Gleichheiten durch Differenzierungen, in ihrem Ordnungsergebnis, ersetzen würde. Es ist dies gewissermaßen der natürliche rechtliche Abwehr-Regelungs-Kern der „Gleichheit als Freiheitsrecht“: Sie hält diesen Bereich „frei“ von (differenzierenden) Eingriffen. 4. Diese verfassungs-gesetzgeberische Grundentscheidung sichert damit den so geschützten „Gleichheitszustand“, als einen (höchstrangigen) Verfassungswert. Insoweit wirkt die Gleichheit auch hinaus über einzel-normative grundrechtliche Schutzeffekte, entfaltet sie rechtliche Wirkungen durch „wertmäßige Prägungen“ auf die gesamte Verfassung, über diese auf die ganze Rechtsordnung. Dies ist ihr, wiederum, gemeinsam mit allen anderen, allgemeineren wie spezielleren, Grundrechten, im Sinne des „Wert- und Anspruchsystems der Grundrechte“ nach Günter Dürig. Gleiches gilt nach den Ergebnissen der neueren „Lehre von den (Verfassungs-)Werten“12, also der Rechts-Werte als solcher. Wiederum begegnet insoweit im Schutzbereich der Gleichheit keinerlei Besonderheit gegenüber der allgemeinen Dogmatik grundrechtlicher Freiheiten. Gleichheit ist auch hier eindeutig und ausschließlich ein Abwehrrecht (Status negativus), zum Schutz von Freiheit. 5. Gleichheit bietet aber als solche keine Grundlage für Leistungsansprüche. Die Frage dieses Beitrags geht nun dahin: Liegt ein grundsätzlicher Fehlansatz darin, aus diesem „grundrechtlichen Abwehrrecht Gleichheit“ als solchem positive Leistungsansprüche herleiten zu wollen? Können solche nicht immer nur aus Ergebnissen eigener Freiheitsbetätigung der Grundrechtsträger sich ergeben, oder aus gegenleistungsfreien Leistungen des Staates, also letztlich aus Staatsgeschenken, welche abwehrrechtlich Freiheitsbetätigung der Bürger ermöglichen, erleichtern sollen? Letzteres wäre dann Folge und/oder Erweiterung des Freiheits-Schutzbereichs, nicht aber wäre es „begründet aus der Freiheit“; und Gleiches müsste auch für die Gleichheit gelten: in ihrem Namen, dem einer „egalitären Menschlichkeit“, mag dann ein Freiheitsschutzbereich erweitert werden, und dies muss im Ergebnis dann auch zu mehr Gewinn, mehr Güterbesitz führen. Ansprüche darauf „unmittelbar aus der Gleichheit als solcher, als einem Recht zu mehr Besitz“ können sich dar12 Vgl. dazu f. Viele Wernsmann, Th., Wert, Ordnung und Verfassung, 2007; Leisner, W., Vertragsstaatlichkeit. Die Vereinbarung – eine Grundform des Öffentlichen Rechts, 2009, S. 51 ff.

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aus aber ebenso wenig ergeben wie eine „Forderung nach mehr Gleichheit“. Diese Letztere wäre ja von vorne herein nicht eingrenzbar, damit rechtsstaatlich nicht fassbar, ebenso wie ein Verlangen nach „(immer) mehr Freiheit“: dieses müsste in Anarchie enden, in Aufhebung jeder Ordnung; (immer) „mehr Gleichheit“ würde dahin führen, dass jede Ordnung überhaupt überflüssig würde, in einem totalen Kommunismus, mit seinem „Absterben des Staates“. Freiheit und Gleichheit „bringen also Geld“, über von ihnen rechtlich gesichertes, verfassungsrechtlich zulässiges menschliches Handeln, als solche „sind sie aber nicht geldwert“, lassen sich nicht sogleich, eben als solche, „ummünzen“ in Geld und Gut. Ungleichheit lässt sich nicht (v)erkaufen. III. Kein „verfassungsrechtlicher Anspruch auf Besitz“, aus einem „grundrechtlichen Status positivus“ 1. Der historische Primat der Gleichheit Der große Aufbruch zum modernen, zum noch immer gegenwärtigen Verfassungsstaat der Demokratie hat 1789 in Frankreich nicht stattgefunden im Namen und unter dem Primat der Gleichheit, sondern im Namen der Freiheit. Auf der Rheinbrücke bei Straßburg wurde die Banderole entrollt: „Hier beginnt das Reich der Freiheit“ – nicht: „Das Reich der Gleichheit“. Freiheit war das Ziel, Gleichheit war eine – natürliche, eben „aus der Natur (des Menschen) kommende – Form der Freiheit, kein ökonomischer Selbstzweck. Da gab es kein „Suchet nur die Gleichheit, alles andere wird Euch hinzugegeben werden“, sondern es hallte, im Gegenteil, nur ein Ruf, der nach der Freiheit. Gleichheit – das war nur die „Gleichheit vor dem Gesetz“13, das gleiche gesetzgeberische Mitbestimmungsrecht aller Bürger. Dass aus ihr heraus, aus ihrer politischen Machtverteilung, dann den (schwächeren) Bürgern Vieles, am Ende vielleicht gar Alles (an Gütern) hinzugegeben werden würde, in Umverteilung – das hoffte damals nur eine verschwindend kleine Minderheit von Sozialutopisten14. Es hat dies aber nicht den Konsens der Großen Revolution getragen: „Liberté“ – (in Form der) „Egalité“ – (in solidarischer) „Fraternité“. Umverteilt wurden damals Güter (biens nationaux), soweit ihr Besitz durch politische Machtkonzentration die Freiheit gefährdet, ja aufgehoben hatte, zu haben schien. Güterverteilung erfolgte 13 Die Französische Revolutionsverfassungen schwankten noch bei der Einordnung der Gleichheit: Die Menschenrechtserklärung der Verfassung von 1791 sah in der Gleichheit eine natürliche, zum gemeinen Wohl (durch Gesetz) einschränkbare Rechtslage (Art. 1.2), aber kein Grundrecht. Die Jakobinerverfassung von 1793 (Menschenrechtserklärung, Art. 1.2) proklamierte die Gleichheit als das erste unter den Grundrechten; die Verfassung des Jahres III, Art. 1.2 sah in ihr ein Grundrecht. Die deutsche Verfassungstradition kennt nur die „Gleichheit vor dem Gesetz“ (so schon RV 1971, Art. 3; WRV Art. 109, Abs. 1, GG Art. 3 Abs. 1). 14 Die „große Gleichheitsattacke“ gegen jenes Eigentum, das noch für die Jakobiner ein geheiligtes Grundrecht war (vgl. Menschenrechtserklärung Art. 2, 19) – begann erst mit Proudhons „De la propriété“ (1844): Eigentum ist Diebstahl. Fraternité bedeutete 1789 – selbstverständlich – nicht „brüderlich gleich allen Besitz teilen“, sondern zusammenstehen zum Schutz der Freiheit: Aux armes, citoyens! (Marseillaise).

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nicht aus dem Dogma, besser: dem Axiom heraus, Besitz sei als solcher bereits Freiheit, oder auch nur eine notwendige Voraussetzung derselben. Die große Devise ist vielmehr umgekehrt zu lesen, wie sie ursprünglich auch gemeint war: Die (primäre) Freiheit (in Form der Gleichheit vor dem Gesetz und der Solidarität zwischen den Bürgern) ist der einzig legitime Lebensweg der Menschen, aus deren Menschsein heraus: zu allem, auch, zu allererst, zum Besitz. 2. Besitz als Voraussetzung der Freiheit – eine ökonomisch-politische These a) In diesen Verfassungskonsens, in diese konstitutionelle Ausgangslage hinein, zunächst weithin unbemerkt, gewissermaßen „unter sie“, schob sich, im wahren Sinne mit einem Umwertungsanspruch, alsbald die sozialisierende These: „Besitz ist Freiheit – also gleicher Besitz!“ Da sie als solche als Utopie erschien, wurde sie sogleich abgeschwächt zu: „(Ein gewisser Zustand von) Güterbesitz ist notwendige Freiheitsvoraussetzung“. Damit war die Türe aufgestoßen zur unmittelbaren Forderung nach „Besitzgleichheit“, aus dem Grundrecht der Gleichheit heraus. Dieses Freiheitsrecht konnte nun, nach dieser Lehre, auch in einer „Dritten Dimension“ gedacht werden und wirken: als Status positivus, als unmittelbarer Anspruch auf Gütertransfer aus dem Freiheitsrecht der Gleichheit heraus. Dies aber war eine ökonomisch-politische, keine verfassungsrechtliche These: „Besitz ist Freiheit, er vermittelt nicht nur die Freiheit, ihn nach Belieben zu nutzen“. Alsbald verkündete die technische Revolution des Maschinenzeitalters: Diese Freiheit gewährt nur – und immer mehr (Mehrwert) – das „Eigentum an Maschinen“, an den Produktionsmitteln. b) Dieser These stand jedoch, zunächst noch, von 1789 bis zur Russischen Revolution, entgegen die gesamte geistige Kultur des zivilisierten Europa. Die Freiheit der Französischen Revolution hatte die (napoleonische) Leistungsideologie des ökonomischen Liberalismus hervorgebracht und über Europa verbreitet. Der politische Nationalismus hatte seinen Siegeszug angetreten im Namen der Freiheit, nicht der Gleichheit. Erst ab 1918 begann eine Bewegung hin zu den „anderen“, den „sozialen Grundrechten“15. Ihre Verbindung zu den „klassischen“, den nun als „liberal“ stigmatisierten (und abgelehnten) Freiheitsrechten war zunächst eine rein verfassungs-formale, bot sich aber in politischer Dynamik an: Sie sollten als solche „Freiheitsrechte auf mehr Besitz“ sein – damit abzuleiten unmittelbar aus einer, nun übergreifenden und in einem neuen Sinn verstandenen Gleichheit. Egalité nicht mehr als (nur) Teilnahme, sondern als Teilhabe: Status activus als Weg zum Status positivus. Der Weg lag „intellektuell“ nahe – und er war ja verlockend, weil von ungeheuerer politischer, demagogischer Sprengkraft. Er erreichte nicht mehr nur den GoetheSchillerschen reinen, „nackten“ Tugendbürger des deutschen klassischen Idealis15 Zu dieser Verfassungsentwicklung Leisner, W. G., Existenzsicherung im Öffentlichen Recht, 2007, S. 163 ff. m. Nachw.

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mus, des güterverachtenden antiken Humanismus. Endlich wurde in die Hände des Proletariers, des späteren „kleinen Mannes“, der mit seinem „starken Arm“ Hammer schwang und Sichel – Geld gelegt; über die Gleichheit schien sich nun die bisherige „Freiheit der anderen“, der „Besitzenden“, auch für ihn „auszuzahlen“. Endlich war Freiheit nicht mehr (nur) Aufgabe, Pflicht, Arbeit/Leistungslast, sondern Besitz, Ruhe, Sicherheit. „Es ist erreicht!“ konnte es heißen, in einem ganz anderen Sinn als dem eines Imperators, der vaterlandslose Gesellen verfolgt hatte. Bürgerliche Freiheit – ja, (aber) besitzbürgerliche! Endlich begannen sich „Grundrechte auszuzahlen“: Gleichheit nicht mehr als Freiheit, sondern als Eigentum, über verfassungsrechtliche Besitzansprüche gewährt, geschenkt, erobert. Das 18. Jahrhundert hatte die Freiheit entdeckt, das 19. in ihr die Antinomie Freiheit – Eigentum zu erkennen geglaubt, das 20. hat nun versucht, sie in der Synthese „Eigentum als Freiheit“ zu überhöhen, zu versöhnen. Gleichheit sollte aus einem Freiheitsrecht zum freiheitsübergreifenden „Grundrecht als Verfassungsprinzip“ werden: Freiheit als Besitz, als Prinzip der Umverteilung – wie jedes Prinzip ein Ideal: grenzenlos zu verfolgen, bis in die Unendlichkeit, im mathematischen Sinn: dort, oder vielleicht schon bald, würden sich diese Linien ja treffen. 3. Das Staatsrecht: Anspruch auf „Freiheitsmittel“? a) Das Deutsche Staatsrecht kennt, in der traditionellen Ausgestaltung seiner grundrechtlichen Ansprüchlichkeit, keinen positiven Anspruch auf Besitzpositionen, der sich gerade und nur damit rechtfertigen ließe, dass (nur) mit ihnen (gewisse) Freiheiten ausgeübt werden könnten. Dies gilt selbst für Besitzansprüche, bei denen eindeutig ist, dass die Innehabung bestimmter Güter Voraussetzung gerade für die Betätigung der betreffenden grundrechtlich geschützten Freiheiten ist: Meinungsfreiheit16 gibt kein „Recht auf Verlage“, auf „Druckereien“, „auf Sender“. Gleiche Zugangsrechte mögen, als solche, bereits einen gewissen Güter-Besitzwert haben, ebenso die so erlangten Informationen17. Doch rechtliche Ansprüche bestehen darauf nur hinsichtlich „allgemein zugänglicher Quellen“ (Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG), insoweit also als – insbesondere – der Staat sich ein als solches zulässiges Daten-Monopolrecht geschaffen hat, „durch Gesetz“: Vor diesem sind ja alle (potentiellen) Nutzer gleich, nicht aber unmittelbar aus „der Gleichheit“ (Art. 3 Abs. 1 GG) folgt dies im Sinne einer direkten Ansprüchlichkeit aus dem Grundrecht, sondern eben nur aus der „Gleichheit vor dem Gesetz“.

16 Die Meinungsfreiheit ist eindeutig allein ein Abwehrrecht, auch in ihrer allgemein werthaltigen Ausstrahlungswirkung, vgl. etwa BVerfGE 57, 295 (319 f.). 17 Voraussetzung ist aber auch bei diesen die „Allgemeine Zugänglichkeit“ (Art. 5 Abs. 1 S. 1 Hs. 2). Auf das darüber entscheidende Bestimmungsrecht (vgl. BVerfGE 103, 44 [60]) besteht jedoch kein Anspruch.

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b) Gleiches zeigt sich bei den anderen Freiheitsrechten: Die Wohnungsfreiheit (Art. 13 GG) gibt als solche kein „Recht auf das Gut Wohnung“18, sie setzt dessen Besitz voraus. Versammlungsfreiheit (Art. 10 GG) beinhaltet keinen Rechtsanspruch etwa auf Geldmittel zur Beschaffung von Transparenten und Megaphonen19. Religionsfreiheit (Art. 4 GG) schützt das bestehende, legal erworbene Eigentum der Religionsgemeinschaften (Art. 138 WRV)20, gibt aber kein Recht auf Grundstücke zum Kirchenbau. c) Ganz allgemein schließt das Zentralrecht des Güterbesitzschutzes, das Eigentumsgrundrecht (Art. 14 GG), einen „Anspruch auf Eigentum“, im Namen dieses Freiheitsrechts, aus. Dass der Inhalt des Grundrechtsschutzes, Inhaberschaft und Nutzung von Gütern, unter Sozialvorbehalt steht (Art. 14 Abs. 1, S. 2 GG)21, hat nichts mit einer grundrechtlichen Gleichheitswirkung zu tun, mag Sozialbindung auch, im Ergebnis, Umverteilung bis zur Nivellierung begünstigen. Hier aus Art. 3 GG etwas ableiten zu wollen, wie einen „idealen Endzustand totaler Besitzgleichheit“, dem man sich über Sozialbindung „nähern“ solle oder gar müsse – das wäre nichts als totaler Utopismus: Wer etwa dem Arbeitnehmer Teilnahme, ja Teilhaberechte am Betrieb(sgeschehen) zubilligt, beschränkt Unternehmereigentum, er verleiht doch nicht „Eigentumsrechte am Unternehmen“. Fazit: Das Grundgesetz verleiht mit seinen Grundrechten Abwehr- und Teilnahme-, nicht aber Besitzansprüche auf fremde Güter. Der Begriff der „Teilhabe“ erweist sich hier übrigens als ungeeignet, weil als mehrdeutig, ja schillernd. Begrenzte Nutzungsrechte an fremdem Gut beinhalten verfassungsrechtlich keine „Ansprüche auf dieses als solches“. Sie dienen dem Gemeinschaftsfrieden durch Grundrechtseinschränkung; sie sind aber nicht Ausdruck grundrechtlicher Ansprüche aus der Gleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG), im Sinne eines „Grundrechts auf Verteilung“. IV. Verfassungsanspruch auf Güterbesitz: Existenzminimum (Art. 1 GG) 1. Sozialstaat – nicht Gleichheitsstaat Das Grundgesetz proklamiert, unabänderlich, den „sozialen Rechtsstaat“, nicht den „Gleichheitsstaat“, wie ihn der Verfasser einst beschrieben hat22. Diese Staatsformbestimmung ist vom Bundesverfassungsgericht in einer reichen Judikatur 18 Art. 13 GG gewährt nach ganz h. L. kein „Recht auf (eine angemessene) Wohnung“ (BVerfGE 7, 230 [239]). 19 Die „Demonstrationsmittel“ werden sogar, umgekehrt, noch eingegrenzt: „Friedlich und ohne Waffen“. 20 Unter Verweisung auf Art. 14 GG, vgl. BVerfGE 99, 100 (120 f.). 21 Zur Sozialbindung vgl. Leisner, W., HStR3 Bd. 8, § 173 Rn. 127 ff. 22 Leisner, W., Der Gleichheitsstaat. Macht durch Nivellierung, 1980, 2. Aufl., in: ders., Demokratie. Betrachtungen zur Entwicklung einer gefährdeten Staatsform, 1998, S. 197 ff.

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grundsätzlich und in vielen verfassungsrechtlichen Ausstrahlungen näher bestimmt worden. Allgemein gilt: Das Wesentliche für die Verwirklichung eines „Sozialstaates“ hat der Gesetzgeber zu leisten23 ; es liegt dies auch schon nach Art. 3 Abs. 1 GG fest. Ziel ist eine ausgewogene Gemeinschaftsordnung, in der allenthalben Freiheit herrscht, nicht ist es ein egalitärer Idealstaat. Ihn kennt das Grundgesetz nicht, auf ihn hin ist keine Staatsgewalt auf dem Weg. Die Verfassung fordert aber – unbedingt – dass auf diesem Weg kein Mensch in ihrem Gewaltbereich „verloren gehe“, „keines ihrer Schafe sich verliere“, christlich gewendet. Deshalb, dazu, und nur aus diesem Grund, bietet die Verfassung jedem, unbedingt das Existenzminimum aufgrund von Art. 1 GG24. Der Streit darüber, ob dies ein „Grundrecht“ darstelle25, war wohl von Anfang an ein Missverständnis. Art. 1 GG bringt einen „Verfassungsschutz des Mensch-Seins“, als Voraussetzung für die – danach! – folgenden „Grundrechte der gleichen Freiheit“. Die (wohl falsche) Frage nach der Grundrechtsqualität der Menschenwürde mag also offen bleiben –, bis in jene „Ewigkeit“, wie sie Art. 79 Abs. 3 GG „demokratisch postuliert“26 und in diese Ewigkeit hinein bleibt ja „der Sozialstaat“ im Marsch – „in gleichem Schritt und Tritt“… 2. Güterverteilung zu Menschenwürde – in mitmenschlicher Solidarität Karl Marx hat den bürgerlichen Staat der gleichen Freiheit unvergesslich angeprangert, als Freiheit des Proletariers, unter Brücken zu verhungern. Diese Freiheit ist es nicht, „die das Grundgesetz meint“; es ist dies aber auch nicht die der plündernden Revolutionäre in Schlössern. Zwischen beiden stand stets jenes wahre Christentum mit seinen Kirchen, an deren Tore Arme gespeist wurden; und dies ist nun kein Almosen mehr, sondern ein Recht darauf, als Mensch zu leben, als ein solcher, also in gleicher Freiheit. Leben, nicht Nehmen, Besitzen – das ist das Ziel. Dazu darf „allen etwas, letztlich wenig nur, genommen werden“ – was? Das bestimmen sie alle selbst, demokratisch, gleich. Aber sie geben nicht alle „demokratisch das Gleiche“, und sie geben nicht, damit am Ende alle gleichen Besitz haben. Art. 1 GG steht „für sich allein“, wie es schon die redaktionelle Form nahelegt27. Das ständige „Mitzitieren“ von Art. 2 Abs. 1 GG, in der Grundlegung des Rechts auf ein Existenzminimum, sollte ursprünglich wohl nur eines bedeuten: dass (die Erhal23

„Regelmäßig“ lässt sich „aus der Sozialstaatlichkeit kein Gebot entnehmen, soziale Leistungen in einem bestimmten Umfang zu gewähren“ (BVerfGE 110, 412 [415]). 24 Zur Verfassungsgrundlage von Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums vgl. grds. und eingehend Leisner, W. G. (Fn. 15), S. 107 ff. m. Nachw. 25 Vgl. dazu Starck, Chr., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 1 Rn. 28 ff. 26 Verfassungsorganisatorisch normiert: „Eine Änderung, durch welche … ist unzulässig“ (Art. 79 Abs. 3 GG). 27 „Die Würde des Menschen ist unantastbar (Art. 1 Abs. 1 GG). Menschenrechte sind ihre Konkretisierung („darum“, Art. 1 Abs. 2 GG), in Form der „nachfolgenden Grundrechte“ (Art. 1 Abs. 3 GG).

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tung dieser) Würde Voraussetzung sei für den Gebrauch der folgenden Freiheiten – und eben auch der Gleichheit als Grundrecht, nicht mehr, nicht weniger. „Mitzitieren“ ist hier, wie auch sonst, im Übrigen wohl nichts als eine schlechte Angewohnheit, die dogmatische Ungenauigkeit verdeckt. So jedenfalls hier28: Man zitiert weiter, ohne zu klären, was dies bedeuten soll und weshalb dann nicht etwa auch Art. 3 GG „mitzitiert“ wird. Wollte man damit nur „Freiheitsgebrauch“ ansprechen, so müssten alle Grundrechte mitzitiert werden. Sollte nur eine, die zentrale, Freiheits/Gleichheitsvoraussetzung gemeint sein, so hätten Art. 2 und Art. 3 genügt. Gewiss wirkt die Gleichheit auf die Bestimmung dessen, was an Gütern zur Ermöglichung des Freiheitsgebrauchs geboten werden darf, muss; durchschnittlicher Wohlstand ist eine zulässige Berechnungsgröße des Existenzminimums, aber eben nicht die Berechnungsgrundlage schlechthin. Sie dient der Sicherung der Aufrechterhaltung der Ordnung: zu große Wohlstandsabstände, soziale Unterschiede gefährden sie – eine historische Lehre, ja eine Banalität. In keiner Weise ist damit totale Güter-Besitzgleichheit als „menschliches Existenz-Ideal“ auch nur entfernt angedacht. Andernfalls wäre gegenwärtige Existenzminimum-Gewährung verfassungswidrig, christlich gewendet: Todsünde. Die isolierte Radikalgleichkeit des kommunistischen Endzustandes kennt keine Abstände, sie überwindet sie alle. Die grundgesetzliche Gleichheit ist die der „Gleichheit als eines Freiheitsrechts“. Dahin, nur zu ihr führt die Straße der Solidarität. Sie sieht nicht auf den, nicht auf den einen, sie sieht auf die vielen Menschen, in ihrer Gleichheit und Ungleichheit. Beides dürfen sie alle realisieren: in gleicher Freiheit. V. Ergebnis: Gleiche Freiheit Der Versuch, aus Art. 3 Abs. 1 GG einen Verfassungsanspruch auf Güterbesitz abzuleiten, erweist sich als ein grundsätzlicher und folgenschwerer Irrweg, aus einem Fehlverständnis der Statuslehre im Grundrechtsbereich des Grundgesetzes: Die Verfassung schützt die Grundrechte als Freiheitsräume gegen Eingriffe. Im Namen der egalitären Demokratie (Wahlgleichheit) schafft sie überdies rechtliche, ansprüchliche Voraussetzungen für ein gleiches Teilnahmerecht der Bürger, der Menschen, an der rechtlich zulässigen Ausgestaltung der Freiheit(en) (Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG). Verteilungswirkungen von Gütern aufgrund von dieser grund- und organisationsrechtlichen Verfassungslage mögen tatsächliche Folgen dieser wirtschafts- und sozialpolitisch zu begründenden Verfassungssituation sein, darin dem Verfassungsbild des Grundgesetzes von einem „Menschenleben in gleicher Freiheit“ entsprechen. Ihre verfassungsrechtliche Grundlage ist aber der fundamental-verfassungsrechtliche Anspruch auf Schutz der zentralen Grundrechtsvoraussetzung, der 28 Dieses „Mitzitieren“ des Art. 2 Abs. 1 GG sollte eben der sich in allgemeiner Handlungsfreiheit und Wahrnehmung von Persönlichkeitsrechten verlierenden „Entfaltung“ (vgl. Fn. 10) doch noch einen „hohen inhaltlichen Rang“ sichern; es ist dies aber keine „gute verfassungs-handwerkliche Sitte …“.

Gleichheit als Grundrecht

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„Grundrechtsgrundlage“: der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG). Sie verleiht einen Güteranspruch: aber nur den, der das Existenzminimum sichert. Die Grundrechte als solche vermitteln einen Anspruch auf konkrete Güterverteilung nicht; insbesondere ergibt sich ein solcher auch nicht aus der Gleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG). Diese ist, wie alle anderen Grundrechte, ein Abwehrrecht gegen Gemeinschaftsgewalt und alles was dem gleichkommt. In der Ausformung des Demokratieprinzips sichert die Gleichheit ein Teilnahmerecht an der Ausübung der Staatsgewalt – mehr nicht. Auch nach dem Grundgesetz gilt: „Du sollst nicht begehren Deines Nächsten Hab und Gut“ und: „Suchet zuerst das Reich der Freiheit und seine Gerechtigkeit! Alles andere wird Euch hinzugegeben werden!“.

Das Selbstverwaltungsrecht der Hochschulen nach Landesverfassungsrecht als Erscheinungsform funktionaler Selbstverwaltung Von Wolfgang Löwer, Bonn I. 1. Das Hochschulrecht gehört zu den Gegenständen, die Rudolf Wendt über eine lange Zeit beschäftigt haben; wer über mehrere Auflagen eine Kommentierung der zentralen bundesverfassungsrechtlichen grundrechtlichen Vorschrift mit organisationsrechtlichen Ausprägungen übernimmt1, muss dem Gegenstand dauerhaft seine wissenschaftliche Aufmerksamkeit zuwenden. Hier soll der Blick in einem ersten Schritt nicht auf das Bundesverfassungsgericht gerichtet werden, das die Diskussion völlig für sich vereinnahmt; es soll vielmehr zunächst schlicht beiseite gelassen werden, und es soll für die Landesverfassungen, die den Universitäten einschließlich der Technischen Hochschulen (in neueren Landesverfassungen sind möglicherweise auch die Fachhochschulen einbegriffen) gefragt werden, was es bedeutet, dass ihnen verfassungsoriginär das Recht der Selbstverwaltung versprochen ist. 2. Dass die Frage nicht häufiger gestellt wird2, ist an sich eigenartig, weil das Grundgesetz – vielleicht in selbstbeschränkter Anknüpfung an die bundesstaatliche Kompetenzordnung, die das Hochschulrecht in der Ursprungsfassung des Grundgesetzes allein den Ländern überließ3 – zur Organisation der Hochschulen – jedenfalls 1

Rudolf Wendt, in: Ingo von Münch/Philipp Kunig (Hrsg.), GGK, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 5 Rn. 100 ff. 2 Die von Jörg-Detlef Kühne in den Titel seines Beitrags aufgenommene Feststellung: „Die Landesverfassungsgarantien hochschulischer Selbstverwaltung – ein unentfaltetes Autonomiepotential“, DÖV 1997, 1 ff. gilt bis heute unverändert – jedenfalls, was die Rechtsprechung betrifft (Hervorhebung nur hier). 3 Die Ursprungsfassung des Art. 75 GG – Rahmenkompetenz – sah eine Gesetzgebungskompetenz des Bundes nicht vor (greifbarer Text: Horst Dreier/Fabian Wittreck (Hrsg.), GG. Textausgabe 8. Aufl. 2013, S. 65 Fn. 3). Mit Wirkung vom 15. 05. 1969 (28. ÄndG z. GG) wurde in die Rahmenkompetenz als Gegenstand der Bundesgesetzgebung eingefügt (Art. 75 Abs. 1 Nr. 1a): „die allgemeinen Grundsätze des Hochschulwesens“. Das 52. ÄndG hat die Rahmenkompetenz des Art. 75 insgesamt zum 1. 9. 2006 aufgehoben und die Kompetenzgegenstände im Grundsatz in die konkurrierende Gesetzgebung in der Form der Abweichungsgesetzgebung verschoben (s. Art. 74 Nrn. 28 – 33), im Hochschulbereich wird eine Bundeszuständigkeit aber nur noch für die Hochschulzulassung und die Hochschulabschlüsse

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explizit – gar nichts sagt4 und sich damit begnügt, das allerdings fundamental Wichtige zu sagen: Die Wissenschaft ist vorbehaltlos5 frei. Über den Hebel der wertentscheidenden Grundsatznorm6 werden vom Bundesverfassungsgericht dann zwar freiheitssichernde organisatorische Mechanismen entwickelt.7 Das schließt aber selbstverständlich nicht aus, dass aus der Selbstverwaltungsgarantie nicht weitergehende Organisationsanforderungen resultieren könnten (nicht müssen). 3. Insofern überrascht es, dass es bisher – von Bayern abgesehen8 – kaum landesverfassungsgerichtliche Judikatur zur Selbstverwaltungsgarantie der Universitäten gibt. Es ist überaus signifikant, dass das Brandenburgische Verfassungsgericht9, mit einer Normenkontrolle gegen das die Technische Universität Cottbus betreffende Auflösungs- und Neubildungsgesetz befasst10, zuwartet, bis über die gegen das Gesetz zugleich eingelegte Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht entschieden ist.11 Vom Selbstverständnis eines Landesverfassungsgerichts her ist das aus meiner Sicht unverständlich: Wenn die Verfassungsräume des Bundes und der Länder im bundesstaatlichen System getrennt sind, muss doch ein Landesverfassungsgericht die Kontrolle des Landesrechts an das den Landesverfassunggeber primär bindenden Landesverfassungsrecht auch prüfen wollen! Wie soll sich verfassungsgerichtlich denn sonst die intendierte Eigenstaatlichkeit (im Rahmen der vorgegebenen Homogenität des Art. 28 Abs. 1 GG) entfalten können? In einer solchen Inanspruchnahme der landesverfassungsgerichtlichen Kompetenz parallel zum Bunreklamiert (Art. 74 Abs. 1 Nr. 33 GG), wobei auch diese „Restkompetenz“ abweichungsoffen gestaltet ist. 4 S. schon BVerfGE 35, 79 (116 ff, 131 ff.) – Nds. Vorschaltgesetz: Art. 5 Abs. 3 GG garantiert nicht „das überlieferte Strukturmodell der deutschen Universität“; es schreibt überhaupt keine bestimmte Organisationsform vor; s. dazu auch Max-Emanuel Geis, Autonomie der Universität, in: Detlef Merten/Hans Joachim Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. IV/1, 2011, § 100 Rn. 15 ff. 5 Zu den Schranken der Wissenschaftsfreiheit s. etwa Wolfgang Löwer, Freiheit wissenschaftlicher Forschung und Lehre, in: Merten/Papier (Fn. 4), § 99 Rn. 27 ff. 6 Zuerst grundlegend das Urteil zum Nds. Vorschaltgesetz, BVerfGE 35, 79 (112); st. Rspr. BVerfGE 111, 333 (353) – Brandenburg; s. dazu Wolfgang Löwer (Fn. 5) Rn. 35 m.w.Nachw.; krit. zur Rechtsfigur (aber partiell auch zustimmend) Klaus Ferdinand Gärditz, Hochschulorganisation und verwaltungsrechtliche Systembildung, 2009, S. 312 m. umf. Nachw. 7 BVerfGE 35, 79 (114 f.), st. Rspr. BVerfGE 111, 333 (353) – Brandenburg, präzise Zusammenfassung bei Rudolf Wendt (Fn. 1), Rn. 104. 8 Die Selbstverwaltungsgarantie der Hochschulen ist in Bayern popularbeschwerdefähig und verfassungsbeschwerdefähig; s. Josef Franz Lindner, in: Lindner/Möstle/Wolff, Verfassung des Freistaates Bayern, 2009, Art. 138 Rn. 4; deshalb muss der BayVerfGH die Selbstverwaltungsnorm des Art. 138 BayVerf ausdeuten; s. einstweilen nur Josef Franz Lindner, a. a. O., Rn. 15 m. Fn. 20 (Rspr. Nachw.); aus jüngerer Zeit s. BayVerfGH 51, 109; 55, 85; 56, 148; 58, 212; s. auch StGHBW, ESVGH 24, 12; VBlBW 1981, 389 sowie Nds. StGH; Nds. VBl. 2011, 47. 9 VerfGBbg 3/13 10 Gesetz zur Neustrukturierung der Hochschulregion Lausitz vom 11. 02. 2013 (GVBl. I Nr. 4). 11 VerfGBbg, Beschluss vom 19. 06. 2013 – VfGBbg 3/13 EA.

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desverfassungsgericht liegt auch kein Problem, weil in solchen Fällen echte Jurisdiktionskonflikte, die aus der Rechtskraft verschiedener Urteile verschiedener Gerichte zu demselben Streitgegenstand – hier: Verfassungsmäßigkeit eines (Landes-)Gesetzes – erwachsen können, ausgeschlossen sind. Das Landesverfassungsgericht entscheidet, was die Maßstäbe betrifft, zum einen nach einer eigenen Kontollnorm, die dem Bundesverfassungsgericht nicht zur Verfügung steht, nämlich der Selbstverwaltungsgarantie. Der etwaige Tenor, die Normen seien insofern mit Landesverfassungsrecht unvereinbar, entzögen dem Bundesverfassungsgericht den Streitgegenstand, wenn das Landesverfassungsgericht zuerst entschiede. Das Landesverfassungsgericht hätte allerdings auch das in der Landesverfassung gesicherte Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit12 maßstäblich heranzuziehen. Käme es zum Ergebnis, das Gesetz verstoße gegen das Freiheitsversprechen, wäre die Norm mit Landesverfassungsrecht unvereinbar; entschiede es zeitlich vor dem Bundesverfassungsgericht, würde sich wiederum dessen Streitgegenstand gewissermaßen erledigen. Entschiede das Bundesverfassungsgericht vorher und erklärte es das Gesetz für unvereinbar mit der Bundesverfassung, erledigte sich das Verfahren vor dem Landesverfassungsgericht. Divergierten die Entscheidungen, entstünde deshalb kein Jurisdiktionskonflikt, weil im Tenor jeweils die Vereinbarkeit/Unvereinbarkeit mit Landes- resp. Bundesverfassungsrecht erklärt würde; wegen der Maßstabsverschiedenheit würden die rechtskräftigen Urteile sich nicht widersprechen.13 Eine Lage, wie die eben skizzierte, kommt gelegentlich vor: Der Bayerische Verfassungsgerichtshof hat die W-Besoldung (allerdings war Streitgegenstand bayerisches Landesrecht) passieren lassen14 ; das Bundesverfassungsgericht hält sie für verfassungswidrig15, was für das bayerische Landesrecht keine gesetzeskassatorische Gesetzeskraft hat (§ 31 Abs. 2 BVerfGG), aber wegen der Bindungswirkung bundesverfassungsgerichtlicher Urteile16 auch den bayerischen Gesetzgeber zur Reform des Landesbesoldungsrechts gezwungen hat. 12 S. Art. 31 Abs. 1 BgbVerf: „Wissenschaftliche Forschung und Lehre sind frei“ sowie Art. 32 Abs. 1: „Hochschulen haben im Rahmen der Gesetze das Recht auf Selbstverwaltung, an der Lehrende, andere Beschäftigte und Studierende beteiligt sind.“ 13 Das würde auch bei inhaltsgleichen Länder- und Bundesgrundrecht gelten, wenn es um die Prüfung von Landesrecht geht. Das Landesverfassungsgericht darf in dieser Lage das Landesgrundrecht restriktiver (oder expansiver) auslegen als des Bundesgrundrecht, s. BVerfGE 96, 345 (375) unter cc) (2) und Wolfgang Löwer, Zuständigkeit und Verfahren des Bundesverfassungsgerichts, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 70 Rn. 143 (S. 1432); es ist bei der Prüfung von Landesrecht (anders als bei Prüfung bundesrechtlich abgeleiteter Hoheitsakte) bei abweichender Deutung des Landesgrundrechts vom Standard der Auslegung des Bundesverfassungsgerichts auch nicht zur Divergenzvorlage nach Art. 100 Abs. 3 GG verpflichtet (nicht einmal befugt). 14 BayVerfGH, v. 30. 07. 2008 – Vf 25-VII-05-Bay VBl. 2009, 462. 15 BVerfGE 130, 263 – W-Besoldung. 16 Gegenstand der Entscheidung BVerfGE 130, 263 war die hessische Hochschullehrerbesoldung, die die W-Besoldungsreform des Bundes in Landesrecht überführt hatte – wie die anderen Ländern auch. Gleichwohl gibt es keine Aufhebung paralleler Landesrechtsnormen auf ein entsprechendes Urteil des Bundesverfassungsgerichts hin. Wohl sind die Landesge-

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II. 1. Wenn man auf den Textbefund der Selbstverwaltungsgarantien in den Landesverfassungen schaut, erkennt man gewisse Unterschiede, die zum Teil den jeweiligen Erlasszeitpunkten geschuldet sind. a) Die vorgrundgesetzliche Verfassung Bayerns gewährt die Wissenschaftsfreiheit vorbehaltlos (Art. 108 BayVerf). Für die Hochschulen betont Art. 138 Abs. 1 das grundsätzliche Staatsmonopol für die Errichtung und Verwaltung der Hochschulen; in Abs. 2 heißt es dann: „Die Hochschulen haben das Recht der Selbstverwaltung. Die Studierenden sind daran zu beteiligen, soweit es sich um ihre Angelegenheiten handelt.“ Der Gründungsvater der Bayerischen Landesverfassung, Hans Nawiasky, betont in seinem entstehungsgeschichtlichen Kommentar, den Hochschulen hätte von jeher „in mehr oder minder weitem Ausmaß“ das Recht der Selbstverwaltung zugestanden, das der Nationalsozialismus dann eingeschränkt habe. Jetzt werde mit dem Selbstverwaltungsrecht unter Verfassungsgarantie der Grundsatz der Freiheit der Kunst, der Wissenschaft und ihrer Lehre (Art. 108 BayVerf) verwirklicht. Die Beteiligung der Studierenden soll „auf einen engen Kreis eigener Aufgaben beschränkt sein“.17 Die (vorgrundgesetzliche) Hessische Landesverfassung vom 01. 12. 1946 stellt die Universitäten unter den Schutz des Staates, gewährt ihm aber auch Aufsichtsbe fugnisse (Art. 60 Abs. 1 S. 1 HessVerf). Es heißt dann in Satz 2 – zu den Studenten etwas großzügiger: „Sie (die Hochschulen) haben das Recht der Selbstverwaltung, an der die Studenten zu beteiligen sind.“ Im noch beinahe entstehungszeitlichen Kommentar von Zinn/Stein schreibt Erwin Stein, Art. 60 wolle die Hochschulen in ihrer historisch überkommenen Einrichtung schützen und die Institution der Selbstverwaltung vor Eingriffen der Staatsgewalt schützen18; damit wird eine dezidiert institutionelle Deutung vorgetragen. Die Rheinland-Pfälzische Verfassung vom 18. Mai 1947 denkt nicht zuerst an die Rolle des Staates. Art. 39 eröffnet mit dem Satz: „Die Hochschulen haben das Recht der Selbstverwaltung.“ Sodann heißt es im nächsten Satz: „Die Freiheit von Forschung und Lehre wird ihnen verbürgt.“ Die Studenten werden in ihren eigenen Angelegenheiten zur Selbstverwaltung berufen. Art. 39 Abs. 6 überlässt die Regelung des „Näheren“ dem Gesetz. Süsterhenn/Schäfer pointieren: im Kern berühre sich der Begriff der Hochschulverwaltung mit dem Begriff der kommunalen Selbstverwaltung, wobei allerdings die Wesensunterschiede zu beachten seien. Traditionell gehöre zum Begriff der Hochschulselbstverwaltung das Recht auf die Wahl der Hochschulorgane, die Ordnung des Lehrbetriebs, das Prüfungswesen und der Forsetzgeber selbst im Rahmen der Bindungswirkung (§ 31 Abs. 1 BVerfGG) zur Reform des verfassungswidrigen Landesrechts „gezwungen“. 17 Hans Nawiasky/Claus Leusser, Die Verfassung des Freistaats Bayern vom 2. Dezember 1946, 1948, Art. 138 (S. 218 f.). 18 Erwin Stein, in: Georg August Zinn/Erwin Stein (Hrsg.), Die Verfassung des Landes Hessen, 1954 Art. 60 Anm. 2.

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schungsangelegenheiten sowie die Mitwirkung bei der Ergänzung des Lehrkörpers19. Das Saarland folgte in Art. 35 der Verfassung vom 15. Dezember 1947 der Sache nach der rheinland-pfälzischen Linie. b) Unter den Landesverfassungen, die nach dem Grundgesetz erlassen worden sind, wird in Art. 16 NRWVerf eine besonders glückliche Formulierung gewählt. Die Vorschrift gewährt den Universitäten „das Recht auf eine ihrem besonderen Charakter entsprechende Selbstverwaltung.“ Damit wird die Eigen-Art der hochschulischen im Abgleich mit der kommunalen Selbstverwaltung betont. Was den Gesetzesvorbehalt betrifft, der einer solchen Selbstverwaltungsgarantie notwenig inhärent ist, greift der Verfassunggeber zu der grundgesetzlichen Vorformung des Art. 28 Abs. 2 GG: Die universitäre Selbstverwaltung soll sich „im Rahmen der Gesetze“ entfalten können. Die Studenten werden entstehungsgeschichtlich nicht in die Garantie einbezogen. Wie zu lesen ist, ging man in den Verfassungsberatungen davon aus, es gebe Bestrebungen, „dass die Studenten die Professoren ernennen wollten und dergleichen“. „Um das auszuschalten, ist es besser, die Dinge in der Verfassung nicht zu erwähnen“.20 Die Verfassung Baden-Württembergs aus dem Jahre 1953 greift beide Formulierungen – also den „besonderen Charakter“ und den „Rahmen des Gesetzes“ – auf (Art. 20 Abs. 2 VerfBW). Seit 1993 gehört auch Niedersachsen zu dem Kreis der Länder, die den Hochschulen das Recht der Selbstverwaltung „im Rahmen der Gesetze“ gewährt. Der „besondere Charakter“ wird nicht eigens herausgestellt. Die neuen Bundesländer haben die Selbstverwaltungsgarantie ebenfalls in ihre Landesverfassungen übernommen. Brandenburg trägt der jüngeren Hochschulrechtsgeschichte im alten Westdeutschland Rechnung und benennt die an der Selbstverwaltung Partizipationsberechtigten: Lehrende, andere Beschäftigte und Studierende (Art. 32 Abs. 1 BbgVerf.). Mecklenburg-Vorpommern findet den Zugang über die Rechtsform. „Hochschulen sind in der Regel Körperschaften des öffentlichen Rechts.“ Das Recht zur Selbstverwaltung wird „im Rahmen des Gesetzes“ garantiert und bestärkend angefügt: „In akademischen Angelegenheiten ist sie weisungsfrei“. Sachsen übernimmt den „besonderen Charakter“ und den „Rahmen des Gesetzes“, sichert zudem die Beteiligung der Studierenden (aber auch nur dieser Gruppe) an der Selbstverwaltung (Art. 107 SächsVerf). Art. 31 LSAVerf gibt sich knapp mit dem Selbstverwaltungsversprechen „im Rahmen der Gesetze“ (Art. 31 Abs. 2). Thüringen regelt die Partizipation „aller Mitglieder“ an der Selbstverwaltung und unterstellt die Gesamtregelung zu den Hochschulen in Art. 28 einem „das Nähere-Vorbehalt“ des Gesetzes. 19 Adolf Süsterhenn/Hans Schäfer, Kommentar der Verfassung für Rheinland-Pfalz, 1950, Art. 39 An. 2 (S. 180 f.). 20 S. die entstehungsgeschichtlichen Hinweise bei Wolfgang Löwer, in: ders./Peter J. Tettinger (Hrsg.), Kommentar zur Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalens, 2002, Art. 16 Rn. 2.

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2. Zur Sinnerschließung der Selbstverwaltungsgarantie wird man zuerst den Blick darauf richten müssen, welches Bild der Universität die Verfassunggeber der frühen Stunde vor Augen hatten,21 als sie neben das Versprechen, Forschung und Lehre in einem Raum der Freiheit agieren zu lassen, den Modus der Selbstverwaltung als adäquate organisatorische Form gesetzt haben. Hier kann die Entwicklungsgeschichte universitärer Selbstverwaltung nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden.22 Aus konstitutioneller Zeit sei etwa pars pro toto Wilhelm Waldeyers Rektoratsrede (Waldeyer ist von der wissenschaftlichen Profession her Biologe) zitiert: „In der richtigen Erkenntnis, dass die Pflege der Forschung, des höchstgreifenden Unterrichtes und der Heranbildung neuer Jünger der Wissenschaft nur in grösstmöglicher Freiheit gedeiht, wurde aber den Universitäten stets ein reiches Mass an Selbstverwaltung belassen“.23 Der Autor hält den nicht „unbedeutenden Grad der Selbstverwaltung“, von dem die Universitäten bisher getragen seien, für den „nicht geringsten Wirkpunkt“ für die „Blüte und Wertschätzung“ der Universität als Wissenschaftseinrichtung im Kaiserreich.24 Ernst Rudolf Huber hat den im konstitutionellen Staatsrecht konsentierten Stand der Selbstverwaltung u. a. dahingehend zusammengefasst:25 Dazu gehören u. a. (ich beschränke mich auf die organisationsrechtlichen Aspekte), „die freie Wahl der körperschaftlichen Organe in der Gesamthochschule und den Fakultäten (Rektor und Dekane), der freie Zusammentritt und die freie Willensbildung der körperschaftlichen Kollegialorgane (Fakultätsversammlung, kleiner und großer Senat)“. An dieser Selbstverwaltung der akademischen Angelegenheiten – mehr hat den Universitäten sachlich nie zugestanden – nahmen damals nur die Professoren im Ordinariusstatus teil. a) Die Staatspraxis der Weimarer Republik (also deren Gliedstaaten) hat einfachrechtlich das Selbstverwaltungsmodell fortgeführt.26 Das Diktum Günther Holsteins27, die Hochschule sei eine um der akademischen Freiheit Willen begründete „Organisationsgemeinschaft“, also ein Stück „Organisationsrecht“, das wegen der 21

Zutr. z. B. Klaus Braun, Kommentar zur Verfassung des Landes Baden-Württemberg, 1986, Art. 20 Rn. 13: Konkretisierung des Kernbereichs mit Hilfe der historischen Entwicklung der akademischen Selbstverwaltung. „An den überkommenen Status der Hochschule hat die Verfassung angeknüpft.“ 22 Einige Hinw. auf je zeitgenössische Literatur finden sich bei Wolfgang Löwer (Fn. 20), Art. 16, R. 3 ff. m. Nachw. 23 Wilhelm Waldeyer, Über Aufgaben und Stellung unserer Universitäten seit der Neugründung des deutschen Reiches. Berliner Rektoratsrede am 25. Oktober 1898, Berlin 1889, S. 19. Der Rektor führt übrigens fort: „Ich will keineswegs behaupten, dass sie dasselbe (i. e. das Maß der Selbstverwaltung) immer zum besten benutzt haben“ (Hervorhebung im Original). 24 Wilhelm Waldeyer (Fn. 23). 25 Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band IV: Struktur und Krisen des Kaiserreichs, 1969, 925 (933). 26 Die Staatspraxis ist in dem Buch des preußischen Ministerialbeamten Erich Wende, Grundlagen des preußischen Hochschulrechts, 1930, präzise dargestellt. 27 Günter Holstein, Hochschule und Staat, 1928, S. 6.

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Eigengesetzlichkeit der Wissenschaft die Universität als eine sich selbst verwaltende Einrichtung verfasse, gibt jedenfalls die einfachgesetzliche Lage zutreffend wieder. Die Staatsrechtswissenschaft brachte aber einen gewissermaßen neuen Ton in die Debatte, als sie das Freiheitsversprechen für Kunst und Wissenschaft in Art. 142 WRV mit dem sich entwickelnden institutionellen Rechtsdenken28 zusammenführte. Beredter Ausdruck war Rudolf Smends Diktum vom „Grundrecht der deutschen Universität“29 (im Anschluss an Friedrich Paulsen). Die herkömmliche Selbstverwaltungsstruktur (Organe, akademische Angelegenheiten unter bloßer Rechtsaufsicht) wurde so im Kern verfassungsgeschützt30. Smend resümiert: „Die Verwaltung der inneren Angelegenheiten der Universitäten und Hochschulen [obliegt] in Ermangelung ihres Anstaltscharakters nicht dem Minister, sondern den Universitäten und Fakultäten selbst.“31 Der Charakter der deutschen Hochschule als Anstalt und Körperschaft war damit als Strukturgrundlage erfasst. Ob diese Sicht auch die Gesetzgeber überzeugt hätte, lässt sich retrospektiv nicht beurteilen. Man wird aber sagen können, dass die Verfassunggeber der frühen Nachkriegszeit der Weimarer Diskussion dadurch zugestimmt haben, dass sie dieses „vorverfassungsrechtliche Gesamtbild“ (Hermann Jahrreiß) vor Augen hatten bei der Konstitutionalisierung des Selbstverwaltungsrechts. b) Wirft man noch einen Blick auf die Inhaltserschließung der landesverfassungsrechtlichen Selbstverwaltungsgarantie in der Frühzeit der Geltung, zeigt sich die dogmatische Verzahnung mit der Weimarer Debatte. Erwin Riezler32 hält es für zweifelsfrei, dass den Universitäten jedenfalls kraft Gewohnheitsrecht das Recht der Selbstverwaltung zusteht, zum Teil beruhe es auf gesetzlicher Anerkennung. Mit Art. 138 Abs. 2 BayVerf (mit dem verfassungsrechtlichen Selbstverwaltungsversprechen) sei „nicht ein völlig neuer Rechtszustand geschaffen worden, sondern ein schon längst bestehender, im Nationalsozialismus gestörter Rechtszustand bestätigt und neu befestigt worden“. Werner Thieme entfaltet 1956 in seiner Habilitationsschrift die Wirkungen der Selbstverwaltungsgarantie33 – übrigens ohne dabei auf das institutionelle Rechtsdenken zurückzugreifen. Die Differenz zur gemeindlichen Selbstverwaltung wird gesehen, ohne indes zu begrifflich klassifizierender Klarheit zu gelangen. Ausgangspunke sind, dass akademische Selbstverwaltung nur als Verwaltung der Hochschullehrer und der Studenten möglich sei. „Andere, und seien es auch parlamentarisch 28 Carl Schmitt, Freiheitsrechte und institutionelle Garantien, in: Rechtswissenschaftliche Beiträge zum 25-jährigen Bestehen der Handels-Hochschule Berlin, Berlin 1931, hier zitiert nach dem Wiederabdruck in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, 2. Aufl. 1973, S. 140 ff. 29 Rudolf Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, VVDStRL 4 (1928), 44 (57). 30 S. insbesondere Fritz Stier-Somlo, Universitätsrecht, Selbstverwaltung und Lehrfreiheit, in: AöR 54 (NF 15), 1928, 360 f. 31 Fritz Stier-Somlo (Fn. 30), S. 382. 32 Erwin Riezler, Zur Abgrenzung der Zuständigkeit zwischen Staat und Universität, DRZ 2/1947 S. 137. 33 Werner Thieme, Deutschen Hochschulrecht, 1956, S. 73 ff.

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nicht verantwortliche Organe wie kollegiale Kuratorien, können daher vielleicht Selbstverwaltung, nicht dagegen akademische Selbstverwaltung ausüben.“ Soweit sie wissenschaftliche Verwaltungsaufgaben wahrnehmen, wäre dem verfassungsrechtlichen Selbstverwaltungsprinzip nicht genüge getan.34 Es lässt sich, was den Aufgabenbestand angeht, von einem „Universalitätsprinzip“ sprechen, das alle akademischen Angelegenheiten notwendig erfasse35. Thieme ist sich sicher, dass „der Umfang der akademischen Selbstverwaltung im Wesentlichen nur traditionell“ verstanden werden kann.36 Was die „innere Struktur“ betrifft, verweist Thieme als Formprinzip auf das „Kollegialprinzip“, auf die prinzipielle Hierarchiefreiheit der Wissenschaft.37 Zum Selbstverwaltungsrecht gehöre unabdingbar, das Recht im Wege der Wahl „ihre eigene Behörde zu bilden.“, weil dies „im Grundsatz eine notwendige Voraussetzung echter Wissenschaft ist.“ Der hier nur skizzierte Befund zeigt, dass die landesverfassungsrechtlichen Selbstverwaltungsgarantien zunächst ohne den Bannkreis bundesverfassungsrechtlicher Judikatur auszulegen sind. Dafür wird man für eine zeitgerechte Erfassung des Garantiegehalts sich zunächst über den „besonderen Charakter“ der Hochschulselbstverwaltung vergewissern müssen. Deshalb geht es nicht an, dass der Niedersächsische Staatsgerichtshof die Frage offen lässt, ob die Selbstverwaltungsgarantie über die vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Direktiven aus Art. 5 Abs. 3 GG hinausgeht.38 Jörn Ipsen tastet sich vorsichtig vorwärts: Die Norm habe „mindestens“ den Gewährleistungsgehalt wie der aus Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG39, was aber auch nicht wirklich weiterhilft. III. 1. Basisfeststellung für die Auslegung der Selbstverwaltungsgarantie ist aus systematischer Sicht zunächst das ganz unbestrittene Faktum, zugunsten welchem Schutzgutes die Selbstverwaltung eingerichtet wird: Es ist völlig unstrittig, dass die raison d’être in der Funktionssicherung für das Versprechen der Wissenschafts-

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Werner Thieme (Fn. 33), S. 76 f. Werner Thieme (Fn. 33), S. 77. 36 Werner Thieme (Fn. 33), S. 76. 37 Werner Thieme (Fn. 33), S. 81 und S. 154: „wesenseigenes Kollegialprinzip“; s. auch Arnold Köttgen, Das Grundrecht der deutschen Universität, 1959, S. 55; Hans H. Klein, „Demokratisierung“ der Universität, 2. Aufl. 1968, S. 34, s. mit rechtlicher Durcharbeitung des Kollegialprinzips Meinhard Schröder, Grundlagen und Anwendungsbereich des Parlamentsrechts, 1979, 461 – 466, 500 – 502. 38 Nds. StGH, NdsVBl. 2011, 47 (50); Carsten Mühlenmeier, in: Volker Epping/Hermann Butzer (Hrsg.), Hannoverscher Kommentar zur Niedersächsischen Verfassung, 2012 gibt sich sicher, dass die Gewährleistung nicht weitergeht als die Bundesverfassungsgerichtsgrundsätze (Art. 5 Rn. 36), begründet dies aber nicht. 39 Jörn Ipsen, Niedersächsische Verfassung, Kommentar, 2011, Art. 5 Rn. 24. 35

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freiheit liegt.40 Die Selbstverwaltung ist funktional um des Grundrechts Willen gewährleistet, die hochschulische Selbstverwaltung ist funktionale Selbstverwaltung. Jene Hochschulen, denen die Landesverfassungen das Recht der Selbstverwaltung gewähren, haben für die Selbstverwaltung kein staatsrechtliches Problem. Hochschulrecht ohne verfassungsrechtliche Selbstverwaltungsabsicherung, wenn man sie nicht aus Art. 5 Abs. 3 GG herausliest, wie dies das Schrifttum verbreitet vorträgt,41 wird sie einfach-gesetzlich gewährleisten. Sie ist damit für ihre verfassungsrechtliche Legitimation neben Art. 5 Abs. 3 GG als Rechtfertigung für die Herausnahme aus der unmittelbaren oder mittelbaren Staatsverwaltung auf die verfassungsrechtlich vorgegebene Legitimationsstruktur42 funktionaler Selbstverwaltung verwiesen. Auch die „garantielosen“ Landesgesetzgeber sind an diese Strukturen gebunden. Sie müssen neben Anforderungen aus Art. 5 Abs. 3 GG die Verfassungsvorgaben für funktionale Selbstverwaltungseinrichtungen beachten. 2. Das Bundesverfassungsgericht hat restrospektiv betrachtet lange keine Gelegenheit genommen, sich mit dem Phänomen, funktionaler Selbstverwaltung43 zu beschäftigen. Im Erftverbands-Urteil und in der Leitentscheidung zur Pflichtmitgliedschaft in Industrie- und Handelskammern ging es um die grundrechtliche Schutzwirkung vor der Inpflichtnahme Privater für die Erledigung von Verwaltungsaufgaben.44 Das Gericht hatte es hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Möglichkeit solcher Kompetenzausstattung von Selbstverwaltungsträgern mit hoheitlicher Gewalt mit einem Hinweis auf die grundsätzliche Freiheit des Gesetzgebers belassen, staatliche Aufgaben an Selbstverwaltungskörper zu delegieren.45 In (1.) Hochschulurteil ist auffällig, dass es fast ohne Obersätze auskommt, die die rechtliche Deduktion steuern 40 S. par pro toto etwa Klaus Braun (Fn. 21), Art. 20 Rn. 12: „Innerer Grund der akademischen Selbstverwaltung“ ist das in der Landesverfassung ebenfalls gesicherte Freiheitsversprechen „es geht um die Aufrechterhaltung der grundrechtlich gesicherten Wissenschaftsfreiheit“ im Anschluss an BWStGH ESVGh 24, 12 (14 f.). 41 Einrichtungen, denen grundrechtlich Staatsdistanz garantiert ist, können nicht sinnvoll als Erscheinung mittelbarer Staatsverwaltung rubriziert werden (s. Reinhard Hendler, Das Prinzip der Selbstverwaltung, in: Isensee/Kirchhof, HBStR VI, 3. Aufl. 2008, § 143 Rn. 42). 42 S. statt viele Max-Emanuell Geis (Fn. 4) Rn. 25 ff. 43 Im Gegensatz zur gebietskörperschaftlichen Selbstverwaltung, die einen demokratischen Legitimationszusammenhang für die Verwaltung der eigenen Angelegenheiten über die Wahl des in den Gebietskörperschaften fraktionierten Gemeindesvolkes bereitstellte, geht es bei der funktionalen Selbstverwaltung darum, dass von der Aufgabenerfüllung Betroffene ihnen gesetzlich übertragene oder verfassungsrechtlich zugewiesene Aufgaben eigenverantwortlich erfüllen (s. z. B. Thomas Mann, Berufliche Selbstverwaltung, HBStR VI (Fn. 41) § 146 Rn. 1). Natürlich lässt sich das, was der Gesetzgeber modal im Wege funktionaler Selbstverwaltung erledigen lässt, typologisch weiter aufschlüsseln (s. Gunnar Folke Schuppert, Selbstverwaltung als Beteiligung Privater an der Staatsverwaltung, in: Festgabe für Georg Christoph von Unruh, 1983, S. 183 (203 ff.), daran anschließend Richard Hendler (Fn. 41) Rn. 65); das ändert aber nichts an den strukturellen Gemeinsamkeiten. 44 BVerfGE 10, 354 (363) – Erftverband; 15, 235 (239) – IHK; BVerfGE 32, 54 (63 f.); Zum Problem Thomas Mann (Fn. 43), Rn. 32 – 36. 45 S. BVerfGE 14, 235 (242) – IHK.

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würden46. Die Gruppenuniversität wird gebilligt, ohne dass das Wort „Demokratieprinzip“ auch nur vorkäme. Das gebilligte Modell der Gruppenuniversität sah eine Zusammensetzung der Gruppe derart vor, dass die Hochschullehrer in Senat und Fakultät jeweils die größte Zahl der Sitze einnehmen sollten, die geringste Stimmenzahl war den nichtwissenschaftlichen Mitarbeitern zugebilligt.47 Die Hochschullehrer hatten im Senat 2/5 der Stimmen, in der Fakultät 12/27 der Sitze. Das (2.) Hochschulurteil48 beschäftigt sich mit der formalen Wahlgleichheit, wenn Gruppen ihre Vertreter wählen, die Gruppen aber ungleich groß sind, so dass die Erfolgswertegleichheit der Stimmen nicht gegeben ist und billigt dies für die Hochschulen. In der Entscheidungspraxis des Gerichts ist in der Folgezeit das demokratische Prinzip im Sinn des „Kettenmodells“ verstanden worden. Das „Ausgehen der Staatsgewalt vom Volk“ verlangt die personelle Legitimation der Ämterbestellung und die sachliche Legitimation der Entscheidungen; die Entscheidungen müssen jeweils auf das Staatsvolk zurückführbar sein49, wobei das Staatsvolk nur gebietskörperschaftlich, aber nicht funktional fraktioniert sein kann,50 so dass die Frage der demokratischen Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung noch einer Antwort harrte.51

46 S. BVerfGE 35, 79 – (1.) Hochschulurteil S. 109 – 112 (C I zu den Krisensymptomen der Hochschulen, S. 112 – 116 die allg. Beschreibung der Grundrechtsfunktionen des Art. 5 Abs. 3 GG (unter C II), S. 116 – 120 zur Entstehungsgeschichte für den Nachw., dass das überlieferte Modell der Hochschule der Garantie der Wissenschaftsfreiheit nicht zugrunde liege (C III). Erst unter (C IV (S. 120 – 124) wird eine abstrakte Beschreibung der Begrenzungsfunktion des Grundrechts versucht (S. 120 – 124). Die zentrale Aussage bezieht sich denn auch auf die bloße Vertretbarkeitskontrolle – im Ergebnis dem Verfassungsgericht gewiss gemäß – gegenüber dem Gesetzgeber zurück: Die Gruppenuniversität ist vertretbar. Ob sie zweckmäßig ist, geht das Gericht gewissermaßen nichts an (S. 125). Für die Berechtigung der Befähigung der einzelnen Gruppen – übrigens nicht für die Hochschullehrer – gibt das Gericht eine knappe Begründung: Wissenschaftliche Mitarbeiter stehe das Recht aus Art. 5 Abs. 3 GG ebenso zu, wie den Hochschullehrern (nebenbei das „ebenso“ ist eine arge Verkürzung), Studenten sind wegen ihrer „sozialen Abhängigkeit“ von der Berufs- und Lebenschancen vermittelnden Universität zu beteiligen und die „ständigen Mitarbeiter“ haben zwar an Art. 5 Abs. 3 GG keinen Anteil, aber ihr praktisches Wissen dürfe fruchtbar gemacht werden (S. 120 f.). Im Weiteren wird dann begründet, weshalb Hochschullehrer ein situativ höheres Stimmrecht haben müssen (S. 126 – 135). 47 S. die Vorschriften des nds. Vorschaltgesetzes in BVerfG 35, 79 (84): s. für den Senat 8 : 4 : 4 : 2, im Fakultätsrat 12 : 6 : 6 : 3. 48 BVerfGE 39, 247 (254 f.) – (2.) Hochschulurteil. 49 S. die Darstellung bei Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HBStR II, 3. Aufl. 2004, § 24 Rn. 16 ff., 21 ff. 50 Zum Volksbegriff in gebietskörperschaftlicher Fraktionierung BVerfGE 83, 37 (54) sowie die Hinw. bei Ernst-Wolfgang Böckenförde (Fn. 49) Rn. 26 ff. 51 Ernst-Wolfgang Böckenförde (Fn. 49): „Die dadurch (durch die Mitglieder des Verbandes) vermittelte personelle Legitimation ist weder an sich eine demokratische, vom Staatsvolk ausgehende, noch weist sie strukturähnliche Elemente mit dieser auf.“ (Die Leitentscheidung v. 05. 12. 2002 – (BVerfGE 107, 59) berücksichtigt Böckenförde nur noch in den Fußnoten seines Textes).

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Selbst für die funktional-grundrechtlich begründete Selbstverwaltung war sie im Lichte solcher Deutung des Demokratieprinzips zum Teil prekär: Nur für die Hochschullehrer ist die grundrechtliche Begründung – trotz ihres Dienstnehmerstatus – zweifelsfrei, weil ihre Tätigkeit im Bereich akademischer Angelegenheiten in den Schutzbereich des Grundgesetzes fällt; für die Studenten ist das schon zweifelhaft, weil das Studium selbst (von einzelnen denkbaren Studienleistungen abgesehen) nicht Verwirklichung der Wissenschaftsfreiheit ist52; auch wissenschaftliche Mitarbeiter genießen zwar für ihre wissenschaftliche Arbeit den Schutz des Art. 5 Abs. 3 GG, nicht aber für ihre gesamte Tätigkeit; die Mitarbeiter aus Technik und Verwaltung haben überhaupt keinen Anteil an der Wissenschaftsfreiheit.53 3. Erst als das Bundesverwaltungsgericht das Lippeverbands- und das Emschergenossenschaftsgesetz dem Bundesverfassungsgericht wegen der vom Vorlagegericht angenommenen Unvereinbarkeit der Gesetze mit dem Demokratieprinzip vorgelegt hatte54, musste sich das Bundesverfassungsgericht der funktionalen Selbstverwaltung zuwenden. Die Gesetze waren (und sind) so konstruiert, dass verschiedene Gruppen Vertreter in die Verbandsversammlung mit zugewiesenen unterschiedlichen Sitzzahlen wählen. Die Verbandsversammlung wählt den Verbandsrat, dort sind 5 von 15 Mitgliederplätzen den Arbeitsnehmern vorbehalten (3 Mitarbeiter, 2 Nichtbeschäftigte – also der Sache nach Vertreter der Gewerkschaften). Die Entscheidung zu den Notarkassen55 profiliert die Dogmatik funktionaler Selbstverwaltung weiter. Im Ausgangspunkt beweist das Gericht, was für verfassungsunmittelbar gewährte funktionale Selbstverwaltung gar nicht beweisbedürftig ist: Die funktionale Selbstverwaltung ist verfassungsrechtlich akzeptiert, weil der Verfassunggeber sie in ihrer vorverfassungsmäßigen Existenz zur Kenntnis und durch Erwähnung in der Verfassung (Art. 86, 87 Abs. 2 u. 3, 130 Abs. 3 GG) gebilligt habe.56 Die demokratisch bisher verbreitet angenommene Legitimationslücke wird dadurch geschlossen, dass die funktionale Selbstverwaltung als Aktivierung der „freien Selbstbestimmung aller“ rubriziert wird, so dass sie als „Ausprägung“ des Demokratieprinzips verstanden wird.57 In diesem Rahmen einer „besonderen Organisationsform der Selbstverwaltung“58 muss der parlamentarische Gesetzgeber „ausdrückliche institutionelle Vor52 Die Frage, ob die Studierfreiheit Art. 5 Abs. 3 GG tatbestandlich zugerechnet werden kann, ist bekanntlich lebhaft umstritten; s. etwa die Nachw. bei Wolfgang Löwer (Fn. 5) Rn. 68 m. Fn. 420; s. BVerfGE 50, 37 (67 f.): „Zumindest soweit der Student bereit und in der Lage ist (…) an der wissenschaftlichen Lehre teilzuhaben, kann ihm das Grundrecht aus Art. 5 Abs. 3 GG zustehen.“ 53 Die Frage der Teilhabe des Verwaltungspersonals an Sachentscheidungen der öffentlichen Verwaltung hat das Bundesverfassungsgericht häufig beschäftigt bis zu der vorsichtigen Lockerung im Urteil zur Mitbestimmung in Schleswig-Holstein; s. BVerfGE 93, 37 (67 f.). 54 BVerwGE 106, 64 mit der Antwort in BVerfGE 107, 59 – Lippe- und Emscherverband. 55 BVerfGE 111, 191 – Notarkassen. 56 BVerfGE 107, 59 (89 f.). 57 BVerfGE 107, 59 (91 f.). 58 BVerfGE 107, 59 (92).

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kehrungen“ dafür schaffen, „dass die betroffenen Interessen angemessen berücksichtigt werden“.59 Grundgedanke ist ein Konzept „autonomer interessengerechter Selbstverwaltung“. Es soll „verwaltungsexterner Sachverstand aktiviert werden“.60 Gemeint sind damit die partizipativ Mitwirkenden. Die Mitbestimmung der Mitarbeiter aus Technik und Verwaltung61 wird aus Effektivitätsgründen gerechtfertigt: „Eine Beteiligung Nichtbetroffener kann durch eine angestrebte Steigerung der Wirksamkeit der öffentlichen Aufgabenwahrnehmung gerechtfertigt sein“.62 Die Notarkammerentscheidung betont, dass das Organisationsstatut nicht der Einrichtung selbst überlassen werden darf; der parlamentarische Gesetzgeber muss die Binnenorganisation selbst regeln. Die Binnenstruktur muss einen „demokratischen Willenbildungsprozess“ ermöglichen, in dessen Rahmen die „Bevorzugung einzelner Interessen verhindert wird.63 IV. 1. Die Landeshochschulgesetzgeber mit verfassungsrechtlicher Selbstverwaltungsgarantie haben also zwei verfassungsrechtlich normierte Linien – die Selbstverwaltungsgarantie und die Konsequenzen der funktionalen Selbstverwaltung – zu beachten, Landesgesetzgeber ohne Selbstverwaltungsversprechen müssen die Funktion der Wissenschaftsfreiheit wahren; sie gewähren deshalb die Selbstverwaltung zwar kraft einfachen Rechts, schaffen damit einen Raum funktionaler Selbstverwaltung, so das dessen Bindungen auch für sie zu beachten sind. 2. Die Konsequenzen für verschiedene Fragen der aktuellen Hochschulreformdebatte64 liegen damit ein Stück weit auf der Hand. a) aa) Die institutionelle Garantie hochschulischer Selbstverwaltung geht von der Wahl der Hochschulorgane aus dem Personalbestand der Betroffenen aus. Zur Partizipation berufene Betroffene sind aus der Funktion der Wissenschaftsfreiheit heraus zu bestimmen; das sind die Hochschullehrer und die wissenschaftlichen Mitarbeiter, wenn auch mit minderem Gewicht, weil sie keineswegs nur zu weisungsfreier Wissenschaft berufen sind. Studenten sind sicher Betroffene, weil Universitäten gerade auch um ihrer Willen errichtet sind – unbeschadet ihrer Partialberechtigung aus Art. 5 Abs. 3 GG. Mitarbeiter aus Technik und Verwaltung können kraft des landesverfassungsrechtlichen Selbstverwaltungsversprechens nicht als funktional parti59

BVerfGE 107, 59 (93) im Anschluss an Thomas Groß, Das Kollegialprinzip in der Selbstverwaltungsorganisation, 1999, S. 251 f. 60 BVerfGE 107, 59 (93 und 92). 61 In der frühen hochschulrechtlichen Terminologie „sonstige Beschäftigte“, eine irgendwie despektierlich-unangemessene Sprache, weil sie Mitarbeiter einer „Rest-Kategorie“ zuweist. 62 BVerfGE 107, 59 (99). 63 BVerfGE 111, 191 (215 – 218). 64 S. den Versuch zusammenfassender Übersicht bei Wolfgang Löwer, Hochschulautonomie in der bundesstaatlichen Entwicklung, in: Hans-Detlef Horn/Katharina Krause, Funktionsgerechte Hochschulreformorganisation, 2013, S. 31 ff.

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zipativ Betroffene erfasst werden (es sei denn, die Landesverfassung – Brandenburg65 – zieht sie ausdrücklich als Gruppe ein). Allerdings erlaubt die Idee funktionaler Selbstverwaltung es, wie oben bemerkt66, den Sachverstand des Personals für die Verwaltungsaufgaben fruchtbar zu machen. An der Sinnhaftigkeit der Einbeziehung gerade im komplexen Wissenschaftsbetrieb besteht im Übrigen kein Zweifel. Da die hochschulische Selbstverwaltung institutionelle Garantie ist, öffnet sie sich für eine solche gesetzliche Fortentwicklung, so dass die vom Bundesverfassungsgericht zum Niedersächsischen Vorschaltgesetz relativ reflexionsarm akzeptierte Gruppenuniversität gerechtfertigt werden kann. Das ist gewiss kein überraschender Befund. Für die aktuelle Debatte gewinnt er Bedeutung, wenn es um die Frage geht, wie denn die Gruppen in welcher Stimmrechtsstärke in den zentralen Vertretungsorganen mitwirken sollen. bb) Die funktionale Selbstverwaltung wird weithin dadurch charakterisiert, dass in der Wahl die Wahlberechtigten in ihrer Zuordnung zu bestimmten Gruppen Repräsentanten der Gruppe für die Einrichtung legitimieren. Die Pflichtmitglieder, die die Mitglieder der Vollversammlungen einer Industrie- und Handelskammer wählen, sind so wenig über einen Kamm zu scheren, wie die Mitglieder der Hochschule. Solche Gruppenwahl verstößt auch nicht gegen die Wahlrechtsgleichheit des Art. 38 Abs. 1 GG und die landesverfassungsrechtlichen Parallelvorschriften, weil diese für den Sektor der funktionalen Selbstverwaltung gar nicht gilt, sondern nur für die eigentlichen Volkswahlen67. Die Notwendigkeit des Nichtegalitären in einer „zwangsläufigen“ Gruppenvertretung hat das Gericht für den Hochschulbereich mehrfach betont.68 Die Gruppen, die zur Mitwirkung berufen sind, müssen nach Qualifikation, Verantwortung und Betroffenheit in Forschung und Lehre einen vierfach abgestuften Status aufweisen, auf deren Grundlage das Hochschulrecht die einzelnen Gruppen der Hochschulangehörigen zu bilden und homogen zusammenzusetzen hat69. Dabei ist es genuine Aufgabe des parlamentarischen Gesetzgebers, die Gruppe zu definieren70, nicht Aufgabe der sich eine Verfassung (Grundordnung) gebenden Universität. 65

S. oben II. 1. S. oben Fn. 62. 67 S. nur BVerfGE 39, 79 (235): Erfolgswert der Stimmen kann nicht gleich groß sein. Zu den IHK-Wahlen s. OVG NRW, GewA 2003, 378; Groß/Rickert, Wahlrecht und Wahlpraxis der Industrie- und Handelskammern, Anm. z. Urteil des OVG NRW vom 12. 03. 2001, GewA 2003, 359; Rickert, in: Frentzel/Jäkel/Junge, Industrie- und Handelskammergesetz, 7. Aufl. Köln (2009), § 5 Rn. 44 ff. m.w.Nachw. 68 BVerfGE 35, 79 (134 f. u. 139); 39, 247 (255); 43, 242 (269). 69 Allg. Meinung, s. etwa Meinhard Schröder (Fn. 37) S. 446. 70 S. grundsätzlich zur Aufgabe des parlamentarischen Gesetzgebers im Verhältnis zur selbstorganisierenden Satzungsgebung der Subjekte funktionaler Selbstverwaltung die Entscheidung zu den Notarkassen, BVerfGE 111, 191. Die abgeleiteten jur. Personen des öffentlichen Rechts verfügen nur im gesetzlich überlassenen Randbereichen über das Recht der Selbstorganisation. Der organisationsrechtliche Gesetzesvorbehalt nimmt den Parlaments66

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Wenn also die Gruppen auch im Interesse des mit der Hochschulorganisation intendierten Grundrechtsschutzes71 einen abgestuften Status haben müssen, ist die Idee formalisierter Gleichheit der Gruppe („Viertelparität“) verfassungswidrig, weil sie dann nicht nach „Qualifikation, Verantwortung und Betroffenheit“ gestuft mitwirken. Im (1.) Hochschulurteil stellen die Hochschullehrer zwar die größte Gruppe, aber nicht die Mehrheit der Mitglieder; deshalb wurde ihnen in Angelegenheiten der Forschung und Lehre die Letztentscheidung eingeräumt. Hochschullehrer seien nämlich Inhaber der „Schlüsselfunktionen des wissenschaftlichen Lebens“72. Nun könnte man mit dem nordrhein-westfälischen Gesetzgeber des Hochschulzukunftsgesetzes73 meinen, man dürfe die Viertelparität vorschreiben, wenn das Hochschullehrerviertel das letzte Wort in Forschung und Lehre behalte. Damit übersieht der Gesetzgeber indes, dass es um die –zusammengefasst – Bedeutung einer Gruppe in einem Repräsentationszusammenhang geht, der seine grundrechtsschützende Funktion z. B. dann nicht entfalten könnte, wenn von jeder Gruppe nur ein Mitglied in einem dem kollegialen Willen bündelnden zentralen Verwaltungsorgan (Senat) säße. Die Gruppenrepräsentation muss aber so gestaltet sein, dass diese in ihrer Bedeutung für die Gesamtpräsentation abgebildet wird. Sie wirkt grundrechtssichernd nur – und das gilt insbesondere für die Inhaber der wissenschaftlichen „Schlüsselpositionen“ – wenn sie Raum gibt für eine Repräsentanz mit innerem Pluralismus, der in einer solchen Gruppe unausweichlich besteht. Deshalb hat das Bundesverfassungsgericht die Regelung etwa von 8 : 4 : 4 : 2 nur für „noch verfassungsmäßig“ gehalten und sie für die Angelegenheiten, die Forschung und Lehre unmittelbar betreffen, verfassungskonform ausgelegt. Funktionsgerechter ist es zweifellos, der Gruppe der Hochschullehrer ein überwiegendes Stimmrecht zuzugestehen. Die Stimmrechtsvervielfältigung ist bloßer Notbehelf, wenn das Zahlenverhältnis nicht schon kraft Mitgliedschaft verfassungsmäßig gestaltet ist. Bei entsprechender Zahl der Hochschullehrersitze über die ihrer Repräsentanten wäre es auch möglich, dem bündischen Prinzip, also der Vertretung der Fakultäten über eigene Senatoren, Rechnung zu tragen. Damit würde die Pluralität der verschiedenen Fächersichten ermöglicht. Jedenfalls muss die Gruppe der Hochschullehrer die gesetzgeber in Pflicht (im Grundsätzlichen schon BVerfGE 33, 125 (155 f.) – Facharzt sowie auch das 1. Hochschulurteil BVerfGE 35, 79 (120 f.); Meinhard Schröder (Fn. 37) S. 499 f. 71 BVerfGE 35, 79 (116); 54, 363 (389 ff.); 11, 333 (354) – Brandenburg. 72 BVerfGE 35, 79 (126 – 130). Das Sondervotum von von Brünneck/Simon kritisiert dieses Übergewicht für die Hochschullehrer im Willensbildungsprozess. Es traut den Hochschullehrern nicht über den Weg und will deshalb dem Gesetzgeber mehr Gestaltungsfreiheit auch in der Frage der Paritäten geben als die Mehrheitsmeinung. Das Votum schließt mit der immerhin prophetischen Mahnung (wobei die zugrundeliegende Vorwegnahme der Ursache – die Hochschullehrer werden „schuld“ sein nicht stimmen muss): „Auch könnte eine derartig weitgehende Einengung seiner Gestaltungsfreiheit den Gesetzgeber zu Auswegen in Richtung auf ein Wissenschaftsmanagement veranlassen und damit den Anfang vom Ende der Hochschulautonomie einleiten. 73 Hochschulzukunftsgesetz v. 16. September 2014, GV NRW S. 547.

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Größe der anderen Gruppen deutlich überschreiten. Die Viertelpariatät ist verfassungswidrig. 3. Auch der Einbruch des „Wissenschaftsmanagements“ über die etablierten Hochschulräte (a) und die Stärkung hierarchischer Leitungsgewalt ist mit der hochschulischen Selbstverwaltung partiell unvereinbar (b). a) Der Effizienz der Gruppenuniversität hat die Politik spätestens seit der letzten Dekade des vorigen Jahrhunderts ein miserables Zeugnis ausgestellt und deshalb den Gedanken effizienter Steuerung in die Gesetzgebung als Leitprinzip eingefügt. Zum Instrumentenkasten gehören auch die Hochschulräte, die mindestens auch mit hochschulexternen Mitgliedern besetzt sind, je nach Landesrecht differenzierend zwischen Parität mit gewählten Hochschulmitgliedern und Ausschließlichkeit externer Mitglieder74. Ihren Amtsgewinn verdanken sie nicht originär einem hochschulischen Wahlakt, sondern dem ministeriellen-hochschulischen Zusammenwirken75. In der Rektorwahl haben sich „in der ersten Welle“ der Reformgesetzgebung das letzte Wort, haben also in dieser Frage das höchste legitimatorische Gewicht; ansonsten kommen ihnen strategische Leitungskompetenzen und (in Nordrhein-Westfalen) die Aufsicht über die Amtsführung des Rektorats zu. Die Verfassungsmäßigkeit dieses den Universitäten gesetzlich zugerechneten Organs ist am Maßstab der Selbstverwaltungsgarantie höchst prekär76. Zur Effizienzmehrung wird fremder Sachverstand in den Entscheidungsprozess der Selbstverwaltung implantiert. Das Prinzip der Betroffenenverwaltung – konstituierend für die Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung wie der landesverfassungsrechtlichen Garantie – wird damit verlassen. Wie oben für die funktionale Selbstverwaltung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dargelegt ist, darf die Betroffenenverwaltung ergänzt werden um Nichtbetroffene, solange die Nichtbetroffenen den Betroffenen nicht das Gesetz des Handelns diktieren können77. Sonst geht das Selbst-Verwaltungselement verloren. Fremder Sachverstand darf eingebracht werden („Effizienzsteigerung“), aber nur wenn die Entschließungen des Hochschulrates den zentralen Vertretungsorganen auf zentraler Universitätsebene und in den Fakultäten nicht als Diktat der Verbindlichkeit begegnen; den Vertretungsorganen muss Raum für effektive Einflussnahme bleiben, die über ein bloßes Benehmen hinaus74 Parität: Bayern Art. 26 Abs. 1 Satz 1 HSchG, ausschließlich externe Mitglieder Hessen § 52 Abs. 2 HSchG Hess, mehrheitlich § 21 Abs. 3 HSchG NRW i. d. F.d. „Hochschulfreiheitsgesetzes“ v. 31. Oktober 2006, GV, NRW S. 474. 75 S. § 21 Abs. 3 S. 3 Abs. 4 S. 4 HSchG NRW (i. d. F. Fn. 74). 76 Für die Verfassungswidrigkeit der nordrhein-westfälischen Hochschulratslösung streiten gewichtige Stimmen: s. u.a. Klaus Ferdinand Gärditz, Reformierte Hochschulorganisation und verfassungsrechtliche Gegenreformation, in: Hans Detelf Horn/Katharina Krause (Hrsg.), Funktionsgerechte Hochschulorganisation, 2013, S. 55 (66 f., 71 f.); Daniel Krausnick, Staat und Hochschule im Gewährleistungsstaat, 2012, S. 412 – 442 m.w.Nachw.; Peter Dallinger, in: Lenze/Epping, HG NRW (Loseblatt), § 21 Rn. 17 ff.; ebenso Thomas Horst, Zur Verfassungsmäßigkeit der Regelungen des Hochschulgesetzes NRW über den Hochschulrat, 2010. 77 S. oben IV.

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geht. Regelmäßig wird eine Form des Einvernehmens gesucht werden müssen. Einigermaßen evident ist, dass der Hochschulrat nicht das letzte Wort in der Wahl des Rektors/Präsidenten haben kann, weil dies nicht mit dem Kern der hochschulischen Selbstverwaltungsgarantie, wie er historisch überkommen geformt ist, vereinbar ist. Gleiches gilt für die Abwahl. b) Der zweite zentrale Zug des Wissenschaftsmanagements betrifft die innere Hierarchisierung der Universität78. Die Gruppenuniversität gilt als zu schwerfällig und kompromisslastig, als dass sie den Anforderungen an einen effizienten Lehrund Forschungsbetrieb genügen könnte. Der Befund mag einiges für sich haben, kann aber die Rechtsbindungen der Selbstverwaltung nicht ohne weiteres überwinden. Nach dem überkommenen Bild, das der Verfassungsgarantie der Selbstverwaltung zugrunde liegt, müssen die wesentlichen Entscheidungen von den Repräsentanten der Betroffenen herrühren, also vom Senat und den Fakultätsräten. Gewiss sind die herkömmlichen Aufgaben des Senats nicht sämtlich gegen Aufgabenwanderungen zur Leitungsebene geschützt. Aber alle Steuerungskompetenzen jenseits der Rechtssetzung auf Hochschulrat und Rektor/Präsidenten umzuverteilen, schwächt das partizipative Element zu sehr. Eine „diktatorische“ Selbstverwaltung gibt es nicht. Das Recht muss sicherstellen, dass die Steuerungsentscheidung dialogisch zwischen Leitungsebene und Senat gewonnen werden, was über Zustimmungsvorbehalte und Kontrollrechte des Senats sicherzustellen ist. Von funktionaler hochschulischer Selbstverwaltung kann sonst keine Rede sein. V. Die neuere und neueste Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts befindet sich auf dem eben skizzierten Weg, der funktionalen Selbstverwaltung im Interesse der geschützten Funktion der Wissenschaft mehr Raum zu verschaffen (auch wenn das Gericht terminologisch nicht auf die funktionale Selbstverwaltung Bezug nimmt). Das Brandenburg-Urteil79 war insoweit noch etwas „blass“ geblieben, indem es dem Gesetzgeber mit der Grenze der Gefährdung der individuellen Wissenschaftsfreiheit des einzelnen Wissenschaftlers durch die hochschulischen Organisationsnormen sehr viel Gestaltungsraum auch im Sinne einer managerialen Universität gelassen hatte. Das spätere Entscheidungsmaterial, das dem Gericht vorgelegen hat, hat offenbar seine Skepsis gegenüber einer so neustrukturierten Universität sub specie Wissenschaftsfreiheit wachsen lassen.

78

Krit. dazu schon Wolfgang Löwer, „Starke Männer“ oder „starke Frauen“ an der Spitze der Universität, in: Matthias Ruffert (Hrsg.), Recht und Organisation, 2003, S. 25 ff. sowie Klaus Ferdinand Gärditz (Fn. 76) S. 73 ff. 79 BVerfGE 111, 333 – Brandenburg.

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In der Hamburg-Entscheidung80 etabliert das Gericht zwei kommunizierende Röhren: Wenn die Zuständigkeiten der zentralen Kollegialorgane abnehmen, müssen ihnen mehr Kontrollzuständigkeiten zugestanden werden. Die Steuerung darf also nicht allein in die Hand der kompetenzstarken Leitungsorgane gelegt werden. Laufen die Dinge aus der Sicht der Kollegialorgane schief – und für diese Einsicht müssen sie durch Kontrollmittel ertüchtigt werden –, müssen sie die Leitungsorgane aus eigener Kompetenz auch abwählen können. Vorausgesetzt wird also eine im Wahlakt des Kollegialorgans begründete Vertrauensbeziehung, die im Fall der Enttäuschung die Abwahl ermöglichen muss. Das letzte Wort für Wahl und Abwahl muss also bei den kollegialen Vertretungsorganen liegen, folglich nicht beim Hochschulrat. In der Entscheidung zur Medizinischen Hochschule Hannover81 wird dieser Kurs nochmals bekräftig und untermauert.82 Die den Wissenschaftlern zwingend zur Mitwirkung offenstehenden Themen werden über den Terminus der „unmittelbar Forschung und Lehre betreffenden Angelegenheiten“, der bisher das Feld beherrscht hatte, hinaus erweitert: An sämtlichen wissenschaftsrelevanten Entscheidungen im Sinne auch der Organisationsstruktur und des Haushalts83 „müssen die wissenschaftlich Tätigen, hinreichend mitwirken können“.84 Die wissenschaftlich Tätigen müssen die Möglichkeit haben, „ihre Auffassung mit Blick auf solche Entscheidungen (der Leitungsorgane mit Wissenschaftsbezug) tatsächlich selbst durchzusetzen und sie dürfen nicht auf die Möglichkeit bloßer Stellungnahmen verwiesen sein“.85 In der Tat: Sonst ließe sich von Selbstverwaltung, wie sie landesverfassungsrechtlich geschuldet wird, auch gar nicht sprechen. Das Bundesverfassungsgericht zieht der managerialen Universität deutliche Grenzen, ohne das Effektivitätsprinzip aufzugeben. Man wird hochschulische Kollegialität „in den Kreisen“ der Hochschulgesetzgeber wieder ernster nehmen müssen.

80

BVerfGE 127, 87 – Hamburg. BVerfG, v. 24. Januar 2014 – 1 BvR 3217/07 – MHH. 82 BVerfG (Fn. 81) Rn. 55 ff., 62 ff. 83 BVerfG (Fn. 81) Rn. 58. 84 BVerfG (Fn. 81) Rn. 61. 85 BVerfG (Fn. 81) Rn. 60.

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Streikfreiheit für Beamte kraft Europäischer Menschenrechtskonvention? Von Detlef Merten, Speyer I. Koalitionsfreiheit und Streikfreiheit sowie Streikverbot für Beamte nach deutschem Verfassungsrecht 1. Koalitionsfreiheit a) Koalitionsfreiheit nach der Gewerbeordnung von 1869 Die Koalitionsfreiheit findet sich noch nicht in den frühen Menschenrechtserklärungen, sondern erst – mit Anfängen Ende des 19. Jahrhunderts – in den Deklarationen und Konstitutionen des 20. Jahrhunderts. Waren bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts Verabredungen und Vereinbarungen zur Förderung der Wirtschaftsbedingungen in den deutschen Staaten verboten und sogar mit Strafe bedroht1, so wurde dies durch § 152 Abs. 1 der Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes von 18692 aufgehoben. Allerdings blieb die auch von Bismarck3 befürwortete Koalitionsfreiheit zunächst eine hinkende Freiheit, da gemäß § 152 Abs. 2 GewO4 der Koalition jeder Rechtsschutz versagt blieb, Forderungen aus Koalitionsverträgen den Naturalobligationen gleichgestellt wurden und § 153 GewO mit Strafe bedrohte, wer andere „durch Anwendung körperlichen Zwanges, durch Drohungen, durch Ehrverletzungen oder durch Verrufserklärungen“ zum Anschluss an eine Koalition zu bestimmen oder deren Austritt aus ihr zu verhindern suchte. Zur Verbesserung des innenpoliti-

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Zur geschichtlichen Entwicklung vgl. Alfred Hueck/Hans Carl Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, Bd. II, 3./5. Aufl., 1932, § 47, S. 482 ff. 2 V. 21. 6. 1869 (BGBl. S. 245), abgedr. bei Ernst Rudolf Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. II, 3. Aufl., 1986, S. 310 f. 3 Brief an Graf von Itzenplitz v. 26. 1. 1865: „Ich lege Werth darauf, den Arbeitern die Freiheit der Coalition gewährt zu sehen, zunächst wegen der moralischen Wirkung, die ich mir davon verspreche … . Ich sehe endlich in der freien Coalition der Arbeiter ein im Interesse der Wohlfahrtspolizei nicht zu unterschätzendes Correktiv gegen das zeitweilige, krankhafte Wachsthum einzelner Industriezweige“; abgedr. in Hans Rothfels (Hg.), Bismarck und der Staat, 1958, S. 317 f. 4 § 152 GewO wurde durch § 69 Abs. 2 des Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit v. 20. 1. 1934 (RGBl. I S. 45) aufgehoben. Bereits zuvor hatte das Reichsgericht (RGZ 111, 199 [202 f.]) die Bestimmung wegen Verstoßes gegen Art. 159 WRV als derogiert angesehen. Vgl. demgegenüber auch RGZ 113, 33.

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schen Klimas5 wurde im Jahre 1918 diese wegen ihres „gehässigen Charakters“6 von den Arbeitern angefeindete Vorschrift aufgehoben7, was allerdings nur politisch, nicht aber rechtlich relevant war. Denn § 153 GewO hatte nur subsidiären Charakter gehabt und war schon nach seinem Wortlaut nur anwendbar gewesen, „sofern nach dem allgemeinen Strafgesetz nicht eine härtere Strafe eintritt“. Infolgedessen bewirkte die Tilgung der Bestimmung keine Straflosigkeit der Nötigung und keine Billigung von Zwangsanwendung bei der Koalitionsbildung. b) Weimarer Reichsverfassung und Grundgesetz Art. 159 der Weimarer Reichsverfassung gewährleistete dann die „Vereinigungsfreiheit zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen … für jedermann und für alle Berufe“. Ihm ist Art. 9 Abs. 3 Satz 1 und 2 des Grundgesetzes fast wörtlich nachgebildet. Im Zuge der Verfassungsergänzung durch eine „Notstandsverfassung“ wurde Art. 9 Abs. 3 GG im Jahre 1968 durch einen Satz 3 ergänzt8, wonach sich bestimmte, im einzelnen aufgeführte Maßnahmen nicht „gegen Arbeitskämpfe richten“ durften, „die zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen von Vereinigungen im Sinne des Satzes 1 geführt werden“. 2. Streikfreiheit a) Ableitung aus Art. 9 Abs. 3 Satz 3 GG Der Begriff „Streikrecht“ oder „Arbeitskampffreiheit“ wird in allen angeführten Bestimmungen vermieden. Die Weimarer Reichsverfassung hatte wegen der Ablehnung eines Streikrechts ausdrücklich nur eine „Vereinigungsfreiheit“ gewährleistet9. Das Grundgesetz verbietet aufgrund einer bereits erwähnten Ergänzung, dass sich bestimmte Staatsnotwehr-Maßnahmen „gegen Arbeitskämpfe richten, die zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ von Koalitionen geführt werden“. Zwar hatte der Parlamentarische Rat in eingehenden Beratungen während zweier Monate10 wiederholt Anträge, ein „Streikrecht“ oder ein „Recht der ge5 Vgl. die Beratung des Entwurfs eines Gesetzes betreffend Aufhebung des § 153 der Gewerbeordnung, 155. Sitzung des Deutschen Reichstags, 13. Legislaturperiode, 2. Session am 1. 5. 1918 (Sten. Ber. S. 4838 ff.). 6 So der Abg. Friedrich Ebert (SPD) in der Beratung a. a. O., S. 4839 B. 7 Durch Gesetz betreffend Aufhebung des § 153 der Gewerbeordnung v. 22. 5. 1918 (RBGl. I S. 423). 8 Durch § 1 des 17. Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes vom 24. 6. 1968 (BGBl. I S. 709) – Notstandsverfassung. 9 Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. 8. 1919, 14. Aufl., 1933, Art. 159 Anm. 5, S. 733. 10 Einen guten Überblick gibt Klaus-Berto von Doemming, Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, in: JöR N.F. Bd. I (1951), S. 117 – 123.

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meinschaftlichen Arbeitseinstellung“ in das Grundgesetz aufzunehmen11, abgelehnt. Nach der erwähnten Grundgesetzergänzung in Art. 9 Abs. 3 Satz 3 und insbesondere durch die Aufnahme des Begriffs „Arbeitskämpfe“ sprechen jedoch Wortlaut und Sinn der Verfassung für eine Einbeziehung der Arbeitskampffreiheit (nicht jedoch einer Arbeitskampfpflicht12)13. b) Umfang der Streikfreiheit Schon von Grundgesetzes wegen ist die Streikfreiheit auf Arbeitsniederlegungen „zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ begrenzt, so dass nicht nur wilde oder politische Streiks14, sondern auch Arbeitsverweigerungen zur Funktionärsprofilierung, Konkurrenzschwächung oder Mitgliederwerbung außerhalb des grundrechtlichen Schutzbereichs bleiben. Denn dieser erfasst nur Arbeitskampfmaßnahmen, die „erforderlich sind, um eine funktionierende Tarifautonomie sicherzustellen“15. Unter dieser Voraussetzung lässt das Bundesverfassungsgericht allerdings zur Austragung der Interessengegensätze der Tarifvertragsparteien „Kampfmittel mit beträchtlichen Auswirkungen auf den Gegner und die Allgemeinheit“ zu16. c) Verfassungsimmanente Schranken Dieser weite Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 Satz 3 GG stößt auf (explizite) verfassungsimmanente Schranken, die sich in anderen Grundrechtsbestimmungen finden17. So lässt die staatliche Schutzpflicht18 für Leib und Leben, aber auch Beruf und Gewerbe, Bewegungsfreiheit und Freizügigkeit Beschränkungen exzessiver Streiks (z. B. des Krankenhauspersonals, der Müllarbeiter oder der Verkehrsbetriebe) zu, wenn daraus unzumutbare Gefahren für grundrechtlich geschützte Rechtsgüter erwachsen. Für derartige Beschränkungen bedarf es jedoch einer gesetzlichen Grundlage, die im Interesse des Gemeinwohls und angesichts von Streikexzessen im Jahre 11

Vgl. zuletzt Beschluss des Hauptausschusses zur Streichung des Art. 9 Abs. 4 (Streikrecht) auf Antrag des Abg. Dr. Fritz Eberhard (SPD) in der 18. Sitzung v. 4.12.1948, Verhandlungen des Hauptausschusses, 1948, S. 215. 12 Vgl. BVerfGE 18, 18 (32: keine „Pflicht zur Kampfbereitschaft“). 13 So auch BVerfGE 84, 212 (225). 14 Vgl. statt aller Hans D. Jarass, in: ders./Pieroth, GG, 13. Aufl., 2014, Art. 9 Rn. 40. 15 BVerfGE 92, 365 (394); vgl. auch E 84, 212 (225); 88, 103 (114). 16 BVerfGE 88, 103 (115); BVerfG (Kammer) v. 26. 3. 2014, BayVBl. 2014, S. 496 (497). 17 Vgl. BVerfGE 100, 271 (283); 84, 212 (228); 57, 70 (98 f.); 30, 173 (193). Zu verfassungsimmanenten Schranken Detlef Merten, Immanente Grenzen und verfassungsunmittelbare Schranken, in: ders./Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. III, 2009, § 60 Rn. 73. 18 Hierzu Christian Calliess, Schutzpflichten, in: Merten/Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. III, 2009, § 44; Merten, Grundrechtliche Schutzpflichten und Untermaßverbot, in: Klaus Stern u. a. (Hg.), Gedächtnisschrift für Joachim Burmeister, 2005, S. 227 ff.

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2014 dringend benötigt wird, zu deren Erlass die Legislative aber nicht verpflichtet ist. d) Fehlendes Arbeitskampfgesetz trotz Wesentlichkeitstheorie aa) Zwar entnimmt das Bundesverfassungsgericht unter Hinweis auf das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip19 die Maxime für den Gesetzgeber, „wesentliche Entscheidungen selbst zu treffen und nicht der Verwaltung zu überlassen“ (Wesentlichkeitstheorie20). Da aber „wesentlich“ im Grundrechtsbereich „wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte“ sein soll21, wird letztlich ein unbestimmter Begriff durch sich selbst definiert22. Damit ist diese Theorie begrifflich so unscharf und unpräzise23, dass sie zur Beliebigkeits- oder „Gleitformel“24 und zu „fataler Rechtsunsicherheit“25 führt. So soll die Entscheidung über die Stationierung chemischer Waffen dem Wesentlichkeitsvorbehalt unterfallen26, nicht aber die Aufstellung nuklearbestückter Mittelstreckenraketen27. Gerade das Bundesverfassungsgericht, das „angesichts der Weite und Unbestimmtheit des Rechtsstaatsprinzips … bei der Ableitung konkreter Bindungen des Gesetzgebers“ ein Vorgehen „mit Behutsamkeit“ anmahnt28, lässt eine nachprüfbare Deduktion der Wesentlichkeitstheorie aus den zitierten Staatsfundamentalnormen vermissen. Diese wäre umso notwendiger, als weder aus dem Rechtsstaats-, noch aus dem Demokratieprinzip angesichts der

19 Vgl. BVerfGE 45, 400 (417 f.); 47, 46 (79); 48, 210 (221); 58, 257 (278); 83, 130 (142, 151 f.); 101, 1 (34); 116, 24 (58); nur Rechtsstaatsprinzip: E 48, 210 (221). 20 BVerfGE 116, 24 (58). 21 So BVerfGE 47, 46 (79); 83, 130 (140); 98, 218 (251); BVerwGE 109, 97 (105); 120, 87 (96). 22 Ähnlich Fritz Ossenbühl, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes: „tautologisch“, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl., Bd. V, 2007, § 101 Rn. 57. 23 Ähnlich Michael Kloepfer, Der Vorbehalt des Gesetzes im Wandel, JZ 1984, S. 685 (692); Gerd Roellecke, Die Verwaltungsgerichtsbarkeit im Grenzbereich zur Gesetzgebung, NJW 1978, S. 1776 (1778); kritisch auch Hans-Detlef Horn, Die grundrechtsunmittelbare Verwaltung, 1999, S. 80 ff. (84 ff.); Peter Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung, 2000, S. 316 ff. (323). 24 Hartmut Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Aufl., 2011, § 6 Rn. 14. 25 Gunter Kisker, Neue Aspekte im Streit um den Vorbehalt des Gesetzes, NJW 1977, S. 1317 sub II 2; ähnlich Dieter Wilke, Zeugnisreform als Erziehungsreform, 1980, S. 37: „Wust von Unklarheiten und Ungereimtheiten“; Hans-Jürgen Papier, Der Vorbehalt des Gesetzes und seine Grenzen, in: Götz/Klein/Starck (Hg.), Die öffentliche Verwaltung zwischen Gesetzgebung und richterlicher Kontrolle, 1985, S. 36 (42 ff.); ders., Gewaltentrennung im Rechtsstaat, in: Merten (Hg.), Gewaltentrennung im Rechtsstaat, 2. Aufl., 1997, S. 95 (96 ff.); Merten, Gesetzgebung im demokratischen Rechtsstaat – Rechtsstaatliche Dominanz und Rationalität, in: Dimensionen des modernen Verfassungsstaates, Korinek-Symposion 2002, S. 53 (56 ff.); Fritz Ossenbühl, Der Vorbehalt des Gesetzes und seine Grenzen, ebd. S. 27. 26 BVerfGE 77, 170 (231). 27 BVerfGE 68, 1 (89). 28 BVerfGE 90, 60 (86); vgl. auch E 57, 250 (276); 70, 297 (308); 86, 288 (347).

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vom Grundgesetz in Art. 20 Abs. 2 anerkannten Gewaltenteilung ein „Gewaltenmonismus in Form eines umfassenden Parlamentsvorbehalts“29 folgt. bb) Das Demokratieprinzip verlangt nur eine hinreichende Legitimation der Staatsgewalt durch das Volk30, auf das sich „die Wahrnehmung staatlicher Aufgaben und die Ausübung staatlicher Befugnisse“ zurückführen lassen muss31, nicht aber, dass die Legitimationskette umso kürzer sein muss, je höher die Entscheidungsbefugnis des Amtsträgers einzustufen ist32. Denn das Grundgesetz selbst lässt es zu, dass über die Verfassungsmäßigkeit eines Parlamentsgesetzes ein vom Parlament gewähltes Gericht entscheidet. Im Übrigen bedeutet die Ablehnung der Wesentlichkeitstheorie nur die Verneinung einer Gesetzgebungspflicht, keine Verneinung der Gesetzgebungskompetenz des Parlaments, das innerhalb seiner Zuständigkeiten ein jederzeitiges Zugriffsrecht hat. cc) Vom Standpunkt der Wesentlichkeitstheorie ist allerdings die Untätigkeit des Gesetzgebers im Arbeitskampfrecht, das für den einzelnen wie für die Gemeinschaft, für die Volkswirtschaft wie für den Staat von essentieller Bedeutung ist, schwer verständlich, zumal das Bundesverfassungsgericht betont hat, dass die Koalitionsfreiheit „der Ausgestaltung durch die Rechtsordnung“33 bedarf. Insbesondere setzt der Einsatz von Kampfmitteln „rechtliche Rahmenbedingungen“ voraus34, die die „Einbettung in die verfassungsrechtliche Ordnung“ sichern. Entgegen der gerichtlichen Auffassung kann das Arbeitskampfrecht auch nicht der arbeitsgerichtlichen Rechtsfindung überlassen bleiben35. Wenn dem Bundesarbeitsgericht attestiert wird, dass es seine Rechtsprechung zum Arbeitskampfrecht „in kurzer Zeit mehrfach“ geändert hat36, wird die Rechtsstaatlichkeit gefährdet, die insbesondere durch ihre Elemente der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes „die Verlässlichkeit der Rechtsordnung“ gewährleistet37. Durch das Zurückweichen vor einer Reglementierung des Streiks und seiner Auswüchse kapituliert das parlamentarische Regierungssystem mit seiner Verantwortung für die Wahrung der Interessen aller vor Partikularinteres-

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BVerfGE 98, 218 (252) unter Hinweis auf E 68, 1 (86 f.). BVerfGE 93, 37 (66 f.); 107, 59 (87); 130, 76 (124). 31 BVerfGE 132, 195 (272). 32 A.A. Michael Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 7 Rn. 206. 33 BVerfGE 94, 268 (284); 92, 365 (394); 88, 103 (115); 84, 212 (228). 34 BVerfGE 92, 365 (394); 88, 103 (115). 35 BVerfGE 88, 103 (115 f.). 36 So Bernd Rüthers u. a., Rechtstheorie, 7. Aufl., 2013, Rn. 249. 37 BVerfGE 133, 143 (158 Rn. 42); 132, 302 (317); 131, 20 (38 f.); 128, 90 (106); 127, 61 (75 f.); 127, 31 (47); 127, 1 (16 f.); 126, 369 (393); 126, 286 (313); 114, 258 (301); 113, 273 (301 f.); 109, 133 (180, 182); 105, 48 (57); 105, 17 (37); vgl. auch E 101, 239 (262); 97, 67 (78); 76, 256 (347); 72, 200 (257); 71, 255 (272); 70, 69 (84); 67, 1 (23); 63, 343 (357); 60, 253 (268); 48, 1 (24); 45, 142 (167). 30

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sen in der Hand mächtiger gesellschaftlicher Organisationen. So verkürzt sich in den Worten Isensees38 der „Gemeinwohlhorizont auf die Arbeitnehmergesellschaft“. 3. Streikverbot für Beamte aus Art. 33 Abs. 4 und Abs. 5 GG a) Das Streikverbot als verfassungsunmittelbare Schranke Als verfassungsunmittelbare Schranke39 ergibt sich das Streikverbot für Beamte unmittelbar aus der Verfassung. Schon die aus dem öffentlich-rechtlichen Dienstund Treueverhältnis (Art. 33 Abs. 4 GG) folgende Treuepflicht des Beamten40, die seit jeher41 das Beamtenverhältnis prägt, schließt die Beteiligung an Streiks aus42. Zwar steht den Beamten auch die Koalitionsfreiheit zu43, was ihnen den Zusammenschluss in nicht kampfwilligen Organisationen gestattet44. Außerdem ist das Recht des Beamten, Beamtenvertretungen zu haben, hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums45. Dagegen hat sich das Streikverbot, das sich auch auf streikähnliche Maßnahmen, wie beispielsweise Bummelstreik, Fernbleiben vom Dienst unter Vorschieben von Krankheitsgründen und ähnliches umfasst46, als „hergebrachter Grundsatz“ des Berufsbeamtentums herausgebildet47. 38

„Gewerkschaftsstaat“ – staatstheoretische Essenz eines politischen Kampfbegriffes, in: Politik, Philosophie, Praxis, FS Hennis, 1988, S. 360 (377). 39 Vgl. zu diesen Merten, Immanente Grenzen und verfassungsunmittelbare Schranken, in: ders./Papier, Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. III, 2009, § 60 Rn. 76 ff. 40 Vgl. BVerfGE 39, 334 (346 f.); 119, 247 (264). 41 Vgl. schon § 2 II 10 des Preußischen Allgemeinen Landrechts: „Sie [Militair- und Civilbediente] sind, außer den allgemeinen Unterthanenpflichten dem Oberhaupte des Staats besondre Treue und Gehorsam schuldig“; vgl. in diesem Zusammenhang Merten, Der Beruf des Beamten und das Berufsbeamtentum, in: ders./Papier, Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. V, 2013, § 114 Rn. 80. 42 Vgl. BVerfGE 8, 1 (17); 119, 247 (264); BVerwGE 73, 97 (102); 69, 208 (212 f.). 43 Vgl. BVerfGE 19, 303 (322). 44 BVerfGE 18, 18 (33). 45 Vgl. Merten (Fn. 41), § 114 Rn. 163. 46 Vgl. BVerwGE 53, 330 (331); BGHZ 70, 277 (279). 47 Vgl. BVerfGE 8, 1 (17); 44, 249 (264 oben sub C I 5); 119, 247 (264): Kernpflicht; BVerwGE 53, 330 (331); 69, 208 (212 f.); 73, 97 (102); 103, 70 (73 ff.); BVerwG, Urt. v. 27. 2. 2014, DVBl. 2014, S. 780 (781 f.) BVerwG, Urt. v. 19. 9. 1984 (1 D 38.84) juris Rn. 34; Urt. v. 3.12.1980 (1 D 86.79) juris Rn. 117; OVG Münster NVwZ 2012, S. 890 (892); OVG Niedersachsen ZBR 2013, S. 57 (59 f.); BGHZ 69, 128 (133 ff.); 70, 277 (279); Ulrich Battis, Streikverbot für Beamte, 2013; dens., Bundesbeamtengesetz, 4. Aufl., 2009, § 4 Rn. 5 ff.; Josef Isensee, Beamtenstreik. Zur rechtlichen Zulässigkeit des Dienstkampfes, 1971, S. 52 ff.; Udo Di Fabio, Das beamtenrechtliche Streikverbot, 2012, S. 31 ff.; Peter J. Tettinger, Zur Verfassungswidrigkeit des Lehrerstreiks, ZBR 1981, S. 357 ff.; Friedhelm Hufen, Verfassungsrecht und Beamtenrecht: Streikverbot, in: JuS 2014, S. 670 ff., Nils Schaks, Europarecht und Beamtenrecht – Streik im Mehrebenensystem, in: JuS 2014, S. 630 ff.; im Einzelfall abwägend Friedrich E. Schnapp, Beamtenstatus und Streikrecht, 1972; a.A. Thilo

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b) Art. 33 Abs. 4 und Abs. 5 GG als leges speciales Das Streikverbot für Beamte aus Art. 33 Abs. 4 und Abs. 5 GG ist eine Spezialregelung im Verhältnis zu dem für jedermann geltenden Arbeitskampfrecht des Art. 9 Abs. 3 GG. Dessen Text verdeutlicht zugleich, dass das ursprünglich richterrechtlich geschaffene Arbeitskampfrecht48 auch aus teleologischen Gründen nicht auf das öffentlich-rechtliche Beamtenverhältnis und dessen Synallagma von Fürsorgepflicht des Dienstherrn einerseits und Dienst- und Treuepflicht des Beamten andererseits passt. Denn die fürsorgende Alimentationspflicht des Dienstherrn verpflichtet zu lebenslänglicher Unterstützung durch eine gesetzlich geregelte Besoldung und Versorgung des Beamten und begründet für diesen eine Loyalitätspflicht, die „auf den Abschluss von Tarifverträgen gerichtete“ Arbeitskämpfe49 ausschließt. So sind den Beamten mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts „der Einsatz wirtschaftlicher Kampf- und Druckmittel zur Durchsetzung eigener Interessen, insbesondere auch kollektive Kampfmaßnahmen im Sinne des Art. 9 Abs. 3 GG wie das Streikrecht“ verwehrt50. Diese Feststellung folgt nicht nur aus dem Wortlaut, sondern aus der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes. Denn bei den Debatten über die – später abgelehnte – Einfügung des Streikrechts in die Verfassung bestand sowohl im Ausschuss für Grundsatzfragen51 als auch im Hauptausschuss52 darüber Einigkeit, im Falle einer Gewährleistung der Streikfreiheit ein Streikrecht für Beamte zu verneinen. Zwar ist die Besoldungsgesetzgebung vielfach weniger effektiv als mancher Arbeitskampf, vor allem wenn davon nicht in erster Linie die Arbeitgeber, sondern die Allgemeinheit betroffen ist. Auch verletzt der Besoldungsgesetzgeber mitunter seine Verfassungspflicht zu amtsangemessener Alimentierung53. Dennoch gestatten die Verschiedenheiten des privatrechtlichen Dienstverhältnisses einerseits und des öffentlich-rechtlichen Beamtenverhältnisses andererseits weder dem Gesetzgeber Ramm, Das Koalitions- und Streikrecht der Beamten, 1970, S. 52, 106 (156); Wolfgang Däubler, Der Streik im öffentlichen Dienst, 2. Aufl., 1971. 48 Vgl. hierzu auch Isensee a. a. O., S. 18 f. 49 Vgl. BVerfGE 92, 365 (393); 88, 103 (114); 84, 212 (224 f.). 50 BVerfGE 119, 247 (264). 51 Vgl. den Vorsitzenden Dr. Hermann v. Mangoldt (CDU) in der 25. Sitzung v. 24. 11. 1948: „Es kann ohne weiteres im Protokoll festgelegt werden, es besteht darüber Einverständnis, dass an ein Streikrecht der Beamten nicht gedacht wird“, abgedr. in: Eberhard Pikart/ Wolfram Werner (Bearb.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Akten und Protokolle, Bd. 5/II, Ausschuss für Grundsatzfragen, 1993, Nr. 32, S. 702 und S. 703. 52 Vgl. die Ausführungen des Abg. Dr. v. Mangoldt (CDU) sowie des Abg. Dr. Heile (DP) in der siebzehnten Sitzung v. 3.12.1948, abgedr. in: Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, Bonn, 1948/49, S. 211 ff.; s. ferner v. Doemming (Fn. 10), S. 121 ff. 53 Vgl. zuletzt BVerfGE 130, 263 (304), Besoldung von Professoren der Besoldungsgruppe W 2 in Hessen; jüngst auch den Vorlagebeschluss des VG Koblenz v. 12. 9. 2013, ZBR 2014, S. 268 ff. betr. Amtsangemessenheit der Besoldung nach Besoldungsgruppe R 3 sowie VerfGH NRW DVBl. 2014, S. 1059 ff.

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noch dem einzelnen ein, wie es das Bundesverfassungsgericht formuliert54, „Rosinenpicken“. II. Koalitions- und Streikfreiheit in internationalen und europäischen Deklarationen und Verträgen 1. Überblick a) UN-Menschenrechtsdeklaration, IPBPR, EU-Grundrechtecharta Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 194855 spricht in Art. 23 Nr. 4 jedem das Recht zu, „zum Schutze seiner Interessen Gewerkschaften zu bilden und solchen beizutreten“. Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte56 fasst Vereinigungsfreiheit und Koalitionsfreiheit zusammen, indem er in Art. 22 Abs. 2 statuiert: „Jedermann hat das Recht, sich frei mit anderen zusammenzuschließen sowie zum Schutz seiner Interessen Gewerkschaften zu bilden und ihnen beizutreten“. In ähnlicher Weise verbindet die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten57 die Koalitionsfreiheit mit der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit in Art. 11 Abs. 1 Halbsatz 2, indem sie als „dazugehörig“ „das Recht, zum Schutze seiner Interessen Gewerkschaften zu gründen und Gewerkschaften beizutreten“, beifügt. Allerdings steht diese Bestimmung nach ihrem Absatz 2 rechtmäßigen Einschränkungen für Angehörige der Streitkräfte, der Polizei oder der Staatsverwaltung nicht „entgegen“. Eine Verzahnung findet sich auch in Art. 12 Abs. 1 der Europäischen Grundrechte-Charta58, wonach die Vereinigungsfreiheit „das Recht jeder Person umfasst, zum Schutze ihrer Interessen Gewerkschaften zu gründen und Gewerkschaften beizutreten“. b) Europäische Sozialcharta In der europäischen Sozialcharta von 1961, die für Deutschland am 26. Februar 1965 in Kraft getreten ist59, heißt es in Art. 6 Nr. 4, dass die Vertragsparteien „das Recht der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber auf kollektive Maßnahmen einschließlich des Streikrechts im Falle von Interessenkonflikten, vorbehaltlich etwaiger Verpflichtungen aus geltenden Gesamtarbeitsverträgen“ anerkennen. Dabei sieht der als 54

BVerfGE 119, 247 (268); 130, 263 (298). Zu deren Rechtsnatur Martin Nettesheim, Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und ihre Rechtsnatur, in: Merten/Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. VI/2, 2009, § 173, S. 191 ff. 56 V. 19. 12. 1966 (BGBl. 1973 II, S. 1534). 57 V. 4.11.1950 (BGBl. 1952 II, S. 685 [953]). 58 V. 12. 12. 2007 (Abl. Nr. C 303 S. 1). 59 Vgl. Gesetz v. 19. 9. 1964 (BGBl. II, S. 1261) sowie die Bekanntmachung v. 9.8.1965 (BGBl. II, S. 1122). 55

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Bestandteil der Charta geltende Anhang (Art. 38) für Art. 6 Abs. 4 das Einverständnis darüber vor, „dass jede Vertragspartei für sich die Ausübung des Streikrechts durch Gesetz regeln kann, vorausgesetzt, dass jede weitere Einschränkung dieses Rechtes aufgrund des Art. 31 gerechtfertigt werden kann“. Nach Art. 31 ESC können die Rechte und Grundsätze der Charta ohnehin gesetzlich unter bestimmten Voraussetzungen beschränkt werden. Bedeutsamer ist jedoch, dass die Europäische Sozialcharta anders als die Europäische Menschenrechtskonvention von vornherein keine einklagbaren subjektiven Rechte gewährleistet, sondern nur völkerrechtliche Verpflichtungen auferlegen will, die im Wege der Staatenberichtspflicht nach Teil IV ESC durchgesetzt werden sollen60. Darüber hinaus liegt der Europäischen Sozialcharta ein „à la carte“-Ansatz zugrunde, der dem unterschiedlichen Niveau des sozialen Schutzes in den Staaten des Europarates Rechnung trägt61. In einem sehr komplizierten Verfahren nach Art. 20 Abs. 1 ESC müssen die Vertragsparteien zum einen die in Teil I aufgeführten „Rechte und Erklärungen“ als mit allen geeigneten Mitteln zu verfolgende Ziele anerkennen, sodann fünf von sieben in Teil II ESC enthaltene Artikel für sich als bindend ansehen und darüber hinaus zusätzlich Artikel oder nummerierte Absätze dieses Teils II auswählen und für sich als bindend deklarieren, bis eine in Art. 20 Abs. 1 lit. c normierte Gesamtzahl erreicht ist62. Später hat Art. 151 AEUV die in der Europäischen Sozialcharta festgeschriebenen sozialen Rechte zu verbindlichen Zielvorgaben für die gemeinschaftliche und die mitgliedstaatliche Sozialpolitik gemacht, und hat die Europäische Grundrechtecharta diese in ihrer Präambel erwähnt63. Da Art. 6 Nr. 4 ESC von „Arbeitnehmern“ und „Arbeitgebern“ sowie von etwaigen „Verpflichtungen aus geltenden Gesamtarbeitsverträgen“ ausgeht, ist ersichtlich, dass das dort statuierte Streikrecht sich nicht auf Beamte beziehen kann, die in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis zu ihrem Dienstherrn stehen. 2. Art. 11 EMRK a) Wertende Rechtsvergleichung Art. 11 Abs. 1 EMRK gewährleistet ausdrücklich nicht mehr als die Versammlungs-, Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit. Letztere umschreibt er als das Recht aller Menschen, „zum Schutze ihrer Interessen Gewerkschaften zu bilden und diesen beizutreten“. Wegen der fehlenden Erwähnung des Streikrechts in dem Vertragswerk 60 Vgl. Thomas Giegerich, Menschenrechtsübereinkommen des Europarats, in: Merten/ Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. VI/1, 2010, § 148 Rn. 88. 61 Giegerich, Menschenrechtsübereinkommen, § 148 Rn. 90. 62 Vgl. hierzu Giegerich, Menschenrechtsübereinkommen, § 148 Rn. 90. 63 Vgl. Giegerich, Menschenrechtsübereinkommen, § 148 Rn. 88; Xenia Neubeck, Die Europäische Sozialcharta und deren Protokolle, 2002, S. 55 f.; Gabriele Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, 2014.

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hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte es früher abgelehnt, diese aus Art. 11 Abs. 1 EMRK zu entnehmen. Dabei wies er darauf hin, dass es noch andere Instrumente der Interessenwahrnehmung gebe und dass das Streikrecht in den Mitgliedstaaten häufig Restriktionen unterliege. Diese Interpretationsmethode entspricht der sogenannten autonomen Interpretation des Gerichtshofs, in deren Rahmen er mittels „wertender Rechtsvergleichung“ bei der Auslegung bestimmter Konventionsbegriffe die Rechtssysteme des betroffenen Staats und der übrigen Vertragsstaaten berücksichtigen will64. b) Funktionale Betrachtungsweise Die Berücksichtigung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Mitgliedstaaten hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bei der Interpretation der Verfahrens- und Justizgarantien des Art. 6 EMRK zugunsten einer „funktionalen“ Betrachtungsweise aufgegeben. Er nimmt nunmehr fallorientiert aus dem Anwendungsbereich dieser Bestimmung nur die Streitigkeiten solcher Angehörigen des öffentlichen Dienstes aus, die als „Träger der Staatsgewalt“ die „allgemeinen Interessen des Staates oder anderer öffentlicher Körperschaften zu wahren“ haben (z. B. Streitkräfte, Polizei)65. Streitigkeiten über Pensionen gehören nach Auffassung des Gerichtshofs stets in den Bereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK, weil der Ruhestandsbeamte „das besondere Band“ zur Verwaltung breche und mit den Angestellten des Privatrechts vergleichbar sei66. Diese Begründung trifft jedoch weder auf das österreichische noch auf das deutsche Beamtenrecht zu, weil in beiden Fällen die Versorgungsbezüge auf der Grundlage des beamtenrechtlichen Treueverhältnisses gewährt werden, das auch im Ruhestand fortbesteht67. Nach deutschem Beamtenverfassungsrecht bleibt die Fürsorgepflicht des Dienstherrn auch für die Zeit nach der Beendigung des Beamtenverhältnisses bestehen68. Beamtenrechtlich dürfen Beamte auch nach Beendigung des Beamtenverhältnisses keine Belohnungen, Geschenke oder sonstige Vorteile in Bezug auf ihr Amt ohne Zustimmung des letzten Dienstherrn an-

64 Hierzu Christoph Grabenwarter/Katharina Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 5. Aufl., 2012, § 5 Rn. 11 mit Rechtsprechungsnachw. in Fn. 25; s. auch Grabenwarter, Verfassungsrecht, Völkerrecht und Unionsrecht als Rechtsquellen, in: Merten/Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. VII/1, § 2 Rn. 46; ferner Kay Hailbronner, Die Einschränkung von Grundrechten in einer demokratischen Gesellschaft, FS Mosler, 1983, S. 359 (376). 65 EGMR (Kammer) Urt. v. 8.12.1999, Pellegrin ./. Frankreich, NVwZ 2000, S. 661 (664 Rn. 66); hierzu auch Di Fabio, Streikverbot, S. 3 ff. 66 EGMR a. a. O. Rn. 67. 67 S. Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 24 Rn. 11 Fn. 38; s. auch Grabenwarter, Civil Rights – Neuere Entwicklungen, in: FS Ruppe, 2007, S. 154 (160 f., Fn. 31). 68 Vgl. in diesem Zusammenhang auch § 45 Beamtenstatusgesetz v. 17. 6. 2008 (BGBl. I, S. 1010).

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nehmen69; kann Ruhestandsbeamten eine Erwerbstätigkeit oder sonstige Beschäftigung untersagt werden, wenn dadurch dienstliche Interessen beeinträchtigt werden70, und trifft Beamte auch nach Beendigung des Beamtenverhältnisses eine Verschwiegenheitspflicht71. Diese öffentlich-rechtlichen Rechte und Pflichten des Ruhestandsbeamten bezeugen, dass diese – jedenfalls nach deutschem Recht – keineswegs mit den Angestellten des Privatrechts vergleichbar sind. In Fortführung seiner Rechtsprechung und unter Heranziehung des Völkerrechts leitet der Gerichtshof im Jahre 2008 aus Art. 11 EMRK das Recht ab, „Tarifverhandlungen mit einem Arbeitgeber zu führen“72. Dabei sollen nach Auffassung des Gerichtshofs die Einschränkungsvorbehalte des Art. 11 Abs. 2 EMRK „eng“ auszulegen sein und infolgedessen Gemeindebedienstete nicht als „Angehörige der Staatsverwaltung“ im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden73. Auch hier zeigt die „funktionale Methode“, dass der unterschiedliche Rechtszustand in den einzelnen Mitgliedstaaten nicht hinreichend beachtet wird. Ungeachtet der Qualifikation von Gemeindebediensteten in der Türkei sind nach deutschem Verfassungsrecht auch unter Berücksichtigung der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie des Art. 28 Abs. 2 GG die Gemeinden wesentlicher „Bestandteil der staatlichen Gesamtorganisation, sie sind selbst ein Teil des Staates, in dessen Aufbau sie integriert“ sind74. Sind die Gemeinden aber „als Träger öffentlicher Gewalt selbst ein Stück ,Staat‘“75, so sind deren Bedienstete auch „Angehörige der Staatsverwaltung“. Das Recht, „Tarifverhandlungen mit dem Arbeitgeber zu führen“, macht von vornherein dann keinen Sinn, wenn sie als Beamte wegen der Alimentationspflicht des Dienstherrn nur aufgrund eines Gesetzes besoldet werden können. c) Zur engen Auslegung von Ausnahmevorschriften Für seine These, Ausnahmevorschriften seien eng auszulegen, kann sich der Gerichtshof zwar auf die klassische Formel berufen: „singularia non sunt extendenda“, der auch andere Gerichte nachfolgen, so dass sie schon als „pseudo-normative Regel“ bezeichnet wird76. Allerdings stellt das Bundesverfassungsgericht in seiner nicht einheitlichen Rechtsprechung fest, dass „unsere Rechtsordnung keinen Rechtssatz“ kennt, „wonach Ausnahmevorschriften stets restriktiv interpretiert werden 69

§ 42 Abs. 1 BeamtStG. Vgl. § 41 BeamtStG; hierzu BVerwG, Urt. v. 26. 6. 2014 (2 C 23.13), LKV 2014, S. 410 (411 f.). 71 Vgl. § 47 Abs. 1 Bundesbeamtengesetz v. 5.2.2009 (BGBl. I, S. 160). 72 EGMR (GK), Urt. v. 12. 11. 2008, Demir u. Baykara ./. Türkei, NJOZ 2010, S. 1897 ff. sowie NZA 2010, S. 1425 ff. 73 EGMR a. a. O., NJOZ 2010, S. 1901, Rn. 97 ff., S. 1902, Rn. 147 ff. 74 BVerfGE 107, 1 (11); s. auch E 83, 37 (54). 75 So BVerfGE 73, 118 (191). 76 Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik, Bd. I: Grundlegung für die Arbeitsmethode der Rechtspraxis, 11. Aufl., 2013, Rn. 373. 70

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müssten“77. Um nicht „formalistischen Zirkelschlüssen“78 zu erliegen, verlangt das Bundesverfassungsgericht, dass jede Vorschrift, auch eine Ausnahmevorschrift „korrekt, und das heißt hier ihrem eindeutigen Inhalt und Sinn entsprechend auszulegen ist. Der Charakter einer Ausnahmevorschrift verbietet nur, sie über ihren eindeutigen Sinn und Inhalt hinaus ausdehnend auszulegen“79. In gleicher Weise lehnt die moderne Methodik80 eine starre Handhabung des Singularia-Satzes ab und lässt nach Maßgabe von „ratio“ und „telos“ eine ausdehnende Auslegung zu. Das muss auch für Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK gelten, wenn er ungeachtet des Absatzes 1 rechtmäßigen Einschränkungen „für Angehörige der Streitkräfte, der Polizei und der Staatsverwaltung nicht entgegen“ stehen will. „Streitkräfte“ und „Polizei“ sind beispielhafte Aufzählungen, während der Begriff „Angehörige der Staatsverwaltung“ einen generalklauselartigen Auffangtatbestand umschreibt, der nicht eng, sondern teleologisch zu interpretieren ist. Sinn der Regelung ist es, solche Bediensteten in der Staatsverwaltung von dem Recht auf Tarifverhandlungen und – neuerdings auch – Streiks auszunehmen, für die im Unterschied zu sonstigen Arbeitnehmern in der Privatwirtschaft besondere Besoldungssysteme gelten, so dass Tarifverhandlungen und Streiks von vornherein keinen Sinn machen. d) Ableitung eines Streikrechts aus Art. 11 EMRK In einer Entscheidung aus dem Jahre 200981 hat die III. Sektion des Gerichtshofs aus Art. 11 Abs. 1 EMRK ein für Gewerkschaftsinteressen wichtiges Streikrecht abgeleitet, wobei sie sich zur Begründung auch auf die Europäische Sozialcharta und die „Kontrollorgane der ILO“ beruft. Dabei räumt das Gericht zwar eine Beschränkbarkeit dieses Streikrechts ein, erachtet jedoch ein allgemeines Streikverbot für Angehörige des öffentlichen Dienstes als unverhältnismäßig, zumal es keinem „dringenden sozialen Bedürfnis“ entspreche82. Jedoch setzt sich das Gericht nicht hinreichend mit den Besonderheiten des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK auseinander, der rechtmäßige Einschränkungen der Rechte des Art. 11 Abs. 1 EMRK für „Angehörige der Staatsverwaltung“ zulässt. Zu Unrecht beruft sich der Gerichtshof demgegenüber auf den Charakter der Menschenrechtskonvention als eines „lebenden Instru77

BVerfGE 47, 239 (250). Müller/Christensen, Juristische Methodik, Rn. 370. 79 BVerfGE 37, 363 (405). 80 Vgl. Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl., 1991, S. 355; Franz Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1982, S. 440 m. Nachw. in Fn. 61; Claus-Wilhelm Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 2. Aufl., 1983, S. 181; Müller/Christensen, Juristische Methodik, Rn. 370; Hans Reichel, Gesetz und Richterspruch, 1915, S. 104; Theo Mayer-Maly, Rechtswissenschaft, 2. Aufl., 1981, S. 64; Klaus Stern, Bedeutung der Unantastbarkeitsgarantie des Art. 79 III für die Grundrechte, in: Jus 1985, S. 329 (332 sub II 1). 81 EGMR (III. Sektion), Urt. v. 21. 4. 2009, Enerji Yapi-Yol Sen ./. Türkei, NZA 2010, S. 1423. 82 EGMR a.a.O., S. 1425 Rn. 33; zur Kritik auch Di Fabio, Streikverbot, S. 8 ff. 78

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ments“, das unter Berücksichtigung der „heutigen Verhältnisse“83 auszulegen sei. Diese – im Übrigen für den Fall des Streiks nicht relevante84 – Formel vermag jedoch den klaren Wortlaut der Menschenrechtskonvention nicht zu überspielen, weshalb auch deutsche Verwaltungsgerichte diese Rechtsprechung ablehnen85. 3. Auslegungsprobleme der Europäischen Menschenrechtskonvention a) Überblick Die Europäische Menschenrechtskonvention stellt einen multilateralen völkerrechtlichen Vertrag dar, der wegen seines Gegenstandes auch als „Europäische Menschenrechtsverfassung“86 oder als „Grundrechtsverfassung“87 bezeichnet wird. Deutschland ist durch die Ratifikation einerseits völkerrechtlich, andererseits infolge des Inkorporationsgesetzes gemäß Art. 59 Abs. 2 GG innerstaatlich aufgrund des rechtsstaatlichen Vorrangs des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG) an die Konvention gebunden88. Auslegungsprobleme ergeben sich aufgrund der Stellung der Menschenrechtskonvention im internationalen, supranationalen und nationalen Grundrechtsgefüge, des auf Entwicklung angelegten Charakters des Vertrages, seines unterschiedlichen Geltungsumfangs aufgrund möglicher Vorbehalte einzelner Beitrittsstaaten, seiner lediglich grundrechtsbegünstigenden Wirkung – Günstigkeitsprinzip (Art. 53 EMRK) – und der zu berücksichtigenden unterschiedlichen Institutionen in den einzelnen Vertragsstaaten. b) Subsidiarität des Konventionsmechanismus aa) Die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs hat gerade in jüngerer Zeit darauf hingewiesen, dass der „Konventionsmechanismus … seinem Wesen nach subsidiär“ ist89. Zur Begründung verweist sie darauf, dass die „staatlichen Institutionen“ „eine direkte demokratische Legitimation“ haben und besser als der nationale Richter in der Lage seien, „über örtliche Bedürfnisse und Zusammenhänge zu entschei83 EGMR (GK) Urt. v. 12. 11. 2008, Demir u. Baykara ./. Türkei, NJOZ 2010, S. 1897 (1899 Rn. 68). 84 S. unten sub II. 3. e). 85 Vgl. OVG Münster, NVwZ 2012, S. 890 (895 ff.); OVG Niedersachsen, ZBR 2013, S. 57 (60 ff. sub III); w.N. bei Di Fabio, Streikverbot, S. 11 ff. 86 Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 2 Rn. 3 unter Hinweis auf Jochen Frowein, Der europäische Menschenrechtsschutz als Beginn einer europäischen Verfassungsrechtsprechung, in: JuS 1986, S. 845 ff. 87 Frank Hoffmeister, Die Europäische Menschenrechtskonvention als Grundrechtsverfassung und ihre Bedeutung in Deutschland, in: Der Staat 40 (2001), S. 349 (353 ff.). 88 Vgl. hierzu BVerfGE 111, 307 (315 ff.). 89 EGMR (Große Kammer), Urt. v. 1.7.2014 – 43835/11 (SAS ./. Frankreich), NJW 2014, S. 2925 (2929 Rn. 129).

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den“. Gerade in Fragen allgemeiner Politik, über die in den demokratischen Staaten verständlicherweise tiefgreifende Unterschiede bestehen könnten, müsse „den staatlichen Institutionen besondere Bedeutung beigemessen werden“90. bb) Zweck der Menschenrechtskonvention war es, in den Vertragsstaaten einen menschenrechtlichen Mindeststandard und dessen Durchsetzbarkeit zu gewährleisten. So hat Österreich, das nur über einen Rechte-Katalog aus dem 19. Jahrhundert verfügt und das sich in einer „unendlichen Geschichte“91 aus innenpolitischen Gründen nicht auf eine nationale Grundrechtsreform verständigen kann, die Europäische Menschenrechtskonvention innerstaatlich – wenn auch mit zeitlicher Verzögerung – in Verfassungsrang erhoben92. Für manche Vertragsstaaten diente die Ratifikation der Menschenrechtskonvention wohl auch als Aushängeschild für Freiheitlichkeit und Rechtsstaatlichkeit, deren Existenz im Innern – wie manche Entscheidungen der EMRK-Organe später gezeigt haben – nicht immer gesichert war. cc) Essentiell für das Verständnis der Menschenrechtskonvention ist der Hinweis des Europäischen Gerichtshofs93 auf die Bedeutung der (demokratisch besser legitimierten) Entscheidung staatlicher Institutionen in Fragen der allgemeinen Politik, über die in demokratischen Staaten tiefgreifende Unterschiede bestehen können. Damit räumt der Gerichtshof in diesem Bereich den Vertragsstaaten „einen weiten Ermessensspielraum“ ein94. Das muss insbesondere für solche Fundamentalentscheidungen gelten, die mit Verfassungsrang ausgestattet wurden. Das trifft in Deutschland auch auf das insbesondere in den ersten Nachkriegsjahren politisch umstrittene und durch die Politik der Besatzungsmächte gefährdete Berufsbeamtentum95 zu, das in Art. 33 Abs. 4 und 5 in das Grundgesetz aufgenommen wurde und nach seinen ebenfalls garantierten hergebrachten Grundsätzen Tarifverhandlungen und Arbeitskämpfe im Beamtenbereich ausschließt. Derartige mit Verfassungsrang ausgestattete, demokratisch legitimierte Fundamentalentscheidungen sind vom Gerichtshof deshalb zu respektieren, weil, wie dieser selbst betont96, „staatliche[n] Institutionen … besser als der internationale Richter in der Lage“ sind, über derartige Zusammenhänge zu entscheiden. Dieses Restriktionsgebot muss umso eher dann gelten, wenn die Europäische Menschenrechtskonvention selbst fundamentalen politischen Ent90

EGMR a. a. O. unter Hinweis auf EGMR, Slg. 2005-IX Nr. 117 – Maurice ./. Frankreich. Hierzu Heinz Schäffer, Die Entwicklung der Grundrechte, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. VII/1: Grundrechte in Österreich, 2. Aufl. 2014, § 1 Rn. 85 ff. 92 Vgl. Christoph Grabenwarter, Verfassungsrecht, Völkerrecht und Unionsrecht, ebd. § 2 Rn. 25. 93 EGMR (Große Kammer), Urt. v. 1.7.2014 (Fn. 89), NJW 2014, S. 2925 Ls. 8 und S. 2929 Rn. 129. 94 EGMR a. a. O., Rn. 155, 157 (NJW 2014, S. 2932). 95 Hierzu Rudolf Morsey, Gefährdung und Sicherung des Berufsbeamtentums, Entwürfe und Reformkonzepte für den öffentlichen Dienst 1945 – 1953, DÖV 1993, S. 1061 (insb. S. 1065 ff.). 96 EGMR (Große Kammer), Urt. v. 1.7.2014 (Fn. 89) Rn. 129 (NJW 2014, S. 2929). 91

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scheidungen in Vertragsstaaten dadurch Rechnung trägt, dass sie bestimmten Einschränkungen (z. B. für Angehörige der Staatsverwaltung) von vornherein nicht entgegenstehen will (Art. 11 Abs. 2 EMRK). c) Günstigkeitsprinzip Die lediglich grundrechtsbegünstigende Geltungskraft der Konvention bezeugt Art. 53. Danach darf die Konvention nicht in einer Weise ausgelegt werden, dass sie Menschenrechte und Grundfreiheiten in Gesetzen oder Übereinkünften einer Vertragspartei beschränkt oder beeinträchtigt. Die Handhabung dieser Bestimmung ist jedoch dogmatisch schwieriger, als es den Anschein hat97. Wird der Staat mit kollidierenden Grundrechtsansprüchen seiner Bürger konfrontiert, so wird die Freiheitsverstärkung für den einen zur Freiheitsschwächung für den anderen98. Dasselbe Problem tritt auf, wenn eine Person durch eine Konventionsauslegung zugleich in ein Grundrecht einbezogen und aus einem anderen verdrängt wird. Entnimmt man Art. 11 Abs. 1 EMRK ohne jeden Anhaltspunkt im Wortlaut ein Streikrecht und schließt man gleichzeitig von der Beschränkungsmöglichkeit nach Art. 11 Abs. 2 bestimmte Beamtengruppen (z. B. Gemeindebeamte, Lehrer99) aus, so wird zwar deren Recht auf Tarifverhandlungen und Streik gestärkt, gleichzeitig aber deren Grundrecht aus Art. 33 Abs. 5 auf gesetzlich geregelte Besoldung und Versorgung100 ausgehebelt, weil durch Streik erzwungene tarifvertragliche Regelungen und freie – wenn auch verfassungsrechtlich determinierte – Entscheidungen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers nicht miteinander vereinbar sind. d) Fehlendes Kodifikationsprinzip aa) Bei der Europäischen Menschenrechtskonvention handelt es sich nicht um eine geschlossene Menschenrechtskodifikation, sondern um ein von vornherein auf Ergänzungen und Fortsetzungen angelegtes Fundament, das mit seinen vierzehn Zusatzprotokollen101 architektonisch der Sagrada Familia Gaudís in Barcelona ähnelt. Damit sind aber alle auf dem Kodifikationsprinzip beruhenden Argumentationen auf die Menschenrechtskonvention unanwendbar. Folgt doch aus der Kodifikationsidee, dass deren Normen als inhaltliche Einheit zu werten und auszulegen sind, 97

Vgl. Grabenwarter, Verfassungsrecht, Völkerrecht und Unionsrecht (Fn. 92), § 2 Rn. 41; dens./Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 2 Rn. 16. 98 Vgl. BVerfGE 128, 326 (371); Christian Calliess, Schutzpflichten, in: Merten/Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. II, 2006, § 44 Rn. 18 ff.; Wolfgang Hoffmann-Riem, EuGRZ 2006, S. 492; Rainer Wahl/Johannes Masing, JZ 1990, S. 553 ff. 99 Vgl. EGMR (III. Sektion), Entsch. v. 22. 11. 2001, Volkmer ./. Deutschland, NJW 2002, S. 3087 (3089). 100 Vgl. BVerfGE 107, 218 (236 f.); 117, 330 (344 sub B I 1); 119, 247 (266 unten). 101 S. Grabenwarten/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 1 Rn. 4.

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weil der Gesetzgeber die Absicht zu widerspruchsfreier, erschöpfender, abschließender und systematisierender Regelung hatte102. Das der Kodifikationsidee zugrunde liegende Streben nach Vollständigkeit erlaubt es, etwaige planwidrige Lücken mit Hilfe der Grundsätze und Generalklauseln des Gesetzbuchs zu schließen103.Wegen des der Europäischen Menschenrechtskonvention fehlenden Kodifikationsprinzips scheidet jedoch eine Ausfüllung oder Ergänzung (angeblicher) Lücken durch Rückgriff auf eine als Ganzheit konzipierte Normierung aus. bb) Wegen der schon von Beginn an im Hinblick auf die fehlende Eigentumsgarantie lückenhaften Menschenrechtskonvention und deren Ergänzung durch Zusatzprotokolle in einem zeitlichen Abstand von durchschnittlich knapp fünf Jahren konnten auch die Vertragsstaaten davon ausgehen, dass neuer Grundrechtsbedarf zu Novellierungen der Charta mit der Möglichkeit, bei Widerspruch zu nationalen (Verfassungs-)„Gesetzen“ Vorbehalte zu erklären (Art. 57 EMRK), und nicht durch Richterrecht führen würde. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Präambel-Ziel der „Wahrung und Fortentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten“, weil diese „Fortentwicklung“ auch – wie geschehen – durch Zusatzprotokolle erfolgen kann. Da die nunmehr aus Art. 11 Abs. 1 EMRK abgeleitete Streikfreiheit mit den „hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums“ in Art. 33 Abs. 5 GG unvereinbar ist, hätte Deutschland schon wegen des Vorrangs des Verfassungsgesetzes einen derartigen Vorbehalt erklären müssen. e) EMRK als „living instrument“? Die richterrechtliche Ableitung einer Streikfreiheit aus Art. 11 Abs. 1 EMRK lässt sich nicht mit dem angeblichen Charakter der Konvention als eines „living instruments“, das stark an die überwundene Organtheorie erinnert, begründen. Denn Normtexte aktivieren sich nicht selbst, sondern werden aktiviert. Es ist nicht die Konvention selbst, sondern es sind die „living judges“, die ihr einen neuen Sinn geben oder Bestandteile hinzufügen. Dabei ist nicht zu verkennen, dass veränderte Umstände gegebenenfalls in die Interpretation einer Norm einfließen müssen. So hat auch das Bundesverfassungsgericht „moderne Entwicklungen und die mit ihnen verbundenen neuen Gefährdungen“104 oder „neuartige[n] Gefährdungen … im Zuge des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und gewandelter Lebensverhältnisse“105 bei der Interpretation berücksichtigt. Andererseits betont das Gericht aber auch, dass sich der Gehalt bestimmter, verfassungsrechtlich gewährleisteter Institute 102 Vgl. Franz Wieacker, Aufstieg, Blüte und Krisis der Kodifikationsidee, in: FS Gustav Boehmer, 1954, S. 34 ff.; dens., Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., 1967, § 19, S. 322 ff.; Staudinger/Merten (2013), Vorbem. 4 zu Art. 55 – 152 EGBGB. 103 Vgl. BVerfGE 7, 342 (355); 42, 20 (33); 116, 89 (83 f.); 128, 193 (210); 132, 99 (127 f.). 104 BVerfGE 54, 148 (153); 65, 1 (41). 105 BVerfGE 118, 168 (183); 120, 274 (303).

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wie z. B. der Ehe „ungeachtet des gesellschaftlichen Wandels und der damit einhergehenden Änderungen ihrer rechtlichen Gestaltung“ bewahrt hat106. Geänderte Verhältnisse und gewandelte Anschauungen müssen aber bei der Auslegung im Einzelnen dargetan werden und dürfen nicht lediglich als Vorwand für richterliche Ergänzungen dienen, zumal wenn diese politisch umstritten sind. Zu Recht hält daher Di Fabio107 dem Gerichtshof vor, er laufe Gefahr, „sich von den Textgrundlagen der Konvention zu lösen und sich unter der Flagge eines rechtlich nur schwer rationalisierenden Fortschrittsparadigmas in die Sphäre politischer Erstentscheidung zu bewegen“. Gerade beim Streikrecht verfängt der Hinweis des Gerichtshofs auf eine Auslegung unter Berücksichtigung der „heutigen Verhältnisse“108 nicht. Denn das Streikproblem ist anders als beispielsweise der Datenschutz nicht neuartig, sondern in den Industriestaaten seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bekannt. Aus diesem Grunde ist die Nichterwähnung der Streikfreiheit in Art. 11 Abs. 1 EMRK auch kein redaktionelles Versehen, sondern bewusstes Unterlassen der vertragschließenden Staaten, zumal diese grundsätzlich soziale Rechte im weiteren Sinne nicht in die Menschenrechtskonvention aufnehmen, sondern in die Europäische Sozialcharta verlagern wollten109. f) Konventionsverstärkung durch „Berücksichtigung anderer völkerrechtlicher Texte und Instrumente“? Bei der Auslegung der Konvention will der Europäische Gerichtshof auch „andere völkerrechtliche Teile und Instrumente“110 berücksichtigen. aa) Dabei ist bedenklich, dass der Gerichthof bei der Suche nach einer gemeinsamen Grundlage im (Vertrags-)Völkerrecht die Rechtsquellen nicht danach unterscheiden will, „ob der beklagte Staat sie gezeichnet und ratifiziert hat“111. Handelt es sich hierbei nicht um ohnehin verbindliche allgemeine völkerrechtliche Rechtsgrundsätze (general principles of international law)112 oder um Völkergewohnheitsrecht, führt der Europäische Gerichtshof durch seine Rechtsprechung Bindungen herbei, die die betroffenen Staaten nicht wollten oder sogar bewusst unterlassen haben. Dieses Vorgehen steht auch im Widerspruch zu Art. 31 Abs. 3 lit. c der Wiener Vertragsrechtskonvention, die zwar mangels Rückwirkung (Art. 4) nicht unmittelbar anwendbar ist, aber hinsichtlich der Regelungen über die Auslegung von Verträgen als Kodifikation von Völkergewohnheitsrecht gilt, weshalb auch der Europäische Gerichtshof Art. 31 bis 33 WVK zur Bestimmung des Sinns von Begriffen und 106

BVerfGE 105, 313 (345); 115, 1 (19); 121, 175 (193). Streikverbot, S. 7 f. 108 EGMR NJOZ 2010, S. 1897 (1899 Rn. 68). 109 Angelika Nußberger, Auswirkungen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auf das deutsche Arbeitsrecht, RdA 2012, S. 270 f. 110 So EGMR (GK) Urt. v. 12. 11. 2008, Demir u. Baykara ./. Türkei, NZA 2010, S. 1425 (1426 Rn. 65 ff.). 111 EGMR a.a.O., S. 1428 Rn. 78. 112 Vgl. Alfred Verdross/Bruno Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl., 1984, § 605. 107

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Formulierungen der Konvention heranzieht113. Gerade die Wiener Vertragsrechtskonvention lässt aber für die Auslegung von Verträgen nur die Heranziehung eines für die Vertragsparteien „anwendbaren einschlägigen Völkerrechtssatzes“ zu, so dass die Straßburger Auslegung nicht nur in hohem Grade fragwürdig ist114, sondern auch die Staatensouveränität hinsichtlich der Ratifikation oder Nichtratifikation eines Vertrages bewusst missachtet. bb) Weiterhin ist zu rügen, dass der Europäische Gerichtshof für die Auslegung der Menschenrechtskonvention nicht nur verbindliche Rechtsnormen, sondern ausdrücklich auch „rechtlich nicht bindende Instrumente“ (z. B. Empfehlungen und Entschließungen) nicht nur des Europarats, sondern auch der Venedig-Kommission oder des Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe heranzieht115. Dabei bedient sich der Gerichtshof für die Interpretation des Art. 6 Abs. 1 EMRK und die Ausklammerung von „Trägern der Staatsgewalt“ auch einer Aufzählung der Tätigkeitsmerkmale und Dienstposten durch die EG-Kommission und durch den Europäischen Gerichtshof116, wobei der Straßburger Gerichtshof im Übrigen gerne auf das EU-Recht rekurriert117, was wegen der unterschiedlichen Kreise der Vertragsstaaten der EMRK einerseits und der EU-Mitgliedstaaten andererseits bedenklich ist. Die Straßburger Melange, die der Gerichtshof selbst als „Auslegungsmethode“ bezeichnet118, mischt Normatives mit Nichtnormativem, wobei die Nichtratifikation eines Vertrags ebenso wie nationale Vorbehalte, die Unverbindlichkeit einiger Erklärungen, die begrenzte Reichweite mancher Bestimmungen und deren ausdrücklicher Verweis auf einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten (Art. 28 EUGrundrechtecharta) oder der ausschließliche Zielcharakter der Vertragswerke (Teil I ESC) übergangen werden119. Die Interpretation des Gerichtshofs führt für den im Prozess unterlegenen Vertragsstaat infolge der Bindungswirkung des Art. 46 Abs. 1 EMRK dazu, dass er wie beispielsweise die Türkei den Einfluss der EU-Grundrechtecharta (Art. 28)120 akzeptieren muss, obwohl er nicht Mitglied113

EGMR a. a. O., S. 1426 Rn. 65 m.w.N. In diesem Sinne auch Di Fabio, Streikverbot, S. 6 ff.; Claudia Schubert, Das Streikverbot für Beamte und das Streikrecht aus Art. 11 EMRK im Konflikt, in: AöR 137 (2012), S. 92 (101 ff.). 115 EGMR a. a. O., S. 1427 Rn. 74 f. m.w. Hinweisen. 116 EGMR (III. Sektion), Entsch. v. 22. 11. 2001, Volkmer ./. Deutschland, NJW 2002, S. 3087 (3089 r.Sp.). 117 Vgl. Anne Peters, Einführung in die Europäische Menschenrechtskonvention, 2003, S. 28 ff., 106. 118 EGMR (GK), Urt. v. 12. 11. 2008, Demir u. Baykara ./. Türkei, NZA 2010, S. 1425 (1427 Rn. 75). 119 Kritisch auch Di Fabio, Streikverbot, S. 5 ff.; Schubert, in: AöR 137 (2012), S. 92 (99 ff.). 120 Vgl. EGMR (GK), Urt. v. 12. 11. 2008, Demir u. Baykara ./. Türkei, NJOZ 2010, S. 1902 Rn. 149 f. 114

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staat der Europäischen Union ist, und dass ihm die Europäische Sozialcharta (Art. 6) entgegengehalten wird, obwohl er sich bei deren Ratifikation nicht an diesen Artikel gebunden hat121. cc) Unmittelbare Auswirkungen auf das innerstaatliche Recht eines Vertragsstaates hat diese Auslegung des Straßburger Gerichtshofs dann, wenn dieses – wie in den Niederlanden – einen Anwendungsvorrang der Konvention auch vor nationalem Verfassungsrecht vorsieht oder – wie in Österreich – die Menschenrechtskonvention im Verfassungsrang ausweist122 und die nationalen Gerichte der Interpretation des Gerichtshofs folgen müssen. III. Vorrang der EGMR-Entscheidungen vor deutschem Verfassungsrecht? Ein Vorrang der EGMR-Entscheidungen zum Streikrecht von Beamten käme in Betracht, wenn die Europäische Menschenrechtskonvention im innerstaatlichen Stufenbau der Rechtsordnung einen höheren Rang als nationales Verfassungsrecht einnähme beziehungsweise ihr im Falle der Normenkollision zumindest ein Anwendungsvorrang zukäme oder wenn Deutschland völkerrechtlich verpflichtet wäre, die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ungeachtet nationalen Verfassungsrechts zu befolgen. Diese Voraussetzungen sind jedoch nicht gegeben. 1. Die Europäische Menschenrechtskonvention im Stufenbau der nationalen Rechtsordnung a) Ratifizierung als Bundesgesetz Durch die Ratifizierung der Europäischen Menschenrechtskonvention als eines völkerrechtlichen Vertrages erlangte diese gemäß Art. 59 Abs. 2 GG innerstaatlich den Rang eines (einfachen) Bundesgesetzes123. Wegen des Vorrangs der Verfassung124, wie sie auch in der „Schlüsselnorm“125 des Art. 1 Abs. 3 GG zum Ausdruck 121

Hierauf weist Schubert, in: AöR 137 (2012), S. 101 hin. Vgl. hierzu Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 3 Rn. 2. 123 Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 3 Rn. 6; Christine Langenfeld, Die Stellung der EMRK im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: Jürgen Bröhmer (Hg.), Der Grundrechtsschutz in Europa, 2002, S. 95 ff. 124 Vgl. Wahl, Der Vorrang der Verfassung, in: Der Staat 20 (1981), S. 485 ff.; ders., Der Vorrang der Verfassung und die Selbständigkeit des Gesetzesrechts, NVwZ 1984, S. 401 ff.; ders., Elemente der Verfassungsstaatlichkeit, in: JuS 2001, S. 1041 (1043 ff.); Klaus Stern, Grundideen europäisch-amerikanischer Verfassungsstaatlichkeit, 1984, S. 20 f.; Christian Starck, Verfassung und Gesetz, in: ders., Rangordnung der Gesetze, 1995, S. 29 ff.; Horst Dreier, Gerhard Anschütz (1867 – 1948), Staatsrechtslehrer in Zeiten des Umbruchs, in: Peter Ulmer (Hg.), Geistes- und Sozialwissenschaften in den 20er Jahren: Heidelberger Impulse, 1998, S. 89 (107 ff.); Christian Hermann Schmidt, Vorrang der Verfassung und konstitutionelle Monarchie, 2000; Friederike Valerie Lange, Grundrechtsbindung des Gesetzgebers. Eine rechtsvergleichende Studie zu Deutschland, Frankreich und den USA, 2010, S. 91. 122

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kommt126, und der daraus folgenden Suprematie der lex fundamentalis müssen alle Gesetze der Legislative im innerstaatlichen Stufenbau der Rechtsordnung127 einen niedrigeren Rang als das Grundgesetz haben. Als Bundesgesetz128 gehört die Menschenrechtskonvention zwar dem positiven Recht an129, kann aber als lex inferior dem grundgesetzlichen Streikverbot (Art. 33 Abs. 4 und Abs. 5 GG) weder derogieren (lex inferior non derogat legi superiori) noch sich einen Anwendungsvorrang verschaffen. b) Rangerhöhung durch Art. 1 Abs. 2 GG? Die Europäische Menschenrechtskonvention kann auch durch das Bekenntnis des Grundgesetzes in Art. 1 Abs. 2 GG „zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ keine Rangerhöhung erfahren und grundrechtsgleiches Verfassungsrecht werden. Die Verfassungsbestimmung enthält eine bloße Konfession130, keine normative Inkorporation. Diese folgt erst in Art. 1 Abs. 3 GG mit der normativen Bindung aller Staatsgewalten an die Grundrechte „als unmittelbar geltendes Recht“, womit die Bestimmung nicht nur „aus den Menschenrechten Grundrechte“ macht131, sondern auch die Divergenz zwischen „juristischer Formulierung und moralisch-politischer Deklaration“132 glättet. Neue Grundrechte im Sinne des Grundgesetzes kann der Gesetzgeber nur durch Verfassungsänderung und Verfassungsinkorporation (Art. 79 Abs. 1 Satz 1 GG), nicht aber durch den Abschluss völkerrechtli-

125 Zum Begriff Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, 1988, S. 1178; Dreier, Grundgesetz-Kommentar, Bd. I, 3. Aufl., 2013, Art. 1 III Rn. 27. 126 Vgl. Merten, Art. 1 Abs. 3 GG als Schlüsselnorm des grundrechtsgeprägten Verfassungsstaates, in: Der grundrechtsgeprägte Verfassungsstaat, FS Klaus Stern zum 80. Geburtstag, 2012, S. 483 ff. 127 Hierzu Adolf Merkl, Das doppelte Rechtsantlitz, JBl. 1918, S. 425 ff., 444 ff. und 463 ff.; ders., Das Recht im Spiegel seiner Auslegung, DRiZ 1916, Sp. 584 ff., 1917, Sp. 161 ff.; Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 1. Aufl., 1934, S. 228 ff. 128 BVerfGE 74, 358 (370); 82, 106 (114); 111, 307 (317); 128, 326 Ls. 2 a (367). 129 BVerfGE 19, 342 (347); 133, 1 (31). 130 Wie hier Isensee, Positivität und Überpositivität der Grundrechte, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. II, 2006, § 26 Rn. 10 „zivilreligiöses Credo“, 52 ff.; ders., Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen, in: ders./P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, 3. Aufl., 2011, § 190 Rn. 1 ff.; Wilfried Brugger, Menschenwürde, Menschenrechte, Grundrechte, 1997, S. 15, 45; Dreier, Grundgesetz-Kommentar, Bd. I, 3. Aufl., 2013, Art. 1 II Rn. 13; s. auch Merten, Freiheit im Gefüge der Staatsfundamentalbestimmungen, in: ders./Papier, Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. II, 2006, § 27 Rn. 12, und ebd., Begriff und Abgrenzung der Grundrechte, § 35 Rn. 68. 131 Martin Kriele, in: FS Scupin, 1973, S. 188. 132 So der Abg. Dr. Theodor Heuss (FDP) in der 3. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen v. 21. 9. 1948, in: Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 5/I, 1993, S. 44.

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cher Verträge schaffen. Deshalb sind bisher auch alle Versuche gescheitert, der Europäischen Menschenrechtskonvention Verfassungsrang zuzubilligen133. c) Europäische Menschenrechtskonvention als „zwischenstaatliche Einrichtung“? Gemäß Art. 24 Abs. 1 GG kann der Bund ähnlich dem Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG „Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen“. Da dem Grundgesetz gleichzeitig das Institut völkerrechtlicher Verträge („Verträge mit auswärtigen Staaten“) in Art. 59 bekannt ist, müssen sich „zwischenstaatliche Einrichtungen“ von Institutionen unterscheiden, die ohne eigenständige Rechtspersönlichkeit Organe der Vertragsstaaten bleiben, wie das bei dem Europäischen Gerichtshof der Fall ist. Zudem erfordert Art. 24 Abs. 1 die „Übertragung von Hoheitsrechten“, die die Ausübung bisher staatlicher „Hoheitsbefugnisse mit unmittelbarer Wirkung im innerstaatlichen Bereich“ zur Folge haben müsste134. Damit wird der Durchgriffseffekt zum „Wesensmerkmal“ der Übertragung von Hoheitsrechten135, der für eine „Konventionsgemeinschaft“ als zwischenstaatliche Einrichtung auch einen Anwendungsvorrang der Menschenrechtskonvention begründen könnte136, wenn Deutschland seinen Herrschaftsanspruch im nationalen Bereich zurücknähme und der unmittelbaren Geltung und Anwendbarkeit eines Rechts aus anderer Quelle zuließe137. Fehlt es nach allem an einem „Durchgriffseffekt“ auf Seiten des Konventionssystems und damit auch an einer Übertragung von Hoheitsrechten, so kann die Menschenrechtskonvention keinen Vorrang vor nationalem Recht genießen138. 133 Vgl. Eberhard Menzel, Die Einwirkung der Europäischen Menschenrechtskonvention auf das deutsche Recht, DÖV 1970, S. 509 ff.; Albert Bleckmann, Verfassungsrang der Europäischen Menschenrechtskonvention, EuGRZ 1994, S. 149 ff.; Manfred Zuleeg, Menschenrechte, Grundrechte und Menschenwürde im deutschen Hoheitsbereich, EuGRZ 2005, S. 681 ff.; Christian Hillgruber, Der internationale Menschenrechtsstandard – geltendes Verfassungsrecht? Kritik einer Neuinterpretation des Art. 1 Abs. 2 GG, in: Iustitia et Pax. GS für Dieter Blumenwitz, 2008, S. 123 ff.; Isensee, Handbuch der Grundrechte, Bd. II (Fn. 130), § 26 Rn. 96 ff.; Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 3 Rn. 7; Dreier, Grundgesetz-Kommentar, Bd. I, Art. 1 II Rn. 20; Christoph Enders, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 1 Rn. 54 (2011); Matthias Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 2 Rn. 41 (2006); a.A. Bleckmann, EuGRZ 1994, S. 149 (154); Sternberg, Der Rang von Menschenrechtsverträgen im deutschen Recht unter besonderer Berücksichtigung von Art. 1 Abs. 2 GG, 1999, S. 224; Hoffmeister, Völkerrechtlicher Vertrag oder europäische Grundrechtsverfassung, in: Der Staat (2001), S. 349 (367 ff.). 134 BVerfGE 90, 286 (S. 346 f.). 135 Christian Tomuschat, Bonner Kommentar, Art. 24 Rn. 8 (1981) m.w.N.; Ingolf Pernice, in: H. Dreier, GG-Kommentar, Bd. II, 2. Aufl., 2006, Art. 24 Rn. 20. 136 S. zu einer derartigen künftigen Entwicklung Georg Ress, Verfassungsrechtliche Auswirkungen der Fortentwicklung völkerrechtlicher Verträge, in: FS Wolfgang Zeidler, Bd. II, 1987, S. 1775 (1790 ff.). 137 Zu dieser Formulierung BVerfGE 37, 271 (280); 58, 1 (28); s. auch E 73, 339 (374); 126, 286 (301). 138 Zutreffend Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 3 Rn. 7.

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d) Irrelevanz des Art. 25 GG Für eine Kollision von Normen der Europäischen Menschenrechtskonvention mit nationalem Verfassungsrecht ist Art. 25 GG irrelevant. Denn nach seinem ausdrücklichen Wortlaut gehen die „allgemeinen Regeln des Völkerrechtes“ als „Bestandteil des Bundesrechtes“ nur „den Gesetzen vor“. Daraus folgt ein übergesetzlicher, aber kein verfassungsgleicher Rang dieser Regeln139. Auf die Rangstufe kommt es jedoch nicht entscheidend an, weil die Europäische Menschenrechtskonvention insgesamt nicht nur aus Normen besteht, die im Völkerrecht allgemein gelten und weltweit von der überwiegenden Mehrheit der Staaten in der Praxis unter Berücksichtigung der Entscheidungen internationaler Gerichte anerkannt werden140. Im Übrigen zählt Völkervertragsrecht mangels allgemeiner Geltung nicht zu den allgemeinen Regeln des Völkerrechts141, was jedoch die gewohnheitsrechtliche Anerkennung einzelner Grundfreiheiten der Konvention nicht ausschließt142. Sie kommt jedoch für eine Streikfreiheit der Beamten nicht in Betracht, weil es von vornherein an den Voraussetzungen der dauernden Übung (longa consuetudo) und der gemeinsamen Rechtsüberzeugung der Rechtsgenossen (communis opinio iuris) fehlt143. Bisher liegen weder hinreichend viele Entscheidungen vor noch ist ein ausreichender Zeitraum vergangen. Die zugrunde liegende Entscheidung144 ist in Deutschland auf breiten Widerspruch in der Rechtsprechung und in der Literatur gestoßen und wird auch in anderen europäischen Staaten nicht von einer opinio iuris getragen, da Art. 28 der erst vor einigen Jahren in Kraft getretenen Grundrechte-Charta das Tarifvertragsrecht und das Arbeitskampfrecht nur nach Maßgabe von „Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten“ gewährt und damit nicht schlechthin und schrankenlos anerkennt. 139 BVerfGE 111, 307 (318); 37, 271 (279); 6, 309 (363); Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 25 Rn. 42, S. 23 (2003); Tomuschat, Bonner Kommentar, Art. 25 Rn. 86 (2009); Ondolf Rojahn, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. I, 6. Aufl., 2012, Art. 25 Rn. 55 f.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl, 1984, § 14 II 8, S. 493; Tomuschat, Staatsrechtliche Entscheidung für die internationale Offenheit, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl., Bd. XI, 2013, § 226 Rn. 18; Rudolf Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 4. Aufl., 2009, S. 152 f.; Georgios Papadimitriou, Die Stellung der allgemeinen Regeln des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht, 1972, S. 94; Hartwin Bungert, Einwirkung und Rang von Völkerrecht im innerstaatlichen Rechtsraum, DÖV 1994, S. 797 (802 f. sub V 1 a) m.w.N. in Fn. 64. 140 S. Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 3 Rn. 7 f.; Robert Uerpmann, Die Europäische Menschenrechtskonvention und die deutsche Rechtsprechung, 1993, S. 65 ff.; zum Begriff der allgemeinen Regeln des Völkerrechts vgl. BVerfGE 23, 288 (317); 117, 141 (148); 118, 124 (134 f.). 141 Jarass, in: ders./Pieroth, GG, 13. Aufl., 2014, Art. 25 Rn. 6 unter Hinweis auf BVerfGE 100, 266 (269); 117, 141 (149); 118, 124 (134 f.). 142 Wie hier schon Karl-Peter Sommermann, Völkerrechtlich garantierte Menschenrechte als Maßstab der Verfassungskonkretisierung, AöR 114 (1989), S. 391 (407). 143 Zum Gewohnheitsrecht vgl. Staudinger/Merten, Art. 2 EGBGB Rn. 92 m.w.N. 144 S. oben Fn. 81.

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2. Zur Bindung an die Entscheidungen des EGMR a) Fehlende Allgemeinverbindlichkeit der Entscheidungen des Gerichtshofs Den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs fehlt die Allgemeinverbindlichkeit. Die Erkenntnisse wirken nicht erga omnes, sondern binden nur die Verfahrensbeteiligten. Der Menschenrechtskonvention fehlt eine § 31 BVerfGG vergleichbare Vorschrift, wonach die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden binden (Abs. 1) und in bestimmten Fällen „Gesetzeskraft“ haben (Abs. 2). Dabei erweist sich „Gesetzeskraft“ allerdings als ein „leeres Wort“145. § 31 Abs. 2 BVerfGG bewirkt letztlich nur, dass die verfassungsgerichtliche Entscheidung über Gesetze für alle Rechtsunterworfenen verbindlich ist. Demgegenüber verpflichtet Art. 46 Abs. 1 EMRK nur die Vertragsparteien in den Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen. b) Befolgungspflicht der Verfahrensbeteiligten Die endgültigen Entscheidungen des Gerichtshofs erwachsen mit der Folge der Unanfechtbarkeit in formelle Rechtskraft146. Weiterhin wirken sie materielle Rechtskraft, indem sie das Gericht und die Verfahrensbeteiligten an die gerichtliche Entscheidungsformel binden. Die materielle Rechtskraft wird vom Streitgegenstand her bestimmt, wobei die Entscheidungsgründe zur Ermittlung des Sinns der Entscheidungsformel herangezogen werden können147. Die materielle Rechtskraft reicht nur so weit, wie es sich um denselben Streitgegenstand zwischen denselben Parteien (inter partes) handelt148. Die Vertragsparteien sind nur völkerrechtlich verpflichtet, Urteile, in denen sie Partei sind, zu befolgen (Art. 46 Abs. 1 EMRK). Hierfür ist jedoch nicht mehr der Gerichtshof, sondern das Ministerkomitee zuständig (Art. 46 Abs. 2 EMRK). Außer der völkerrechtlichen Verpflichtung des betroffenen Vertragsstaates entfaltet die Entscheidung des Gerichtshofs jedoch keine unmittelbaren, insbesondere keine gestaltenden Wirkungen in der nationalen Ordnung, so dass trotz festgestellter Konventionswidrigkeit eines staatlichen Aktes Gesetze oder Verwaltungsakte vom Europäischen Gerichtshof nicht aufgehoben werden und entgegenstehende Richter145

So Klaus Schlaich/Stefan Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 9. Aufl., 2012, Rn. 497 in Fn. 154 unter Hinweis auf eine Äußerung Friesenhahns; ähnlich Christian Graf Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, 3. Aufl., 1991, § 20 Rn. 98. 146 Vgl. Art. 42, 44 EMRK. 147 Vgl. BVerfGE 4, 31 (38 f.); 5, 34 (37); 20, 56 (86); 78, 320 (328); 104, 151 (196); Herbert Bethge, in: Maunz u. a., Bundesverfassungsgerichtsgesetz, § 31 Rn. 42 ff. (2014); Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 479; Gaier, in: JuS 2011, S. 961 (963 sub II 2). 148 Bethge a. a. O., Rn. 42 (2014).

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sprüche nicht beseitigt werden. Aus der bloßen völkerrechtlichen Verpflichtung des Vertragsstaates folgt eine Gestaltungsfreiheit in der Art und Weise der Urteilsumsetzung149. Er kann den nach seiner Rechtsordnung geeigneten Rechtsakt bestimmen, solange dieser mit den im Urteil enthaltenen Schlussfolgerungen vereinbar ist. Entscheidend ist die Beseitigung der Konventionsverletzung. Auch darf die Prozesspartei nicht mehr die Ansicht vertreten, ihr Handeln sei konventionsgemäß gewesen150. Nach früherem Recht gestattete die Konvention den Vertragsstaaten sogar, mit Rücksicht auf „das Institut der Rechtskraft und den hohen Rang, der ihm in den innerstaatlichen Rechtsordnungen allgemein beigemessen wird“151, rechtskräftige, aber völkerrechtswidrige Entscheidungen unangetastet zu lassen und den Betroffenen lediglich eine gerechte Entschädigung zuzubilligen. Die Befolgungspflicht wird auch nicht dadurch ausgeweitet, dass das Ministerkomitee mit qualifizierter Mehrheit den Gerichtshof anruft, damit dieser „eine Frage betreffend die Auslegung“ eines „Urteils“ gemäß Art. 46 Abs. 3 EMRK entscheidet. Die „authentische Interpretation“152 erfasst nur das Urteil, nicht die Menschenrechtskonvention, so dass die personelle Reichweite der Rechtskraft nicht vergrößert wird. Da soweit ersichtlich keine Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs zur Ableitung einer Streikfreiheit in Art. 11 Abs. 1 EMRK gegen Deutschland ergangen sind, besteht für es auch keine Befolgungspflicht aus Art. 45 Abs. 1 EMRK. c) Orientierungswirkung der Entscheidungen Rechtskräftige gerichtliche Entscheidungen, insbesondere der obersten nationalen Gerichte wie auch des Europäischen Gerichtshofs und auch des Gerichtshofs für Menschenrechte haben faktisch Wirkungen, weil sie den Betroffenen Informationen vermitteln, Schlüsse auf Prozessrisiken erleichtern und sogar den Gesetzgeber zu Korrekturen veranlassen oder verpflichten können. So wird auch jenseits der Rechtskraftwirkung den endgültigen Entscheidungen des Gerichtshofs für Menschenrechte eine „Orientierungswirkung“ zugesprochen153, wobei damit nur eine faktische, keine rechtliche Wirkung gemeint sein kann154. Deshalb sind Begriffe wie „quasi ergaomnes Effekt“155 oder „Präjudizwirkung“156 nicht unproblematisch. Denn sie erzeu149

S. Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 16 Rn. 3 m.w.N. BVerfGE 111, 307 (321). 151 BVerfG (Dreierausschuss) v. 11. 10. 1985 – Pakelli-Entscheidung, ZaöRV 1986, S. 289 (292). 152 Vgl. Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 16 Rn. 10. 153 Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 16 Rn. 8 f.; Georg Ress, Wirkung und Beachtung der Urteile und Entscheidungen der Straßburger Konventionsorgane, EuGRZ 1996, S. 350 ff.; ders., Supranationaler Menschenrechtsschutz und der Wandel der Staatlichkeit, ZaöRV 2004, S. 621 ff.; Kirsten Schmalenbach, Die rechtliche Wirkung der Vertragsauslegung durch IGH, EuGH und EGMR, ZÖR 2004, S. 213 (224 ff.). 154 So auch Grabenwarter/Pabel a. a. O., § 16 Rn. 8. 155 So Ress, ZaöRV 2004, S. 621 (630). 150

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gen den Schein einer Bindung, dem jedoch die Kraft der Bindung fehlt. Über die ohnehin gesetzlich geregelte „Rechtskraft“157 oder „Bindung“158 hinaus müssen Regelungen, die irgendeine Person oder Institution „präjudizieren“ oder „binden“ sollen, gesetzlich vorgegeben sein. Andernfalls entstünde die schon von Forsthoff beschworene Gefahr, dass „nicht exegetische oder logische Erwägungen, sondern allein die Präjudizien des Bundesverfassungsgerichts“ darüber belehren, was Gleichheit und Willkür im konkreten Fall bedeuten159. Aber das Bundesverfassungsgericht selbst ist dieser Verunsicherung der Verfassung mit dem Hinweis entgegengetreten, dass es „Akte der gesetzgebenden Gewalt an der Verfassung selbst und nicht an verfassungsgerichtlichen Präjudizien zu messen hat“160. Damit sind auch die endgültigen Entscheidungen des Gerichtshofs für Menschenrechte unbeschadet ihrer Rechtskraft für alle Vertragsstaaten und ihre Institutionen zwar recht interessant, aber sie sind nicht Recht, es sei denn, dass eine Rechtsprechung sich über längere Zeit und unter Akzeptanz aller Betroffenen so verfestigt hat, dass sie zu Gewohnheitsrecht geworden ist, was jedoch nationalem Verfassungsrecht auch nicht derogieren könnte. d) Bindung kraft grundgesetzlicher Völkerrechtsfreundlichkeit? Zwar bekennt sich der Wortlaut des Grundgesetzes nicht ausdrücklich zu „internationaler Offenheit“161, „offener Staatlichkeit“ oder „Völkerrechtsfreundlichkeit“. Ungeachtet dessen leitet das Bundesverfassungsgericht den Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit teilweise aus Art. 25 GG162, teilweise aus einer Zusammenschau der Art. 23, 24 und 25 GG163 und teilweise pauschal als Verfassungsgrundsatz164 ab. Hierauf gestützt, statuiert das Gericht in ständiger Rechtsprechung, dass die nur im Range eines Bundesgesetzes stehende Europäische Menschenrechtskonvention als Auslegungshilfe bei der Interpretation der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes heranzuziehen sei165. Zwar muss diese Interpretationspraxis 156 Lucius Wildhaber, Erfahrungen mit der Europäischen Menschenrechtskonvention, ZSR 1979, S. 229 (355). 157 § 322 ZPO. 158 § 121 VwGO; § 110 SGO, § 141 FGG. 159 Ernst Forsthoff, Zur heutigen Situation einer Verfassungslehre, in: Hans Barion u. a., Epirrhosis, FG für Carl Schmitt, Bd. I, 1968, S. 185 (189). 160 BVerfGE 77, 84 (104). 161 BVerfGE 92, 26 (48); Klaus Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit, 1964, S. 42; Tomuschat, Staatsrechtliche Entscheidung für die internationale Offenheit, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. XI, 3. Aufl., 2013, § 226 Rn. 1 ff. 162 BVerfGE 6, 309 (362 f.); 41, 88 (120). 163 BVerfGE 111, 307 (317 f.); s. auch E 112, 1 (47 f.). 164 BVerfGE 123, 267 (344); 128, 326 (366, 369). 165 Vgl. BVerfGE 74, 358 (370); 82, 106 (120); 111, 307 (317 f.); 120, 180 (201); 124, 300 (319); 127, 132 (164); 128, 326 (366, 368 f.); 129, 37 (46); 130, 1 (30 f.); 131, 268 (295 f.); 133, 40 (51 f.); 133, 100 (111).

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die Gefahr berücksichtigen, „von der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung“166 zu gelangen. Diese wird jedoch durch die Erwägung gemindert, dass Deutschland völkerrechtlich verpflichtet ist, allen seiner Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die Rechte und Freiheiten der Menschenrechtskonvention zu sichern. Ihre Berücksichtigung als Auslegungshilfe167 ist jedoch so lange möglich, wie sie die sich aus dem Grundgesetz ergebenden Grenzen nicht verletzt und den Grundrechtsschutz nicht einschränkt168. Bedenklich ist aber, dass das Bundesverfassungsgericht bei der Heranziehung der Europäischen Menschenrechtskonvention als Auslegungshilfe auch die Rechtsprechung des Gerichtshofs für Menschenrechte mitberücksichtigt wissen will169. Denn Exekutive und Judikative sind gemäß Art. 20 Abs. 3 GG nur an „Gesetz und Recht“ gebunden. Mit der Ratifizierung der Europäischen Menschenrechtskonvention wurde nicht auch die spätere Rechtsprechung des Gerichtshofs inkorporiert, dessen Entscheidungen Deutschland nur verpflichten, soweit es Vertragspartei in einer Rechtssache ist. Darüber hinaus wäre diese Rechtsprechung nur im Falle einer Verdichtung zu Völkergewohnheitsrecht als „Recht“ im Sinne des Art. 20 Abs. 3 GG für die rechtsprechende und die vollziehende Gewalt zu beachten. Etwas anderes folgt auch nicht aus dem Prinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes, denn dieses verlangt eine amicitia iuris, keine amicitia gentium. Die dogmatische Unsicherheit des Bundesverfassungsgerichts wird deutlich, wenn es jenseits der Rechtskraft von der „jedenfalls faktischen Orientierungs- und Leitfunktion, die der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte für die Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention auch über den konkret entschiedenen Fall hinaus“ ausgeht170 und „vor dem Hintergrund der zumindest faktischen Präzedenzwirkung der Entscheidungen internationaler Gerichte“ auf das Ziel verweist, „Konflikte zwischen den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland und dem nationalen Recht nach Möglichkeit“ zu vermeiden171. Wie soll es aber zu den vom Gericht befürchteten Konflikten zwischen den (völker)rechtlichen Verpflichtungen Deutschlands und dem nationalen Recht kommen, wenn für Deutschland eine rechtliche Befolgungspflicht ausdrücklich nur im Rahmen der Rechtskraft nämlich für endgültige Entscheidungen des Gerichtshofs besteht, bei dem Deutschland Prozesspartei war? Unabhängig davon ist für eine Bindung deutscher Staatsorgane an die Rechtsprechung des Gerichtshofs für Menschenrechte nicht nur der Grund, sondern auch das 166

So der Titel einer Schrift von Walter Leisner, Recht und Staat, Heft 286/287, 1964. Vgl. BVerfGE 74, 358 (370); 111, 307 (329); 128, 326 (366); 131, 268 (295). 168 Vgl. BVerfGE 128, 326 (327 Ls. 2 c, 371). 169 Vgl. BVerfGE 74, 358 (370); 82, 106 (120); 111, 307 Ls. 1 und 2 (323 f., 325 f.); 112, 1 (20); 128 Ls. 2 a (366); 131, 268 (295). 170 BVerfGE 128, 326 (368) unter Hinweis auf E 111, 307 (320); BVerfGK 10, 66 (77 f.); 10, 234 (239). 171 BVerfGE 128, 326 (368 f.). 167

Streikfreiheit für Beamte kraft Europäischer Menschenrechtskonvention?

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Ausmaß rechtsstaatlich fragwürdig. Bei wievielen Entscheidungen kann schon von einer Rechtsprechung gesprochen werden? Haben die Entscheidungen der Großen Kammer stärkeres Gewicht? Unter welchen Voraussetzungen ist von einer Rechtsprechungsänderung auszugehen, und kann, was „hinten, weit, in der Türkei …“172 für Gemeindebedienstete entschieden wurde, ohne weiteres auf deutsche Gemeindebeamte übertragen werden? Dabei muss auch die jüngst von der Großen Kammer173 betonte Subsidiarität des Konventionsmechanismus und die besondere Bedeutung der Entscheidung staatlicher Institutionen in Fragen der allgemeinen Politik gewichtet werden. Letztlich ist die Forderung, die „Rechtsgrundsätze zur Auslegung der EMRK zu befolgen und nicht erst eine Verurteilung abzuwarten“, wie sie die Konventionsstaaten in der Erklärung von Brighton bekräftigt haben174, nur rechtspolitischer Natur, da derartigen Erklärungen keinerlei Rechtscharakter zukommt. Eine Frage des Amtsethos ist es, ob in dieser auch politisch umstrittenen Situation Richterstimmen aus Straßburg einen „vorauseilenden Gehorsam“ deutscher Gerichte hinsichtlich der Straßburger Rechtsprechung im Schrifttum fordern sollten175. Die Maxime Friedrichs des Großen, in den Gerichten müsse der Souverän schweigen176, lässt sich für den gewaltenteilenden Rechtsstaat dahin umkehren, dass sich Richter außerhalb der Gerichte Zurückhaltung jedenfalls insoweit auferlegen sollten, als aktuelle Entscheidungen ihres eigenen Gerichtshofs betroffen sind. e) Berücksichtigung von EGMR-Entscheidungen nur innerhalb der Grenzen des Grundgesetzes Ungeachtet der fehlenden Rechtsgrundlage für eine Berücksichtigung der „zumindest faktischen Präzedenzwirkung“ der Entscheidungen des Gerichtshofs für Menschenrechte fordert das Bundesverfassungsgericht jedenfalls keine Parallelisierung der Aussagen des Grundgesetzes mit denen der Europäischen Menschenrechtskonvention, sondern ein Aufnehmen von deren Wertungen, soweit dies methodisch vertretbar und mit den Vorgaben des Grundgesetzes vereinbar ist177. Damit ist jede „schematische ,Vollstreckung‘“178, jede Verkürzung des Grundrechtsschutzes ausge-

172

Vor dem Tor (Osterspaziergang), Andrer Bürger. S. oben Fn. 89. 174 Hierzu auch BVerwG, Urt. v. 27. 2. 2014 (2 C 1.13), DVBl. 2014, S. 780, 783 Rn. 45; Nußberger, Auswirkungen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Fn. 109), S. 270 (273). 175 So Nußberger a. a. O., S. 273. Der Fußnotenhinweis, der Aufsatz binde „den EGMR in keiner Weise“, ist wegen (allzu großer) Selbstverständlichkeit beinahe schon anmaßend. 176 Sie findet sich in seinen beiden Politischen Testamenten; vgl. Richard Dietrich (Hg.), Die Politischen Testamente der Hohenzollern, 1986, S. 256 f., 464 f., 606 f. 177 So E 131, 268 (295 f.) unter Hinweis auf E 111, 307 (315 ff.), 128, 326 (366 ff.). 178 BVerfGE 111, 307 Ls. 1. 173

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schlossen, und zieht das Grundgesetz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung von vornherein Grenzen179. Daraus folgt jedoch, dass das grundgesetzlich angeordnete Streikverbot für Beamte Vorrang vor einer Deutschland rechtlich nicht verpflichtenden Entscheidung des Gerichtshofs für Menschenrechte haben muss, die in einem Verfahren gegen die Türkei das Streikverbot für Gemeindebedienstete als konventionswidrig bezeichnet hat. Vordergründig ist in diesem Zusammenhang der Hinweis, dass „sich weder im Grundgesetz ein Streikverbot für Beamte noch in der EMRK ein Verbot eines Streikverbots findet“180. Denn der von Grundgesetzes wegen verbotene Streik der Beamten (Art. 33 Abs. 4 und Abs. 5 GG) ist von der weitaus überwiegenden Meinung in Rechtsprechung und Schrifttum anerkannt, während Art. 11 Abs. 1 EMRK nicht nur „kein Verbot des Streikverbots“, sondern überhaupt keine Aussage zum Streikrecht enthält. Bei dessen Hineininterpretation ist der Gerichtshof von den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung181 abgewichen, indem er den klaren Wortlaut des Gesetzes hintangestellt und eine nicht vorhandene Gesetzeslücke gegen den Willen der Vertragsparteien, die diese Frage einem anderem Vertrag überlassen wollten, geschlossen hat. Damit hat er unzulässig in die Kompetenzen der demokratisch legitimierten Vertragsparteien eingegriffen182. Eine unreflektierte Adaption dieser Interpretation verbietet sich angesichts der entgegenstehenden Vorgaben des Grundgesetzes183. Damit wird zugleich der allgemeinen Regel des Völkerrechts „pacta sunt servanda“ Rechnung getragen.

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So ausdrücklich BVerfGE 128, 326 (327 Ls. 2 c, 371). So Nußberger, Auswirkungen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Fn. 109), S. 370. 181 Vgl. hierzu BVerfGE 84, 212 (226); 96, 375 (395); 128, 193 (210); 132, 99 (127 f.). 182 Vgl. BVerfGE 128, 193 (210). 183 Vgl. BVerfGE 128, 326 (371). 180

Freiheit und Gleichheit – Was hat Vorrang? Von Hans-Jürgen Papier, München I. Sicherheitszwecke des Verfassungsstaates Freiheit ist der „Sinn des Staates“. Auf diese These von Hermann Krings, einem renommierten Vertreter der modernen Transzendentalphilosophie, beruft sich der Theologe Georg Essen in einem seiner Essener Kulturwissenschaftlichen Vorträge1. Für beide – nicht juristischen Autoren – ist die Einsicht in die Selbstbeschränkung des modernen Verfassungsstaates im Interesse der Freiheit maßgeblich. Der Staat hat danach seinen Sinn nicht in sich selbst und er hat auch „nicht die Aufgabe, Sinn zu produzieren oder gar dem Menschenwesen erst seinen sittlichen Sinn zu geben“. Vielmehr besteht nach Hermann Krings und Georg Essen die Aufgabe des Staates allein darin, „Recht zu vermitteln“, um, als Institutionalisierung des Rechts, Freiheit zu ermöglichen2. 1. Der moderne Verfassungsstaat ist aus einem sicherlich nicht reibungslos verlaufenden Wandel des absoluten Staates zum Rechtsstaat hervorgegangen (vgl. Isensee: „Drei teleologische Ebenen des Verfassungsstaates“3). Die Philosophie der Freiheit beispielsweise eines John Locke gewann allmählich die Oberhand über die Philosophie der Sicherheit von Thomas Hobbes. Sicherheit als Legitimationsprinzip des Staates hatte einst Thomas Hobbes für den absoluten Staat des 17. Jahrhunderts entworfen. Der Staat der Neuzeit hatte sich ursprünglich als Macht und Friedenseinheit entwickelt, mit einem Gewaltmonopol des Staates und mit der Friedenspflicht seiner Bürger. Der Staat begegnete der Furcht vor wechselseitiger Gewalttätigkeit, vor Bürgerkrieg und vor äußeren Angriffen, er befriedigte das elementare Sicherheitsbedürfnis der Menschen gegenüber der Gewalt der Mitmenschen und gegenüber äußeren Einwirkungen. Der moderne Verfassungsstaat beruht auf einer eindrucksvollen Fortentwicklung dieser Sicherungszwecke des Staates. Es geht nunmehr auch um das Bedürfnis des Einzelnen nach Sicherheit gegenüber staatlichen Eingriffen, also um die Gewährleis1 Hermann Krings, Staat und Freiheit, in: ders., System und Freiheit. Gesammelte Aufsätze, 1. Auflage 1980, S. 185 ff. (196), zitiert nach Georg Essen, Sinnstiftende Unruhe im System des Rechts – Essener Kulturwissenschaftliche Vorträge 14, 2004, S. 54 ff. (56). 2 Hermann Krings, Staat und Freiheit, a. a. O., S. 54 ff. (56); siehe auch Papier, „Der Zweck des Staates ist in Wahrheit die Freiheit“, in: Glanzlichter der Wissenschaft – ein Almanach, hrsg. vom Deutschen Hochschulverband 2008, S. 107 ff.; ders., AöR Beiheft 2014, S. 59 ff. 3 Josef Isensee in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V – Allgemeine Grundrechtslehren, 2. Aufl. 2000, § 111, Rn. 32 – 36.

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tung der Menschen- und Bürgerrechte als Freiheitsrechte gegen den Staat, der von der staatlichen Schutzmacht zur Unterdrückungsmacht zu werden drohte. Nicht der absolute Staat, der „Leviathan“, vielmehr der rechtsgebundene und machtbegrenzte Staat sichert den inneren und äußeren Frieden und damit die Sicherheit seiner Bürger. John Locke sah weiter als Thomas Hobbes, „weil er auf seinen Schultern steht“ (Josef Isensee). Nach der Wandlung des absoluten Staates zum Rechts- und Verfassungsstaat sieht sich der moderne Staat immer wieder mit weiteren, neuartigen Aufgaben konfrontiert. So galt es auf einer weiteren Entwicklungsstufe, der Furcht der Menschen vor den wirtschaftlichen und sozialen Risiken zu begegnen; der moderne Staat nahm auch dieses Verlangen nach sozialer Sicherheit auf. Er wandelte sich mit anderen Worten vom liberalen zum sozialen Rechtsstaat. Aber der moderne Sozialstaat ersetzt nicht den Rechtsstaat in der eben umschriebenen Doppelfunktion als Garant von Freiheit und Sicherheit im engeren und elementarsten Sinne. Die neuartigen sozialen und umweltspezifischen Sicherheitszwecke können jene elementaren rechtsstaatlichen Sicherheitszwecke nicht ersetzen, sie können sie nur ergänzen und bereichern. Die Erweiterung der staatlichen Zweckordnungen und Zweckdimensionen darf also in keinem Fall zur Aufgabe der elementaren Sicherungszwecke führen. Der Sozialstaat darf nicht gegen den Rechtsstaat ausgespielt werden; der Sicherheitszweck des Staates, der mit seinem Gewaltmonopol Frieden und Sicherheit zu gewährleisten hat, darf aber auch nicht gegen den liberalen, staatsbegrenzenden und freiheitsverbürgenden Zweck des Rechtsstaats ausgespielt werden. Das gilt umgekehrt selbstverständlich genauso. Ein Rechtsstaatsverständnis, das einseitig von der Gewährleistung der Sicherheit des Bürgers und nicht zugleich von der Staatsabwehrdoktrin beherrscht wird, gibt den Rechtsstaat selbst preis. Wenn vor allem seit dem 11. September 2001 wieder Furcht umgeht in diesem Lande, und zwar eine die „hobbesianische“ Sicherheitsbedürfnisse berührende Furcht vor terroristischen Gewaltanwendungen von innen und von außen, so dürfen doch keinesfalls die verfassungsstaatliche Entwicklung in die Vergangenheit zurückgedreht, die verfassungspolitische Philosophie eines John Locke schrittweise zugunsten einer einseitigen staatlichen Zweckordnung und Zweckdimension im Sinne von Thomas Hobbes geopfert werden. 2. Zwischenzeitlich – vor allem wegen der seit dem 11. September 2001 anzutreffenden gesetzgeberischen und administrativen Aktivitäten – ist immer häufiger die Frage gestellt worden, ob der „Leviathan“ zurückkehren wird oder bereits zurückgekehrt ist, ob also die bürgerliche Freiheit vor dem Staat selbst ins Hintertreffen zu geraten droht. Die Geschichte zeigt, dass gewonnene Standards jederzeit wieder verloren gehen können und dass gerade die Sicherung des Überlebens und die Möglichkeit einer selbstbestimmten Lebensführung ebenso wenig selbstverständlich sind wie die Erhaltung grundrechtlicher Standards der Menschen gegenüber dem Staat. Das neue Jahrtausend fördert angesichts neuartiger terroristischer Erfahrungen den –

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nicht wirklich überraschenden – Befund zutage, dass ungeachtet des zwischenzeitlich erreichten erheblichen Niveaus im Bereich des Schutzes von Bürger- und Menschenrechten neue elementare Gefahren für die körperliche Unversehrtheit und gar das Überleben einer Vielzahl von Menschen zu konstatieren sind. Zusätzlich und verstärkend zu neuen terroristischen Motivationen sind dabei auch die Gefahren zu sehen, die von der organisierten Kriminalität und von neuartigen technischen Instrumentarien ausgehen, derer sich die Täter bedienen können. II. Rechtsstaatliche Bindungen 1. Die Sicherheit des Staates als verfasster Friedens- und Ordnungsmacht und die von ihm zu gewährleistende Sicherheit der Bevölkerung vor Gefahren für Leib, Leben und Freiheit sind Verfassungswerte, die mit anderen hochwertigen Gütern im gleichen Rang stehen. Die Schutzpflicht des Staates findet ihren Grund sowohl in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 als auch in Art. 1 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes. Der Staat darf und muss terroristischen Bestrebungen – etwa solchen, welche die Zerstörung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zum Ziel haben und die planmäßige Vernichtung von Menschenleben als Mittel zur Verwirklichung dieses Vorhabens einsetzen – mit den erforderlichen rechtsstaatlichen Mitteln wirksam entgegen treten.4 2. Auf diese rechtsstaatlichen Mittel hat sich der Staat unter dem Grundgesetz jedoch auch zu beschränken. Das Grundgesetz enthält einen Auftrag zur Abwehr von Beeinträchtigungen der Grundlagen einer freiheitlichen demokratischen Ordnung unter Einhaltung der Regeln des Rechtsstaats.5 Daran, dass er auch den Umgang mit seinen Gegnern den allgemein geltenden Grundsätzen unterwirft, zeigt sich gerade die Kraft dieses Rechtsstaates.6 Dies gilt auch für die Verfolgung der fundamentalen Staatszwecke der Sicherheit und des Schutzes der Bevölkerung.7 Die Verfassung verlangt vom Gesetzgeber, eine angemessene Balance zwischen Freiheit und Sicherheit herzustellen. Dies schließt nicht nur die Verfolgung des Zieles absoluter Sicherheit aus, welche ohnehin faktisch kaum, jedenfalls aber nur um den Preis einer Aufhebung der Freiheit zu erreichen wäre. Das Grundgesetz unterwirft auch die Verfolgung des Zieles, die nach den tatsächlichen Umständen größtmögliche Sicherheit herzustellen, rechtsstaatlichen Bindungen, zu denen insbesondere das Verbot unangemessener Eingriffe in die Grundrechte als Rechte staatlicher Eingriffsabwehr zählt. 3. In diesem Verbot finden auch die Schutzpflichten des Staates ihre Grenze.8 Die Grundrechte sind dazu bestimmt, die Freiheitssphäre des Einzelnen vor Eingriffen 4

Siehe BVerfGE 115, 320 (346, 357 ff.); 120, 274 (319); 125, 260 (318 f.). Siehe BVerfGE 115, 320 (357 f.); 120, 274 (319, 326/7). 6 BVerfGE 115, 320 (358). 7 Siehe BVerfGE 115, 320 (358); 120, 274 (327). 8 BVerfGE 115, 320 (358); 120, 274 (327).

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der öffentlichen Gewalt zu sichern; sie sind Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat. Die Funktion der Grundrechte als objektive Prinzipien und der sich daraus ergebenden Schutzpflichten besteht in der prinzipiellen Verstärkung ihrer Geltungskraft, hat jedoch ihre Wurzeln in dieser primären Bedeutung der Grundrechte als Freiheitsrechte. Dem Staat und seinen Organen kommt bei der Erfüllung derartiger Schutzpflichten ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsbereich zu. Anders als die Grundrechte in ihrer Funktion als subjektive Abwehrrechte sind die sich aus dem objektiven Gehalt der Grundrechte ergebenden staatlichen Schutzpflichten grundsätzlich unbestimmt. Wie die staatlichen Organe solchen Schutzpflichten nachkommen, ist von ihnen prinzipiell in eigener Verantwortung zu entscheiden. Das gilt auch für die Pflicht zum Schutz des menschlichen Lebens.9 Zwar kann sich gerade mit Blick auf dieses Schutzgut in besonders gelagerten Fällen, wenn anders ein effektiver Lebensschutz nicht zu erreichen ist, die Möglichkeit der Auswahl der Mittel zur Erfüllung der Schutzpflicht auf die Wahl eines bestimmten Mittels verengen. Die Wahl kann aber immer nur auf solche Mittel fallen, deren Einsatz mit der Verfassung in Einklang steht. So kann unter Berufung auf die Schutzpflicht zugunsten des Lebens der Staat nicht die Subjektstellung anderer unschuldiger Menschen in einer mit Art. 1 Abs. 1 GG nicht zu vereinbarenden Weise und durch Verletzung des an ihn gerichteten Tötungsverbots missachten.10 4. Bei der Wahl der Mittel zur Erfüllung seiner Schutzpflichten ist der Staat daher auf diejenigen Mittel beschränkt, deren Einsatz mit der Verfassung in Einklang steht. Der staatliche Eingriff in den absolut geschützten Achtungsanspruch des Einzelnen auf Wahrung seiner Würde ist ungeachtet des Gewichts der betroffenen Verfassungsgüter stets verboten. Aber auch im Rahmen der Abwägung nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne dürfen staatliche Schutzpflichten nicht dazu führen, dass das Verbot unangemessener Grundrechtseingriffe unter Berufung auf grundrechtliche Schutzpflichten leer läuft, so dass in der Folge allenfalls ungeeignete oder unnötige Eingriffe abgewehrt werden könnten.11 Es gibt also für den grundrechtsbeschränkenden Gesetzgeber – auch soweit er Schutzpflichten erfüllen will – im Wesentlichen zwei verfassungsrechtliche Schranken: Die eine – engere – folgt aus der Menschenwürdegarantie, sie gilt absolut und ist abwägungsfest, die andere – weitere – folgt aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, sie unterliegt einer Abwägung und wirkt daher relativ.12 Es gibt unter dem Grundgesetz einen Kernbestand unveräußerlicher Rechte, der absoluten Schutz genießt und auch für den verfassungsändernden Gesetzgeber nicht zur (abwägenden) Disposition steht. Von zentraler Bedeutung ist insbesondere die Menschenwürde, die sich als unverbrüchlicher Kernbestand auch in den meisten Ein-

9

Siehe BVerfGE 46, 160 (164 f.); 115, 118 (159). BVerfGE 115, 118 (151 ff.). 11 BVerfGE 115, 320 (358 f.). 12 Papier, AöR Beiheft 2014, S. 61. 10

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zelgrundrechten wiederfindet und von der Rechtsprechung in Fallgruppen konkretisiert wird. Neue Gefahren- und Bedrohungsszenarien werfen neue Fragen beim Ausgleich zwischen Freiheit und Sicherheit auf. Der Gesetzgeber ist bei der Gestaltung von Eingriffsbefugnissen nicht zwingend an die mit dem überkommenen Gefahrenbegriff verbundenen polizeirechtlichen Eingriffsgrenzen gebunden. Das Grundgesetz hindert ihn nicht daran, die traditionellen rechtsstaatlichen Bindungen auf der Grundlage einer seiner Prärogative unterliegenden Feststellung neuartiger oder veränderter Gefahrenlagen und Bedrohungssituationen fortzuentwickeln. Die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit darf vom Gesetzgeber neu justiert, die Gewichte dürfen allerdings von ihm nicht grundlegend verschoben werden. Das Grundgesetz anerkennt dabei die grundlegende staatliche Sicherheitsaufgabe auch und gerade im Interesse der Grundrechte der Bürger und geht insoweit von einer Schutzpflicht des Staates aus. Gleichzeitig verlangt das Grundgesetz aber von Gesetzgebung, Verwaltung und Gerichtsbarkeit gleichermaßen eine permanente Rückbesinnung auf die von ihnen zu verteidigenden Freiheitsrechte und die Herstellung und Wahrung einer angemessenen Balance. Dabei hat sich das Grundgesetz dagegen entschieden, sämtliche verbürgten Rechte abwägbar oder gar „wegwägbar“ zu machen. Die Menschenwürdegarantie sowie der Menschenwürdegehalt der speziellen Freiheitsrechte gehören zu diesem absolut geschützten Kernbestand.13 5. Die Wahrnehmung der Freiheitsrechte der Bürger darf nicht total erfasst und registriert werden. Dieses Verbot gehört sogar zur „verfassungsrechtlichen Identität der Bundesrepublik Deutschland“, das die staatlichen Organe der Bundesrepublik nicht nur unmittelbar bindet, sondern für dessen Wahrung sich Deutschland auch „in europäischen und internationalen Zusammenhängen einsetzen muss“14. Eine vom Staat vorgenommene oder durch staatliche Regelungen veranlasste Sammlung von personenbezogenen Daten auf Vorrat zu unbestimmten oder (noch) nicht hinreichend bestimmbaren Zwecken ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts von Verfassungs wegen strikt untersagt.15 Daher verstößt eine flächendeckende, voraussetzungslose, vorsorglich anlasslose Speicherung aller Telekommunikationsverkehrsdaten, die für die Strafverfolgung oder die Gefahrenprävention nützlich sein können, gegen deutsches Verfassungsrecht.16 Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht es für verfassungsrechtlich möglich erachtet, dass eine zeitlich eng befristete anlasslose Speicherung der Telekommunikationsverkehrsdaten für besonders qualifizierte Verwendungen im Rahmen der Strafverfolgung, der Gefahrenabwehr und der Aufgaben der Nachrichtendienste in einer den verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsanforderungen genügenden Weise gesetzlich ausgestaltet werden kann. Eine solche Speicherung der Telekommunikationsverkehrsdaten kann 13

Papier, AöR Beiheft 2014, S. 61. Vgl. BVerfGE 125, 260 (324). 15 BVerfGE 65, 1 (46); 100, 313 (360); 115, 320 (350); 118, 168 (187); 125, 260 (321). 16 Siehe BVerfGE 125, 260 (323 f.). 14

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nämlich dann noch als verhältnismäßig angesehen werden, wenn der Gesetzgeber einen besonders hohen Standard der Datensicherheit gewährleistet. Außerdem darf die Verwendung der Daten ausschließlich für überragend wichtige Aufgaben des Rechtsgüterschutzes erfolgen. Es darf insoweit allein um die Ahndung von Straftaten, die überragend wichtige Rechtsgüter bedrohen, oder um die Abwehr von Gefahren für solche Rechtsgüter gehen.17 Eine vorsorglich anlasslose Speicherung von Telekommunikationsverkehrsdaten und deren Verwendung ist überdies nur dann mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar, wenn der Gesetzgeber hinreichende Vorkehrung zur Transparenz der Datenverwendung sowie zur Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes sowie wirksame Sanktionen bei Verletzungshandlungen vorsieht.18 Abrufe oder Übermittlungen der Daten bedürfen schließlich grundsätzlich der richterlichen Anordnung. Der richterliche Anordnungsbeschluss muss „gehaltvoll begründet werden“19. Der präventive Richtervorbehalt soll die Heimlichkeit und damit die Wehrlosigkeit des Bürgers kompensieren. Auch muss eine nachträgliche richterliche Kontrolle der Datenverwendung eröffnet sein. Die Grundrechte, die die freie Entfaltung der Persönlichkeit und die Privatheit des Einzelnen schützen, also das Grundrecht des Telekommunikationsgeheimnisses nach Art. 10 GG, der Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG) sowie die Grundrechte auf informationelle Selbstbestimmung und auf Schutz der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) enthalten einen Menschenwürdekern, dessen Verletzung nicht im Wege der Abwägung mit anderen Rechtsgütern gerechtfertigt werden kann. Dieser Menschenwürdegehalt führt zu absoluten – auch nicht mit hochrangigen Ermittlungsinteressen des Staates abwägbaren – Überwachungs- und Erhebungsverboten im Kernbereich der privaten Lebensgestaltung. Vom Gesetzgeber ist auch zu verlangen, dass er durch geeignete Vorschriften sicherstellt, dass die Kommunikationen und die persönlichen Daten des höchstpersönlichen Bereichs nicht gespeichert und nicht verwendet werden, sondern, sollten Daten in unvermeidbarer Weise erhoben worden sein, diese unverzüglich gelöscht werden. Sie unterliegen jedenfalls im Strafverfahren einem absoluten Verwertungsverbot. Der die genannten Freiheitsrechte beschränkende Gesetzgeber hat also im Wesentlichen zwei verfassungsrechtliche Schranken materieller Art zu beachten: Die erste und engere Schranke folgt aus der Menschenwürdegarantie, sie gilt mithin absolut und ist nicht abwägungstauglich. Die zweite, weitere Schranke stellt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dar, diese Schranke unterliegt daher einer Abwägung und hat deshalb lediglich eine relative Wirkung. Aus diesem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz kann unter bestimmten Voraussetzungen ebenfalls die vollständige Unzulässigkeit bestimmter Grundrechtseingriffe folgen. Ein Grundrechtseingriff von hoher Intensität in die genannten Freiheitsrechte kann als solcher unverhältnismäßig 17

Siehe BVerfGE 125, 260 (328). Siehe BVerfGE 125, 260 (334). 19 Siehe BVerfGE 125, 260 (338). 18

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im engeren Sinne sein, wenn der gesetzlich geregelte Eingriffsanlass kein hinreichendes Gewicht aufweist. Selbst wenn die mit der gesetzlichen Eingriffsermächtigung geschützten Rechtsgüter als schwergewichtig erscheinen, folgen aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verfassungsrechtliche Anforderungen an die tatsächlichen Voraussetzungen des Eingriffs. Der Gesetzgeber hat insoweit zwischen der Art und Identität der Grundrechtsbeeinträchtigung auf der einen Seite und den eingriffsberechtigenden Tatbestandsvoraussetzungen auf der anderen Seite ein ausgewogenes Verhältnis herzustellen. Der zu verlangende Wahrscheinlichkeitsgrad und die vorauszusetzende Tatsachenbasis der Gefahrenprognose müssen mit anderen Worten in einem angemessenen Verhältnis zu Art und Schwere der Grundrechtsbeeinträchtigung stehen. Auf das Erfordernis einer hinreichenden Eintrittswahrscheinlichkeit von Gefahren kann auch bei besonders hohem Gewicht der Rechtsgutsbeeinträchtigung nicht verzichtet werden. Bei den heimlichen Zugriffen auf die geschützten Bereiche der genannten Grundrechte muss stets verlangt werden, dass tatsächliche Anhaltspunkte einer konkreten Gefahr für die hinreichend gewichtigen Schutzgüter bestehen oder dass tatsächliche Anhaltspunkte für die Begehung einer schweren Straftat vorliegen. Auf bloße Vermutungen oder allgemeine Erfahrungssätze können Zugriffe auf diese besonders geschützten Bereiche der Privatheit nicht gestützt werden. Immer müssen konkrete Tatsachen festgestellt werden können, die eine Gefahrenprognose beziehungsweise einen Tatverdacht tragen. Angesichts des Gewichts der hier in Rede stehenden Grundrechtseingriffe ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz regelmäßig nicht gewahrt, wenn der tatsächliche Eingriffsanlass noch weitgehend in das Vorfeld einer noch nicht absehbaren konkreten Gefahr für die zu schützenden Rechtsgüter vorverlegt wird.20 Diese Voraussetzungen gelten auch für die präventive Tätigkeit der Sicherheitsbehörden jeder Art, auch für die Nachrichtendienste, deren Aufgabe vornehmlich darin besteht, im Vorfeld konkreter Gefahrenlagen für angemessene Aufklärung und Information der Regierung zu sorgen. Im Hinblick auf diese nachrichtendienstlichen Aufgabenstellungen hat deshalb das Bundesverfassungsgericht beispielsweise eine Abrufmöglichkeit auf Vorrat gespeicherter Daten durch den Nachrichtendienst für rechtlich weitesgehend ausgeschlossen erachtet. 6. Die Grundrechte des Grundgesetzes binden nach Art. 1 Abs. 3 GG Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung an unmittelbar geltendes Recht. Diese unmittelbare Bindungswirkung gilt allerdings nur für die vom Grundgesetz konstituierte deutsche öffentliche Gewalt. Art. 10 GG entfaltet seinen unmittelbaren freiheitsrechtlichen Schutz also nur gegenüber Eingriffen, die der deutschen öffentlichen Gewalt zurechenbar sind. Der Schutzbereich der Grundrechte des Grundgesetzes endet dort, „wo ein Vorgang in seinem wesentlichen Verlauf von einem fremden Staat, nach seinem, von der Bundesrepublik Deutschland unabhängigen Willen gestaltet wird“21. 20 21

Vgl. BVerfGE 120, 274 (326 ff.). BVerfGE 66, 39 (62).

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Deutsche Behörden, einschließlich der Nachrichtendienste, sind an Art. 10 GG auch dann gebunden, wenn und soweit sie die grenzüberschreitende Telekommunikation überwachen. Art. 10 GG schützt als Menschenrecht und damit gemäß seinem weiten personellen Schutzbereich nicht nur Deutsche, sondern auch Ausländer. Das gilt uneingeschränkt für die Telekommunikationsverkehre von Deutschen und Ausländern im deutschen Staatsgebiet, aber auch für solche, bei denen ein Endpunkt im Ausland, der andere im Inland liegt. Liegen beide Endpunkte des Telekommunikationsverkehrs im Ausland, sind die den Eingriff in das Telekommunikationsgeheimnis vornehmenden deutschen Behörden grundsätzlich ebenfalls an Art. 10 gebunden. Der räumliche Schutzumfang des Fernmeldegeheimnisses ist nicht auf das Inland begrenzt, das gilt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts jedenfalls dann, wenn „eine im Ausland stattfindende Telekommunikation durch Erfassung und Auswertung im Inland hinreichend mit inländischen staatlichen Handeln verknüpft ist“22. Diese Voraussetzung dürften im Regelfall erfüllt sein, wenn etwa der Bundesnachrichtendienst ausländische Telekommunikationsverkehre überwacht. Eine Differenzierung der materiellen Schutzwirkungen des Grundrechts des Art. 10 GG je nach dem, ob auch Deutsche oder allein Ausländer von den Beschränkungen des Telekommunikationsgeheimnisses betroffen sind, ist mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Hinsichtlich der verfahrensspezifischen Anforderungen einer Beschränkung des Telekommunikationsgeheimnisses sind hingegen Differenzierungen denkbar. 7. Eingriffe in das Telekommunikationsgeheimnis, auch in das von Ausländern, unterliegen dagegen nicht dem grundrechtlichen Schutz des Art. 10 GG, wenn und soweit diese Eingriffe von ausländischen Behörden vorgenommen werden. Eine Zurechenbarkeit solcher Eingriffe auch an die deutsche öffentliche Gewalt ist allerdings dann geboten, wenn und soweit diese Eingriffe von deutschem Boden mit Billigung und Duldung deutscher Behörden erfolgen. Die jeweils zuständigen deutschen Behörden haben das Recht und die Möglichkeit, Eingriffe ausländischer Mächte in das Telekommunikationsgeheimnis, die von deutschem Boden aus vorgenommen werden, zu verhindern beziehungsweise zu unterbinden. Sie sind dazu aber auch von Verfassungs wegen verpflichtet. Da das Grundrecht des Art. 10 GG nicht nur vor dem ersten Zugriff auf das Telekommunikationsgeheimnis, sondern auch vor weiteren Vorgängen der Speicherung, Weiterleitung und Verarbeitung schützt, ist auch eine Verwendung oder ein Gebrauchmachen von Kommunikationsvorgängen durch deutsche Stellen am Maßstab des Art. 10 GG zu beurteilen, die zwar von ausländischen Behörden erstmals erhoben, dann aber an deutsche Stellen weitergeleitet werden. Genügen die ersten Zugriffe auf die durch Art. 10 GG geschützten Fernmeldevorgänge und Telekommunikationsinhalte, die von ausländischen Stellen vorgenommen werden, nicht den rechtsstaatlichen Mindestanforderungen des Art. 10 GG, so haftet dieser Makel auch den nachfolgenden Informations- und Datenverarbeitungsprozessen an. Erfolgen diese durch die an das Grundgesetz gebundenen Trä-

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BVerfGE 100, 113 ff.

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ger deutscher öffentlicher Gewalt, so kann darin ein Grundrechtsverstoß gesehen werden. Ein Handeln deutscher Sicherheitsbehörden nach der Devise, die ausländischen Dienste gehen zwar zu weit und tun etwas, was in den Kernbestand der nationalen Verfassungsrechtsordnung eingreift, aber da dies nun einmal so geschieht, wollen und müssen wir daran partizipieren, geht von Rechts wegen nicht. Von Verfassungs wegen dürfen der Verwendungszweck, zu dem die Erhebung – rechtmäßigerweise – erfolgt ist, und ein veränderter Verwendungszweck, der mit der Übermittlung an andere Behörden verfolgt wird, nicht miteinander unvereinbar sein.23 Eine solche Unvereinbarkeit liegt dann vor, wenn grundrechtsgebotene Beschränkungen, etwa der Einsatz bestimmter Erhebungsmethoden, dadurch umgangen würden, dass Daten, die ursprünglich rechtmäßigerweise zu bestimmten Verwendungszwecken erhoben wurden, in gleicher Weise auch für Zwecke zugänglich gemacht werden, die einen derartigen Methodeneinsatz oder eine derartige Erhebung nicht rechtfertigen können. Es ist zwar nicht jegliche Übermittlung an Behörden ausgeschlossen, denen entsprechende Überwachungsmethoden nicht zustehen, jedoch setzen solche Übermittlungen bereichsspezifische und normenklare gesetzliche Ermächtigungen voraus. Diese Übermittlungen bedürfen ferner einer besonders genauen Überprüfung anhand des Übermaßverbotes.24 Keineswegs dürfen die von Verfassungs wegen oder einfachgesetzlich bestimmten Eingriffsschwellen durch Übermittlung der Daten an andere Behörden unterlaufen werden. Werden Daten, die durch Eingriffe deutscher Behörden in das Telekommunikationsgeheimnis erlangt wurden, an ausländische öffentliche Stellen übermittelt, so sind dafür bereichsspezifische normenklare gesetzliche Ermächtigungen im deutschen Recht erforderlich. Diese müssen auch voraussetzen, dass die weiteren Verwendungen der so erlangten Daten durch die ausländischen Behörden in einer adäquaten rechtsstaatlichen Art und Weise erfolgen. Ein Datenaustausch mit ausländischen Diensten, die personenbezogene Daten weitgehend unter Methoden und in einer Art und Weise erlangen, die jenen Mindeststandards der deutschen und gegebenenfalls unionsrechtlichen Grundrechte eindeutig nicht genügen, ist insoweit verfassungsrechtlich problematisch. 8. Die Grundrechte des Grundgesetzes verpflichten den Staat nicht nur dazu, sich selbst grundrechtsverletzender Eingriffe zu enthalten, sondern auch einen angemessenen Schutz zu schaffen und durchzusetzen sowie sich auf internationaler und unionsrechtlicher Ebene für ein solches effizientes Schutzregime einzusetzen. Aus dem Grundrecht des Art. 10 GG folgt mithin eine Schutzpflicht des Staates für das grundrechtlich geschützte Rechtsgut, dessen „Vernachlässigung“ von dem Betroffenen unter bestimmten Voraussetzungen mit der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht

23 24

BVerfGE 65, 1, 51 (62); 100, 313 (360). BVerfGE 100, 313 (390 ff.).

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werden kann.25 Der Staat muss seiner grundrechtlichen Schutzpflicht durch hinreichende Vorkehrungen genügen.26 Allerdings kann aus dem Verfassungsrecht regelmäßig keine bestimmte „Handlungsvorgabe“ abgeleitet werden. Der Gesetzgeber hat aber unter Ausübung seines weiten Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraums ein Schutzkonzept aufzustellen und normativ auszugestalten, die rechtsanwendenden Organe der zweiten und dritten Gewalt sind gehalten, dieses effizient umzusetzen. Das Bundesverfassungsgericht wird eine Verletzung von grundrechtlichen Schutzpflichten feststellen können, „wenn Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen sind, wenn die getroffenen Regelungen und Maßnahmen offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, das gebotene Schutzziel zu erreichen, oder wenn sie erheblich hinter dem Schutzziel zurückbleiben“.27 Der zum Schutz des Telekommunikationsgeheimnisses verpflichtete Staat hat auch für eine wirksame Sanktion bei Verletzung des Telekommunikationsgeheimnisses zu sorgen. „Würden auch schwere Verletzungen des Telekommunikationsgeheimnisses im Ergebnis sanktionslos bleiben mit der Folge, dass der Schutz des Persönlichkeitsrechts, auch soweit er in Art. 10 Abs. 1 GG eine spezielle Ausprägung gefunden hat, angesichts der immateriellen Natur dieses Rechts verkümmern würde…, widerspräche dies der Verpflichtung der staatlichen Gewalt, dem Einzelnen die Entfaltung seiner Persönlichkeit zu ermöglichen … und ihn vor Persönlichkeitsgefährdungen durch Dritte zu schützen“.28 Der Gesetzgeber kann allerdings trotz seiner grundrechtlich fundierten Schutzpflicht nicht zu etwas rechtlich und tatsächlich Unmöglichem verpflichtet werden. Bei Grundrechtsverletzungen und Grundrechtsgefährdungen, die von ausländischen Mächten oder global agierenden ausländischen Unternehmungen ausgehen, sind stets die territorialen Grenzen der deutschen öffentlichen Gewalt zu berücksichtigen. In Betracht käme allerdings in diesem Zusammenhang eine Verschärfung der strafrechtlichen Ahndung von unbefugter Datenausspähung und unbefugten Datenabfangen, auch könnte erwogen werden, für diese Delikte, wie bei vielen anderen Straftaten aufgrund der §§ 5 und 6 StGB schon nach geltendem Recht, eine gesetzliche Umstellung vom Tatort- auf das Schutzprinzip vorzunehmen. Dies hätte dann zur Folge, dass das deutsche Strafrecht insoweit auch für Taten gelten würde, die im Ausland gegen Deutsche begangen werden, auch wenn diese Taten am Tatort nicht mit Strafe bedroht sind. Der nationale wie der unionsrechtliche Gesetzgeber könnte überdies verschärfte Vorschriften der Datensicherheit und der Datenverwendung bei den Unternehmen, die Telekommunikationsdienstleistungen anbieten, vorsehen, und in diesem Zusammenhang auch die Unternehmen erfassen, die zwar ihren Sitz außerhalb Deutschlands oder der Europäischen Union haben, ihre Dienstleistungen indes in Deutschland beziehungsweise in der Europäischen Union anbieten. In diesem 25

Siehe BVerfGE 125, 39 (78) mit weiteren Nachweisen. BVerfGE 125, 39 (78). 27 Siehe BVerfGE 125, 39 (78 f.); vgl. auch BVerfGE 92, 26 (46) mit weiteren Nachweisen. 28 BVerfGE 125, 260 (339) mit weiteren Nachweisen. 26

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Kontext könnte auch gesetzlich verlangt werden, dass diese Unternehmen ihre Dienstleistungen über einen Server erbringen, der sich im Geltungsbereich des deutschen Grundgesetzes beziehungsweise des Rechts der Europäischen Union befindet. Man wird ferner vom deutschen Staat verlangen müssen, dass er sich zur Erfüllung seiner Schutzpflichten energisch für bilaterale oder unilaterale Datenschutzabkommen einsetzt, in denen ein Standard rechtlicher Regeln entwickelt und niedergelegt wird, die auf einen gemeinsamen Kanon von Werten gründen, der den im Wesentlichen übereinstimmenden Grundentscheidungen des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie den menschenrechtlichen Verbürgungen der Europäischen Menschenrechtskonvention in Fragen des Persönlichkeitsschutzes, des Schutzes des Telekommunikationsgeheimnisses und des Datenschutzes entspricht. Ganz allgemein wird man feststellen können, dass die Schutzpflichten des Staates, die aus dem Grundrecht auf Wahrung des Telekommunikationsgeheimnisses (Art. 10 GG), aus dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung und auf Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) folgen, eine Staatsaufgabe begründen, die eine staatliche Verpflichtung zur Gewährleistung von grundrechtswahrenden und grundrechtssichernden informationstechnischen Infrastrukturen beinhaltet. Die schon im geltenden Verfassungsrecht verankerte Gewährleistungsverantwortung des Bundes für eine flächendeckende, angemessene und ausreichende Telekommunikation nach Art. 87 f Abs. 1 GG sollte ausdrücklich um eine entsprechende Gewährleistungsverantwortung für eine sichere und grundrechtsschützende informationstechnische Infrastruktur erweitert werden.29 Eine ausdrückliche Verankerung dieses Grundsatzes im Grundgesetz wäre daher durchaus zu empfehlen. III. Sozialstaatlichkeit 1. Als Sozialstaat kann sich der Staat unter dem Grundgesetz nicht darauf zurückziehen, Gefahren von innen und außen abzuwehren, einen demokratischen Diskurs zuzulassen, im Übrigen Grundrechtseingriffe nach Möglichkeit zu unterlassen und den Rest der Eigenverantwortung seiner Bürgerinnen und Bürgern zu überlassen. Vielmehr hat er auch den Auftrag, das soziale Miteinander seiner Bürger so zu fördern, dass diese von den ihnen verliehenen Freiheiten auch aktiv Gebrauch machen und ihr Leben selbst in die Hand nehmen können. Nur auf dieser Basis kann nämlich auch davon ausgegangen werden, dass in der Gesellschaft die nötige Eigenverantwortung übernommen wird, ohne die eine freiheitliche Gesellschaft zum Scheitern verurteilt wäre. Es geht bei der Sozialstaatlichkeit also auch darum, eine vom Staat unabhängige Zivilgesellschaft zu ermöglichen, damit der Staat nicht in scheinbarer Fürsorglichkeit und in Paternalismus weite Teile des menschlichen Lebens wieder an 29 Vgl. auch Hoffmann-Riem, Grundrechts- und Funktionsschutz für elektronisch vernetzte Kommunikation, in: AöR 134 (2009), S. 513, 538 ff.

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sich ziehen und so die im Ausgangspunkt bestehende Freiheitlichkeit wieder in Frage stellen muss.30 2. Der deutsche Sozialstaat befindet sich im Umbruch. Der größte und wichtigste Teil der in Deutschland in letzter Zeit angegangenen und der noch anstehenden Reformaufgaben betrifft dabei zentrale Fragen der Sozialpolitik und der sozialstaatlichen Gesetzgebung. Es geht vor allem um die Anpassung der Altersversorgungssysteme an veränderte Erwerbsbiographien und an die demographische Entwicklung; unübersehbar sind Effizienz- und Finanzierungsprobleme in fast allen Zweigen der Sozialversicherung und im gesamten Bereich des Gesundheitswesens. Die ersten Reformschritte sind unternommen, aber ein großer Teil des Weges steht noch bevor. Will man sich diesen Herausforderungen stellen, ist es ratsam, sich auf die Grundlagen des deutschen Sozialstaats zu besinnen. a) Aus dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 des Grundgesetzes folgt ein Regelungs- und Gestaltungsauftrag für den Gesetzgeber, der ein Gebot des Ausgleichs der sozialen Gegensätze und der Schaffung einer gerechten Sozialordnung umfasst. Der Gesetzgeber ist also zu „sozialer Aktivität“ durch diese verfassungsrechtliche Staatszielbestimmung sowie insbesondere dazu verpflichtet, sich um einen Ausgleich der widerstreitenden Interessen, um die Herstellung erträglicher Lebensbedingungen für alle zu bemühen. Dies sind jedoch Gestaltungsaufträge an den parlamentarischen Gesetzgeber, der diesen relativ vagen Auftrag zu konkretisieren hat. Dem Regelungs- und Gestaltungsauftrag des Gesetzgebers korrespondiert daher grundsätzlich kein Anspruch des Einzelnen auf eine bestimmte sozialstaatliche Aktivität oder Leistung.31 Mit dem legislatorischen Regelungsspielraum ist auch ein Anspruch des Einzelnen auf staatliche Gewährleistung von Gleichheit im beruflichen, ökonomischen und sozialen Erfolg unvereinbar. b) Das Grundgesetz enthält auch keine sozialen Grundrechte im Sinne von unmittelbar durch die Verfassung begründeten, für den Einzelnen einklagbaren Ansprüchen auf bestimmte staatliche Leistungen oder eine bestimmte Leistungshöhe.32 Wer soziale Grundrechte fordert, muss dem Staat zugleich die Eingriffsmöglichkeiten und letztlich die Zwangsmittel geben, um möglicherweise millionenfach geltend gemachte Ansprüche befriedigen zu können. Die rechtliche Konstruktion sozialer Grundrechte ginge also letztlich nur in einem – etwa sozialistischen – Gesellschaftsmodell mit einer Zentralverwaltungswirtschaft unter gleichzeitiger Versagung oder Vorenthaltung individueller Freiheitsrechte auf, das sich das Grundgesetz gerade nicht zu Eigen gemacht hat. 3. Das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes ist als Staatszielbestimmung eingebettet in die grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Strukturnormen über die demo30

Papier, AöR Beiheft 2014, S. 62. Papier, Grundrechte und Sozialordnung, in: Merten/ders. (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. II, 2006, § 30 Rn. 10 f. 32 Papier, Festschrift für Renate Jaeger, S. 287; ders., AöR Beiheft 2014, S. 63. 31

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kratische und rechtsstaatliche Ordnung (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 Satz 1 GG). Ihm kommt in diesem Zusammenhang keine Vorrangstellung zu. Die staatliche Sozialgestaltung ist vielmehr eingebunden in die bundesstaatliche Kompetenzverteilung, in die demokratiestaatliche Regelungsprärogative des Parlamentes und vor allem in die grundrechtlichen und objektiven rechtsstaatlichen Eingriffsbegrenzungen des Staates.33 Nicht der totale Sozialstaat, sondern die soziale Demokratie in den Formen des Rechtsstaats entspricht dem Art. 20 Abs. 1 GG.34 Das Sozialstaatsprinzip vermag also für sich allein keine Eingriffe der öffentlichen Gewalt in Freiheit und Eigentum zu legitimieren. Vielmehr müssen die allgemeinen rechtsstaatlichen Anforderungen des Vorbehalts des Gesetzes sowie die spezifischen Gewährleistungen der besonderen Grundrechte auf jeden Fall gewahrt werden. Das soziale Staatsziel befreit nicht von den allgemeinen und den spezifisch grundrechtlichen Eingriffsschranken, die vom Grundgesetz aufgestellt werden. Immerhin ist das Sozialstaatsprinzip bedeutsam für die Auslegung von Inhalt und Grenzen der Grundrechte und von Gesetzen, die jene Grundrechte einschränken. So hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zu den Lohnabstandsklauseln aus dem Sozialstaatsprinzip und dem daraus zu legitimierenden Ziel, Massenarbeitslosigkeit zu bekämpfen, einen Rechtfertigungsgrund zur Einschränkung der Tarifautonomie des Art. 9 Abs. 3 GG hergeleitet.35 Das Sozialstaatsprinzip allein bietet allerdings keine Grundlage, Grundrechte ohne einfach-gesetzliche Ermächtigung und Ausgestaltung, also unmittelbar, zu beschränken. 4. Das Sozialstaatsprinzip hat vornehmlich eine „freiheitliche Dimension“.36 An der Spitze unserer Verfassung stehen das Bekenntnis zur Unantastbarkeit der Würde des Menschen und der Grundrechtekatalog mit seinen Gewährleistungen von Freiheits- und Menschenrechten. Aber mit Freiheit und Selbstbestimmung korrespondiert unbestreitbar ein gewisses Maß an Selbst- oder Eigenverantwortung. Die Staatszielbestimmung der Sozialstaatlichkeit ist im Kontext mit dieser freiheitlichen Grundlage und Ausrichtung der Verfassung zu interpretieren. Der Sozialstaat stellt deshalb keine Vollversicherung und keinen allumfassenden fürsorgerischen Lebensplan zur Verfügung, weder für den Einzelnen noch für die Gesellschaft insgesamt. Der Sozialstaat kann nur darauf ausgerichtet sein, dem Menschen diejenigen elementaren Risiken abzunehmen, die er allein nicht tragen kann. Stets sind die Grenzen des Sozialstaats im Auge zu behalten – zum Wohle des Einzelnen wie des Ganzen. 5. Der deutsche Sozialstaat verwirklicht nicht ein im Grundgesetz im Einzelnen vorgegebenes Modell. Er ist vielmehr das Ergebnis politischer Gestaltung und Gesetzgebung. Auf demselben Weg, auf dem er entstanden und gewachsen ist, kann 33

Papier, AöR Beiheft 14, S. 63 f. BVerfGE 5, 85 (198); siehe auch Zacher, Das soziale Staatsziel, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 28 Rdnr. 1, 2. 35 BVerfGE 100, 271 ff.; vgl. auch BVerfGE 103, 293 (306). 36 Siehe auch Papier, in: Festschrift für Renate Jaeger, S. 286 f.; ders., AöR Beiheft 2014, S. 64. 34

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der Sozialstaat auch fortentwickelt, geändert, angepasst und notfalls auch in Maßen wieder zurückgebaut werden. Eigenverantwortung und Sozialstaatlichkeit sind keine Gegensatzpaare; über das Prinzip der Chancengleichheit sind sie miteinander verbunden. Dieses Prinzip findet seine Grundlage in der freien Entfaltung der Bürger und es akzeptiert Unterschiede im – beispielsweise beruflichen oder wirtschaftlichen – Erfolg. Das Prinzip der Chancengleichheit verschließt sich aber auch nicht der Erkenntnis, dass Unterschiede im Erfolg nicht nur auf Unterschieden in der Leistung und in der Einsatzbereitschaft, sondern nicht selten auch auf unterschiedlichen Ausgangsbedingungen beruhen. Die Herstellung von Chancengleichheit bedeutet deshalb Ausgleich in den Voraussetzungen, die für einen späteren Erfolg besonders wichtig sind, z. B. Bildung und berufliche Ausbildung. Mittels des Prinzips der Chancengleichheit werden in einem Sozialstaat auf freiheitlicher Grundlage die beiden Grundwerte unserer Verfassung, „Freiheit“ und „Gleichheit“, in einen bestmöglichen Ausgleich gebracht.37 6. Ein wichtiges Reformthema im Bereich der Sozialstaatlichkeit werden dabei in Zukunft das Problem der Generationengerechtigkeit und die Chancengleichheit zwischen den Generationen sein. Bislang wurden Fragen der sozialen Gerechtigkeit vor allem – zum Teil sogar ausschließlich – als Fragen des sozialen Ausgleichs in der Gegenwart angesehen; aktuelle Sicherungsbedürfnisse wurden aktuell befriedigt. Damit einher ging über Jahrzehnte ein gewaltiger Ausbau des Sozialstaats. Unsere Gesellschaft und mit ihr der Sozialstaat haben dabei aber schon seit Langem über ihre Verhältnisse gelebt. Erhaltung und Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme sind zu einer erheblichen Last für unser Gemeinwesen geworden und diese Last wird zunehmend den jüngeren Menschen aufgebürdet oder auf nachkommende Generationen verschoben. Die Sozialpolitik muss sich deshalb künftig nicht mehr nur um einen sozialen Ausgleich in der gesellschaftlichen Gegenwart, sondern auch um einen angemessenen Ausgleich von sozialen Nutzen und Lasten zwischen den Generationen bemühen. Neben der freiheitlichen hat auch eine zeitliche, intergenerative Dimension des Sozialstaatsprinzips verstärkt Beachtung zu finden38 Im Interesse der Generationengerechtigkeit muss man die finanziellen Lasten auch des Sozialstaates in den Griff bekommen. Die unverändert hohe Staatsquote bedeutet nämlich zwangsläufig eine hohe Staatsverschuldung – jedenfalls dann, wenn man entsprechend deutliche Erhöhungen der Steuerlast nicht vornehmen oder gar ihre Senkung beschließen will. Eine übermäßige Staatsverschuldung und die damit verbundene wachsende Zinslast hemmen – so auch das Bundesverfassungsgericht – das langfristige Wachstum der Wirtschaft, verengen die aktuellen Handlungsspielräume des Staates und verlagern Finanzierungslasten in die Zukunft auf künftige Generationen. Sie bergen die Gefahr einer Erosion gegenwärtiger und künftiger Leistungsfähigkeit des demokratischen Rechts- und Sozialstaats.39 37

Siehe Papier, AöR Beiheft 2014, S. 64. Siehe Papier, AöR Beiheft 2014, S. 64 f. 39 Vgl. BVerfGE 119, 96 (142) – Bundeshaushalt 2004.

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Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang die vor einigen Jahren im Rahmen der Förderalismusreform II40 beschlossenen Verfassungsänderungen, wonach die Haushalte von Bund und Ländern grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten ausgeglichen werden müssen.41 Die Neuregelung war erstmals für das Haushaltsjahr 2011 anzuwenden und zusätzlich werden dem Bund bis zum Jahr 201542 und den Ländern bis Ende 201943 gewisse Abweichungsmöglichkeiten eingeräumt. Hinzu kommt, dass Einnahmen aus Krediten bei Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen, vom Staat nicht kontrollierten und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigenden Notsituationen möglich bleiben44 und der Bund auch unabhängig davon 0,35 % des Bruttoinlandsprodukts an Krediten aufnehmen darf.45 Diese durch eine verfassungsrechtliche Verankerung untermauerte Selbstverpflichtung des Staates ist grundsätzlich zu begrüßen. Aber man wird die tatsächliche Entwicklung abwarten müssen. Die Gefahr einer späteren Aufweichung des strikten Neuverschuldungsverbots, insbesondere bei den Ländern, ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Wirkliche Einsparungen lassen sich nicht allein über verfassungsrechtliche „Schuldenbremsen“ erzielen, sondern nur durch eine Reduzierung der Schuldenfaktoren, also vor allem durch eine Begrenzung und ggf. auch eine Rückführung staatlicher Aufgaben. Denn ihr über Jahrzehnte ständig gewachsener Umfang ist ja eine wesentliche Ursache für die hohe Staatsverschuldung. Eine Hauptaufgabe der staatlichen Politik der Schuldenbegrenzung und des Schuldenabbaus – eine zwingende Forderung des Verfassungsrechts – besteht also darin, staatliche Aufgabenwahrnehmungen auf den kritischen Prüfstand zu stellen. Dabei können nicht das Wünschbare und das im Wahlvolk besonders Geschätzte, sondern allein das Notwendige und Vorrangige den Ausschlag für das weitere Engagement der öffentlichen Hand geben. IV. Frage des Vorrangs Freiheit oder Gleichheit – Was hat Vorrang? Verstanden als verfassungsrechtliche Rechtsbegriffe und Rechtsgewährungen kann sich eigentlich die Frage nach einem Vorrang nicht stellen. Beide verfassungsrechtlichen Werte sind von gleichem Range und von gleicher verfassungsgesetzlicher Dignität. Treten sie in realen Fallkonstel40

Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 91c, 91d, 104b, 109, 10a, 115, 143d) vom 29. Juli 2009, BGBl. I S. 2248, vgl. auch BR-Drs. 262/09 vom 24. 03. 2009; BT-Drs. 16/12410 vom 24. 03. 2009; Gesetzesbeschluss des Bundestages vom 29. 05. 2009, BR-Drs. 510/09; Zustimmungsbeschluss des Bundesrates vom 12. 06. 2009, BR-Drs. 510/09. 41 Vgl. Art. 109 Abs. 3 Satz. 1 GG n.F. (für den Bund auch Art. 115 Abs. 2 S. 1 GG). 42 Vgl. Art. 143d Abs. 1 Satz 5 GG. 43 Vgl. Art. 143d Abs. 1 Sätze 3 und 4 GG. 44 Vgl. Art. 109 Abs. 3 Satz 2 Alternative 22 GG n.F. 45 Vgl. Art. 109 Abs. 3 Satz 4 i.V.m. Art. 115 Abs. 2 Satz 2 GG (dagegen gemäß Art. 109 Abs. 3 Satz 5 GG keine entsprechende pauschale Ausnahme vom Kreditverbot für die Länder).

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lationen in einen Konflikt, hat der Verfassungsinterpret für einen angemessenen Ausgleich Sorge zu tragen. Aber es darf nicht unerwähnt bleiben, dass der heutige Rechts- und Verfassungsstaat letztlich von dem immer wieder hervorzubringenden und zu artikulierenden Willen seiner Bürger zur Freiheit, zur Freiheit in Verantwortung, lebt. Andererseits ist der deutsche Verfassungsstaat auf die Sozialstaatlichkeit verpflichtet. Aber Freiheit und Eigenverantwortung einerseits, Sozialstaatlichkeit andererseits müssen nicht als Gegensatzpaar verstanden werden, das Sozialstaatsprinzip selbst hat – wie gesagt – eine freiheitliche Dimension. Es geht bei der Sozialstaatlichkeit eben auch darum, das soziale Miteinander der Bürger staatlicherseits so zu fördern, dass diese von den ihnen verliehenen Freiheiten auch aktiv Gebrauch machen und ihr Leben weitgehend selbst in die Hand nehmen können. Es soll so eine vom Staat unabhängige Zivilgesellschaft ermöglicht werden, damit der Staat nicht in scheinbarer Fürsorglichkeit weite Teile des menschlichen Lebens wieder an sich ziehen und so die im Ausgangspunkt bestehende Freiheitlichkeit wieder infrage stellen muss. Exzessive, einseitige Verschiebungen innerhalb jener Balance von Freiheit und Gleichheit gefährden das grundgesetzliche Wertesystem insgesamt. Eine solche Gefährdung droht, wenn aus dem Verfassungsversprechen der Gleichheit in der realen Politik „Gleichmacherei“ wird, um eine vermeintliche – in den Worten Udo Steiners – „Gleichheitskrankheit der Deutschen“ willfährig zu pflegen statt zu therapieren.46 Die verfassungsrechtliche Garantie der Gleichheit ergänzt die Freiheitsrechte aber auch noch in einer weiteren Hinsicht. Sie soll nicht nur die Voraussetzungen effektiver Freiheitswahrnehmungen im eben beschriebenen Sinne sichern. Sie soll auch gewährleisten, dass staatlich verfügte Beschränkungen der Freiheitsrechte nicht sachwidrig und beliebig, ja willkürlich, sondern eben gleichheits-, also vor allem sach- und systemgerecht, einer legitimen Leitidee des Gesetzgebers konsequent folgend, in offener und nachvollziehbarer Rationalität erfolgen. Das ist ein Aspekt, der gerade in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine zentrale Bedeutung erlangt; erinnert sei nur an wichtige Entscheidungen zum Steuerrecht, etwa die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Erbschaftsteuer47 und zu den Aufwendungen für Fahrten zu und von den Arbeitsstätten48. Nach dieser Rechtsprechung muss eine „einmal getroffenen Belastungsentscheidung folgerichtig im Sinne der Belastungsgleichheit umgesetzt werden“. „Ausnahmen von einer solchen folgerichtigen Umsetzung bedürfen eines besonderen sachlichen Grundes“49. In anderen Entscheidungen – etwa zum Glücksspielrecht50 oder zum Rauchverbot in Gaststätten51 – ist die Folgerichtigkeit der gesetzlichen Regelung im Ver46

FAZ vom 14. März 2005, Nr. 61, S. 1. BVerfGE 117, 1 (30 ff.). 48 BVerfGE 122, 210 (230 ff.). 49 Siehe BVerfGE 122, 210 (231) unter Verweis auf BVerfGE 99, 88 (95); 99, 280 (290); 105, 73 (126); 107, 27 (47); 116, 164 (180 f.); 117, 1 (31). 50 Vgl. BVerfGE 115, 276 (319); siehe auch BVerfG (Kammer), NVwZ 2009, 1221 (1223). 51 BVerfGE 121, 317 (362 f.). 47

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hältnis zur eigenen Konzeptentscheidung des Gesetzgebers als Teilaspekt der Verhältnismäßigkeit verlangt worden. V. Schlussbemerkung Letztlich bleibt es bei den eingangs zitierten Sätzen: „Der Sinn des Staates ist die Freiheit“, seine vorrangige Aufgabe besteht darin, „Recht zu vermitteln um als Institutionalisierung des Rechts Freiheit zu ermöglichen“. Dem höchsten konstitutionellen Prinzip, dem Schutz und der Achtung der Würde eines jeden Menschen, kann nur der freiheitliche, demokratische und soziale Rechtsstaat entsprechen.

Neue Pflege in der Altersgesellschaft? Zum Nutzen der Pflegeversicherungsreform 2014/2015 Von Rainer Pitschas, Speyer I. Reform der Pflegeversicherung im Wandel des sozialstaatlichen Vorsorgeverhältnisses Langsam aber unaufhaltsam altert und schrumpft die deutsche Bevölkerung. Nicht nur die vorwiegend umlagefinanzierten sozialstaatlichen, sondern auch die privatversicherungswirtschaftlichen Sicherungssysteme werden dadurch in ihrer jeweiligen Ziel- und Zwecksetzung in Frage gestellt. Dies gilt auch und zumal für die soziale (Kranken- und)Pflegeversicherung.1 Mit ihrem dualen System existiert in zögerlicher Reaktion auf die alternde Gesellschaft ein historisch tiefverwurzeltes, bis heute mehr schlecht als recht funktionierendes Nebeneinander staatlicher und privater Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit.2 In den Schutz der sozialen Pflegeversicherung sind gem. §§ 20 ff. SGB XI3 alle diejenigen einbezogen, die in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert sind. Wer dagegen bei einem privaten Krankenversicherungsunternehmen gegen Krankheit versichert ist, muss nach § 23 SGB XI eine private Pflegeversicherung abschließen. Allerdings unterliegt diese ebenfalls sozialen Bindungen. Die hoheitliche Einwirkung auf die Pflegeversicherung trägt somit stets Züge einer spezifischen „Pflege-Governance“.4 1. Das Pflegeverhältnis als Vorsorgeverhältnis Als „Sozialversicherung“ sieht sich die soziale Pflegeversicherung zugleich in einen Zusammenhang mit dem übergreifenden Konzept freiheitssichernder Daseinsvorsorge gestellt und mit dieser vernetzt.5 Die pflegerische Versorgung der Bevölke1

Pitschas, Rainer: Die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme, in: Veröffentlichung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Bd. 64, Berlin 2005, S. 109 ff., 122 ff., 125 ff. 2 Pitschas, (Fn. 1), S. 125. 3 Sozialgesetzbuch (SGB)-Elftes Buch (XI) –, Soziale Pflegeversicherung (SGB XI) vom 26. 05. 1994 (BGBl. I S. 1014, 1015), zul. geändert durch Gesetz vom 15. 07. 2013 (BGBl. I S. 2423). 4 Vgl. BVerfGE 103, 197 (216). 5 Annett Steinführer/Patrick Küpper/Alexandra Tautz: Gestaltung der Daseinsvorsorge in alternden und schrumpfen den Gemeinden, Landbauforschung, Sonderheft 367, Braunschweig 2012, passim.

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rung ist nämlich eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, deren Erfüllung von Verfassungs wegen einer gemeinsamen Verantwortung von Staat und Privaten unterstellt wird. Die hieraus folgenden Verpflichtungen beruhen auf dem Konzept des sog. Gewährleistungsstaates, also eines Staates, der soziale Vorsorge – einschließlich der Pflege – nicht mehr nur selbst organisiert, sondern sich – wie auch bei der privaten Altersvorsorge – auf deren Gewährleistung durch gesellschaftliche Angebote stützt und deren Existenz sichert. Doch gibt der Staat seine Verantwortung für das Risiko der Pflegebedürftigkeit nicht etwa an den privaten Sektor ab, indem er sie „aufteilt“, d. h. Anteile darin dem freien Spiel der Marktkräfte in Kernbereichen sorglos überlässt. Ungeachtet marktwirtschaftlicher Einflüsse bleibt die Sicherung der pflegerischen Versorgung eine staatliche Kernaufgabe.6 Staat und Bürger stehen damit zueinander in einem auf den Pflegefall zugedachten allgemeinen „Vorsorgeverhältnis“.7 Es bildet als konkretes „Pflegeverhältnis“ das rechtliche Gehäuse für die Umsetzung des in ihm sozial- wie rechtstaatlich geborgenen Vorsorgeversprechens staatlicher Pflegepolitik. Seine Einkleidung als ein „Rechtsverhältnis“ gestattet es, die soziale Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit als abstrahierende, im Einzelfall dann aber subjektiv berechtigende normative Zusage von Leistungen der Sozialversicherung im Falle der Verwirklichung einer typischen Lebensrisikosituation auszugestalten. Ebenso wird es möglich, sich auf der Grundlage durchgestalteter und nicht abhandelbarer Gegenseitigkeitsbeziehungen im System der Pflege auf die Dynamik der Pflegebedarfe durch neue Leistungsansprüche einzurichten. In dieser Zusage finden zugleich die Verfassungsprinzipien freiheitlicher Selbstbestimmung und (sozialer) Sicherheit ihre Konkretisierung.8 2. Sozialversicherungsrechtliches Pflegesystem und Pflegereform Vor diesem Hintergrund und strukturell durch den Grundtyp der „Sozialversicherung“ geprägt, wie sie im Gefolge der Kaiserlichen Botschaft von 1881 entstanden ist, hat der Gesetzgeber ein System der sozialen Pflegeversicherung geschaffen, das als Leistungen der Pflegeversicherung bedarfsangemessene Dienst-, Sach- und Geldleistungen für den Bedarf an Grundpflege und hauswirtschaftlicher Versorgung vorsieht.9 Art und Umfang der Leistungen einschließlich etwaiger Kostenerstattung richten sich nach der Schwere der Pflegebedürftigkeit, aber auch danach, ob häusliche, teilstationäre oder vollstationäre Pflege in Anspruch genommen werden muss. Dabei ist 6 BVerfGE 103, 197 (242 – 271); Udsching, Peter: SGB XI. Soziale Pflegeversicherung, Kommentar, 3. Aufl., München 2010, Einleitung Rn. 9. 7 Pitschas, Rainer: Soziale Sicherheit durch Vorsorge – Sicherheit als Verfassungsprinzip des Sozialstaats und das „Vorsorgeverhältnis“ als rechtliches Gehäuse ihrer Vorsorgestandards, in: Ulrich Becker (Hrsg.), Rechtsdogmatik und Rechtsvergleich im Sozialrecht I, Baden-Baden 2010, S. 63 ff., 69. 8 Pitschas, (Fn. 7), S. 70, 73. 9 Stefan Muckel/Markus Ogorek, Sozialrecht, 4. Aufl., München 2011, § 9 Rn. 13 ff.

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der Grundsatz der Selbstbestimmung zu beachten; die Leistungen der Pflegeversicherung sollen den Pflegebedürftigen helfen, ein möglichst selbstständiges und selbstbestimmtes Leben trotz ihres Hilfebedarfs zu führen. Bei häuslicher und teilstationärer Pflege ergänzen die Leistungen der Pflegeversicherung deshalb die weiterhin existente familiäre, nachbarschaftliche oder sonstige ehrenamtliche Pflege und soziale (berufliche) Betreuung. Institutionell wird die soziale Pflegeversicherung durch Pflegekassen finanziert, die der sozialen Krankenversicherung angegliedert sind.10 a) Strukturdefizite gegenwärtiger Pflegearchitektur Dem verfassungsrechtlich konstitutionalisierten Versorgeverhältnis in der Pflege ist die Verpflichtung auf die Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit und damit auf „soziale Sicherheit“ im Pflegesektor unverbrüchlich eingeschrieben. Denn es übersetzt die dem Sozialstaat materiell, kompetenziell und institutionell sowie als Staatsziel aufgegebene Sorge für sichere Pflege und soziale Gleichheit auf die individuelle Vollzugsebene dieses Versprechens.11 Die gegenwärtige „Pflegeversicherung“ vermag ihre Aufgabe in der Wirklichkeit allerdings nur als eine sog. „Teilleistungs-Versicherung“ zu erfüllen, wie der empirisch fundierte Blick auf die aktuelle Pflegesituation belegt. Als umlagefinanziertes System konnte sie von Anfang an nicht alle Probleme lösen. Deshalb war sie darauf angelegt, bei Pflegebedürftigkeit vor allem auf die sozialen Bindungen der Betroffenen, auf Familie, Freunde oder Nachbarschaften zu setzen. Doch wird die Alleinversorgung durch pflegende Angehörige wie schon bisher auch zukünftig weiter abnehmen.12 Aber nicht nur insoweit hält die Pflege der Gesellschaft den Spiegel vor. Verschoben hat sich auch das Verhältnis ambulanter zu stationärer Pflege; es bedarf deshalb entsprechend den Wünschen der Betroffenen mehr ambulanter Pflegedienste. Absehbar fehlt es auch an Geld. Die begrenzte Beitragsbezogenheit der Pflegeleistungen („Sozialversicherung“) überträgt das sinkende Einkommensniveau auf das Leistungsniveau. Überdies ist die Grundannahme sozialer Versicherung, in einer Art „Generationenvertrag“ die jeweils Jüngeren für die Älteren sorgen zu lassen, brüchig geworden.13 Angesichts der Unabwendbarkeit der demografischen Entwicklung ist davon auszugehen, dass sich die Zahl der Pflegebedürftigen bis 2030 um etwa die 10

§ 1 Abs. 3 SGB XI; Muckel/Ogorek (Fn. 9), § 9 Rn. 4, 53 f. Allgemein zu dieser Funktion des „Vorsorgeverhältnisses“ vgl. Pitschas (Fn. 7), S. 72 ff. 12 Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Schwerpunkt: Vielfalt der Pflege, in: Change. Das Magazin der Bertelsmann Stiftung, H. 3, 2013, S. 17 ff., 44 f. 13 Thomas Klie, Zu den Wirkungen der Pflegeversicherung und Perspektiven ihrer Weiterentwicklung, in: ders./ Utz Krahmer/Markus Plantholz (Hrsg.), Sozialgesetzbuch XI. Soziale Pflegeversicherung, 4. Aufl., Baden-Baden 2014, Einleitung Rn. 68 f., 70; Günter Thiele, Ökonomik des Pflegesystems, Heidelberg 2004, S. 243 f. 11

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Hälfte erhöhen wird; auch wird der Beitragssatz bis Mitte der 2050er-Jahre ständig steigen, um danach auf einem hohen Niveau zu verharren. Hinzu kommt ein Mangel an Pflegekräften, der sich in den nächsten Jahren weiter verschärfen wird.14 Insgesamt werden diese hier nur knapp skizzierten Entwicklungsstränge dazu führen, dass die „systemischen“ Ausgangspositionen für die Funktionsfähigkeit der sozialen Pflegeversicherung in Zukunft verfehlt werden. Für eine bedarfsgerechte und situationsangemessene Reform der Pflegeversicherung ist es mit m. a. W. höchste Zeit. b) Das „1. Pflegestärkungsgesetz“ und die künftige Pflege-Governance Nicht von ungefähr ist daher die Weiterentwicklung der Pflegeversicherung seit einiger Zeit zu einem Schwerpunkt der allfälligen Modernisierung sozialer Sicherung herangewachsen. Mit dem Gesetzentwurf eines „Fünften Gesetzes zur Änderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch-Leistungsausweitung für Pflegebedürftige, Pflegevorsorgefonds“ (Fünftes SGB XI-Änderungsgesetz)15 wird im Anschluss an das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz vom 28. 05. 200816 und das Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz vom 23. 10. 201217 den veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen Rechnung getragen. Der Gesetzgeber will sicherstellen, dass Pflege überall in Deutschland in hoher Qualität sowie unter Beachtung der individuellen Bedürfnisse pflegebedürftiger Menschen erbracht wird. Politik und Gesetzgebung haben nach heftiger Kritik offenkundig erkannt, dass auf dem Weg in eine sorgende Gesellschaft die Leistungen der Pflege maximale Flexibilität benötigen, um den Bürgern eine „Fürsorge in Würde“ zu ermöglichen.18 Gleichwohl fasst der Gesetzentwurf in seiner Begründung nur in dürren Worten die seit langem bekannten und in der breiten Fachöffentlichkeit vielfältig gerügten Defizite herkömmlicher Pflege knapp zusammen, um daran anschließend eine „Lösung“ (!) der Probleme aus Sicht der Bundesregierung anzubieten. Die Rede ist u. a. davon, in der stationären Pflege die ergänzende Betreuung zu verbessern. Die dafür vorgesehenen finanziellen Mittel sollen zur Verfügung gestellt werden, um den vollund teilstationären Pflegeeinrichtungen zusätzliche Betreuungskräfte verfügbar zu machen, die für alle in der stationären Pflege versorgten Personen ein ergänzendes Angebot an sozialer Betreuung und Aktivierung bieten werden. Für kurzfristig wirksame Leistungsverbesserungen dürfen ferner und künftig Beträge für ambulante Pflegesachleistungen bei niedrigschwelligen Betreuungen und Entlastungsleistungen eingesetzt werden. In einem ersten Schritt werden zu diesem 14

Bertelsmann Stiftung (Fn. 12), S. 44. Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 18/1798; der Deutsche Bundestag hat das Gesetz am 17. 10. 2014 mit Wirkung zum 01. 01. 2015 beschlossen. 16 BGBl. I S. 874. 17 BGBl. I S. 2246. 18 Thomas Klie, Wen kümmern die Alten? Auf dem Weg in eine sorgende Gesellschaft, München 2014. 15

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Zweck insbesondere Leistungen der Kurzzeit- und Verhinderungspflege, Tages- und Nachtpflege sowie neue ambulante Wohnformen ausgeweitet und flexibilisiert. Pflegebedürftige einschließlich solche der sog. Pflegestufe 0 können diese Leistungen entsprechend ihrer individuellen Bedarfslage selbst passgenau zusammenstellen. Daraus sollen insbesondere ambulant betreute Wohnformen Nutzen ziehen. Denn hier bestehen akute Handlungs- und Regelungsbedarfe. Vor allem aber erkennt der Gesetzgeber an, dass im Zuge der demografischen Entwicklung die Zahl der Hochbetagten steigt – im Dezember 2011 waren 661.000 Deutsche entweder neunzig Jahre alt oder älter – und davon 58 % pflegebedürftig. Bei den 85 bis 89-Jährigen beträgt die entsprechende Pflegequote, d. h. die Wahrscheinlichkeit, pflegebedürftig zu sein, 38 %. Hinzu kommt der rasante Anstieg der Menschen mit Demenzerkrankungen, der schon heute sowohl die häusliche als auch die stationäre Pflege überfordert.19 c) Das „1. Pflegestärkungsgesetz“ in der Kritik Der Gesetzentwurf des SGB XI-ÄndG, auch als „1. Pflegestärkungsgesetz“ tituliert, hat allerdings zwischenzeitlich beträchtliche Kritik erfahren. Gerade Personen mit Demenzerkrankung, so heißt es, „blieben weiterhin Pflegebedürftige zweiter Klasse“.20 Ebenfalls kritisch wird der einstweilige Verzicht auf eine Neufassung des Begriffs der Pflegebedürftigkeit bewertet. Zwar versichert die Regierung, dass es alsbald durch ein „2. Pflegestärkungsgesetz“ die geforderten Änderungen am Pflegebedürftigkeitsbegriff geben würde21; doch ist gerade mit Blick auf die unter einem Verlust an Alltagskompetenz leidenden Menschen darauf hinzuweisen, dass die Bewältigung der Zunahme von Demenzerkrankungen durch Anerkennung ihres spezifischen Pflegebedarfs keinerlei Aufschub mehr bedarf.22 Merkwürdig zurückhaltend bleibt der Gesetzgeber auch gegenüber den Anforderungen, die aus dem Fachkräftemangel resultieren. Dies hat dazu geführt, dass „im allgemeinen … die Arbeits-Bedingungen in der Pflege und Betreuung älterer Menschen für das Rekrutieren und Halten von Personal nicht förderlich (sind)“.23 Der Pflegereport 2013 der Bertelsmann-Stiftung prognostiziert überdies, dass bis 2030 – ohne politisches Gegensteuern – bis zu 500.000 Vollzeitkräfte in der Pflege 19

Rothgang/Jwansky/Müller/Sauer/Unger, Barmer GEK-Pflegereport 2010. Schwerpunktthema: Demenz und Pflege, Schwäbisch Gmünd 2011. Im Jahr 2030 werden in Deutschland zwei Millionen Menschen mit Demenz leben, s. Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung, Report, 2011. 20 Karl-Heinz Fries, Vorsitzender des Sozialverbandes VdK Nordrhein-Westfalen, in: Deutsches Ärzteblatt vom 22. 07. 2014. 21 Hermann Gröhe, in: Deutsches Ärzteblatt vom 04. 07. 2014. 22 Jürgen Gohde, Die Zeit des Zögerns ist vorbei. Interview, in: Change. Das Magazin der Bertelsmann Stiftung, Heft 3, 2013, S. 32 ff., 35. 23 Bertelsmann Stiftung (Fn. 12), S. 46.

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fehlen würden. Darüber hinaus steht die Aus- und Weiterbildung der Fachkräfte in der Altenpflege in der Diskussion. Immer stärker wird die Vollakademisierung des Berufs in Deutschland gefordert. Verbände, Wissenschaftsrat und Hochschulen streben eine Akademikerquote von 10 – 20 % eines Ausbildungsjahrgangs an.24 Lösungen zu dieser Problematik lässt der Gesetzentwurf ebenfalls nicht erkennen. Gleiches gilt schließlich für die noch mangelhafte Vernetzung der Sozialleistungsträger in einer anspruchssichernden Infrastruktur der Pflege. Viele Pflegebedürftige bedürfen der Sozialleistungen anderer Träger zukünftig stärker noch – so z. B. pflegebedürftige Menschen mit Behinderungen, die abzugeltende stationäre Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII (vgl. § 43a SGB XI) benötigen25 –, was eine verbindlichere Kooperation aller Beteiligten unter Beachtung der UN-Behindertenrechtskonvention erfordern wird. Doch müssen sich die Pflegekassen, die Sozialhilfe, die Rehabilitationsträger wie überhaupt Bund und Länder über die Ziele einer solchen Kooperation erst noch klar werden.26 Eine besondere Rolle sollte dabei die kommunale Verantwortung spielen. Diese wahrzunehmen ist in den letzten Jahren nicht zuletzt wegen der Finanzschwäche vieler Gemeinden versäumt worden.27 Doch führt zukünftig kein Weg daran vorbei, die kommunale Steuerung der Infrastruktur von Pflege zu stärken28 und darin als neue Strukturelemente eine sozialräumliche Pflegeplanung einschließlich der Mobilisierung bürgerschaftlichen Engagements einzubetten.29 Warum das so ist, ergibt sich aus der mit dieser Entwicklung spezifisch verwobenen Problematik des Zugangs zum Rechts- und Sozialschutz von volljährigen Pflegebedürftigen, der vom Gesetzgeber im Pflegerecht auf „soziale Betreuung“ reduziert und im Zusammenhang damit bürokratisiert wird. Besonderes Augenmerk verlangt insoweit die Notwendigkeit, Qualitätsindikatoren für die Öffnung des ungehinderten Zugangs zur rechtlichen und sozialen Betreuung sowie für diese selbst zu ermitteln und auf dieser Grundlage die Qualität der Pflege vollumfänglich zu sichern. Neben der aufgegebenen Organisations-, Prozess- und Ergebnisqualität hat m. a. W. eine Sorge um die diesbezügliche Strukturqualität zu treten; diese ist insbesondere mit Blick auf demente Pflegebedürftige nicht länger zu vernachlässigen. 24 Heike Uhtenwoldt, Pflege studieren, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26./ 27. Juli 2014, S. C 3. 25 Daniela Schweigler, Das Verhältnis der Leistung der Pflegeversicherung zur stationären Eingliederungshilfe nach dem SGB XII, in: Sozialgerichtsbarkeit, Heft 6, 2014, S. 307 ff.; s. a. Rainer Pitschas, Behinderte Menschen in der kommunalen Sozialpolitik, Sozialgerichtsbarkeit, Heft 5, 2009, S. 253 ff., 255, 257. 26 Gohde (Fn. 22), S. 34. 27 Martin Burgi, Kommunale Verantwortung und Regionalisierung von Strukturelementen in der Gesundheitsversorgung, Baden-Baden 2014, S. 89 f. 28 Rainer Pitschas, Kommunale Sozialpolitik, in: Bernd v. Maydell/Franz Ruland (Hrsg.): Sozialrechtshandbuch (SRH), 3. Aufl., Baden-Baden 2003, S. 1295 ff., 1310. 29 Burgi (Fn. 27), S. 93.

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d) Insbesondere: Aufbau eines Pflegevorsorgefonds Größeren Widerhall hat bei alledem bisher nur die Kritik an dem weiteren Vorhaben des Gesetzgebers gefunden, durch das künftige SGB XI-ÄndG – darin dem Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD folgend – die Mittel aus 0,1 % (jährlich etwa 1,2 Mrd. Euro) der insgesamt um 0,3 % Punkte geplanten Beitragssatzerhöhung in einem „Pflegevorsorgefonds“ zu sammeln.30 Seit Bekanntwerden der Pläne hierzu erfährt das Konzept des Pflegevorsorgefonds zu Recht breite Kritik von Expertenseite und auch von der für die Verwaltung des Fonds vorgesehenen Deutschen Bundesbank. So wird z. B. bemängelt, dass für die weitere Beitragssatzentwicklung eben nicht nur in Zukunft die Zahl der Pflegebedürftigen tatsächlich sinken würde, sondern sich auch ihr Verhältnis zu den Beitragszahlern, deren Zahl aber ebenfalls zurückgehen werde, ändern dürfte. In Folge dessen werde der Versicherungsbeitragssatz eher noch steigen, um ab 2050 auf einem hohen Niveau zu verbleiben. Zutreffend wird deshalb die Frage aufgeworfen, was ein Vorsorgefonds überhaupt bewirken solle, wenn die Beitragsbelastungen doch dauerhaft hoch blieben.31 Mehr noch findet sich vorgerechnet, „dass der Pflegefonds gerade dann leer ist, wenn 2055 die höchsten Beiträge“ zu erwarten seien.32 Summiert man diese und weitere Kritik, so müsste die Bundesregierung erst noch nähere Aussagen zu den Annahmen treffen, die den vorgestellten Wirkungen des Fonds zugrunde liegen mögen – ganz abgesehen davon, dass der zwischenzeitliche Umgang mit der gebildeten Kapitalreserve im Dunkeln bleibt und dies Ängste vor regierungsamtlicher Verschwendungssucht nährt. 3. Zwischenbilanz Ziehen wir eine kurze Zwischenbilanz. Programmatik und Infrastruktur einer zu erneuernden qualitativen Pflege stehen seit Längerem im Kreuzfeuer der Kritik. Die Bundesregierung sucht mit ihrer Weiterentwicklung des Pflegerechts dieser zu begegnen und vor allem – neben einer doch erheblichen Beitragssatzerhöhung – zu kurzfristig wirksamen Leistungsverbesserungen im Pflegeverhältnis zu gelangen. Sie vertagt allerdings zugleich die überfällige Einführung des einhellig geforderten revidierten Pflegebegriffs. Ferner erzeugt die von ihr geplante Verwendung der angestrebten Zusatzeinnahmen Widerspruch. Konkret sieht zwar der Gesetzgeber vor, 30 Der Gesetzentwurf der BReg. (Fn 14) fügt insoweit dem SGB XI ein „Vierzehntes Kapitel“ an, das in den §§ 131 ff.ÄndG/E die „Bildung eines Pflegevorsorgefonds“ vorsieht; die Zuführung der Mittel regelt § 135 ÄndG/E. Vgl. dazu auch die Kleine Anfrage der Bundesfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom 07. 05. 2014, BT-Drs. 18/1374 zum Thema „Reform der sozialen Pflegeversicherung – Aufbau eines Pflegevorsorgefonds“. 31 Heinz Rothgang, Wenn die Babyboomer alt werden, in: Berliner Zeitung v. 03. Januar 2014. 32 Klaus Jacobs, Pflege-Vorsorgefonds entlastet Beitragszahler nicht, in: Berliner Zeitung vom 19. April 2014.

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dass der Beitragssatz zur Pflegeversicherung zum 1. Januar 2015 um 0,3 %-Punkte angehoben werden soll. Dadurch werden Zusatzeinnahmen von 3,6 Mrd. Euro im Jahr 2015 erwartet. Zwei Drittel dieser Mehreinnahmen sollen dann die kurzfristig wirksamen Leistungsverbesserungen finanzieren. Letztlich werden aber dadurch die Leistungen der Pflegeversicherung nicht nachhaltig verbessert. Der Kritik sieht sich schließlich auch die Revision der Pflegeinfrastruktur ausgesetzt. Der Gesetzentwurf enthält zwar ein die bisherige Pflege ergänzendes Angebot an Betreuung und Aktivierung, für das zusätzliche Betreuungskräfte angestellt werden können (vgl. § 45b SGB-ÄndG/E; § 45c Abs. 3a ÄndG/E), aber er geht damit nicht signifikant über die in den Bundesländern zu diesem Thema bislang abgeschlossenen Pflege-Rahmenverträge zur „sozialen Betreuung“ hinaus. In die diesbezügliche Entwicklung der Pflege werden überdies die Kommunen nicht eingebunden; sie wären aber an der Gestaltung der Pflege wieder maßgeblich zu beteiligen.33 II. Infrastruktur der Pflege im Zwielicht – defizitäre soziale Betreuung in Pflegeverhältnissen 1. Pflegeverhältnisse und soziale Betreuung Pflegeleistungen umfassen von Gesetzes wegen vielfältige Angebote, die der Aktivierung des Pflegebedürftigen dienen sollen, um vorhandene Fähigkeiten zu erhalten und – soweit dies möglich ist – verlorene Fähigkeiten zurückzugewinnen. In der Literatur sind diese gesetzlichen Anstrengungen nicht immer mit dem gebührenden Beifall aufgenommen worden. So wurde die Berücksichtigung von Kommunikationsbedürfnissen (§ 28 Abs. 4 Satz 2 SGB XI) nur bei der stationären Pflege als Bestandteil der sog. sozialen Betreuung akzeptiert.34 Freilich ist sie auch an anderen Stellen des geltenden Rechts in die Leistungspflicht der Pflegeversicherung aufgenommen worden (vgl. z. B. § 43 Abs. 2 SGB XI), so dass eher von einem gesetzlich postulierten allgemeinen Leistungsgrundsatz auszugehen ist. Allerdings hat auch das BSG den Aufwand für soziale Betreuung bei dem Maßstab für die Zuordnung einer Pflegestufe unberücksichtigt gelassen.35 In den gem. § 75 SGB XI zu schließenden Rahmenverträgen wird jedoch und im Regelfall die soziale Betreuung näher definiert; dazugehörige Aktivitäten werden enumerativ aufgeführt. So widmet als Beispiel der Rahmenvertrag gem. § 75 Abs. 1 und 2 SGB XI zur vollstationären Pflege im Land Berlin in § 1 Ziff. 4 dem Ziel „der sozialen Betreuung“ viel Platz: Sie soll „die Gestaltung eines Lebensraumes für die Pflegebedürftigen“ ermöglichen, „der ihnen die Führung eines selbstständigen und selbstbestimmten Lebens ermöglicht sowie zur Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft beiträgt. Dies schließt die Information, ggf. die Beratung über Ansprü33

Burgi (Fn. 27), S. 83 ff. Udsching (Fn. 6), § 28 Rn. 15. 35 BSGE 95, 102 (107).

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che an Sozialleistungsträger mit ein“. Abgeschwächt wird dagegen die tatkräftige Unterstützung bei der Realisierung von Leistungsansprüchen; diese „kann“ gewährt werden. Darüber hinaus werden Angebote zum Erhalt der Alltagskompetenz ausgeführt. Zu ihnen rechnet u. a. die „Planung und Organisation von Behördengängen und Arztbesuchen und der dazu erforderlichen Begleitung von Bezugspersonen (z. B. durch Angehörige, externe Begleitdienste oder Pflege-/Betreuungskräfte der Pflegeeinrichtung)“. Die Pflege-Rahmenverträge konkretisieren insoweit deutlicher als es im Gesetz zu lesen ist die Vorstellungen des Gesetzgebers. Sie sind freilich im Übrigen mit Blick auf die Pflegerealität das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben werden. Die vertragsschließenden Parteien halten zwar in den Rahmenverträgen die Herbeiführung einer vernetzten effektiven Hilfestruktur für erforderlich, doch bleibt diese Vernetzung der Leistungsverantwortung und -ausführung in der Betreuungspraxis weithin prekär. Es fehlt schlicht und einfach an Geld und Personal. Das sozialstaatliche Vorsorgeverhältnis verfehlt seinen Zweck. Dadurch drohen die gesetzlichen Grundlagen verfassungswidrig zu werden. 2. Defizitärer Zugang der Pflegebedürftigen zum Sozialschutz Nicht nur die aktuelle Pflegesituation spricht damit eine andere Sprache zur Effektivität der bisherigen gesetzlichen und untergesetzlichen Regelungen. Denn zugleich richtet sich die Frage an den Entwurf des SGB XI-ÄndG, ob dieser das insbesondere durch Art. 12, 19 und 25 f. UN-Behindertenrechtskonvention gewährleistete Recht der Pflegebedürftigen auf ungehinderten Zugang zu den ihnen durch das Sozialrecht eingeräumten Ansprüchen auf Sozialleistungen („Sozialschutz“) hinreichend gewährleistet.36 Für die in dieser Frage mitschwingende Skepsis ist einerseits und beispielsweise auf das bereits angesprochene konflikthafte Nebeneinander der Zuständigkeiten von Pflegeversicherung und stationärer Eingliederungshilfe nach dem SGB XII, andererseits auf Schnittstellenprobleme in Bezug auf die Hilfsmittelversorgung im Verhältnis von Kranken- und Pflegeversicherung zu verweisen.37 Darüber hinaus gilt der Blick dem aktuellen Pflegenotstand, der nicht erst droht; er ist in der gegenwärtigen 36

S. Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinigten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 21. 12. 2008, BGBl. 2008 Teil II S. 1419 ff. Das Übereinkommen verlangt als geltendes Gesetzesrecht vom Gesetzgeber die konkrete Beschreibung der Unterstützungsmaßnahmen, die erforderlich sind; dazu vgl. Klaus Lachwitz, Auswirkungen der UN-Behindertenrechtskonvention auf das deutsche Geschäftsfähigkeits- und Betreuungsrecht. Überlegungen aus der Perspektive von Menschen mit geistiger Behinderung, in: Kritische Justiz, Heft 4, 2012, S. 385 ff., 392, 395. Der hier kritisierte Entwurf des SGB XI-ÄndG trägt diesem Postulat in §§ 45 b/ und 45 c/ nur unvollkommen Rechnung. 37 Hierzu näher Hermann Butzer in: Ulrich Becker/Thorsten Kingreen (Hrsg.), SGB V. Gesetzliche Krankenversicherung. Kommentar, 4. Aufl., München 2014, § 33 Rn. 44 ff.

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Pflegesituation weithin die Realität: Jeder größere Dekubitus, um ein Beispiel zu nehmen, kostet in der Behandlung so viel wie eine Pflegekraft im ganzen Jahr verdient. Und in Folge der oft unzureichenden Personalsituation ist es den Pflegekräften in solchen Fällen unmöglich, durch präventive Maßnahmen gerade ältere Menschen zu mobilisieren. Die Folgen der insoweit „gefährlichen“ Pflege tragen dann die Pflegekassen; die „Bettpflege“ wird m. a. W. belohnt. Der selbstständige pflegebedürftige Mensch tritt dahinter zurück. Durch den Wegfall ergänzender sozialer Betreuung seitens der Familie wird diese Entwicklung noch verschärft. Um sie zu ändern, müsste folglich die in der stationären Pflege vielfältig dokumentierte Beeinträchtigung der Selbständigkeit und Selbstbestimmung als Auslöser von Pflegemängeln durch eine stärker verbindliche Kooperation der Sozialleistungsträger abgelöst werden.38 Diese wahre „Pflegestärkung“ bedingt allerdings eine vernetzte Versorgungsstruktur mit Teilhabemöglichkeiten, wie dies auch die UN-Behindertenrechtskonvention fordert. So sollte etwa unter Zusammenführung der Kompetenzen nach dem SGB XI mit den rechtlichen Möglichkeiten im Rahmen des SGB IX und des SGB XII („Hilfe zur Pflege“) durch mehr und vor allem ambulante geriatrische Rehabilitation – die bislang meist nur in Modellprojekten vorgehalten wird – die Pflegebedürftigkeit vieler Menschen vermieden oder hinausgezögert werden. Zusammengefasst bilden so die Trennung der in je eigener Fachkompetenz und Entscheidungshoheit handelnden einzelnen Sozialleistungsträger und die dadurch verursachten prekären Pflegeverhältnisse ein Grundproblem der Pflegeinfrastruktur. Erst eine gebündelte kooperative Verfahrensverantwortung auf kommunaler bzw. regionaler Ebene vermag dieses Problem einer Lösung zuzuführen.39 3. Re-Kommunalisierung der Betreuung in Pflegenetzwerken Auf die damit den Kommunen zugleich zu übertragende gesamtheitliche Gestaltungsverantwortung für Pflegeverhältnisse wurde bereits oben hingewiesen. Sie bündelt die Teil-Kompetenzen der Sozialleistungsträger mit dem Ziel und Zweck individualisierter Pflege. Hierfür sind die sozialen Dienste zu integrieren. Dies geschieht durch ihre Vernetzung und ist Ausdruck einer historisch verwurzelten Diskussion40 im Rahmen der kommunalen Sozialpolitik.41 Damit würde letztlich auch der Wertung des Art. 28 Abs. 2 GG entsprochen werden. 38

S. a. Gohde (Fn. 22), S. 34; ein positives Beispiel bildet allerdings die durch das PflegeNeuausrichtungs-Gesetz (Fn. 17) in das SGB XI eingefügte Vorschrift des § 42 Abs. 4 zur Durchführung einer Kurzzeitpflege für einen Pflegebedürftigen in einer Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtung. 39 Zur dogmatischen Herleitung der Rechtsfigur der „Verfahrensverantwortung“ vgl. statt anderer Rainer Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, München 1990, S. 287 ff. u. öfter. 40 Dorothea Jansen, Einführung in die Netzwerkanalyse, 3. Aufl., Berlin 2007, S. 188. 41 Pitschas (Fn. 28), S. 1310.

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Freilich bedarf es zu diesem Zweck kompetenzieller Zusammenführung in der erwähnten einheitlichen Verfahrensverantwortung. Diese könnte etwa bei den in § 92c SGB XI vorgesehenen Pflegestützpunkten unter deren gleichzeitiger Effektivierung liegen. Verfassungsrechtliche Einwände hiergegen bestehen nicht, auch nicht aus der Infrastrukturverantwortung der Bundesländer.42 Der Blick auf die Kompetenzen reicht freilich nicht. Entscheidend ist die Durchführung der Pflege, ihre konkrete Darbietung: Haus- und Fachärzte, Pflegedienste und -heime, Kostenträger, Medizinischer Dienst, Heimaufsichten und manche andere müssen „vor Ort“ zusammenarbeiten, so dass sich niemand mehr aus einer Verantwortung für eine versagende Pflegerealität herausstehlen kann. Der Entwurf des SGB XI-ÄndG versagt sich dem gleich doppelt. Der Gesetzgeber trifft zu dem Thema einer verbindlicheren Kooperation keine Aussage. In dem ergänzenden Angebot an (sozialer) Betreuung und Aktivierung, das § 45c Abs. 3a Satz 2 ÄndG/E bereithält, fehlt es einerseits an der Zuweisung einer kommunalen Verfahrensverantwortung und andererseits an einer Kompetenzbündelung. Stattdessen soll eine halbe Mrd. Euro pro Jahr dafür zur Verfügung gestellt werden, dass voll- und teilstationäre Pflegeeinrichtungen zusätzliche Betreuungskräfte anstellen, die das ergänzende Angebot an Betreuung und Aktivierung in die Praxis umsetzen. Aber Geld allein ermöglicht noch keine Struktur- und Prozessqualität. Und die Kommunen werden nicht dazu befähigt, Pflegenetzwerke zu knüpfen, zu gestalten und in Aktion zu bringen. III. Infrastruktur der Pflege ohne rechtliche Betreuung? Gesetzgeberische Konzepte für eine qualitativ erneuerte Pflege bedürfen darüber hinaus der Einbindung rechtlicher Betreuung zur „Stärkung“ der freiheitlichen Entfaltungsmöglichkeiten derer, die sie benötigen. Diese erstreckt sich nach Maßgabe des Betreuungsrechts auf den Schutz Erwachsener durch Bestellung eines rechtlichen Betreuers zur Förderung der Selbstbestimmung des von der Betreuung Betroffenen i. S. des § 1896 Abs. 1 BGB. Die These aber ist, dass soziale und rechtliche Betreuung nicht voneinander zu trennen sind und deshalb durch die Pflegereform zusammenzuführen wären. Das künftige SGB XI-ÄndG geht jedoch darauf mit keinem Wort ein. 1. Erfahrungswissenschaftliche Einheit von sozialer und rechtlicher Betreuung Der Ausgangspunkt entsprechender Überlegungen ist die jedem Pflegekonzept unverzichtbar zugrundeliegende Integration von sozialer und rechtlicher Betreuung.

42

Burgi (Fn. 27), S. 91 f., 93.

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a) Soziale und rechtliche Betreuung im Pflegeverhältnis als verbundene Kernelemente qualitätsgesicherter Pflege Erstere gehört zu den grundlegenden Bestandteilen qualitätsbezogener und qualitätsgesicherter Pflege. Kein Pflegekonzept kommt ohne sie aus; andernfalls ist der soziale Rückzug bei den Pflegepersonen die Folge. Kommt dann z. B. eine fortschreitende Demenz im Pflegeverhältnis hinzu, werden sehr schnell von Pflegepersonen Forderungen nach einer „Fixierung“ oder nach ähnlichen bevormundenden Maßnahmen laut, die ihrerseits dem rechtlichen Betreuungsregime unterliegen.43 M. a. W. tragen die Erfahrungen und das Wissen um die soziale Betreuung auf Seiten der Pflegekräfte dazu bei, den Pflegenden einen verlässlichen Handlungsrahmen zu geben; ihr theoretisches Pflegewissen ist insoweit an den Bedingungen der jeweiligen Praxis auszurichten. Dazu zählen aus der Wissensperspektive aber nicht nur die maximale Bedürfnisorientierung der Pflege, sondern auch das Wissen um die Bedingungen, unter denen problemorientierte Instrumente und Verfahren zum Einsatz kommen.44 In dem jeweiligen Pflegekonzept ist dieses Wissen gebündelt und in einzelne Elemente zerlegbar. Zu einem Pflegekonzept gehört es deshalb auch, dass geklärt wird, welche Rahmenbedingungen benötigt werden, um das Konzept in die Pflegebedarfe des Alltags zu übersetzen. Dabei stellt die Beachtung der Rahmenbedingungen sicher, dass mit dem jeweiligen Pflegekonzept Anschluss an die tatsächliche betriebliche Praxis in der Pflegeeinrichtung gefunden wird.45 Pflegekonzepte formulieren sonach unter Bezug auf die für ihre Umsetzung zu berücksichtigenden Rahmenbedingungen die Leitlinien einer qualitätsgesicherten Betreuung im Pflegeverhältnis. Sie haben insofern die Aufgabe, ganzheitlich Klarheit und Transparenz hinsichtlich des pflegerischen Handelns herzustellen. Und doch wird in diesem Zusammenhang immer wieder vergessen, dass im komplexen Gedankenkonstrukt eines Pflegekonzepts auch die rechtlichen Erfordernisse pflegerischer Arbeit und vorausschauender Problemlösung verankert sein müssen. Das Betreuungsrecht ist in dieser Perspektive ein Seitenstück methodisch geleiteter Anwendung eines Pflegekonzepts. Mehr noch: Soweit das Konzept reicht, bilden die Maßgaben der rechtlichen Betreuung das „Unterstützungspotential“ jeglicher pflegerischer Arbeit durch Kompensation defizitärer Situationsfaktoren im Alltag.46 43 Astrid Elsbernd, Konzeptentwicklung in der Pflege, in: Konrad Stolz/Johannes Warmbrunn/Ulrich Schmolz/Astrid Elsbernd (Hrsg.), Betreuungsrecht und Pflegemanagement, Stuttgart/New York 2008, S. 52 ff., 53. 44 Letztlich geht es dabei um einen Anwendungsfall des Lernens im Rahmen von Wissensarbeit und Wissensgovernance; einführend dazu Rainer Pitschas, Kooperative Wissensgenerierung als Element eines neuen Staat-Bürger-Verhältnisses, in: Indra Spiecker gen. Döhmann/Peter Collin (Hrsg.), Generierung und Transfer staatlichen Wissens im System des Verwaltungsrechts, Tübingen 2008, S. 29 ff., 31. 45 Elsbernd (Fn. 43), S. 58 f. 46 Treffend Brigitta Gahleitner/Helmut Pauls, Geeignete Methoden der Sozialdiagnostik – Zur Erstellung eines betreuungs-rechtlich relevanten Sozialgutachtens, in: Uwe Brucker (Hrsg.), Besser betreuen, Frankfurt a. M. 2008, S. 240 ff, 241.

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b) Das gesetzliche Konzept rechtlicher Betreuung als „Gegenentwurf“ Der sozialen Wirksamkeit des Betreuungsrechts hat sich allerdings der Gesetzgeber verschlossen. Durch Änderung der Titelüberschrift vor §1896 BGB („Rechtliche Betreuung“) und in §§ 1897, 1901 BGB hat er klargestellt, dass ein Betreuer nicht die persönliche Verantwortung und Versorgung für den betroffenen Pflegebefohlenen zu übernehmen hat, sondern (nur) die Besorgung seiner Rechtsangelegenheiten.47 Für Menschen mit fehlender Geschäfts- und Einwilligungsfähigkeit, die das Selbstbestimmungsrecht ausmachen, bedeutet dies etwa, dass sie – in einschlägigen Pflegesituationen und bei nicht gegebener Stellvertretung durch Vollmacht – der von der sozialen Betreuung gesonderten und gerichtlich anzuordnenden gesetzlichen Betreuung bedürfen. Dies gilt etwa für die ärztliche Behandlung und pflegerische Versorgung einwilligungsunfähiger Pflegebedürftiger, bei „gefährlichen“ ärztlichen Maßnahmen, für die Behandlung und Pflege gegen den Willen des Patienten oder auch bei Unterbringung und freiheitsentziehenden Maßnahmen.48 Eine besondere Rolle spielt diese Sonderung von sozialer und rechtlicher Betreuung im Alltag eines Pflegeheims, in dem Personal- und Zeitmangel herrschen und demente Menschen mitversorgt werden. Das Betreuungsrecht wird hier vernachlässigt. Deshalb werden sehr häufig und unerlaubterweise in der Pflege älterer Gebrechlicher und Dementer nicht nur Fixierungen wie Bauchgurte für Rollstuhlfahrer eingesetzt, sondern zur Ruhigstellung auch Psychopharmaka. Aggressive Heimbewohner, die das Zusammenleben belasten, erhalten mitunter ebenfalls sedierende Medikamente. Pflegebedürftige sollen m. a. W. ruhiggestellt werden. In München hat eine aktuelle Untersuchung der Fachstelle für Qualitätssicherung in der Altenpflege ergeben, dass etwa 50 % der Bewohner aller Alten- und Pflegeheime ohne gerichtliche Einwilligung Psychopharmaka mit beruhigender oder sedierender Wirkung erhalten haben. Von gleichen Erfahrungen berichtet der Qualitätsbericht der Münchener Heimaufsicht aus den Jahren 2011/2012.49 Den „sozialen Mehrwert“ integrierter rechtlicher Betreuung zu stärken, unternehmen deshalb Initiativen wie z. B. der „Werdenfelser Weg“, die das Amtsgericht Garmisch-Partenkirchen ins Leben gerufen hat. Der wichtigste Punkt dieses neuen Ansatzes ist, dass ein unabhängiger Pflegefachmann in die Entscheidung über Fixierungen durch das Betreuungsgericht einbezogen wird. Als juristisch und pflegerisch versierter Spezialist vermag er die Situation in der Pflegeeinrichtung einzuschätzen und Vorschläge zu unterbreiten, wie die Fixierung verhindert und trotzdem die Bedürf47 Näher dazu m. w. Nachw. Rainer Pitschas, Betreuungsrecht auf dem Prüfstand, in: Betreuungsrechtliche Praxis, Heft 1, 2011, S. 8 ff., 9. 48 Im Einzelnen s. Konrad Stolz, Praxis des Betreuungsrechts, in: ders./Johannes Warmbrunn/Ulrich Schmolz/Astrid Elsbernd (Hrsg.), Betreuungsrecht und Pflegemanagement, Stuttgart/New York 2008, S. 3 ff., 9 ff. 49 Karin Truscheit, Psychopharmaka soll es in der Pflege seltener geben, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. Juni 2014, S. 7.

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nisse von Heim und Bewohner in Einklang zu bringen sind.50 An sich wäre das die zentrale Forderung eines jeglichen qualitativen Pflegekonzepts. 2. Erwachsenenschutz in Pflegeverhältnissen durch gesetzlich integrierte soziale und rechtliche Betreuung a) Notwendigkeit des einheitlichen Sozial- und Rechtsschutzes Pflegebedürftiger Ersichtlich wird aus alledem die Notwendigkeit, den einheitlichen Rechts- und Sozialschutz von Pflegebefohlenen in der Pflegereform anzustreben sowie auf dieser Grundlage die Qualität der Pflege zu sichern. Es geht dabei im Wesentlichen um eine entsprechende Strukturqualität, die offenkundig und insbesondere mit Blick auf demente Pflegebedürftige bisher nicht gegeben ist. Denn Demenzpatienten leiden nicht nur unter ihrer Krankheit, sondern auch an deren Folgeerscheinungen und vor allem dabei an eingeschränkter oder verlorener Alltagskompetenz – überlagert von Defiziten in der rechtlichen Vertretung. Zugleich fehlt es sehr oft an dem notwendigen Sozialschutz, d. h. an der störungsfreien Versorgung mit ärztlichen bzw. sozialen Dienstleistungen. Das für diesen Bereich von den Pflegekassen in Sachsen entwickelte Projekt „Nachbarschaftshelfer“ zur Kompensation dieser Defizite greift allerdings noch zu kurz.51 Gleiches gilt für die Regelung des SGB V, aufsuchende Gesundheitsleistungen im vertrags- und zahnärztlichen Sektor vorzusehen.52 Schließlich bleibt die Arbeit der Pflegestützpunkte, was die Gemeinsamkeit sozialer und rechtlicher Betreuung anbelangt, als bislang unergiebig zu beurteilen. Notwendig wird vielmehr unter Integration in die Pflege eine einheitliche soziale und rechtliche Betreuung entsprechend betreuungsbedürftiger Personen, die den Rechts- und Sozialschutz Volljähriger im Pflegeversicherungsrecht sicherstellt. b) Revision der sozialen und rechtlichen Infrastruktur von Betreuung im Pflegeverhältnis Die Integration von Betreuung als Rechts- und Sozialschutz von Pflegebedürftigen in das Pflegeversicherungssystem ist gleichwohl bisher kein Thema der „Stärkung“ sozialer Pflegeversicherung durch den Gesetzgeber. Vielmehr belässt es das kommende SGB XI-ÄndG bei dem herkömmlichen Arrangement der sozialen Betreuung ohne rechtliche Betreuungsgehalte. Der Gesetzgeber anerkennt lediglich einen Ergänzungsbedarf in der sozialen Aktivierung von Pflegebefohlenen. 50

Vgl. den Bericht von Truscheit (Fn. 49), S. 7. Vgl. den Bericht in fakten & aspekte, Heft 1, 2014, S. 11, hrsg. vom Landesverband Mitte der BKK’en. 52 Näher geregelt in § 87 Abs. 2i Satz 1 SGB V. 51

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Weiterhin gilt damit die Rechtsform der Betreuung auf der Grundlage des Betreuungsgesetzes als alleinige Form der Intervention in das Pflegeverhältnis. Doch führt diese Einstellung auf Abwege. Denn die „von außen“ angewandten Normen des Betreuungsrechts bilden für den Prozess der „Betreuung in Pflegeverhältnissen“ und sein Gelingen lediglich das bloß formale Gehäuse individualisierender Konkretisierung. Die vom Gesetzgeber der Pflegereform abgeforderte Qualität der pflegerischen Arbeit vermag juristische Subsumption und richterliche Entscheidung nicht zu erfüllen. Pflege bedarf vielmehr fachlich interdisziplinärer Entfaltung und emotional „verdichteter“ Beziehungsarbeit zwischen Pflegepersonen und Pflegebedürftigen unter Einbezug der in das Pflegekonzept eingebundenen agierenden Personen und Instanzen. Der Verweis des Betreuungsgesetzes auf die Einholung eines Gutachtens durch das Betreuungsgericht in § 280 Abs. 1 FamFG53 bestätigt diese Auffassung. Denn nur auf dem Weg der Integration von sozialer und rechtlicher Beurteilung vermag das Gericht die „Notwendigkeit einer Maßnahme“ zu beurteilen – wobei immer noch die Frage zur Beantwortung ansteht, ob der Richter die Gutachtenaussagen auch versteht. Pflegeberichte und Pflegediagnose sowie daraus abzuleitende Handlungsorientierungen unter Beachtung der Rahmenbedingungen leiten jedenfalls die pflegerische Arbeit inhaltlich als Einheit von Recht und Pflege. In jeglicher Pflegereform muss es daher (auch) um die pflegebezogene Sicherung der Infrastruktur von Betreuung im voraufgehend dargelegten Umfang gehen. Demgegenüber wird – völlig zu Unrecht für den, der die Situation kennt und neutral beurteilt –, die derzeit vermeintlich gesicherte Versorgung der Bevölkerung mit Pflegeleistungen durch Pflegestützpunkte und Pflegeeinrichtungen als erfolgreich hervorgehoben. Im Schatten bleibt dagegen regelmäßig die damit verbundene und sich verdichtende belastende Betreuungssituation. Bei zunehmender Alterung der Gesellschaft und damit auch einem wachsendem Anstieg sowohl der Pflegebedürftigen als auch der rechtlich zu Betreuenden sowie bei gleichzeitigem Rückgang der häuslichen Pflege und Vollmachtbetreuung bedarf es insbesondere für die Pflegeversicherung erheblicher Anstrengungen, um dem eminent wachsenden Pflege- und Betreuungsbedarf gerecht zu werden. Der überdies schwächelnde familiäre Zusammenhang der Generationen verstärkt im Übrigen die Hilflosigkeit des personalen Daseins Betreuungsbedürftiger. Das gesetzgeberische Betreuungskonzept muss vor diesem Hintergrund an die besonderen Bedingungen des Pflegeversicherungsrechts angepasst werden und in dieses Eingang finden.

53 Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) v. 17. 12. 2008 (BGBl. I S. 2586).

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3. Einheitliche Betreuung im Rahmen des Pflegemanagements Die Integration von Betreuung als Rechts- und Sozialschutz in das Pflegeversicherungssystem setzt allerdings ein neues Kooperationsverständnis der Betreuungsbehörden und zivilgesellschaftlichen Einrichtungen – z. B. der Betreuungsvereine – als Netzwerkpartner im System einer qualitativ erneuerten Pflege nach Maßgabe spezifischer Flexibilität und Bedürfnisorientierung voraus.54 Dies wird vor dem Hintergrund gegenwärtiger zivilgesellschaftlicher Erneuerung vor allem dezentral zu erreichen sein. Deshalb dürfte die Integration von Pflege und (rechtlicher wie sozialer) Betreuung auf sozial-räumlicher Grundlage eine zentrale Aufgabe der Reformulierung sozialer Pflegeversicherung im kommunalen Gestaltungszusammenhang sein.55 Konzeptionell bedingt schließlich die einheitliche Betreuung im jeweiligen Pflegeverhältnis die Veränderung der Personalstruktur in der Pflege mit entsprechender Verfahrensverantwortung des Pflegemanagements für die rechtliche Seite der Betreuung. Finanzielle Konsequenzen sind die Folge. Auf der anderen Seite geht es um Entwicklungsfragen, die von Finanzierungsbedarfen anderer Art des Staates abzulösen sind. Im Ergebnis wäre deshalb der Rückgriff auf den bereits skizzierten Pflegevorsorgefonds eine an sich denkbare Lösung. Doch hängen die Schwierigkeiten ihrer Akzeptanz von der Ausgestaltung des Fonds und dessen gesellschaftlicher Verankerung mit Teilhabemöglichkeiten ab. IV. Zusammenfassung Im Wandel des sozialstaatlichen Vorsorgeverhältnisses unterliegt die in Deutschland als „Zwangsvorsorge“ vom Gesetzgeber eingerichtete und sowohl in Gestalt der öffentlich-rechtlichen Sozialversicherung als auch in privatversicherungsrechtlicher Form geführte Pflegeversicherung gravierenden Veränderungen. Während die Bevölkerung unaufhaltsam altert und schrumpft, steigt die finanzielle Belastung der pflichtigen Versicherten durch die Versicherungsbeiträge bei zunehmender Zahl der Pflegefälle kontinuierlich an. Vor diesem Hintergrund sieht sich der Gesetzgeber seit längerem aufgefordert, sein Verständnis von Pflegebedürftigkeit zu überprüfen und die Finanzierung wie Qualität der zu erbringenden Pflegeleistungen erheblich zu verbessern. Mit dem künftigen Fünften SGB XI-ÄndG werden die schrittweisen gesetzgeberischen Versuche fortgesetzt, eine qualitativ erneuerte pflegerische Versorgung unter moderater Beitragssatzerhöhung zu erreichen. Das dem zugrundeliegende Konzept, die Pflege durch ambulante Sachleistungen für niedrigschwellige Betreuung und 54

Ein Versuch dazu bei Jörg Tänzer, Rechtsverwirklichung durch Infrastruktur im Betreuungswesen. Chancen eines Systemwandels von der justizförmigen zur sozialrechtsförmigen Betreuung, Aachen 2009, passim. 55 Burgi (Fn. 27), S. 88 f., 91 ff.

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Entlastung zu „stärken“ sowie stationär vermehrte ergänzende soziale Betreuung und Aktivierung der Pflegebedürftigen vorzusehen, führt zwar in die richtige Richtung. Es begegnet gleichwohl erheblicher Kritik, zumal es zukünftig deutlich an Pflegekräften fehlen wird. Darüber hinaus hat von Anfang an das geplante gesetzgeberische Konstrukt eines Pflegevorsorgefonds Kritik erfahren. In der Debatte um die Weiterentwicklung der Pflegeinfrastruktur wird allerdings grundsätzlich verkannt, dass mehr und mehr mit dem demografischen Wandel und dem wachsenden Verlust an Alltagskompetenz bei vielen älteren Menschen („Demenz“) die Pflegeberatung und -betreuung ein zentrales Zukunftsthema darstellt. Erst deren Angebote sichern den Zugang und den Erhalt begleitender Sozialleistungen („Sozialschutz“) für Pflegebedürftige. Noch kaum ist daneben der Freiheitsschutz durch rechtliche Betreuung in der Pflege ausgeprägt. Gerade in der gegenwärtigen Pflegesituation liegt hier vieles im Argen, wie der Beitrag verdeutlicht. Der Entwurf des Fünften SGB XI-ÄndG verschließt sich jedoch darauf abzielenden Reformüberlegungen völlig. Dem gilt es mit Hilfe der hiesigen Ausführungen abzuhelfen.

Entwicklung des Eigentumsschutzes in Deutschland seit BVerfGE 58, 300 (18. 7. 1981) Von Wolfgang Rüfner, Köln/Meckenheim I. Einführung 1. Ältere Rechtsprechung des BGH Nach dem älteren weiten materiellen Enteignungsbegriff wurde jede nicht mehr zumutbare Beschränkung des Eigentums als Enteignung betrachtet und demgemäß nach Enteignungsgrundsätzen Entschädigung geleistet. Die Junktimklausel in Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG blieb bei den enteignungsgleichen bzw. enteignenden Eingriffen unbeachtet. Daraus ergab sich ein sehr weitreichender Eigentumsschutz durch Entschädigungen auch ohne gesetzliche Grundlage und ohne Rücksicht auf einen formellen Enteignungsbegriff. Der Primärrechtsschutz wurde eher vernachlässigt. Als Rudolf Wendt in den frühen 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts seine Habilitationsschrift „Eigentum und Gesetzgebung“1 schrieb, konnte er sich zwar schon mit der damals neuen Konzeption des BVerfG auseinandersetzen, die weitere Entwicklung war jedoch noch kaum abzuschätzen. Wendt war skeptisch gegenüber dem BVerfG, auch wenn er anerkannte, dass eine verfassungswidrige Schrankenziehung nicht ohne weiteres in eine Enteignung umgedeutet und mit Zubilligung einer Entschädigung geheilt werden könne.2 2. Die Wende BVerfGE 58, 300 Das BVerfG hatte bereits frühzeitig darauf hingewiesen, dass jede nachkonstitutionelle Enteignung ohne eine den Anforderungen der Junktimklausel entsprechende gesetzliche Grundlage rechtswidrig sei3. In seiner Entscheidung vom 15. 7. 1981 (Nassauskiesung)4 wies das Gericht sehr scharf darauf hin, dass es den Zivilgerichten nicht erlaubt sei, ohne gesetzliche Regelung Enteignungsentschädigung zuzubilligen. Die Enteignung sei auf den Entzug des Eigentums gerichtet, die Junktimklausel strikt zu beachten. Der Beschluss zur Nassauskiesung wurde zum Ausgangspunkt 1

Rudolf Wendt, Eigentum und Gesetzgebung, 1985. Wendt, Eigentum (Fn. 1), S. 325 f. im Anschluss an BVerfGE 52, 1, 28; sehr kritisch bis heute Otto Depenheuer, Eigentum, in: Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. V. 2013, § 111, Rn. 1 ff., insbes. 25 ff. 3 BVerfGE 4, 219 (230 ff.); 46, 268 (285 f.); 52, 1 (27 f.); 58, 137 (145). 4 BVerfGE 58, 300. 2

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einer Umorientierung der gesamten Enteignungslehre5. Das BVerfG verwarf den weiten, in der Rechtsprechung des BGH konturlos gewordenen Enteignungsbegriff. Als Enteignung sei nur die zweckgerichtete (finale) Maßnahme anzusehen, die auf vollständige oder teilweise Entziehung konkreter subjektiver, durch Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG geschützter Rechtspositionen gerichtet sei. 3. Änderung der Rechtsprechung des BGH Der BGH hat danach seine Rechtsprechung zum enteignungsgleichen Eingriff fortgesetzt, sie aber von der Enteignung gelöst und dogmatisch mit dem Aufopferungsgedanken begründet6. Der enteignende Eingriff, ein rechtmäßiger Eingriff, der zu unzumutbarer Eigentumsbeeinträchtigung geführt hatte, musste auf Unfallund Zufallsschäden verengt werden.7 Enteignungsentschädigung gibt es nur noch auf gesetzlicher Grundlage. Darin liegt eine deutliche Machtverschiebung von der Rechtsprechung auf die Gesetzgebung und damit auch vom BGH auf das BVerfG.8 II. Art. 14 Abs. 1 GG als Schwerpunkt des Eigentumsschutzes 1. Verengter Enteignungsbegriff: Güterbeschaffung Der Begriff der Enteignung wurde in der BVerfGE 58, 300 nachfolgenden Rechtsprechung immer mehr eingeengt. Während es das BVerfG zunächst ablehnte, die Enteignung auf die Güterbeschaffung zu beschränken,9 ist nach neuerer Rechtspre5 Joachim Lege, 30 Jahre Nassauskiesung, JZ 2011, S. 1084 meint mit Recht, das BVerfG habe die Dogmatik zum Eigentumsgrundrecht gründlich umgewälzt. 6 BGHZ 90, 17 (31); 117, 240 (252); dazu krit. Lege, 30 Jahre (Fn 5), S. 1089 f. 7 BGH 10. 2. 2005, NJW 2005, 1363 (mit Rückverweisung auf frühere Rspr.), = JR 2005, 506 m. Anm. Kerstin Strick und Reiner Tillmanns, S. 508 f., die den enteignenden Eingriff strikt auf unvorhergesehene, gleichsam unfallartige Nebenfolgen beschränken, während der BGH von meist untypischen und unvorhergesehenen Nachteilen sprach. Wie Strick/Tillmanns Lege, 30 Jahre (Fn 5), S. 1090, der zudem eine Umbenennung in „Eigentumsaufopferung“ vorschlägt. In BGHZ 197, 43 Nr. 7 blieb der BGH bei seiner Auffassung und hielt einen Anspruch des Vermieters wegen Schäden aus einer Durchsuchung der Wohnung des Mieters für möglich. Lerke Osterloh, Der enteignende Eingriff – ein Relikt auf vorverfassungsrechtlicher Grundlage, in: Freiheit und Sicherheit in Deutschland und Europa, FS Hans-Jürgen Papier, 2013, S. 547 (560) meint, staatliche Gefährdungshaftung sei kein legitimer Gegenstand richterlicher, vorverfassungsrechtlich oder auch verfassungsrechtlich geprägter Generalklauseln. 8 Lege, 30 Jahre (Fn 5), S. 1084 und 1089. 9 BVerfGE 83, 201 (211); auf diesem Stande und in diesem Sinne Friedrich Schoch, Rechtliche Konsequenzen der neuen Eigentumsdogmatik für die Entschädigungsrechtsprechung des BGH, in: Verantwortung und Gestaltung, FS Boujong 1996, S. 655 (660); Jochen Rozek, Die Unterscheidung von Eigentumsbindung und Enteignung, 1998, S. 100; anders und prinzipiell auf Güterbeschaffung abstellend schon Joachim Lege, Zwangskontrakt und Gü-

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chung Enteignung nur hoheitliche Güterbeschaffung für ein „konkretes der Erfüllung öffentlicher Aufgaben dienendes Vorhaben“.10 Die vielfältigen Zweifel11 sind damit nicht alle behoben, der Enteignungsbegriff hat aber durch die „Trennungslehre“ Konturen gewonnen,12 Sachprobleme bleiben. Geht es nicht um Güterbeschaffung, ist nicht von Enteignung, sondern von Inhalts- und Schrankenbestimmung die Rede. Eigentumsbeschränkungen sind keine Enteignungen, sondern Belastungen zum öffentlichen Wohl. Sie können aber wesentliche Befugnisse aus dem Eigentum entziehen, u. U. so wesentliche, dass nur ein nicht mehr nutzbares Eigentum verbleibt.13 Trotzdem schlägt die Eigentumsbeschränkung nicht in eine Enteignung um, wie dies der BGH früher angenommen hatte.14 Selbst wenn Eigentumsgegenstände zum Ausgleich privater Interessen entzogen werden (Umlegung nach BauGB)15 ; handelt es sich nur um eine Inhalts- und Schrankenbestimmung. Auch Beschränkungen durch Bebauungspläne sind nur Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums, selbst wenn ihre Verwirklichung auf Enteignung hinauslaufen muss.16 Das BVerfG engt den Enteignungsbegriff für Grundstücke damit ein auf Vorgänge, die schon immer nach den Enteignungsgesetzen zu behandeln waren. Über den Entzug von Grundeigentum hinaus ist Enteignung allerdings auch der Entzug anderer eigentumsfähiger Gegenstände17. Alles Übrige läuft unter Inhalts- und Schranterdefinition, 1995, S. 59 f., mit Hinweis auf frühere Arbeiten von Helmut Rittstieg, Eigentum als Verfassungsproblem, 1976, S. 411 ff. und Lerke Schulze-Osterloh, Das Prinzip der Eigentumsopferentschädigung im Zivilrecht und im öffentlichen Recht, 1980, S. 411 ff. 10 BVerfGE 104, 1 (10); 112, 93 (109); 126, 331 (359). Dem folgen die in den nachfolgenden Fn. zitierten Kammerentscheidungen, die sämtlich Inhaltsbestimmungen annahmen. Vgl. insbesondere: BVerfG (1. K) v. 18. 01. 2001 – 1 BvR 1700/00, NJW 2001, 2960 (2961); BVerfG ( 1. K) v. 26. 08. 2002 – 1 BvR 142/02, NJW 2003, 196 (197). Hans-Jürgen Papier, in: Maunz-Dürig, Art. 14 (2010), Rn. 361, meint mit Recht, mit der Beschränkung auf die Güterbeschaffung sei die Rückkehr zum klassischen Enteignungsbegriff vollzogen, wenn man vom unverändert weiten Eigentumsbegriff absehe; ähnlich Brun-Otto Bryde, in: Ingo von Münch/Philip Kunig, Grundgesetz, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 14, Rn. 50. 11 Dazu mit guter Übersicht Jürgen Schwabe, Die Misere des Enteignungsbegriffs, FS Thieme, 1993, S. 251 ff. 12 Johannes Dietlein, Die Eigentumsverfassung und das Erbrecht, in: Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, 2006, § 113, S. 2114 (2263). 13 Denkmalschutz BVerfGE 100, 226 (240). 14 Lege, 30 Jahre (Fn 5), S. 1086 f. 15 BVerfGE 104, 1 (10); 112, 93 (109); anders, wenn für ein im öffentlichen Interesse liegendes Vorhaben Gelände beschafft werden muss, BVerfGE 74, 264 (280). 16 BGHZ 186, 136, 141 f. unter Nr. 21 mit Berufung auf BVerfG (1. K) v. 22. 02. 1999 – 1 BvR 565/91, NVwZ 1999, 979 (980) = DVBl 1999, 704, wo u. a. ausgeführt wird, dass bei Aufstellung von Bebauungsplänen Enteignungsvoraussetzungen noch nicht zu prüfen sind. Planfeststellungsbeschlüsse haben dagegen weitergehende Wirkung: BVerfG (2. K.) v. 15. 02. 2007 – 1 BvR 300/06 und 848/06, NVwZ 2007, 573 m.w.N. 17 Lerke Osterloh, Retrospektive und prospektive Kompensation der Folgen rechtmäßigen Hoheitshandelns, in: Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. III, hrsg. von Wolfgang Hoff-

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kenbestimmung. Das BVerfG stützt so den Eigentumsschutz fast gänzlich auf Art. 14 Abs. 1 GG und dehnt die Inhaltsbestimmung sehr weit, möglicherweise etwas zu weit aus18. Es hat alle seit der Weimarer Zeit entwickelten Erweiterungen des Enteignungsbegriffes (nicht des Eigentumsbegriffs) verworfen. Auch eine sehr schwere Belastung, welche das Behalten eines Grundstücks unzumutbar macht und deshalb einen Übernahmeanspruch des Eigentümers begründet, ist danach Inhalts- und Schrankenbestimmung19. Kaum noch Raum bleibt in der neueren Rechtsprechung für eine Teilenteignung20, die nicht einen realen Teil eines Gegenstandes, sondern eine einzelne Befugnis aus dem Eigentum oder dessen Belastung betrifft21. In allen Fällen, in denen das BVerfG in neuerer Zeit zu entscheiden hatte, nahm es eine Inhaltsbestimmung an22, wenn nicht ein Gegenstand insgesamt entzogen worden war. Auch die Auferlegung einer Pflicht, Leitungsrechte zu dulden, ist nach Ansicht des Gerichts keine Enteignung, sondern eine Inhaltsbestimmung23. Die angegriffene Regelung des TKG (Telekommunikationsgesetzes) stelle keine Enteignung, sondern eine Inhaltsbestimmung des Grundeigentums im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG dar. § 57 Abs. 1 Nr. 1 TKG24 enthalte keine Ermächtigung der Exekutive, ein bestimmtes, von ihr zur Wahrung öffentlicher Aufgaben benötigtes Vermögensobjekt ganz oder teilweise zu entziehen, sondern begründe in genereller und abstrakter Weise eine Duldungspflicht des Eigentümers, wenn auf dem Grundstück eine durch ein Recht gesicherte Leitung oder Anlage auch für die Errichtung, den Betrieb und die Erneuerung einer Telekommunikationslinie genutzt und hierdurch die Nutzbarkeit des Grundstücks nicht dauerhaft zusätzlich eingeschränkt werde.25 mann-Riem/Eberhard Schmidt-Aßmann/Andreas Voßkuhle, 2. Aufl. 2013, § 55, Rn. 115, weist mit Recht darauf hin, dass Enteignung fast nur für Grundstücke in Frage kommt, da alle anderen Güter i. d. R. auf dem Markt beschafft werden können. 18 Krit. dazu Rudolf Wendt, in: Michael Sachs (Hrsg.) Grundgesetz, 6. Aufl. 2011, Art. 14, Rn. 80 und 148 ff.; Dietlein (Fn. 12), S. 2264, der fragt, ob Kompensationsfragen nicht systemwidrig in Art. 14 Abs. 1 und 2 hineingetragen würden; Peter Axer, in: Volker Epping/ Christian Hillgruber, Grundgesetz, Kommentar, 2009, Art. 14 Rn. 81 m. Hinweis auf dens., Eigentumsschutz für wirtschaftliche Betätigung, in: Nomos und Ethos, Hommage an Josef Isensee, 2002, S. 121 (141 ff.). 19 BVerfGE 100, 226 (239 f., 245 f.); BVerfG (3. K.) v. 23. 02. 2010 – 1 BvR 2736/08, NVwZ 2010, 512 (514 f., Nr. 42 – 44). Zum Übernahmeanspruch s. u. 3. c) bb). 20 Die Aussage von Schoch (Fn. 9), S. 661, die Frage der Teilenteignung sei ungeklärt, gilt noch immer. 21 BVerfGE 45, 297 (338 f., mit Beschränkung auf nach Sachenrecht abspaltbare Befugnisse); die Belastung mit einer Dienstbarkeit ist danach Enteignung, BVerfGE 56, 249 (260). In diesem Sinne auch Joachim Wieland, in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Rn. 95. 22 Das BVerfG ging insoweit noch über Lege, Zwangskontrakt (Fn. 9), S. 61 ff., hinaus. 23 BVerfG v. 18. 01. 2001 (Fn. 10), Nr. 10 ff.; BVerfG v. 26. 08. 2002 (Fn. 10), Nr. 28 ff. 24 A.F., jetzt § 76 Abs. 1 Nr. 2 TKG. 25 Inhaltsbestimmung: BVerfGE 72, 66 (76): Belastung mit Fluglärm; 79, 174 (191 f.): Belastung durch Straßenlärm; 100, 226 (240): Denkmalschutz.

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Allerdings betrafen die bisher entschiedenen Fälle Gestaltungen, in denen keine besonderen privatrechtlichen Dienstbarkeiten begründet wurden26. Darauf lässt sich freilich bei allgemeinen gesetzlichen Regelungen leicht verzichten.27 Es ist damit zu rechnen, dass das BVerfG nach der Beschränkung der Enteignung auf Güterbeschaffung auch künftig kaum Maßnahmen als „Teilenteignungen“ qualifizieren wird. Das ist konsequent, wenn die Enteignung formal abgegrenzt werden soll. Entzug eines Miteigentumsanteils ist Enteignung. 2. Inhalts- und Schrankenbestimmung a) Unterscheidung von Inhalts- und Schrankenbestimmung – Grenzen der Schrankenbestimmung Die Abgrenzung von Enteignung einerseits und Inhalts- und Schrankenbestimmung andererseits ist demnach weitgehend geklärt. Mit der Unterscheidung von Inhalts- und Schrankenbestimmung28 hat sich das BVerfG, soweit ersichtlich, nie ausführlich befasst. Es verwendet fast immer die Formulierung „Inhalts- und Schrankenbestimmung“29 ohne weitere Differenzierung30. Es ist zwar richtig, dass Inhalts- und Schrankenbestimmung getrennt werden sollten, denn nicht jede Ausgestaltung des Inhalts ist auch Schrankenziehung. Wird Inhaltsbestimmung im Gegensatz zur Schrankenziehung gesehen, wird ein zumindest institutionell vorgegebener Inhalt des Eigentums vorausgesetzt, der nicht erst vom Gesetzgeber konstituiert wird.31 Das Eigentum ohne fest umrissenen Inhalt ist immer in der Gefahr, zu einem Begriff nach Maßgabe der einfachen Gesetzgebung32 zu werden. Eine trennscharfe Unterscheidung ist aber kaum möglich33 und für die Praxis auch nicht erforderlich34. 26

Dann wäre u. U. doch Enteignung anzunehmen. Zu diesem Problem Hartmut Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Aufl. 2011, § 27 Rn. 47 f., der auch auf § 86 Abs. 1 BauGB hinweist; Daniel Riedel, Eigentum, Enteignung und das Wohl der Allgemeinheit, 2012, S. 101 f. mit zahlreichen Nachweisen. 27 BVerfGE 45, 297 (339), schließt zudem aus, dass die Länder neue dingliche Rechte erfinden. 28 Dazu ausführlich mit einem neuen Ansatz in dieser Festschrift: Michael Sachs, Gesetzliche Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums, S. 385 ff. 29 In BVerfG v. 18. 01. 2001 (Fn. 10), ist zwar nur von Inhaltsbestimmung die Rede, es ist aber nichts anderes gemeint als das, was sonst generell mit „Inhalts- und Schrankenbestimmung“ gesagt wird. Das BVerfG befasst sich auch hier nur mit der Abgrenzung zur Enteignung. 30 Für eine Trennung, da Inhaltsbestimmung und Schrankenziehung zu unterscheiden seien, Walter Leisner, Eigentum, HStR3, Bd. VIII, 2010. § 183, Rn. 130 ff.; ferner früher dezidierter als heute Wendt, Eigentum (Fn. 1), S. 144 ff. 31 Jan-R. Sieckmann, in: Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 14 Rn. 12. 32 So die Formulierung von Papier, Art. 14 (Fn. 10), Rn. 38 zur Rspr. des BVerfG. Diese Gefahr hatte Wendt, Eigentum (Fn. 1), S. 144 ff. und 399, klar erkannt. Leisner (Fn. 30), Rn. 127 vermerkt, wenn der Inhalt des Eigentums aus seinen Schranken gewonnen werde, sei die notwendige, aber unannehmbare Folgerung „Eigentum nach Gesetz“.

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Wichtiger ist, dass das Eigentum nicht schlechthin dem Gesetzgeber zur Disposition gestellt wird, also ein Kernbereich dem Berechtigten verbleibt. Sowohl Inhaltsbestimmung wie Schrankenziehung müssen die Institutsgarantie des Eigentums sowie Verhältnismäßigkeits- und Gleichheitsgebote beachten.35 Den Kernbereich zu bestimmen, bereitet freilich große Schwierigkeiten, denn es gibt kaum eine Befugnis des Eigentümers, die von gesetzlicher Gestaltung schlechthin nie betroffen werden dürfte. Der Eigentümer (u. U. Erwerber) tritt mit diesem begrenzten Inhalt an, weitere Beschränkungen sind dann „Schranken“. Da das BVerfG trotz der grundsätzlichen Bedeutung seiner Entscheidungen immer Einzelfälle beurteilt, hat es selten Gelegenheit, sich zu den Grenzen der gesetzgeberischen Gestaltung allgemein und verbindlich zu äußern36. Immerhin hat es klargestellt, dass Privatnützigkeit und grundsätzliche Verfügungsbefugnis des Eigentümers erhalten bleiben müssen.37 Wenn für ein denkmalgeschütztes Bauwerk keinerlei sinnvolle Nutzungsmöglichkeit mehr besteht, weil die ursprüngliche Nutzung infolge geänderter Verhältnisse hinfällig wird und eine andere Nutzung, auf die der Eigentümer in zumutbarer Weise verwiesen werden kann, sich nicht mehr verwirklichen lässt, nähert sich die Rechtsposition des Betroffenen einer Lage, in der sie den Namen Eigentum nicht mehr verdient. Unter diesen Umständen ist die Pflicht zur Erhaltung unzumutbar. Dann muss entweder – je nach Bedeutung des Denkmals – eine Abrissgenehmigung erteilt oder notfalls das Grundstück enteignet werden.38 b) Regelfall: Inhalts- und Schrankenbestimmung entschädigungslos Inhalts- und Schrankenbestimmung ist an sich entschädigungslos möglich. Der übermäßige Eingriff ist rechtswidrig39, nicht ohne weiteres entschädigungspflichtig. 33

Ausführlich dazu Wendt, Art. 14 (Fn. 18), Rn. 55 ff., der die Frage auf die Formel Eigentumskonstituierung und Eigentumsbeeinträchtigung bringt und damit zwischen der Ausgestaltung und der Wirkung auf bereits bestehende Rechtspositionen unterscheidet, aber bemerken muss, dass eine Norm zugleich Inhalts- und Schrankenbestimmung sein kann. Ähnlich Rozek (Fn. 9), S. 59 ff., 80, der Inhalts-und Schrankenbestimmungen nur zeitlich für trennbar hält. Wichtig bleibt aber, dass der Eingriff in bestehende Rechte (i.S. Wendts Schrankenziehung) enger zu begrenzen ist. Wieland (Fn. 21), Rn. 92 m.w.N. weist mit Recht darauf hin, dass jede Begrenzung eines Grundrechts zugleich dessen Inhalt bestimmt. Bryde (Fn. 10), Rn. 48, meint, die Unterscheidung von Inhalt und Schranken überschätze die begriffliche Durchdringung des GG. Pleonasmen seien dort keine Ausnahme. 34 Dietlein (Fn. 12), S. 2234 f. 35 Sieckmann (Fn. 31) Rn. 24. 36 Dies verkennt auch Leisner (Fn. 30), Rn. 73 trotz seiner grundsätzlichen Kritik nicht. 37 BVerfG v. 23. 02. 2010 (Fn. 19), Nr. 39 mit Hinweis auf BVerfGE 100, 226 (240 f.) und 102, 1 (16 f.). 38 BVerfGE 100, 226 (243). In einem besondere Fall entschied BVerfG (1. K.) v. 14. 4. 2010 – 1 BvR 2140/08, NVwZ 2010, 957 anders: Der Eigentümer hatte einen für sich nicht wirtschaftlich nutzbaren Teil eines denkmalgeschützten Ensembles (eine Kapelle) in Kenntnis der Belastung erworben. 39 BVerfGE 100, 226 (241).

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Entschädigungspflichten ohne gesetzliche Grundlage für rechtmäßige Eingriffe gibt es grundsätzlich nicht mehr. Nicht nur die Junktimklausel, die formal nur für die Enteignung gilt, sondern auch der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung stehen übermäßigen Eingriffen in das Eigentum entgegen, die durch eine gesetzlich nicht vorgesehene Entschädigung „geheilt“ werden könnten40. 3. Ausgleichspflichtige Inhaltsbestimmung a) Problem der ausgleichspflichtigen Inhaltsbestimmung Obwohl die Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums an sich entschädigungslos möglich ist, sind manchmal Eingriffe erforderlich, die den Eigentümern nicht ohne Entschädigung auferlegt werden können, wenn Gleichheit der Belastungen, Vertrauensschutz und Privatnützigkeit gewahrt werden sollen. Die Qualifikation einer Maßnahme als Inhaltsbestimmung enthält – anders als nach der älteren Rechtsprechung des BGH – nicht die Feststellung, der Eingriff sei entschädigungslos zulässig.41 Primär ist allerdings nach Möglichkeiten zu suchen, die übermäßige Belastung der Eigentümer zu vermeiden. Dabei müssen auch die privaten Interessen des Eigentümers berücksichtigt werden.42 Finanzielle Ausgleichsleistungen sind nicht generell ein zulässiges Mittel, unverhältnismäßige Eigentumsbeschränkungen mit Art. 14 Abs. 1 GG in Einklang zu bringen. Nur, wo ausnahmsweise die Anwendung eines Gesetzes zu einer unzumutbaren Belastung des Eigentümers führt, können Ausgleichsleistungen zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit und zum Ausgleich gleichheitswidriger Sonderopfer in Betracht kommen.43 Das BVerfG will mit diesen Forderungen den Eigentumsschutz verstärken und ihn nicht auf ein „dulde und Liquidiere“ beschränken. Ein Gesetz, das das Eigentum unzumutbar beschränkt oder Grundlage für unzumutbare Beschränkungen sein soll, muss diesen Anforderungen genügen, anderenfalls ist es nichtig. Trotz scharfer Unterscheidung zwischen Enteignung und Inhaltsbestimmung behandelt das BVerfG die Inhaltsbestimmung, wenn sie das verfassungsrechtlich zumutbare Maß übersteigt, ähnlich wie die Enteignung. Es sagt, Art. 14 III GG sei bei Inhaltsbestimmungen anzuwenden, auch wenn eine Inhaltsbestimmung nicht in eine Enteignung umgedeutet werden könne.44 40

Lege, 30 Jahre (Fn 5), S. 1087 f. Darauf weist Arnulf Schmitt-Kammler, Das „Sonderopfer“ – ein lebender Leichnam im Staatshaftungsrecht, NJW 1990, S. 2515 (2517) mit Recht hin. 42 BVerfGE 100, 226 (242); Hans-Jürgen Papier, Die Weiterentwicklung der Rechtsprechung zur Eigentumsgarantie des Art 14 GG, DVBl 2000, S. 1398 (1404) weist darauf hin, dass im rheinland-pfälzischen Denkmalschutzgesetz die Berücksichtigung der privaten Belange des Eigentümers nach dem eindeutigen Wortlaut des Gesetzes im Gegensatz zu Denkmalschutzgesetzen anderer Länder nicht möglich gewesen sei. 43 BVerfGE 100, 225 (244 f.); BVerfG (3. K.) v. 23. 02. 2010 (Fn. 19), Nr. 41 f. 44 BVerfG v. 23. 02. 2010 (Fn. 19), Nr. 44 unter Berufung auf BVerfGE 83, 201 (212 f.), wo es heißt, dass, selbst wenn Art. 14 Abs. 3 GG nicht unmittelbar eingreife, das darin zum 41

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b) Abgrenzung der entschädigungspflichtigen Inhaltsbestimmung aa) Materielle Abgrenzung ausgleichspflichtiger Maßnahmen Eine ausgleichspflichtige Inhaltsbestimmung liegt dann vor, wenn eine Eigentumsregelung in besonderen Konstellationen unverhältnismäßig belastet45. Im Einzelnen differenziert das BVerfG nach Lage des Einzelfalles, dem sozialen Bezug der konkreten Eigentumsposition, dem Bezug zur Allgemeinheit, dem Erwerb durch eigene Leistung, der persönlichen Bedeutung des jeweiligen Gegenstandes für den Eigentümer, insbesondere für seine Freiheitsicherung. Dabei werden für die Schutzwürdigkeit des Eigentums ähnliche Gesichtspunkte relevant46 wie für die Bestimmung der Entschädigung im Falle einer Enteignung oder einer ausgleichspflichtigen Inhaltsbestimmung. „Es ist dem Gesetzgeber grundsätzlich nicht verwehrt, eigentumsbeschränkende Maßnahmen, die er im öffentlichen Interesse für geboten hält, auch in Härtefällen durchzusetzen, wenn er durch kompensatorische Vorkehrungen unverhältnismäßige oder gleichheitswidrige Belastungen des Eigentümers vermeidet und schutzwürdigem Vertrauen angemessen Rechnung trägt. Durch einen solchen Ausgleich kann in bestimmten Fallgruppen die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer sonst unverhältnismäßigen oder gleichheitswidrigen Inhalts- und Schrankenbestimmung im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG herbeigeführt werden“.47 Für die Abgrenzung der entschädigungslos zulässigen Inhalts- und Schrankenbestimmung von ausgleichspflichtigen Maßnahmen ist – anders als für die Abgrenzung von Enteignung und Inhalts- und Schrankenbestimmung – die frühere Rechtsprechung noch von Interesse48. Der BGH stellte primär auf die ungleiche Belastung Ausdruck kommende Gewicht des Eigentums bei der vorzunehmenden Abwägung zu beachten sei; ebenso BVerfG (1. K.) v. 10. 10. 1997 – 1 BvR 310/84, NJW 1998, 367 (368, Nr. 31). Wendt, Art. 14 (Fn. 18), Rn. 157, meint, solche Formulierungen müssten Zweifel an der zugrundeliegenden Systematik der eigentumsrelevanten Regelungen wach halten. 45 Definition in Anlehnung an Uwe Kischel, Entschädigungsansprüche für Eigentumsbeeinträchtigungen, VerwArch 2006, S. 450 (452). 46 Dazu im Einzelnen zum Teil mit Recht kritisch Wendt, Art. 14 (Fn. 18), Rn. 89 ff.; Rozek (Fn. 9), 260 ff., der sich dagegen wendet, die alten Schwellentheorien anzuwenden. 47 BVerfG v. 23. 02. 2010 (Fn. 19), Nr. 41 mit Hinweis auf BVerfGE 100, 226 (244) unter Bezugnahme auf BVerfGE 58, 137 (149 f.); 79, 174 (192). 48 Papier, Art. 14 (Fn. 10), Rn. 362 ff.; Otto Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, 6. Aufl. 2010, Art. 14, Rn. 248 mit ausführlicher Darstellung der alten Abgrenzungstheorien in Rn. 253 ff.; Axer, Art. 14 (Fn. 18), Rn. 104; Heinz Joachim Bonk, in: Sachs, 6. Aufl. 2011, Art. 34 Rn. 36; BVerfGE 100, 226 (242); Uwe Kischel, Wann ist die Inhaltsbestimmung ausgleichspflichtig? JZ 2003, 605 ff. (mit Kritik im Einzelnen); abw. Osterloh (Fn. 17), Rn 138, die darauf hinweist, dass bei ausgleichspflichtiger Inhaltsbestimmung nur ein Entschädigungsregelungsgebot, keine unmittelbare Ausgleichspflicht bestehe. Bei Wendt, Art. 14 (Fn. 18), Rn. 150, ist dagegen von der Unterscheidung von Enteignung und nicht entschädigungspflichtigen Beschränkungen die Rede. Das ist mit der neueren Rspr. des BVerfG kaum vereinbar und beruht auf dem grundsätzlichen Bedenken Wendts, die Probleme in Art. 14 Abs. 1 zu verlagern.

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ab („Der Verstoß gegen den Gleichheitssatz kennzeichnet die Enteignung“)49, während das BVerwG mehr die Schwere des Eingriffs50 berücksichtigte. Beide Kriterien behalten mutatis mutandis Bedeutung. bb) Gesetzliche Regelung (1) Abgrenzung als Aufgabe des Gesetzgebers Die Abgrenzung von entschädigungsloser (Regelfall) und ausnahmsweise ausgleichspflichtiger Inhaltsbestimmung ist Aufgabe des Gesetzgebers. Salvatorische Klauseln, die alles offen lassen, sind unzulässig. Sie hatten nach der früheren Rechtsprechung des BGH Sinn, weil Entschädigung ohne besondere gesetzliche Grundlage gewährt wurde und nur gefragt werden musste, ob eine Enteignung nach früherem Verständnis vorlag. Die Rechtsprechung von BGH51 und BVerwG52 hat zwar die früheren salvatorischen Klauseln noch für eine Übergangszeit toleriert und auf Inhaltsbestimmungen angewendet, das BVerfG hat sich jedoch klar gegen ihre Fortgeltung ausgesprochen53. Idealiter sind entschädigungspflichtige Maßnahmen im Gesetz so zu umschreiben, dass keine Zweifel auftreten. Da das nicht möglich ist, stellt sich die Frage nach Abgrenzungsformeln, und zwar, um die Nichtigkeit einer Norm zu erkennen, welche unzumutbare Eingriffe vorschreibt, ohne Entschädigung vorzusehen, die Grenzen möglicher Eingriffe aufgrund von generell zulässigen Gesetzen zu bestimmen oder um Gesetze, welche für Ausnahmefälle Entschädigungen vorsehen, richtig auszulegen. Generalklauseln sind nicht vermeidbar und nicht unzulässig, auch wenn sie entschädigungspflichtige Maßnahmen nur sehr allgemein umschreiben.54 Die Vorschriften über die Planfeststellung nach dem VwVfG hat das BVerfG jedenfalls nicht beanstandet. Es sah in § 74 Abs. 2. S. 3 VwVfG im Gegensatz zum BVerwG55 eine Grundlage nicht nur für freiwillige Entschädigungen innerhalb der Zumutbarkeitsgrenze, sondern auch für unzumutbare Beeinträchtigungen.56 Diese sehr allgemeine Vorschrift geht freilich nicht über das hinaus, was nach der älteren Rechtsprechung des BGH zur Abgrenzung der Enteignung erarbeitet worden war. Bezeichnen49

Grundlegend BGHZ 6, 270 (280). Schweretheorie grundlegend BVerwGE 5, 143 (145). 51 Umdeutung alter Entschädigungsregelungen noch in BGH 3. 6. 2004, NuR 2004, 755 (756). 52 BVerwGE 84, 361 (368 f.). 53 BVerfGE 100, 226 (246). 54 Depenheuer, Art. 14 (Fn. 48), Rn. 248. In diesem Sinne auch BVerwGE 94, 1 (10). 55 BVerwGE 84, 361 (368); BVerwG v. 16. 3. 2006, BVerwGE 125, 116 Nr. 412 f.; auch BVerwG 02. 07. 2008, NVwZ 2008, 1113 (Flughafen Berlin), Nr. 21. 56 BVerfG v. 23. 02. 2010 (Fn. 19), Nr. 53. In diesem Sinne schon früher Kischel, Entschädigungsansprüche (Fn. 45), S. 459 f. 50

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derweise verweist das BVerfG zur Abgrenzung dessen, was einem Eigentümer zumutbar ist, auf diese ältere Rechtsprechung.57 Die neuen Vorschriften in §§ 30 und 31 des Denkmalschutzgesetzes von Rheinland-Pfalz bringen zur Abgrenzung der entschädigungspflichtigen Eigentumsbeschränkung gegenüber der alten Fassung keinen Fortschritt. Die verfahrensrechtliche Stellung des Bürgers ist aber gestärkt. Über die Entschädigung ist zusammen mit der eingreifenden Maßnahme zu entscheiden – ggf. auch negativ. Andere vorrangige, aber nicht näher beschriebene Ausgleichsmaßnahmen sind vorgesehen. Notfalls kann nach § 30 enteignet werden. Der Gesetzgeber war mit Recht der Ansicht, dass es dem BVerfG nicht, jedenfalls nicht in erster Linie um eine genauere inhaltliche Bestimmung der ausgleichspflichtigen Eingriffe, sondern mehr um die Art und Weise des Ausgleichs geht. In dieser Frage ist der Gesetzgeber von Rheinland Pfalz mit der Neufassung des § 31 DMSchG dem BVerfG gefolgt. Das BVerfG hatte die früheren Regelungen des rheinland-pfälzischen Denkmalschutzgesetzes nicht primär wegen der Entschädigungsregelung oder wegen mangelnder Definition des ausgleichspflichtigen Tatbestandes beanstandet, sondern deswegen, weil Vorkehrungen zum Schutz des Eigentums fehlten, die gegenüber einer Entschädigung in Geld vorrangig sind.58 (2) Vorrang von eingriffsmildernden Maßnahmen Das BVerfG betont den Vorrang von Maßnahmen, welche den Eingriff abmildern können. Ein Gesetz, das Inhalts- und Schrankenbestimmungen enthält und Eingriffe ermöglicht, die über das Zumutbare hinausgehen, muss zunächst Vorkehrungen treffen, um unzumutbare Belastungen zu vermeiden. Als Instrumente stehen dem Gesetzgeber hierfür Übergangsregelungen, Ausnahme- und Befreiungsvorschriften sowie der Einsatz sonstiger administrativer und technischer Vorkehrungen zur Verfügung59. Das BVerfG rechnet offensichtlich damit, dass manche öffentliche Zwecke zugunsten des Privateigentums zurückgestellt werden, anderenfalls wäre der Hinweis auf Befreiungen nicht verständlich. So können Denkmalschutz oder Naturschutz aufgrund von Befreiungsvorschriften zurückgesetzt werden, wenn die öffentlichen Belange im Einzelfall nicht entscheidend überwiegen. Übergangsvorschriften können jedenfalls bereits getätigte Investitionen schützen. (3) Gesetzliche Regelung der Entschädigung Nur für Fälle, in denen die unzumutbare Belastung nicht zu vermeiden ist, ist Entschädigung vorzusehen. Die Entschädigung muss im Gesetz geregelt sein, sie muss

57 BVerfGE 100, 226 (242); ähnlich BVerwGE 94, 1 (10 f.); zust. Depenheuer, Art. 14 (Fn. 48), Rn. 248. 58 BVerfGE 100, 226 (245 f.); dazu Papier, Weiterentwicklung (Fn. 42), S. 1406 f. 59 BVerfGE 100, 226 (245).

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mit dem Eingriff in das Eigentum zumindest dem Grunde nach festgestellt werden (können)60. Übermäßige Belastungen, die durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes auferlegt werden, sind nicht unter die Zufallsschäden zu rechnen, für die der enteignende Eingriff aufrechterhalten wird. Hat das Gesetz unzumutbare Auswirkungen auf Einzelne oder sieht es Maßnahmen vor, die sich als unzumutbar erweisen, gibt es ohne gesetzliche Vorschrift keine Entschädigung61. Vielmehr ist entweder das Gesetz insgesamt oder teilweise62 verfassungswidrig oder es muss verfassungskonform so ausgelegt werden, dass unzumutbare Auswirkungen vermieden werden. In jedem Fall ist ein unzumutbare Belastungen auferlegender Verwaltungsakt rechtswidrig, wenn keine Entschädigung bewilligt wird. Mit der Zulassung von Generalklauseln lässt sich in aller Regel das Problem der Situationen lösen, die der Gesetzgeber nicht vorhersehen kann. Des Rückgriffs auf den enteignenden Eingriff bedarf es nicht63. Sollte in einem Einzelfall ein Eingriff aufgrund eines an sich gültigen Gesetzes unzumutbare Folgen haben, ohne dass er vor einer Ausgleichsregelung erfasst werden kann, ist er rechtswidrig und auf Verlangen des Bürgers aufzuheben. Den Ausweg weist die Pflichtexemplarentscheidung des BVerfG64: Die Ablieferungspflicht ist an sich nicht verfassungswidrig, sie darf aber nicht durchgesetzt werden, wenn ihre Wirkung auf wertvolle in geringer Auflage erscheinende Werke unzumutbar ist. Der Gesetzgeber hat dann die Möglichkeit, mit einer Entschädigungsvorschrift nachzubessern. Möglich und nicht selten sind Vorschriften, welche schon oberhalb der Grenze des nach Art. 14 GG Zulässigen zum Schutze der betroffenen Eigentümer Ausgleichsmaßnahmen und auch Entschädigungen vorsehen65. cc) Einheitliches Verfahren Der Bürger darf nicht in zwei Verfahren getrieben werden. Mit dem Eingriff muss die Entschädigung jedenfalls dem Grunde nach geregelt werden66. Dies gilt aber strikt nur bei Eingriff durch Verwaltungsakt. Nur bei Aktualisierung einer Eigen60 BVerfGE 100, 226 (245 f.); § 57 II 2 (jetzt 76 II 2) TKG kommt nach Ansicht des BVerfG eine Ausgleichsfunktion für die Inhalts- und Schrankenbestimmung des § 57 Abs. 1 Nr. 1 TKG a.F. zu, BVerfG (3. K.) v. 20. 01. 2005 – 1 BvR 290/01, WM 2005, 855 = NJW-RR 2005, 741 f. 61 So sehr deutlich mit Hinweis auf BVerfGE 58, 300 (320) und 100, 226 (241) BGHZ 186, 136 (142, unter Nr. 21); gebilligt von BVerfG (1. K.) v. 15. 9. 2011 – 1 BvR 2232/10, NVwZ 2012, 429; dazu zust. Stefan Muckel, Eigentumsgarantie: Ausgleichspflichtige Inhalts- und Schrankenbestimmung, JA 2012, S. 314 ff. 62 So BVerfGE 58, 137 (148 ff., bes. 152). 63 Insoweit anders Kischel, Entschädigungsansprüche (Fn. 45), S. 478. 64 BVerfGE 58, 137. 65 Beispiel: BVerfGE 79, 174 (199 ff.) zur Straßenplanung. 66 BVerfGE 100, 226 (246).

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tumsbeschränkung durch Verwaltungsakt „muss der Betroffene einen ihn in seinem Grundrecht aus Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG beeinträchtigenden Verwaltungsakt, den er für unverhältnismäßig hält, anfechten. Lässt er ihn hingegen bestandskräftig werden, so kann er eine Entschädigung auch als Ausgleich im Rahmen von Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG nicht mehr einfordern. Er muss demnach entscheiden, ob er den die Eigentumsbeschränkung aktualisierenden Eingriffsakt hinnehmen oder innerhalb der gesetzlichen Frist anfechten will. Diese Entscheidung kann der Betroffene nur sinnvoll treffen, wenn er weiß, ob ihm ein Ausgleich zusteht. Ihm ist es nicht zuzumuten, einen Verwaltungsakt in der unsicheren Erwartung eines nachträglich in einem anderen Verfahren zu bewilligenden Ausgleichs bestandskräftig werden zu lassen“.67 Wird eine Duldungspflicht schon unmittelbar durch Gesetz auferlegt, gilt das nicht, denn dem Bürger droht dann nicht, dass seinem Entschädigungsverlangen die Bestandskraft eines Verwaltungsakts entgegengehalten wird. Der Grundstückseigentümer, der nach § 57 Abs. 1 Nr. 1 TKG (jetzt § 76 Abs. 1 TKG n.F.) die Verlegung der Telekommunikationsleitungen dulden muss, weiß, „dass ihm ein Ausgleichsanspruch unter den Voraussetzungen des § 57 Abs. 2 Satz 2 TKG zusteht. Ihm ist zudem die Möglichkeit eröffnet, seinen materiell-rechtlichen Ausgleichsanspruch vor den Zivilgerichten geltend zu machen, ohne dass eine entschädigungslos bleibende Duldungspflicht mit einem in Bestandskraft erwachsenden Verwaltungsakt festgesetzt werden könnte.“68 Belastung und Ungewissheit wegen einer nur mit Generalklauseln umschriebenen Entschädigungspflicht werden für den Bürger dadurch erheblich abgemildert. Das BVerfG verlangt also für die Ausgleichspflicht bei unzumutbarer Inhaltsbestimmung im Grunde ähnliche Regelungen wie sie für die Enteignung gelten, immer aber unter der Voraussetzung, dass Ausgleichspflicht bei Inhalts- und Schrankenbestimmung die Ausnahme ist. Ein Gesetz muss die Eingriffsmaßnahme regeln, ausgleichspflichtige Maßnahmen kennzeichnen und zugleich die Entschädigungspflicht regeln. c) Art und Höhe der Entschädigung aa) Geldentschädigung Grundsätzlich wird wie bei Enteignung Entschädigung in Geld geleistet. Für die Bemessung der Entschädigung bei Enteignungen im technischen Sinn ist im Grundgesetz Art. 14 Abs. 3 S. 3 eine allgemeine Regel vorgegeben. Wenn das BVerfG die ausgleichspflichtige Inhaltsbestimmung der Enteignung annähert und sie auf der Rechtsfolgenseite wie eine Enteignung behandelt69, muss die Höhe der Entschädigung der Enteignungsentschädigung entsprechen70. 67

BVerfGE 100, 226 (246). BVerfG v. 26. 08. 2002 (Fn. 10), Nr. 33. 69 So die zutreffende Formulierung von Siegfried de Witt in seiner Anm. zu BVerwGE 125, 116, in DVBl 2010, 661 (662). 68

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Das BVerfG rekurriert deshalb auf seine bislang allerdings spärliche Rechtsprechung zur Enteignungsentschädigung und entwickelt sie fort. Senatsentscheidungen71 sind selten. Immer hat das BVerfG betont, das Abwägungsgebot des Art. 14 Abs. 3 S. 3 GG ermögliche dem Gesetzgeber und zwinge ihn unter Umständen auch, auf situationsbedingte Besonderheiten des Sachverhalts und der Zeitumstände Rücksicht zu nehmen. Eine starre allein am Marktwert orientierte Entschädigung sei dem Grundgesetz fremd.72 Grundlegend ist für das BVerfG die Unterscheidung zwischen Enteignung zugunsten der Allgemeinheit und der zugunsten Privater. Bei Enteignung zugunsten Privater oder Eigentumsbeschränkungen zu ihren Gunsten ist grundsätzlich ein voller Ausgleich erforderlich.73 Wird dagegen zugunsten der Allgemeinheit enteignet74 oder das Eigentum unzumutbar belastet75, kommt auch eine niedrigere Entschädigung in Frage. Bei ausgleichspflichtiger Inhaltsbestimmung darf die entschädigungslos zulässige Sozialbindung bei der Bemessung berücksichtigt werden, so dass nur die Differenz zwischen der Grenze der entschädigungslos zulässigen Belastung und der zusätzlichen nicht zumutbaren Belastung zu erstatten ist76. Im Enteignungsrecht relevante Vorwirkungen sind zu berücksichtigen.77 Außerdem soll es darauf ankommen, ob das betroffene Eigentum auf eigener Leistung beruht und wie schwer die Belastung für den Betroffenen wiegt.78 Damit werden auch subjektive Gründe, die beim Betroffenen liegen, für die Bemessung der Entschädigung wichtig79. Das ist jedenfalls dann zu rechtfertigen, wenn Werterhöhungen unabhängig vom Zutun des Eigentümers erreicht wurden, z. B. durch Bauleitplanung.80 70

So zutr. de Witt (wie vorst. Fn. 69). BVerfGE 24, 367 (421); 46, 268 (284); 100, 298 (303). 72 So BVerfGE 24, 367 (421); 46, 268 (284 f.). 73 BVerfGE 100, 289 (303): (Ausschluss von Minderheitsaktionären); BVerfG v. 20. 01. 2005 (Fn. 60), Nr. 13 (Marktwert bei ausgleichspflichtigen Inhalts- und Schrankenbestimmungen zugunsten Privater, hier für Telekommunikation). 74 BVerfGE 24, 367 (421). 75 BVerfG v. 23. 02. 2010 (Fn. 19), Nr. 43 (Möglichkeit einer niedrigeren Entschädigung wegen der Gemeinwohlbedeutung eines Flughafens; auch schon BVerfG v. 20. 01. 2005 (Fn. 60), Nr. 13. 76 So für Eigentumsbeeinträchtigungen schon BGHZ 78, 41 (26); 92, 34; deutlich BVerfG v. 23. 02. 2010 (Fn. 19), Nr. 49: „Dabei mag zwar – je nach den Umständen des Einzelfalls – ein gewisser Grundstückswertverlust aufgrund des geplanten Flughafens als Ausdruck der Sozialbindung des Eigentums hinzunehmen sein.“ Papier, Art. 14 (Fn. 10), Rn. 621; Wieland (Fn. 21), Rn. 135; Dietlein (Fn. 12), S. 2256 (nur „Behebung unverhältnismäßiger oder ungleicher Belastungen. Dazu krit. Depenheuer, Art. 14 (Fn. 48), Rn. 449. 77 BVerfG v. 23. 02. 2010 (Fn. 19), Nr. 54 auch für einen Entschädigungsanspruch aus § 74 Abs. 2 Satz 3 VwVfGBbg 2004. 78 BVerfG v. 23. 02. 2010 (Fn. 19), Nr. 43 hatte zwar im konkreten Fall (Flughafen) die Möglichkeit geringerer Entschädigung prinzipiell bejaht, aber wegen der schweren Belastung des Eigentümers in Nr. 49 ff. die vom BVerwG zugebilligte Entschädigung als zu gering beanstandet. 79 Dagegen Depenheuer, Art. 14 (Fn. 48), Rn. 447; eher zustimmend Papier, Art. 14 (Fn. 10), Rn. 61. 71

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Insgesamt gibt es danach eine Fülle relevanter Gesichtspunkte für eine umfassende Abwägung, die den Grundsatz der Gleichbehandlung der Betroffenen nicht vernachlässigen darf. Das konkrete Ergebnis im Einzelfall ist kaum zu prognostizieren, selbst wenn als Ausgangspunkt jeweils der – an sich schon schwer festzustellende – Marktwert81 zugrunde gelegt wird. Jedenfalls darf nicht ein Sozialbindungsabzug mit einem Abschlag zugunsten der Gemeinwohlnützlichkeit eines Vorhabens kombiniert werden. Beide Gesichtspunkte beruhen auf demselben Grundgedanken. bb) Übernahmeanspruch Wird das Behalten eines Grundstücks unzumutbar, besteht ein Recht des betroffenen Bürgers, sein Grundstück anzudienen und Entschädigung nach Enteignungsgrundsätzen zu verlangen. Einen solchen Übernahmeanspruch (auch Anspruch auf Absiedlung genannt) hat das BVerwG – eine Regelung findet sich in § 40 Abs. 2 S. 1 BauGB82 – ohne besondere gesetzliche Grundlage83 schon zu Zeiten der älteren Rechtsprechung mit ihrem weiten Enteignungsbegriff entwickelt und seither ohne neuerliche Reflektion übernommen84. Das BVerfG ist dem gefolgt und nimmt einen Anspruch auf finanziellen Ausgleich oder einen Übernahmeanspruch an, wenn trotz technischer Vorkehrungen eine unzumutbare Belastung nicht vermeidbar ist.85

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Darauf weist Wieland (Fn. 21), Rn. 134 hin. So BVerfG v. 23. 02. 2010 (Fn. 19), Nr. 43: „Der Höhe nach orientiert sich die Ausgleichsleistung grundsätzlich am Wert des abverlangten Guts.“ Der volle Wertersatz zum Markt- oder Verkehrswert ist i. d. R. richtig, Axer, Art. 14 (Fn. 18), Rn. 129. 82 Der BGH hat diesen Übernahmeanspruch stets als Entschädigungsanspruch besonderer Art bezeichnet, so BGHZ 186, 136 (147, Nr. 33. m.w.N.). Der Übernahmeanspruch findet sich auch in anderen Gesetzen; dazu Hildegard Falter/Andreas Rietzler, Übernahmeansprüche im Naturschutz- und Fachplanungsrecht als Ausprägerung ausgleichspflichtiger Inhalts und Schrankenbestimmungen, DÖV 2012, S. 308 ff.; zu § 31 DSchGNRW Andreas Zetsche, Der Übernahmeanspruch nach § 31 DSchG NRW als letzter Ausweg aus einer Lage fehlender Privatnützigkeit des Denkmaleigentums, NWVBl. 2014, S. 92 ff. 83 Darauf weist de Witt (Fn. 69) in seiner Anm. zu BVerwGE 125, 116, in DVBl 2010, 661 (662) mit Recht hin. Der Anspruch auf Entschädigung in Geld wird für ausreichend erachtet, Falter/Rietzler, (Fn. 82), S. 312. 84 BVerwGE 56, 110 (133 f.), mit Berufung auf BVerwGE 48, 56 (69); dort hatte das BVerwG in einem Fall, auf den die Entschädigungsvorschrift des § 17 IV 2 FStrG 1974 noch nicht anwendbar war, auf die Möglichkeit hingewiesen, das belastete Grundstück für die Planung selbst in Anspruch zu nehmen und nach Maßgabe des Landesrechts zu enteignen; BVerwGE 61, 295 (305 f.) gewährt einen Übernahmeanspruch bei enteignender Wirkung; BVerwG E 75, 214 (259 f.) folgt dem und fügt hinzu, dass sich der Anspruch auf Absiedlung auch aus allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätzen ergeben könne, hierzu Verweis auf BVerwGE 56, 110 (113); aus der neueren Rspr.: Bei Überschreitung der verfassungsrechtlichen Zumutbarkeitsgrenze (Gesundheitsgefährdung) Übernahmeanspruch BVerwGE 125, 116 (249, Nr. 376); dem folgend BVerfG (3. K.) v. 29. 07. 2009 – 1 BvR 1606/08, NVwZ 2009, 1494 (1496); BVerwG v. 07. 05. 2008 – 4 A 1009/07, NVwZ 2008, 1007 (1009, Nr. 22). 85 BVerfGE 100, 226 (245 f.); BVerfG 23. 02. 2010, (Fn. 19), Nr. 42. 81

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Für die Übernahme gelten enteignungsrechtliche Grundsätze, alles bleibt aber im Rahmen der Inhalts- und Schrankenbestimmung86. Es ist nach Ansicht des BVerfG entgegen der Auffassung des BVerwG87 nicht ausgeschlossen, die Grundsätze der Vorwirkung der Enteignung bei der Bestimmung der Entschädigung anzuwenden. „Bei der Anwendung der Grundsätze der enteignungsrechtlichen Vorwirkung auf die Ermittlung der Entschädigungshöhe nach § 74 Abs. 2 Satz 3 VwVfGBbg 2004 bliebe der Anspruch ein Kompensationsanspruch für eine Inhalts- und Schrankenbestimmung im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG. Daher könnte auch in diesem Fall in Übereinstimmung mit Art. 14 Abs. 1 GG die aufgrund der Sozialbindung zumutbare Belastung aufgrund einer entsprechenden Regelung im Planfeststellungsbeschluss in Abzug gebracht werden.“88 Der Betroffene erhält also jedenfalls weniger als den vollen Marktwert, wie er sich ohne die Maßnahme gebildet hätte; denn ihm wird ein Sozialbindungsabschlag abgezogen. Dies soll daraus folgen, dass der Anspruch ein Kompensationsanspruch für eine Inhalts- und Schrankenbestimmung ist. Ob das ganz durchdacht ist, ist zu bezweifeln. Warum soll derjenige, der sein Grundstück nicht mehr nutzen kann und der deshalb einen „Absiedlungsanspruch“ hat, bei der Übernahme weniger erhalten als derjenige, dessen Grundstück im unmittelbar benötigten Flughafenbereich liegt und der deshalb ein reguläres Enteignungsverfahren hinnehmen muss. III. Folgen der Neuorientierung für den Eigentumsschutz Die Folgen der Neurorientierung seit BVerfGE 58, 300 waren für die juristische Dogmatik umwälzend. Der Eigentumsschutz wurde aber entgegen manchen Befürchtungen nicht grundlegend verschlechtert. In der entscheidenden Frage, welche Eingriffe in das Eigentum entschädigungslos hinzunehmen sind und welche übermäßig, daher rechtswidrig und allenfalls gegen Entschädigung zulässig sind, hat sich materiell wenig geändert89. Auch zur Höhe der Entschädigung wurden im Grunde alte Ansätze fortgeführt. Mit Recht hat das BVerfG die Behandlung der ausgleichspflichtigen Inhaltsbestimmung trotz sorgfältiger Unterscheidung der Behandlung der Enteignung sehr angenähert. Viele Konsequenzen aus der neuen Rechtsprechung sind geeignet, den Eigentumsschutz zu stärken. Die Vermeidung oder Abmilderung des Eingriffs hat Vorrang vor Entschädigung. Eine Ausgleichspflicht muss (bei Administrativmaßnahmen) zugleich mit dem Eingriff jedenfalls dem Grunde nach festgestellt werden. Ist eine ver86

BVerfG v. 23. 02. 2010 (Fn. 19), Nr. 44. BVerwG 02. 07. 2008 NVwZ 2008, 1113 (Berliner Flughafen), Nr. 23. 88 BVerfG v. 23. 02. 2010 (Fn. 19), Nr. 54, zum Sozialbindungsabschlag auch Nr. 49 f. 89 Papier, Weiterentwicklung (Fn. 42), S. 1401, meint mit Recht, die Inhalts- und Schrankenbestimmung habe eine erhebliche begriffliche Erweiterung erfahren, daraus folge aber nicht, dass die entschädigungsfreien Zugriffsmöglichkeiten auf das Eigentum des Bürgers in der Sache eine Erweiterung erfahren hätten. 87

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fassungsrechtlich erforderliche Entschädigung nicht vorgesehen, ist der Eingriffsakt rechtswidrig. Der diffuse enteignungsgleiche bzw. enteignende Eingriff ist überwunden, eine ausgleichspflichtige Inhaltsbestimmung bedarf gesetzlicher Regelung, und zwar sowohl für die Grundlage des Eingriffs – das galt schon immer – wie auch für Ausgleichsmaßnahmen oder eine etwaige Entschädigung. Richtig ist allerdings, dass der Eigentumsschutz von Abwägungen abhängig ist90. Das sollte aber nicht überbewertet werden: Schon die Rechtsprechung des BGH zur Abgrenzung der Enteignung (im damaligen weiten Sinne) war von vielen Wertungen abhängig, außerdem sind von der Ausbreitung der Abwägung nicht nur das Grundrecht des Eigentums, sondern nahezu alle Grundrechte betroffen. Eine schmerzliche Lücke des nach wie vor recht perfekten Eigentumsschutzes in Deutschland wird wahrscheinlich in einer überschaubaren Zukunft nicht geschlossen werden: Das Geldeigentum ist – wie im Grunde schon immer in der Geschichte91 – an der entscheidenden Stelle schutzlos. Zwar stehen Geld und Geldforderungen unter der Eigentumsgarantie, der Geldentwertung ist der Bürger jedoch wehrlos ausgeliefert. Ihm steht kein Verfahren zur Verfügung, mit dem er sich gegen die Minderung des Geldwertes wehren könnte und auch ein subjektives Recht auf Geldwertstabilität wird weit überwiegend abgelehnt92. Mit steuerlichen Entlastungen mit Rücksicht auf die Inflation ist nicht zu rechnen. Das Nominalprinzip wird hochgehalten93, obwohl die Inflation bis zu angeblich rechtmäßigen 2 %94 inzwischen zu den erklärten Zielen der EZB gehört95. 2 % Inflation in einem Jahr mögen unbedeutend sein. Wiederholen 90

Sieckmann (Fn. 31) Rn. 9. Christoph Herrmann, Währungshoheit, Währungsverfassung und subjektive Rechte, 2010, S. 331: „Die Geldgeschichte ist eine Geschichte der Geldentwertungen.“ 92 Wendt, Art. 14 (Fn. 18), Rn. 40. Ausführlich dazu Herrmann (Fn. 91), S. 231 ff.; Jörn Axel Kämmerer, Preisstabilität und Grundrechtsschutz, in: Der grundrechtsgeprägte Verfassungsstaat, FS Klaus Stern 2012, S. 1419 ff. 93 BVerfGE 50, 57: Zinsbesteuerung; BVerfGE 97, 350 (371): zur Europäische Währungsunion, bezeichnet den Geldwert als in besonderer Weise gemeinschaftsbezogen und gemeinschaftsabhängig, er sei nicht grundrechtlich zu garantieren; BVerfGE 129, 124 (174) bestätigt diese Aussage mit einem Vorbehalt für Grenzfälle einer evidenten Minderung des Geldwertes durch Maßnahmen der öffentlichen Gewalt; BVerfGE 127, 1 (31): Spekulationssteuer bei Grundstücken, hält am Nominalwertprinzip fest. 94 Herrmann (Fn. 91), S. 332 f., 352; Kämmerer (Fn. 92), S. 1431. 95 Klar in diesem Sinne die Ausführungen des Präsidenten der EZB Mario Draghi, in: „Introductory statement to the press conference“ vom 4. 12. 2014 (veröffentlicht von der EZB im Internet: home>press>press conferences>2014) und die Grundsatzrede Draghis vom 21. 11. 2014 zur Eröffnung des Europäischen Bankenkongresses „Geldpolitik im Euroraum“ (home>press>speeches>2014). Selbst Inflationserwartungen werden jetzt positiv bewertet und angestrebt. – Es ist zu fragen, ob jetzt, da die Inflation eindeutig zu den Zielen der EU gehört, der Vorbehalt Beachtung verdiente, den Papier, Art. 14 (Fn. 10), Rn. 193, für die staatsverursachte Inflation hinsichtlich der Zinsbesteuerung macht; neue Fragestellungen dieser Art sieht auch Udo Di Fabio, Grenzfälle des Eigentums, FS Papier (Fn. 7), S. 503 (508 ff.). 91

Entwicklung des Eigentumsschutzes in Deutschland seit BVerfGE 58, 300

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sie sich jedes Jahr (vielleicht mit Schwankungen nach oben oder unten), bringen sie in 25 Jahren einen Anstieg der Preise um fast zwei Drittel. Anlagen in nominellen Geldwerten werden – wie zumeist, jedenfalls bei höherer Steuerprogression, schon zu Zeiten der DM – auch künftig selbst nach der derzeitigen Niedrigzinsphase bei einer materiellen Betrachtung ertraglos bleiben oder mit der Zeit ihren Wert verlieren. Jeder Wertverlust des Geldes muss als endgültig angesehen werden. Ein allgemeiner Preisrückgang, der frühere inflationäre Entwicklungen korrigierte, wird als volkswirtschaftlich sehr bedenklich angesehen und (nicht zuletzt von der Notenbank) mit allen Mitteln bekämpft.96 Die heute weltweit übliche manipulierte Papierwährung bietet dazu alle Möglichkeiten und setzt der Geldvermehrung keine technischen Grenzen97. Mit diesen sozialpolitisch bedenklichen Tatsachen muss die Bevölkerung auf Dauer zurechtkommen. Der wohlfeile Rat, in Sachwerte (Immobilien, Aktien) zu flüchten, geht an den Interessen vieler vorbei, insbesondere an denen der Kleinsparer. Für sie bleibt die Eigentumsgarantie des Grundgesetzes trotz der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das immer das kleine und persönliche Eigentum besonders schützen will, weitestgehend leere Verheißung.

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Dazu zutreffend Herrmann (Fn. 91), S. 336, 348. Die Goldwährung, deren Wert vom Wert eines Sachguts abhängt, hat sich – auch abgesehen von Münzverschlechterungen – in der Geschichte nicht als uneingeschränkt stabil erwiesen, es gab jedoch trotz einer Tendenz zur Wertminderung auch Perioden des Preisverfalls (mit meist unerwünschten schmerzlichen Folgen). 97

Gesetzliche Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums Von Michael Sachs, Köln I. Einleitung Rudolf Wendt hat im Zusammenhang der Grundrechte der Eigentumsgarantie besondere Aufmerksamkeit geschenkt, zumal in seiner Kölner Habilitationsschrift1 und darauf aufbauend mit seiner seit 19962 in inzwischen sieben Auflagen fortgeführten Kommentierung des Art. 14 GG.3 Zum hier thematisierten Problemfeld ist der Jubilar von Anfang an der damals von ihm im Schrifttum noch „[i]n der Regel“ festgestellten Neigung, im Rahmen des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG „eine Unterscheidung zwischen der Bestimmung des ,Inhalts‘ des Eigentums einerseits und derjenigen der ,Schranken‘ andererseits“ ausdrücklich oder doch der Sache nach zu verwerfen, entgegengetreten4 und kann inzwischen konstatieren, dass die Möglichkeit der Trennung „[i]n der neueren Literatur […] zunehmend bejaht“ wird.5 In der zumal bundesverfassungsgerichtlichen Judikatur wird allerdings bis heute überwiegend6 die Vorstellung einer einheitlich zu beurteilenden „Inhalts- und 1

Rudolf Wendt, Eigentum und Gesetzgebung, 1985. Rudolf Wendt, Art. 14, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 1996. 3 Zuletzt Rudolf Wendt, Art. 14, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 7. Aufl. 2014. 4 Wendt (o. Fn. 1), S. 144 ff., mit Nachw. zum seinerzeitigen Meinungsstand ebda., insbes. S. 145 f., 147 f. 5 Wendt (o. Fn. 3), Art. 14 Rdn. 55. Auch Rüfner, in dieser Festschrift, S. 367 (371 ff.), hält die Unterscheidung an sich für angezeigt. 6 In den unter www.bverfg.de (Stand 28. 7. 2014, 16 Uhr) dokumentierten, seit Ende 1997 ergangenen Entscheidungen findet sich durchweg die „Inhalts- und Schrankenbestimmung“ (s. exemplarisch u. Fn. 7); abweichend davon spricht das BVerfG in acht Fällen isoliert (auch) von „Inhaltsbestimmung“ (so zuletzt BVerfG [K], 1 BvR 1460/10 vom 7. 9. 2011 = BVerfGK 19, 45), die „Schrankenbestimmung“ allein findet sich (zu Art. 14) nur in BVerfGE 115, 97 (113, 114), dafür zweimal zu Art. 5 Abs. 2 GG (BVerfG [K], 1 BvR 1106/08 vom 8. 12. 2010, Rdn. 15, 17; 1 BvR 507/01 vom 2. 5. 2006, Rdn. 21), je einmal zu Art. 10 Abs. 2 GG (BVerfG [K], 2 BvR 1124/10 vom 13. 11. 2010, Rdn. 17) und Art. 11 Abs. 2 GG (BVerfG [K], 1 BvR 2722/06 vom 20. 2. 2008, Rdn. 91). Vgl. aus der älteren Judikatur zur „Inhaltsbestimmung“ etwa BVerfGE 20, 351 (356); 21, 92 (93); 52, 1 (27); 58, 137 (145, auch 144 f., auch 148, 150 f.); 58, 300 (331, auch S. 320, 330; dort heißt es zu Gesetzen, die „den Inhalt und die Schranken des Eigentums […] bestimmen“: „Solche Normen bestimmen also den ,Inhalt‘ des Eigentums“); 72, 66 (76); 81, 208 (220); im Sinne einer „Schrankenbestimmung“ spricht BVerfGE 49, 382 (394), angeführt bei Wendt (o. Fn. 1), S. 144, immerhin einmal eine „nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG zulässige 2

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Schrankenbestimmung“7 verwendet, während der Jubilar weiterhin eine klare Trennung beider Fälle von Gesetzgebung (unten II.) und der jeweils auf sie anzuwendenden grundgesetzlichen Maßstäbe (unten III.) einfordert.8 Darin verdient er im Interesse einer dogmatisch klareren Behandlung der das Eigentumsgrundrecht berührenden Gesetzgebung Unterstützung, zu der diese Zeilen beitragen sollen. II. Trennung von Inhaltsnormen und Schrankennormen Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG enthält bekanntlich nicht den Terminus der „Inhalts- und Schrankenbestimmungen“ (für das Eigentum), sondern spricht bezogen auf die in Satz 1 vorangehende Gewährleistung von Eigentum und Erbrecht davon, dass „Inhalt und Schranken […] durch die Gesetze bestimmt“ werden. Damit ist die Trennung von Gesetzen, die den Inhalt des Eigentums, und solchen, die dessen Schranken bestimmen, im Text des Grundgesetzes vorgegeben. Überzeugende Gründe dafür, diese Unterscheidung aufzugeben, bestehen nicht; im Gegenteil lässt sich das Eigentumsgrundrecht nur dann in die allgemeinen Grundrechtslehren einfügen, wenn sie aufrechterhalten wird. Während dem Ausdruck „werden … bestimmt“ ein spezifischer Bedeutungsgehalt nicht zukommt,9 kommt es damit darauf an, wie der Inhalt und die Schranken, die durch die Gesetze bestimmt werden, voneinander abzugrenzen sind.

Schranke“ an. Mit der getrennten Verwendung außerhalb der zusammenfassenden Formel soll aber erkennbar inhaltlich nicht von der Generallinie abgewichen werden. Nicht eindeutig (auf Art. 2 Abs. 1, Art. 14 und 5 Abs. 2) bezogen spricht BVerfGE 64, 72 (80) „Regelungsaufträge, Inhaltsbestimmungen oder Schrankenziehungen“ an. 7 Vgl. die Nachw. bei Wendt (o. Fn. 3), Art. 14 Rdn. 58 sowie zuletzt etwa BVerfGE 115, 97 (111 f.); 122, 151 (180, 182 f.); 122, 374 (386, 392); 125, 104 (136); 126, 331 (357, 359 ff., 366); 128, 1 (70 f., 73); 128, 138 (147), sowie (aus www.bverfg.de; s. oben Fn. 6) BVerfG (Senat), 1 BvL 9/12 vom 6. 5. 2014, Rdn. 82; auch BVerfG (K), 2 BvR 527/06 vom 7. 7. 2006, Rdn. 3; 1 BvR 2084/05 vom 13. 12. 2006, Rdn. 4, 7, 12, 27; 1 BvR 1995/06 vom 19. 4. 2007, Rdn. 10; 1 BvR 1267/06 vom 30. 5. 2007, Rdn. 19, 21; 1 BvR 390/04 vom 30. 5. 2007, Rdn. 19; 2 BvR 1095/05 vom 17. 10. 2007, Rdn. 62, 74; 1 BvR 2722/06 vom 20. 2. 2008, Rdn. 54; 2 BvR 1720/03 vom 4. 9. 2008, Rdn. 28; 1 BvR 1631/04 vom 5. 2. 2009, Rdn. 13; 2 BvR 1824/05 vom 5. 3. 2009, Rdn. 29; 1 BvR 3478/08 vom 15. 4. 2009, Rdn. 19 f., 26, 35; 1 BvR 224/07 vom 28. 4. 2009, Rdn. 28; 1 BvR 1627/09 vom 14. 1. 2010, Rdn. 31, 47, 71; 1 BvR 2736/08 vom 23. 2. 2010, Rdn. 39, 41, 43, 46, 54; 1 BvR 2232/10 vom 15. 9. 2011, Rdn. 34, 38; 1 BvR 2153/08 vom 8. 11. 2012, Rdn. 22; 1 BvR 1577/11 vom 5. 12. 2012, Rdn. 16. Rüfner stimmt dieser Judikatur (in dieser Festschrift S. 371) insoweit zu, als er eine „trennscharfe Unterscheidung [für …] kaum möglich und für die Praxis auch nicht erforderlich“ erklärt. 8 Wendt (o. Fn. 3), Art. 14 Rdn. 55 ff. 9 Vgl. die nachstehend im Text zitierte Version der Weimarer Verfassung.

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1. Weimarer Vorbild und Entstehungsgeschichte Art. 153 Abs. 1 Satz 2 WRV hatte an die Gewährleistung des Eigentums den Satz angeschlossen: „Sein Inhalt und seine Schranken ergeben sich aus den Gesetzen.“10 Diese Sprachfassung trennte durch das doppelt verwendete Pronomen die beiden Elemente der angesprochenen Gesetze deutlich; dementsprechend wurde im zeitgenössischen Schrifttum ein „Sinn“ darin gesehen, „wenn in der Verfassung neben dem ,Inhalt‘ des Eigentums auch dessen ,Schranken‘ genannt werden.“ Beide wurden dementsprechend in ihrer Bedeutung getrennt erläutert: „Den ,Inhalt‘ des Eigentums bildet die rechtliche Herrschaft, die das objektive Privatrecht dem Eigentümer verleiht (BGB. §§ 903 ff.), die ,Schranken‘ des Eigentums bestehen in den Grenzen, die die Rechtsordnung dem Einzelnen in der Ausübung seiner rechtlichen Herrschaft setzt.“11 Die gedankliche Trennung der beiden Elemente ist umso bemerkenswerter, als der Vorbehalt nicht nur Reichsgesetze (wie in Art. 111 S. 4, Art. 112 Abs. 1 Satz 2, Art. 117 Satz 2, Art. 123 Abs. 2, Art. 153 Abs. 2 Sätze 2, 3, auch in Art. 110 Abs. 1 Satz 1, Art. 151 Abs. 3 WRV),12 sondern Gesetzgebung schlechthin ermöglichte, so dass das Eigentumsgrundrecht (vorbehaltlich institutioneller Festlegungen und des Schutzes gegen Enteignungen durch Art. 153 Abs. 2 WRV) als „leerlaufend“ eingestuft wurde.13 Damit waren, auch soweit die Verfassungsbindung der Gesetzgebung überhaupt schon anerkannt wurde,14 die gesetzlichen Schranken ebenso wenig

10 Ähnlich vor dem Grundgesetz noch Art. 45 Abs. 1 Satz 2 Hess. Verf. 1946 (bezogen auf das „Privateigentum“); Art. 15 Abs. 1 Satz 2 Bad. Verf. 1947; auch Art. 57 Abs. 1 Satz 2 Thür. Verf. 1946; Art. 12 Abs. 1 Satz 2 SAnh. Verf. 1947 Art. 19 Abs. 1 Satz 2 Sächs. Verf. 1947; s. noch Fn. 16. 11 Walter Schelcher, in: Hans Carl Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, 3. Bd., 1930, S. 208, wörtlich zitiert auch von Wendt (o. Fn. 1), S. 149 in Fn. 17; auch Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, 14. Aufl. 1933, Art. 153 Anm. 5, S. 706 oben, trennt zwischen beiden Aspekten und bezieht die zu bestimmenden Schranken auf „die dem Eigentümer obliegenden Pflichten“, die „näher zu bezeichnen“ seien. Ohne differenzierende Behandlung allerdings etwa Walter Jellinek, Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 1931, S. 412 f. 12 Weil damit die Landesgesetzgebung ausgeschlossen war, wurden diese Grundrechte von Richard Thoma, Die juristische Bedeutung der grundrechtlichen Sätze der deutschen Reichsverfassung im allgemeinen, in: Nipperdey (o. Fn. 11), 1. Bd., 1929, S. 1 (33 ff.), immerhin noch als „reichsgesetzeskräftig“ eingestuft. 13 Vgl. für die Grundrechte mit solchen Vorbehalten überhaupt Thoma (o. Fn. 12), S. 37 f., der zudem regelmäßig „gesetzesförmige Individualmaßnahmen“ ausschließt. 14 Zur Problematik nur Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, 1988, S. 1187 ff. m.w.N., der allerdings bei Thoma (o. Fn. 12), S. 33 f., die Bindung auch des Reichsgesetzgebers grundsätzlich verneint sehen will, während dieser dies nur annimmt, wenn die „RV. ihre grundrechtliche Anordnung oder Verbürgung der Verfassungskraft in der Weise ausdrücklich beraubt, daß das einfache Reichsgesetz ihren Umfang bestimmen darf“, ebda, S. 33 unten, sie aber „im Zweifel voll verfassungskräftig“ bzw. „reichsverfassungskräftig“, ebda, S. 33 oben, sieht; zu allgemein gegen einen „Vorrang der Grundrechte vor dem

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wie die (nicht in der Institutsgarantie abgesicherten) Festlegungen des Inhalts des Eigentums überhaupt am Eigentumsgrundrecht zu messen, die Unterscheidung blieb daher ohne rechtlich relevante Konsequenzen.15 Die Formulierung des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG ohne Artikel oder Pronomen lässt sich durch den doppelten Bezug auf die beiden Gewährleistungsgegenstände, Eigentum und Erbrecht, erklären.16 Sie findet sich in den Beratungen des Parlamentarischen Rates17 sofort in diesem Zusammenhang.18 Diese Formulierung lädt in ihrer gekürzten Form sicher eher als das Vorbild von Weimar dazu ein, die Bestimmung von Inhalt und Schranken sprachlich zur „Inhalts- und Schrankenbestimmung“ zusammenzuziehen. Ihre Bedeutung wurde in den Beratungen nur für den ersten der beiden Gewährleistungsgegenstände erläutert, und zwar, ohne zwischen Inhalt und Schranken zu differenzieren, dahin, „,daß das Eigentum, nämlich das Ausmaß, in dem ein Individuum über Sachen verfügen kann, notwendig vom Gesetz her zu bestimmen‘“ sei.19 2. Keine Zusammenfassung von Inhalt und Schranken Diese wenig aussagekräftige Formulierung liefert jedenfalls für die subjektiven Grundrechte an bestehendem Eigentum keinen Grund, die beiden durch Gesetz zu bestimmenden Elemente des Inhalts und der Schranken auch rechtsdogmatisch in eins zu setzen.20 Während es durchaus auch andere subjektive Grundrechte aus der Eigentumsgarantie des Art. 14 GG geben mag, wie etwa ein Recht auf persönliche Eigentums(erwerbs)fähigkeit21 oder sogar eines auf Erwerb bestimmter Eigentumsobjekte,22 ist das subjektive Grundrecht des Eigentümers an ihm bereits als sein Gesetz“ unter der Weimarer Verfassung (bei Behandlung des Art. 14 GG) auch Johannes Dietlein, in: Stern, a. a. O., Bd. IV/1, 2006, S. 2168. 15 Thoma (o. Fn. 12), S. 37, nennt denn auch in diesem Zusammenhang „Ausgestaltung oder Einschränkung“ unterschiedslos nebeneinander. 16 Vgl. nur für das Eigentum allerdings so auch schon Art. 75 Satz 2 Meckl. Verf. 1947; Art. 50 Abs. 1 Satz 2 Mark Brand. Verf. 1947. 17 In Art. 17 Abs. 1 HChEntw. findet sich eine einschlägige Formulierung nicht, was sich aus den für alle Grundrechte geltenden Grundrechtsbegrenzungsbestimmungen des Art. 21 Abs. 3 und 4 HChEntw. erklärt; nur auf Abs. 3 (irrtümlich des Art. 20) bezogen in diesem Sinne JöR n.F. Bd. 1 (1951), S. 145. 18 JöR n.F. Bd. 1 (1951), S. 145, dann auch S. 147, 148. 19 So der Abg. Dr. Schmid, JöR n.F. Bd. 1 (1951), S. 146. 20 Gleichwohl ist diese Sichtweise des BVerfG (o. Fn. 7) auch im Schrifttum verbreitet, vgl. etwa Martin Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, 2000, S. 27, 273 ff.; Brun-Otto Bryde, in: Ingo v. Münch/Philip Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 14 Rdn. 48; Dietlein, in: Stern, Bd. IV/1 (o. Fn. 14), S. 2225, 2233 ff. jeweils m.w.N. 21 Zu grundrechtlich geschützten Fähigkeiten allgemein etwa Sachs, in: Stern, Bd. III/1 (o. Fn. 14), S. 586 f. 22 Für eine Garantie der Möglichkeit zur Aneignung herrenloser Sachen etwa Christian Jasper, Von Inhalten, Schranken und wichtigen Weichenstellungen, DÖV 2014, 872 (877).

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Eigentum zustehenden Objekten, sein Bestandsschutz, jedenfalls das zentrale Element der Eigentumsgarantie.23 a) Notwendigkeit des Vorbehalts von Schrankennormen Als Abwehrrecht ist dieses Grundrecht grundsätzlich vor allen Verkürzungen durch die grundrechtsgebundene Staatsgewalt geschützt, die schon wegen des Vorbehalts des Gesetzes nur gerechtfertigt sein können, wenn sie durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes erfolgen. Wäre die Befugnis zu solchen (klassischen) Eingriffen nicht von der Ermächtigung zur Schrankenbestimmung umfasst, bliebe als alleiniger Gesetzesvorbehalt Art. 14 Abs. 3 GG, der lediglich Enteignungen ermöglicht. Da dies zur Realisierung der Sozialverträglichkeit des Eigentums(gebrauchs), deren Notwendigkeit Art. 14 Abs. 2 GG ja besonders unterstreicht,24 offensichtlich nicht ausreicht, muss die Befugnis zur Schrankenbestimmung jedenfalls auch eine zur Einschränkung der Rechte der Eigentümer an ihrem Eigentum umfassen, wenn man nicht statt dessen zusätzlich einen ungeschriebenen Vorbehalt zugunsten gesetzlicher Einschränkung postulieren oder gar allen Einschränkungsnotwendigkeiten auf der Grundlage kollidierenden Verfassungsrechts Rechnung tragen will. Dazu besteht umso weniger Anlass, als der (ohnehin der „Einschränkung“ und „Beschränkung“ sprachlich engstens verwandte) Begriff der „Schranke“ in Art. 5 Abs. 2 GG und in Art. 140 GG/Art 137 Abs. 3 Satz 1 WRV in Bezug auf Gesetze gebraucht wird, die den ihnen vorgegebenen Schutzgegenstand der Freiheitsrechte bzw. des Selbstbestimmungsrechts einschränken.25 b) Notwendigkeit inhaltsbestimmender Gesetze Demgegenüber ergibt sich die Notwendigkeit gesetzlicher Inhaltsbestimmung dadurch, dass das Eigentum anders als etwa natürliche Grundrechtsgüter wie das Leben, die körperliche Unversehrtheit oder die Verhaltensfreiheit Rechtspositionen betrifft, die überhaupt nur durch „Gesetze“ im Sinne objektiver Rechtsnormen, notfalls bzw. ganz ursprünglich solche ungeschriebener Art, begründet sein können.26 Die Konstituierung durch Gesetz ist für die Existenz von „Eigentum“ im Sinne subjektiver Rechtspositionen daher auch unabhängig von der Erwähnung der Inhaltsbe23

Vgl. nur Dietlein, in: Stern, Bd. IV/1 (o. Fn. 14), S. 2137 f. Vgl. dazu allgemein Wendt (o. Fn. 1), S. 292 ff.; auch ders. (o. Fn. 3), Art. 14 Rdn. 59, 70, 72; im Übrigen nur Dietlein, in: Stern, Bd. IV/1 (o. Fn. 14), S. 2225 ff. m.w.N. 25 Vgl. in diesem Sinne nur Rudolf Wendt, in: Ingo von Münch/Philip Kunig (Hrsg.), Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 5 Rdn. 68, der in den „Schranken des Art. 5 Abs. 2 Einschränkungen“ sieht (Hervorhebung im Original); in der Sache entsprechend wohl Dirk Ehlers, in: Sachs (o. Fn. 3), Art. 140 GG/Art. 137 WRV Rdn. 11 ff. Zur Problematik des schon wegen dieser sprachlichen Zusammenhänge fragwürdigen Begriffs der „Schranke“ im Kontext der Grundrechtsbeschränkungsdogmatik vgl. Michael Sachs, in: Stern (o. Fn. 14), Bd. III/2, 1994, S. 225 ff. 26 Zur Priorität objektiver Rechtssätze vor durch sie begründeten subjektiven Rechten Sachs, in: Stern, Bd. III/1 (o. Fn. 14), S. 509 f., 543. 24

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stimmung in Art. 14 GG unerlässlich, und zwar im Einzelnen selbst dann, wenn man annimmt, grundsätzliche Festlegungen unmittelbar aus der Verfassungsgarantie ableiten zu können.27 c) Keine inhaltsverengenden Schrankenbestimmungen Eigentumspositionen müssen wie alle Rechtspositionen28 eine bestimmte sachliche oder auch zeitliche29 Reichweite haben. Insoweit ist es natürlich denkbar, ihre Konstituierung in der Weise zu bezeichnen, dass man vom (gedanklichen) Ausgangspunkt einer (mehr oder weniger) umfassenden Inhaltsbestimmung30 alle diesen Inhalt verkürzenden Präzisierungen als Schrankenbestimmungen31 bezeichnet. Einer solchen Terminologie folgt das BGB mit der Überschrift zum 3. Buch Abschnitt 3 Titel 1, die übrigens bezogen auf § 903 und die ihm folgenden einengenden Bestimmungen der §§ 904 ff. insgesamt vom „Inhalt des Eigentums“ spricht.32 Entsprechend wird denn auch die Zusammenfassung zur einheitlichen Inhalts- und Schrankenbestimmung damit begründet, diese seien „zwei Seiten ein und derselben Medaille“, „differenzierbar lediglich durch die subjektive Perspektive des Betrachters“; der Gesetzgeber lege „mit der Bestimmung des Eigentumsinhalts notwendig die Schranken des Eigentums, mit der Festlegung der Schranken notwendig den Inhalt des Eigentums“ fest33. Nach dieser Sichtweise gibt es „Schrankenbestimmungen“, die den 27

Vgl. zuletzt Jasper (o. Fn. 22), II 3 c am Ende: „das Grundgesetz überlässt entsprechende Regelungen nur im Übrigen dem einfachen Gesetzgeber.“ Dort wird zudem nur gesetzlich bestimmtes Eigentum jenseits verfassungsunmittelbarer Gewährleistungen als möglich angesehen. Zu Vorstellungen eines naturrechtlich begründeten menschenrechtlichen Kerns des Eigentums etwa Walter Leisner, § 173 Eigentum, in: HStR VIII, 3. Aufl. 2010, Rdn. 105 ff. 28 Selbst das Grundrecht der allgemeinen Verhaltensfreiheit hat auch bei weitestem Verständnis eine auf den Freiheitsgebrauch begrenzte Reichweite, schließt namentlich andersartige Persönlichkeitsgüter wie geschützte Bereiche der Privatheit, etwa nach Art. 10, 13 GG, oder sonstige Elemente des allgemeinen Persönlichkeitsrechts oder Rechtspositionen, wie nach Art. 16 Abs. 1 GG, nicht ein. 29 Wie etwa nur für eine Zahl von Jahren geltende urheberrechtliche Eigentumspositionen; dazu etwa BVerfGE 31, 275 (287 ff.). 30 Dem im Ausgangspunkt wahrhaft umfassenden Inhalt des Sacheigentums in § 903 Satz 1 BGB steht der auf die Benutzung „in einzelnen Beziehungen“ bezogene Inhalt der Dienstbarkeiten an Grundstücken, §§ 1018, 1090 Abs. 1 BGB, gegenüber. 31 In diesem Sinne verstanden enthielte die „Schrankentrias“ des Art. 2 Abs. 1 GG allerdings schon auf der Verfassungsebene Schrankenbestimmungen, die die Verhaltensweisen aus dem Schutzgegenstand schon tatbestandlich ausgrenzten, die Rechte anderer verletzen oder gegen eine (eng verstandene) verfassungsmäßige Ordnung bzw. das Sittengesetz verstoßen. 32 Zur Würdigung der Einzelbestimmungen s. noch unten vor Fn. 58. 33 Dietlein, in: Stern, Bd. IV/1 (o. Fn. 14), S. 2222 und 2234, dort unter Absage an „rechtslogische oder qualitative Differenzierungen beider Begrifflichkeiten“ (Fußnoten des Originals weggelassen, darin w. N. für solche Auffassungen). Umgekehrt lehnt es Wendt (o. Fn. 1), S. 147 ab, die Berechtigung seines Postulats einer Trennung beider Gesetzge-

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Inhalt des Eigentums einengend mitbestimmen und als Variante der Inhaltsbestimmung nur fehlbenannt sind.34 Daneben muss es aber die (oben zu a) genannten Schrankenbestimmungen geben können, die Einschränkungen bestehender individueller Eigentumspositionen vornehmen oder zulassen und als solche ebenso unverzichtbar sind wie ihre Abstützung auf die Ermächtigung des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG zur Schrankenbestimmung als maßgeblichen Gesetzesvorbehalt. Die daraus erwachsende Doppeldeutigkeit des Schranken-Begriffs ist dogmatisch kein Gewinn, zumal die für die Grundrechtskonformität der an die zuletzt genannten inhaltsfestlegenden Schrankenbestimmungen heranzuziehenden Maßstäbe (unten III. 2.) offen blieben. 3. Kriterien der Unterscheidung Soweit Inhalt und Schranken des Eigentums als Gegenstand der gesetzlichen Bestimmung unterschieden werden, sind die Kriterien dafür nicht abschließend geklärt.35 a) Unterscheidung allein nach zeitlichen Kriterien? Während nach dem Gesagten regelungstechnische Zufälligkeiten der Normgestaltung nicht ausschlaggebend sein können36, habe ich bisher mit Blick auf die berührten individuellen Eigentümerrechte allein auf die zeitliche Dimension abgestellt.37 bungsarten „im Wege vorwiegend begrifflich orientierter oder gar wie bloße Wortakrobatik anmutender Deduktionen“ (bezogen auf ebda, S. 145 f.) zu widerlegen. 34 In diesem Sinne Dietlein, in: Stern, Bd. IV/1 (o. Fn. 14), S. 2222, der deshalb bezogen auf „Inhalts- und Schrankenbestimmungen“ von einer „missverständlichen Formulierung“ spricht; für Bernhard Kempen, Der Eingriff des Staates in das Eigentum, 1991, der Inhaltsund Schrankenbestimmungen zeitlich trennt, Rdn. 115 ff., sind gleichwohl die Schrankenbestimmungen „immer auch notwendig Inhaltsbestimmungen“, Rdn. 123; sachlich ebenso Joachim Wieland, in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 14 Rdn. 92; Jan-R. Sieckmann, in: Karl Heinrich Friauf/Wolfgang Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 14 (2000) Rdn. 104; umgekehrt stellt sich für Otto Depenheuer, in: Christian Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 6. Aufl. 2010, Art. 14 Rdn. 227 „jede Bestimmung der Eigentümerbefugnisse als […] Schrankenregelung“ dar; Wendt (o. Fn. 1), S. 152 mit Fn. 30, sieht gegenüber ähnlichen älteren Stimmen insoweit nur „im untechnischen Sinne den ,Inhalt’ des Eigentums“ bestimmt. 35 Vgl. zu anderen für eine Unterscheidung nach unterschiedlichen Kriterien eintretenden Stimmen Wendt (o. Fn. 1), S. 147; ders. (o. Fn. 3), Art. 14 Rdn. 55. 36 Gegen deren Relevanz etwa auch BVerfGE 49, 382 (393); 58, 300 (336); Sachs, in: Stern, Bd. III/2 (o. Fn. 25), S. 407 f. 37 Michael Sachs, Verfassungsrecht II. Grundrechte, 2. Aufl. 2003, B 14 Rdn. 24 ff.; auch schon in: Stern, Bd. III/2 (o. Fn. 25), S. 408; so etwa auch Ulrich Ramsauer, Die faktischen Beeinträchtigungen des Eigentums, 1980, S. 73 ff.; Kempen (Fn. 34), Rdn. 115 ff.; Dirk Ehlers, Eigentumsschutz, Sozialbindung und Enteignung bei der Nutzung von Boden und Umwelt, VVDStRL Heft 51 (1992), S. 211 (225); Hans D. Jarass, in: ders./Bodo Pieroth,

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Eine Grundlage für diese Sichtweise scheint sich auf den ersten Blick auch beim Jubilar zu finden, wenn er seit jetzt 30 Jahren inhaltlich unverändert feststellt: „Eine Inhaltsnorm i. d. S. hat zugleich schrankenziehende Wirkung, wenn sie ihre Geltung auch auf bereits entstandene Rechtspositionen erstreckt und die früheren Inhaltsnormen Befugnisse zugestanden haben, die nach der neuen Rechtslage nicht mehr anerkannt werden.“38 Er stellt damit sicher, dass jede Verkürzung bereits in der Hand eines Berechtigten bestehender Eigentumspositionen als Einschränkung seines Eigentumsgrundrechts zu behandeln ist. Damit kann der Grundrechtsschutz bestehenden Eigentums nicht über das Medium gesetzlicher Inhalts(neu)bestimmung ausgehebelt werden. Insoweit befindet sich der Jubilar im Einklang mit der Auffassung, die sich für die Frage, ob gesetzliche Regelungen als Schrankenbestimmungen den abwehrrechtlichen Grundrechtschutz des Eigentums gegen Beschränkungen auslösen,39 (allein) an den Gegebenheiten im Regelungszeitpunkt orientieren.40 Entscheidende Unterschiede ergeben sich hingegen für die Behandlung der „newcomer“41 daraus, dass der Jubilar grundsätzliche inhaltliche Unterschiede zwischen Inhaltsnormen und Schrankennormen annimmt. Er wendet sich auf dieser Grundlage dezidiert gegen die verbreitet vertretene Vorstellung,42 dass derjenige, der ein Eigentumsobjekt erst nach einer die Eigentümer schlechter als zuvor stellenden GesetzesGrundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 13. Aufl. 2014, Art. 14 Rdn. 34; Thorsten Kingreen/Ralf Poscher, Grundrechte. Staatsrecht II, 29. Aufl. 2013, Rdn. 977, 998; w. N. bei Dietlein, in: Stern, Bd. IV/1 (o. Fn. 14), S. 2255, der dieser von ihm abgelehnten Sichtweise allerdings insbesondere auch Wendt (o. Fn. 1) und Reinhardt Lutz, Eigentumsschutz bei „störender“ Nutzung gewerblicher Anlagen, 1983, S. 166 ff., zurechnet, die nicht (allein) auf die zeitliche Dimension abstellen. 38 Wendt (o. Fn. 3), Art. 14 Rdn. 56 (Hervorhebung im Original weggelassen); inhaltlich ebenso schon ders. (o. Fn. 1), S. 157 f. 39 S. die Nachw. oben Fn. 37. 40 Für eine Inhalts- und Schrankenbestimmung, die hinsichtlich verkürzender Auswirkungen auf schon vorher bestehende Eigentumspositionen „zugleich einen Grundrechtseingriff“ darstellt, auch BVerfGE 128, 138 (148, auch 147) unter Hinweis auf Gellermann (o. Fn. 20), S. 419 f., 429 f. (dort w. N. auch zur Judikatur). Im Anschluss daran spricht zuletzt BVerfG (K), 1 BvR 79/09 vom 3. 6. 2014, Rdn. 85, ähnlich auch Rdn. 65, sprachlich umgedreht von gesetzlichen Maßnahmen „die einen verfassungsrechtlich gerechtfertigten Eingriff in den Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG bewirken und zugleich gemäß Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG Inhalt und Schranken des Eigentums verfassungsgemäß bestimmen“. Danach wäre der angesprochene gesetzliche Eingriff wohl keine Bestimmung einer Schranke nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG; die verfassungsrechtliche Grundlage der Rechtfertigung bleibt danach dunkel. 41 Diesen Begriff verwendet in diesem Kontext namentlich die Arbeit des aus demselben Stall wie der Jubilar stammenden Lutz (o. Fn. 37), S. 191 (unter Bezugnahme auf Salzwedel) und öfter. 42 Vgl. aus neuerer Zeit etwa BVerfGE 97, 228 (264 f.), zur Einführung des Kurzberichterstattungsrechts über öffentliche Veranstaltungen von allgemeinem Interesse. Während vor Wirksamwerden des Gesetzes abgeschlossene Exklusivverträge kraft ausdrücklicher Regelung unberührt blieben, heißt es dann, um die Anwendbarkeit des Art. 14 GG auch insoweit auszuschließen: „Etwaige Eigentumspositionen an Übertragungsrechten, die Fernsehveranstalter nach diesem Zeitpunkt erwarben, konnten von vornherein nur als mit dem Kurzberichterstattungsrecht belastete entstehen.“

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änderung erwirbt, stets nur ein von vornherein entsprechend verkürztes Eigentumsobjekt erhält, dadurch in Pflichtentatbestände hineinwächst.43 Eine Abgrenzung von Inhaltsnormen und Schrankennormen allein danach, ob der Eigentümer sein Eigentum vor oder nach einer das Eigentum verkürzenden Gesetzesänderung erworben hat, ist damit unvereinbar; vielmehr sollen sich für den Neu-Eigentümer auch bei Eigentumserwerb bereits bestehende Schrankenbestimmungen als rechtfertigungsbedürftige Einschränkungen seines Eigentums darstellen. In der Tat erweckt der Ausschluss jeden abwehrrechtlichen Grundrechtsschutzes der „newcomer“ gegen alle bei seinem Eigentumserwerb bestehenden eigentumsbeschränkenden Gesetze Bedenken,44 die Anlass geben, über eine Modifikation der allein zeitlich orientierten Abgrenzung von inhaltsbestimmenden und schrankenbestimmenden Gesetzen aus Sicht der einzelnen Betroffenen nachzudenken. b) Die doppelte kategoriale Unterscheidung des Jubilars Der Jubilar geht insoweit von einer doppelten kategorialen Unterschiedlichkeit der beiden Normarten aus, die er im Ergebnis so zusammenfasst: „Inhaltsnormen legen die Eigentumsrechte und die mit ihnen verbundenen Befugnisse generell und pflichtneutral fest. Schrankennormen haben die aus der Innehabung oder Ausübung von solcherart zuerkanntem Eigentum sich ergebenden Bürger-Bürger- und Bürger-Staat-Konflikte zum Regelungsgegenstand und erlegen dementsprechend Handlungs-, Unterlassungs- und Duldungspflichten auf. Inhaltsnormen und Schrankennormen sind daher gekennzeichnet durch unterschiedliche, fest umrissene Funktionsbereiche: Befugniszuteilung – Konfliktregelung, und unterschiedliche Wirkungsdimensionen: Eigentumskonstituierung – Eigentumsbeeinträchtigung.“45 Analysiert man diese komplexe, an einer Mehrheit von Kriterien orientierte Gegenüberstellung, lässt sich zunächst feststellen, dass die nur bei den Inhaltsbestimmungen angesprochene generelle Natur der Festlegungen auch Schrankennormen eigen ist. Außerdem ist zu bedenken, dass Inhaltsnormen die Rechte und damit verbundenen Befugnisse notwendigerweise in ihrer Reichweite, schon durch den Bezug auf bestimmte Gegenstände, begrenzt festlegen46. Sie beugen schon durch die begrenzte Bemessung der Befugnisse möglichen Konflikten derselben Art vor, die der Funktion der Konfliktregelung bei den (mangels solcher Vorbeugung notwendi-

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Wendt (o. Fn. 1), S. 151 ff., im Anschluss insbes. an Lutz (o. Fn. 37), S. 117 ff., 149 ff. Eindrucksvoll aufgezeigt bei Wendt (o. Fn. 1), S. 151. 45 Wendt (o. Fn. 3), Art. 14 Rdn. 55 (Hervorhebung im Original weggelassen); inhaltlich ebenso schon ders. (o. Fn. 1), S. 157; meine teilweise kritische Stellungnahme hierzu in: Stern, Bd. III/2 (o. Fn. 25), S. 407 f., muss ich im Sinne des folgenden Textes partiell revidieren. 46 Insoweit stellt der Jubilar (o. Fn. 1), S. 152, am Beispiel des § 906 BGB als Schrankennorm gegenüber dem inhaltsbestimmenden § 903 BGB auf das im Text genannte Spezifikum der Schrankennormen ab. Demgegenüber für einen nur rechtstechnischen Gestaltungsunterschied Sachs, in: Stern, Bd. III/2 (o. Fn. 25), S. 407 f. 44

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gen) Schrankennormen zugeordnet werden.47 Folgt man dem, bleiben als maßgebliche Unterschiede die Pflichtenneutralität der Inhaltsnormen einerseits48 und andererseits die Eigenart der Schrankennormen, dass durch sie „die inhaltliche Zugehörigkeit der beanspruchten Eigentumsausschnitte zum grundrechtlich geschützten Eigentum nicht prinzipiell in Frage gestellt wird“49. c) Insbesondere: Pflichtenneutralität der Inhaltsbestimmungen? Mit der die Inhaltsbestimmung kennzeichnenden Pflichtenneutralität ist die vom Jubilar anerkannte Mischform der Inhaltsbestimmung mit schrankenziehender Wirkung kaum in Einklang zu bringen. Die inhaltliche Verkürzung der neu bestimmten Eigentumsposition hat nämlich zur Folge, dass den Eigentümer Pflichten treffen, die es für ihn nach der bisherigen Rechtslage nicht gab: Dem Wegfall früherer Eigentümerbefugnisse zum eigenen Handeln entsprechen Pflichten, nur kraft der weggefallenen Befugnisse mögliches Verhalten nunmehr zu unterlassen; dem Wegfall früherer Befugnisse zum Ausschluss der Einwirkungen anderer entsprechen Pflichten, solche Einwirkungen zukünftig zu dulden; denkmöglich ist auch der Fall, dass kraft der früheren Inhaltsbestimmung eine Freiheit des Eigentümers von bestimmten Handlungspflichten, die dann eingeführt wurden, bestanden hatte. Eine inhaltliche Abgrenzung anhand der bestehenden oder fehlenden Pflichtenneutralität ist danach zumindest problematisch.50 d) Prinzipielle Neubestimmung des Eigentumsinhalts Für die Konzeption des Jubilars ist allerdings die Frage der Pflichtenneutralität nicht unverzichtbar. Sie ermöglicht es vielmehr, eine Norm mit solchen verpflichtenden Wirkungen gleichwohl als Inhaltsbestimmung einzustufen, und zwar dann, wenn die mit der verkürzenden Neubestimmung der Eigentümerbefugnisse verbundenen 47 Auch der Jubilar selbst geht davon aus, „daß der inhaltsbestimmende Gesetzgeber bei der Einrichtung von Eigentumsrechten […] sorgfältig und umfassend die von ihnen ausgehenden sozialen Wirkungen in sein Kalkül mit einbeziehen müßte“, was die Festlegung von „Art, Umfang und konkrete[r] Reichweite der Eigentümerherrschaft beeinflussen“ könne, Wendt (o. Fn. 1), S. 179. Seine Absage an die Geltung des Art. 14 Abs. 2 GG für die Inhaltsbestimmung beruht nur darauf, dass Eigentum erst einmal bestehen muss, bevor es verpflichtende Wirkung entfalten kann, während er ihre Bedeutung als „Sozialgestaltung“ nicht verkennt, s. ebda, S. 178 – 180. 48 Insoweit insbesondere anknüpfend an Lutz (o. Fn. 37), S. 164 f., der allein hierauf abstellt, Wendt (o. Fn. 1), S. 157; ders. (o. Fn. 3), Art. 14 Rdn. 55. 49 Wendt (o. Fn. 1), S. 149 f., auch S. 152 und öfter; ders. (o. Fn. 3), Art. 14 Rdn. 56; in diese Richtung auch schon Peter Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht, 1972, S. 310. 50 Für einen speziellen Fall vgl. etwa das als Eigentum i. S. des Art. 14 Abs. 1 GG einzustufende Jagdrecht, Dietlein, in: Stern, Bd. IV/1 (o. Fn. 14), S. 2188 f. m.w.N., das nach § 1 Abs. 1 Satz 1 BJagdG auch die ausschließliche Befugnis umfasst, Wild zu hegen, und mit dem nach Satz 2 der Vorschrift die Pflicht zur Hege verbunden ist.

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neu konstituierten Pflichten die bisherige Reichweite des Eigentums prinzipiell, grundsätzlich in Frage stellen.51 Insoweit kann dann zeitlich unterschieden werden zwischen den Alteigentümern, die Schutz gegen die für sie schrankenziehende, sie (im aufgezeigten Sinne) verpflichtende neue Inhaltsbestimmung genießen, und den Neueigentümern, die an dem prinzipiell reduzierten Umfang des früheren Eigentums keinen Anteil mehr haben, sondern von vornherein nur die prinzipiell enger neu bestimmten Eigentümerbefugnisse erwerben konnten. Dabei stellt sich dann die vom Jubilar für eine Differenzierung innerhalb der (dort so aufgefassten) verpflichtenden Normen verneinte Frage, ob nicht doch „die Trennungslinie zwischen Inhaltsnormen und Schrankennormen […] willkürfrei definierbar“ ist,52 und zwar anhand seines (anderen) Kriteriums, nämlich desjenigen der prinzipiellen Preisgabe (von Teilen) des früheren Umfangs des Eigentums durch die gesetzliche Neuregelung. e) Kriterien für eine prinzipielle verkürzende Neubestimmung des Eigentumsinhalts Diese Frage, nämlich wann eine Verkürzung des Eigentums53 prinzipieller Natur und damit (nur gegenüber Alteigentümern auch schrankenziehende) Inhaltsbestimmung ist und wann nicht, mit der Folge, dass auch Neu-Eigentümer beschränkend betroffen werden, ist allerdings im Hinblick auf die Vielfalt möglicher Fallgestaltungen tatsächlich kaum nach einer einzigen allgemeinen Formel zu beantworten. Der Jubilar selbst hat zur Frage der Verkürzung des Grundeigentums um die Baufreiheit zunächst darauf abgestellt, dass der „inhaltsbestimmende Gesetzgeber“ das Grundeigentum gegenüber dem herkömmlichen Verständnis „,inhaltsärmer‘“, „nämlich von vornherein generell so festgelegt hätte, daß zu ihm zwar noch eine Reihe von unbenannten Nutzungsmöglichkeiten, aber nicht (mehr) die der baulichen Nutzung gehören würde“.54 Doch helfen weder das zeitlich verstandene „von vornherein“ noch das „generell“ wirklich weiter. Später stellt er dann darauf ab, „ob bereits dem geltenden einfachen Recht die Intention zu entnehmen ist, das Recht zur baulichen Nutzung aus dem Inhalt des Eigentums an Grund und Boden auszuscheiden“.55 Damit ist auf die gesetzliche (und bei neuen Gesetzen typischerweise zugleich: gesetzgeberische) Intention verwiesen, so dass der Gesetzgeber es in der Hand hat 51

Dagegen hat der Jubilar (o. Fn. 1), S. 156 f., eher das Merkmal der fehlenden prinzipiellen Preisgabe der Zugehörigkeit eines Eigentumsausschnitts zum grundrechtlich geschützten Eigentum aufgeben wollen, um alle verpflichtenden Normen ohne Unterschied als Schrankennormen zu erfassen, selbst wenn sie den prinzipiellen individualrechtlichen Schutz nicht in Frage stellen. 52 Wendt (o. Fn. 1), S. 157. 53 Gesetzliche Erweiterungen bisheriger Eigentumspositionen können mangels jeder einschränkenden Wirkung nur Inhaltsbestimmungen sein. 54 Wendt (o. Fn. 1), S. 173 (Hervorhebung im Original). 55 Wendt (o. Fn. 1), S. 173 f.

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zu entscheiden, ob er Eigentum prinzipiell verkürzt inhaltlich neu bestimmt oder es prinzipiell unverändert nur Schrankenbestimmungen unterwirft. Diese Wahlfreiheit des Gesetzgebers passt gut zu dem Befund, dass er nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG zur Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums berufen ist. Der maßgebliche objektive Wille des Gesetzes ist allerdings mangels klarer und durchgreifender entstehungsgeschichtlicher Hinweise mit allen (sonstigen) Mitteln der Auslegung zu ermitteln. Die damit vorgezeichnete Aufgabe kann hier nicht einmal im Ansatz bewältigt werden. Es muss genügen, einige mögliche Anhaltspunkte aufzuzeigen, die für eine prinzipiell aus dem Eigentum ausgrenzende, also inhaltsbestimmende Intention von Neufestlegungen der Reichweite einer Eigentumsposition sprechen, die gegenüber den bisherigen Eigentümerbefugnissen enger gefasst sind. Eine solche prinzipielle Preisgabe dürfte etwa bei bloßen Eingriffsermächtigungen zu verneinen sein, und zwar weniger, weil der Schutz des Eigentums ja „gegenüber den ,restlichen‘ pflichtbegründenden Normen“ fortbesteht,56 sondern vor allem, weil die Ausübung der Eingriffsermächtigung selbst in ihrem Anwendungsbereich noch auf das bis dahin ungeschmälert fortbestehende Eigentumsrecht trifft. Indem sie die Verkürzung (nur) zulässt, bleibt die Ermächtigungsnorm insoweit auch für denjenigen (nur) Schrankenbestimmung, der ein Eigentumsobjekt erwirbt, nachdem die Ermächtigungsnorm geschaffen wurde. Sein Eigentum ist dem Eingriff ausgesetzt, besteht aber gerade auch insoweit prinzipiell fort. Dies gilt auch, wenn Eingriffsermächtigungen als Duldungspflichten formuliert werden,57 soweit diese nicht gegenüber jedermann durchgreifen, sondern nur gegen die rechtsstaatlich disziplinierte öffentliche Gewalt, die auch bei der Aktualisierung der Duldungspflichten die Anforderungen an Grundrechtsbeschränkungen, zumal solche der Verhältnismäßigkeit, zu beachten hat. Selbst bei Duldungspflichten gegenüber (bestimmten oder auch allen) Privaten, die nicht so gebunden sind, muss deren dadurch berührtes Eigentum nicht prinzipiell in Frage gestellt sein, wenn es für Reichweite oder Konsequenzen der Duldungspflicht maßgebliche Bedeutung behält, so wenn dem Eigentümer etwa – wie im Falle der Pflicht zur Duldung des Überbaus dem Nachbarn, also dem Eigentümer des Nachbargrundstücks – ein Widerspruchsrecht gegen die Einwirkung verbleibt oder doch eine Entschädigung zugebilligt wird, § 912 BGB, oder wenn ihm Schadensersatz zusteht, wie im Falle des § 904 Satz 2 BGB, oder wenn die (Intensität der) Berührung seiner Belange die auferlegten Pflichten begrenzt, § 906 Abs. 1 56 So Wendt (o. Fn. 1), S. 157; dies überzeugt nicht voll, weil es ja um die Frage geht, ob die „beanspruchten Eigentumsausschnitte“ noch zum Eigentum gehören, ebda, S. 152, was für den unbeeinflusst verbleibenden Rest nicht in Frage steht. 57 Wie etwa wohl bei § 28 Abs. 1 FSHG NRW; insoweit bewertet zuletzt BVerwG, NVwZ 2014, 243 Rdn. 22, (im Rahmen der üblichen Redeweise von den Inhalts- und Schrankenbestimmungen) die Inanspruchnahme der Betroffenen als „nicht verhältnismäßige Beschränkung ihres Eigentums“.

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BGB,58 aber auch § 905 Satz 2 BGB, im Gegensatz zum unmissverständlich formulierten Ausschluss der bergfreien Bodenschätze aus dem Grundeigentum nach § 3 Abs. 3 Satz 2 BBergG.59 Gegen eine das Eigentum für bestimmte Aspekte prinzipiell negierende Inhaltsbestimmung kann auch sprechen, dass eine Norm ein vom Eigentum unabhängiges Regelungsziel verfolgt, wie bei § 903 Satz 2 BGB, weil sich die dort in Bezug genommenen Tierschutzbestimmungen nicht nur gegen den jeweiligen Eigentümer eines Tieres, sondern grundsätzlich gegen jedermann richten.60 Zu klären wäre ferner, ob bei einem durch bundesgesetzliche Inhaltsbestimmung vorgesehenen Eigentumsobjekt der so vorgegebene Inhalt durch landesrechtliche Regelungen überhaupt auch im Sinne einer prinzipiellen Teil-Negierung verkürzt werden kann oder ob Landeskompetenzen dann nur für Schrankenbestimmungen ausreichen.61 III. Die jeweiligen grundgesetzlichen Maßstäbe Werden inhaltsbestimmende und schrankenbestimmende Gesetze, die keine allein dem Art. 14 Abs. 3 GG unterliegenden Enteignungen62 vornehmen oder zulassen, anhand der dargelegten Abgrenzung unterschieden, ergibt sich – wie bei einer rein zeitlichen Abgrenzung – die mit den Regeln der allgemeinen Grundrechts(beschränkungs)dogmatik besser in Einklang zu bringende Möglichkeit, alle Gesetze, die das individuelle Grundrecht an bestehenden Eigentumspositionen beschränken, den allgemeinen Anforderungen an Grundrechtsbeschränkungen zu unterwerfen (unten 1.), ohne dabei aber diejenigen allgemein vom abwehrrechtlichen Grundrechtsschutz auszuschließen, die ihre Eigentumsposition erst unter der Geltung bereits bestehender eigentumsverkürzender Gesetze erworben haben.63 Nur soweit ein 58

Zu dessen Qualifikation als Schrankennorm Wendt (o. Fn. 1), S. 152; s. auch o. Fn. 46. Zur Billigung dieser Vorschrift als „Inhaltsbestimmung des Eigentums“ nur Wendt (o. Fn. 1), S. 231 ff. Dagegen nimmt Dietlein, in: Stern, Bd. IV/1 (o. Fn. 14), S. 2188, eine „rechtfertigungsbedürftige Beschränkung des Eigentumsrechts“ des Grundstückseigentümers an. 60 Vgl. § 1 Satz 2 TierSchG; selbst die Tierhalterpflichten nach §§ 2 ff. TierSchG sind nicht speziell an den Eigentümer des Tieres adressiert. 61 Danach würde etwa § 28 Abs. 1 FSHG NRW auch gegenüber Eigentümern, die das Grundstück bzw. den berechtigten Besitz erst nach Erlass des Gesetzes erworben haben, als am grundrechtlichen Abwehrrecht zu messende Schrankenbestimmung zu bewerten sein; insoweit ohne Prüfung des Erwerbszeitpunkts des betroffenen Eigentümers BVerwG, NVwZ 2014, 243 ff. und Vorinstanzen. 62 Zum Enteignungsbegriff nur Wendt (o. Fn. 3), Art. 14 Rdn. 76 ff., 148 ff. 63 Denkbar ist natürlich bei rein zeitlicher Abgrenzung, dass Neu-Eigentümer ohne eigene Grundrechtsbetroffenheit von einem gegenüber den Alt-Eigentümern anzunehmenden Verfassungsverstoß, der die Normnichtigkeit zur Folge hat, profitieren, allerdings nur, wenn die Nichtigkeit nicht als qualitative Teilnichtigkeit auf die Fälle der Alteigentümer beschränkt wird. 59

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Gesetz keine derartigen Einschränkungen bewirkt, ist auf Anforderungen für nur inhaltsbestimmende Gesetze zurückzugreifen (unten 2.). 1. Anforderungen an individuelle Eigentumsrechte beschränkende Gesetze Die Anforderungen des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG an Gesetze, die bereits bestehende Eigentumspositionen verkürzen, sind mangels Qualifikation dieses Gesetzesvorbehalts64 insoweit dieselben, die für grundsätzlich alle Grundrechtsbeschränkungsgesetze gelten. So sind rechtsstaatliche Prinzipien zu beachten, wie Bestimmtheit, Verhältnismäßigkeit und Vermeidung unzulässiger Rückwirkung, auch sind die für jede Gesetzgebung geltenden formellen Anforderungen einzuhalten und die für den jeweiligen Gesetzesinhalt maßgeblichen materiellen Anforderungen im Übrigen, einschließlich solcher, die sich aus Grundrechten Dritter ergeben.65 Dagegen sollten andere Grundrechte des betroffenen Eigentümers selbst nicht im Rahmen der Prüfung einer Verletzung des Art. 14 GG, sondern selbständig berücksichtigt werden.66 Anzuwenden sind auch die Anforderungen des Art. 19 GG, neben der inhaltlich nur schwer greifbaren Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG67, insbesondere die Anforderungen, die Art. 19 Abs. 1 GG an nach dem Grundgesetz mögliche gesetzliche Einschränkungen von Grundrechten stellt. Die im Anschluss an die bundesverfassungsgerichtliche Judikatur vorherrschende Vorstellung, dass gesetzliche „Einschränkungen“ nach Art. 19 Abs. 1 GG von einschränkenden Gesetzen auf der Grundlage anders formulierter Gesetzesvorbehalte zu unterscheiden seien oder dass „Schrankenbestimmungen“ (wie Regelungen nach Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG oder die Schranke der allgemeinen Gesetze nach Art. 5 Abs. 2 GG) der Sache nach keine Einschränkungen seien, beruht, was hier nicht im Einzelnen ausgebreitet werden kann, auf beschränkungsdogmatisch überholten Vorstellungen.68

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Insbesondere stellt die Sozialpflichtigkeitsklausel des Art. 14 Abs. 2 GG keine Anforderungen an eigentumsbeschränkende Gesetze, sondern erlangt umgekehrt als Element ihrer Rechtfertigung Bedeutung, vgl. Sachs (o. Fn. 37), B 36; auch Wendt (o. Fn. 3), Art. 14 Rdn. 86; auch Dietlein, in: Stern, Bd. IV/1 (o. Fn. 14), S. 2225 ff. m.w.N. 65 Zum diesbezüglichen Disput nur Sachs, in ders. (o. Fn. 3), vor Art. 1 Rdn. 135 m.w.N. 66 Dies gilt insbesondere für den in der Judikatur vielfach im Rahmen der Verletzung von Art. 14 GG mitberücksichtigten allgemeinen Gleichheitssatz, vgl. etwa aus neuerer Zeit BVerfGE 126, 331 (360) m.w.N., dem so einmal mehr unterschwellig die Bedeutung als eigenständiges Grundrecht abgesprochen wird; dazu allgemein näher Michael Sachs, Der Gleichheitssatz als eigenständiges subjektives Grundrecht, in: Rudolf Wendt u. a. (Hrsg.), Staat Wirtschaft Steuern, Festschrift für Karl Heinrich Friauf zum 65. Geburtstag, 1996, S. 309 ff. Für eine von Art. 14 GG getrennte Behandlung des Art. 3 Abs. 1 GG offenbar auch Ansgar Grochtmann, Die Normgeprägtheit des Art. 14 GG, 2. Aufl. 2010, S. 40. 67 Dazu für Art. 14 GG nur Wendt (o. Fn. 1), S. 400 ff. 68 S. allgemein nur Sachs, in ders. (o. Fn. 3), Art. 19 Rdn. 16 f., 29 m.w.N.

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2. Anforderungen an nur inhaltsbestimmende Gesetze Nur inhaltsbestimmende Gesetze, die Eigentumspositionen erstmalig konstituieren, nur erweitern oder – bei (den bisherigen Eigentumsinhalt prinzipiell in Frage stellenden) Verkürzungen gegenüber einem Status quo – nur für Eigentumspositionen gelten, die erst nach Wirksamwerden des den Eigentumsinhalt neu bestimmenden Gesetzes erworben werden, schränken individuelle Grundrechte aus Art. 14 GG nicht ein, unterliegen diesbezüglichen Anforderungen daher nicht; diese wirken auch nicht unmittelbar für diejenigen, die von „schrankenziehenden Wirkungen“ inhaltsbestimmender Gesetze nicht betroffen sind. Vielmehr kommen insoweit nur Anforderungen in Betracht, die von einer Beeinträchtigung subjektiver Rechte unabhängig sind. Damit bestehen erhebliche Zweifel, ob die allerdings nicht explizit wie Art. 19 Abs. 1 GG nur auf Einschränkungen der Grundrechte bezogene Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG einschlägig sein kann;69 denn die Inhaltsbestimmungen berühren als solche, also bei Fehlen einschränkender Wirkung auf vorhandene Eigentumspositionen, keine grundrechtliche Substanz.70 Ebenso wenig passt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der die Legitimität einer Rechtsverkürzung zur Erreichung eines verfolgten Ziels betrifft, die aber durch die bloße Inhaltsbestimmung definitorisch nicht bewirkt wird. Der Jubilar selbst akzeptiert allerdings als Elemente des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit die Geeignetheit zur Erreichung des Normierungszwecks,71 die sich wohl als breiter ausgerichtete, über die Verhältnismäßigkeit hinausgehende Anforderung an jede Gesetzgebung (etwa auch an Leistungsgesetze) verstehen lässt, und die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, aber nur, indem er die „Wirkungsweise dieses Gebots, bedingt durch die spezifische Art der Grundrechtsrelevanz der Inhaltsbestimmung, verschieden von der üblichen“ bestimmen will.72 Da er mit Recht keine Möglichkeit einer Erforderlichkeitsprüfung sieht,73 scheidet jedenfalls der nicht zufällig von manchen mit dem Übermaßverbot identifizierte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit74 in seinem regulären, vollständigen Bedeutungsgehalt aus. Daher sollte trotz der verführerischen Anziehungskraft dieses Begriffs, dem ja auch bei den Gleichheitssätzen 69

Vgl. ablehnend nur Wendt (o. Fn. 1), S. 277 ff. Sachs, in ders. (o. Fn. 3), Art. 19 Rdn. 35, für gesetzliche Ausgestaltungen im Allgemeinen; zu dieser allerdings sehr unterschiedlich verstandenen Kategorie ebda, vor Art. 1 Rdn. 44, 78, 102 m.w.N. 71 Wendt (o. Fn. 1), S. 282 f. 72 Wendt (o. Fn. 1), S. 286 f. 73 Wendt (o. Fn. 1), S. 283 ff.; zum Ganzen auch ders., (o. Fn. 3), Art. 14 Rdn. 57; Christian Bumke, Ausgestaltung von Grundrechten, 2009, S. 51, hält unter Aufgabe seiner früheren Auffassung (ders., Der Grundrechtsvorbehalt, 1998, S. 97 f.) die Erforderlichkeit für einschlägig, obwohl er ihren Sinn (zutreffend) darin sieht, „die Einbuße grundrechtlicher Positionen des Einzelnen [zu] unterbinden“. 74 Für synonyme Behandlung vgl. etwa Stern (o. Fn. 14), Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 861, und (o. Fn. 25), Bd. III/2, S. 762 f. 70

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schon eine eigentümliche Sonderbedeutung beigemessen wird,75 vielleicht doch besser in diesem Kontext auf ihn ganz verzichtet werden.76 Als zentrale verfassungsrechtliche Anforderung verbleibt danach die Einrichtungsgarantie des Eigentums, die der Jubilar mit Recht in den Mittelpunkt der „Direktiven und Grenzen für die Inhaltsbestimmung“ stellt.77 Sich bei den nicht allzu häufigen reinen Inhaltsbestimmungen, die schon definitorisch bereits bestehende Eigentumspositionen nicht verkürzen, auf diesen Maßstab zu konzentrieren, könnte bei allen damit verbundenen Unsicherheiten doch vorzugswürdig sein. IV. Schluss Der synkretistischen Vereinheitlichung der nicht auf Enteignungen angelegten Gesetzgebung zum Eigentum zu „Inhalts- und Schrankenbestimmungen“ zumal in der bundesverfassungsrechtlichen Rechtsprechung ist der Jubilar seit drei Jahrzehnten entgegengetreten. Seine Trennung von Inhaltsbestimmung und Schrankenbestimmung als unterschiedlichen Gesetzgebungskategorien ist jedenfalls im Ergebnis bis heute überzeugend. Im Falle von Inhaltsnormen mit schrankenziehender Wirkung lässt sie Raum dafür, zum Schutz bestehender Positionen ganz im Sinne der zeitlichen Abgrenzung die Schrankennorm als einschränkende Regelung an der Eigentumsgarantie als Abwehrrecht zu messen. Die materielle Bestimmung der Inhaltsnorm anhand des vom Jubilar eingeführten Merkmals ihrer Ausrichtung auf prinzipielle Verkürzung des bisherigen Eigentumsumfangs erlaubt es, in allen anderen Fällen auch Neu-Eigentümern noch abwehrrechtlichen Schutz gegen beim Eigentumserwerb schon bestehende gesetzliche Beschränkungen als auch gegenüber ihrem Eigentum noch einschränkenden Schrankennormen zu bieten. Dadurch wird es möglich, insoweit den Grundrechtsschutz effektiver als bei einer allein zeit75 Sachs, in: Stern (o. Fn. 14), Bd. IV/2, 2011, S. 1538 f. (zur „neuen“ Formel) und demgegenüber S. 1567 ff. 76 Für eine allerdings deutlich modifizierte Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auch auf nicht eingreifende, nur ausgestaltende Gesetze Grochtmann (Fn. 66), S. 125 ff., 128 Fn. 414, zumindest „im weiteren, ,untechnischen‘ Sinne“; Bumke, Ausgestaltung (Fn. 73), S. 50 ff.; für eine „Flexibilisierung der Anforderungen“ auch Dietlein, in: Stern, Bd. IV/1 (o. Fn. 14), S. 2249, 2247 ff.; bei Absage an das Übermaßverbot auf das „Untermaßverbot“ zurückgreifend Gellermann (o. Fn. 20), S. 331 ff. 77 Wendt (o. Fn. 1), S. 168, 183 ff.; auch ders., (o. Fn. 3), Art. 14 Rdn. 57, erklärt die Einrichtungsgarantie weiterhin zum „zentralen Maßstab für das ,Ob‘ und das ,Wie‘ der Eigentumskonstituierung.“ Für verbleibende Bedeutung etwa auch Gellermann (o. Fn. 20), S. 319 ff., 416 ff.; Depenheuer (o. Fn. 34), Art. 14 Rdn. 222 f.; Dietlein, in: Stern, Bd. IV/1 (o. Fn. 14), S. 2171 ff. jeweils m.w.N. Für mehr oder weniger weitgehend vom Konzept der Einrichtungsgarantien gelöste Verfassungsbindungen etwa Matthias Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, 2005, S. 249 ff., 336, für „eigentumsgrundrechtliche Prinzipien“; Bumke, Ausgestaltung (Fn. 73), S. 55, zu „gewährleistungsspezifischen Vorgaben der Eigentumsgarantie“; Grochtmann (Fn. 66), S. 197 ff., für „Verzichtbarkeit der Institutsgarantie“ (neben der postulierten Sonderform der Verhältnismäßigkeit).

Gesetzliche Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums

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lichen Abgrenzung zwischen Inhaltsbestimmung und Schrankenbestimmung zu gestalten. Es bleibt freilich die Aufgabe, belastbare Kriterien für den prinzipiellen Charakter zukunftswirksamer Eigentumsverkürzungen zu entwickeln.

Zur Zulässigkeit von Legalenteignungen Von Wolf-Rüdiger Schenke, Mannheim I. Einführung in die Problematik Dem Eigentumsgrundrecht des Art. 14 GG gehört das besondere Interesse des Jubilars. Zu diesem hat er u. a. eine umfängliche, tief schürfende und inhaltlich beeindruckende Kommentierung in dem von Sachs herausgegebenen Grundgesetzkommentar vorgelegt. In ihr beschäftigt er sich u. a. auch mit der Problematik sogenannter Legalenteignungen.1 Diese sollen nach der erstmals im Deichordnungsurteil vom 18. 12. 1968 vertretenen Auffassung des BVerfG2 nur in eng begrenzten Ausnahmefällen verfassungsrechtlich zulässig sein. In einer späteren Entscheidung vom 10. 5. 1977, die die Begründung einer öffentlichen Last nach dem Hamburgischen Enteignungsgesetz vom 14. 5. 1963 zum Gegenstand hatte, bestätigte das BVerfG3 diese Ansicht. Es sah hierin eine mit Art. 14 Abs. 3 GG unvereinbare Mischform von Legal- und Administrativenteignung. Unter Berufung auf das Deichordnungsurteil führte es in diesem Zusammenhang aus, eine Legalenteignung dürfe an Stelle der Administrativenteignung bei klassischen Enteignungstatbeständen nur in eng begrenzten Fällen eingesetzt werden. Allerdings wies es dabei zugleich ergänzend darauf hin, dass dort, wo bisher allgemein eingeräumte rechtliche Befugnisse für die Zukunft beseitigt oder eingeschränkt werden, hierin eine Enteignung i. S. des Art. 14 Abs. 3 GG liegen könne und in diesem Bereich der sogenannten Aufopferungsenteignung die Enteignung durch Gesetz in erster Linie ihren Platz habe.4 Im Boxberg-Urteil vom 24. 3. 1987 erweckte das BVerfG hingegen den Eindruck, es rücke von seiner bisherigen Rechtsprechung zur nur ausnahmsweisen Zulässigkeit von Legalenteignungen ab. Ohne seine frühere Judikatur auch nur zu erwähnen, äußerte es sich hier dahingehend, dass dem Gesetzgeber bei Großprojekten neben dem Weg eines allgemeinen Enteignungsgesetzes die Möglichkeit eines auf dieses Projekt beschränkten Gesetzes offenstehe.5 In seinem Stendal-Beschluss vom 17. 7. 19966 führte es unter Berufung auf das Deichordnungsurteil und seinen Beschluss vom 10. 5. 1977 jedoch wieder aus, dass eine Legalenteignung nur in eng begrenzten 1

Wendt, in: Sachs, Grundgesetz, 7. Aufl. 2014, Art. 14, Rdnr. 159. BVerfGE 24, 367 (399 ff.). 3 BVerfGE 45, 297 (331 ff.). 4 BVerfGE 45, 297 (332); s. auch BVerfGE 58, 300 (331). 5 BVerfGE 74, 264 (297). 6 BVerfGE 95, 1 (22 ff.). 2

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Fällen zulässig sei, weil sie den durch Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG und Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG garantierten effektiven Rechtsschutz schmälere. Es vermied hierbei jedoch ausdrücklich eine abschließende Stellungnahme zur Frage, wann eine derartige Verkürzung des Rechtsschutzes verfassungsrechtlich zulässig sei. Stattdessen begnügte es sich mit der Feststellung, dass eine im konkreten Fall zu beurteilende Legalplanung „vor der Verfassung jedenfalls dann Bestand (habe), wenn eine mit ihr verbundene Enteignung nicht nur – wie jede Enteignung – im Sinne von Art. 14 Abs. 3 S. 1 GG erforderlich ist, sondern auch triftige Gründe für die Annahme bestehen, daß die Durchführung einer behördlichen Planfeststellung mit erheblichen Nachteilen für das Gemeinwohl verbunden wäre, denen nur durch eine gesetzliche Regelung begegnet werden kann“.7 Das Vorliegen dieser Voraussetzungen bejahte das BVerfG in dem entschiedenen Fall. Spätere Plenarentscheidungen des BVerfG, die die Zulässigkeit einer Legalenteignung zum Gegenstand haben, sind nicht ergangen. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang immerhin ein Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 15. 2. 2007,8 der die enteignungsrechtlichen Vorwirkungen von Planfeststellungsbeschlüssen betraf, die nach gesetzlichen Vorschriften – hier § 7 Abs. 2 BadWürttMesseG – dem Enteigungsverfahren zugrunde zu legen und für die Enteignungsbehörde bindend sind und insofern einen thematischen Zusammenhang mit dem Beschluss des BVerfG vom 10. 5. 19779 aufweisen, auf den sich die Kammer denn auch berief. Das BVerfG kam dabei zum Ergebnis, dass es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei, dass die gesetzliche Bindungswirkung eines Planfeststellungsbeschlusses für die Enteignungsbehörde auch auf die Verfassungsmäßigkeit der Enteignungsermächtigung erstreckt wird, sofern die Rüge, die gesetzliche Grundlage für die Enteignung sei verfassungswidrig, einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle durch Anfechtung des Planfeststellungsbeschlusses zugeführt werden kann. Die Rechtsprechung des BVerfG zur nur ausnahmsweisen Zulässigkeit von Legalenteignungen gem. Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG wird heute von der h. M.10 und – mit dieser 7

BVerfGE 95, 1 (22). BVerfG, NVwZ 2007, 573. 9 BVerfGE 45, 297 ff. 10 Antoni, in: Hömig, Grundgesetz, 10. Aufl. 2013, Art. 14,Rdnr. 17; Badura, in: Benda/ Maihofer/Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl. 1994, S. 364; F. Becker, in: Stern/ Becker, Grundrechtrechtskommentar, 2010, Art. 14, Rdnrn. 239 ff.; Bryde, in: v. Münch/ Kunig, Grundgesetz Bd. I, 6. Aufl. 2012, Art. 14, Rdnr. 74; Dietlein, in: Stern, Staatsrecht Bd. IV/1, S. 2267; Gröpl, in: Gröpl/Windhorst/v. Coelln, Studienkommentar zum Grundgesetz, 2013, Art. 14, Rdnr. 92; J. Ipsen, Staatsrecht Bd. II, 16. Aufl. 2013, Rdnr. 756; Kimminich, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand 2014, Art. 14, Rdnr. 357; Kloepfer, Verfassungsrecht Bd. II, 2010, § 72, Rdnr. 121; W. Leisner, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Verfassungsrechts, Bd. VIII 2010, § 173, Rdnrn. 217 f.; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Aufl. 2011, § 27, Rdnr. 56; Ossenbühl, in: Festschrift für Hoppe, 2000, S. 183 (190 ff.), ders./Cornils, Staatshaftungsrecht, 6. Aufl. 2013, S. 211 f.; Sieckmann, in: Friauf/ Höfling, Grundgesetz, Stand 2014, Art. 14, Rdnr. 164; Wendt, in: Sachs, GG, Art. 14, Rdnr. 159. 8

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übereinstimmend – von dem Jubilar geteilt. Er verweist hierbei im Einklang mit dem BVerfG auf den bei einer Legalenteignung verkürzten Rechtsschutz des Bürgers, der sich auch dann ergebe, wenn das Gesetz zwar selbst keine Enteignung vorsehe, die Regelung jedoch als Legalplanung enteignungsrechtliche Vorwirkungen entfalte. In Verbindung mit Legalenteignungen und Legalplanungen, die enteignungsrechtliche Vorwirkungen entfalten, führt er aus: „Ein effektiver Eigentumsschutz ist in der Tat durch die abgestufte Prüfung am Gemeinwohlziel sowohl auf der generellen Ebene des Gesetzes wie auch derjenigen der konkreten Vollzugsentscheidung am besten gewährleistet. Eine Legalenteignung ist danach nur möglich, wenn mit einer Enteignung durch die Exekutive (Administrativenteignung) der betreffende Zweck erheblich weniger gut erreicht werden kann.“11 Nur eine Minderheitsauffassung lehnt die Rechtsprechung des BVerfG zur nur ausnahmsweisen Zulässigkeit einer Legalenteignung ab.12 Soweit deren Vertreter die prinzipielle Zulässigkeit von Legalenteignungen dahingehend einschränken, dass sie jene prinzipiell als unzulässig ansehen, wenn sie materiell Einzelfallregelungen beinhalten,13 unterscheiden sie sich im praktischen Ergebnis kaum von der mit dem Deichordnungsurteil eingeschlagenen Linie des BVerfG, die sich primär eben auf solche Legalenteignungen bezieht. Das gilt jedenfalls dann, wenn man den dem Art. 14 Abs. 3 GG zugrunde liegenden Enteignungsbegriff – im Einklang mit der heutigen Rechtsprechung des BVerfG – weitgehend am klassischen Enteignungsbegriff orientiert. II. Die prinzipielle Zulässigkeit von Legalenteignungen Die Anhänger der Auffassung, Legalenteignungen seien prinzipiell unzulässig, berufen sich ausnahmslos auf das Deichordnungsurteil des BVerfG. Häufig machen sie sich gar nicht mehr die Mühe, die für diesen Standpunkt sprechenden Gründe näher darzulegen, sondern verweisen nur pauschal auf diese Entscheidung und die in ihrer Tradition stehenden späteren Judikate des BVerfG. Unabhängig davon, wie man zum Deichordnungsurteil und den dort zu Legalenteignungen entwickelten Grundsätzen steht, kommt diesem jedenfalls grundlegende Bedeutung zu. Deshalb ist es unabdingbar, die Gründe darzulegen, die das BVerfG in diesem Urteil veranlassten, von einer nur ausnahmsweise zulässigen Legalenteignung auszugehen.

11

Wendt, in: Sachs, GG, Art. 14, Rdnr. 159. Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz Bd. I, 6. Aufl. 2010, Art. 14, Rdnrn. 418 ff.; Papier, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Stand 2014, Art. 14, Rdnrn. 555 ff.; Schenke, Rechtsschutz bei normativem Unrecht, 1979, S. 41 ff. (dort S. 41 Fn. 49 auch mit weiteren Nachweisen krit. Stimmen in der älteren Literatur gegenüber der Rechtsprechung des BVerfG); Wieland, in: Dreier, Grundgesetz Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 14, Rdnrn. 110 ff.; offen gelassen von Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 13. Aufl., Rdnr. 85. 13 So Papier, in: Maunz/Dürig, Art. 14, Rdnr. 559. 12

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1. Die Begründung der prinzipiellen Unzulässigkeit von Legalenteignungen im Deichordnungsurteil Das BVerfG weist zur Begründung seiner Auffassung zunächst auf das traditionelle System der Administrativenteignung hin. Es fehle an Anhaltspunkten dafür, dass der Verfassungsgesetzgeber davon habe abweichen und eine allgemeine Enteignungsbefugnis des Gesetzgebers habe begründen wollen.14 Art. 14 GG habe in erster Linie – schon insoweit über Art. 153 WRV hinausreichend – nicht die Aufgabe, die entschädigungslose Wegnahme von Eigentum zu verhindern, sondern wolle den Bestand des Eigentums in der Hand des Eigentümers sichern.15 Durch die uneingeschränkte Zulassung von Legalenteignungen werde der dem Grundrecht wesensmäßig zugehörige Rechtsschutz entscheidend gemindert. Wähle der Gesetzgeber an Stelle der Enteignung durch Verwaltungsakt die Enteignung durch Gesetz, so schließe er damit den in Art. 19 Abs. 4 GG garantierten Rechtsweg zu den zuständigen Gerichten aus, weil die Gesetzgebung nicht zur öffentlichen Gewalt i. S. dieser Vorschrift gehöre. Die richterliche Prüfung, ob die Enteignung gegenüber dem einzelnen Grundrechtsträger zulässig sei, sei damit nicht mehr möglich.16 Werde berücksichtigt, dass die Legalenteignung wesensmäßig „Verwaltung“ durch Gesetz sei und dass die Aufgabe des Art. 19 Abs. 4 GG gerade darin bestehe, Exekutivakte einer effektiven gerichtlichen Kontrolle zu unterwerfen, so werde damit die Abwehrmöglichkeit des Grundrechtsträgers in einem wesentlichen Punkt verkürzt.17 Dem lasse sich auch nicht entgegenhalten, dass dem von der Legalenteignung Betroffenen als Ausgleich für den Verlust der gerichtlichen Kontrolle durch das zuständige Gericht und dem damit verbundenen Rechtsentzug die Verfassungsbeschwerde zur Verfügung stehe. Diese Überlegung überzeuge schon deshalb nicht, weil es die Verfassungsbeschwerde beim Erlass des Grundgesetzes noch nicht gegeben habe und der Grundgesetzgeber sie deshalb in seine Erwägungen nicht habe einbeziehen können. Im Übrigen könne es auch grundsätzlich nicht Aufgabe des BVerfG sein, wie ein Gericht der ersten Tatsacheninstanz eines Verwaltungsprozesses tätig zu werden.18 All diese Überlegungen führten das Gericht zu dem Ergebnis, dass die förmliche Enteignung durch Gesetz nach dem System des Grundgesetzes nur in eng begrenzten Ausnahmefällen zulässig sei. Einen solchen Ausnahmefall bejahte es in dem von ihm entschiedenen Fall, weil die zur Verhinderung einer erneuten Hochwasserkatastrophe erforderlichen Enteignungen im Wege von Administrativenteignungen nicht innerhalb einer angemessenen Zeit hätten durchgeführt werden können, mithin Administrativenteignungen die Durchführung der zwingend gebotenen Maßnahmen erheblich verzögert hätten.19 14

BVerfGE 24, 367 (400). BVerfGE 24, 367 (400). 16 BVerfGE 24, 367 (401). 17 BVerfGE 24, 367 (401/402). 18 BVerfGE 24, 367 (402). 19 BVerfGE 24, 367 (403). 15

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2. Die Berufung auf das traditionelle System der Administrativenteignung Einen wesentlichen Grund für die von ihm angenommene prinzipielle Unzulässigkeit einer Legalenteigung sieht das BVerfG in dem das Eigentumsgrundrecht prägenden überkommenen System der Administrativenteignung, an das der Verfassungsgesetzgeber bei Schaffung des Art. 14 GG angeknüpft habe. Ob diese Begründung in der Lage ist, den eindeutigen Wortlaut des Art. 14 Abs. 3 S. 1 GG in Frage zu stellen, in dem Legalenteignung und Administrativenteignung gleichberechtigt nebeneinander stehen, erscheint freilich durchaus fraglich. Erste Bedenken gegen eine solche Überspielung der grammatischen Interpretation durch Anknüpfung an einen vorkonstitutionellen Rechtszustand ergeben sich bereits aus methodischen Gesichtspunkten, da Verfassungen häufig in bewusster Abkehr von Vorgängerregelungen geschaffen werden und auch das BVerfG nicht umhin kommt anzuerkennen, dass gerade das Eigentumsgrundrecht des Art. 14 GG sich wesentlich von entsprechenden Regelungen in früheren Verfassungen unterscheidet. So führt denn auch das BVerfG selbst durchaus zu Recht in Bezug auf die Regelung des Eigentumsgrundrechts aus, dass Art. 14 GG über seinen Vorgänger, den Art. 153 WRV, schon insoweit hinausgeht, als er nicht nur eine entschädigungslose Wegnahme von Eigentum verhindern, sondern den Bestand des Eigentums in der Hand des Eigentümers sichern soll. Überdies sieht Art. 14 GG – anders als Art. 153 WRV20 – nicht nur eine Enteignung auf Grund eines Gesetzes, sondern auch eine Legalenteignung ausdrücklich vor. Noch deutlicher fallen die Unterschiede zu den Landesverfassungen der konstitutionellen Monarchien und zu dem dort geregelten Eigentumsschutz ins Auge. Dort fanden sich nur Regelungen der Administrativenteignung, da der Begriff der Enteignung nach konstitutionellem Verständnis nur die Administrativenteignungen umfasste. Enteignungen durch Gesetz schieden damit bereits begrifflich aus.21 Die Vorstellung, dass das, was heute unter Legalenteignungen verstanden wird, verfassungsrechtlich unzulässig sein könnte, musste dem damaligen konstitutionellen Verständnis ohnehin gänzlich fremd sein, da es in Konsequenz des Verständnisses der Parlamente als Hüter der Verfassung einen rangmäßigen Unterschied zwischen Verfassungsgesetzen und einfachen Gesetzen nicht kannte.22 Insoweit spricht aber ein Rekurs auf frühere Verfassungen – sofern man ihn überhaupt als weiterführend erachtet – nicht gegen die Zulässigkeit von Legalenteignungen, sondern bestätigt diese sogar. Dies gilt umso mehr, als Legalenteignungen nun20 Selbst in der reichsgerichtlichen Rechtsprechung bestanden zunächst noch Zweifel, ob eine dem Art. 153 WRV unterfallende Enteignung durch Gesetz überhaupt begrifflich möglich sei (s. z. B. RGZ 107, 370 [377]; noch nach RGZ 127, 281 sollte eine Enteignung nur durch Verwaltungsakt denkbar sein). Später wurde ausdrücklich betont, dass eine Legalenteignung begrifflich nur bei einer Einzelenteignung gegeben sei (RGZ 129, 149; 139, 183 und StaatsGH in RGZ 124, Anh. 33 f.), womit zugleich gesagt wurde, dass allgemeine, das Eigentum betreffende Regelungen bedenkenfrei gültig seien. 21 Das konzedierte später auch BVerfGE 45, 297 (330). 22 S. hierzu näher Schenke, Rechtsschutz bei normativem Unrecht, S. 104 ff.

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mehr materiell-rechtliche Bindungen aufweisen, die der Gesetzgeber zu beachten hat. Zudem haben sich – wie noch zu zeigen sein wird (s. unten 3.) – auch im Umfeld des Art. 14 Abs. 3 GG wesentliche Änderungen ergeben, die die Einhaltung dieser Bindungen verfahrensrechtlich absichern. Für eine Ergänzung des Art. 14 Abs. 3 GG durch zusätzliche Restriktionen von Legalenteignungen, für die weder Wortlaut noch Systematik dieser Vorschrift Anhaltspunkte bieten, besteht damit kein Anlass. Dies gilt umso mehr, als auch die Entstehungsgeschichte23 des Art. 14 Abs. 3 GG für eine solche Restriktion von Legalenteignungen keine Hinweise liefert. So stellte etwa der Abgeordnete Dr. von Mangoldt in der 26. Sitzung des Grundsatzausschusses des Parlamentarischen Rats am 30. 11. 1948 unwidersprochen fest, dass eine Enteignung unmittelbar in einem Gesetz ausgesprochen werden könne.24 Von verfahrensrechtlichen Einschränkungen der Befugnis zu Legalenteignungen, wie man sie im Falle einer beabsichtigten Abkehr von der vorkonstitutionellen Rechtslage hätte erwarten müssen, war weder hier noch an anderer Stelle die Rede. Insoweit spricht – bei aller Problematik der Verwendung des von Nawiasky in die Methodendiskussion eingeführten Topos des vorverfassungsrechtlichen Gesamtbildes – gerade jenes Gesamtbild gegen eine Anreicherung des Art. 14 Abs. 3 GG mit zusätzlichen ungeschriebenen verfahrensrechtlichen Anforderungen. 3. Keine Minderung des dem Eigentumsschutz wesensmäßig zugehörigen Rechtsschutzes a) Die verfassungsgesetzliche Gewährleistung eines Rechtsschutzes gegen Gesetze durch Art. 19 Abs. 4 GG aa) Auch Gesetzgebung ist öffentliche Gewalt i. S. des Art. 19 Abs. 4 GG Die Minderung des dem Eigentumsschutz wesensmäßig zugehörigen Rechtsschutzes begründet das BVerfG vor allem damit, dass der Begriff der öffentlichen Gewalt i. S. des Art. 19 Abs. 4 GG nicht die Gesetzgebung umfasse, weswegen eine Prüfung, ob eine Legalenteignung gegenüber dem einzelnen Grundrechtsträger rechtmäßig ist, nicht mehr möglich sei. Dieses Argument besitzt aber schon deshalb wenig Überzeugungskraft, weil die besseren Gründe für die Einbeziehung der Gesetzgebung in die verfassungsgesetzliche Rechtsschutzgarantie sprechen. Die im verfassungsrechtlichen Schrifttum herrschende Meinung25 vertritt deshalb die Auffassung, dass auch die Gesetzgebung unter den Begriff der öffentlichen Gewalt i. S. des Art. 19 Abs. 4 GG zu subsumieren ist.

23

S. hierzu näher Matz, in: JöR n. F. Bd. I, 1951, S. 149 ff. v. Mangoldt, Stenoprotokoll, S. 35. 25 S. hierzu die umfassenden Nachweise bei Schenke, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Drittbearbeitung), Art. 19 Abs. 4, Rdnr. 338, Fußnote 880. 24

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Dafür sprechen, wie an anderer Stelle ausführlich dargelegt wurde,26 sowohl die grammatische wie auch die systematisch-teleologische und die genetische Interpretation dieser Vorschrift. Der Begriff der öffentlichen Gewalt umfasst schon nach dem herkömmlichen Sprachgebrauch nicht nur die hoheitliche Verwaltung, sondern auch die Gesetzgebung. Systematisch-teleologische Gesichtspunkte indizieren dasselbe Ergebnis. Wie sich schon aus der Stellung des Art. 19 Abs. 4 GG am Ende des Grundrechtsabschnitts im Anschluss an die ihm vorangestellten materiellen Grundrechte ergibt und auch durch seine Entstehungsgeschichte bestätigt wird, besteht eine wesentliche Funktion dieser verfassungsgesetzlichen Rechtsschutzgarantie gerade darin, die materiellen Grundrechte zu schützen. Jene schützen abweichend von früheren Verfassungen und auch noch von der Weimarer Reichsverfassung aber nicht nur vor der Verwaltung, sondern auch vor der Gesetzgebung. Auch die den Grundrechten als subjektiven Rechten immanente Rechtsmacht erfordert, wie das BVerfG im Deichordnungsurteil selbst anerkennt,27 eine Rechtsmacht, die einen wirksamen Schutz der materiellen Grundrechte gewährleistet. Dieser macht (jedenfalls auch) einen gerichtlichen Rechtsschutz nötig, der nicht nur – wie dies im Deichordnungsurteil angenommen wurde – im Regelfall, sondern ausnahmslos eingeräumt sein muss. Für einen solchen aus Art. 19 Abs. 4 GG in Verbindung mit den materiellen Grundrechten abzuleitenden Grundrechtsschutz spricht auch, dass die durch die Verwaltung aufgrund eines Gesetzes und die unmittelbar durch Gesetz bewirkten Grundrechtseingriffe weitgehend austauschbar sind. Das wird an Grundrechten wie Art. 8 Abs. 2, 11 Abs. 2 und Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG deutlich und ist insoweit gänzlich unumstritten. Es muss aber auch für Art. 14 Abs. 3 GG gelten. Gründe für eine insoweit zu treffende Differenzierung sind nicht ersichtlich.28 Öffentliche Interessen, die sich insbesondere aus grundrechtlichen Schutzpflichten, aber auch aus dem Sozialstaatsprinzip ergeben können, legen es vielfach nahe, an Stelle des umständlicheren und zeitaufwendigeren Wegs von Grundrechtseingriffen durch die Verwaltung aufgrund eines hierzu ermächtigenden Gesetzes den direkteren Weg eines unmittelbaren Grundrechtseingriffs durch das Gesetz zu wählen, wobei dies aber nicht durch Einbußen des sonst verfassungsrechtlich garantierten Rechtsschutzes erkauft werden darf. Eben dies wäre aber bei Nichterstreckung des Art. 19 Abs. 4 GG auf die Gesetzgebung der Fall.

26

S. hierzu eingehend Schenke, Rechtsschutz bei normativem Unrecht, 1979, S. 28 ff. sowie ders., in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Drittbearbeitung), Art. 19 Abs. 4, Rdnrn. 338 ff. 27 BVerfGE 24, 367 (401). 28 S. auch Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14, Rdnr. 557.

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bb) Auch inzidente Normenkontrollen können einen wirksamen Rechtsschutz gegen Gesetze sicherstellen Die Erstreckung der Rechtsschutzgarantie auf Gesetze und damit auch auf Legalenteignungen bedeutet dabei keineswegs, dass damit der Rechtsschutz gegen Gesetze nur durch eine prinzipale Normenkontrolle möglich ist, wie dies das BVerfG im Deichordnungsurteil in Konsequenz seiner kurz vorher ergangenen AKU-Entscheidung29 noch angenommen hatte. Ein Rechtsschutz gegen Gesetze kann vielmehr in aller Regel auch inzidenter erfolgen. Das hat das BVerfG30 in seiner späteren Rechtsprechung, in der es sich für die – von ihm lange offen gehaltene – Erstreckung des Art. 19 Abs. 4 GG auf untergesetzliche Rechtsnormen aussprach, ausdrücklich betont. Es muss aber auch für den Rechtsschutz gegen vom Parlament erlassene Gesetze gelten. Besonderheiten ergeben sich hier nur insofern, als dann, wenn die Fachgerichte bei der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit eines nachkonstitutionellen Parlamentsgesetzes von dessen Verfassungswidrigkeit ausgehen, sie an der Verwerfung des Gesetzes gehindert sind und das Gesetz gem. Art. 100 Abs. 1 GG dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen haben. Diese Vorlagepflicht ist aber kein Spezifikum der Legalenteignung, sondern besteht in gleicher Weise bei einer Administrativenteignung aufgrund eines nach Ansicht des Fachgerichts verfassungswidrigen Gesetzes.31 Genügen dem Art. 19 Abs. 4 GG aber auch inzidente Normenkontrollen, so erweist sich auch das Argument des BVerfG, bei unterstellter Zulässigkeit einer Legalenteignung komme allenfalls ein Rechtsschutz durch die Verfassungsbeschwerde in Betracht, als nicht überzeugend. Vielmehr lässt sich der Rechtsschutz sehr wohl auch durch die den Fachgerichten obliegenden inzidenten Normenkontrollen sicherstellen (s. zu dieser Ausgestaltung des Rechtsschutzes durch inzidente Normenkontrollen näher unter II. 3. c)). Auf diese Weise steht den Betroffenen in aller Regel ein mehrstufiger fachgerichtlicher Instanzenzug zur Verfügung. Dieser schließt wegen des hier unmittelbar anwendbaren § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG32 prinzipiell die sofortige 29

BVerfGE 24, 33 (50 f.). BVerfG, JZ 2006, 1021 ff. und dazu Schenke, JZ 2006, 1004 ff. sowie Seiler, DVBl. 2007, 538 ff.; in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung schon früher BVerwGE 80, 355 (361) und BVerwG, NVwZ 1990, 162 (163). 31 Dazu, dass es ohne große Schwierigkeiten möglich wäre, einem durch ein Gesetz verletzten Grundrechtsträger eine Beteiligtenstellung im Rahmen des Normenkontrollverfahrens des Art. 100 GG einzuräumen und damit auch dieses zu subjektivieren, s. Schenke, JZ 2006, 1004 ff. 32 S. hierzu eingehender schon Schenke, Rechtsschutz bei normativem Unrecht, S. 302 ff.; ders., NJW 1986, 1451 ff. sowie ders., in: Festschrift für Steiner, 2009, S. 687 (691 ff. und 709 ff.); ebenso z. B. Detterbeck, DÖV 1990, 562 ff.; Gerontas, DÖV 1982, 443 ff.; Warmke, Die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde, 1993, S. 174 ff. mit weit. Nachw. BVerfGE 72, 39 (43 f.); 97, 157 (164 f.) sowie BVerfG, NVwZ 2004, 977 ff. kommen unter Rückgriff auf einen dem § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG entnommenen allgemeinen Grundsatz der Verfassungsbeschwerde grundsätzlich zu demselben Ergebnis; teilw. a. A. Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 8. Aufl. 2010, Rdnrn. 252 ff. 30

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Erhebung einer Verfassungsbeschwerde aus. Deshalb ist das BVerfG – entgegen der im Deichordnungsurteil vertretenen Auffassung – grundsätzlich nicht verpflichtet, wie ein Gericht der ersten Tatsacheninstanz eines Verwaltungsprozesses tätig zu werden. Vielmehr steht es in seinem Ermessen, ob es bei Erfolglosigkeit des fachgerichtlichen Rechtsschutzes eine gegen die letztinstanzliche fachgerichtliche Entscheidung gerichtete Verfassungsbeschwerde annimmt. b) Der Rechtsschutz durch die Verfassungsbeschwerde aa) Das Gebot einer umfassenden Prüfung der Verfassungsmäßigkeit einer Legalenteignung durch das BVerfG Nimmt das BVerfG – wozu es grundsätzlich nicht verpflichtet ist – die Verfassungsbeschwerde an, so hat es allerdings ebenso wie bei sonstigen unmittelbar oder mittelbar gegen Gesetze gerichteten Verfassungsbeschwerden ein entscheidungsrelevantes Parlamentsgesetz sowohl in rechtlicher wie auch in tatsächlicher Hinsicht – ebenso wie im Rahmen eines Normenkontrollverfahrens gem. Art. 100 Abs. 1 GG – uneingeschränkt auf seine Verfassungsmäßigkeit zu prüfen. Die funktionell-rechtlichen Gründe, die das BVerfG sonst an einer uneingeschränkten Überprüfung gerichtlicher Entscheidungen auf ihre Rechtmäßigkeit trotz einer bei deren Rechtswidrigkeit begründeten mittelbaren Grundrechtsverletzung hindern33 und im Hinblick auf die die Verfassungsbeschwerde gegen Verwaltungsmaßnahmen keinen Rechtsweg i. S. des Art. 19 Abs. 4 GG beinhalten kann,34 kommen bei legislativen Grundrechtsverletzungen gerade nicht zum Tragen. Dass das BVerfG die Frage, ob ein Fachgericht eine einfachgesetzliche Norm – sei es aus tatsächlichen, sei es aus rechtlichen Gründen – unrichtig angewandt hat, grundsätzlich nicht zu prüfen berechtigt ist, ergibt sich daraus, dass das BVerfG andernfalls zu einer Superberufungs- bzw. Superrevisionsinstanz würde.35 Geht es um die Frage der Verwerfung eines entscheidungsrelevanten, vom Parlament erlassenen Gesetzes wegen dessen Unvereinbarkeit mit der Verfassung, handelt es sich hingegen – wie schon Art. 100 Abs. 1 GG deutlich macht – um eine ureigene Aufgabe des Verfassungsgerichts,36 die sich als materielle Verfassungsgerichtsbarkeit darstellt und bei 33 S. zum Umfang der gerichtlichen Überprüfung fachgerichtlicher Entscheidungen näher Schenke, Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, 1987, S. 27 ff. und neuestens Schenke, in: Festschrift für Eckart Klein, 2013, S. 453 ff. mit eingehenden Nachweisen in Fußnote 1. 34 S. hierzu näher Schenke, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Drittbearbeitung), Stand 2014, Art. 19 Abs. 4, Rdnr. 91 f. 35 S. hierzu Schenke, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Drittbearbeitung), Art. 19 Abs. 4, Rdnr. 91. 36 So richtig Herzog, in: Festschrift für Dürig, 1990, S. 431 (433): „Hauptaufgabe des Bundesverfassungsgerichts ist die Überprüfung des diesen (Anm. des Verfassers: gemeint sind Verwaltungs- bzw. Gerichtsentscheidungen) zugrundeliegenden Gesetzes.“; Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein, Bundesverfassungsgerichtsgesetz Bd. II, § 90, Rdnr. 404.

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der ein Übergriff in den Bereich der Fachgerichtsbarkeit von vorneherein ausscheidet.37 Das gilt völlig unabhängig vom materiellen Inhalt des vom Parlament erlassenen Gesetzes, also selbst dann, wenn jenes eine Einzelfallregelung zum Gegenstand hat und sich deshalb als Verwaltung in Gesetzesform darstellt. Die ratio des Art. 100 Abs. 1 GG, der das Parlament vor einem ungerechtfertigten Vorwurf durch die Fachgerichte schützen will und deshalb die Verwerfung formeller Gesetze bei den Verfassungsgerichten monopolisiert, kommt deshalb auch hier voll zum Tragen. Wegen des durch eine Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze gewährleisteten umfassenden Grundrechtsschutzes gehen bezeichnenderweise auch diejenigen, die sich für eine Erstreckung der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG auf Gesetze aussprechen, davon aus, dass eine solche Rechtssatzverfassungsbeschwerde einen Rechtsweg i. S. der verfassungsgesetzlichen Rechtsschutzgarantie darstellt,38 auch wenn jene eine derartige prinzipale Normenkontrolle zur Gewährleistung eines Rechtsschutzes gegen Gesetze prinzipiell nicht zwingend erfordert. bb) Die Zulässigkeit von Legalenteignungen spätestens nach Einführung einer Verfassungsbeschwerde Dass eine Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze nach dem vorher Gesagten einen wirksamen Rechtsschutz gegen Gesetze gewährleistet, kann nicht ohne Einfluss auf die Beurteilung der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von Legalenteignungen bleiben. Vielmehr folgt daraus, dass selbst dann, wenn man Art. 19 Abs. 4 GG auf Gesetze für nicht anwendbar hält und überdies einen wirksamen Rechtsschutz gegenüber Legalenteignungen fälschlich als nur durch prinzipale Normenkontrollen gewährleistet ansieht, jedenfalls seit der Einführung der Verfassungsbeschwerde der im Deichordnungsurteil angegebene Grund für die grundsätzliche Unzulässigkeit von Legalenteignungen entfallen ist. Das gilt insbesondere, nachdem die Verfassungsbeschwerde, mit der ein wirksamer Gerichtsschutz der Grundrechte und damit auch des Eigentumsgrundrechts bezweckt wurde, nicht nur einfachgesetzlich eingeführt, sondern (seit 1969) verfassungsgesetzlich verankert worden ist. Das Argument des BVerfG, die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde vermöge an der prinzipiellen Unzulässigkeit einer Legalenteignung nichts zu ändern, weil es die Verfassungsbeschwerde beim Erlass des Grundgesetzes noch nicht gegeben habe und der Grundgesetzgeber sie deshalb nicht in seine Erwägungen habe einbeziehen können, überzeugt nicht. Um dies zu begründen, bedarf es nicht einmal eines Rückgriffs auf die vom BVerfG sonst prinzipiell befürwortete objektive Auslegungstheorie,39 bei deren Zugrundelegung kein Zweifel daran bestehen kann, dass eine verfas37 Davon, dass hier eine uneingeschränkte Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes stattfindet, geht auch das BVerfG in ständiger Rechtsprechung aus (vgl. z. B. BVerfGE 68, 337 [344 f.]; 86, 71 [77]; 97, 117 [122]). 38 S. hierzu eingehend Schenke, in: Bonner Kommentar zu Grundgesetz (Drittbearbeitung), Art. 19 Abs. 4 GG, Rdnrn. 89 ff. mit eingehenden Nachweisen. 39 Für sie schon BVerfGE 1, 299 (312).

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sungsgesetzliche Regelung jedenfalls durch den Neuerlass von hiermit in funktionalem Zusammenhang stehenden verfassungsgesetzlichen Vorschriften ihren Bedeutungsgehalt verändern kann. Es ergibt sich vielmehr bereits aus einer die grammatische und systematische Auslegung des Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG verstärkenden teleologischen Auslegung dieser Bestimmung. Wenn demnach – wie erstmals im Deichordnungsurteil angenommen – eine Legalenteignung wegen Verkürzung des mit ihr verbundenen Rechtsschutzes unzulässig sein soll, so folgt hieraus, dass dann, wenn dieser vom Verfassungsgesetzgeber verfolgte Zweck nicht mehr gefährdet ist, weil ein solcher Rechtsschutz inzwischen gewährleistet ist, die dem Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG zugeschriebene ratio nicht mehr greift. Damit besteht kein Grund mehr, diese Vorschrift entgegen ihrem Wortlaut, ihrer Systematik und ihrer Genese, die allesamt für ein gleichberechtigtes Nebeneinander von Legal- und Administrativenteigung sprechen, in der im Deichordnungsurteil befürworteten Weise teleologisch zu reduzieren. c) Die ausreichende Sicherung eines Rechtsschutzes gegen Legalenteignungen auch außerhalb des Art. 19 Abs. 4 GG und des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG Dass die grundsätzliche Unzulässigkeit einer Legalenteignung nicht unter Hinweis auf die fehlende Möglichkeit eines gerichtlichen Rechtsschutzes gegen Gesetze begründet werden kann, ergibt sich nicht nur aus dem durch Art. 19 Abs. 4 GG gebotenen Rechtsschutz gegen Gesetze und aus der verfassungsgesetzlichen Verankerung der Verfassungsbeschwerde. Es folgt vielmehr auch schon daraus, dass die einfachgesetzlichen prozessrechtlichen Vorschriften in Verbindung mit Art. 100 Abs. 1 GG bereits einen ausreichenden fachgerichtlichen Rechtsschutz gegen Legalenteignungen zur Verfügung stellen. Damit besteht auch unter diesem – im Deichordnungsurteil merkwürdigerweise völlig außer Acht gelassenen – Gesichtspunkt kein Grund, Legalenteignungen stärker einzuschränken als Administrativenteignungen. Soweit durch Legalenteignungen bisheriges Eigentum Privater ganz oder teilweise aufgehoben wird und hieraus resultierende Befugnisse einem Hoheitsträger oder anderen Privaten zugeordnet werden, besteht für die bisherigen Eigentümer nach allen Prozessordnungen die Möglichkeit, das Fortbestehen ihres Eigentumsrechts im Wege von Feststellungsklagen geltend zu machen. Das Eigentumsrecht begründet ein dingliches subjektives Recht, dem rechtslogisch immer die Verpflichtung anderer entspricht. Diese Recht-Pflicht-Beziehung stellt aber nichts anderes als ein Rechtsverhältnis dar, das heute nach allen Prozessordnungen, die den fachgerichtlichen Rechtsschutz regeln, im Rahmen des nach diesen Prozessordnungen eröffneten Rechtswegs Gegenstand einer Feststellungsklage sein kann. Das gilt – vorbehaltlich spezieller Rechtswegregelungen – nicht nur für den bei zivilrechtlichen Streitigkeiten schon seit langem eröffneten ordentlichen Rechtsweg, sondern spätestens nach Erlass der Verwaltungsgerichtsordnung, der vor dem Deichordnungsurteil erfolgte, auch für verwaltungsrechtliche Streitigkeiten. Die verwaltungsgerichtliche Generalklausel des § 40 VwGO eröffnet den Verwaltungsrechts-

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weg grundsätzlich für alle öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art. Sie sieht in Abkehr von vorkonstitutionellen Verwaltungsgerichtsgesetzen, die nur einen Rechtsschutz gegen Verwaltungsakte zuließen und selbst diesen oftmals zusätzlich durch ein Enumerationsprinzip einschränkten, in § 43 VwGO ausdrücklich die Statthaftigkeit von Feststellungsklagen vor. Wenn durch ein Gesetz Befugnisse, die dem Eigentumsgrundrecht immanent sind, an einen Hoheitsträger zu deren hoheitlicher Wahrnehmung übertragen werden, kann der Eigentümer, der entsprechende Normen wegen Verstoßes gegen Art. 14 GG für verfassungswidrig und nichtig ansieht, das Fortbestehen seiner Befugnisse verwaltungsgerichtlich feststellen lassen. Gleichermaßen steht ihm der Weg offen, auf Feststellung des Nichtbestehens der öffentlich-rechtlichen Befugnisse des Hoheitsträgers zu klagen. Für die Zulässigkeit entsprechender Feststellungsklagen spielt es dabei keine Rolle, ob sich der nach Ansicht des Klägers verfassungswidrige Eingriff in das Eigentumsgrundrecht als eine Legalenteignung oder als eine unmittelbar durch das Gesetz statuierte Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums darstellt. Die Statthaftigkeit entsprechender Feststellungsklagen lässt sich nicht mit dem früher in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung verwandten, mittlerweile aber schon lange aufgegebenen Argument in Frage stellen, solche Feststellungsklagen liefen auf eine verkappte Normenkontrolle hinaus.40 Bei diesem Einwand wurde übersehen, dass bei einer solchen Feststellungsklage die Gültigkeit der Rechtsnorm nicht Gegenstand der Klage ist, sondern lediglich eine Vorfrage darstellt. Die Unentbehrlichkeit einer derartigen Feststellungsklage wird im Übrigen schon daran deutlich, dass das Fortbestehen der strittigen Befugnisse nicht nur darauf beruhen kann, dass der Eigentumseingriff verfassungswidrig und nichtig ist, sondern auch darauf, dass der Tatbestand der Eingriffsnorm entgegen der Auffassung des Hoheitsträgers nicht gegeben ist. Kommt das Verwaltungsgericht bei der Prüfung der Feststellungsklage zum Ergebnis, dass die Klage des Eigentümers begründet ist, weil das (nachkonstitutionelle) Eingriffsgesetz gegen Art. 14 GG verstößt, so haben sie das Gesetz gemäß Art. 100 Abs. 1 GG dem BVerfG vorzulegen. Eine Verwerfungsbefugnis der Verwaltungsgerichte besteht nicht. Eine Entscheidung des BVerfG, die die Unvereinbarkeit der Legalenteignung mit Art. 14 GG und deren hieraus resultierende Nichtigkeit feststellt, erwächst gem. § 78 Abs. 1 S. 1, 31 Abs. 2 S. 1 BVerfGG in Gesetzeskraft. Im Ergebnis gewähren die Feststellungklage gem. § 43 VwGO und das hiermit gegebenenfalls in Verbindung stehende konkrete Normenkontrollverfahren des Art. 100 Abs. 1 GG damit jedenfalls im Regelfall einen Rechtsschutz, der auch bei

40 S. hierzu näher die Auseinandersetzung mit der vom BVerwG früher vertretenen gegenteiligen Auffassung bei Schenke, Rechtsschutz bei normativem Unrecht, S. 215 ff. Heute ist die Zulässigkeit solcher Feststellungsklagen nicht nur in der Kommentarliteratur (s. hierzu eingehend z. B. Kopp/Schenke, Verwaltungsgerichtsordnung, 20. Aufl. 2014, § 43, Rdnrn. 8 ff.), sondern auch in der verwaltungsgerichtlichen und der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung unumstritten (vgl. z. B. BVerwG, NJW 2000, 3584; BVerfG, NVwZ 2004, 977 [979] m. w. Nachw.).

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der – vom BVerfG abgelehnten – Einbeziehung formeller Gesetze in die verfassungsgesetzliche Rechtsschutzgarantie dem Art. 19 Abs. 4 GG genügen würde. Dies anzuerkennen, kommt denn auch die neuere – nach Erlass des Deichordnungsurteils ergangene – Rechtsprechung des BVerfG nicht umhin, indem es eine unmittelbar gegen Vollzugsnomen (self-executing-Normen) gerichtete Verfassungsbeschwerde aufgrund der Möglichkeit eines inzidenten Rechtsschutzes durch eine verwaltungsgerichtliche Feststellungsklage wegen der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde im Regelfall für unzulässig ansieht.41 Dass die Fachgerichte bei formellen nachkonstitutionellen Gesetzen wegen Art. 100 Abs. 1 GG nicht in der Lage sind, ein solches Gesetz zu verwerfen, steht – wie auch das BVerfG anerkennt – der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde nicht entgegen. Die vorherige Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes ist vielmehr deshalb regelmäßig geboten, um zu vermeiden, dass das BVerfG ohne die Fallanschauung der Fachgerichte auf ungesicherter Tatsachen- und Rechtsgrundlage entscheiden muss.42 Das BVerfG trägt damit dem Umstand Rechnung, dass bereits solche inzidenten Normenkontrollen im Hinblick auf die Möglichkeit der Fachgerichte, ein von ihnen als verfassungswidrig angesehenes Gesetz gem. Art. 100 Abs. 1 GG dem BVerfG vorzulegen, einen ausreichenden Rechtsschutz gegen Gesetze sicherstellen. Zwar begründet das BVerfG die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde nicht mit einer unmittelbaren Anwendung des § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG, da dies auf das Eingeständnis hinausliefe, dass solche inzidente Normenkontrollen in Verbindung mit Art. 100 Abs. 1 GG einen Rechtsweg gegen Gesetze beinhalten. Dies ließe sich nicht damit vereinbaren, dass es nach Auffassung des BVerfG keinen Rechtsweg gegen Gesetze gibt und jene nicht der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG unterfallen. Der von ihm zur Begründung der Unzulässigkeit eines unmittelbar gegen das Gesetz gerichteten Verfassungsbeschwerde herangezogene allgemeine Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde, den es in Anlehnung an § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG entwickelt, vermag aber nicht zu verdecken, dass auch das BVerfG der Ansicht ist, dass bereits inzidente Normenkontrollen – wie die allgemeine verwaltungsgerichtliche Feststellungsklage in Verbindung mit dem sie ergänzenden Art. 100 Abs. 1 GG – einen ausreichender Rechtsschutz gegen Gesetze sicherstellen. Durch die Heranziehung des Grundsatzes der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde entkräftet das BVerfG zugleich die von ihm früher geäußerten Bedenken gegen eine grundsätzliche Zulässigkeit von Legalenteignung, die sich darauf stützten, in ihrer Folge müsste das BVerfG die Funktionen der ersten Tatsacheninstanz eines Verwaltungsprozessen übernehmen.43 Hiermit Hand in Hand gehend wird zu-

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BVerfG, NVwZ 2004, 977 (978 f.). Vgl. z. B. BVerfGE 123, 148 (173) mit weit. Nachw und BVerfG, NVwZ 2004, 977 (978). 43 So BVerfGE 24, 367 (402). 42

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gleich die Unrichtigkeit der im Deichordnungsurteil geäußerten Auffassung44 deutlich, der zufolge bei einer grundsätzlichen Zulässigkeit von Legalenteignungen eine fachgerichtliche Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Enteignungsgesetzes nicht mehr möglich sei. Das eben Gesagte gilt entsprechend, wenn die Legalenteignung durch Überführung privaten Eigentums in das private Eigentum anderer Privater oder auch eines Hoheitsträgers erfolgt. In diesem Fall scheidet zwar eine verwaltungsgerichtliche Feststellungsklage aus. Der bisherige Eigentümer kann aber durch eine zivilgerichtliche Feststellungsklage gegenüber dem durch die Legalenteignung Begünstigten feststellen lassen, dass sein Eigentum fortbesteht bzw. kein Eigentum des Begünstigten besteht. Am Rechtsschutzinteresse für eine solche Klage kann kein Zweifel bestehen. Auch im Rahmen solcher Klagen haben die Zivilgerichte inzidenter zu überprüfen, ob die Legalenteignung verfassungsmäßig und wirksam ist. Verneinen sie dies, haben sie das Enteignungsgesetz gem. Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG dem BVerfG zur Überprüfung vorzulegen. Teilt das BVerfG ihre Auffassung, stellt es die Verfassungswidrigkeit und Nichtigkeit des Gesetzes gem. § 78 Abs. 1 S. 1, 31 Abs. 2 S. 1 BVerfGG mit Gesetzeskraft fest. Auch auf diese Weise ist damit ein ausreichender Rechtsschutz gegen Legalenteignungen sichergestellt. d) Rechtsschutz des Eigentümers im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens Mit der Möglichkeit eines gerichtlichen Rechtsschutzes gegen das Enteignungsgesetz sind freilich noch nicht alle Bedenken gegen eine grundsätzliche Zulässigkeit von Legalenteignungen ausgeräumt. Bedenken könnten vielmehr noch insoweit bestehen, als auf diese Weise ein Rechtsschutz des Eigentümers im Rahmen des Enteignungsverfahrens – anders als bei einer Administrativenteignung – noch nicht sichergestellt ist. Der gerichtliche Rechtsschutz gegen die Legalenteignung eröffnet den Betroffenen nämlich nicht die Möglichkeit, bereits im Rahmen des Enteignungsverfahrens Bedenken gegen die Enteignung geltend zu machen und z. B. Alternativen aufzuzeigen, unter deren Zugrundelegung seine Enteignung entbehrlich ist, z. B. weil bereits ohne jene eine einvernehmliche Lösung herbeigeführt wird, die seinen Interessen, aber auch denen des Hoheitsträgers genügt. Thematisch geht es damit um die im Eigentumsgrundrecht – wie auch in allen anderen Freiheitsgrundrechten – eingeschlossene Sicherung der verfahrensrechtlichen Stellung Betroffener bei drohenden Grundrechteingriffen. Der insoweit geforderte status activus processualis lässt sich – unabhängig davon, ob man die Gesetzgebung in die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG einbezieht – jedenfalls nicht auf Art. 19 Abs. 4 GG stützen, sondern ist bereits in dem beeinträchtigten materiellen Grundrecht selbst zu verankern. Insoweit spricht das

44

BVerfGE 24, 367 (400).

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BVerfG45 denn auch durchaus zu Recht von einem dem Eigentumsgrundrecht wesensmäßig zugehörigen Rechtsschutz, der durch eine uneingeschränkte Zulässigkeit einer Legalenteignung gemindert wird. Dieser Rechtsschutz durch und im Verfahren kommt allerdings von vorneherein nur bei solchen Legalenteignungen in Betracht, die sich materiell gesehen (zumindest auch) als Verwaltungsmaßnahmen darstellen, nicht hingegen bei Legalenteignungen, die abstrakt-generelle Regelungen beinhalten. Bei letzteren scheidet eine allgemeine Beteiligung betroffener Eigentümer am Gesetzgebungsverfahren naturgemäß aus. Das gilt nicht nur für das Eigentumsgrundrecht, sondern auch für alle andern abstrakt-generellen Eingriffe in Freiheitsgrundrechte und dies selbst dann, wenn das Grundgesetz in Bezug auf diese Grundrechte ausdrücklich Eingriffe unmittelbar durch Gesetz vorsieht, wie dies z. B. in Bezug auf die Berufsfreiheit gem. Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG der Fall ist. Bei solchen Gesetzen wird denn auch von niemandem die Ansicht vertreten, dass der durch ein abstrakt-generelles Gesetz betroffene Grundrechtsinhaber ein Recht besitze, im Gesetzgebungsverfahren beteiligt zu werden und deshalb anzuhören sei. Der Hinweis des BVerfG auf den dem Eigentumsgrundrecht immanenten Rechtsschutz erklärt sich denn auch daraus, dass nach seiner im Deichordnungsurteil vertretenen Auffassung Legalenteignungen „Verwaltung“ durch Gesetz sind46 und sich in diesem Zusammenhang in der Tat das Problem einer verfahrensrechtliche Beteiligung Betroffener an einem solchen Enteignungsverfahren stellt. Bezeichnenderweise führt das BVerfG denn auch in seinem Beschluss vom 10. 5. 1977 ausdrücklich aus, dass dann, wenn es sich im Rahmen des geltenden Rechts als notwendig erweist, bisher allgemein eingeräumte rechtliche Befugnisse für die Zukunft zu beseitigen oder einzuschränken – worin eine Enteignung i. S. des Art. 14 Abs. 3 GG liegen könne –, hier in erster Linie eine Enteignung durch Gesetz ihren Platz habe.47 Es geht damit zugleich davon aus, dass eine solche Legalenteignung wegen der in Fällen dieser Art nicht in Betracht kommenden Admistrativenteignung grundsätzlich zulässig ist, und dies, obschon den betroffenen Eigentümern im Rahmen eines solchen Gesetzgebungsverfahrens in aller Regel keine Beteiligungsrechte zustehen. Dabei spielt es in diesem Zusammenhang auch keine Rolle, dass in Konsequenz der Verengung des Enteignungsbegriffs,48 der die neuere Rechtsprechung des BVerfG49 prägt, die noch im Beschluss vom 10. 5. 1977 als Aufopferungsenteignung bezeichneten Fälle heute überwiegend als entschädigungspflichtige Sozialbindungen des Eigentums angesehen werden. An dem hier untersuchten Problem hat sich durch die insoweit zu konstatierende Begriffsveränderung nichts geändert. Es bleibt vielmehr dabei, dass durch den Gesetzgeber vorgenommene abstrakt-generelle entschädigungspflichtige Eingriffe in das Eigentumsgrundrecht, unabhängig davon, ob man 45

BVerfGE 24, 367 (401). BVerfGE 24, 367 (401 f.). 47 BVerfGE 45, 497 (332). 48 Die neuere Rechtsprechung orientiert sich – wenn auch nicht immer konsequent – wieder am klassischen Enteignungsbegriff. 49 Grundlegend BVerfGE E 58, 300 (330 ff.). 46

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sie als Enteignung oder als entschädigungspflichtige Sozialbindungen qualifiziert, keine Beteiligung der im Vorhinein nicht bestimmbaren Betroffenen am Erlass einer solchen gesetzlichen Regelung erfordern. Wenn Legalenteignungen dagegen Einzelfälle zum Gegenstand haben, ist es wegen des dem Eigentumsgrundrecht insoweit immanenten Erfordernisses eines Verfahrensrechtsschutzes grundsätzlich unabdingbar, die Betroffenen am Gesetzgebungsverfahren zu beteiligen. Andernfalls läge in der Tat ein Formenmissbrauch des Gesetzgebers vor, in dessen Konsequenz es zu einer unzulässigen Beschneidung des Eigentumsschutzes käme. Da die Zahl der Betroffenen hier regelmäßig bestimmbar und begrenzt ist, ergeben sich bei einer solchen Beteiligung keine unüberwindbaren praktischen Schwierigkeiten. Deutlich wird dies etwa an der Stendal-Entscheidung des BVerfG. Hier war für die durch eine Legalplanung Betroffenen die Möglichkeit einer Verfahrensbeteiligung am Gesetzgebungsverfahren vorgesehen.50 Der Umstand, dass eine größere Zahl von Personen am Gesetzgebungsverfahren zu beteiligen war, erwies sich bei dessen Durchführung als nicht hinderlich. Ohnehin würden sich die Schwierigkeiten, die möglicherweise aus der großen Zahl zu beteiligender Eigentümer resultieren, in gleicher Weise bei einer durch die Verwaltung durchgeführten, ein Großvorhaben betreffenden behördlichen Planfeststellung ergeben und erweisen sich auch hier als durchaus beherrschbar. Beschränkt man den Begriff der Enteignung i. S. des Art. 14 Abs. 3 GG im Einklang mit der neueren Rechtsprechung des BVerfG grundsätzlich auf die klassischen Enteignungsfälle, ist damit bei deren Durchführung im Wege einer Legalenteignung die verfahrensrechtliche Beteiligung betroffener Eigentümer, insbesondere deren Anhörung, im Regelfall geboten. Die Qualität eines solchen in Verbindung mit dem Erlass eines Gesetzes stattfindenden Anhörungsverfahrens bleibt nicht hinter der eines Verwaltungsverfahrens zurück, sondern ist dieser sogar eher überlegen. Zu Recht führte deshalb das BVerfG im Boxbergurteil in Bezug auf die gesetzliche Planung eines Großprojekts aus: „Ein entsprechendes Gesetzgebungsverfahren vermag durch seinen Gang mit den Beratungen in den zuständigen Ausschüssen, mit – regelmäßig öffentlichen – Anhörungen und der zu erwartenden Augenscheinseinnahme eine unvoreingenommene Prüfung der Frage zu gewährleisten, ob der Enteignungszweck dem allgemeinen Wohl nach Art. 14 Abs. 3 S. 1 GG entspricht und eine Enteignung zu diesem Zweck erforderlich ist.“51 Damit erledigen sich auch insoweit die im Deichordnungsurteil wegen einer Verkürzung des Eigentumsschutzes geäußerten Bedenken gegen die grundsätzliche Zulässigkeit einer Legalenteignung.

50 51

S. hierzu BVerfGE 95, 1 (239). BVerfGE 74, 264 (297).

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4. Die Legalenteignung verstößt nicht gegen das Gewaltenteilungsprinzip Bedenken gegen die grundsätzliche Zulässigkeit einer Legalenteignung könnten sich schließlich noch daraus ergeben, dass die Legalenteignung nach der im Deichordnungsurteil vertretenen Ansicht des BVerfG wesensmäßig „Verwaltung“ durch Gesetz ist.52 Ihre grundsätzliche Zulassung könnte deshalb gegen das Gewaltenteilungsprinzip (Art. 20 Abs. 2 GG) und dessen grundgesetzliche Konkretisierungen verstoßen. Allerdings kommen diesbezügliche Einwendungen naturgemäß nur dann in Betracht, wenn eine Legalenteignung inhaltlich eine Einzelfallregelung zum Gegenstand hat. Nicht hiervon betroffen wären deshalb abstrakt-generelle Regelungen, die auf eine weitgehende Einschränkung des Eigentumsgrundrechts hinauslaufen und dieses im Extremfall sogar völlig entleeren und zu einem nudum ius werden lassen. Dabei spielte es auch insoweit keine Rolle, ob man diese als Enteignung i. S. des Art. 14 Abs. 3 GG oder – im Einklang mit der neueren Rechtsprechung des BVerfG – nur als entschädigungspflichtige Sozialbindungen des Eigentums qualifiziert. Selbst wenn eine Legalenteignung sich materiell als Einzelfallregelung bzw. Verwaltung darstellt, dürfte dies im Hinblick auf das Gewaltenteilungsprinzip verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sein. Jenes ist gemäß Art. 20 Abs. 2 GG durchaus unterschiedlichen Ausgestaltungen zugänglich und schützt demgemäß die Verwaltung – vorbehaltlich einzelner verfassungsgesetzlicher Konkretisierungen – grundsätzlich nur vor einem Eingriff in seinen Kernbereich. Davon kann aber bei Legalenteignungen, die materielle Verwaltung zum Gegenstand haben, nicht die Rede sein. Auch wenn man diese – abweichend vom Deichordnungsurteil – als verfassungsrechtlich grundsätzlich zulässig ansieht, werden sie angesichts der Überlastung des Gesetzgebers bereits aus tatsächlichen Gründen nur höchst selten vorgenommen werden. Bezeichnenderweise rekurriert das BVerfG bei der Beurteilung der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von Legalenteignungen und seinen dagegen erhobenen Bedenken denn auch gar nicht auf das allgemeine Gewaltenteilungsprinzip, sondern stützt sich stattdessen auf spezielle Konkretisierungen, insbesondere auf die von ihm behauptete Verkürzung des Rechtsschutzes gegen Exekutivakte, der nach seiner Ansicht mit der uneingeschränkten Zulassung solcher Enteignungen verbunden wäre. Eben dieser Gesichtspunkt greift aber – wie oben aufgezeigt wurde – nicht, da gegenüber Legalenteignungen, unabhängig davon, ob man auf sie Art. 19 Abs. 4 GG für anwendbar hält, bereits auf der Basis der geltenden Prozessordnungen ein ausreichender gerichtlicher Rechtsschutz sichergestellt ist und der von Art. 14 GG geforderte status activus processualis auch im Gesetzgebungsverfahren gewahrt werden kann. Näher scheint demgegenüber der Rückgriff auf das in Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG statuierte Verbot der Einzelfallgesetzgebung zu liegen. Dieses ist aber, wie das BVerfG 52

BVerfGE 24, 367.

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im Einklang mit der h. M. zu Recht betont, auf Legalenteignungen nicht anwendbar.53 Zudem zeigt gerade das in Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG statuierte Verbot der Einzelfallgesetzgebung als eine spezielle Ausprägung des Gewaltenteilungsprinzips, dass außerhalb des Anwendungsbereichs dieser Vorschrift Verwaltungsmaßnahmen in Gesetzesform grundsätzlich nicht zu beanstanden sind54 und auch nicht gegen das allgemeine Gewaltenteilungsprinzip verstoßen. Beinhaltete bereits jenes ein allgemeines Verbot grundrechtseinschränkender Einzelfallgesetze, so wäre nicht nur Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG überflüssig, sondern es wäre auch unverständlich, weshalb das Verbot der Einzelfallgesetzgebung nur auf bestimmte Grundrechtseingriffe anwendbar ist und das Eigentumsgrundrecht bezeichnenderweise nicht darunter fällt. Bei näherer Hinsicht spricht denn auch gerade die vom BVerfG bejahte Unanwendbarkeit des Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG auf Eigentumseingriffe gegen die von ihm befürwortete prinzipielle Unzulässigkeit von Legalenteignungen. Das von ihm behauptete grundsätzliche Verbot von Legalenteignungen läuft nämlich der Sache nach auf dasselbe hinaus wie ein dem Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG entnommenes grundsätzliches Verbot von Einzelfallgesetzen in Bezug auf solche Grundrechte, die durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden können. Bei Licht gesehen beruht die vom BVerfG behauptete Unzulässigkeit von Legalenteignungen auf nichts anderem als einer ungeschriebene Tatbestandsergänzung des Art. 14 Abs. 3 GG durch ein jenem assoziiertes prinzipielles Verbot der Einzelfallgesetzgebung. Übereinstimmung besteht zwischen dem vom BVerfG behaupteten grundsätzlichen Verbot der Legalenteignung und einem Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG zu entnehmenden Verbot der Einzelfallgesetzgebung denn auch insoweit, als beide nicht ausnahmslos gelten. Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG schließt auch nach Ansicht des BVerfG55 Einzelfallgesetze selbst in Bezug auf die dort genannten Grundrechtseingriffe jedenfalls dann nicht aus, wenn für deren Erlass besondere sachliche Gründe sprechen. Bei Vorliegen solcher besonderer Gründe hält es aber auch eine Legalenteignung für zulässig. Diese von ihm befürwortete Restriktion von Legalenteignungen erscheint umso unverständlicher, als es sich zur Begründung der Auffassung, dass das Grundgesetz nicht von einem Gesetzesbegriff ausgeht, der nur generelle Regelungen zulässt, neben Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG gerade auch auf Art. 14 Abs. 3 GG beruft.56 III. Fazit: Die prinzipielle Zulässigkeit von Legalenteignungen Erweist sich damit keiner der Gründe, die das BVerfG für die prinzipielle Unzulässigkeit von Legalenteignungen ins Feld führt, als durchschlagend, so spricht dies 53

BVerfGE 24. 367 (397). So denn auch BVerfGE 95, 1 (16). 55 BVerfGE 25, 371 (399); 85, 360 (371), ebenso z. B. BVerwG, NJW 1982, 2458; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 13. Aufl. 2014, Art. 19, Rdnr. 2. 56 BVerfGE 95, 1 (16). 54

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dafür, Art. 14 Abs. 3 GG im Einklang mit seinem Wortlaut, seiner Systematik, Teleologie und Genese sowie mit seinen Vorgängerfassungen zu entnehmen, dass Legalenteignungen und Administrativenteignungen grundsätzlich gleichberechtigt nebeneinander stehen. Für den Weg der Legalenteignung wird sich der Gesetzgeber dann entscheiden, wenn es ihm um eine schnelle und effektive Umgestaltung der Eigentumslage geht und ihm dieser Weg wegen der Bedeutung der Enteignung trotz der hiermit verbundenen Verfahrensbelastungen politisch opportun erscheint. Ob er eine Enteignung auf diese Weise vornimmt oder ob er hierzu die schwerfälligere und zeitaufwändigere Administrativenteignung vorsieht, obliegt seinem gesetzgeberischen Ermessen und entzieht sich von daher grundsätzlich einer gerichtlichen Überprüfung. Unproblematisch zulässig sind – ebenso wie bei anderen Grundrechten – insbesondere abstrakt-generelle Eingriffe in das Eigentumsgrundrecht, und zwar unabhängig davon, ob sie sich als (möglicherweise entschädigungspflichtige) Sozialbindungen des Eigentums oder als Enteignungen i. S. des Art. 14 Abs. 3 GG darstellen. Auf der Basis der einfachgesetzlichen Verfahrensordnungen ist hier in aller Regel – unabhängig davon, ob man Art. 19 Abs. 4 GG auch auf vom Parlament erlassen Gesetze erstreckt – ein ausreichender gerichtlicher Rechtsschutz durch inzidente Normenkontrollen, insbesondere durch Feststellungsklagen, gewährleistet, die auf das Fortbestehen eigentumsrechtlich geschützter Rechtspositionen gerichtet sind. Soweit Legalenteignungen inhaltlich Einzelfallregelungen beinhalten, wie dies insbesondere bei klassischen Enteignungen in der Regel der Fall sein wird, ergibt sich allerdings aus Art. 14 GG die Notwendigkeit einer Beteiligung Betroffener bereits im Gesetzgebungsverfahren. Das gilt auch bei Legalplanungen, die im Grenzbereich materieller Verwaltung und Gesetzgebung angesiedelt sind und bei denen deswegen Bedenken unter dem Aspekt der Gewaltenteilung ohnehin schon erheblich abgeschwächt sind. Bei der chronischen Überlastung des Gesetzgebers wird dieser sich auch dann, wenn man Einzelfallregelungen in Gesetzesform und eine Legalplanung für zulässig hält, nur selten für diesen Weg zur Umgestaltung der Eigentumslage entscheiden. Unabdingbar ist bei beiden Formen der Enteignung nach Art. 14 Abs. 3 GG jedenfalls, dass sie dem Wohle der Allgemeinheit dienen und eine dem Art. 14 Abs. 3 S. 3 GG genügende Entschädigungsregelung besteht. Keine verfahrensrechtlichen Bedenken bestehen auch gegenüber Mischformen einer Legalund Administrativenteignung, sofern sie so ausgestaltet sind, dass hiermit der gerichtliche Rechtsschutz nicht verkürzt wird. Im Regelfall besteht eine solche Gefahr nicht. Soweit gesetzliche Regelungen Elemente einer Legalenteignung aufweisen und sich inhaltlich als Verwaltungsmaßnahmen darstellen, muss für die betroffenen Eigentümer auch hier die Möglichkeit einer Beteiligung am Gesetzgebungsverfahren vorgesehen sein. Der herrschenden, vom Jubilar geteilten gegenteiligen Auffassung ist daher zu widersprechen. Dieser Widerspruch wird den Jubilar freilich nicht verwundern, da ihm meine Neigung zum Widerspruch und meine nicht seltene Kritik an herrschenden

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Auffassungen bekannt sein dürften. Sollte mein Beitrag ihm zum Überdenken seiner eigenen Auffassung Anlass geben, freute mich dies selbst dann, wenn er im Ergebnis an seinem bisherigen Standpunkt festhielte. Gewonnen schiene mir auf jeden Fall viel, wenn die schon seit langem zum Stillstand gekommene Diskussion über die Zulässigkeit von Legalenteignungen wieder aufgenommen würde und sich die Stellungnahmen zu dieser Problematik nicht mehr – wie dies oft der Fall ist – lediglich auf gebetsmühlenartige Verweisungen auf das Deichordnungsurteil beschränkten, sondern die dort genannten Gründe für die prinzipielle Unzulässigkeit von Legalenteignungen nochmals diskutiert und auf ihre Tragfähigkeit geprüft würden. Das Boxberg-Urteil des BVerfG wie auch – obschon in abgeschwächter Form – dessen Stendal-Entscheidung lassen diesbezügliche Hoffnungen nicht als ganz aussichtslos erscheinen. Wenn sie sich realisierten, ließe sich auf diese Weise möglicherweise ein Grundfehler, an dem das Deichordnungsurteil und die ihm folgenden Stellungnahmen im Schrifttum leiden, beheben: Auf einen einfachen Nenner gebracht, scheint mir die Interpretation des Art. 14 Abs. 3 GG nicht mit den grundlegenden Änderungen Schritt gehalten zu haben, die sich im Bereich des gerichtlichen und des verfahrensrechtlichen Rechtsschutzes ergeben haben.

Das Selbsttitulierungsrecht öffentlich-rechtlicher Kreditinstitute Von Edzard Schmidt-Jortzig, Kiel Rudolf Wendt hat sich im Zuge seiner finanz- und wirtschaftsrechtlichen Arbeiten immer auch mit kommunalen Fragestellungen befasst. Auf der Ebene örtlicher Sozialisierung werden viele der „großen“ Probleme von Staat und Gesellschaft ja quasi „geerdet“. Sie zeigen hier ganz unmittelbare Wirkung, treffen auf erprobte und gelebte Bindungen und offenbaren auch die möglichen politischen Handlungsmuster deutlicher. Eines dieser Referenzfelder ist traditionell das Sparkassenrecht. Es erweist sich zusätzlich noch als wissenschaftlich besonders interessant, weil es in seiner spezifisch deutschen, historischen Gewachsenheit nicht nur einen Abriss der Gestaltfindung des gemeinwohlverpflichteten, aktiven Hoheitsträgers bietet, sondern im heutigen europäischen Kontext auch ein ziemliches Unikat darstellt. Zu Rudolf Wendts 70. Geburtstag soll deshalb einem Sonderaspekt in diesem Kontext nachgegangen werden. Er tritt ähnlich im Übrigen auch bei einigen partikularen, anderen Kreditinstituten auf, die – ohne Sparkassen zu sein – durchaus vergleichbare Aufgaben haben und von denen es (nicht zuletzt in ehemals preußischen Landen) ja immer noch etliche gibt. Der hiesige Problemaspekt nun bezieht sich auf jene Vorrechte, die einzelne solcher ortsverbundenen Kreditinstitute überkommener maßen für ihre gewünscht unaufwändigen, für jedermann zugänglichen und rasch verfügbaren Kreditvergabe genießen. Exemplarisch wird dabei von der Rechtslage in Niedersachsen ausgegangen. I. Aufgabe der Sparkassen und anderen öffentlich-rechtlichen Kreditinstitute ist es, wie alle Sparkassengesetze in ähnlichen Formulierungen bestimmen, „auf der Grundlage der Markt- und Wettbewerbserfordernisse für ihr Geschäftsgebiet den Wettbewerb zu stärken und die angemessene und ausreichende Versorgung aller Bevölkerungskreise und insbesondere des Mittelstandes mit geld- und kreditwirtschaftlichen Leistungen in der Fläche sicherzustellen“1. Das Kreditgeschäft lebt dabei von Sicherheiten, die der Kreditnehmer bieten kann. Nur wenn der potentielle Rückzahlungsschuldner vermögenswerte Pfandstücke offeriert, aus denen sich der Gläubiger gegebenenfalls befriedigen kann, hat er Aussicht auf Kreditgewährung. Vereinzelt nun verfügen ortsverbundene Kreditinstitute zusätzlich noch über ein sog. „Selbsttitulierungsrecht“, das ihnen um eben der 1 So beispielsweise § 4 I Niedersächsisches Sparkassengesetz (NSpG) v. 16. 12. 2004 (Nds.GVBl. S.609).

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örtlichen Liquiditätssicherung willen eingeräumt wurde. D. h. sie brauchen nicht wie jeder sonstige Gläubiger bei Zahlungsausfall seines Schuldners, um vollstrecken zu können, erst einen durch Gerichtsurteil oder besondere Urkunde erlangten vollstreckbaren Titel für ihre Forderung (§§ 704, 794 ZPO), um die Vollstreckungsklausel (§§ 724 f. ZPO) zu erlangen. Vielmehr genügt dazu ein schlichter Vollstreckungsantrag ihres Institutsvorstandes (was für den die Klausel erteilenden Urkundsbeamten dann wie ein Diktum wirkt). Und dass das Landesrecht solche Vollstreckungssonderheiten eröffnen kann, dazu ermächtigt eben § 801 Abs. 1 ZPO. Im Referenzland Niedersachsen ist ein solches Selbsttitulierungsrecht der Landessparkasse zu Oldenburg (als Rechtsnachfolger der Staatlichen Kreditanstanstalt Oldenburg)2, der Bremer Landesbank Kreditanstalt Oldenburg3, dem Calenberger Kreditverein, dem Ritterschaftlichen Kreditinstitut des Fürstentums Lüneburg und dem Ritterschaftlichen Kreditinstitut Stade4 gewährt worden. Sie sollen ihre Ansprüche aus Darlehen und sonstigen Forderungen zwar nur noch zivilprozessual vollstrecken, erhalten dafür aber das genannte Verfahrensprivileg. Andere öffentlich-rechtliche Einrichtungen dürfen um ihres besonderen öffentlichen Auftrags willen stattdessen, was immerhin auch eine gewisse Erleichterung bedeutet, ihre Forderungen, u. zw. auch eben die privatrechtlichen, im Verwaltungszwangsverfahren eintreiben5. Problematisch ist indessen, ob das Selbsttitulierungsprivileg überhaupt als verfassungsgemäß gelten kann. Und dieser Frage soll nun etwas eingehender nachgegangen werden. II. Für die Grundrechtsproblematik hat das Bundesverfassungsgericht in einem Verfahren der konkreten Normenkontrolle bezüglich § 16 Abs. 2 Satz 2 LzOG und § 21 Abs. 2 OldStaatsbankG die Verfassungskonformität inzwischen verneint6: 2 § 16 II Gesetz für den Landesteil Oldenburg betr. die Landessparkasse zu Oldenburg v. 3. 7. 1933 (LzOG), Sammlung des bereinigten nds. Rechts 1. 1. 1919 – 8.5.1945, S. 150. 3 § 21 Gesetz für den Freistaat Oldenburg betr. die Staatliche Kreditanstalt Oldenburg (OldStaatsbankG) v. 22. 9. 1933 (Sammlung des bereinigten nds. Rechts 1. 1. 1919 – 8.5.1945, S. 751). 4 Letztere drei gemäß § 79 Niedersächsisches Verwaltungsvollstreckungsgesetz (NVwVG) neugef. 4. 7. 2011 (Nds.GVBl. S.238). – In der Kommentarliteratur werden als Schuldtitel i. S. von § 801 ZPO ansonsten noch genannt etwa die Vergleiche vor dem Schiedsmann nach den landesrechtlichen Schiedsmannsordnungen, die Vergleiche und Vorbescheide bei Wild- und Jagdschadensachen nach den AusfG der Länder zu § 35 BJagdG oder die Leistungsbescheide einer bay. Gemeinde nach Art. 26 BayVwZVG. Siehe auch die Verwaltungsvollstreckungsgesetze in BaWü (§ 15 II), He (§ 17 b II 2) oder NW (§ 3 II 2). 5 VO über die Vollstreckung privatrechtlicher Geldforderungen im Verwaltungszwangsverfahren v. 12. 9. 1982 (Nds.GVBl. S. 382). Zur Verfassungsmäßigkeit solcher Bevorzugung s. Michael Sauthoff, Zur grundsätzlichen Zulässigkeit der Beitreibung privatrechtlicher Forderungen im Verwaltungsvollstreckungsverfahren, in: DÖV 1987, S. 800; und zuletzt allgemein Christian Waldhoff, Selbsttitulierung und öffentlich-rechtliche Vollstreckung privatrechtlicher Forderungen, in: NordÖR 2013, S. 229 (230 ff.). 6 BVerfG, B. v. 18. 12. 2012 (1 BvL 8, 22/11), BVerfGE 132, 372, Entscheidungsformel veröffentlich in: BGBl. I 2013 S.162. – Noch 1996 hatte das LG Bonn keine Bedenken gehabt, nach § 21 OldStaatsbankG vollstrecken zu lassen: LG Bonn, DGVZ 1997, S. 125.

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Es werde der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) verletzt. Das Ausmaß der Ungleichbehandlung zwischen den mit Selbsttitulierungsrecht ausgestatteten Kreditinstituten und ihren nichtprivilegierten Konkurrenten sei nämlich „nicht unerheblich“, und es ließen sich dafür – was dann im einzelnen ausgeführt wird – „keine tragfähigen sachlichen Gründe“ finden. Für diese Argumentation spricht in der Tat vieles, selbst wenn man berücksichtigt, dass die Feststellung von Gleichheitsverstößen letztlich immer eine Wertungsfrage ist, die man mitunter auch anders beantworten könnte. Hier indessen erscheint sie überzeugend. Es soll deshalb auch gar nicht lang mehr darüber diskutiert werden. Und das gilt dann im Übrigen ebenso für die aus Gründen der Rechtssicherheit vom Gericht getroffene (etwas komplizierte) Übergangsregelung7. Danach führt die Verfassungswidrigkeit der beiden niedersächsischen Vorschriften nicht zu deren Nichtigkeit. Sie bleiben vielmehr „für bestimmte Fallgruppen weiter anwendbar …, um die Rechtssicherheit unter den Betroffenen nicht zu gefährden und die Normverwerfung nicht auf der Rechtsfolgenseite in einen wettbewerbsbenachteiligenden Effekt für die bislang begünstigten öffentlich-rechtlichen Kreditinstitute umschlagen zu lassen“. Das gälte zum einen, „soweit der schriftliche Antrag des Gläubigers auf Zwangsvollstreckung bereits gestellt worden ist oder bis zum Ablauf von einem Jahr ab dem 31. Januar 2013 gestellt wird“, und zum anderen, wenn „aus Geldforderungen (vollstreckt werden solle), die durch ein Grundpfandrecht gesichert sind, und aus Grundpfandrechten, soweit der Darlehensvertrag und die Vereinbarung über die Bestellung oder Abtretung der Grundpfandrechte vor dem 1. Februar 2013 geschlossen worden“ sind. III. Erörternswert scheint jedoch, inwieweit durch das Selbsttitulierungsrecht der begünstigten Kreditinstitute (auch) andere, nicht-grundrechtliche8 Verfassungsvorgaben noch verletzt sein könnten. Insofern soll nachfolgend das Bundesverfassungsgericht also gewissermaßen weitergedacht werden. 1. Dafür könnte es zum einen um die Justizgewährungspflicht des Staates und das damit korrespondierende Recht des Einzelnen auf einen Gerichtszugang, den „Justizgewährungsanspruch“, gehen. In Rechtsprechung und Literatur ist diesbezüglich auch vom „Erfordernis effektiven Rechtsschutzes“ die Rede. Sofern die justizielle Wehrmöglichkeit gegen Maßnahmen der ,öffentlichen Gewalt‘ in Frage steht, ist eine entsprechende Garantie ausdrücklich in Art. 19 Abs. 4 GG verankert. Diese wird jedoch nur als Spezialregelung aus dem allgemeinen Jus7

BVerfG, a. a. O., Rn. 66 ff. Grundrechtlich wäre vielleicht noch an die Eigentumsgarantie nach Art. 14 I 1 GG zu denken, deren staatliche Verteidigung bei einem Selbsttitulierungsrecht von (Vollstreckungs-) Gläubigern nicht ausreichend genug ausgebaut wäre, oder wegen noch irgendwie überschießender subjektiver Schutzbedürfnisse von Schuldnern an die allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 I GG (dazu im Spezialfall des „Justizgewährungsanspruchs“ noch nachfolgend unter 1. a). Und wenn der Schuldner mit gewerblich veranlassten Verbindlichkeiten in die Vollstreckung geriet, könnte auch Art. 12 I GG noch einschlägig sein. 8

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tizgewährungsanspruch angesehen9. Für privatrechtliche Streitigkeiten bleibt der allgemeine Justizgewährungsanspruch die verfassungsrechtliche Zugangssicherung. Da die titelersetzende Selbsttitulierung zur Vollstreckung privatrechtlicher Ansprüche erfolgt10, ist dafür also auf ebendiese Garantie zurückzugreifen. a) Wie bei anderen Anforderungen an die Staatsstruktur ist systematisch zunächst zu unterscheiden zwischen dem, was der Staat nach der Verfassung objektiv einzuhalten bzw. aufzuweisen hat, und dem, worauf der Einzelne möglicherweise einen Anspruch hat. Erstere Verpflichtung kleidet das staatliche Selbstverständnis in verfassungsrechtliche Formen und wirkt damit als Postulat des verfassten Staates an sich selbst. Die Festschreibung ist ein Versprechen der verfassungsgebenden Gewalt, welches nun mithilfe der Normierung Verbindlichkeit gewinnt und rechenschaftsfähig wird. Konkret für die Garantie wirkungsvollen Rechtsschutzes hat das Bundesverfassungsgericht dafür klargestellt: „Das Grundgesetz garantiert Rechtsschutz vor den Gerichten nicht nur gemäß Art. 19 Abs. 4 GG, sondern darüber hinaus im Rahmen des allgemeinen Justizgewähranspruchs. Dieser ist Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips in Verbindung mit den Grundrechten… Die grundgesetzliche Garantie des Rechtsschutzes umfasst den Zugang zu den Gerichten, die Prüfung des Streitbegehrens in einem förmlichen Verfahren sowie die verbindliche gerichtliche Entscheidung“11. Die Verortung im Prinzip des Rechtsstaats (üblicherweise komprimiert in Art. 20 Abs. 3 GG verankert gesehen) argumentiert dabei von der Prämisse her, dass Interessenkonflikte der im Rechtsstaat sich zusammenfindenden Menschen nach verbindlichen Rechtsvorschriften entschieden werden müssen, hierfür grundsätzlich ein striktes Verbot privater Selbsthilfe besteht und unter dem staatlichen Gewaltmonopol deshalb den Streitparteien eine Entscheidungsinstanz zur Verfügung zu stehen hat, deren Erkenntnisse endgültig sind und durchgesetzt werden können12. Der „Justizgewährungsanspruch“13 signalisiert dann aber bereits in seiner vom Verfassungsgericht geprägten Begrifflichkeit auch, dass er ein Leistungsrecht sein 9 BVerfGE 107, 395 (403) Plenum. Aus der Literatur Christoph Degenhart, in: J. Isensee/ P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts (HStR), Band V (3. Aufl. 2007), § 114 Rn. 8; oder Wolf-Rüdiger Schenke (2009), in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 58. 10 Auch bei den öffentlich-rechtlich organisierten Kreditinstituten ist ja ihr Kundengeschäft (das Nutzungsverhältnis) durchweg privatrechtlich ausgestaltet. 11 BVerfGE 107, 395 (401) Plenum. 12 Ähnlich Steffen Detterbeck, Streitgegenstand, Justizgewährungsanspruch und Rechtsschutzanspruch, in: AcP 192 (1992), S. 325 (327); Hartmut Maurer, Rechtsstaatliches Prozessrecht, in: H. Dreier/P. Badura (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. II (2001), S. 467 (491 f.); Schenke, in: Bonner Kommentar, Art. 19 Abs. 4 Rn. 59; oder HansJürgen Papier, Justizgewähranspruch, in: HStR VIII (3. Aufl. 2010), § 176 Rn. 1, 8. Auch BVerfGE 54, 277 (292). 13 Zu ihm des Weiteren BVerfGE 54, 277 (291); 69, 381 (385 f.); 78, 165 (178); 85, 337 (349); 88, 118 (123); 93, 99 (107); 96, 27 (39 f.); 97, 169 (195); 101, 275 (294 f.); 108, 341 (347 f.); 116, 135 (150 ff.). Und aus der Literatur (neben bereits Zitiertem und den GGKommentaren zu Art. 19 IV) etwa noch Ekkehard Schumann, Grundbegriff des Gerichtsver-

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muss, also der jeweiligen Rechtsperson einen Anspruch gegen den Staat vermittelt14. Und sofern dafür kein spezielles Grundrecht in Rede steht, das nun gerichtlichen Schutz verlangt, kann der Einzelne immer auf Art. 2 Abs. 1 GG zurückgreifen, wonach er eben in seiner allgemeinen Handlungsfreiheit nur durch solche staatliche Maßnahmen oder Zustände eingeschränkt werden darf, die auch den objektivrechtlichen Pflichtigkeiten des Staates genügen (z. B. eben einer effektiven Justizgewährung). Insofern ist eine Verletzung der staatlichen Justizgewährungspflicht grundsätzlich auch verfassungsbeschwerdefähig. b) Schon die Begründung des allgemeinen Justizgewährungsanspruchs aus dem Rechtsstaatsprinzip legt freilich nahe, dass er zunächst nur für (potentielle) Kläger, Beschwerdeführer, Vollstreckungsbetreiber etc. einschlägig ist, also für Personen, die ihre Rechte tatsächlich verfolgen wollen, und nicht für die, die sich dabei in der bloß passiven Rolle befinden (Beklagte, Antragsgegner, Vollstreckungsschuldner)15. Denn nur, wer an einer unklaren Rechtslage oder einem rechtlichen Schwebezustand etwas ändern will, ist hierfür im Rechtsstaat auf die einschlägigen Einrichtungen angewiesen. Die Initiantengerichtetheit des Anspruchs bestätigt sich zudem aus seiner historischen Entwicklung von der römisch-rechtlichen actio her, dem aktiven Verfolgen von Rechten also16. Und auch inhaltlich soll es ja, wie das Bundesverfassungsgericht deutlich gemacht hat, nur um „den Zugang zu den Gerichten, die Prüfung des Streitbegehrens in einem förmlichen Verfahren sowie die verbindliche gerichtliche Entscheidung“ gehen17. Das sind alles Anliegen, mit denen jemand seine Rechte tätig und streitbar gegen andere verfolgen will. In der passiven Rolle dagegen ist der Rechtsgenosse im Rahmen des gegen ihn angestrengten Gerichtsverfahrens nur durch die Justizgrundrechte (namentlich Art. 103 Abs. 1 GG) geschützt. – Anderes gilt nur für die Abwehr hoheitlicher Maßnahmen, wozu die Rechtsordnung den Rechtsträger aber auch zwingt, nun selber die Initiative zu ergreifen, und ihm dafür in Art. 19 Abs. 4 GG dann eigens einen Rechtsschutz garantiert. Da es im Fall des Selbsttitulierungsrechts gerade nicht der Anspruchsführer und Vollstreckungsgläubiger ist (weil er sich ja die Vollstreckbarkeit seiner Forderung selber verschaffen kann), der zu den Gerichten strebt, stellt der allgemeine Justizgewährungsanspruch also nicht die mögliche verfassungsrechtliche Kollisionsnorm fassungsrechts der Bundesrepublik, in: JA 1974 (Zivilrecht), S. 283 ff. (auch bereits ders., Das Rechtsverweigerungsverbot, in: ZZP 1981/1968, S. 79 ff.); Rupert Scholz, Justizgewährleistung und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, in: Gedächtnisschrift für E. Grabitz (1995), S. 725 (727 ff); Wolfgang Brehm, in: Stein/Jonas, ZPO (22. Aufl.), Bd. 1 (2003), Einl. vor § 1 Rn. 284 f., 287; oder zuletzt Andreas Voßkuhle/Anna-Bettina Kaiser, Grundwissen – Öffentliches Recht: Der allgemeine Justizgewährungsanspruch, in: JuS 2014, S. 312 ff. 14 Richtig Schenke, a. a. O. Ähnlich auch Scholz, GS Grabitz, S. 725 (729 f., 741), im Anschluss an BVerfGE 53, 115 (127 f.). 15 Sinngemäß so auch Detterbeck, in AcP 192 (1992), S. 325 (333, 337).; oder Brehm, in: Stein/Jonas, ZPO 1, Einl. vor § 1 Rn. 290. 16 Dazu Schenke, in: Bonner Kommentar, Art. 19 Abs. 4 GG Rn. 60. 17 BVerfGE 107, 395 (401) Plenum.

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dar. Einzig der Schuldner verlangt hier nach gerichtlicher Einschaltung sowie danach, dass er sich im gegnerbetriebenen Verfahren nun auch effektiv wehren können muss. Bevor indessen der Gläubiger irgendwelche Durchsetzungsanstalten trifft, bleibt der Wunsch des Schuldners, die fragliche Verbindlichkeit erst von einem Gericht verbindlich festgestellt zu bekommen, rein abstrakt bzw. virtuell. Damit kann er schon prozesssystematisch nicht zur Geltung kommen, es fehlt ihm ein Rechtsschutzbedürfnis. Ob aus irgendeiner (und sei es nur: behaupteten) Verpflichtung gegen jemanden Ernst gemacht wird, entscheidet sich immer erst, wenn der betreffende Anspruchsführer tatsächlich entsprechende Schritte einleitet. c) Nur wenn der Schuldner im Rahmen des Vollstreckungsrechtsverhältnisses indessen „zum Gegenangriff übergehen“ will, also selber die Initiative ergreift und in die aktive Rolle schlüpft, sieht das anders aus. Insofern kann er etwa – gewissermaßen prophylaktisch – dem Gläubiger von sich aus die Gültigkeit, Wirksamkeit oder Fälligkeit seiner Forderung bestreiten. Dafür aber stellt ihm das Prozessrecht nun auch einen Gerichtszugang zur Verfügung, nämlich die Vollstreckungsabwehroder -gegenklage nach § 767 ZPO. Und gegen die Art und Weise der Vollstreckung kann der Schuldner sich mit der Vollstreckungserinnerung nach § 766 ZPO zur Wehr setzen. Das aber genügt den rechtsstaatlichen Anforderungen auch vollauf. Der allgemeine Justizgewährungsanspruch verschafft dem Rechtsgenossen kein Anrecht auf eine spezielle (andere) Klagemöglichkeit oder einen ganz bestimmten Instanzenzug18, sondern nur den Zugang überhaupt zu einer gerichtlichen Entscheidung. Und ohnehin hat dazu dann der Prozessgesetzgeber einen weiten Regelungsspielraum19. – Gegen den Justizgewährungsanspruch verstößt das Selbsttitulierungsrecht also nicht. 2. Im Falle des Selbsttitulierungsrecht öffentlich-rechtlicher Kreditinstitute könnte jedoch ein Verstoß gegen die Idee vorliegen, dass alles, was definitive, autoritative Rechtsstreitentscheidung betrifft, vom Staat dafür ausdrücklich berufenen, institutionalisierten und ,lizenzierten‘ Stellen zugewiesen bzw. vorbehalten sein müsste. Diese zweifellos rechtsstaatliche Vorstellung wird unterschiedlich thematisiert. Man spricht von hoheitlichem „Rechtsprechungsmonopol“ oder vom „Richtervorbehalt für verbindliche Rechtserkenntnisse“ und beruft sich dazu de constitutione lata auf Art. 92 GG. a) Art. 92 GG nun bestimmt, dass „die rechtsprechende Gewalt den Richtern anvertraut“ sei. Und „Richter“ sind dabei jene besonderen hoheitlichen Funktionsträger, die spezifisch juristisch ausgebildet förmlich in abgegrenztem Status ernannt werden und in eigenen, nachfolgend in dem Artikel aufgeführten Einrichtungen 18

BVerfGE 11, 232 (233); 28, 21 (36); 54, 277 (291); 107, 395 (402); sowie Maurer (o. Fn. 12), S. 467 (493); Degenhart, HStR V, § 114 Rn. 28; Schenke, Bonner Kommentar, Art. 19 Abs. 4 Rn. 63; Papier, HStR VIII, § 176 Rn. 15. 19 Dazu BVerfGE 107, 395 (408), m. w. Nachw.. Und in der Entscheidung BVerfGE 116, 135 (154 ff.), wird dann exemplarisch eine Ausgestaltung ähnlich der hiesigen für rechtsstaatlich hinreichend ausgewiesen.

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(„Gerichten“) ausschließlich zur Rechtsverwirklichung tätig sind20. Zu ihnen gehören also nicht (wie auch immer ausgebildete) Justitiare oder juristische Sachbearbeiter in einer ganz anders, etwa wirtschaftlich ausgerichteten Organisation (beispielsweise Sparkasse, Versicherung oder Kreditanstalt). Ihnen dürfte „rechtsprechende Gewalt“ nicht überantwortet werden. Für die Verfassungsmäßigkeit der eingeräumten Selbsttitulierung wird daher ausschlaggebend sein, was mit „Recht sprechen“ gemeint ist und ob dazu eben die Entscheidung darüber gehört, dass eine bestimmte Forderung nun vollstreckt werden darf. Der Begriff „Recht sprechen“ bzw. „Rechtsprechung“ in Art. 92 GG ist materiell zu verstehen21; andernfalls würde die Norm auf einen circulus vitiosus hinauslaufen. Damit allein ist freilich noch wenig über die genaue semantische Bedeutung gesagt. Bekanntlich hat ja selbst das Bundesverfassungsgericht befunden, dass „der Begriff der rechtsprechenden Gewalt (bisher) nicht abschließend geklärt“ sei22. Jedenfalls dürfte es bei ihm darum gehen, einen Rechtsstreit allein aufgrund von Rechtsnormen zu entscheiden, u. zw. unparteilich, autoritativ und verbindlich – was immer dann materiell begrifflich an Präzisierungen noch hinzukommen mag (fachliche Zuständigkeit, besonderes Verfahren, verlässliche Sachverhaltsaufklärung, gegebene Rechtsmittelmöglichkeit o. ä.)23. Das reine Vollstreckbarkeitsattest für eine Forderung, also die Erteilung der ,Vollstreckungsklausel‘ entsprechend §§ 724 f. ZPO, ist danach sicher nicht als „Rechtsprechung“ anzusehen. Mit ihr wird bloß eine beglaubigte, unterschriebene und besiegelte Abschrift des Originals des Vollstreckungstitels erteilt, denn die Urschrift muss ja bei den Akten verbleiben. Dafür bedarf es lediglich eines entsprechenden Antrags sowie bei sog. „qualifizierten Klauseln“ gemäß §§ 726 ff. ZPO bestimmter Nachweise durch den Forderungsinhaber; irgendwelche besonderen Entscheidungsspielräume gibt es nicht. Die Vollstreckungsklausel wird deshalb auch von keiner richterlichen Person, sondern vom Urkundsbeamten erteilt (§ 724 Abs. 2 ZPO), es gibt kein rechtliches Gehör (Umkehrschluss aus § 230 ZPO), und Rechtsbehelf ist lediglich die Klauselerinnerung nach § 732 ZPO.

20 Zur Herleitung des verfassungsrechtlichen Richterbegriffs aus dem konstitutionellen Gesamtzusammenhang schon Norbert Achterberg (1981), in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 92 Rn. 264. Deshalb spricht Helge Sodan, Der Status des Richters, in: HStR V, § 113 Rn. 1 f., 11 ff., zutreffend vom „funktionsgerechten“ bzw. „funktionsrechtlichen Richterstatus“ der Verfassung. 21 BVerfGE 103, 111 (137): „Der Begriff der rechtsprechenden Gewalt wird maßgeblich von der konkreten sachlichen Tätigkeit her, somit materiell bestimmt“. Siehe im Übrigen Achterberg, in: Bonner Kommentar, Art. 92 Rn. 74 ff.; sowie Schenke, Bonner Kommentar, Art. 19 Abs. 4 Rn. 60 mit N. 120; Schmidt-Jortzig, Aufgabe, Stellung und Funktion des Richters im demokratischen Rechtsstaat, in: NJW 1991, S. 2377 (2378); Papier, HStR VIII, § 176 Rn. 8; oder Wilke, HStR V, § 112 Rn. 58 ff. m. w. Nachw. 22 BVerfGE 103, 111 (136). 23 Dazu fragmentarisch auch noch BVerfGE 26, 141 (154).

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Anders aber dürfte dies bezüglich des für eine Vollstreckung notwendigen sog. „Titels“ aussehen, den der Inhaber eines Selbsttitulierungsrechts sich eben vor allem erspart. Die Zwangsvollstreckung kann ansonsten nämlich nur „aus Endurteilen (betrieben werden), die rechtskräftig oder für vorläufig vollstreckbar erklärt sind“, so bestimmt es § 704 ZPO. Entsprechende Urteile zu fällen, in einem prozessual eingehend geregelten Verfahren und mit allen rechtsstaatlichen Garantien für die Parteien, ist aber eindeutig und allein Aufgabe der Rechtsprechung, d. h. von Richtern in einem Gericht getätigt. § 794 ZPO lässt zwar noch diverse andere Forderungstitulierungen zur Zwangsvollstreckung zu, diese müssen jedoch stets irgendwie amtlich bzw. „mit öffentlichem Glauben“ dokumentiert werden. Und wenn § 801 ZPO noch zu weiteren Ausnahmen ermächtigt, müssen diese verfassungskonform eben den gleichen Anforderungen genügen. b) Das sog. „Selbsttitulierungsrecht“ der öffentlich-rechtlichen Kreditinstitute stellt deshalb eine Einschränkung des richterlichen Rechtsprechungsmonopols dar. Aber ob dieses verfassungswidrig ist, muss erst noch gesondert erwiesen werden. Dass das richterliche Rechtsprechungsmonopol aus Art. 92 GG nicht absolut besteht, dürfte unstreitig sein. Nach der heute auch in der Literatur weitgehend anerkannten Kollisionsdoktrin des Bundesverfassungsgerichts nämlich können „mit Rücksicht auf die Einheit der Verfassung und die von ihr geschützte gesamte Wertordnung“ selbst „uneinschränkbare Grundrechte [sowie eben alle anderen mit ähnlichem Verfassungsrang versehenen Rechtspositionen] in einzelnen Beziehungen durch kollidierende Grundrechte Dritter und andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtswerte“ begrenzt werden24. Die Lösung der auftretenden Konflikte hat dann dergestalt zu geschehen, dass ermittelt wird, „welche Verfassungsbestimmung für die konkret zu entscheidende Frage das höhere Gewicht hat“25. Als Mittel der Streitentscheidung muss also eine Abwägung erfolgen, deren Ziel es ist, „praktische Konkordanz“ zwischen den kollidierenden Positionen herzustellen. Und dies wird durch einen verhältnismäßigen Ausgleich zwischen den gegenläufigen Größen erreicht26. Die verfassungsrelevanten Gründe bzw. verfassungsgegebenen Gegenpositionen, welche beim Selbsttitulierungsrecht für eine Durchbrechung des richterlichen Rechtsprechungsmonopols angeführt werden könnten, kreisen um zwei Argumente, die sich zudem aufeinander beziehen. Das ist zum einen der öffentliche Auftrag der begünstigten Institute, nämlich alle Bevölkerungskreise, insb. den Mittelstand mit kreditwirtschaftlichen Leistungen zu versorgen (u. zw. unabhängig von Renditeaspek24 Seit BVerfG, B. v. 26. 5. 1970, BVerfGE 28, 243 (261), bis heute; die einzelnen Nachw. bei Michael Sachs, in: Sachs, GG (6. Aufl. 2011), Vor Art. 1 Rn. 120 m. Fn. 329. Zur Literatur ebd. die Nachweise in Fn. 331. 25 BVerfGE 28, 243 (261), unter Verweis auf BVerfGE 2, 1 (72 f.). 26 BVerfGE 39, 1 (43); 41 29 (50 f.); 81, 278 (292). Zur Figur der „praktischen Konkordanz“ grundlegend Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland (20. Aufl. 1995), Rn. 72, 317 ff.

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ten). Zum anderen geht es um einen angemessenen Ausgleich für die dafür in Kauf zu nehmenden funktionellen Einschränkungen (wie unmittelbare Grundrechtsbindung oder zusätzliche Staatsaufsicht). Diese Gründe können jedoch nachhaltig kaum verfangen. Es fehlt ihnen schon an innerer Konsistenz, denn die mit Selbsttitulierungsrecht ausgestatteten Institute sind ja nur einige wenige in einem ganzen Kreis nicht privilegierter, aber ähnlich in Pflicht genommener Stätten. Im Übrigen stellt sich auch der beanspruchte öffentliche Auftrag ortsgemeinschaftlich erleichterter Kreditversorgung heute (nicht nur europarechtlich) als vielfach relativiert dar27 oder tritt jedenfalls deutlich hinter dem tatsächlichen wirtschaftlichen Gebaren der Akteure zurück. In seiner vorliegenden Initialentscheidung vom 18. Dezember 2012 hat dies das Bundesverfassungsgericht in Bezug auf die Gleichheitsverletzung schon überzeugend dargetan28. Und der dort bescheinigte Ausfall als einleuchtender Abweichungsgrund ist auch bezüglich einer Aushöhlung des richterlichen Rechtsprechungsmonopols zutreffend. 3. Schließlich könnte gegen das Selbsttitulierungsrecht der betreffenden Kreditinstitute verfassungsrechtlich noch sprechen, dass dem Schuldner bei dieser Form der Vollstreckungseinleitung die Möglichkeit genommen werde, vor dem nun drohenden Enforcement noch irgendwelche rechtlichen Einwendungen vorzubringen, sei es gegen die zu vollstreckende Forderung, sei es gegen deren Vollstreckbarkeit. Ihm werde also das Recht genommen (bzw. vorenthalten), seine rechtlichen Gegenvorstellungen einzubringen und damit beachtet zu werden. Einen allgemeinen, isolierten Anspruch auf rechtliches Gehör kennt die Verfassung jedoch nicht. Vielmehr kann es ein Anhörungsrecht immer nur für ein gerichtliches Verfahren geben. Außerhalb davon, im täglichen Geschäftsleben muss niemand mit seinen möglichen rechtlichen Auffassungen beachtet werden. Auch Art. 103 Abs. 1 GG verbürgt rechtliches Gehör nur „vor Gericht“. Dass der Schuldner mit seinem Vorbringen gegen die Vollstreckung vor ein Gericht gehört, wird aber bereits vom Aspekt des Richtervorbehalts bzw. Rechtsprechungsmonopols erfasst. Konkurrenzrechtlich gesprochen wird hier der Anspruch auf rechtliches Gehör mithin vom Richtervorbehalt konsumiert29. IV. Bezüglich des Selbsttitulierungsrechts wirtschaftender juristischer Personen (und erst recht, wenn sie öffentlich-rechtliche Kreditinstitute sind) lässt sich daher als Resümee nach allem nur konstatieren, dass dieses Privileg heute keinerlei Rechtfertigung mehr beanspruchen kann.

27 Von der Sinnhaftigkeit darauf noch aufbauender wirtschaftslenkender Maßnahmen ganz zu schweigen. 28 BVerfGE 132, 272 (390 ff., Rn. 50 ff.). Das dort gleichfalls noch aufgeführte Argument der Kostenentlastung für die Kunden verwechselt im Übrigen Ursache und Wirkung; vgl. BVerfG, a.a.O., Rn. 58. 29 Gegenüber dem Justizgewährungsanspruch i. Erg. ähnlich BVerfGE 108, 341 (347 f.); sowie Voßkuhle/Kaiser, in: JuS 2014, S. 312 (313).

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Das gilt vor allem schon verfassungsrechtlich. Denn die Bevorrechtigung widerspricht ja nicht nur dem subjektiv-grundrechtlichen und dem objektiven Gleichheitssatz, wie das Bundesverfassungsgericht eindeutig bescheinigt hat. Sie verstößt zudem gegen das richterliche Rechtsprechungsmonopol, weil die Feststellung der Vollstreckbarkeit einer Forderung eben materiell eine judikatorische, d. h. staatlicher Gerichtsbarkeit vorbehaltene Aufgabe darstellt. Selbst mit der sog. „Traditionsklausel“ – einer Besonderheit der Niedersächsischen Verfassung (Art. 72 Abs. 2 LV) – lässt sich das Selbsttitulierungsrecht vor dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit nicht mehr retten. Denn seine Zuerkennung an einzelne alteingeführte Unternehmen bedeutet kein substantielles Merkmal einer „heimatgebundenen Einrichtung“30 (ohnehin würde sich dagegen kraft seines Geltungsvorrangs ja auch das Bundesrecht durchsetzen). Die überkommene Rechtslage kann damit heute nur mehr für eine Übergangszeit noch aufrechterhalten bleiben. Das allerdings ist dann aus Rechtssicherheits- und Vertrauensschutzaspekten – s. o. – auch notwendig. Die Konstellation passt aber auch politisch überhaupt nicht mehr in die Wirtschaftsordnung. Sie verzerrt den Wettbewerb, dem selbst öffentlich-rechtliche Akteure eben vollauf unterworfen sind. Ihre bestehende Allokation mutet zudem systematisch ganz zufällig an, wie sich beispielsweise daran ablesen lässt, dass im Referenzland Niedersachsen die Befugnis weder irgendwelchen Privatbanken noch den übrigen Sparkassen zusteht. Schließlich ist die Bereinigung der kreditwirtschaftlichen Landschaft auch ein europäisches Projekt. Dieses verlangt freilich, dass manch lieb gewordene, vertraute Struktur aufgegeben wird; allein maßgeblich werden demgegenüber die Gesetze von Gleichförmigkeit, Allzugänglichkeit und Effektivität. Fortschritt aber – das weiß man ja – bleibt stets auch mit Abschied verbunden.

30 Zutreffend BVerfGE 132, 372 (393 Rn. 59). – Zur niedersächsischen „Traditionsklausel“ ansonsten ausführlich Schmidt-Jortzig, Verfassungsrechtlicher Bestandsschutz für Stiftungen? Die niedersächsische Traditionsklausel: Konstitutionelle Strukturfestschreibung versus notwendige Veränderungsmöglichkeit, in: FS für Dieter Reuter (2010), S. 1339 ff.

Mehr Gleichheit in der Demokratie? Zum Streit um mehr plebiszitäre Demokratie Von Rupert Scholz, München I. Fragestellung Nicht nur gegenüber der landläufig behaupteten „Politik-“ bzw. – genauer gesagt – „Parteienverdrossenheit“ wird immer wieder der Ruf nach mehr plebiszitären Partizipationsmöglichkeiten für den Bürger laut.1 Konkret geht es vor allem um die Frage, ob auch für den Bund die Verfahren von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid in das GG aufgenommen werden sollen.2 Dass dies verfassungsrechtlich durch entsprechende Verfassungsänderung ermöglicht werden könnte, hat das BVerfG ausdrücklich bestätigt, indem es ausgeführt hat, dass „in einer Demokratie das Volk Regierung und Gesetzgebung in freier und gleicher Wahl bestimmen kön1 Vgl. zum Ganzen sowie mit weiteren Nachweisen Steinberg, Die Repräsentation des Volkes, 2013; ders., FAZ vom 16. 12. 2012, S. 7 und FAZ vom 30. 09. 2013, S. 7; P. M. Huber, ZG 2009, 311 ff.; Badura, Schröder-Festschrift, 2012, S. 307 ff.; Schneider, W. JellinekFestschrift, 1955, S. 155 ff.; Rüther (Hg.), Repräsentative oder plebiszitäre Demokratie – eine Alternative?, 1996; Dach, ZG 1987, 156 ff.; von Danwitz, DÖV 92, 601 ff.; Skouris, in: Kloepfer/Merten/Papier/Skouris (Hg.), Das parlamentarische Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland auf dem Prüfstand, 1984, S. 77 ff.; Ebsen, AöR 110, 1985, S. 2 ff.; Lerche, in: Huber/Mößle/Stock (Hg.), Zur Lage der parlamentarischen Demokratie, 1995, S. 94 ff.; 179 ff.; Möstl, VVDStRL 72, 2013, S. 355 ff.; Schuler-Harms, VVDStRL 72, 2013, S. 417 ff.; Krause, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1987, S. 313 ff.; Scholz, Deutschland – In guter Verfassung?, 2004, S. 137 ff.; ders., H. Klein-Festschrift, Bd. 1, 1996, S. 171 ff.; ders., Gauweiler-Festschrift, 2009, S. 263 ff.; ders., Parlamentarische Demokratie in der Bewährung, 2012, S. 157 ff. Siehe auch den Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD zur 18. Legislaturperiode „Deutschlands Zukunft gestalten“ (2014), S. 151. Siehe des Weiteren zum europäischen Unionsrecht die Europäische Bürgerinitiative gemäß Art. 11 Abs. 4 EUV, 24 Abs. 1 AEUV; siehe hierzu Hieber, Die Europäische Bürgerinitiative nach dem Vertrag von Lissabon, 2014. 2 Teilweise wird auch die Volksbefragung in diesem Zusammenhang genannt bzw. befürwortet. Die Volksbefragung spielt in Wahrheit jedoch keine partizipatorisch-plebiszitäre Rolle. Sie ist im Grunde nichts Anderes als ein Verfahren amtlich-offiziell durchgeführter Demoskopie. Dennoch ist die Frage streitig, ob entsprechend konsultative Volksbefragungen unter dem GG statthaft sind. Siehe bejahend Pestalozza, NJW 81, 733 ff.; Bleckmann, JZ 78, 217 (219); Ebsen, AöR 110, 3 ff.; verneinend z. B. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 15 f. Tatsächlich ist eine Volksbefragung jedoch ebenso wie Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid zu beurteilen. Auch sie bedarf also der verfassungsrechtlichen Ermächtigung, lässt sich folglich nicht durch einfaches Gesetz einführen.

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nen muss. Dieser Kernbestand kann ergänzt sein durch plebiszitäre Abstimmungen in Sachfragen, die auch in Deutschland durch Änderung des Grundgesetzes ermöglicht werden könnten“.3 Neben solchen Forderungen nach Einführung eines Sachplebiszits stehen Forderungen auch nach einem Personalplebiszit, beispielsweise die Forderung nach einer Direktwahl des Bundespräsidenten. Solche Forderungen bedürften allerdings noch weiterer grundlegenderer Verfassungsänderungen. Ein Bundespräsident, der direkt zu wählen wäre, müsste zur politischen Leitfigur werden, müsste – schon um Wahlkampf in eigener Sache zu betreiben – politische Programme verkünden dürfen, was wiederum eigene politische Entscheidungsbefugnisse voraussetzt. Die Konsequenz wäre ein (partieller) Schritt zur Präsidialdemokratie, der dem GG – aus guten Gründen – jedoch fremd ist. Folgerichtig sollte die nachstehend zu referierende Diskussion sich auf das Sachplebiszit beschränken. Personalplebiszite können nicht ernsthaft auf Bundesebene erwogen werden.4 Die Debatte um die Einführung von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid hat im Zuge der Digitalisierung sogar noch eine weitere Facette erfahren, nämlich die der sog. „Liquid Democracy“, d. h. die einer „verflüssigten Demokratie“, die sich durch permanente Voten qua digitaler Stimmabgabe aktualisieren soll. Letzteres wird vor allem etwa von der Piratenpartei verfochten.5 Näheres Zusehen offenbart jedoch rasch, dass für solche Verfahren von vornherein kein verfassungsrechtlich legitimierbarer Raum eröffnet werden kann. Angefangen vom Fehlen einer wirklichen demokratischen Öffentlichkeit könnten solche Verfahren jede Form verantwortlicher und amtlich gebundener Staatlichkeit buchstäblich im Keime ersticken. Worum geht es bei der Forderung nach Einführung von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid auf Bundesebene in Wahrheit? Es geht um die Forderung nach mehr politischer Partizipation für den Einzelnen und um die Vorstellung, über solche erweiterte Partizipationschancen ein höheres Maß an tatsächlicher demokratischer Gleichheit des Bürgers erreichen zu können. Vorstöße in Richtung auf Einführung von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid sind in den vergangenen Jahren zahlreich gemacht worden – vor allem von der politischen Linken (SPD, Grüne etc.).6 Eine verfassungspolitische Diskussion dieser Forderungen hat letztmalig im Rahmen der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag

3 Vgl. BVerfGE 123, 267 (367). Siehe dagegen, aber verfassungsrechtlich unhaltbar etwa H. Meyer, VVDStRL 33, 1975, S. 69 (115 Ls 28), der Plebiszite auch kraft einfachen Gesetzes unter dem GG zulassen will. 4 Vgl. bereits Scholz, Deutschland, S. 95 f.; siehe allerdings auch Steinberg, Repräsentation, S. 244 ff. (Direktwahl der Mitglieder des Bundesrates?). 5 Vgl. näher hierzu u. a. Guggenberger, APuZ 2012, 38/39, S. 10 ff.; zu den Möglichkeiten der Digitalisierung im Bereich bürgerschaftlicher Teilhabe siehe auch den Koalitionsvertrag (Fn. 1), S. 151. 6 Nachweise hierzu vgl. u. a. bei Badura, Schröder-Festschrift, S. 308 ff.; Rüther (Hg.), Repräsentative oder plebiszitäre Demokratie, S. 95 ff., 149 ff., 277 ff.

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und Bundesrat nach der Wiedervereinigung stattgefunden.7 Entsprechende Vorstöße sind damals jedoch im Ergebnis gescheitert, haben nicht die nötige Mehrheit gefunden. Dies ändert jedoch nichts daran, dass auch nach der Gemeinsamen Verfassungskommission immer wieder entsprechende Forderungen erhoben worden sind, beispielsweise von der AG Demokratie der SPD-Bundestagsfraktion im Jahre 2012 („Demokratie erneuern, Demokratie leben“). Begründungsmäßig heißt es immer wieder, dass es „um mehr Partizipation des Bürgers“, um „mehr Beteiligung Betroffener“, um angeblich „mehr wirkliche Demokratie“ und mehr „politisch aktivierte Gleichheit“ der Bürger gehen müsse. Schon diese Begründungsansätze offenbaren jedoch ein wesentliches Differenzierungserfordernis; jedenfalls dort, wo für „mehr Beteiligung Betroffener“ gegenüber Verwaltungsentscheidungen votiert wird. Hier geht es in aller Regel nicht um Forderungen nach (mehr) demokratischer Teilhabe, sondern eher um Forderungen nach mehr materieller Rechtsstaatlichkeit. Von staatlichen Maßnahmen Betroffene verfügen im System des grundgesetzlichen Rechtsstaates bekanntlich über besondere Schutzgewährleistungen auch verfahrensrechtlicher Art – angefangen vom Recht auf einen effektiven Rechtsschutz bis hin zur Gewähr des rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG. Solche rechtsstaatlichen Gewährleistungen können und sollten naturgemäß wirksam aufgenommen und von der (einfachen) Gesetzgebung auch überall dort realisiert werden, wo dies zweckmäßig ist.8 Gerade in dieser Richtung bewegt sich vieles heute; namentlich im Bereich staatlicher Genehmigungen von Großprojekten. Verfassungssystematisch geht es in solchen Fällen aber nicht um mehr Demokratie bzw. mehr demokratische Gleichheit, sondern allein um mehr rechtsstaatliche Schutzgewähr für (tatsächlich) Betroffene. Dass sich beide Tatbestände auch miteinander mischen können, dass mitunter Trennungen systematisch nur schwer möglich sind, offenbart allerdings das Beispiel von „Stuttgart 21“. Umso wichtiger ist es, dass hier systematisch und wirksam getrennt wird. Die Diskussion um das Sachplebiszit auf Bundesebene ist jedenfalls auf der Grundlage des verfassungsrechtlichen Demokratieprinzips und nicht auf der des verfassungsrechtlichen Rechtsstaatsprinzip zu führen.

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Vgl. Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, BT-Ds. 12/6000 = Deutscher Bundestag. Referat Öffentlichkeitsarbeit (Hg.), Zur Sache. Themen parlamentarischer Beratung, 1993, S. 165 ff. Siehe hierzu u. a. Scholz, ZG 1994, 1 ff.; Isensee, NJW 93, 2583 ff.; Ossenbühl, DVBl 92, 468 ff.; Vogel, DBVl 94, 497 ff.; Jahn, DVBl 94, 177 ff. Zuvor siehe auch Enquete-Kommission Verfassungsreform, BT-Ds. 7/5924, S. 12 ff. 8 Siehe dazu u. a. Ziekow, Verhandlungen des 69. Deutschen Juristentages, Bd. I – Gutachten, 2012, Teil D; Gabriel/Dolde/Wegener, Verhandlungen des 69. Deutschen Juristentages, Bd. II/1, 2013, Teil M, S. 9 ff.; Walter, VVDStRL 31, 1973, S. 147 ff.; Schmitt Glaeser, VVDStRL 31, 1973, S. 179 ff.; Steinberg, ZRP 82, 113 ff.; ders., Repräsentation, S. 220 ff.; Waechter, VVDStRL 72, 2013, S. 499 ff.; Uechtritz, AnwBl. 2012, 697 ff. mit jeweils weiteren Nachweisen.

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II. Verfassungsrechtliche Ausgangspositionen Im Gegensatz zu dem größten Teil der Landesverfassungen9 anerkennt das GG Formen des Plebiszits bzw. der unmittelbaren Demokratie nur in sehr begrenzten Ausnahmefällen. Zum einen geht es um den Bereich der Neugliederung von Bundesländern gemäß Art. 29 und Art. 118a GG; zum anderen geht es um den Bereich der kommunalen Selbstverwaltung, die gemäß Art. 28 Abs. 1 S. 4 GG auch die „Gemeindeversammlung“ als unmittelbar-demokratischen Entscheidungsträger anerkennt.10 Für die Bundesebene kennt das GG kein Sachplebiszit; und dies ist vom Parlamentarischen Rat seiner Zeit auch aus sehr wohl erwogenen Gründen so entschieden worden. Es ging nicht nur um die Weimarer Erfahrung. Man erkannte vielmehr schon damals sehr klar, dass auf der Bundesebene das Sachplebiszit den zwingenden Vorrang der repräsentativen Demokratie allzu stark beeinträchtigen kann, dass das Sachplebiszit auf Bundesebene in aller Regel zu einseitigen Polarisierungen führen kann, dass es die Kompromissfähigkeit, auf die jede pluralistische Gesellschaft angewiesen ist, allzu stark beeinträchtigen kann, dass das Sachplebiszit in aller Regel zu einseitig auf die (polarisierende) Frage des schlichten „Ja“ oder „Nein“ reduziert wird und damit im Ergebnis nicht zu wirklich mehr Demokratie führen würde.11 Ob diese Argumente auch heute noch sämtlich tragfähig sind, bedarf jedoch und sicherlich der immer wieder erneuten Überprüfung. Zugunsten einer angeblich verfassungsrechtlichen Anerkennung des Sachplebiszits wird teilweise auch auf Art. 146 GG hingewiesen, demzufolge „dieses Grundgesetz … seine Gültigkeit an dem Tage verliert, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“. Diese Bestimmung besagt in Wahrheit jedoch nichts darüber, in welcher Form, ob in unmittelbarer oder mittelbarer Demokratie, über eine neue Verfassung vom deutschen Volk zu entscheiden wäre. Die Entscheidung hierüber liegt allein beim neuen Verfassungssouverän und nicht beim Verfassungssouverän des GG, um dessen Ablösung es ggf. geht. Dennoch wird teilweise die Gegenauffassung vertreten, dort mit anderen Worten aus Art. 146 GG ein Votum für ein unmittelbar-demokratisches Verfassungsreferendum abgeleitet.12 Nach hiesiger Auffassung trifft diese These jedoch nicht zu.13 Das GG kann anlässlich der Frage seiner möglichen 9 Vgl. dazu mit Nachweisen z. B. Badura, Schröder-Festschrift, S. 311 ff.; Weber, DÖV 85, 178 ff.; Degenhart, Der Staat 1992, 77 ff. 10 Zum Spannungsverhältnis zwischen repräsentativer und plebiszitärer Demokratie im Bereich kommunaler Bürgerbegehren siehe Unger, AöR 139, 2014, S. 80 ff. 11 Siehe besonders deutlich im Parlamentarischen Rat Theodor Heuss (Plebiszit als „Prämie für jeden Demagogen“), Parlamentarischer Rat. Sten. Ber. Plenum, S. 43; siehe weiterhin zum Parlamentarischen Rat z. B. von Danwitz, DÖV 92, 601 (602); Krause, HdBStR, Bd. II, S. 320 ff.; Scholz, Deutschland, S. 140 f. 12 Vgl. etwa Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, 67. EL, November 2012, Art. 146 Rn. 25, 37 ff. 13 Vgl. Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, 29. EL, September 1991, Art. 146 Rn. 24 ff.

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Ablösung nicht darüber entscheiden, wie der künftige Verfassungssouverän verfahren will (soll). Verfassungsrechtliche Ausgangsnorm ist die Regelung des Art. 20 Abs. 2 GG, der zufolge „alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt“. Soweit es um das Wahlrecht geht, gilt das Prinzip der repräsentativen Demokratie (Art. 38 GG). Soweit es um (unmittelbar demokratische) „Abstimmungen“ geht, gelten jene Verfassungsbestimmungen, die solche „Abstimmungen“ ausdrücklich vorsehen. Dies betrifft aber nur die vorstehenden Regelungen aus Art. 29, 118a und 28 Abs. 1 S. 4 GG. Da diese Bestimmungen keine allgemeine Zulassung von Plebisziten vor allem im Bereich der Gesetzgebung vorsehen, verbleibt es insoweit bei der zitierten Feststellung des BVerfG, der zufolge nur durch Verfassungsänderung Sachplebiszite eingeführt werden können.14 III. Demokratie und Gleichheit Demokratie heißt und bedingt absolute Gleichheit aller Staatsbürger in ihren Rechten zur politischen Partizipation (vgl. Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG). Das Prinzip der staatsbürgerlichen Gleichheit ist in diesem Sinne konstituierendes Grundelement der Demokratie. Politische Gleichheit und politische Freiheit bedingen einander und führen zum Grundprinzip freier und gleicher Partizipation. In diesem Sinne hat das BVerfG immer wieder betont, dass der in Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG verankerte Grundsatz der Gleichheit der Wahl strikt und formal zu verstehen ist.15 Er duldet keine Differenzierungen bei der Stimmabgabe wie Stimmgewichtung. Differenzierungen sind nur dann statthaft, wenn es hierfür „zwingende Gründe“ gibt, wie etwa die Wahrung der Funktionsfähigkeit des parlamentarischen Systems (Statthaftigkeit von Sperrklauseln).16 Umgekehrt gestattet der Grundsatz der demokratischen Gleichheit auch keine Privilegierungen. Denn wenn eine bestimmte Gruppe von Staatsbürgern in ihren demokratischen Partizipationsrechten begünstigt wird, impliziert dies auf der anderen Seite die Ungleichbehandlung bzw. Diskriminierung aller anderen. „Politische Freiheit kann in der Demokratie nur als gleiche Freiheit bestehen“.17 14

Vgl. Fn. 3. Vgl. BVerfGE 99, 1 (9), 120, 82 (106 f.); 121, 108 (122); 121, 266 (297); 124, 1 (19); 129, 300 (320 ff.). 16 Vgl. außer den Nachweisen Fn. 15 BVerfGE 1, 208 (248); 14, 121 (133 ff.); 59, 119 (125); 71, 81 (97); 95, 408 (418); 122, 304 (315); 131, 316 (344). Nach hiesiger Auffassung verfehlt allerdings die E. des BVerfG vom 26. 02. 2014, derzufolge sogar die 3 %-Sperrklausel bei den Wahlen zum Europäischen Parlament gleichheitswidrig sein soll (DVBl. 2014, 507 ff. mit zutreffend kritischer Anmerkung Frenz, DVBl. 2014, 512 ff.). Die auch für das Europäische Parlament geltende Funktionsfähigkeitsgewähr wird vom BVerfG hier allzu sehr vernachlässigt bzw. unzutreffend minimiert. 17 Vgl. H. H. Klein, in: Rüther (Hg.), Repräsentative oder plebiszitäre Demokratie, S. 33 (35). 15

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IV. „Das Volk“: Begriff und demokratische Zuordnung Nach Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG „geht alle Staatsgewalt vom Volke aus“. Dies ist der Grundsatz der demokratischen Volkssouveränität, der ebenso Legitimations- wie Verantwortungsprinzip ist. Dies bedeutet, dass im demokratischen Verfassungsstaat alle Ausübung staatlicher Gewalt dem Volk zuzurechnen und ebenso – unmittelbar wie mittelbar – auf das Volk und seinen Willen zurückzuführen sein muss. Oder in den Worten des BVerfG: „Die verfassungsrechtlich notwendige demokratische Legitimation erfordert eine ununterbrochene Legitimationskette vom Volk zu den mit staatlichen Aufgaben betrauten Organen und Amtswaltern, die Legitimation muss jedoch nicht in jedem Fall durch unmittelbare Volkswahl erfolgen. In aller Regel genügt es, dass sie sich mittelbar auf das Volk als Träger der Staatsgewalt zurückführen lässt“.18 „Das Volk“ versteht sich in diesem Sinne als (demokratischer) Legitimations- wie Verantwortungsträger. „Das Volk“ ist damit aber nicht selbst von vornherein uneingeschränkte staatliche Entscheidungsmacht. Denn „das Volk“ stellt eben kein von vornherein identitäres und homogenes Gesamtgebilde – etwa in Rousseau’schen Sinne – dar.19 „Das Volk“ setzt sich aus ganz unterschiedlichen Teilen von Bevölkerungsgruppen, ganz unterschiedlichen Interessen und vielfach gegensätzlichen Sozialcharakteren zusammen. Deshalb ist „das Volk“ als solches nicht politisch handlungsfähig. Es gibt keinen vorab definierbaren „Willen des Volkes“; ein solcher vorab prästierter „Wille des Volkes“ wäre in Wahrheit fiktiv. Gerade deshalb bedarf die politische Willensbildung „des Volkes“ von vornherein der rechtlichen Organisation bzw. der institutionellen Vermittlung.20 Formal ist „das Staatsvolk die Summe aller Staatsangehörigen“ (vgl. Art. 116 Abs. 1 GG). Zum politischen Entscheidungsträger wird „das Volk“ aber erst über entsprechend organisierte wie organisierende Verfahren und Institutionen.21 Die wichtigste Institution dieser Art ist die repräsentative Demokratie. Mit E. Fraenkel gesprochen: „Repräsentation ist die rechtlich autorisierte Ausübung von Herrschaftsfunktionen durch verfassungsmäßig bestellte, im Namen des Volkes handelnde Organe eines Staates oder sonstige Träger öffentlicher Gewalt, die ihre Autorität mittelbar oder unmittelbar vom Volk ableiten und mit dem Anspruch legitimieren, dem Gesamtinteresse des Volkes zu dienen und dergestalt dessen wahren Willen zu vollziehen“.22 Hieraus folgt, dass die Forderung nach politischer gleicher Partizipation aller Staatsbürger in der Demokratie nichts anderes bedeutet bzw. bedeuten kann als 18

Vgl. BVerfGE 77, 1 (40); vgl. auch BVerfGE 47, 253 (272 ff.); 83, 60 (72 f.). Vgl. näher und in grundlegender Weise klarstellend Steinberg, Repräsentation, S. 9 f., 55 ff., 138 ff., 151 ff. 20 Vgl. näher besonders Steinberg, a. a. O. 21 Vgl. Steinberg, a. a. O., S. 151 ff.; siehe auch z. B. H. H. Klein (Fn. 17), S. 35; Voßkuhle, Freiheit und Demokratie durch Recht, 2013, S. 24 f.; Möllers, Demokratie – Zumutungen und Versprechen, 2008, Nr. 13 ff., 30 ff.; Böckenförde, Eichenberger-Festschrift, 1982, S. 301 ff. 22 Vgl. in: Rausch (Hg.), Zur Theorie und Geschichte der Repräsentation und Repräsentativverfassung, 1968, S. 330. 19

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das Recht der gleichen Teilhabe an den jeweiligen Entscheidungs- und Wahlverfahren, die zur Vermittlung des „Volkswillens“ von Verfassungs wegen vorgegeben sind. Im Weiteren mündet diese Feststellung in das ebenso verfassungsrechtlich garantierte demokratische Mehrheitsprinzip ein: Alle Bürger sind in gleicher Weise zur politischen Partizipation berechtigt, entscheidend für den konkreten Hoheits- oder Staatsakt (Gesetz) ist die Mehrheit.23 Die politische Partizipation der Bürger basiert in der Demokratie auf der Gleichheit aller und damit auf der Grundidee eines Gemeinwohls, das sich aus dem Mehrheitsprinzip nicht nur legitimiert, sondern über dieses vor allem aktualisiert. In diesem Sinne ist das demokratische Mehrheitsprinzip nicht von „formaler“ Bedeutung, sondern es ist – anders als seine Kritiker behaupten – von elementar-materialer Bedeutung und damit auch von institutionellem (Verfassungs)Rang. Denn das Mehrheitsprinzip stellt das einzige Verfahrensprinzip dar, das ein Höchstmaß an staatsbürgerlicher Gleichheit, also Gleichheit in jedweder Form von politischer Partizipation zu gewährleisten und gleichzeitig in politische Steuerungsfähigkeit umzusetzen vermag. Oder anders ausgedrückt: Demokratie heißt nicht ,volonté de tous‘, sondern ,volonté générale‘; Demokratie heißt nicht nur Herrschaft der jeweils „Interessierten“ oder „Betroffenen“, sondern mehrheitliche Willensbildung einer Allgemeinheit, die dem höchstmöglichen Wohl aller Bürger verpflichtet ist. V. Repräsentative Demokratie als Gleichheitsgarant Die repräsentative Demokratie basiert auf dem gleichen Wahlrecht aller und gewährleistet damit von vornherein ein Höchstmaß an auch gleicher politischer Partizipation aller Staatsbürger. Alle Staatsbürger sind in gleicher Weise wahlberechtigt (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG). Ihre Wahl führt zum parlamentarischen Entscheidungssystem. Die gewählten Volksvertreter sind „Vertreter des ganzen Volkes“ (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG). Sie sind nicht Vertreter nur einzelner Volksgruppen oder einzelner Interessenrichtungen, selbst wenn das System der parteienstaatlichen Demokratie gemäß Art. 21 GG naturgemäß nicht nur auf den Wettbewerb, sondern auch auf die Unterschiedlichkeit politischer Auffassungen setzt. Das Recht auf gleiche politische Partizipation aller Staatsbürger findet seine Grenze am gleichen Recht des anderen und damit auch im Gebot der Rücksichtnahme auf gegenteilige Meinungen, gegenteilige Interessen und gegenteilige Ziele. Gerade im pluralistischen Gemeinwesen bildet das Verfahren der Kompromissfindung hier das notwendige Korrektiv, das auch das Demokratieprinzip allgemein und seine Mehrheitsentscheidung den Grundwerten des freiheitlich-pluralen Rechts- und Sozialstaats verpflichtet. Das System der repräsentativen Demokratie realisiert den Grundsatz der Volkssouveränität damit in absolut

23 Zur verfassungsrechtlichen Verordnung des Mehrheitsprinzips siehe BVerfGE 44, 125 (141 f.); zum verfassungsrechtlichen Mehrheitsprinzip allgemein siehe Magsaam, Das Mehrheitsprinzip im Verfassungsrecht, 2014.

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gleichheitsgerechter Weise. Das System der repräsentativen Demokratie stellt einen definitiven Garanten gleichheitsgerechter politischer Partizipation dar.24

VI. Mehrheits- oder Minderheitsdemokratie – Immanente Grenzen des Sachplebiszits Auch das Plebiszit basiert auf der Gleichheit aller Abstimmungsberechtigten, auch das Plebiszit basiert auf dem Mehrheitsprinzip. Insoweit lassen sich gegen das Plebiszit keine Einwände aus der Sicht des Gleichheitssatzes erheben. Solche Einwände ergeben sich aber in anderer Richtung bzw. aus tatsächlichen Gegebenheiten, die dem Plebiszit in aller Regel eigentümlich sind. Plebiszitäre Verfahren realisieren meist eher selektive Partizipationsforderungen. Gerade deshalb wird von den Befürwortern des Plebiszits in aller Regel davon gesprochen, dass die „Betroffenen“ unmittelbar oder stärker an den „sie betreffenden“ politischen Entscheidungen beteiligt werden müssten. Solche „Betroffenheiten“ werden beispielsweise bei bestimmten Umweltschutzbelangen reklamiert, etwa wenn es um die „Betroffenheit“ des Nachbarn eines geplanten Kraftwerkes oder eines geplanten Verkehrswegs geht. Immer dann, wenn es um solche Bereiche selektiver oder individueller „Betroffenheiten“ geht, wird nach „mehr Partizipation der Betroffenen“ gerufen, glaubt man doch den parlamentarischen Entscheidungsverfahren nicht vertrauen zu können, weil diese angeblich „nicht bereit“ seien, entsprechend „individuellen Betroffenheiten“ ausreichend Rechnung zu tragen.25 Richtig hieran ist, dass parlamentarische Entscheidungsverfahren nicht nur dazu verpflichtet oder darauf angelegt sind, allein „individuellen Betroffenheiten“ zu entsprechen, sondern sie sind vor allem dazu berufen, das – wesentlich plural bestimmte und deshalb kompromissmäßig miteinander auszugleichende – Wohl der Allgemeinheit insgesamt zu gewährleisten, was in der Sache nur bedeuten kann, dass alle irgendwie „betroffenen“ Individualinteressen mit den Interessen der Allgemeinheit in einen verhältnismäßigen Ausgleich zu bringen sind. Mit anderen Worten: Individuelle Betroffenheit legitimiert kein Mehr an politischer Entscheidungsteilhabe, individuelle Betroffenheit untersteht gerade unter den Aspekten des Gleichheitssatzes dem Wohl der Allgemeinheit bzw. dem Vorrang des für alle Bürger geltenden Gesetzes. Wollte man Gegenteiliges postulieren, so sähe sich der Gleichheitssatz in evidenter Weise verletzt. Das Prinzip der Mehrheitsdemokratie sähe sich in ein gleichheitswidriges System privilegierter Minderheiten bzw. einer verfassungswidrigen Minderheitsdemokratie umgewendet. Oder in anderer Richtung: Plebiszite sind Sachentscheidungen auf bestimmte („speziell-interessierte“) Frage- oder Problemstellungen. Die Entscheidung über ein solches Plebiszit liegt faktisch damit in aller Regel schon bei demjenigen, der die zu entscheidende Frage- oder Problemstellung aufgibt oder definiert. Ist dies wiederum (nur) der speziell „Betroffene“, so fällt diesem in aller Regel auch 24 25

Eindrucksvoll hierzu zuletzt Steinberg, Repräsentation, S. 156 ff. Vgl. dazu bereits sowie zum Folgenden Scholz, Deutschland, S. 141 ff.

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bereits ein Mehr an faktischer Entscheidungsmacht zu. Korrigieren lässt sich dieser Tatbestand nur, indem am absoluten Vorrang des Wohls der Allgemeinheit, d. h. des Wohls aller Staatsbürger, festgehalten wird. Allein die repräsentative Demokratie ist hierzu durchgehend im Stande, die plebiszitäre Demokratie in aller Regel jedoch nicht. Ein weiteres Problem liegt beim Quorum.26 Naturgemäß können Plebiszite nur dann verfahrensmäßig umgesetzt werden, wenn sie ein bestimmtes Quorum der Abstimmungsberechtigten erfüllen. Wie groß muss jedoch ein konkretes Quorum beschaffen sein, um dem Grundsatz demokratischer Gleichheit zu entsprechen? Als Beispiel sei auf den Beschluss des SPD-Parteivorstandes vom 19. März 2001 hingewiesen, der auch in eine entsprechende Gesetzesvorlage von SPD und Bündnis 90/ Die Grünen Eingang gefunden hat und demzufolge das Petitionsrecht gemäß Art. 17 GG in der Form erweitert werden soll, dass Volksinitiativen eingeführt werden und auch Volksbegehren und Volksentscheid auf Bundesebene realisiert werden sollen.27 Als Quorum für die Volksinitiative sind dort nur 400.000 Wahlberechtigte vorgesehen. Für das Volksbegehren sollen 5 % der Wahlberechtigten maßgebend sein. Für den Volksentscheid bei einfach-gesetzlichen Entscheidungen 20 % und bei verfassungsändernden Regelungen 40 % der Wahlberechtigten. Bei alledem sollen jeweils mit mindestens zwei Dritteln die Bundesländer entsprechend ihrem Anteil an der wahlberechtigten Gesamtbevölkerung vertreten sein. Diese Quoren sind indessen viel zu niedrig angesetzt und offenbaren die implizit-gleichheitswidrige Schwäche des Plebiszits. Wenn man beispielsweise den Volksentscheid in einfach-gesetzlichen Fragen aufnimmt und von einer Mindestabstimmungsbeteiligung von 20 % ausgeht, so könnte die Mehrheit zugunsten eines entsprechenden Volksentscheids mit bereits gut 10 % der Wahlberechtigten gebildet werden. Dies würde dem demokratischen Mehrheitsprinzip eklatant widersprechen, bedeutete faktisch die Umkehr des demokratischen Mehrheitsprinzips in ein antidemokratisches Minderheitsprinzip. Noch evidenter wird dies bei verfassungsändernden Gesetzen, für die nach Art. 79 Abs. 2 GG bekanntlich Zweidrittel-Mehrheiten von Bundestag und Bundesrat notwendig sind. Würden Verfassungsänderungen mittels plebiszitärer Verfahren, hier also mittels Volksentscheiden, ermöglicht, so zerbräche dieses mit Recht besonders qualifizierte Mehrheitserfordernis zugunsten von Verfassungsänderungen, die sogar mit einem Stimmenanteil von unter 50 % realisierbar wären.28 Hinzukommt der bundesstaatliche Aspekt. Die Gesetzgebung im Bundesstaat liegt prinzipiell paritätisch bei Bundestag und Bundesrat. Über den Bundesrat nehmen die Länder an der Gesetzgebung des Bundes teil (Art. 50 GG). Plebiszitäre Verfahren auf Bundesebene würden sich jedoch immer an der Gesamtbevölkerung orientieren, was in der Konsequenz bedeuten kann, dass sich die besonders geschützten 26 Zur Quorenproblematik siehe allgemein Meerkamp, Die Quotenfrage im Volksgesetzgebungsverfahren, 2011. 27 BT-Ds. 14/8503. 28 Vgl. Scholz, Deutschland, S. 138.

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Positionen kleinerer Bundesländer in ihrer Beteiligung an der Bundesgesetzgebung über den Bundesrat minimieren könnten. Das auch in dem vorstehenden Gesetzesentwurf vorgeschlagene Verfahren, das für einen Volksentscheid mindestens zwei Drittel der Bundesländer entsprechend ihrem Anteil an der wahlberechtigten Gesamtbevölkerung vertreten sein sollen, ändert hieran nichts. Das System des Bundesstaates basiert zum einen auf der prinzipiellen Gleichheit aller Bundesländer und weist den kleineren Bundesländern deshalb mit Recht höhere Stimmgewichte im Bundesrat zu, als dies nach der Größe ihrer jeweiligen Bevölkerungen eigentlich vorzusehen wäre (vgl. Art. 51 Abs. 2 GG). Das bundesweite Plebiszit nähme hierauf jedoch keine Rücksicht mehr; und auch das Kriterium, dass zwei Drittel der Bundesländer für einen erfolgreichen Volksentscheid bevölkerungsmäßig vertreten sein sollen, ändert hieran nichts. Man würde damit zwar „das Bundesvolk“ als solches noch einigermaßen gleichheits- und mehrheitsgerecht beteiligen. Man würde die Struktur des Bundesstaates im Ergebnis jedoch aufkündigen.29

VII. Folgerungen und Ausblick Aus alledem ergibt sich, dass der Ruf nach dem Sachplebiszit keineswegs geeignet ist, zu mehr Gleichheit der Bürger in der politischen Partizipation zu gelangen. Eher im Gegenteil: Volksbegehren und Volksentscheid bedrohen die demokratische Gleichheit aller Staatsbürger gerade deshalb, weil sie die Gefahr von Minderheitsdemokratie statt Mehrheitsdemokratie in sich bergen. Deshalb ist zumindest auf der Ebene des Bundes von plebiszitären Verfahren wie denen des Volksbegehrens und des Volksentscheids nach hiesiger Auffassung – unverändert und definitiv – Abstand zu nehmen. Dies gilt ebenso für plebiszitäre Gesetzgebungs- wie plebiszitäre Verfassungsentscheidungen. Nur die repräsentative Demokratie bleibt imstande, bei der Gesetzgebung wie bei der Verfassungsgesetzgebung die Gleichheit der Bürger uneingeschränkt zu gewährleisten. Ob ein Verfassungsreferendum gemäß Art. 146 GG zu einer anderen Beurteilung zu führen hätte, kann und darf mit Recht offen bleiben. Denn wie bereits oben gezeigt, sieht sich diese Frage in Art. 146 GG nicht entschieden. Wenn ein künftiger Verfassungssouverän beim Erlass einer neuen Verfassung nach Maßgabe einer Volksabstimmung verfahren wollte, so liegt dies in seinem freien demokratischen Gestaltungsermessen. Aus Art. 146 GG lässt sich hierzu jedoch keine Vorentscheidung ableiten. Verfassungsänderungen gemäß Art. 79 GG müssen jedoch beim Verfahren gemäß Art. 79 Abs. 2 GG verbleiben. Eine andere Beurteilung kann allenfalls für die Volksinitiative gelten. Denn sie berührt den Entscheidungsprimat der repräsentativen Demokratie nicht. Die Volksinitiative besagt nichts anderes, als dass der Deutsche Bundestag von einer bestimmten Anzahl von Wahlberechtigten (Quorum) aufgefordert wird, sich mit einer bestimmten Frage oder Problemstellung zu befassen bzw. hierzu eine eigene Entscheidung zu treffen. Der Entscheidungsprimat des Deutschen Bundestages sähe sich 29

Vgl. bereits Scholz, Deutschland, S. 138, 142 f.

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damit nicht infrage gestellt. Wenn man so will, so würde lediglich ein weiteres Kommunikationsverfahren zwischen Bundestag und „Volk“ eröffnet, das jedoch weder undemokratisch noch gleichheitswidrig wäre (vorausgesetzt, dass das entsprechende Quorum von hinreichender Größe wäre). Aus diesem Grunde könnte die Volksinitiative im Wege der Verfassungsänderung in das GG – als impliziter Teil des Gesetzgebungsverfahrens – ohne weiteres aufgenommen werden.30 Für Volksbegehren und Volksentscheid gilt dies jedoch nicht. Kritiker werden diesen Feststellungen gegenüber jedoch und naturgemäß einwenden, dass damit die eingangs apostrophierte „Politik-“ bzw. „Parteienverdrossenheit“ nicht überwunden wäre. Selbst wenn es solche „Verdrossenheiten“ tatsächlich geben sollte, wofür m. E. bisher kein definitiver Beweis geführt worden ist, so müsste man im Ergebnis doch zu anderen Folgerungen gelangen – Folgerungen, die nicht solchen „Verdrossenheiten“ mit dem Plebiszit, sondern mit immanenten Reformen des gegebenen Systems der repräsentativen (parteienstaatlichen) Demokratie zu begegnen suchten. Mit anderen Worten: Es müsste beim gegebenen Wahlrecht und bei der gegebenen herausragenden Stellung bzw. Machtposition der politischen Parteien angesetzt werden. Es ginge also um eine immanente Reform der parlamentarisch-parteienstaatlichen Strukturen und nicht um deren (partielle) Ersetzung durch plebiszitäre Verfahren. Die Macht der politischen Parteien ist unbestreitbar evident und ist mit Sicherheit auch in manches Maß an Übermacht abgeglitten. Dies liegt aber ganz entscheidend am gegebenen System des Wahlrechts, das gerade im Bereich der Verhältniswahl den Parteien solche Übermächtigkeiten ermöglicht. Aus diesem Grunde sollte nach hiesiger Auffassung vor allem bei der Listenwahl und dem dort geltenden Prinzip der sog. „starren Liste“ angesetzt werden. Über die „starre Liste“ erhalten die politischen Parteien bei der Aufstellung von Wahlkandidaten für den Deutschen Bundestag ein derart hohes Maß an eigener Entscheidungsmacht, wie es im Lichte gleicher politischer Partizipationsrechte der Bürger (Wähler) mit Recht infrage gestellt werden kann. Deshalb sollte das Prinzip der „starren Liste“ zugunsten des Prinzips der „offenen Liste“ aufgegeben werden. Dem Wähler sollte bei der Abgabe seiner Stimme (auch) das Recht eingeräumt werden, unter den von den Parteien listenmäßig offerierten Kandidaten auszuwählen, also über den Listenplatz der jeweiligen Kandidaten selbst entscheiden zu können. Dies würde in der Tat zu mehr demokratischer Entscheidungsmacht des Wählers und damit auch zu mehr Gleichheit in der politischen Partizipation der Bürger führen.31

30 31

Vgl. auch Steinberg, Repräsentation, S. 246. Vgl. näher bereits Scholz, Gauweiler-Festschrift, S. 269 ff.

Die UN-Resolution zum Recht auf Privatsphäre im digitalen Zeitalter (A/RES/68/167 und 69/166) im Focus von Völkerrecht und Völkerrechtspolitik Von Meinhard Schröder, Trier I. Vorgeschichte Die UN-Resolution zum Recht auf Privatsphäre im digitalen Zeitalter ist als eine der Konsequenzen der massenhaften Ausspähung entstanden, die private Kommunikationsdaten unter anderem in Deutschland erfasste und dem US-Geheimdienst (NSA)1 angelastet wurde. Das Recht auf Privatsphäre erscheint in der Resolution „important for the realization of the right to freedom of expression and to hold opinions without interference“. Die Resolution berührt damit Forschungsinteressen, die Rudolf Wendt zum Grundrechtsschutz, u. a. der Meinungsfreiheit verfolgt.2 Rechtliche Einordnung, Analyse und Bewertung dieser Resolution sind Ausdruck langer Verbundenheit mit ihm. Die vom ehemaligen NSA-Mitarbeiter Snowden im Juni 2013 enthüllten Ausspähungsaktionen führten wegen ihrer den nationalen und europäischen Raum überschreitenden Dimensionen sogleich zu Forderungen nach Abwehr auch mithilfe des Völkerrechts. So soll die „bislang international gültige gewohnheitsrechtliche Generalerlaubnis für Spionage… unter diesen Umständen nicht mehr aufrecht zu erhalten“ sein. Denn der Schutz der Privatsphäre, völkerrechtlich fest verankert, setze solchen Aktivitäten enge Grenzen.3 Die Einschätzung, dass ein fest verankerter Schutz schon bestehe, wurde nicht allgemein geteilt. Es gab Stimmen, denen zufolge das Grundrecht auf Datenschutz und digitale Freiheit zu einem globalen Menschenrecht gemacht und versucht werden müsse, dieses Recht wie andere auch gegen Widerstand durchzusetzen,4 oder die sich für ein globales und effektives Datenschutzabkommen aussprachen, weil die Staaten zunehmend in der Lage seien, Bürger an-

1

Zur Government Agency NSA: www.nasa.gov/faqs/oversight.shtml. Zuletzt die Kommentierung des Art. 5 in: von Münch/Kunig, Grundgesetz, 6 Aufl. 2012. 3 R. Geis, zitiert nach Darnstädt, www. spiegel.de/politik/ausland/nsa-skandal-amerikasdigitaler-grossangriff-auf-das-voelkerrecht-a-910243.html. S. 2. 4 U. Beck im Gespräch: Digitaler Weltstaat oder digitaler Humanismus, in FAZ Nr. 166 vom 20. 7. 2013, S. 40. 2

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derer Staaten zu gefährden, ohne dass diese sich zur Wehr setzen könnten.5 Grundsätzlicher setzte die Idee, ein „Völkerrecht des Netzes“ zu entwickeln und durchzusetzen an: Grotius sei angesichts der Bedrohung des Seehandels durch eine hegemoniale Seemacht für die Freiheit der Meere eingetreten und damit zum Vater des modernen Völkerrechts geworden. Was vor 400 Jahren die Weltmeere waren, seien heute die globalen Datennetze. Das digitale Zeitalter brauche ein Internet-Völkerrecht, das unsere Bürgerrechte beim Telefonieren, E-Mail-Schreiben oder Surfen im Netz auch über nationale Grenzen hinaus sichere. Grotius habe damals mithilfe des Rechts die staatliche Seeräuberei eingedämmt. Das müsse mit der Datenpiraterie der Geheimdienste auch gelingen.6 Elemente der skizzierten Debatte finden sich in politischen Aktionen wieder. Die Bundesregierung startete Initiativen, die auf rechtliche Bindung der NSA oder ein „Völkerrecht des Netzes“ setzen. Dementsprechend betrieb sie den Abschluss eines No-Spy-Abkommens mit den USA, dessen Erfolgsaussichten und Schutzwirkung kritisch beurteilt werden,7 und erwog eine Ergänzung des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte nach dem Vorbild des Kyoto-Protokolls zu einem weitreichenden Datenschutz.8 In der Koalitionsvereinbarung für die 18. Wahlperiode „Deutschlands Zukunft gestalten“ wurde in Aussicht gestellt, dass man sich „für ein Völkerrecht des Netzes“ einsetzen werde, „damit die Grundrechte auch in der digitalen Welt gelten. Das Recht auf Privatsphäre, das im Internationalen Pakt für bürgerliche und politische Rechte garantiert ist, ist an die Bedürfnisse des digitalen Zeitalters anzupassen.“9 Diesem Ziel entsprach bereits der am 8. 11. 2013 von der Bundesrepublik gemeinsam mit Brasilien in der Vollversammlung der UN eingebrachte Resolutionsentwurf. Zu dessen Begründung hieß es: Dem in Art. 17 des UN-Paktes garantierten Recht auf Privatheit solle mit Blick auf den immensen Fort5

H. J. Papier, www.spiegel.de/deutschland/nsa-affaere-ex-verfassungsrichter-papier-vertei digt-merkels-regierung-a-914763-druck html vom 5. 8. 2013; im Ergebnis ebenso: die Demokratie verteidigen im digitalen Zeitalter. Gegen Massenüberwachung – ein Aufruf an die Welt, FAZ Nr. 100 287 vom 10. 12. 2013, S. 27. 6 G. Jost/Th. Oppermann, Im Zweifel für die Freiheit, FAZ Nr. 166 v. 20. 7.2013, S. 10. 7 Siehe nur FAZ.NET/aktuell/politik/no-spy-abkommen-placebo-gegen-spionage vom 9. 11. 2013 und www.zeit.de/politik/ausland/2013 – 11/nsa-deutschland-spionage-abkommen vom 7. 11. 2013; R. Müller, No Spy?, in: FAZ Nr. 188 v. 15. 8. 2013, S. 8 sowie zuletzt: C. Kurz, Chronik einer Kapitulation. Die Bundesregierung verhandelt mit den Amerikanern über die Spionageaffäre, aber was soll dabei herauskommen?, FAZ Nr. 101 v. 2. 5. 2014, S. 13; aus völkerrechtlicher Sicht: Talmon, Sachverständigengutachten gemäß Beweisbeschluss SV4 des 1. Untersuchungsausschusses des Bundestags (18. WP) v. 2. 6. 2014 Pkt. 57 ff. www.bun destag.de/ausschuesse/18/ua/1.untersuchungsausschuss„NSA“, hier Stellungnahmen der Sachverständigen. 8 www.FAZNET/aktuell/politik/spaehaffaere–merkel-regt-globales-datenschutz-abkommenan-12288963.html (20. 7. 2013). 9 Zitat im Abschnitt: Moderner Staat innere Sicherheit und Bürgerrechte, Unterabschnitt: Digitale Sicherheit und Datenschutz, S. 104 (v. 14. 12. 2013); zum „Völkerrecht des Netzes“ jüngst auch Bundesjustizminister Maas im Gespräch mit der FAZ: Letztes Mittel ist die Entflechtung von Google, FAZ Nr. 147 vom 28. 6. 2014, S. 4.

Die UN-Resolution zum Recht auf Privatsphäre im digitalen Zeitalter

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schritt der Technik auch bei digitaler Kommunikation zur Durchsetzung verholfen werden. Angesichts des Bekanntwerdens weitreichender Abhörvorwürfe in der sogenannten Spähaffäre mache sich Deutschland für das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und dem Schutz der Privatsphäre stark. Der Grundrechtsschutz müsse online wie offline gelten.10 Auf Betreiben der USA in verschiedener, zu erörternder Hinsicht abgeschwächt,11 nahm die Generalversammlung der UN den Resolutionsentwurf wie zuvor der 3. Ausschuss ohne Abstimmung am 18. 12. 2013 an. Die vom 3. Ausschuss überarbeitete und ergänzte Fassung der Res/68/167, auf die abschließend einzugehen ist (IV.), verabschiedete die Generalversammlung am 18. 12. 2014 wiederum ohne Abstimmung.12 Die Erklärung des Auswärtigen Amtes, dass die Resolution dem Recht auf Privatheit zur Durchsetzung verhelfen solle, lässt nicht erkennen, ob Art. 17 des UN Paktes bereits (teil-)entsprechende Inhalte aufweist, die die Resolution lediglich sichtbar macht, oder ob im Wesentlichen ein rechtspolitisches Programm zum Datenschutz im digitalen Zeitalter auf den Weg gebracht wird. Zur Klärung ist deshalb zunächst auf Art. 17 einzugehen. Inzident kann damit auch überprüft werden, ob, wie behauptet, der fest verankerte Schutz der Privatsphäre auch der Spionagetätigkeit enge Grenzen setzt. II. Der Schutz vor staatlichem Zugriff auf Kommunikationsdaten nach dem Pakt über bürgerliche und politische Rechte 1. Rechtliche Zuordnung und Schutzintensität Keinem Zweifel begegnet die Zuordnung der Kommunikationsdaten zum Schutzbereich des Privatlebens nach Art. 17 des UN-Paktes. Sie entspricht, wenn dafür kein spezieller Tatbestand geschaffen wurde, wie in Art. 8 der Grundrechtecharta der Europäischen Union, zudem gestützt durch den weit zu fassenden Begriff des Schriftverkehrs (correspondence), allgemeiner Auffassung.13 Die Bedeutung des der Privat-

10

www.auswaertiges-amt.de/DE/Außenpolitik/Friedenspolitik/VereintenNationen/Aktuell/ 131101.html. 11 Instruktiver Überblick: Vereinte Nationen: Recht auf Privatsphäre im digitalen Zeitalter vom 12. 12. 2013, https://netzpolitik.org/2013/vereintenationen-recht-auf-privatspaere-digita len-zeitalter. 12 A/RES/69/166; noch nicht veröffentlicht. Der Text des Entwurfs aus der 69. Sitzung des 3. Ausschusses v. 8. 12. 2014 ist abrufbar unter www.un.org/eu/ga/third/69/reports.shtml, (item 68). 13 S. Menschenrechtsausschuss CCPR General Comment No 16(1988), § 8; Report of the Special Rapporteur on the promotion and protection of the right to freedom of opinion and expression, F. La Rue v. 17. 4. 2013, A/HRC/23/40, § 24 f.; Seidl, Handbuch der Grund- und Menschenrechte, 1996, S. 40 ff. m. Nachw.; R. Hofmann/N. Boldt, Zu Art. 17, in: Nomos, Das Deutsche Bundesrecht, Erläuterungen (Stand 2005); Bundestag Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“, BT Drucks. 17/8999, 1.1.1.; – Im gleichen Sinne zu Art. 8

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heit zuzurechnenden Datenschutzes für die Ausübung der Meinungsfreiheit, die die Resolution hervorhebt14 (übrigens gegenüber dem Entwurf abgeschwächt, in dem noch von einem „essential requirement“ die Rede war), ändert an der Zuordnung nichts. Die Zuordnung als solche ist nur bedingt aufschlussreich, weil es auf die Detaillierung der Anforderungen an den Datenschutz ankommt. Das ist umso bedeutsamer, als Art. 17 im Gegensatz zu anderen Bestimmungen des Paktes, die die rechtlichen Grenzen der Garantien deutlicher präzisieren, pauschal rechtswidrige und willkürliche Eingriffe verbietet.15 Für die Detaillierung kommen unverbindliche Comments des Menschenrechtsausschusses16, dessen Praxis in Einzelfallentscheidungen und Berichte für den Menschenrechtsrat in Betracht. Analysiert man diese Quellen, ergibt sich: Im Comment No 16 „Art. 17 (Right to Privacy)“ vom 8. April 198817 findet sich die Forderung, dass jede, auch die elektronische Überwachung, oder jedes Abfangen von privaten Kommunikationsdaten verboten (§ 8) sowie die Sammlung und Speicherung personenbezogener Informationen gesetzlich geregelt werden sollte (§ 10). Da die Stoßrichtung eher die des Bundesdatenschutzgesetzes ist, schweigt der Comment zur nachrichtendienstlichen Überwachung. Er ist auch bis heute nicht im Lichte neuerer technologischer Entwicklungen mit Auswirkung auf die Staatenpraxis erneuert worden, obwohl dies bereits gefordert wurde, zumal er die zwischenzeitlich entstandene Praxis des Menschenrechtsausschusses nicht erfasst.18 In dieser Praxis zeichnet sich ab, dass Eingriffe in die Rechtspositionen des Art. 17 gesetzlich abgesichert, für ein legitimes Ziel notwendig und verhältnismäßig sowie nicht zuletzt mit Ziel und Zweck des UN-Paktes vereinbar sein müssen.19 Mit der Bekämpfung des Terrorismus durch das Ausspähen von Kommunikationsdaten war der Ausschuss erstmals aus Anlass der Erörterung des Berichts der USA zur Implementierung des UN-Pakts in der 110. Sitzung vom 10. bis 14. 3. 2014 befasst. In seiner Empfehlung zur NSA-Problematik verzichtete er auf spezifisch datenschutzrechtliche Interpretationselemente, wie sie M. Scheinin 2009 in den Sonderberichten „Förderung und Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten EMRK Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 5. Aufl. 2012, § 22 Rn. 10 m. Nachw. aus der Rechtsprechung des EGMR. 14 Siehe auch den Bericht La Rue (Fn. 13). 15 Scheinin, (Special Rapporteur) Report on the promotion and protection of human rights and fundamental freedoms while countering terrorism v. 28. 12. 2009, A/HRC/13/37 § 16. 16 Dazu Ando, General Comments/Recommendations, in: MEPIL Vol. IV, 323 ff.; Schilling, Internationaler Menschenrechtsschutz, 2. Aufl. 2010, Rn. 754. 17 Fundstelle: http://www.refworld.org/docid/453883f922.html. 18 Scheinin (Fn. 15), §§19, 98. 19 S. Van Hulst v. The Netherlands v.1.11.2004,CCPR/C/82/ D/903/1999; Madafferi v. Australia v. 26. 8. 2004, CCPR/C/81/D/1011/2001; M.G. v. Germany v. 2. 9. 2008, CCPR/C/93/ D/1482/2006; Voinovic v. Croatia v. 3. 4. 2009, CCPR/C/95/D/1510/2006.

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bei der Bekämpfung des Terrorismus“ für den Menschenrechtsrat vorgestellt20 und dafür eine soft law-Ergänzung zum hard law in einer „global declaration on data protection and data privacy“ angeregt hatte.21 Stattdessen verwies der Ausschuss auf seine erwähnte Praxis.22 Ob das ausreicht, ist nicht sicher.23 Mit Recht ist in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen worden,24 dass der Schutzstandard des Ausschusses noch nicht die Detaillierung erreicht hat, die der Rechtsprechung des EGMR25 entspricht. Einiges spricht deshalb dafür, dass internationale Standards, die die nachrichtendienstliche Tätigkeit durch Ausspähen von Kommunikationsdaten verbieten oder einschränken sollen (wie überhaupt datenschutzrechtliche Anforderungen) noch entwickelt werden müssen26 – und dies auch im Hinblick auf die uneinheitliche Staatenpraxis in Datenschutzfragen.27 Die eingangs mitgeteilte Behauptung, Art. 17 setze der Spionage enge Grenzen, erscheint auf diesem Hintergrund voreilig, zumal die Spionage keinen völkerrechtlichen Status besitzt.28 2. Extraterritoriale Geltung Schon vor der massenhaften Ausspähung privater Kommunikationsdaten auf Veranlassung des NSA mit ihren Auswirkungen auf die Privatsphäre von Bürgern außerhalb der USA ist manchen Formen der Terrorismusbekämpfung bescheinigt worden, dass zu ihnen, gleich ob völkerrechtsgemäß oder völkerrechtswidrig, die Ausübung von Herrschaftsgewalt eines Staates außerhalb seines Territoriums ohne Gebietsherrschaft oder ohne, dass die dort lebenden Menschen unter seiner Obhut stehen, gehören kann.29 Im Sonderbericht La Rue für den Menschenrechtsrat zu Förderung und Schutz der Meinungsfreiheit (2013) findet sich diese Beobachtung konkretisiert für den staatlichen Zugriff auf Kommunikationsdaten in ausländischen Herrschafts-

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A/HCR/10/3 v. 4. 2. 2009 §§ 25 ff. und A/HCR/13/37 §§ 48 ff. A/HRC/13/37 § 73 und Anhörung im LIBE-Ausschuss des EP am 14. 10. 2013 Inquiry on Electronic Mass Surveillance of EU Citizens sub 3, www.europarl.europa.eu/document/acti vity.es/cont/201310/20131017ATT72929. 22 S. Concluding Obersvations on the Forth Periodic Report of the United States v. 23. 4. 2014, § 22, CCPR/C/USA/CO/4; weiterführend jetzt der Bericht der Hohen Kommissarin für Menschenrechte „The right to Privacy in the Digital Age“, zu ihm unten III. 1. (4) und 3. (1). 23 Bejahend aber Scheinin in seiner Anhörung (Fn. 21) sub 2. 24 Ph. Aust, Stellungnahme für den 1. Untersuchungsausschuss in der 18. WP des Deutschen Bundestags v. 5. 6. 2014, Pkt. 24 www.bundestag.de/ausschuesse18/ua/1.untersuchungs ausschusss„NSA“ – Stellungnahmen der Sachverständigen. 25 Umfangreiche Nachw. bei Grabenwarter/Pabel (Fn. 13) Rn. 27, 35 und 40. 26 Scheinin (Fn. 20) A/HRC/10/3 §31; 27 Dazu Aust (Fn. 24) Stellungnahme Pkt. 3; R. Schwartmann, Freies Surfen, FAZ Nr. 159 v. 12. 7. 2013, S. 7 (Staat und Recht). 28 Dazu Talmon (Fn. 7) Pkt. §§ 26 ff., 47 ff.; Schaller, Spies, in: MEPIL Vol IX., 435 ff. 29 Fastenrath, in: Karl (Hrsg.), Int. Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention, Art.1 Rn. 111 (2012). 21

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bereichen: Es bestehe insoweit die ernste Besorgnis einer exterritorialen Verletzung von Menschenrechten.30 Nicht zufällig nimmt deshalb hierauf der Resolutionsentwurf zum Recht auf Privatheit im digitalen Zeitalter Bezug. Seine Aussage, dass die extraterritoriale Überwachung der Kommunikation, besonders wenn sie massiv erfolgt, Menschenrechte verletzen kann,31 wurde vor allem von den USA bekämpft32 – auf der Basis ihrer offiziellen Position, wonach Menschenrechte keine extraterritoriale Geltung beanspruchen können.33 In der endgültigen Fassung der Resolution wurde sie im Grundsatz beibehalten, wenngleich an die Stelle einer möglichen Verletzung der Menschenrechte nachteilige Auswirkungen getreten sind.34 Für die Beurteilung und Bewertung der Resolution und ihrer Bezugnahme auf die menschenrechtlichen Auswirkungen eines extraterritorialen Zugriffs auf Kommunikationsdaten erscheint es zweckmäßig, im Folgenden zunächst die Frage der Extraterritorialität im Rahmen des Art. 17 des UN-Paktes zu erörterten. Nimmt man die Praxis des Menschenrechtsausschusses und Äußerungen des IGH zum Maßstab, steht fest, dass die Menschenrechte und somit auch Art. 17 des UNPaktes grundsätzlich extraterritoriale Schutzwirkungen entfalten können. Im General Comment No 31(80) „The Nature of the General Legal Obligations Imposed on States Parties to the – Covenant“ vom 29. 3. 2004 heißt es dazu unter Bezugnahme auf den einschlägigen Art. 2 Abs. 1 des UN-Paktes: „the enjoyment of Covenant rights … must also be available to all individuals who may find themselves in the territory or subject to the jurisdiction of the State Party. This principle also applies to those within the power or effective control of the forces of a State Party acting outside its territory.“35 Maßgebend ist danach bei Verletzung eines Konventionsrechts außerhalb des Territoriums eines Vertragsstaates, für die dieser verantwortlich sein soll, dass außerhalb des Territoriums verletzte Personen der Hoheitsgewalt dieses Vertragsstaates unterliegen oder ausgesetzt sind. Der IGH hat diese, auch in der Praxis

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Fn. 13, § 64; s. a. Hoffmann-Riem, Globaler Auftrag, FAZ Nr. 144 v. 25. 6. 2014 (Staat und Recht): Angesichts der Globalität der Kommunikationsstrukturen muss die in den Grundund Menschenrechten angelegte, aber nicht hinreichend umgesetzte Extraterritorialität der Reichweite aktiviert werden. 31 A/C3/68/L45 im Abschnitt „deeply concerned“. 32 Colum Lynch, Inside America’s plan to kill online privacy rights, posted Nov 20/2013; Berlin entschärft UN-Entwurf, FAZ Nr. 272 v. 22. 11. 2013, S. 4. 33 Zuletzt bekräftigt im Menschenrechtsausschuss bei der Erörterung des 4. Berichts zur Implementierung des UN-Pakts, www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.as px?NewsID=14383&LangID=E v. 14. 3. 2014; wissenschaftliche Darlegung bei Denis, Application of Human Rights Treaties Extraterritorially in Times of Armed Conflict and Military Occupation, AJIL 99(2005), 119(122 f.); K. J. Keller, Does the ICCPR Apply Extraterritorially?, http:/opiniojuris.org/2006/07/18/does … Gegenposition: Meron ,Extraterritoriality of Human Rights Treaties, 89 AJIL (1995), 78 (79 ff.). 34 A/68/167 im Abschnitt „deeply concerned“. 35 CCPR/C/21/Rev.1/Add.13 § 10 (Hervorhebung hier).

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des Menschenrechtsausschusses nachweisbare Interpretation36 gebilligt,37 obschon sie nach dem Wortlaut des Art. 2 Abs. 1 des UN-Paktes, der auf das Territorium und die hoheitliche Zuständigkeit abstellt, nicht unbedingt nahe liegt.38 Gewiss bedarf die extraterritoriale Dimension der privaten Sphäre einer besonderen Betrachtung,39 die bei der Entwicklung der erwähnten Maßstäbe keine Rolle gespielt hat. Aber andere akzeptierte Maßstäbe stehen derzeit nicht zur Verfügung. Deshalb dürfte es kaum möglich sein, die Überwachung der Kommunikation, die auf Veranlassung eines Vertragsstaates stattfindet und sich außerhalb seines Territoriums auf Grundrechte auswirkt, generell in den Schutz des UN-Paktes einzubeziehen. Das gilt jedenfalls dann, wenn keinerlei Dienststellen des Vertragsstaates auf dem fremden Territorium tätig geworden sind. M. Nowak kommt für die umstrittene NSA-Ausspähung zum gegenteiligen Ergebnis. Dafür setzt er in einer hypothetischen FallKonstellation Maßnahmen von US-Bediensteten in Deutschland zur Bekämpfung des Terrorismus (Kidnapping, Hausarrest einer Person, Öffnung ihrer Mailbox, Anbringen von Abhöranlagen, Ausspähen von Kommunikationsdaten von einer deutschen Operationsbasis aus) – insoweit kann man ohne weiteres von einer territorialen Schutzwirkung des UN-Paktes ausgehen, weil Auswirkungen von Hoheitsgewalt auf fremdem Territorium vorliegen – kurzerhand mit Maßnahmen gleich, die ohne jede Aktivität auf fremdem Territorium erfolgen: Jede Überwachung der Kommunikation erfolge unter direkter Kontrolle des Veranlassungsstaates und ist deshalb am UNPakt zu messen.40 Das läuft darauf hinaus, dass schon die virtuelle Kontrolle über Personen als Ausübung von Hoheitsgewalt auf fremdem Territorium gilt.41 Für eine derartige Ausweitung der extraterritorialen Dimension fehlt derzeit die tragfähige Grundlage,42 auch wenn ihr Ergebnis im digitalen Zeitalter globaler Datenströme sympathisch erscheint. 3. Zwischenergebnis Resümiert man die Überlegungen zu Art. 17 UN-Pakt über bürgerliche und politische Rechte, zeigt sich, dass der Schutz der Kommunikationsdaten prinzipiell unter 36 CCPR/C/D/52/1979 (1981) Lopez Burgos vs. Uruguay; CCPR/C/OP/1 at 92 (1984) Lilian Celiberti de Casariego vs Uruguay; CCPR/C/OP/2 at 39 (1990) Montero vs Uruguay. 37 Gutachten Legal Consequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory v. 9. 7. 2004, Rep.136 §§ 107 ff. (109); bestätigt im Urteil Concerning Armed Activities on the Territory of the Congo v. 19. 12. 2005 Rep. 186 § 216. 38 Dazu auch Nowak, UN. Covenant on Civil and Political Rights. CCPR, 2. Aufl. (2005) Art. 2 Rn. 27; Schilling, Internationaler Menschenrechtsschutz, 2. Aufl. (2010), RN. 729. 39 Aust (Fn. 23), Stellungnahme Pkt. 32. 40 What does extraterritorial application of human rights treaties mean in practice? v. 11. 3. 2014, http://justsecurity.org/8087/letter-editor-manfred-nowak-extraterritorial-application. 41 Dies bejahend Aust (Fn. 23), Stellungnahme Pkt. 35; ablehnend Talmon (Fn. 7), Pkt. 13 ff. 42 Zutreffend Ewer/Thienel, Völker-, unions- und verfassungsrechtliche Aspekte des NSADatenskandals, NJW 2014, 30 (32): ungeklärtes Problem.

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die Garantie fällt, seine Intensität, insbesondere bei staatlichen Überwachungsmaßnahmen, jedoch noch konkretisierungsbedürftig erscheint. Die extraterritoriale Wirkung solcher Maßnahmen eröffnet den Schutz nach geltenden Maßstäben nur ausnahmsweise. Auf diesem Hintergrund ist die folgende Betrachtung der UN-Resolution A/68/167 von besonderem Interesse. III. Analyse der Resolution 68/167 1. Wesentlicher Inhalt Der wesentliche Inhalt der Resolution lässt sich unter vier Gesichtspunkten erfassen: (1) Die Resolution rückt den grundrechtlichen Datenschutz in das Zentrum ihrer Aussagen. Darin unterscheidet sie sich deutlich von der UN-Resolution „Guidelines for the Regulation of Computerized Personal Data Files“ vom 14. 12. 1990,43 die diesen Schutz nur als Recht zur Information über gespeicherte Daten und als Verbot einer Speicherung von Daten mit diskriminierendem Inhalt (auch in Bezug auf persönliche Merkmale des Dateninhabers) thematisiert hatte. Nunmehr werden Grundsatzaussagen formuliert: Hervorgehoben wird die Bedeutung des Menschenrechts auf Privatheit (zu der Datenschutzgehört) für die Verwirklichung des Rechts auf freie Meinungsäußerung und auf unbehinderte Meinungsfreiheit als eine der Grundlagen der demokratischen Gesellschaft, dieses Recht im Anschluss an Art. 12 AEMR und Art. 17 des UN-Paktes bekräftigt sowie nicht zuletzt die für das digitale Zeitalter besonders wichtige Aussage getroffen, dass die gleichen Rechte, die offline bestehen, online geschützt werden müssen, einschließlich des Rechts auf Privatheit. (2) Anlass für die Grundsatzaussagen zur Privatheit ist die Feststellung, dass Regierungen, Unternehmen und Personen infolge der technologischen Entwicklung zunehmend den Datenverkehr überwachen, persönliche Daten abfangen und sammeln. Die Auswirkungen dieser Maßnahmen, rechtswidrig oder willkürlich vorgenommen, können zu weitreichenden Eingriffen in die Rechte auf Privatheit und freie Meinungsäußerung führen und im Widerspruch zu den Prinzipien einer demokratischen Gesellschaft stehen. Die besondere Besorgnis gilt der Ausübung der Menschenrechte, wenn die Auswirkungen extraterritorial eintreten oder die Maßnahmen in massiven Umfang durchgeführt werden. (3) An die Staaten ergeht eine vierfache Aufforderung: - sie sollen das Recht auf Privatheit achten und schützen, namentlich im Kontext digitaler Kommunikation; - Rechtsverletzungen einstellen und menschenrechtskonforme Rahmenbedingungen schaffen, um Verletzungen des Rechts auf Privatheit vorzubeugen; 43

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- die Praxis, Daten der Kommunikation zu überwachen, abzufangen und zu sammeln, überprüfen, namentlich wenn sie im massiven Umfang stattfindet und - unabhängige, effektive Aufsichtsinstanzen einrichten oder beibehalten, die Transparenz, soweit angebracht, und Rechenschaft über die Praxis der Überwachung sicherstellen. (4) Zur Implementierung der Resolution ist vorgesehen, dass die Hohe Kommissarin für Menschenrechte dem Menschenrechtsrat über den Schutz der Privatheit im Kontext innerstaatlicher und extraterritorialer Überwachung und/oder des Abfangens von digitaler Kommunikation, namentlich im massiven Umfang, berichtet, einschließlich der Auffassungen und Empfehlungen zur Prüfung durch die Mitgliedstaaten. Der Bericht mit dem Titel der Resolution liegt inzwischen vor. Darin wird die massenhafte Überwachung als gefährliche Gewohnheit charakterisiert, die das Recht auf Privatheit verletze, unabhängig davon, ob die Inhalte der Kommunikation gesammelt würden. Schon die Existenz eines Massenüberwachungssystems als solche sei ein Eingriff. Für die Rechtfertigung des Eingriffs komme es darauf an, dass das einschlägige Recht der Überwachung zugänglich und hinreichend präzise sei sowie wirksame Rechtsmittel vorhalte. Für Maßnahmen komme es auf ein legitimes Ziel (wie die Terrorismusbekämpfung), die Verhältnismäßigkeit und die zielbezogene Zweckmäßigkeit an. Dabei dürfe auch das legitime Ziel nicht dazu dienen, nur eine „Stecknadel im Heuhaufen“ zu suchen. Eigene Bürger dürften nicht besser geschützt werden als Ausländer. Die Regierungen müssten die Menschenrechte aller Personen schützen, auf deren Daten sie Zugriff hätten. Eine engere Interpretation der Herrschaftsgewalt wäre ein Anreiz für die Staaten, sich gegenseitig mit der Überwachung ihrer Bürger zu betrauen.44 2. Verhältnis zu Art 17 des UN-Pakts über bürgerliche und politische Rechte Nach der Erklärung der Urheber, Art. 17 des UN-Pakts zur Durchsetzung verhelfen zu wollen,45 und nach ihrem Inhalt zielt die Resolution nicht auf das eingeforderte Grundrecht auf Datenschutz und digitale Freiheit im Sinne eines globalen Menschenrechts.46 Sie soll vielmehr dazu beitragen, dass der Schutz der Privatheit auch in Situationen, wie sie durch die Maßnahmen der NSA entstanden sind, geachtet und gewährleistet wird (Art. 2 Abs. 1 des UN-Paktes). Analysiert man die Resolution unter diesem Gesichtspunkt, erscheinen die meisten Aussagen als generelle Bekräftigung oder als (Teil-)Wiederholungen der Formulierungen aus dem UN-Pakt – etwa „willkürliche oder rechtswidrige Eingriffe“ in Individualrechte – oder sie formulieren Anforderungen, die sich bereits aus der Ach44

A/HRC/27/37 v. 30. 6. 2014 §§ 20, 23, 25, 28, 34 und 47 ff. Oben Fn. 10. 46 Oben bei Fn. 4.

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tungs- und Gewährleistungspflicht des Art. 2 UN-Pakt ergeben: Maßnahmen einzustellen, die Rechte verletzen; Bedingungen zu schaffen, so dass Verletzungen vorgebeugt wird; die Praxis der Überwachung mit dem Ziel zu überprüfen, die Privatheit zu wahren. Insoweit kann man nicht einmal davon sprechen, dass die Resolution „defines or elucidates an existing treaty … committment“.47 Eher eine „Fortschreibung und Ergänzung“48 des Art. 17 UN-Pakt enthält die Resolution dagegen bezüglich der Einrichtung und Beibehaltung von Aufsichtsinstanzen, die sich nicht ohne weiteres aus der Garantie ergibt, und soweit sie erklärt, dass die gleichen Rechte der Menschen, die offline gelten, auch online gelten müssen. Insoweit fördert sie ein datenschutzrechtliches Verständnis. Art. 2 UN-Pakt begründet auch positive Schutzpflichten der Staaten, die diese durch angemessene Maßnahmen erfüllen müssen.49 Ob die Resolution eine Schutzmaßnahme in diesem Sinne ist,50 hängt von einer doppelten Voraussetzung ab: Ob Resolutionen überhaupt als Schutzmaßnahmen infrage kommen und wenn ja, ob die Resolution zum Recht auf Privatheit im digitalen Zeitalter nach ihrem Inhalt die Anforderungen an eine Schutzmaßnahme erfüllt. Zweifel bestehen schon hinsichtlich der ersten Voraussetzung. Denn wie kann der Staat durch eine unverbindliche Resolution, selbst wenn er sie initiiert hat, den unter seiner Herrschaftsgewalt stehenden Personen Schutz gewähren? Aber selbst wenn man dies noch bejahen will, ist die infrage stehende Resolution kaum geeignet, Schutzpflichten nach dem Pakt zu erfüllen. Sie geht über das, was dem UN-Pakt bereits zu entnehmen ist, nur wenig hinaus und erreicht vor allem, wie sogleich zu zeigen sein wird, das Ziel nicht, die extraterritoriale nachrichtendienstliche Ausspähung von Daten zum Schutz der Privatsphäre einzuschränken. 3. Rechtspolitische Bewertung Unbeschadet der Tatsache, dass der Resolution als solcher keine Verbindlichkeit zukommt, kann sie doch „Hinweise auf Entwicklungen des Völkerrechts, auf Trends“ geben, „jedenfalls Auffassungen postulieren, die zur rechtlichen Erörterung Anlass geben“.51 Bewertet man das damit verbundene rechtspolitische Potenzial, lässt sich festhalten: (1) Die Resolution schärft zweifellos weltweit das Bewusstsein, wie problematisch der (massive), das jeweilige Hoheitsgebiet der Staaten überschreitende Zugriff auf Kommunikationsdaten ist und dass er zum Schutz der Privatsphäre strikter Einschränkung bedarf. Zu dieser Einschränkung trägt die Resolution selbst aus drei 47

Shaw, International Law, 6. Aufl. (2008), S. 115. Vgl. Talmon, Stellungnahme (Fußn. 7), Pkt. 16. 49 General Comment (Fußn. 35) §§ 6,7; Nowak (Fn. 38) Rn. 19. 50 Bejahend ohne Begründung Talmon wie Fn. 48. 51 Klein/Schmahl, Die Internationalen und die Supranationalen Organisationen in: Vitzthum/Proelß, Völkerrecht, 6. Aufl. (2013), Rn. 139. 48

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Gründen allerdings kaum bei.52 Offensichtlich konnte sie nur mit dieser Maßgabe Erfolg haben und ohne Abstimmung angenommen werden. Erstens wiederholen Aussagen Selbstverständliches: so die, dass die rechtswidrige und willkürliche Überwachung der Kommunikation weitreichende Eingriffe darstellen und das Recht auf Privatheit und die freie Meinungsäußerung verletzen oder negative Auswirkungen auf solche Rechte durch Ausspähung entstehen können, andererseits, dass die öffentliche Sicherheit die Sammlung sensibler Informationen rechtfertigen kann. Ihre generalisierende Form gibt keine genauere Aufklärung darüber, unter welchen Voraussetzungen Aktionen der Ausspähung Pakt-konform oder -widrig sind. Extraterritoriale Auswirkungen der Überwachung werden zweitens nur als potentiell gefährliches Attribut angesprochen und die zentrale negative Erfahrung aus der NSA-Affäre, nämlich dass die Wirkungen der Ausspähung Grundrechtsinhaber im Ausland treffen, zur weiterführenden Verarbeitung dem Bericht der Hohen Kommissarin für Menschenrechte überlassen. Drittens schlagen Abschwächungen der Urversion der Resolution zu Buche, die sich auf die Ausspähung auswirken.53 Das gilt für die schwammige Aufforderung, Kontrollinstanzen für die Überwachung zu installieren, „soweit angebracht“, und den Verzicht darauf, den Bericht der Implementierung auf das Ziel auszurichten, Prinzipien, Standards und „best practices“ zu identifizieren und zu präzisieren, die gerade bei der Überwachung der digitalen Kommunikation Sicherheit schaffen und zugleich die Menschenrechte wahren. Sie finden sich im Bericht der Hohen Kommissarin für Menschenrechte vom 30. 6. 2014.54 Ob die hier gefundenen Maßstäbe rechtsbildend auf die Praxis gerade der Staaten einwirken, die sich der Ausspähung zur Terrorismusabwehr bedienen, wird die Zukunft zeigen. (2) Die Erklärung in der Resolution, dass die Menschen offline und online die gleichen Rechte haben, impliziert die Aufhebung der räumlichen Grenzen der Grundrechtsgeltung. Mit ihrer „virtuellen“ Dimension überschreitet sie geltendes Recht.55 Entsprechendes gilt für die Aussage im Bericht der Hohen Kommissarin für Menschenrechte, dass die Regierungen die Menschenrechte aller Personen schützen müssen, auf deren Daten sie Zugriff haben.56 Als rechtspolitische Forderungen geben sie aber den notwendigen Anstoß für die Bestimmung der für den online Schutz in Betracht kommenden Grundrechte (vor allem das Recht auf Privatheit und die Meinungsfreiheit) sowie die Entwicklung und Ausformung ihres Schutzes angesichts ubiquitärer Nutzung digitaler Kommunikationsmittel. Ob und wann 52

Im. E. auch Talmon (Fn. 7) Pkt. 51. Zum folgenden auch Kleinhans, Vereinte Nationen: Recht auf Privatsphäre im digitalen Zeitalter v. 12. 12. 2013, www. netzpolitik.org/2013/vereinte-nationen-recht-auf-privatsphäre. 54 Oben III. 1. (4). 55 Talmon (Fn.7) Pkt. 53. 56 Oben III. 1. (4). 53

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dies gelingt und daraus ein „Völkerrecht des Netzes“ entsteht, wie im Vorfeld der Resolution so bezeichnet und gefordert,57 steht dahin. IV. Zur Resolution 69/166 Die Resolution 69/166 hat die Grundstruktur und den Inhalt der vorausgegangenen Resolution im Ganzen beibehalten. Neuerungen betreffen die ausdrückliche Einbeziehung von Rechtsprinzipien für die Überwachung aus dem Bericht der Hohen Kommission für Menschenrechte (oben III. 1. (4)). Sie sollen weiter diskutiert und analysiert werden. Zu diesen Prinzipien gehört auch eine 5. an die Staaten gerichtete Aufforderung, wirksamen Rechtsschutz bei Verletzungen der Privatsphäre durch ungesetzliche und willkürliche Überwachungsmaßnahmen vorzusehen. Menschenrechtsrat und Generalversammlung werden dem Recht auf Privatheit im digitalen Zeitalter auch in Zukunft Aufmerksamkeit widmen.

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Dazu oben bei Fn. 6 und 9.

Gleichheitsfragen im Sozialrecht Von Udo Steiner, Regensburg I. Der Allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) als Maßstabsprimus im Steuer- und Sozialrecht Das deutsche Steuerrecht, dem der Jubilar einen Großteil seiner wissenschaftlichen Arbeit gewidmet hat, weist mit dem deutschen Sozialrecht manche Gemeinsamkeiten auf. Beide Rechtsgebiete werden als hochkomplex und vorschriftsreich beschrieben. In der Geschwindigkeit des Wechsels der Rechtslagen ist das Steuerrecht nur knapper Sieger. Mit den Verfassungsfragen beider Rechtsgebiete hat sich das BVerfG von Anfang an beschäftigt. In der Amtlichen Sammlung seiner Rechtsprechung ist wohl kein Band zu finden, der nicht eine oder mehrere Entscheidungen zum Steuer- und Sozialrecht enthält.1 Für das Steuerrecht ist dies wenig erstaunlich, hält doch das Grundgesetz bekanntlich zahlreiche Vorschriften vor, die sich mit dem Steuer- und Finanzwesen kompetenziell und sachlich befassen (Art. 104a ff. GG). Dagegen enthält das Grundgesetz keine besondere Sozialverfassung und insbesondere keinen Katalog von Sozialversprechen, wie viele Verfassungen weltweit, wie auch noch die Weimarer Reichsverfassung und wie vor allem die Verfassungen der deutschen Bundesländer in der Gegenwart. Das Grundgesetz hütet sich zu versprechen, was der Staat, den es verfasst, nicht halten kann. Deshalb sind der soziale Stolz des Grundgesetzes das Sozialstaatsprinzip und nicht soziale Grundrechte.2 In beiden Rechtsgebieten sind es vor allem die Grundrechte, die das BVerfG zum zentralen Maßstab seiner steuer- und sozialverfassungsrechtlichen Rechtsprechung hat werden lassen. Dabei steht die Gleichheitsprüfung am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG ganz im Vordergrund. Es ist nicht zuletzt der Jubilar, der wertvolle Beiträge zur 1

Siehe allgemein Juliane Kokott, Gleichheitssatz und Diskriminierungsverbote in der Rechtsprechung des BVerfG, in: Peter Badura/Horst Dreier, FS 50 Jahre BVerfG, Bd. 2, 2001, S. 217. – In den Registerbänden finden sich exklusiv als eigene Stichworte: „Gleichheit im Sozialrecht“ und „Gleichheit im Steuerrecht“. 2 Siehe dazu u. a. Hans Michael Heinig, Grundgesetzliche Vorgaben für das Sozialrecht und ihre verfassungsrechtliche Reflexion, in: Peter Masuch u. a., Grundlagen und Herausforderungen des Sozialstaats, Denkschrift 60 Jahre BSG, Bd. 1, 2014, S. 333; Udo Steiner, Grundgesetz und deutscher Sozialstaat, in: AnwBl. 2009, S. 370. Zum Thema der sozialen Grundrechte siehe aus jüngerer Zeit Karl Peter Sommermann, Soziale Rechte in Stufen – Überwindung einer alten Debatte?, in: Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und soziale Rechte in der EU, 2014, S. 107 mit zahlreichen Nachweisen.

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Operationalisierung dieses verfassungsrechtlichen Maßstabs geleistet hat.3 Die Bedeutung des Grundpostulats der Gleichmäßigkeit der Besteuerung4 wird schnell sichtbar, wenn man in Rechtsprechung und Literatur blickt. Macht man für das Sozialrecht den Versuch einer Statistik der Rechtsprechung des BVerfG, so kann man mit einer gewissen Genauigkeit feststellen, dass in 65 % aller sozialrechtlichen Senatsentscheidungen der Allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG Maßstab oder sogar entscheidungserheblicher Maßstab war. Von den Senatsentscheidungen, die der Verfasser in seiner Karlsruher Zeit vorbereitet hat, gilt dies für fast zwei Drittel. Der Allgemeine Gleichheitssatz entfaltet seine maßgebliche Wirkung über das gesamte Sozialrecht, die Rechtsschutzgleichheit im sozialgerichtlichen Verfahren eingeschlossen.5 Er lässt sich als Maßstabsprimus des Sozialverfassungsrechts bezeichnen. Dies hat seinen Grund darin, dass der sozial aktive Gesetzgeber entschlossen differenziert, will er sachgerecht entscheiden, und dies fast mit jedem seiner Rechtssätze nach Person, Sachverhalt und Zeit. Ralf Dahrendorf hat dies mit der feinen Formulierung umschrieben, vor dem Gesetz seien alle gleich, danach nicht mehr. II. Gerechtigkeit durch Gleichheit 1. Es ist der Gleichbehandlungsgrundsatz, auf den sich die deutsche Gesellschaft wie kaum auf einen anderen Wert einigen kann. Das BVerfG entscheidet hier in einer sehr legitimen und gleichwohl eher defensiven Rolle.6 Es findet das Gesetz und die Entscheidungen des Gesetzgebers vor und beurteilt die von vom Gesetzgeber vorgenommene und mit der Verfassungsklage angegriffene Ungleichbehandlung (oder eben auch, wenn auch seltener, Gleichbehandlung) anhand allgemeiner Kriterien, die es zur Konkretisierung des Gleichheitsgrundsatzes entwickelt hat. Die hierzu ergangenen verfassungsgerichtlichen Entscheidungen gehen überwiegend nicht zu Lasten der sozialen Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers. Man kann deshalb mit guten Gründen Art. 3 Abs. 1 GG – wie schon angesprochen – als defensives Grundrecht bezeichnen. Denn das Hauptgleichheitsgrundrecht ist nicht auf die Herstellung von materieller Gleichheit durch den Gesetzgeber gerichtet. Es ist undynamisch. 3

Siehe aus jüngerer Zeit Rudolf Wendt, in: Rudolf Wendt/Roland Rixecker, Verfassung des Saarlandes, 2009, Erl. zu Art. 12; ders., Die Weiterentwicklung der „Neuen Formel“ bei der Gleichheitsprüfung in der Rechtsprechung des BVerfG, in: FS Klaus Stern, 2012, S. 1553. Zu den sog. speziellen Gleichheitsrechten siehe Rudolf Wendt, in: Detlev Merten/Hans-Jürgen Papier, HdbGR, Bd. V, Einzelgrundrechte II, 2013, § 127. 4 Dazu statt vieler Rolf Eckhoff, Gleichmäßigkeit der Besteuerung, in: Hanno Kube u. a., Leitgedanken des Rechts, Bd. II, 2013, § 148. 5 Siehe dazu Hans-Jürgen Papier, in: Bernd Baron v. Maydell/Franz Ruland/Ulrich Becker, Sozialrechtshandbuch (SRH), 5. Aufl. 2013, § 3 V, S. 145 ff. 6 Speziell zur Diskussion über die Leistungsfähigkeit des Art. 3 Abs. 1 GG für die Herstellung sozialer Gleichheit siehe z. B. Brun-Otto Bryde, Das Verfassungsprinzip der Gleichheit, 2012; Angelika Nußberger, Soziale Gleichheit – Voraussetzung oder Aufgabe des Staates?, in: DVBl. 2008, S. 1081 sowie die Beiträge von Ulrike Davy und Peter Axer zu diesem Thema in: VVDStRL, Bd. 68, 2009, S. 122 ff.

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Eine Verpflichtung des Gesetzgebers zur Herstellung möglichst gleicher Lebens- und Entwicklungschancen aller Bürger enthält es nicht.7 Dies wird als politische Aufgabe gesehen, als eine wichtige freilich, weil ihre Erledigung unser politisches System zentral legitimiert. 2. Die vom BVerfG zu Art. 3 Abs. 1 GG entwickelten Formeln8 belassen – wie noch anzusprechen sein wird – dem Gericht einen nicht unerheblichen Bewertungsspielraum, insbesondere bei der Prüfung der Frage, ob eine festgestellte Ungleichbehandlung gerechtfertigt ist. Im Grundsatz ist aber die Rechtsprechung des BVerfG vom Respekt vor dem legislativen Ermessen geprägt, und dies drückt sich prozessual in der ständigen Praxis des Gerichts aus, die in Frage stehenden als verfassungswidrig beurteilten gesetzlichen Regelungen „nur“ mit dem Grundgesetz für unvereinbar zu erklären und gegebenenfalls eine zeitlich begrenzte Fortgeltung anzuordnen.9 Es ist dann Sache des Gesetzgebers, die verfassungsmäßige Gleichheit herzustellen. Die Wege dazu können verschieden sein und ihre Nutzung liegt in seiner Gestaltungsfreiheit. In der defensiven Natur des Art. 3 Abs. 1 GG und damit konsequenterweise auch in der defensiven Natur der Entscheidungen des BVerfG zu dieser Verfassungsbestimmung ist es begründet, dass diese dann auch grundsätzlich mildere Diskussionen auslösen als diejenigen, die am Maßstab des Eigentumsrechts des Art. 14 GG oder der familienrechtlichen Vorgaben des Art. 6 GG ergehen und schnell in den Sog der Diskussion um die richtigen ordnungspolitischen Leitbilder geraten. 3. Verbündet sich allerdings der Allgemeine Gleichheitssatz mit einer besonderen Verfassungsgewährleistung, so gewinnt die Rechtsprechung des BVerfG schnell an Dynamik. In diesem Zusammenhang wird man die Aussagen im Urteil des BVerfG vom 3. April 200110 zur Gestaltung des Beitragsrechts in der sozialen Pflegeversicherung zu nennen haben. Das Gericht hat bekanntlich hier entschieden, es sei mit Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren, dass Mitglieder der sozialen Pflegeversicherung, die Kinder betreuen und erziehen und damit neben dem Geldbeitrag einen generativen Beitrag zur Funktionsfähigkeit eines umlagefinanzierten Sozialversicherungssystems leisten, mit einem gleich hohen Pflegeversicherungsbeitrag wie Mitglieder ohne Kinder belastet werden. Das Urteil hat besondere Beachtung dadurch erhalten, dass der Gesetzgeber aufgefordert wurde, die Bedeutung dieses Urteils auch für andere Zweige der Sozialversicherung zu prüfen. Mit der genannten Entscheidung trägt das BVerfG der sozialversicherungsrechtlichen Relevanz von Kindererziehung und Kinderbetreuung sehr viel direkter als in früheren Entscheidungen Rechnung und hält den Gesetzgeber an, überkommene Strukturen der Beitrags7 Siehe aber auch zur „Gerechtigkeitsorientierung“ des BVerfG Uwe Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre der Bundesrepublik Deutschland, 2013, S. 44 ff. 8 Dazu Wendt (Verfassung), Art. 12 Rn. 21. 9 Siehe dazu aus der jüngeren Rechtsprechung BVerfG, Beschl. v. 19. 6. 2012, NVwZ 2012, S. 1305, 1309 und mit umfangreichen Nachweisen Lechner/Zuck, BVerfGG, Kommentar, 6. Aufl. 2011, § 78 Rn. 1 ff. 10 BVerfGE 103, 242. Zum Ganzen siehe Udo Steiner, in: Wolfgang Durner u. a., FS HansJürgen Papier, 2013, S. 389, 395 mit Nachweisen zum Meinungsstand.

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finanzierung zu überdenken und gegebenenfalls zu korrigieren. Das Gericht hat den bekannten Zwei-Generationen-Vertrag – Erwerbstätige/Rentner – auf drei Generationen erweitert und die Kinder der heutigen Beitragszahler als künftige Beitragszahler einbezogen.11 III. Die Verfassungskontrolle des gleichheitsverpflichteten Gesetzgebers 1. Die wichtigste verfassungsrechtliche Botschaft des Grundgesetzes im Zusammenhang mit dem allgemeinen Gleichheitssatz war es, was uns heute selbstverständlich erscheint, dass dieser Gleichheitssatz auch den Gesetzgeber bindet (Art. 1 Abs. 3 GG).12 Die Verfassung verpflichtet also zur Gesetzesgleichheit. Einen solchen verfassungsrechtlichen Schritt kann man naturgemäß erfolgreich nur gehen, wenn zugleich die verfassungsgerichtliche Kontrolle gewährleistet ist. Im Parlamentarischen Rat war die Garantie der Rechtsetzungsgleichheit nicht außer Streit. Es ging um die Sorge, der demokratische Gesetzgeber werde bei einer solchen Prüfung missachtet, und um den Verdacht, die Gleichheitsbindung des Gesetzgebers entspringe als Lehre – so Richard Thoma – der „Überschätzung der akademisch gebildeten Berufsjuristen“.13 2. Diese Einschätzung hat sich insgesamt nicht bestätigt. Das BVerfG erörtert und entscheidet die Gleichheitsfragen im Rahmen eines Verfahrens, in dem alle Beteiligten ausführlich zu Wort kommen und in dem insbesondere auch die mit sozialgerichtlichen Verfahren befassten Obersten Bundesgerichte und nicht zuletzt das Bundessozialgericht um Stellungnahmen gebeten werden. Es ist nicht beratungsresistent. Oft werden auch Gleichheitsverstöße des Gesetzgebers durch die Fachgerichte im Verfahren der Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG beanstandet.14 Dies gilt im Steuerrecht gleichermaßen wie im Sozialrecht. Das Gericht trifft demnach seine Gleichheitsentscheidungen nicht in einem Raum der Selbstisolierung. Die sich unter der Geltung des Grundgesetzes entwickelte Dogmatik zu Art. 3 Abs. 1 GG ist freilich zu einer intellektuellen Herausforderung geworden, überspitzt gesagt sogar geistig manchmal etwas übersäuert, wenn dieser sportaffine Sprachgebrauch erlaubt ist. Die Darstellung dieser Dogmatik durch Michael Sachs umfasst 151 Druckseiten mit 943 Fußnoten.15

11 Die Frage einer Übertragung dieses Gedankens auf die gesetzliche Rentenversicherung soll in einem Musterverfahren unter der Federführung von Thorsten Kingreen geklärt werden. 12 Siehe Lerke Osterloh, in: Hanno Kube u. a., Leitgedanken des Rechts, FS Paul Kirchhof, Bd. I, 2013, § 20 Rn. 4. 13 So Richard Thoma, zit. nach Michael Sachs, in: Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/2, 2011, S. 1468; siehe zur damaligen Diskussion auch Richard Thoma, Ungleichheit und Gleichheit im Bonner Grundgesetz, in: DVBl. 1951, S. 457. 14 Siehe z. B. BVerfG, Beschl. v. 2. 5. 2012, NZS 2012, S. 781. 15 Siehe Michael Sachs, in: Klaus Stern (Fn. 13).

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3. Es ist nachvollziehbar, dass bei einem so anspruchsgeprägten Rechtsgebiet wie dem des Sozialrechts Unterschiede zwischen Personen und Personengruppen ganz im Vordergrund stehen und nicht so sehr Sachverhalte. Deshalb kann eine Rechtsprechung die Betroffenen nicht zufriedenstellen, wenn ihr Ausgangspunkt ist, dass man den Gesetzgeber und sein Gesetz nur daraufhin verfassungsrechtlich prüft, ob er willkürlich, also aufgrund sachfremder Gründe, entschieden hat. Der Sozialgesetzgeber in Deutschland muss ein Meister der Tatbestands-Differenzierung sein, wenn er – was behauptet wird – die Rechtsordnung durch 850 Leistungsansprüche bereichert. Das Rentenversicherungsrecht ist übrigens ein interessantes Beispiel, wie soziale Gleichheit im sozialistischen System der Deutschen Demokratischen Republik funktionierte.16 Die allgemeine Sozialpflichtversicherung und die freiwillige Zusatzrentenversicherung wurden komplettiert durch über 60 Zusatzversorgungssysteme, in die jeweils nur bestimmte Personengruppen nach jeweiligem politischen Wohlwollen einbezogen waren und deren Leistungen über das der allgemeinen Rentenversicherung deutlich hinausgingen. Die Ungleichheit im Beitrag und die Ungleichheit in den Leistungen wurde bekanntlich durch die Rentenüberleitung Ost beseitigt oder modifiziert, und es war eine Aufgabe des BVerfG zu prüfen, ob der Einigungsvertrag auf dem Weg zu mehr Gleichheit mit dem Allgemeinen Gleichheitssatz vereinbar war. 4. Deshalb dominiert in der sozialverfassungsrechtlichen Rechtsprechung vor allem des Ersten Senats auch die sog. neue Gleichheitsformel.17 Sie liest sich bekanntlich so: Art. 3 Abs. 1 GG gebietet, die Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Damit ist dem Gesetzgeber allerdings nicht jede Differenzierung verwehrt. Er verletzt das Grundrecht vielmehr nur, wenn er eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten. Entsprechendes gilt für eine Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem. Geht es um die Ungleichbehandlung oder Gleichbehandlung von Personengruppen, unterliegt die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers regelmäßig einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse und wird nicht durch das Willkürverbot begrenzt.18 Mit dieser fein gesponnenen Dogmatik will sich das BVerfG vom Vorwurf entlasten, seine Entscheidungen seien ergebnisorientiert. Am Gleichheitssatz zeigt sich beispielhaft, dass die Kontrolle der Legislative durch das Verfassungsgericht vor allem eines ist: eine Rationalitätskontrolle des Gesetzgebers. Es gehört zu dessen po16 Siehe dazu Hans Meyer, Die Wiedervereinigung und ihre Folgen vor dem Forum des BVerfG, in: Peter Badura/Horst Dreier, FS 50 Jahre BVerfG, Bd. 1, 2001, S. 83; Udo Steiner, Verfassungsrechtliche Fragen der Überleitung des Alterssicherungssystems der DDR in die gesamtdeutsche gesetzliche Rentenversicherung, 2007, S. 315; ders., Verfassungsfragen der deutschen Wiedervereinigung im Sozialrecht, NZS 2010, S.1. 17 Siehe dazu Wendt (Verfassung), Art. 12 Rn. 6. 18 BVerfGE 95, 143, 155. Siehe v. a. Lerke Osterloh, Der Gleichheitssatz zwischen Willkürverbot und Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, in: FS Michael Kloepfer, 2013, S. 139.

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litischen Obliegenheiten, die Gründe zu nennen oder nennen zu lassen, gegebenenfalls auch nachzutragen, die seine Differenzierung rechtfertigen. Dies ist ständige Praxis im verfassungsgerichtlichen Verfahren. Ob der Gesetzgeber darüber hinaus eine verfassungsrechtlich originäre Begründungspflicht für die von ihm getroffenen Regelungen hat, war im Rahmen des Gleichheitssatzes bisher nicht zu entscheiden.19 Bekanntlich hat die Rechtsprechung des Ersten Senats zum sog. physischen und sozio-kulturellen Existenzminimum diese Frage aufgeworfen.20 5. Die zitierte Grundformel wird bekanntlich je nach Sachbereich und Gegenstand noch verfeinert. So soll es engere Grenzen für den Gesetzgeber geben, wenn sich die Ungleichbehandlung auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten nachteilig auswirken kann.21 Andererseits gehört zu dieser Dogmatik auch die Feststellung, es gebe Regelungsgegenstände, bei deren Gestaltung dem Gesetzgeber ein weiter bemessener Spielraum zusteht. Anwendungsfälle sind Zeiten des sozialen Umbruchs, etwa im Kontext des Zusammenbruchs des Deutschen Reiches oder der Herstellung der Deutschen Einheit. Das Recht der Gesetzlichen Rentenversicherung kann aus solchen Sonderspielräumen durchaus Nutzen ziehen, wenn es beispielsweise um die Einbeziehung von schutzbedürftigen Personen in den Kreis der Pflichtversicherten geht22, aber auch um die Bildung von Hindernissen beim Zugang zur gesetzlichen Versicherung. Das BVerfG hat hier dem Gesetzgeber ein weites sozialpolitisches Gestaltungsermessen zugestanden. IV. Zu den Ursachen der Unfallstatistik des Gesetzgebers Sieht man in die Rechtsprechung des BVerfG zu Art. 3 Abs. 1 GG hinein, so muss man zur Kenntnis nehmen, dass es eher nicht um Fragen geht, die sich schnell als allgemeines Gerechtigkeitsproblem erschließen. Gleichheitsfragen in der Gesetzgebung sind Fragen an die juristische Profession, weniger an das laienhafte Rechtsgefühl. Der Anlauf zur eigentlichen Gleichheitsprüfung ist regelmäßig lang. Die Feststellung der maßgeblichen und verfassungsrechtlich relevanten Ungleichheit setzt eine Darstellung der Rechtslage voraus, die oft komplex und unübersichtlich ist und ohne historische Sicht unvollständig.23 Diese Erfahrung macht es notwendig, dass der Berichterstatter für das Sozialrecht den Senat zur Vorbereitung der Beratung einer Gleichheitsfrage besonders umfangreich unterrichten muss. Sieht man die Unfallstatistik des Gesetzgebers bei Kollision mit dem Allgemeinen Gleichheitssatz 19 Siehe dazu aus jüngerer Zeit Winfried Kluth, in: Winfried Kluth/Günter Krings, Gesetzgebung, 2014, § 14 und die Beiträge von Udo Steiner, Christian Waldhoff und Peter Axer in: Gesundheitsrecht (GesR) 2013, S. 193, 197, 211. 20 BVerfGE 125, 175. 21 BVerfGE 106, 166, 176. 22 Zur aktuellen Diskussion Anne Lenze, Verfassungsrechtliche Aspekte der Altersvorsorgepflicht für Selbständige, in: Sozialer Fortschritt 2012, S. 143. 23 Siehe z. B. zu einer solchen komplexen Gleichheitsfrage BVerfGE 113, 167, 236 (Risikostrukturausgleich).

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durch, also Fälle, in denen das Gesetz an Art. 3 Abs. 1 GG gescheitert ist, so lassen sich eher wenige allgemeine Erfahrungen herausarbeiten. Kommt es zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer gesetzlichen Bestimmung wegen Verletzung des Gleichheitssatzes, so konnte eben der Gesetzgeber mit den seiner Regelung zugrunde liegenden Erwägungen nicht überzeugen; er konnte die angegriffene Ungleichbehandlung nicht rechtfertigen, weil es für die Differenzierung an einem hinreichenden Grund fehlt.24 Gesetze, die eine zunächst verfassungsgemäße Ungleichbehandlung von Personengruppen vornehmen, können an einem „Alterungsprozess“ scheitern, weil wegen veränderter Verhältnisse diese Ungleichbehandlung nicht mehr gerechtfertigt werden kann.25 Es gibt naturgemäß auch Fälle, in denen der Gesetzgeber aus fiskalischen Gründen Überzeugungs- und sogar Wiederholungstäter sein will. Dies gilt beispielsweise für die Nichtberücksichtigung sozialversicherungsrechtlicher Beiträge bei einmalig gezahlten Arbeitsentgelten, wie Weihnachts- oder Urlaubsentgelt, bei der Berechnung von Lohnersatzleistungen.26 Die Gleichheitsverstöße bestimmter Regelungen der sog. Rentenüberleitung Ost waren wohl dem Zeitdruck geschuldet, unter dem die Herstellung des Einigungsvertrages stand. Es ist ganz allgemein eine legitime Aufgabe des BVerfG, Verstöße solcher Art gegen Art. 3 Abs. 1 GG zu korrigieren, weil es sich die Zeit, die der Gesetzgeber oft nicht hat, nehmen kann, um Regelungen unter dem Gesichtspunkt erlaubter oder unerlaubter Unterscheidung gründlich zu überdenken. Es erarbeitet sich den Überblick, der im Gesetzgebungsverfahren schon einmal verloren gehen kann. Seine Tätigkeit vollzieht sich – wie man formulieren könnte – in einer „geschützten Werkstatt“. Dies gilt nicht zuletzt bei Regelungen, die das Ergebnis einer Einigung im Vermittlungsausschuss sind und damit in einem Gremium, das man als natürlichen Feind der Gesetzesqualität bezeichnen kann. V. Zur sog. Gleichheit in der Zeit 1. Das BVerfG hat der Versuchung widerstanden, mit Hilfe des Art. 3 Abs. 1 GG Gleichheit in der Zeit herzustellen. Nicht nur der Rentenversicherung stellt sich die Frage der Lasten- und Renditengleichheit zwischen den Generationen. Die Problematik ist auch studierenden BAföG-Empfängern bekannt: Einige Generationen haben die BAföG-Leistung als „verlorenen Zuschuss“ erhalten, andere als rückzahlbares Darlehen und andere wiederum als Kombination von Zuschuss und Darlehen.27 Der Gleichheitssatz sorgt grundsätzlich nur für Gleichheit bei Anwendung ein- und desselben Gesetzes. Günter Dürig hat mit einer oft zitierten Formel von der „Zeit als offener Flanke der Gleichheit“ gesprochen.28 Fortschritt wäre auf vielen Gebieten er24

Siehe z. B. BVerfGE 98, 1; 104, 126; 116, 229; vgl. auch BVerfGE 102, 127 (Fehlen sachlicher Gründe); 103, 225 (unverhältnismäßig belastende Regelung). 25 BVerfGE 102, 68. 26 BVerfGE 102, 127. 27 BVerfGE 96, 330. 28 Günter Dürig, in: Maunz/Dürig/Herzog, GG, Kommentar, Art. 3 Rn. 194 (Bearbeitung 1973).

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schwert, würde man den Gesetzgeber von Verfassungs wegen zwingen, die Rechtsvorteile aus Reformen stets auch vorausgegangenen Generationen zugutekommen zu lassen. 2. Bestätigt hat diese Linie das BVerfG vor allem durch die grundsätzliche Akzeptanz gesetzlicher Stichtagsregelungen. Sie kommt dem Gestaltungsbedarf des Gesetzgebers ähnlich entgegen wie die verfassungsgerichtliche Hinnahme pauschaler und typisierender und damit tendenziell undifferenzierter Regelungen im Sozialrecht.29 Stichtagsregelungen markieren harte, von den Betroffenen oft nicht akzeptierte Generationenentscheidungen. Der Laie, und nicht nur er, hat Probleme mit der Vorstellung, der Sachverhalt sei der gleiche geblieben, das Recht aber anders.30 Ähnlich schwer zugänglich für das Gerechtigkeitsempfinden ist bekanntlich der Satz, es gebe keinen Anspruch auf Gleichheit im Unrecht. Prominent in diesem Zusammenhang: Vor 1921 geborene Mütter – im allgemeinen Sprachgebrauch „Trümmerfrauen“ – erhielten keine Anrechnung von Kindererziehungszeiten in der Gesetzlichen Rentenversicherung, vielmehr nur einen Geldbetrag für die Kindererziehungsleistung; Mütter von Kindern, die vor dem 1. Januar 1992 geboren wurden, wurden dann pro Kind ein Jahr in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert, für Kinder ab dem 1. Januar 1992 erhielt die Mutter dagegen pro Kind schon drei Jahre Kindererziehungszeiten angerechnet. Diese vom Gesetzgeber inzwischen teilweise beseitigten Unterschiede in den Rechtslagen hat das BVerfG31 hingenommen. Es gilt: Der Sozialstaat darf seinen Bürgern Härten zumuten; nur sozialrechtliche Grausamkeiten sind ihm verboten. Deshalb war auch einem Ehepaar nicht mit verfassungsgerichtlichen Mitteln zu helfen, das sich mit einer Verfassungsbeschwerde gegen die Stichtagsregelung vom 1. Januar 2007 im Zusammenhang mit dem Beginn des Elterngeldes wendete. Man hatte – so der Vortrag der Beschwerdeführer – das Kind für den Januar 2007 geplant, das Kind sei aber planwidrig schon im Dezember gekommen. Kind ist eben sozialrechtlich nicht immer gleich Kind.32 Noch weiter mit Hilfe des Art. 3 Abs. 1 GG wollten Frauen greifen, die in der Deutschen Demokratischen Republik geschieden wurden und nach dem dort geltenden Recht grundsätzlich keinen Anspruch auf nachehelichen Unterhalt hatten. Sie wollten mit Hilfe des Verfassungsgerichts rückwirkend so gestellt werden, als seien sie in der alten Bundesrepublik geschieden worden. Das BVerfG musste diesem Anliegen entgegenhalten, dass der gesamtdeutsche Gesetzgeber von Verfassungs wegen nicht verpflichtet war, die Einwohner der Deutschen Demokratischen Republik familien-, sozial- und beamtenrechtlich so zu stellen als hätten sie ihr Leben in der alten Bundesrepublik verbracht. Dies betraf auch die Hochschullehrer im Dienst 29 Siehe dazu Hermann Butzer/Anna-Lena Hollo, Pauschalierung im Sozialrecht – eine verfassungsrechtliche Analyse, in: Peter Heine (Hrsg.), 60 Jahre Sozialgerichtsbarkeit Niedersachsen und Bremen, 2014, S. 213 ff.; den Tagungsbericht von Nicola Waldhorst-Kahnau, Der Sozialstaat zwischen Individualisierung und Pauschalierung, in: DVBl. 2014, S. 162. 30 Dürig (Grundgesetz), Art. 3 Rn. 201. 31 Siehe BVerfGE 87, 1. 32 BVerfG, Beschl. v. 14. 6. 2007, 1 BvR 1075/07.

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der Deutschen Demokratischen Republik, denen man im Einigungsvertrag Renten zugestand, nicht aber beamtenrechtliche Versorgungsansprüche für ihre Tätigkeit vor 1990.33 VI. Schlussbemerkung Die intensive verfassungsgerichtliche Auseinandersetzung mit Gleichheitsfragen korrespondiert ohne Zweifel – wie schon hervorgehoben – mit einem von den Bürgern hoch bewerteten Gerechtigkeitspostulat. Dies gilt im Steuer- und im Sozialrecht gleichermaßen.34 Anknüpfend an die schon zitierte Formulierung von Ralf Dahrendorf könnte man feststellen: Vor dem Gesetz sind alle gleich, danach nicht mehr, und – wohlwollend betrachtet – nach den Entscheidungen des BVerfG dann wieder. Überschätzen darf man allerdings den Gerechtigkeitsgehalt des Allgemeinen Gleichheitssatzes als Maßstab einer verfassungsgemäßen Gesetzgebung nicht. Im Vordergrund der verfassungsgerichtlichen Gleichheitsprüfung stehen Rationalität und Begründung (im Sinne der Begründbarkeit) der getroffenen gesetzgeberischen Entscheidung für Gleichbehandlung oder Ungleichbehandlung.35 Vom defensiven Charakter des Gleichheitssatzes war schon die Rede. Lerke Osterloh36 spricht von der „Neutralität“ des Gleichheitssatzes und stellt damit klar, dass die inhaltliche Weichenstellung im demokratischen Rechtsstaat dem Gesetzgeber überlassen bleibe. In dieser Klarstellung treffen sich Steuerrecht und Sozialrecht.

33 Siehe dazu die Nachweise in Fn. 16 und BVerfG, Beschl. v. 15. 1. 2004, NZV 2004, S. 307. 34 Dazu gehört auch das primär das Steuerrecht betreffende Phänomen eines sog. strukturellen Vollzugsdefizits. Dazu aus sozialrechtlicher Sicht Anne Körner, Das strukturelle Vollzugsdefizit in der gesetzlichen Rentenversicherung als Verfassungsproblem, 2011. 35 So Lerke Osterloh (Leitgedanken des Rechts), § 20 Rn. 9 f. 36 Lerke Osterloh (Leitgedanken des Rechts), § 20 Rn. 10.

Schützen deutsche Grundrechte vor deutschen unionsrechtswidrigen Rechtsakten? Von Ulrich Stelkens, Speyer* In seinem Urteil zur Antiterrordatei vom 24. April 2014 hat sich das BVerfG auch zum Verhältnis zwischen europäischem und deutschem Grundrechtsschutz geäußert.1 Hiernach sind deutsche Rechtsakte schlechthin nicht am Maßstab der deutschen Grundrechte zu messen, soweit diese Rechtsakte nach Art. 51 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta oder GRCh) in den Anwendungsbereich der Charta fallen. Dies wird zwar nicht deutlich gesagt, muss aber letztlich als ungeschriebene Prämisse der Ausführungen des BVerfG gelten, die mit folgenden Worten eingeleitet werden: „Die Verfassungsbeschwerde gibt keinen Anlass für ein Vorabentscheidungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof gemäß Art. 267 AEUV zur Klärung der Reichweite des unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes in Bezug auf einen Datenaustausch von verschiedenen Sicherheitsbehörden im Rahmen einer Verbunddatei, wie ihn das Antiterrordateigesetz regelt. Dies gilt auch im Hinblick auf das Grundrecht auf Schutz personenbezogener Daten gemäß Art. 8 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Grundrechtecharta – EuGRCh). Denn die europäischen Grundrechte der Grundrechtecharta sind auf den zu entscheidenden Fall nicht anwendbar. Die angegriffenen Vorschriften sind schon deshalb an den Grundrechten des Grundgesetzes zu messen, weil sie nicht durch Unionsrecht determiniert sind […]. Demzufolge liegt auch kein Fall der Durchführung des Rechts der Europäischen Union vor, die allein die Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechtecharta nach sich ziehen könnte (Art. 51 Abs. 1 Satz 1 EuGRCh).“2

Damit nimmt das BVerfG (implizit) ein Alternativverhältnis zwischen deutschen und europäischen Grundrechtssphären an, das dazu führt, dass ein Rechtsakt nur entweder am Maßstab der nationalen Grundrechte oder am Maßstab der Grundrechte

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Der Verfasser ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insbesondere deutsches und europäisches Verwaltungsrecht an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer. Der Verfasser kennt und schätzt Rudolf Wendt seit seiner (des Verfassers) Studien- und Assistentenzeit an der Universität des Saarlandes, wobei nicht zuletzt hervorzuheben ist, dass Rudolf Wendt sich als Zweitgutachter sowohl durch die Dissertationsschrift als auch durch die Habilitationsschrift des Verfassers durchgearbeitet und ihn damit und auch sonst in vielfältiger Weise in seinem Bestreben, eine wissenschaftliche Laufbahn einzuschlagen, unterstützt hat. 1 BVerfG, 1 BvR 1215/07 v. 24. 4. 2013, Abs. 88 ff., BVerfGE 133, 277 (313 ff.). 2 BVerfG, 1 BvR 1215/07 v. 24. 4. 2013, Abs. 88, BVerfGE 133, 277 (313 f.).

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der Charta gemessen werden kann (sog. „Trennungsthese“).3 Diese Sichtweise dient dem BVerfG als Argument, die Bindung der Mitgliedstaaten an die Charta sehr restriktiv, d. h. den „Durchführungsbegriff“ des Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh sehr eng zu verstehen (und dieses enge Verständnis dem EuGH mit deutlichen Worten nahe zu legen4). Die Mitgliedstaaten sollen hiernach wohl nur dann an die Grundrechte der Charta gebunden sein, wenn sie solches Unionsrecht „durchführen“, das ihnen keinen Umsetzungsspielraum lässt, sondern das mitgliedstaatliche Handeln vollständig determiniert. Nur in diesem Fall – so muss die Argumentation verstanden werden – könne die Nichtbindung der deutschen Staatsgewalt an deutsche Grundrechte (und die hiermit verbundene Freistellung der deutschen Staatsgewalt von einer Kontrolle durch das BVerfG) gerechtfertigt werden. Das BVerfG scheint damit offenbar zu befürchten, ein weites Verständnis des „Durchführungsbegriffs“ des Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh könne zu einer weitgehenden Verdrängung der deutschen Grundrechte durch die Grundrechte der Charta führen. Ebenso scheint das BVerfG zu befürchten, die Grundrechtskontrolle durch das BVerfG könne durch eine Grundrechtskontrolle durch den EuGH zurückgedrängt werden. Beide Befürchtungen scheinen allerdings nur dann begründet, soweit die deutschen Grundrechte schlechthin unanwendbar wären und soweit die deutsche Staatsgewalt nach Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh an die Grundrechte der Charta gebunden ist. Im vorliegenden Beitrag soll es nun nicht darum gehen, erneut die Frage zu stellen, wann und in welchem Umfang die Mitgliedstaaten durch die Charta gebunden werden und ob der EuGH in seinem Urteil „Åkerberg Fransson“ vom 26. Februar 2013,5 das die (sehr schnelle) Reaktion des BVerfG in der Antiterrordatei-Entscheidung provoziert hat, den Begriff der „Durchführung“ in Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh zu Recht so ausgelegt hat, dass eine mitgliedstaatliche Maßnahme schon dann Unionsrecht „durchführt“, wenn sie in den (wie auch immer zu definierenden) Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt.6 Hierzu dürfte mittlerweile fast alles in jeden-

3

So wird die ungeschriebene Prämisse des BVerfG auch verstanden von J. Griebel, Europäische Grundrechte als Prüfungsmaßstab der Verfassungsbeschwerde, DVBl. 2014, 204 (206); T. Kingreen, Die Grundrechte des Grundgesetzes im europäischen Grundrechtsföderalismus, JZ 2013, 801 (802 f.); C. Ohler, Grundrechtliche Bindungen der Mitgliedstaaten nach Art. 51 GrCh, NVwZ 2013, 1433 (1436 f.); R. Streinz, Streit um den Grundrechtsschutz ?, in: D. Heid/R. Stotz/A. Verny (Hrsg.), Festschrift für Manfred A. Dauses, 2014, S. 429 (437 f.); D. Thym, Die Reichweite der EU-Grundrechte-Charta – Zu viel Grundrechtsschutz?, NVwZ 2013, 889 (892). 4 BVerfG, 1 BvR 1215/07 v. 24. 4. 2013, Abs. 91, BVerfGE 133, 277 (316). 5 EuGH, Rs. C-617/10 v. 26. 2. 2013, Abs. 17 ff. – Åkerberg Fransson. 6 So jetzt letztlich unmissverständlich die Folgeentscheidungen zu „Åkerberg Fransson“: EuGH, Rs. C-206/13 v. 6. 3. 2014, Abs. 20 ff. – Cruciano Siragusa; EuGH, Rs. C-314/12 v. 27. 3. 2014, Abs. 42 ff. – UPC Telekabel Wien GmbH; EuGH Rs. C-265/13 v. 27. 3. 2014, Abs. 27 ff. – Torralbo Marcos; EuGH, Rs. C-390/12 v. 30. 4. 2014, Abs. 31 ff. – Robert Pfleger; EuGH, Rs. C-329/13 v. 8. 5. 2014, Abs. 30 – Ferdinand Stefan; EuGH, Rs. C-198/13 v. 10. 7. 2014, Abs. 32 ff. – Julian Hernández u. a.

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falls vielen Amtssprachen der Union gesagt worden sein.7 Zudem hat der EuGH in der Entscheidung „Julian Hernández“ vom 10. Juli 2014 auch deutlich gemacht, dass allein der Umstand, dass eine nationale Maßnahme in einen Bereich fällt, in dem die Union über Zuständigkeiten verfügt, diese Maßnahme nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts bringen und somit zur Anwendbarkeit der Charta führen kann.8 Dies dürfte zumindest die meisten Befürchtungen einer zu weitgehenden „Unitarisierungswirkung“ der Charta ausräumen.9 Gegenstand des Beitrags sind vielmehr die Konsequenzen der in der Antiterrordatei-Entscheidung deutlich gewordenen „Trennungsthese“ für die Frage, ob eine (möglicherweise) unionsrechtswidrige Maßnahme (jedenfalls) auch gegen die Grundrechte des Grundgesetzes verstoßen kann. Diese Frage ist von nicht unerheblicher praktischer Relevanz: So kann es für die Verwaltung oder die Fachgerichte durchaus sinnvoll sein, ein schwieriges Problem der Vereinbarkeit einer deutschen Maßnahme mit Unionsrecht dahin gestellt sein zu lassen (und ggf. auch von einer Vorlage nach Art. 267 AEUV abzusehen), wenn jedenfalls klar ist, dass die Maßnahme unionsrechtlich nicht geboten war und ebenfalls klar ist, dass die Maßnahme gegen deutsche Grundrechte (oder hieraus hergeleitete allgemeine Rechtsgrundsätze wie etwa das Verhältnismäßigkeitsprinzip in seinem deutschen Verständnis oder die deutsche Ermessens- oder Abwägungslehre) verstößt und schon deshalb aufzuheben ist. Eine solche Vorgehensweise kann ein Gerichtsverfahren im Einzelfall erheblich 7 Siehe hierzu neben den in Fußn. 3 Genannten auch B. v. Bockel/P. Wattel, New Wine in old Wineskins: The Scope of the Charter of Fundamental Rights of the EU after Åkerberg Fransson, E.L.Rev. 38 (2013), 866 ff.; N. de Boer, Adressing rights divergences under the Charter: Melloni, CMLRev. 50 (2013), 1083 ff.; G. Dannecker, Anmerkung zu EuGH, Rs. C617/10 v. 26. 2. 2013, JZ 2013, 616 ff.; E. Dubout, Le niveau de protection des droits fondamentaux dans l’Union européenne, CdE 49 (2013), 293 ff.; R. Geiß, Europäischer Grundrechtsschutz ohne Grenzen, DÖV 2014, 265 ff.; E. M. Frenzel, Die Charta der Grundrechte als Maßstab für mitgliedstaatliches Handeln zwischen Effektivierung und Hyperintegration, Der Staat 53 (2014), 1 ff.; O. J. Gstrein/S. Zeitsmann, Die „Åkerberg Fransson“-Entscheidung des EuGH, ZEuS 2013, 239 ff.; E. Hancox, The meaning of „implementing“ EU law under Article 51 (1) of the Charter: Åkerberg Fransson, CMLRev. 50 (2013), 1411 ff.; F. Lange, Verschiebungen im europäischen Grundrechtssystem, NVwZ 2014, 169 ff.; M. Ludwigs, Kooperativer Grundrechtsschutz zwischen EuGH, BVerfG und EGMR, EuGRZ 2014, 273 (280 ff.); D. Ritleng, De l’articulation des systèmes de protection des droits fondamentaux dans l’Union, RTDEur 2013, 267 ff.; D. Sariemento, Who’s afraid of the Charter?, CMLRev. 50 (2013), 1267 ff.; R. Scholz, Nationale und europäische Grundrechte: Umgekehrte „Solange“-Regel?, DVBl. 2014, 197 ff.; R. Stotz, Die Bedeutung der Grundrechte bei der Durchführung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten, in: D. Heid/R. Stotz/A. Verny (Hrsg.), Festschrift für Manfred A. Dauses, 2014, S. 409 ff.; W. Weiß, Grundrechtsschutz durch den EuGH: Tendenzen seit Lissabon, EuZW 2013, 287 (288 ff.); C. Weisse-Marchal, L’applicabilité de la charte des droits fondamentaux de l’Union européenne dans les ordres juridiques nationaux, Rev. de l’Union européenne 2013, 601 ff.; F. Wollenschläger, Anwendbarkeit der EU-Grundrechte im Rahmen einer Beschränkung von Grundfreiheiten, EuZW 2014, 577 ff. 8 EuGH, Rs. C-198/13 v. 10. 7. 2014, Abs. 36 – Julian Hernández u. a. 9 Vgl. die entsprechenden Vorschläge zur Begrenzung des Anwendungsbereichs der Charta bei Geiß (Fn. 7), S. 269 f.; Frenzel (Fn. 7), S. 10; Sariemento (Fußn. 7), S. 1277 ff.; Stotz (Fn. 7), S. 427 f.; Streinz (Fn. 3), S. 441; Thym (Fn. 3), S. 893 f.

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beschleunigen und insoweit auch dem effektiven Rechtsschutz dienen. Dieser Weg wäre aber verschlossen, wenn die deutschen Grundrechte in derartigen Fällen – entsprechend der „Trennungsthese“ der Antiterrordatei-Entscheidung – gar nicht anwendbar wären. Für das BVerfG müsste diese „Trennungsthese“ zudem verfassungsprozessual bedeuten, dass z. B. eine gegen eine derartige Maßnahme erhobene Verfassungsbeschwerde wegen fehlender Beschwerdebefugnis unzulässig sein müsste, eben weil unionsrechtswidrige Maßnahmen nicht zugleich gegen deutsche Grundrechte verstoßen könnten. Welchen Bezug haben aber diese Überlegungen zu dem Werk Rudolf Wendts? Insoweit könnte natürlich allgemein auf seine zahlreichen Veröffentlichungen zum Grundrechtsschutz hingewiesen werden. Ebenso könnte die „ultra-vires-vermeidende“ Auslegung des „Åkerberg Fransson“-Urteils durch das BVerfG als ein weiteres Beispiel der Umsetzung des Unionsrechts in Deutschland in Form verfassungskonformer Auslegung verstanden werden – ein Phänomen, mit dem sich Rudolf Wendt 2011 befasst hat.10 Jedoch gibt die langjährige Tätigkeit Rudolf Wendts als Mitglied (und [später] Vizepräsident) des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes eine noch konkretere Verbindung: Denn insoweit war er u. a. auch an den Entscheidungen des SVerfGH beteiligt, in denen dieser – eine „Anregung“ des BVerfG aufnehmend11 – erstmals festgestellt hat, dass er im Rahmen einer Landesverfassungsbeschwerde nach Art. 97 Nr. 4 SVerf i.V. mit § 9 Nr. 13, §§ 55 ff. SVerfGHG befugt sei zu prüfen, ob Entscheidungen der Gerichte des Saarlandes, die in Anwendung des bundesrechtlich geregelten Verfahrensrechts getroffen worden sind, mit den Grundrechten der Saarländischen Verfassung vereinbar sind, die denen des Grundgesetzes entsprechen.12 Damit ist für das saarländische Verfassungsrecht letztlich die Annahme vertreten worden, die saarländische Staatsgewalt sei bei „Durchführung“ des Bundesrechts nicht nur an die Grundrechte des Grundgesetzes, sondern kumulativ auch an die Grundrechte der Verfassung des Saarlandes gebunden, die denen des Grundgesetzes entsprechen. Grundgesetzlich wird diese Doppelbindung durch Art. 142 GG ermöglicht, wenn auch insoweit Einiges umstritten ist.13 Rudolf Wendt selbst hat dann aber auch deutlich darauf hingewiesen, dass dies in verfassungsprozessualer Hinsicht nicht bedeute, die Beschwerdeführer könnten vor den Landesverfassungsgerichten unmittelbar eine Verletzung der Grundrechte des Grundgesetzes rügen. Allein eine Rüge einer Verletzung der Grundrechte der Lan10

R. Wendt, Verfassungskonforme Auslegung und die Umsetzung europäischer Verträge und sonstiger Vorgaben in nationales Recht in Deutschland, in: W. Meng/G. Ress/T. Stein (Hrsg.), Europäische Integration und Globalisierung – Festschrift zum 60-jährigen Bestehen des Europa-Instituts, 2011, S. 625 ff. 11 BVerfG, 2 BvN 1/95 v. 15. 10. 1997, BVerfGE 96, 345 (363). 12 SVerfG, Lv 7/02 v. 5. 6. 2003 (Abs. 18 der Veröffentlichung auf www.verfassungsgerichts hof-saarland.de) und SVerfG, Lv 7/03 v. 19. 4. 2004 (Abs. 8 der Veröffentlichung auf www.verfassungsgerichtshof-saarland.de); hierzu R. Rixecker, in: R. Wendt/R. Rixecker (Hrsg.), Verfassung des Saarlandes, 2009, Art. 21 Rn. 6. 13 Siehe hierzu nur J. Pietzcker, Zuständigkeit und Kollisionsordnung im Bundesstaat, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts VI, 3. Aufl. 2008, § 134 Rn. 82 ff.

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desverfassung sei möglich:14 Verfassungsprozessual führt damit der Umstand, dass ein Akt öffentlicher Gewalt materiellrechtlich an die Grundrechte verschiedener Ebenen kumulativ gebunden sein kann, nicht dazu, dass vor jedem Verfassungsgericht die Verletzung von Grundrechten jeder Ebene unmittelbar gerügt werden kann. Der verfassungsprozessual festgeschriebene, auf die jeweils „eigene“ Verfassung begrenzte Prüfmaßstab wird damit mit der Anerkennung einer materiellrechtlichen kumulativen Bindung nicht ausgeweitet. Anders wäre es etwa im Verwaltungsprozess: Wird angenommen, dass eine in Vollzug eines Bundesgesetzes ergehende Maßnahme einer Landesbehörde materiellrechtlich nicht nur an die Grundrechte des Grundgesetzes, sondern auch an die inhaltsgleichen Grundrechte der Landesverfassung gebunden sein kann, könnte das Verwaltungsgericht „an sich“ beide Maßstäbe kumulativ für die Rechtmäßigkeitskontrolle heranziehen. Es wird für die parallele Heranziehung inhaltsgleicher Grundrechte i. d. R. allerdings keinen Anlass sehen – eben weil sie inhaltsgleich sind. Die vom BVerfG (im Rahmen des Art. 142 GG) für möglich gehaltene und vom SVerfGH für den saarländischen Verfassungsrechtskreis angenommene Bindung der Landesorgane an die Landesgrundrechte auch beim Vollzug des Bundesrechts, die insoweit neben die Bindung an die Bundesgrundrechte tritt, kann somit als Anschauungsbeispiel für ein „Kumulationsmodell“ dienen, nach dem ein Akt öffentlicher Gewalt am Maßstab der Grundrechte verschiedener Ebenen zu messen sein kann, deren Anforderungen kumulativ erfüllt werden müssen. Es wird zu überlegen sein, ob dieses Modell eher als die vom BVerfG in der Antiterrordatei-Entscheidung vertretene „Trennungsthese“ geeignet ist, den Grundrechtsschutz durch die nationalen Gerichte mit der Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur effektiven Durchsetzung des Unionsrechts zu koordinieren. Um dies zu klären, soll zunächst der unionsrechtliche Rahmen der Fragestellung dargelegt, also gefragt werden, ob es unionsrechtlich möglich ist, dass eine unionsrechtswidrige nationale Maßnahme zugleich an nationale Grundrechte gebunden sein (und hiergegen verstoßen) kann (I.). In einem zweiten Schritt ist zu untersuchen, welche Auswirkungen die in der Antiterrordatei-Entscheidung vom BVerfG vertretene „Trennungsthese“ für den Grundrechtsschutz durch deutsche Gerichte gegenüber nationalen Maßnahmen hat, die in den Anwendungsbereich der Charta fallen, und ob diese Auswirkungen mit der früheren Rechtsprechung des BVerfG zur Bindung deutscher Maßnahmen öffentlicher Gewalt an deutsche Grundrechte auch im Rahmen des Vollzugs des Unionsrechts vereinbar sind (II.). I. Unionsrechtlicher Rahmen der „Trennungsthese“ Mittlerweile legt der EuGH in (fast schon) gefestigter Rechtsprechung Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh dahingehend aus, dass jede Maßnahme der Mitgliedstaaten, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, zugleich auch an die Grund14 R. Wendt, Die Rüge der Verletzung im Grundgesetz verbürgter Rechte vor den Landesverfassungsgerichten, NdsVBl. 2010, 150 ff.

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rechte der Charta gebunden ist.15 Zwar ist im Einzelnen noch unklar, wann eine nationale Maßnahme nun tatsächlich in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt. Dies wird schrittweise durch fallgruppenorientiertes Vortasten ermittelt, wobei die Entscheidung „Julian Hernández“ aber wohl einen vorläufigen Schlusspunkt bilden dürfte.16 Die hier interessierenden nationalen Maßnahmen, die gegen primäres oder sekundäres Unionsrecht verstoßen, fallen jedenfalls zwingend in den Anwendungsbereich des Unionsrechts, weil sonst gar kein Widerspruch mit dem Unionsrecht auftreten könnte. Damit fallen derartige Maßnahmen auch in den Anwendungsbereich der Charta, so dass die hierdurch nachteilig Betroffenen auch eine Verletzung der durch die Charta gewährten Grundrechte durch die unionsrechtswidrige Maßnahme geltend machen können.17 Ist die Charta somit anwendbar, folgt hieraus jedoch aus unionsrechtlicher Perspektive nicht, dass Maßnahmen der Mitgliedstaaten, die der „Durchführung des Rechts der Union“ i. S. des Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh dienen, niemals (auch) am Maßstab der nationalen Grundrechte zu messen sein könnten. Art. 53 GRCh spricht vielmehr deutlich gegen eine unionsrechtliche Verankerung der „Trennungsthese“: Denn hiernach ist „keine Bestimmung dieser Charta als eine Einschränkung oder Verletzung der Menschenrechte und Grundfreiheiten auszulegen, die […] durch die Verfassungen der Mitgliedstaaten anerkannt werden.“ Jedenfalls soweit das Unionsrecht den Mitgliedstaaten Umsetzungsspielräume lässt, bedeutet dies, dass das nationale Verfassungsrecht – insbes. die nationalen Grundrechte – diese Spielräume einschränken können, ohne dass dies unionsrechtlich bedenklich wäre. Nach Auffassung des EuGH, die in dem Urteil „Steffano Melloni“ vom 26. Februar 2013 deutlich geworden ist,18 kann aber ein Mitgliedstaat gegenüber einer bestehenden Verpflichtung zur Umsetzung bestimmter unionsrechtlicher Vorgaben nicht einwenden, der Erlass der Umsetzungsmaßnahme verstoße gegen nationale Grundrechte oder sonstiges Verfassungsrecht. Soweit eine bestimmte mitgliedstaatliche Maßnahme also unionsrechtlich zwingend geboten ist, können die Mitgliedstaaten die nationalen Grundrechte (und sonstiges Verfassungsrecht oder gar einfaches nationales Recht) ihrer Umsetzungsverpflichtung nicht entgegenhalten. Insoweit folgt auch aus Art. 53 GRCh nichts anderes: Die Bestimmung wird vom EuGH vielmehr so verstanden, dass Art. 53 GRCh zwar bestätige, dass es den nationalen Behörden und Gerichten weiterhin freistehe, nationale Schutzstandards – ins15

Siehe hierzu die in Fn. 6 genannten Entscheidungen. Siehe bei Fn. 8. 17 Allerdings ist vor einem Zirkelschluss zu warnen: Das „Unionsrecht“, in dessen Anwendungsbereich die nationale Maßnahme fallen muss (bzw. in den Worten des Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh: das von den Mitgliedstaaten „durchzuführen“ ist), darf nicht die Charta selbst sein. Nicht jede nationale Maßnahme, die den Standards der Charta nicht entspricht, fällt deshalb in den Anwendungsbereich des Unionsrechts und damit in den Anwendungsbereich der Charta. 18 EuGH, Rs. C-399/11 v. 26. 2. 2013, Abs. 60 – Steffano Melloni; siehe hierzu auch die in Fn. 3 und 7 genannten Beiträge. 16

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besondere nationale Grundrechte – gegenüber solchen nationalen Maßnahmen zur Geltung zu bringen, die der Umsetzung von Unionsrecht dienen. Dies gelte aber nur und solange durch diese Anwendung nationaler Schutzstandards der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht beeinträchtigt werde. Von diesen Grundsätzen ausgehend besteht kein Anlass für die Annahme, es sei unionsrechtlich ausgeschlossen, dass nationale Gerichte unionsrechtswidrige nationale Maßnahmen am Maßstab der nationalen Grundrechte messen und (auch) wegen Verstoßes gegen nationales Verfassungsrecht verwerfen können. Zwar liegt auch hier vordergründig – wie in der „Melloni-Konstellation“ – ein Fall vor, indem dem Mitgliedstaat kein Umsetzungsspielraum zusteht. Der fehlende Umsetzungsspielraum erklärt sich hier aber dadurch, dass die nationale Maßnahme schlechthin unionsrechtlich verboten ist, ihre Vornahme also unionsrechtswidrig ist. In der „Melloni-Konstellation“ ist dagegen die nationale Maßnahme unionsrechtlich geboten, ihre Nichtvornahme unionsrechtswidrig. Um die praktische Wirksamkeit des Unionsrechts zu sichern, dürfen daher in der „Melloni-Konstellation“ nationale Grundrechte, die der Umsetzung des unionsrechtlichen Gebots entgegenstehen, nicht angewendet werden. Ist dagegen eine nationale Maßnahme unionsrechtlich verboten, stärkt es die praktische Wirksamkeit dieses unionsrechtlichen Verbots, wenn die Maßnahme (nicht nur wegen Verstoßes gegen dieses Verbot, sondern) auch wegen eines Verstoßes gegen nationales Recht aufgehoben bzw. für nichtig oder unanwendbar erklärt werden kann.19 Eine unionsrechtliche Verpflichtung, nach der die Aufhebung, Nichtigkeitserklärung oder sonstige „Beseitigung“ oder „Unanwendbarkeitserklärung“ einer nationalen unionsrechtswidrigen Maßnahme durch nationale Behörden und Gerichte gerade wegen ihrer Unionsrechtswidrigkeit erfolgen müsste, lässt sich jedenfalls der Rechtsprechung des EuGH nicht entnehmen. Aus unionsrechtlicher Perspektive ist damit nur von Bedeutung, dass im Ergebnis die Unionsrechtswidrigkeit einer nationalen Maßnahme nicht völlig unbeachtlich ist und den Mindestanforderungen an das nationale Fehlerfolgenregime Rechnung getragen wird, die das sog. „Unionsverwaltungsrecht“ aufstellt, also die Rechtsprechung des EuGH zu den Mindestanforderungen für die Effektivität des Vollzugs des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten, insbesondere hinsichtlich der (weit zu verstehenden) Folgen unionsrechtswidrigen Handelns.20 Insoweit wird mittlerweile (mehr oder weniger deutlich) zwischen unionsrechtswidrigen nationalen Gesetzen und sonstigen Rechtsnormen einerseits und nationalen Einzelfallentscheidungen (Gerichts- und Verwaltungsentscheidungen) andererseits unterschieden: Nach unionsrechtlichen Grundsätzen sind unionsrechtswidrige nationale Gesetze und Rechtsnormen bekanntlich „ohne weiteres unanwendbar“, soweit der Konflikt reicht.21 Sie 19

In diese Richtung auch de Boer (Fn. 7), S. 1096 f. Zu dieser Bestimmung des Begriffs „Unionsverwaltungsrecht“ U. Stelkens, in: P. Stelkens/H. J. Bonk/M. Sachs (Hrsg.), VwVfG, 8. Aufl. 2014, EuR Rn. 96. 21 EuGH, Rs. 106/77 v. 9. 3. 1978, Abs. 13 ff. – SPA Simmenthal; ferner z. B. EuGH, Rs C606/10 v. 14. 6. 2012, Abs. 73 – Association nationale d’assistance aux frontières pour les étrangers (ANAFE). 20

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müssen also wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts jedenfalls außer Ansatz bleiben, soweit und solange Letzteres besteht. Das Unionsrecht verlangt dagegen als Folge der Unionsrechtswidrigkeit einer Norm nicht, dass diese (von Anfang an) als nichtig oder inexistent behandelt werden müsse. Es verbietet aber auch nicht, dass eine unionsrechtswidrige nationale Rechtsnorm (wegen ihrer Unionsrechtswidrigkeit oder aus anderen Gründen) von nationalen (Verfassungs-)Gerichten in Anwendung nationaler Grundsätze nicht nur für unanwendbar, sondern auch als nichtig angesehen bzw. für nichtig erklärt wird. Soweit nationale Gerichts- oder Verwaltungsentscheidungen unionsrechtswidrig sind, folgt dagegen aus dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts nicht, derartige Gerichts- und Verwaltungsentscheidungen seien per se „unanwendbar“ und damit für die Betroffenen unverbindlich.22 So können behördliche Einzelfallentscheidungen (z. B. Verwaltungsakte oder Verwaltungsverträge) trotz Unionsrechtswidrigkeit nach Maßgabe des nationalen Rechts wirksam (und damit beachtlich) sein.23 Ebenso können auch unionsrechtswidrige nationale Gerichtsurteile nach Maßgabe des nationalen Rechts rechtskräftig und für die Beteiligten verbindlich werden.24 Eine andere Frage ist, ob sich aus dem Unions(verwaltungs)recht besondere Pflichten zur Aufhebung, Kündigung, Nichtigkeitserklärung oder sonstigen „Beseitigung“ (zunächst) verbindlicher unionsrechtswidriger Verwaltungsmaßnahmen oder Gerichtsentscheidungen ergeben können. Hierauf muss aber im vorliegenden Zusammenhang nicht näher eingegangen werden: Denn selbst wenn keine unionsrechtliche Verpflichtungen zur „Beseitigung“ unionsrechtswidriger nationaler Verwaltungsmaßnahmen oder Gerichtsentscheidungen bestehen, verbieten allgemeine Grundsätze des Unionsrechts den Mitgliedstaaten nicht, derartige Maßnahmen dennoch wegen dieser Unionsrechtswidrigkeit oder aus anderen Gründen nach Maßgabe des nationalen Rechts zu „beseitigen“.25 Aus unionsrechtlicher Perspektive ist damit i. d. R. nichts dagegen einzuwenden, wenn nationale Gerichte und Behörden die Frage der Unionsrechtswidrigkeit eines nationalen Gesetzes, einer sonstigen Rechtsnorm, einer Gerichts- oder einer Verwal22 Deutlich J. Englisch, Anspruch auf Rücknahme gemeinschaftsrechtswidrig belastender Verwaltungsakte nach Eintritt der Bestandskraft, Die Verwaltung 41 [2008], 99, 105 ff.; D. Hummel, Zum unterschiedlichen Umgang mit der Bestandskraft unionsrechtswidriger Verwaltungsakte, in: A. Debus u. a. (Hrsg.), Verwaltungsrechtsraum Europa, 2011, S. 101 (111 ff.). 23 Siehe hierzu nur A. Glaser, Die Entwicklung des Europäischen Verwaltungsrechts am Beispiel der Handlungsformenlehre, 2013, S. 489 ff. (m.w.N.). Speziell für Verwaltungsverträge: U. Stelkens (Fn. 20), § 59 Rn. 71 ff. 24 S. hierzu z. B. EuGH, Rs. C 2/08 v. 3. 9. 2009, Abs. 22 ff. – Fallimento Olimpiclub Srl (m.w.N.). 25 Anders kann dies wohl nur sein, wenn die Frage der „Beseitigung“ unionsrechtlicher Verwaltungsmaßnahmen (ausnahmsweise) abschließend sekundärrechtlich (bereichsspezifisch) geregelt ist, was insbesondere bei „durchnormierten“ transnationalen Verwaltungsentscheidungen möglich ist, etwa im Zollrecht oder in Zusammenhang mit Schengen-Visa, vgl. für derartige Fälle U. Stelkens (Fn. 20), EuR Rn. 182.

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tungsentscheidung dahingestellt sein lassen, sofern die Unvereinbarkeit dieser Maßnahme mit nationalen Grundrechten feststeht und die von dem entscheidenden Gericht oder der Behörde hieraus gezogenen Folgerungen den unions(verwaltungs) rechtlichen Mindestanforderungen an die Fehlerfolgen unionsrechtswidriger Maßnahmen der Mitgliedstaaten entsprechen oder darüber hinausgehen. Allerdings lässt sich der Rechtsprechung des EuGH auch nicht entnehmen, dass die Mitgliedstaaten unionsrechtlich verpflichtet wären, unionsrechtswidrige Maßnahmen auch am Maßstab der nationalen Grundrechte zu messen. Ob dies möglich ist, beantwortet sich damit nicht nach Art. 51 Abs. 1 oder Art. 53 Abs. 1 GRCh, sondern allein am Maßstab des nationalen Verfassungsrechts. II. Vereinbarkeit der „Trennungsthese“ mit der früheren (?) Rechtsprechung des BVerfG Wie schon in der Einleitung erwähnt, geht die in der Antiterrordatei-Entscheidung des BVerfG vorausgesetzte „Trennungsthese“ davon aus, dass deutsche Akte der öffentlichen Gewalt, die Unionsrecht i. S. des Art. 51 Abs. 1 GRCh „durchführen“ und damit an die Grundrechte der Charta gebunden sind, nicht zugleich auch an die deutschen Grundrechte gebunden sind. Bei dieser Interpretation macht das Grundgesetz damit vom „Angebot“ des Art. 53 GRCh keinen Gebrauch, sondern nimmt den Geltungsanspruch der Grundrechte des Grundgesetzes zurück, soweit und solange die Charta anwendbar ist. Wie ebenfalls bereits erwähnt, dient die „Trennungsthese“ damit wohl vor allem dazu, ein möglichst restriktives Verständnis des Begriffs „Durchführung“ in Art. 51 Abs. 1 GRCh zu begründen,26 ohne dass die These selbst begründet würde – dies vielleicht auch deshalb nicht, weil letztlich ebenfalls unklar bleibt, wieso das BVerfG überhaupt ein restriktives Verständnis des Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh durchsetzen will. Es fürchtet wohl weniger um den Grundrechtsschutz als um die Souveränität der Mitgliedstaaten, denen eine Kontrolle ihrer Maßnahmen am Maßstab der Charta durch den EuGH so weit wie möglich erspart werden soll.27 In dem Bemühen, die mitgliedstaatliche Souveränität zu wahren, setzt sich das BVerfG dementsprechend in Widerspruch zu seiner bisherigen Rechtsprechung, die – eher „grundrechtsschützend“ motiviert – im Ergebnis davon ausgegangen war, dass deutsche Maßnahmen auch dann an die deutschen Grundrechte gebunden sein können, wenn sie Unionsrecht umsetzen. So hatte das BVerfG bisher angenommen, dass deutsche Gesetze, die (möglicherweise) Unionsrecht verletzen, zugleich auch gegen deutsche Grundrechte verstoßen können.28 Ebenso hat das BVerfG angenommen, dass in den Fällen, in denen Unionsrecht den Mitgliedstaaten einen Um26

Siehe oben bei Fn. 3. So auch das Verständnis des Urteils von K. F. Gärditz, Anmerkung zu BVerfG, 1 BvR 1215/07 v. 24. 4. 2013, JZ 2013, 633 (636); Gstrein/Zeitzmann (Fn. 7), S. 256 f.; deutlich in diese Richtung (und diese befürwortend) auch Scholz (Fn. 7), S. 203 ff. 28 Vgl. BVerfG, 1 BvR 1778/01 v. 16. 3. 2004, Abs. 58, BVerfGE 110, 141 (155 f.). 27

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setzungsspielraum belässt, die Umsetzungsentscheidung des deutschen Gesetzgebers am Maßstab der deutschen Grundrechte zu messen ist, diese also auch insoweit anwendbar sind.29 Nach bisheriger Rechtsprechung hat das BVerfG (in Fortentwicklung seiner auf Rechtsakte der Union bezogenen „Solange-Rechtsprechung“30) letztlich nur dann angenommen, deutsche Akte der öffentlichen Gewalt seien nicht an die deutschen Grundrechte gebunden, wenn und soweit sie unionsrechtlich zwingend geboten sind, also in Umsetzung unionsrechtlicher Vorgaben erlassen werden, die keinen Umsetzungsspielraum belassen, sondern das mitgliedstaatliche Handeln vollständig determinieren.31 29

BVerfG, 1 BvR 256, 263, 586/08 v. 2. 3. 2010, Abs. 182, BVerfGE 125, 260 (306 f.). Bekanntlich geht das BVerfG davon aus, dass Rechtsakte der Union unmittelbar an die Grundrechte des Grundgesetzes gebunden seien, was in der Maastricht-Entscheidung damit begründet wurde, dass auch Akte einer besonderen, von der Staatsgewalt der Mitgliedstaaten verschiedenen, öffentlichen Gewalt einer supranationalen Organisation die Grundrechtsberechtigten in Deutschland beträfen und damit die Gewährleistungen des Grundgesetzes und die Aufgaben des BVerfG berührten, die den Grundrechtsschutz in Deutschland und insoweit nicht nur gegenüber deutschen Staatsorganen zum Gegenstand hätten (BVerfG, 2 BvR 2134 und 2159/92 v. 12. 10. 1993, BVerfGE 89, 155 [174 f.]). Hieran hält es nach wie vor fest: In der Lissabon-Entscheidung hat das BVerfG eine grundsätzliche Bindung von Rechtsakten der Union auch an die deutschen Grundrechte (in Deutschland) allerdings nur eher stillschweigend vorausgesetzt (BVerfG, 2 BvE 2/08 u. a. v. 30. 6. 2009, Abs. 337 f., BVerfGE 123, 267 [399]). In späteren Entscheidungen des BVerfG wird das Festhalten an dieser Aussage des Maastricht-Urteils jedoch wieder sehr deutlich (BVerfG, 1 BvR 1916/09 v. 19. 7. 2011, Abs. 53, BVerfGE 129, 78 [90]; BVerfG, 1 BvL 3/08 v. 4. 10. 2011, Abs. 46, BVerfGE 129, 186 [199]). Allerdings will das BVerfG die Vereinbarkeit von Rechtsakten der Union mit den deutschen Grundrechten „solange“ nicht (mehr) überprüfen, nimmt also „solange“ seinen „Kontrollanspruch zurück“, wie die EU entsprechend Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG einen mit dem Grundrechtsschutz des Grundgesetzes vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleiste. „Solange“ dies geschehe, sei eine Verfassungsbeschwerde oder ein sonstiges verfassungsgerichtliches Verfahren unzulässig, das auf die Überprüfung von Rechtsakten der Union am Maßstab der deutschen Grundrechte gerichtet sei (BVerfG, 2 BvL 1/ 97 v. 7. 6. 2000, Abs. 57 ff., BVerfGE 102, 147 [162 ff.]; BVerfG, 1 BvF 1/05 v. 3. 3. 2007, Abs. 66 ff., BVerfGE 118, 79 [95 f.]; BVerfG, 2 BvE 2/08 u. a. v. 30. 6. 2009, Abs. 190 ff., BVerfGE 123, 267 [334 f]). 31 Vgl. BVerfG, 1 BvF 1/05 v. 13. 3. 2007, Abs. 68 f., BVerfGE 118, 79 (95 f.); BVerfG, 1 BvR 256/08 u. a. v. 2. 3. 2010, Abs. 180 ff., BVerfGE 125, 260 (306 f.); BVerfG, 1 BvL 3/08 v. 4. 10. 2011, Abs. 46, BVerfGE 129, 186, (199). Streng genommen hat das BVerfG allerdings in diesen Fällen nicht die materiellrechtliche Geltung der deutschen Grundrechte verneint, sondern nur ihre verfassungsgerichtliche Durchsetzbarkeit in Form von Verfassungsbeschwerden und Normenkontrollen. Es beschränkt sich ausdrücklich darauf, „seine Gerichtsbarkeit“ über die Anwendbarkeit von Unionsrecht, das als Grundlage für ein Verhalten deutscher Gerichte und Behörden im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland in Anspruch genommen wird, nicht auszuüben und dieses Recht nicht am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes zu messen, solange die EU einen wirksamen Schutz der Grundrechte generell gewährleistet, der dem vom Grundgesetz jeweils als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im Wesentlichen gleich zu achten ist. Nähme man dies wörtlich, würde dies bedeuten, dass die Fachgerichte nach wie vor auch in derartigen Konstellationen die – materiellrechtlich weiter geltenden – deutschen Grundrechte anzuwenden hätten, da die Gerichtsbarkeit der Fachgerichte vom BVerfG nicht zurückgenommen wurde (und wohl insoweit auch gar nicht zurückgenommen werden kann). Dies ist aber vom BVerfG ersichtlich nicht intendiert. Der Sache nach nimmt das BVerfG daher nicht nur seinen Kontrollanspruch zurück, sondern schränkt den 30

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Diese (frühere?) Rechtsprechung des BVerfG führte zu einer für die Fachgerichte vergleichsweise günstigen Lösung, wenn sowohl die Unionsrechtskonformität eines Gesetzes als auch seine Vereinbarkeit mit deutschen Grundrechten umstritten war und sich damit die Frage der Konkurrenz zwischen einer Vorlage nach Art. 267 AEUV und nach Art. 100 Abs. 1 GG stellte: Auch wenn man annehmen könnte, eine unionsrechtswidrige Rechtsnorm könne niemals „entscheidungserheblich“ i. S. des Art. 100 Abs. 1 GG sein, hat das BVerfG einem Fachgericht, das sowohl von der Verfassungswidrigkeit eines entscheidungserheblichen Gesetzes überzeugt ist als auch seine Unionsrechtswidrigkeit für möglich hält, grundsätzlich ein Wahlrecht zugesprochen, ob es zunächst dem EuGH nach Art. 267 AEUV oder dem BVerfG nach Art. 100 Abs. 1 GG vorlegt.32 Zwar gebe es für eine Überprüfung einer Norm am Maßstab des Grundgesetzes kein Bedürfnis, wenn schon feststünde, dass diese Norm dem Unionsrecht widerspricht und deshalb innerstaatlich nicht angewendet werden dürfe. Anderes gelte aber dann, wenn der EuGH eine Entscheidung zu der aufgeworfenen unionsrechtlichen Frage noch nicht getroffen habe. Solange nicht geklärt sei, ob das innerstaatliche Recht mit dem Grundgesetz vereinbar sei, sei der EuGH aber im Ungewissen darüber, ob die Vorabentscheidung eine nach innerstaatlichen Maßstäben gültige und deshalb entscheidungserhebliche Norm betrifft. Diese Ungewissheit könne nur durch die Entscheidung des BVerfG über die Verfassungsmäßigkeit der Norm ausgeräumt werden.33 Einen zwingenden Vorrang der Vorlage nach Art. 267 Abs. 1 AEUV gegenüber der Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG hat das BVerfG nur dann angenommen, wenn geklärt werden muss, ob und inwieweit das Unionsrecht den Mitgliedstaaten in einer bestimmten Konstellation einen Umsetzungsspielraum belässt, weil bei fehlendem Umsetzungsspielraum nach den o. g. Grundsätzen eine Überprüfung der in Frage stehenden Norm am Maßstab der deutschen Grundrechte ausscheidet.34 Im Großen und Ganzen hatte das BVerfG damit in seiner früheren (?) Rechtsprechung ein jedenfalls im Ergebnis in sich schlüssiges und auch mit der Rechtsprechung des EuGH kompatibles System für die Überprüfung solcher Akte deutscher öffentlicher Gewalt entwickelt, die im Anwendungsbereich des Unionsrechts ergehen bzw. dieses umsetzen. Dieses System hat den Fachgerichten, aber auch den Verwaltungsbehörden die notwendige Flexibilität bei der Frage belassen, ob und inwieweit Rügen der Unionsrechtswidrigkeit einer bestimmten Maßnahme nachgegangen werden muss, wenn schon feststeht oder nahe liegt, dass die Maßnahme jedenfalls mit deutschen Grundrechten und hieraus hergeleiteten allgemeinen RechtsgrundsätAnwendungsbereich der deutschen Grundrechte mit materiellrechtlicher Wirkung ein (unter der auflösenden Bedingung, dass die EU gleichwertigen Grundrechtsschutz verwirklicht). 32 BVerfG, 1 BvL 4/00 v. 11. 7. 2006, Abs. 52, BVerfGE 116, 202 (214 f.). 33 BVerfG, 1 BvL 4/00 v. 11. 7. 2006, Abs. 52, BVerfGE 116, 202 (214 f.); ebenso für den vergleichbaren Fall einer unmittelbar gegen ein möglicherweise auch unionsrechtswidriges Gesetz gerichteten Verfassungsbeschwerde: BVerfG, 1 BvR 1778/01 v. 16. 3. 2004, Abs. 58, BVerfGE 110, 141 (155 f.). 34 BVerfG, 1 BvL 3/08 v. 4. 10. 2011, Abs. 44 ff., BVerfGE 129, 186 (198 ff.).

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zen nicht vereinbar ist. Das insoweit herangezogene „Kumulationsmodell“, nach dem jede Maßnahme der deutschen öffentlichen Gewalt, soweit sie nicht zwingend unionsrechtlich geboten ist, auch dann am Maßstab der deutschen Grundrechte gemessen werden kann, wenn auf diese Maßnahme ebenso die Charta Anwendung findet, dürfte sich gerade auch deshalb in der Praxis weitgehend bewährt und als nützlich erwiesen haben. So misst etwa das BVerwG Maßnahmen der Verwaltung, die nach Auffassung des Gerichts der „Durchführung des Rechts der Union“ i. S. des Art. 51 Abs. 1 GRCh dienen, sowohl am Maßstab der Grundrechte der Charta als auch am Maßstab der deutschen Grundrechte oder hieraus hergeleiteter allgemeiner Rechtsgrundsätze35 – anders nur, wenn die Maßnahme vollständig unionsrechtlich determiniert ist und deshalb allein eine Anwendbarkeit der Charta in Betracht kommt.36 Aber auch aus Sicht des deutschen Verfassungsrechts ist schlechthin kein Grund erkennbar, weshalb die Wirkung der deutschen Grundrechte allein deshalb zurück genommen werden sollte, weil auf denselben Sachverhalt (möglicherweise) zugleich die Grundrechte der Charta Anwendung finden (können). Die „Trennungsthese“ der Antiterrordatei-Entscheidung ist daher insgesamt nicht überzeugend, zumal des BVerfG auch nicht erläutert, in welchem Verhältnis dieser Ansatz zu seiner früheren Rechtsprechung stehen soll.37 Die entsprechenden Ausführungen des BVerfG in der Antiterrordatei-Entscheidung können daher nicht nur als „Warnschüsse in Richtung EuGH“38 verstanden werden, sondern vor allem auch als Schnellschüsse, die – werden sie wörtlich genommen – durchaus erhebliche Kollateralschäden für alle Behörden und Fachgerichte bewirken können, die mit der Umsetzung des Unionsrechts betraut sind. Das Beispiel zeigt damit auch, dass das BVerfG in seiner Rechtsprechung zu Fragen des Verhältnisses zwischen Unionsrecht und Verfassungsrecht stärker als bisher berücksichtigen sollte, dass rechtliche Konstruktionen zur Abwehr unerwünschter „Übergriffe“ des EuGH teilweise nicht weniger unerwünschte Folgewirkungen für die Rechtsanwendung durch die Verwaltung und die Fachgerichte haben können, wenn sie von diesen ernst genommen und konsequent angewandt werden.

III. Fazit Im Ergebnis sollte also die im diesem Beitrag aufgeworfene Frage, ob deutsche Grundrechte vor deutschen unionsrechtswidrigen Rechtsakten schützen können, mit der früheren (?) Rechtsprechung des BVerfG bejaht werden. Es ist zu hoffen, dass das BVerfG die dem entgegenstehende „Trennungthese“, die der Antiterrordatei-Entscheidung zu Grunde liegt, in Zukunft nicht mehr aufgreifen wird und die entsprechenden Ausführungen so „Ausreißer“ bleiben. Solange und soweit das BVerfG in 35

Vgl. z. B. BVerwG, 10 C 16/12 v. 13. 6. 2013, NVwZ 2013, 1493, Abs. 20 ff. So z. B. der Fall von VG Bremen, 1 K 59/14 v. 10. 4. 2014, Abs. 29 (juris). 37 Deutlich insoweit auch Gärditz (Fn. 7), S. 636; Griebel (Fn. 3), S. 208. 38 So Gärditz (Fn. 7), S. 636. 36

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Zukunft bei der Prüfung der Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerden und Normenkontrollen nicht generell (d. h. auch jenseits der Fälle, in denen die Maßnahme unionsrechtlich geboten ist) untersucht, ob nicht auch eine Unionsrechtswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme in Betracht kommt, die vor Inanspruchnahme verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes auszuschließen sei, erscheint diese Hoffnung als nicht unbegründet. Anders als die Fachgerichte39 ist das BVerfG allerdings nicht dazu berufen, neben der Vereinbarkeit deutscher Maßnahmen mit den deutschen Grundrechten auch unmittelbar ihre Vereinbarkeit mit den Grundrechten der Charta zu überprüfen: Unmittelbarer Kontrollmaßstab des BVerfG sind allein die Grundrechte des Grundgesetzes.40 Sind die Grundrechte des Grundgesetzes und die der Charta somit im Anwendungsbereich der Charta materiellrechtlich i. d. R. kumulativ anwendbar, bleibt es damit verfassungsprozessual bei einer Trennung. Insoweit gilt nichts anderes als im Verhältnis zwischen Bundes- und Landesverfassungsgerichtsbarkeit.41 Das somit („nur“) materiellrechtlich zutreffende „Kumulationsmodell“ kann allerdings für die Staatsgewalt der deutschen Bundesländer zu einer dreifachen Grundrechtsbindung führen: Zunächst ist festzuhalten, dass die Grundrechte des Grundgesetzes natürlich materiellrechtlich (Art. 1 Abs. 3 GG) für jedes Handeln der Landesstaatsgewalt gelten – nicht nur, wenn diese Bundesrecht „durchführt“. Daneben tritt die Bindung an die Grundrechte der Landesverfassung, wobei es eine Frage des Landesverfassungsrechts ist, ob dies (in den Grenzen des Art. 142 GG) auch dann gilt, wenn die Landesstaatsgewalt Bundesrecht durchführt.42 Ebenso ist es aber eine Frage des Landesverfassungsrechts (und von den Landesverfassungsgerichten zu entscheiden), ob die Landesgrundrechte auch gegenüber solchen Maßnahmen der Landesstaatsgewalt Anwendung finden, die i. S. des Art. 51 Abs. 1 GRCh Unionsrecht durchführen. Für eine „Trennungsthese“ spricht insoweit allerdings auch aus der Perspektive des Landesverfassungsrechts wohl kaum etwas.43 Soweit Akte der Landesstaatsgewalt im Anwendungsbereich der Charta ergehen, dürfte daher i. d. R. die Bindung an die Grundrechte der Charta neben die Bindung an die Grundrechte der Landesverfassung (und an die Grundrechte des Grundgesetzes) treten. Entsprechend den Melloni-Grundsätzen44 können allerdings die Landesgrundrechte (wie auch die Grundrechte des Grundgesetzes) solchen Maßnahmen der Landesstaatsgewalt nicht entgegen gehalten werden, die unionsrechtlich zwingend geboten sind.45 Von diesen Fragen der materiellrechtlichen Bindungswirkung der Grundrechte ist aller39

S. bei Fn. 35. Für eine Ausweitung des Prüfungsmaßstabs jedoch Griebel (Fn. 3), S. 209 f. 41 Siehe bei Fn. 14. 42 Siehe bei Fn. 11. 43 Vgl. für Baden-Württemberg: D. Schöffler, Die Kontrolle der Durchführung des Rechts der Europäischen Union im Rahmen der Landesverfassungsbeschwerde, VBlBW 2014, 201 (210 f.). 44 Siehe bei Fn. 18. 45 Schöffler (Fn. 43), S. 206. 40

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dings wieder ihre verfassungsprozessuale Durchsetzbarkeit zu unterscheiden. Verfassungsprozessual sind insoweit die Fälle besonders interessant, in denen eine Landesverfassungsbeschwerde gegen eine Maßnahme der Landesstaatsgewalt erhoben wird, die Bundesrecht anwendet, das seinerseits i. S. des Art. 51 Abs. 1 GRCh Unionsrecht durchführen soll. Dann könnte das Landesverfassungsgericht diesen Akt der Landesstaatsgewalt nur am Maßstab der Landesgrundrechte messen, soweit (1.) der angegriffene Akt nicht unionsrechtlich zwingend geboten ist und (2.) die weitergehenden Vorgaben des BVerfG beachtet werden, die dieses zur Sicherung der einheitlichen Durchführung des Bundesrechts in diesem Zusammenhang aufgestellt und aus Art. 142 GG hergeleitet hat.46

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BVerfG, 2 BvN 1/95 v. 15. 10. 1997, BVerfGE 96, 345 (373 ff.).

Das Recht auf Arbeit Von Stephan Weth und Yvonne Gutting, Saarbrücken Der Jubilar hat sich in zahlreichen Veröffentlichungen mit grundrechtlichen Fragestellungen auseinandergesetzt. Hier sei ein Beitrag herausgegriffen. Es ist der bereits 1984 erschienene Aufsatz mit dem Titel „Berufsfreiheit als Grundrecht der Arbeit“.1 Dieser Aufsatz befasst sich mit dem ersten Beratungsgegenstand der Staatsrechtslehrertagung 1984 in Göttingen, der lautete: „Art. 12 GG – Freiheit des Berufs und Grundrecht der Arbeit“. Schon in der Einleitung seines Beitrags weist der Jubilar auf die Bedeutung dieses Themas hin. Mit ihm sei „eine für die Gestaltung des Arbeits- und Wirtschaftslebens zentrale Freiheitsverbürgung angesprochen. Angesichts einer anhaltend hohen Arbeitslosigkeit wird diese Thematik in der rechtspolitischen und verfassungsrechtlichen Diskussion der kommenden Jahre eine wesentliche Rolle spielen. Bereits jetzt läßt sich feststellen: Eine staatliche ,Bewirtschaftung‘ von Arbeitsplätzen, Arbeitskräften und Arbeitsverhältnissen ist verfassungsrechtlich ausgeschlossen. Auf dem Arbeitsmarkt ist prinzipiell freier Wettbewerb gewährleistet. Eine Einschränkung der grundrechtlichen Freiheit durch eine gesetzliche Kontingentierung des Arbeitsangebots wäre in der Regel nicht hinreichend legitimiert.“2

Ist aber – wie der Jubilar ausführt – eine staatliche Bewirtschaftung von Arbeitsplätzen, Arbeitskräften und Arbeitsverhältnissen verfassungsrechtlich ausgeschlossen, dann ist wohl auch ein Recht auf Arbeit im Sinne der Gewährung eines subjektiven Rechts für den Einzelnen gegenüber dem Staat ausgeschlossen. Denn wie soll der Staat dem Einzelnen Arbeit bzw. einen Arbeitsplatz garantieren können, wenn er Arbeitsplätze nicht bewirtschaften darf? Nun findet sich im Grundgesetz die Formulierung „Recht auf Arbeit“ nicht. Sie findet sich aber an vielen anderen Stellen, etwa in der Europäischen Sozialcharta, in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und in einigen deutschen Landesverfassungen u. a. in Art. 45 der Verfassung des Saarlandes. Dort heißt es in Satz 2: „Jeder hat nach seinen Fähigkeiten ein Recht auf Arbeit.“

Wenn aber der Staat keine Arbeit bzw. keinen Arbeitsplatz garantieren kann, läuft dann dieses „Recht auf Arbeit“ leer? Oder ist unter dem „Recht auf Arbeit“ kein subjektives Recht des Einzelnen gegenüber dem Staat zu verstehen und hat der Einzelne 1 2

Wendt, Berufsfreiheit als Grundrecht der Arbeit, DÖV 1984, 601 ff. Wendt, Berufsfreiheit als Grundrecht der Arbeit, DÖV 1984, 601.

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danach kein Recht auf Verschaffung von Arbeit bzw. Verschaffung eines Arbeitsplatzes? Der Jubilar hat sich, wie einerseits seine Tätigkeit als (Mit-)Herausgeber und Autor eines Kommentars zur Verfassung des Saarlandes3 und andererseits seine Tätigkeit als Mitglied des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes zeigt, vielfach mit Problemen der Saarländischen Verfassung befasst. Dies und der eingangs zitierte Aufsatz sind für die Autoren Anlass, im Folgenden einige Überlegungen zum „Recht auf Arbeit“ vorzustellen. I. Rechtliche Grundlagen des „Rechts auf Arbeit“ 1. Grundgesetz „Das ,Recht auf Arbeit‘ sagt und bedeutet den allermeisten deutschen Juristen nichts“, so formuliert Eichenhofer in einem Beitrag zum Thema „Recht auf Arbeit und das Arbeitsrecht“ und weist zudem darauf hin, ein Antrag auf Formulierung eines Rechts auf Arbeit sei im Parlamentarischen Rat verworfen worden. Das Grundgesetz wisse deshalb nichts von einem Recht auf Arbeit.4 Zwar trifft es zu, dass sich im Grundgesetz die Formulierung „Recht auf Arbeit“ nicht findet. Rechtfertigt das aber schon die Schlussfolgerung, das Grundgesetz wisse nichts von einem solchen Recht? Enthält nicht Art. 12 GG vielmehr eine Gewährleistung des „Rechts auf Arbeit“? Darauf wird zurückzukommen sein. 2. Landesverfassungen Neben der Verfassung des Saarlandes findet sich ein Recht auf Arbeit fast gleichlautend in vier weiteren Landesverfassungen: „Alle haben das Recht auf Arbeit.“ (Art. 18 S. 1 der Verfassung von Berlin) „Jeder hat die sittliche Pflicht zu arbeiten und ein Recht auf Arbeit.“ (Art. 8 Abs. 1 der Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen) „Jeder hat nach seinen Fähigkeiten ein Recht auf Arbeit und, unbeschadet seiner persönlichen Freiheit, die sittliche Pflicht zur Arbeit.“ (Art. 28 Abs. 2 der Verfassung des Landes Hessen) „Jedermann hat ein Recht auf Arbeit.“ (Art. 24 Abs. 1 S. 3 der Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen).

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Wendt/Rixecker, Kommentar zur Verfassung des Saarlandes, Saarbrücken 2009. Eichenhofer, Recht auf Arbeit und Arbeitsrecht, in: Wolmerath/Gallner/Krasshöfer/ Weyand, Recht-Politik-Geschichte, Festschrift für Franz Josef Düwell zum 65. Geburtstag, Baden-Baden 2011, S. 342. 4

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Wenngleich nicht in dieser Absolutheit formuliert, findet das Recht auf Arbeit auch in Art. 48 Abs. 1 der Verfassung des Landes Brandenburg Erwähnung, wo es heißt: „Das Land ist verpflichtet, im Rahmen seiner Kräfte durch eine Politik der Vollbeschäftigung und Arbeitsförderung für die Verwirklichung des Rechts auf Arbeit zu sorgen, welches das Recht jedes einzelnen umfasst, seinen Lebensunterhalt durch freigewählte Arbeit zu verdienen.“

3. Recht der Europäischen Union In Art. 15 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) heißt es unter der Überschrift „Berufsfreiheit und Recht zu arbeiten“: „(1) Jede Person hat das Recht, zu arbeiten und einen frei gewählten oder angenommenen Beruf auszuüben. (2) Alle Unionsbürgerinnen und Unionsbürger haben die Freiheit, in jedem Mitgliedstaat Arbeit zu suchen, zu arbeiten, sich niederzulassen oder Dienstleistungen zu erbringen. (3) Die Staatsangehörigen dritter Länder, die im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten arbeiten dürfen, haben Anspruch auf Arbeitsbedingungen, die denen der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger entsprechen.“

4. Völkerrecht a) Daneben ist das Recht auf Arbeit aber auch völkerrechtlich festgelegt. Zum einen in Art. 1 der Europäischen Sozialcharta (ESC) aus dem Jahre 19615: „Artikel 1 – Das Recht auf Arbeit Um die wirksame Ausübung des Rechtes auf Arbeit zu gewährleisten, verpflichten sich die Vertragsparteien: 1. zwecks Verwirklichung der Vollbeschäftigung die Erreichung und Aufrechterhaltung eines möglichst hohen und stabilen Beschäftigungsstandes zu einer ihrer wichtigsten Zielsetzungen und Aufgaben zu machen; 2. das Recht des Arbeitnehmers wirksam zu schützen, seinen Lebensunterhalt durch eine frei übernommene Tätigkeit zu verdienen; 3. unentgeltliche Arbeitsvermittlungsdienste für alle Arbeitnehmer einzurichten oder aufrecht zu erhalten; 4. eine geeignete Berufsberatung, Berufsausbildung und berufliche Wiedereingliederung sicherzustellen oder zu fördern.“

b) Darüber hinaus findet sich das Recht auf Arbeit im internationalen Pakt über wirtschaftliche, kulturelle und soziale Rechte (IPskwR) von 19666 in Art. 6 wieder: „(1) Die Vertragsstaaten erkennen das Recht auf Arbeit an, welches das Recht jedes einzelnen auf die Möglichkeit, seinen Lebensunterhalt durch frei gewählte oder angenommene 5 6

BGBl. 1964, Teil II, S. 1261 ff. BGBl. 1973, Teil II, S. 1569 ff.

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Arbeit zu verdienen, umfasst, und unternehmen geeignete Schritte zum Schutz dieses Rechts. (2) Die von einem Vertragsstaat zur vollen Verwirklichung dieses Rechts zu unternehmenden Schritte umfassen fachliche und berufliche Beratung und Ausbildungsprogramme sowie die Festlegung von Grundsätzen und Verfahren zur Erzielung einer stetigen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung und einer produktiven Vollbeschäftigung unter Bedingungen, welche die politischen und wirtschaftlichen Grundfreiheiten des einzelnen schützen.“

II. Inhalt des „Rechts auf Arbeit“ Überwiegend werde – so wird in der Literatur vertreten – unter dem Recht auf Arbeit der Anspruch auf Verschaffung eines Arbeitsplatzes verstanden.7 Das Recht auf Arbeit sei von den Begriffen „Recht zur Arbeit“, „Recht auf Beschäftigung“ und „Recht auf den Arbeitsplatz“ zu trennen.8 Das „Recht zur Arbeit“ garantiere die Freiheit der Berufswahl und der Berufsausübung und sei durch Art. 12 GG gewährleistet, das „Recht auf den Arbeitsplatz“ solle dem Arbeitnehmer seine Betriebszugehörigkeit sichern.9 Ein solches Recht sei in der Bundesrepublik nicht anerkannt, auch wenn durch das Kündigungsschutzgesetz ein gewisser Bestandsschutz des Arbeitsverhältnisses herbeigeführt werde.10 Das „Recht auf Beschäftigung“ schließlich setze einen frei vereinbarten und abgeschlossenen Arbeitsvertrag voraus. Aus diesem Arbeitsvertrag gebe es einen Anspruch des Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber, tatsächlich beschäftigt zu werden.11 1. Recht auf Beschäftigung? Letzterem ist zuzustimmen. Das Recht auf Arbeit umfasst nicht den Anspruch des einzelnen Arbeitnehmers gegen seinen Arbeitgeber, aufgrund des zwischen beiden bestehenden Arbeitsvertrages beschäftigt zu werden. Der Anspruch des einzelnen Arbeitnehmers auf Beschäftigung ist allerdings mit dem Recht auf Arbeit eng verbunden. Er verwirklicht „das Recht auf Arbeit in der Arbeit“12 und ist höchstrichterlich anerkannt. Nach ständiger Rechtsprechung des BAG hat jeder Arbeitnehmer einen Anspruch darauf, im Rahmen seines Arbeitsvertrages beschäftigt zu werden.13 Rechtsgrundlage eines solchen Beschäftigungsanspruchs ist das Arbeitsvertrags-

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Gode, Recht auf Arbeit, DVBl. 1990, 1207, 1208. Gode, Recht auf Arbeit, DVBl. 1990, 1207. 9 Gode, Recht auf Arbeit, DVBl. 1990, 1207, 1208. 10 Gode, Recht auf Arbeit, DVBl. 1990, 1207, 1208. 11 Gode, Recht auf Arbeit, DVBl. 1990, 1207. 12 Eichenhofer, Recht auf Arbeit und Arbeitsrecht, in: Wolmerath/Gallner/Krasshöfer/ Weyand, Recht-Politik-Geschichte, Festschrift für Franz Josef Düwell zum 65. Geburtstag, Baden-Baden 2011, S. 342, 350. 13 BAG, Urt. v. 19. 08. 1976 – 3 AZR 173/75, BAGE 28, 168, 172. 8

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recht.14 Der Anspruch ist aus §§ 611, 613 i.V.m. § 242 BGB abzuleiten. Die Generalklausel des § 242 BGB wird dabei durch die Wertentscheidung der Art. 1 und 2 GG ausgefüllt. Das BAG hat dazu schon in seiner Entscheidung vom 10. 11. 195515 ausgeführt: „Denn das Arbeitsverhältnis ist ein personenrechtliches Gemeinschaftsverhältnis, das nicht nur wie beim Dienstvertrag der selbständig Tätigen oder sonstigen Schuldverhältnissen lediglich einzelne bestimmte Leistungen betrifft, sondern für seinen Geltungsbereich die ganze Person des Arbeitnehmers erfaßt, deshalb wesentlich sein Leben gestaltet und seine Persönlichkeit bestimmt. Die Achtung und Anerkennung des Arbeitnehmers als Mensch beruht auch nicht nur auf dem wirtschaftlichen Wert seiner Leistung (die Höhe des Gehalts), sondern weitgehend darin, wie er die ihm obliegenden Aufgaben erfüllt. Gerade das gibt ihm im Bereich des Arbeitslebens maßgeblich seine Würde als Mensch. Deshalb muß der Arbeitgeber nicht bloß auf Grund der Treuepflicht, sondern vor allem auch auf Grund der jedermann aus Art. 1 und 2 GG obliegenden Verpflichtungen […] alles unterlassen, was die Würde des Arbeitnehmers und die freie Entfaltung der Persönlichkeit beeinträchtigen kann.“

2. Recht auf Verschaffung eines Arbeitsplatzes? a) Wenn in den oben16 genannten Normen von „Recht auf Arbeit“ die Rede ist, ist weder im Verhältnis zum Staat noch im Verhältnis zu dritten Personen ein subjektives Recht auf Arbeit gewährleistet17; es hat nicht der Einzelne ein Recht auf Verschaffung eines Arbeitsplatzes oder gar einen Anspruch auf Verschaffung eines bestimmten Arbeitsplatzes. Der Verfassungsgerichtshof des Saarlandes hat sich in seiner Entscheidung vom 09. 06. 199518 sehr ausführlich mit dieser Frage auseinandergesetzt und die Ablehnung eines subjektiven Anspruchs auf Verschaffung einer bezahlten Arbeitsstelle mit im Wesentlichen folgenden Argumenten verneint: Im historischen Rückblick zeige sich, dass in der mit dem Auftreten von Massenarbeitslosigkeit beginnenden Diskussion über das Recht auf Arbeit von keiner Seite an die Einräumung eines klagbaren, subjektiven Rechts auf Arbeit gedacht worden sei.19 Zudem sei die Norm zu unbestimmt, um im Wege der richterlichen Rechtsanwendung das soziale Grundrecht im Einzelfall durchzusetzen. Die Norm lege den Inhalt des Verschaffungsanspruchs nicht einmal annäherungsweise fest. Das beginne damit, dass nicht gesagt sei, wen letztlich die Pflicht, den Arbeitsplatz bereitzustellen, treffe, den Staat und/oder die private Wirtschaft. Allerdings sei die Annahme abwegig, die Saarländische Verfassung wolle das Problem der Arbeitslosigkeit ohne 14

BAG, Urt. v. 15. 10. 2013 – 9 AZR 666/12, AP Nr. 22 zu § 611 BGB Rn. 42. BAG, Urt. v. 10. 11. 1955 – 2 AZR 591/54, BAGE 2, 221, 224 f. 16 Unter I. 17 So für die Berliner Verfassung VGH Berlin, Beschl. v. 12. 10. 1994 – 53/94, juris. 18 VGH Saarland, Beschl. v. 09. 06. 1995 – Lv 6/94. 19 VGH Saarland, Beschl. v. 09. 06. 1995 – Lv 6/94, S. 5 f.; Rixecker, Der Schutz des Einzelnen im Rahmen der Mitbestimmung in personellen Angelegenheiten, Saarbrücken 1983, S. 201. 15

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Einbeziehung des privatwirtschaftlichen Sektors lösen. Das aber sei nur durch ein in die Grundrechte Dritter eingreifendes Regelwerk zu leisten, dessen Aufstellung die Möglichkeiten eines Gerichts überfordern würde. Damit würde sich ein Recht auf Arbeit als nicht justiziabel erweisen, wegen der Unmöglichkeit des Gerichts, das mit einer Konkretisierung des Rechts auf Arbeit innerhalb eines bestimmten Wirtschaftssystems notwendig verbundene Regelwerk zu schaffen.20 Schließlich weist der Verfassungsgerichtshof des Saarlandes darauf hin, dass selbst dann, wenn man um der mangelnden Justiziabilität des Rechts auf Arbeit zu entgehen, die These vertrete, der Staat sei in eigener Regie verpflichtet, jedem schuldlos Arbeitslosen eine bezahlte Arbeit zu gewähren, ihn also im öffentlichen Dienst zu beschäftigen, sich daraus gleichwohl unlösbare Probleme und nicht annehmbare rechtliche Folgewirkungen ergeben würden. Ein solches Recht würde nämlich in die Haushaltskompetenz des Parlaments derart weitgehend eingreifen, dass im Falle krisenhafter Wirtschaftsentwicklungen mit hohen Arbeitslosenzahlen die Haushaltsmittel in einem so großen Umfang durch Löhne für an sich nicht benötigte Arbeitskräfte im öffentlichen Dienst blockiert wären, dass von einer eigenständigen Haushaltspolitik des Parlaments gegebenenfalls keine Rede mehr sein könne und so ein Urrecht des Parlaments, das Budgetrecht, auf dem Wege justiziellen unmittelbaren Verfassungsvollzugs unterlaufen würde. Besonders deutlich werde dies, wenn man bedenke, dass eine solche Auslegung des Art. 45 S. 2 der Saarländischen Verfassung zu einem Jedermann-Grundrecht führen würde, mit der Folge, dass mangels eines entsprechenden sozialen Grundrechts in anderen Ländern – auch Bundesländern – das Saarland genötigt wäre, mit seinen Haushaltsmitteln Arbeitslose ohne Rücksicht auf deren Nationalität und Herkunft in seine Dienste zu übernehmen.21 b) Was die vom Verfassungsgerichtshof des Saarlandes angesprochene historische Betrachtung betrifft, so ist in der Literatur nachgewiesen, dass das Recht auf Arbeit seiner „historischen Idee nach kein subjektives Recht des Einzelnen auf die Verschaffung von Arbeitsgelegenheit“ ist.22 Es bezeichne vielmehr ein gegebenenfalls verfassungsrechtlich geschütztes allgemeines Interesse, ein Programm, das Gesetzgebung und Verwaltung verpflichten könne, eine angemessene berufliche Bildung, berufliche Beratung und Arbeitsvermittlung zu sichern und durch aktive Vollbeschäftigungspolitik zur Erhaltung und Beschaffung von Arbeitsplätzen beizutragen.23 Dass ein Anspruch auf Verschaffung eines Arbeitsplatzes nicht Gegenstand des Rechts auf Arbeit ist, folgt auch aus dem Wortlaut einiger der oben24 genannten Normen. So spricht Art. 48 Abs. 1 der Verfassung des Landes Brandenburg von einer 20

VGH Saarland, Beschl. v. 09. 06. 1995 – Lv 6/94, S. 10 f. VGH Saarland, Beschl. v. 09. 06. 1995 – Lv 6/94, S. 12 f. 22 Rixecker, Der Schutz des Einzelnen im Rahmen der Mitbestimmung in personellen Angelegenheiten, Saarbrücken 1983, S. 203. 23 Rixecker, Der Schutz des Einzelnen im Rahmen der Mitbestimmung in personellen Angelegenheiten, Saarbrücken 1983, S. 203. 24 Unter I. 21

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Verpflichtung des Landes, im Rahmen seiner Kräfte durch eine Politik der Vollbeschäftigung und Arbeitsförderung für die Verwirklichung des Rechts auf Arbeit zu sorgen. Adressat dieser Norm ist nicht der Einzelne, sondern das Land Brandenburg. Diesem wird gerade nicht die Verpflichtung auferlegt, jedem einen Arbeitsplatz zur Verfügung zu stellen, sondern der wesentlich weniger weitgehende Gestaltungsauftrag erteilt, soweit es dazu kräftemäßig, d. h. finanziell wie auch organisatorisch in der Lage ist, einen möglichst hohen Beschäftigungstand zu erreichen. Entsprechend verhält es sich mit Art. 1 der Europäischen Sozialcharta. Die Vertragsparteien werden nicht etwa verpflichtet, jedermann einen Arbeitsplatz zur Verfügung zu stellen. Sie sollen vielmehr zwecks Verwirklichung der Vollbeschäftigung die Erreichung und Aufrechterhaltung eines möglichst hohen und stabilen Beschäftigungstandes zu einer ihrer wichtigsten Zielsetzungen und Aufgaben machen (Art. 1 Nr. 1 ESC). Die Auferlegung einer solchen Zielsetzung wäre hinfällig, wenn die Vertragsparteien durch das Recht auf Arbeit bereits zur Verfügungstellung von Arbeitsplätzen für jedermann gezwungen wären. c) Aus dem Wortlaut von Art. 48 Abs. 1 der Verfassung des Landes Brandenburg und aus Art. 6 des internationalen Paktes über wirtschaftliche, kulturelle und soziale Rechte folgt ein Weiteres. Das Recht auf Arbeit umfasst das Recht, seinen Lebensunterhalt durch freigewählte Arbeit zu verdienen. Es ist also nicht so, dass das Recht auf Arbeit vom Recht zur Arbeit zu trennen ist.25 Vielmehr ist die freie Wahl des Berufs und des Arbeitsplatzes Teil des Rechts auf Arbeit.26 Der Einzelne darf entscheiden, auf welchem Feld er sich beruflich betätigen will (Berufswahl) und an welcher Stelle er dem gewählten Beruf nachgehen möchte (Arbeitsplatzwahl).27 Was Gegenstand eines Rechts auf freie Wahl des Arbeitsplatzes ist, lässt sich mit den Worten des BVerfG zu Art. 12 Abs. 1 GG – wie folgt – formulieren: Gegenstand dieses Rechts ist zunächst der Entschluss des Einzelnen, eine konkrete Beschäftigungsmöglichkeit in dem gewählten Beruf zu ergreifen. Dazu zählt auch die Wahl des Vertragspartners samt den dazu notwendigen Voraussetzungen, insbesondere der Zutritt zum Arbeitsmarkt. Die freie Arbeitsplatzwahl bezieht sich neben der Entscheidung für eine konkrete Beschäftigung auch auf den Willen des Einzelnen, diese beizubehalten oder aufzugeben. Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG entfaltet seinen Schutz gegen alle staatlichen Maßnahmen, die diese Wahlfreiheit beschränken.28 d) Dagegen ist – wie das BVerfG betont – mit der sich aus Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG ergebenden Wahlfreiheit weder ein Anspruch auf Bereitstellung eines Arbeitsplatzes eigener Wahl noch eine Bestandsgarantie für den einmal gewählten Arbeitsplatz ver25

So aber Gode, Recht auf Arbeit, DVBl. 1990, 1207, s. o. II. vor 1. Vgl. dazu bzgl. Art. 6 Abs. 1 IPskwR Langenfeld in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. VI/1 – Europäische Grundrechte I, Heidelberg 2010, § 163 Rn. 12. 27 Vgl. zu den Begriffen Berufswahl und Arbeitsplatzwahl BVerfG, Urt. v. 24. 04. 1991 – 1 BvR 1341/90, NJW 1991, 1667. 28 BVerfG, Urt. v. 24. 04. 1991 – 1 BvR 1341/90, NJW 1991, 1667. 26

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bunden.29 Art. 12 Abs. 1 GG gewährt also keinen Anspruch auf Schaffung oder Erhalt von Arbeitsplätzen.30 Das gilt auch für Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst. Insbesondere unterliegt die Zahl der Arbeitsplätze dort der Organisationsgewalt des Staates.31 Das Grundgesetz gewährt also weder einen Anspruch auf Schaffung von Arbeitsplätzen noch einen Anspruch auf Bereitstellung eines Arbeitsplatzes eigener Wahl. Vielmehr wäre ein durchsetzbarer Individualanspruch auf Verschaffung eines Arbeitsplatzes mit dem Grundgesetz nicht vereinbar.32 Ein solcher Anspruch ließe sich auf unterschiedliche Weise gestalten.33 Zum einen dadurch, dass dem Einzelnen ein Anspruch gegen einen beliebigen privaten Unternehmer eingeräumt würde. Dann aber könnten – worauf Rixecker zu Recht hinweist – weder die verfassungsrechtliche Garantie der Vertragsfreiheit, die im Grundsatz das individuelle Belieben bei der Auswahl von Vertragspartnern sichert, noch die Berufsfreiheit, die das Recht einschließt, unternehmerisch frei tätig zu sein und Zwang zu wirtschaftlicher Tätigkeit infolge der Verpflichtung zur Beschäftigung Dritter verbietet, noch gelten.34 Zum anderen könnte sich der Anspruch auf Verschaffung eines Arbeitsplatzes gegen den Staat richten. Dieser könnte diesen Anspruch aber nur dann erfüllen, wenn es eine staatliche Bewirtschaftung von Arbeitsplätzen, Arbeitskräften und Arbeitsverhältnissen gäbe oder – wie Elicker formuliert – „ein echtes Recht auf Arbeit, das mehr wäre als ein Programmsatz bzw. Ausdruck von Wunschdenken, kann es nur in einer staatlich gelenkten Planwirtschaft, nicht aber in einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung geben“.35 Da eine staatliche Bewirtschaftung von Arbeitsplätzen, Arbeitskräften und Arbeitsverhältnissen verfassungsrechtlich ausgeschlossen ist36, kann ein Anspruch auf Verschaffung eines Arbeitsplatzes nicht anerkannt werden37; er würde das freiheitliche Grundanliegen des Art. 12 Abs. 1 GG zunichtemachen.38 29 BVerfG, Urt. v. 24. 04. 1991 – 1 BvR 1341/90, NJW 1991, 1667; BVerfG, Beschl. v. 27. 01. 1998 – 1 BvL 15/87, BVerfG 97, 169, 175. 30 BVerfG, Urt. v. 24. 04. 1991 – 1 BvR 1341/90, NJW 1991, 1667. 31 BVerfG, Urt. v. 24. 04. 1991 – 1 BvR 1341/90, NJW 1991, 1667. 32 Rixecker, Der Schutz des Einzelnen im Rahmen der Mitbestimmung in personellen Angelegenheiten, Saarbrücken 1983, S. 203. 33 Vgl. dazu Rath, Die Garantie des Rechts auf Arbeit, Göttingen 1974, S. 100 ff. 34 Rixecker, Der Schutz des Einzelnen im Rahmen der Mitbestimmung in personellen Angelegenheiten, Saarbrücken 1983, S. 203 f. 35 Eicker in: Wendt/Rixecker, Kommentar zur Verfassung des Saarlandes, Saarbrücken 2009, Art. 45 Rn. 3. 36 Wendt, Berufsfreiheit als Grundrecht der Arbeit, DÖV 1984, 601, 603; vgl. auch Rixecker, Der Schutz des Einzelnen im Rahmen der Mitbestimmung in personellen Angelegenheiten, Saarbrücken 1983, S. 204. 37 Manssen in: von Mangoldt/Klein/Stark, Kommentar zum Grundgesetz, 6. Aufl. 2010, Art. 12 GG Rn. 12.

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e) Ob, wie Gode behauptet,39 überwiegend unter dem Recht auf Arbeit der Anspruch auf Verschaffung eines Arbeitsplatzes verstanden wird, kann hier dahinstehen. Jedenfalls lässt sich dem Wortlaut einiger der oben40 zitierten Normen entnehmen, dass sie unter dem „Recht auf Arbeit“ gerade nicht einen Anspruch auf Verschaffung eines Arbeitsplatzes verstehen. Im Übrigen kann wohl kaum davon ausgegangen werden, dass die oben zitierten Landesverfassungen, wenn sie den Begriff „Recht auf Arbeit“ verwenden, einen mit der freiheitlich demokratischen Grundordnung nicht zu vereinbarenden Anspruch postulieren wollten. Nach alledem ist davon auszugehen, dass ein Anspruch auf Verschaffung eines Arbeitsplatzes nicht zum Inhalt des Rechts auf Arbeit gehört. 3. Berufs- und Arbeitsplatzwahlfreiheit? Das Recht auf Arbeit beinhaltet also nach dem vorstehend Ausgeführten weder ein Recht auf Beschäftigung noch ein Recht auf Verschaffung eines Arbeitsplatzes.41 Vielmehr ist das Recht auf Arbeit auf eine individuell frei gewählte Arbeit ausgerichtet.42 Die freie Wahl von Beruf und Arbeitsplatz ist – wie oben im Einzelnen beschrieben43 – Teil dieses Rechts. Darin erschöpft sich die Bedeutung des Rechts auf Arbeit allerdings nicht. 4. Gestaltungsauftrag? a) Vielmehr muss der Staat nicht nur die freie Wahl von Beruf und Arbeitsplatz garantieren, sondern darüber hinaus zum Schutz des Rechts auf Arbeit geeignete Schritte insoweit unternehmen44, als er im Rahmen seiner Kräfte durch eine Politik der Vollbeschäftigung und Arbeitsförderung für die Verwirklichung des Rechts auf Arbeit sorgen muss.45 Er hat also insoweit einen Gestaltungsauftrag.46

38 Manssen in: von Mangoldt/Klein/Stark, Kommentar zum Grundgesetz, 6. Aufl. 2010, Art. 12 GG Rn. 12. 39 Gode, Recht auf Arbeit, DVBl. 1990, 1207, 1208. 40 Vgl. oben I. 2. 41 Vgl. dazu auch Eichenhofer, Recht auf Arbeit und Arbeitsrecht, in: Wolmerath/Gallner/ Krasshöfer/Weyand, Recht-Politik-Geschichte, Festschrift für Franz Josef Düwell zum 65. Geburtstag, Baden-Baden 2011, S. 342, 346. 42 Eichenhofer, Recht auf Arbeit und Arbeitsrecht, in: Wolmerath/Gallner/Krasshöfer/ Weyand, Recht-Politik-Geschichte, Festschrift für Franz Josef Düwell zum 65. Geburtstag, Baden-Baden 2011, S. 342, 346. 43 Vgl. oben II. 2. c). 44 So formuliert Art. 6 Abs. 1 IPskwR. 45 Vgl. Art. 48 Abs. 1 Verfassung des Landes Brandenburg. 46 Vgl. dazu sogleich.

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b) Es bleibt die Frage, ob die Formulierung von Eichenhofer zutrifft, das Grundgesetz wisse nichts von einem Recht auf Arbeit.47 Teil des Rechts auf Arbeit ist – wie beschrieben – die freie Wahl von Beruf und Arbeitsplatz. Diese ist in Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG garantiert; sie findet sich also im Grundgesetz. Darüber hinaus ist dem Grundgesetz auch der Gedanke, die Zahl der Arbeitsplätze zu vermehren, keineswegs fremd. Das BVerfG hat in seiner Entscheidung vom 27. 04. 199948 klargestellt, dass das Ziel, Massenarbeitslosigkeit durch Förderung von zusätzlich bereitgestellten Arbeitsplätzen zu bekämpfen, Verfassungsrang habe. Der Gesetzgeber könne sich dabei auf das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) berufen. Außerdem helfe der Gesetzgeber dadurch den einzelnen Arbeitslosen, sich durch Arbeit in ihrer Persönlichkeit zu entfalten und darüber Achtung und Selbstachtung zu erfahren. Insofern werde sein Ziel auch von Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG getragen. Das Sozialstaatsprinzip enthalte einen Gestaltungsauftrag an den Gesetzgeber. Er verpflichte ihn, für einen Ausgleich der sozialen Gegensätze zu sorgen. Wie der Gesetzgeber diesen Auftrag erfülle, sei mangels näherer Konkretisierung des Sozialstaatsprinzips seine Sache. Die staatliche Fürsorge bei Arbeitslosigkeit sei nicht auf finanzielle Unterstützung der Arbeitslosen beschränkt. Sie könne auch darauf gerichtet sein, die Zahl der Arbeitsplätze, etwa durch Mitfinanzierung der Lohnkosten, zu vermehren und auf diese Weise die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen.49 Es kann also der aus dem Sozialstaatsprinzip folgenden Gestaltungsauftrag genutzt werden, um für die Verwirklichung des Rechts auf Arbeit zu sorgen. Insgesamt wird man nach alldem nicht davon sprechen können, das Grundgesetz wisse nichts von einem Recht auf Arbeit. III. Fazit 1. Das Recht auf Arbeit umfasst das Recht jedes Einzelnen, durch frei gewählte Arbeit seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Zum Schutz dieses Rechts muss der Staat geeignete Schritte unternehmen und ist verpflichtet, im Rahmen seiner Kräfte durch eine Politik der Vollbeschäftigung und Arbeitsförderung für die Verwirklichung dieses Rechts zu sorgen.50 2. Das Recht auf Arbeit gewährt dem Einzelnen keinen Anspruch auf Verschaffung eines Arbeitsplatzes. 47 Eichenhofer, Recht auf Arbeit und Arbeitsrecht, in: Wolmerath/Gallner/Krasshöfer/ Weyand, Recht-Politik-Geschichte, Festschrift für Franz Josef Düwell zum 65. Geburtstag, Baden-Baden 2011, S. 342. 48 BVerfG, Beschl. v. 27. 04. 1999 – 1 BvR 2203/93, 897/95, BVerfGE 100, 271. 49 BVerfG, Beschl. v. 27. 04. 1999 – 1 BvR 2203/93, 897/95, BVerfGE 100, 271, 284. 50 Diese Beschreibung des Rechts auf Arbeit lehnt sich an Art. 48 Abs. 1 der Verfassung des Landes Brandenburg an.

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3. Die Behauptung, das Grundgesetz wisse nichts von einem Recht auf Arbeit, ist unzutreffend. Zwar findet sich im Grundgesetz die Formulierung „Recht auf Arbeit“ nicht, in der Sache kennt das Grundgesetz ein solches Recht jedoch.

Der Schutz persönlicher Daten: Anmerkungen zum Grundgesetz, zur Europäischen Menschenrechtskonvention und zum Recht der Europäischen Union Unter Berücksichtigung des EuGH-Urteils v. 13. Mai 2014 zum „Anspruch auf Vergessen“ gegenüber dem Betreiber einer Internetsuchmaschine (Google) Von Michaela Wittinger, Mannheim* I. Der Schutz persönlicher Daten und das Grundgesetz 1. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung Das Grundgesetz, das am 23. Mai 2014 den 65. Geburtstag seiner Verkündung feiern konnte, ist eine Verfassung, die kein ausdrückliches Grundrecht auf Schutz persönlicher Daten garantiert, anders als jüngere Verfassungen. Anknüpfend an das Selbstdarstellungsrecht und den darin u. a. enthaltenen Schutz vor unerwünschter heimlicher Wahrnehmung der Person entwickelte allerdings das Bundesverfassungsgericht aus Art. 2 Abs. 1 GG das Recht der informationellen Selbstbestimmung im Volkszählungsurteil1. Es legte damit den Grundstein zum Recht des Einzelnen auf Schutz vor Erhebung und Verarbeitung seiner Daten seitens des Staates.2 Die Entwicklung eines Grundrechts auf Schutz persönlicher Daten ist eines von mehreren Beispielen des Verfassungswandels und der Anpassung des Grundgesetzes an gesellschaftliche und technische Entwicklungen.3 Der Verfassungswandel vollzieht sich dabei mittels Interpretation. Mit der Gründung des Bundesverfassungsgerichts und seiner Funktion, das Grundgesetz auszulegen4, wurde die Deutungshoheit über die * Prof. Dr. Michaela Wittinger, Professur für öffentliches Recht (insbesondere Staats- und Europarecht), Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, Fachbereich Bundeswehrverwaltung, Mannheim. Der Beitrag ist Ausdruck des herzlichen Dankes an den Jubilar für all seine Unterstützung und seinen Rat seit meiner Zeit als Privatdozentin an der Universität des Saarlandes sowie für die gemeinsame Herausgeberschaft der Festschrift für Wilfried Fiedler. 1 BVerfGE 65, 1 ff. (42 f.). 2 Dazu näher Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Grundrechte Staatsrecht III, 29. Aufl. 2013, Rn. 399 ff. 3 Hierzu im Einzelnen Wittinger, in: dies./Wendt/Ress (Hrsg.), Verfassung-VölkerrechtKulturgüterschutz, FS für Wilfried Fiedler 2011, S. 739 ff. 4 Art. 93 Abs. 1 Ziff. 1 GG.

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Verfassung und damit der Schlüssel zum Verfassungswandel in die Hände dieses Gerichts gelegt. Bereits 1976 hielt Rudolf Smend fest „(D)as Grundgesetz gilt nunmehr praktisch so, wie das Bundesverfassungsgericht es auslegt.“5 Und auch aus Anlass des 60. Geburtstages des Grundgesetzes am 23. Mai 2009 hielt die Literatur zur Entwicklungen des Grundgesetzes bestätigend fest, dass die tatsächliche Bedeutung des Grundgesetzes „vor allem durch die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts“ bestimmt wird.6 Das Bundesverfassungsgericht selbst hat für das aus „Erkenntnis, Bewertung und Entscheidung“ bestehende Prozedere der Verfassungsinterpretation bekanntlich mehrere Methoden definiert, nach denen es vorgeht, um den „objektiven Willen des Gesetzgebers“ zu ermitteln: die grammatische, systematische, teleologische und historische Auslegung7. Hinzukommt das Gebot, bei der Auslegung von Verfassungsbestimmungen die Einheit der Verfassung zu wahren und Konflikte im Sinne „praktischer Konkordanz“8 zu lösen. Da der aktuelle Verfassungsinhalt durch Konkretisierung je nach zugrundeliegendem Fall gegebenenfalls neu ermittelt werden muss, bedeutet Verfassungsinterpretation immer auch Fortbildung der Verfassung durch das Bundesverfassungsgericht und damit Verfassungswandel. Wissenschaftlicher und technischer Fortschritt sowie ein gesellschaftlicher Wandel sind es dabei, die die Verfassungsrechtsprechung bei der Auslegung von Verfassungsbestimmungen zu deren Fortentwicklung veranlassen. Im Bedürfnis nach dem Schutz persönlicher Daten – heute ausgelöst durch den breiten Einsatz von Computern und des Internets – zeigen sich diese beiden Faktoren des Wandels besonders deutlich. 2. Das „neue Computergrundrecht“ So war das Bundesverfassungsgericht im Jahre 2008 aufgerufen, sich im Zusammenhang mit dem Verfassungsschutzgesetz Nordrhein-Westfalens mit den Entwicklungen auf dem Gebiet der Informations- und Computertechnik und insbesondere auch des Internets auseinanderzusetzen. Den heimlichen Zugriff auf Computerdaten, der durch dieses Gesetz ermöglicht wurde, bewertete das Bundesverfassungsgericht als Verletzung des „Grundrechts auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme als besonderer Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts“.9 Geschaffen wurde damit eine neue Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, die der Fortentwicklung „informationstechnischer Systeme“ – vom Personalcomputer bis zum Internet – geschuldet ist. Zu Recht verwies das Bundesverfassungsgericht auf das durch diese Systeme eröffnete breite 5

In: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, Darmstadt 1976, S. 330; dazu auch Lamprecht, NJW 2009, 1454. 6 Sachs, NJW 2009, 1441. 7 BVerfGE 11, 126 (130). 8 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Heidelberg, Neudruck 20. Aufl. 1995, Rn. 72. 9 BVerfG, Urt. v. 27. 2. 2008, NJW 2008, 822 (824, Rn. 166).

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Spektrum von Nutzungsmöglichkeiten, die zur Erzeugung, Verarbeitung und Speicherung von Daten führen, und vor allem unterstrich es auch die Erzeugung von selbsttätigen weiteren Daten durch diese Systeme, die Aufschluss über Verhalten und Eigenschaften des Nutzers geben. Entscheidend war für das Bundesverfassungsgericht, dass außer der Persönlichkeitsentfaltung neue Persönlichkeitsgefährdungen durch diese Systeme und die Vernetzung eröffnet werden: Gefährdungen, die durch die technische Zugriffsmöglichkeit von Dritten zur Ausspähung oder Manipulierung von Daten des Einzelnen entstehen, wobei der Einzelne solche Zugriffe nur zum Teil wahrnehmen und nur begrenzt abwehren kann, da seine Schutzvorkehrungen unterlaufen werden können. Der Aspekt der Heimlichkeit und der mangelnden Wahrnehmungsmöglichkeit durch den Betroffenen aufgrund des technischen Fortschritts war damit ein entscheidender Aspekt. Den vorhandenen Grundrechtsschutz in Art. 10 GG10 und Art. 13 GG sowie durch das im Volkszählungsurteil entwickelte informationelle Selbstbestimmungsrecht bewertete das Bundesverfassungsgericht als unzureichend, um den zunehmenden Gefahren der Informationstechnik zu begegnen, und sah die Schließung einer Lücke im Grundgesetz als erforderlich an.11 Da der Zugriff über einzelne Datenerhebungen erheblich hinausgehe, wurde insbesondere das einmal zur Wahrung persönlicher Daten geschaffene Recht der informationellen Selbstbestimmung als nicht mehr ausreichend beurteilt. Das durch Auslegung ermittelte „neue Grundrecht“ soll laut Bundesverfassungsgericht einschlägig sein, wenn ein Dritter durch den Zugriff auf das informationstechnische System – genannt werden festinstallierte oder mobile Personalcomputer, Mobiltelefone oder elektronische Terminkalender – „einen Einblick in wesentliche Teile der Lebensgestaltung“ gewinnen „oder gar ein aussagekräftiges Bild der Persönlichkeit“ erhalten kann.12 Betrachtet man die stetige Verbreitung der informationstechnischen Systeme wie Personalcomputer und Mobiltelefone ergibt sich ein beträchtlicher Anwendungsbereich dieses neuen „,Computergrundrechts‘ mit dem sperrigen Namen“.13 Und auch wenn in der Literatur auf Abgrenzungsschwächen im Anwendungsbereich hingewiesen wurde14 – so kann die Erhebung von Kontodaten anders als vom Bundesverfassungsgericht angenommen15 mit Blick auf das homebanking auch von dem neuen Grundrecht und nicht nur dem informationellen Selbstbestimmungsrecht umfasst sein – stellt doch die Schaffung des „neuen Computergrundrechts“ angesichts der zunehmenden „Computerisierung“ des Alltags einen bedeutenden Schritt für den Schutz der Freiheitssphäre des Einzelnen dar.

10 An dieser Vorschrift scheiterte die sog. Vorratsdatenspeicherung, dazu BVerfG, Urt. v. 2. 3. 2010, NJW 2010, 833. Dazu Wolff, NVwZ 2010, 751 ff. 11 BVerfG, Urt. v. 27. 2. 2008, NJW 2008, 822 (825 f., Rn. 181 ff.). 12 Ibidem, 822 (827, Rn. 203). 13 Kutscha, NJW 2008, 1044. 14 Kutscha, ibidem, 1042 f. 15 BVerfG, Urt. v. 27. 2. 2008, NJW 2008, 822 (836, Rn. 313 ff.), dazu krit. Kutscha, ibidem, 1043.

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Mit Blick auf das Thema des Verfassungswandels wird in dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts offenbar, wie auf Ebene der Verfassung auf geänderte technische Entwicklungen reagiert werden kann – und muss. Zugleich wird deutlich, dass zum wissenschaftlich-technischen Fortschritt auch die gewandelten Lebensverhältnisse hinzukommen, die eine Fortbildung der Verfassung auslösen. Gewandelte Lebensverhältnisse, wie sie sich hier in der gestiegenen Nutzung von Computern und des Internets durch große Kreise der Bevölkerung manifestieren, welche wie das Bundesverfassungsgericht feststellte, „mehr und mehr zum Normalfall“16 geworden ist. Verfassungsfortbildung offenbart sich hier in Form der Neuschöpfung einer Grundrechtsausprägung durch die Verfassungsgerichtsbarkeit.17 II. Der Schutz persönlicher Daten und die Europäische Menschenrechtskonvention 1. Schutz durch das Recht auf Privatleben mittels Auslegung Auch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), die 1953 in Kraft getreten ist, kennt ebenso wenig wie das Grundgesetz einen ausdrücklichen Schutz persönlicher Daten. Das Grundgesetz und die Europäische Menschenrechtskonvention sichern die Freiheitssphäre des Einzelnen unter Zurückdrängung eines allmächtigen Staates; beide sind als eine Antwort auf die systematische Missachtung von Rechten in der NS-Zeit entstanden; die EMRK ergänzt dabei den innerstaatlichen Grundrechtschutz auf völkerrechtlicher Ebene. Im selben historischen Zeitkontext entstanden, war der Schutz persönlicher Daten auch bei der Entstehung der Europäischen Menschenrechtskonvention kein Themenfeld, das bekannt war und mit einem eigenständigen Artikel Aufnahme in das Vertragswerk des Europarates gefunden hätte. Die Lücke wurde – wie im Grundgesetz durch das Bundesverfassungsgericht – im Rahmen der Europäischen Menschenrechtskonvention durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) geschlossen. Der Schutz persönlicher Daten wird via Auslegung als Teil des Privatlebens im Sinne des Artikels 8 EMRK umfasst. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bewertet die EMRK als „living instrument“18, also als einen Vertragstext, der nicht statisch, sondern der Auslegung zugänglich ist. Dadurch kann auf die Entwicklungen in den Vertragsstaaten reagiert werden. Gesellschaftliche Veränderungen, wie z. B. die Auflösung traditioneller Familienstrukturen19 oder auch, wie hier, veränderte Schutzbedürfnisse im Kontext des 16

BVerfG, Urt. v. 27. 2. 2008, NJW 2008, 822 (824, Rn. 174). Die zunehmende „Computerisierung“ zeigt sich ferner nicht nur in der Verwendung von Personalcomputern im privaten Bereich, sondern auch im öffentlichen Bereich, etwa im Einsatz von Wahlcomputern, der zum Urt. des BVerfG v. 03. 03. 2009 (EuGRZ 2009, 125 ff.) zu den Anforderungen an die Öffentlichkeit der Wahl führte. 18 St. Rspr. seit Tyrer/Vereinigtes Königreich, Urt. v. 25. 4. 1978, Série A Nr. 26, 15, Ziff. 31 a.E. 19 Zum Schutz nichtehelicher Verbindungen bzw. von „Ein-Eltern-Familien“ nur Johnston et. al./Irland, Urt. v. 18. 12. 1986, Série A, Nr. 112 = EuGRZ 1987, 313 ff. 17

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Privatlebens, deren rechtliche Anerkennung sich nach und nach auch in den nationalen Rechtsordnungen niedergeschlagen haben, werden damit vom Schutz der EMRK umfasst. Dies ermöglicht die „dynamische“ Auslegungsmethode20, mit deren Hilfe der Menschenrechtsgerichtshof z. B. die Rechte von – an ihrem Kind „interessierten“ – Vätern nichtehelicher Kinder gestärkt hat.21 Im Bereich des Schutzes persönlicher Daten erweist sich Art. 8 EMRK mit der Garantie des Familien- und Privatlebens als ein Auffangrecht, das in der Auslegung durch den EGMR der Funktion des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in Art. 2 Abs. 1 GG nahekommt. So ist nach der Rechtsprechung des EGMR auch der Schutz persönlicher Daten von Art. 8 Abs. 1 EMRK umfasst.22 Zu den geschützten Daten zählen nicht nur Angaben über das Privatleben, sondern z. B. auch Informationen über ein politisches Engagement.23 Ein staatlicher Eingriff in Art. 8 EMRK kann im Bereich des Datenschutzes etwa im Rahmen polizeilicher Ermittlungs- und Überwachungsmaßnahmen erfolgen, so durch Telefonüberwachung. Nach der Rechtsprechung des EGMR ist es dabei im Sinne des Art. 34 EMRK zulässig, dass sich eine Beschwerde direkt gegen das nationale Gesetz richtet, ohne dass der Beschwerdeführer behaupten muss, selbst abgehört worden zu sein.24 2. Schrankenregelung: strenge Anforderungen an geheime staatliche Maßnahmen Bei der Rechtfertigung staatlicher Eingriffe ist die Schrankenregelung des Art. 8 Abs. 2 EMRK zu berücksichtigen, die bei Fällen zum Schutz der Familie und des Privatlebens nicht selten im Ergebnis zu einer Verneinung einer Konventionsverletzung durch den EGMR führt. Ausgehend vom Wortlaut des Art. 8 Abs. 2 EMRK erfolgt die Schrankenprüfung in der Praxis in drei Stufen: erstens muss eine gesetzliche Grundlage für den Eingriff vorhanden sein, zweitens muss der Eingriff zugunsten eines legitimen Eingriffsziels erfolgen und drittens in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein.25 Beim Schutz persönlicher Daten zeigt sich allerdings, dass der EGMR strenge Anforderungen an das Erfordernis der Bestimmtheit der gesetzlichen Grundlage stellt, 20

Näher hierzu Peters, Einführung in die Europäische Menschenrechtskonvention, 2003, S. 18 f.; Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 5. Aufl. 2012, § 5, 12 ff. (als Unterform der teleologischen Interpretation). 21 Im Einzelnen dazu Wittinger, Familien und Frauen im regionalen Menschenrechtsschutz, Diss., Saarbrücker Studien zum Internationalen Recht 12, 1999, S. 35 ff. 22 Wasmuth/Deutschland, Urt. v. 17. 2. 2011, Reports of Decisions and Judgments, Ziff. 74. 23 Rotaru/Rumänien, Urt. v. 4. 5. 2000, Reports of Decisions and Judgments, Ziff. 46. Im Einzelnen s. auch Grabenwarter/Pabel (Anm. 20), § 22, Rn. 10. 24 Iordachi et al./Moldau, Urt. v. 10. 2. 2009, NJW 2010, 2111, Ziff. 30 ff. 25 Statt vieler Berrehab/Niederlande, Urt. v. 21. 6. 1988, Série A Nr. 138, Ziff. 24 ff. Aus der Lit. Peters (Anm. 20), S. 154 f.

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wenn die Maßnahmen des Staates geheim sind.26 Von den genannten Eingriffszwecken ist für den Schutz der Daten in erster Linie der Eingriffszweck „Schutz der öffentlichen Sicherheit“ von Bedeutung. Ein Eingriff in das Recht auf Schutz personenbezogener Daten ist in einer „demokratischen Gesellschaft notwendig“, wenn die einschränkenden Maßnahme einem dringenden sozialen Bedürfnis entspringt und zum verfolgen Ziel verhältnismäßig ist. Das Kriterium der „Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft“ räumt den Konventionsstaaten generell einen Ermessenspielraum ein, der bei der Schrankenprüfung des Art. 8 Abs. 2 EMRK nicht selten im Ergebnis zu einer Verneinung einer Konventionsverletzung durch den EGMR führt. Dabei betont der EGMR häufig, dass es um eine Überprüfung der nationalen Entscheidung und nicht darum gehe, eine eigene Beurteilung an die Stelle der nationalen Behörden und Gerichte zu setzen.27 Die größere Nähe der nationalen Stellen wird hierfür angeführt28 und rechtfertigt diese Rechtsprechung auch. Andererseits zeigt sich in der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 8 EMRK, insbesondere zu Entscheidungen zum Familienschutz und zum Familienrecht zugleich, dass er mitunter als eine „vierte Instanz“ tätig wird, wenn er sehr genau eine Prüfung der konkreten Fallumstände vornimmt und z. B. eine unzutreffende Entscheidung der nationalen Jugendbehörden bejaht.29 Bei der Prüfung, ob ein Eingriff in das Recht auf Schutz personenbezogener Daten in einer „demokratischen Gesellschaft notwendig“ ist, ist zu differenzieren. Bei geheimen Maßnahmen, wie sie für Polizeistaaten charakteristisch sind, muss die Überwachung von Bürgern aber unbedingt notwendig sein, um nicht gegen die Konvention zu verstoßen30; beim Sammeln und der Verwertung von Daten durch geheime Maßnahmen des Staates wird dieser staatliche Spielraum damit stark eingeschränkt. Die Durchführung gesetzlich angeordneter Volkszählungen hingegen ist bei der Abwägung zwischen dem Schutz persönlicher Daten und dem öffentlichen Interesse an der Erhebung der Daten vom Ermessenspielraum der Konventionsstaaten gedeckt und konventionskonform.31 Bei der Abwägung im Rahmen der „Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft“ ist dabei auch von Bedeutung, ob die Daten zum Kernbereich der Persönlichkeit des Betroffenen gehören, wie medizinische Daten. Bei der Information zu einer HIV-Infektion z. B. hat der EGMR dem

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Näher hierzu Grabenwarter/Pabel (Anm. 20), § 22, Rn. 34 f. Vgl. für Sorgerechts-, Besuchsrechts- und Unterbringungsentscheidungen Elsholz/ Deutschland, Urt. v. 13. 07. 2000, EuGRZ 2002, 595, Ziff. 49; Sommerfeld/Deutschland, Urt. v. 08. 07. 2003 (Große Kammer), Reports of Decisions and Judgments 2003-VIII, Ziff. 62. 28 Ibidem. 29 Kutzner/Deutschland, Urt. v. 26. 2. 2004, NJW 2004, 3397 ff. (zu einem Sorgerechtsentzug gegenüber „geistig minderbemittelten“ Eltern, der geprägt war durch einen stetigen Konflikt zwischen Jugendamt und Eltern). 30 Klaas u. a./Deutschland, Urt. v. 6. 9. 1978, EuGRZ 1979, 278, Ziff. 42. 31 Zur Spruchpraxis der früheren Europäischen Menschenrechtskommission insoweit Grabenwarter/Pabel (Anm. 20), § 22, Rn. 40. 27

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Schutzinteresse des Betroffenen im Hinblick auf diese sensiblen Daten den Vorrang gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Verfolgung von Straftaten eingeräumt.32 III. Der Schutz persönlicher Daten in der Europäischen Grundrechtecharta und das Urteil des EuGH zum „Anspruch auf Vergessen“ und auf Berichtigung personenbezogener Daten 1. Die Europäische Grundrechtecharta und der ausdrückliche Schutz persönlicher Daten Art. 6 Abs. 1 EU-Vertrag listet die Werte der Europäischen Union auf – Freiheit, Demokratie, Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie Rechtsstaatlichkeit – und enthält damit den europäischen Wertekonsens nicht nur der Mitgliedstaaten, sondern auch den der EU selbst. Der Grund- und Menschenrechtsschutz ist dabei als eigenständiges Element neben dem Rechtsstaatsprinzip genannt. In den europäischen Gründungsverträgen wurde der Grund- und Menschenrechtsschutz erstmals im Zuge des Maastricht-Vertrages festgeschrieben, in Art. 6 Abs. 2 EU-Vertrag, mit der Verpflichtung der Europäischen Union auf die EMRK. Verfestigt wurde die Bedeutung der Grundrechte für die Europäische Union aber erst mit der Proklamation ihrer Grundrechtecharta (EU-GRC) im Jahre 2000.33 Es dauert allerdings lange, bis die europäische Grundrechtecharta mit dem Inkrafttreten des Lissabonner-Vertrages am 1. Dezember 2009 dann schlussendlich verbindlich wurde.34 Die Grundrechtecharta bindet in erster Linie die EU und ihre Organe. Art. 51 Abs. 1 EU-GRC, wonach die Charta ausschließlich bei der Durchführung35 des Unionsrechts gilt, umfasst allerdings ein legislatives Handeln der Mitgliedstaaten und den administrativen Vollzug von Verordnungen (und unmittelbar anwendbaren Richtlinien) und bindet die Mitgliedstaaten damit an die EU-Grundrechte der Char-

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Z/Finnland, Urt. v. 25. 2. 1997, Reports of Decisions and Judgments 1997-I, Ziff. 95 ff. Zur Entwicklung des Grundrechtschutzes in der EU näher Jarras, EU-Grundrechte, 2005, S. 7, Rn. 18 ff. 34 Die EU-GRC ist nicht in den EU-Vertrag inkorporiert worden, wird aber als „rechtlich gleichrangig“ mit den Verträgen bezeichnet (Art. 6 I EUV). Durch das Grundrechteprotokoll zum Lissabonner Vertrag sind Polen und Großbritannien vom Anwendungsbereich der Charta ausgeschlossen – Polen, so wird angenommen (dazu Bergmann, in: ders. (Hrsg.), Handlexikon der Europäischen Union, 4. Aufl. 2012, S. 475 f.) aus Angst vor liberalen Abtreibungsregelungen und der Anerkennung homosexueller Partnerschaften, Großbritannien aus Sorge vor einem geschriebenen Grundrechtskatalog, der wirtschaftliche und soziale Grundrechte enthält; Tschechien hat sich vorbehalten, das Protokoll auf sich zu erstrecken (wohl wegen möglicher Gebietsansprüche deutscher Staatsbürger). 35 Zum Streit um den Inhalt dieses Begriffs: Hatje, in: Schwarze, Jürgen (Hrsg.), EUKommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 51 EU-GRC, Rn. 15 ff.; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 4. Aufl. 2011, Art. 51 GRCh, Rn. 7 ff. 33

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ta.36 Da Adressaten nach dem Wortlaut des Art. 41 Abs. 1, 2 aber nur die europäischen Organe sind, sieht das Schrifttum Art. 51 EU-GRC als durch Art. 41 Abs. 1, 2 eingeschränkt an und lehnt eine Bindung der Mitgliedstaaten überwiegend ab37; eine Verpflichtung der nationalen Behörden, Art. 41 Abs. 1, 2 beim direkten Vollzug und beim indirekten Vollzug des Unionsrechts unter Anwendung des VwVfG zu beachten, bestünde dann nicht. Aus „gewichtigen Gründen“38 könnte diese mangelnde Verpflichtung hinsichtlich der Rolle der Mitgliedstaaten beim Vollzug des Europarechts und das unbefriedigende39 Ergebnis aber u. U. revidiert werden. Zudem hat der EuGH 2013 klargestellt, dass sich die EU-GRC weit in die Sphäre der Mitgliedstaaten erstreckt; er bejahte, dass eine nationale (hier schwedische Steuer-)Vorschrift in den „Geltungsbereich des Unionsrechts“ falle und zur „Durchführung“ des EURechts ergangen ist, obwohl diese nationale Gesetzesvorschrift gar nicht zur Umsetzung einschlägiger EU-Richtlinien erlassen wurde.40 Für den EuGH genügte damit ein Bezug zum Europarecht. Danach sind die Mitgliedstaaten, die nationale (Verwaltungs-)Gesetze anwenden, sobald diese nur „relativ schwache“ europarechtliche Bezüge aufweisen, an die EU-GRC gebunden; dies gälte auch für den Datenschutz. Die Auswirkungen dieser Rspr. – die als „Paukenschlag“ für das Kooperationsverhältnis zum BVerfG gesehen werden kann, das dem EuGH hier auch bereits offen entgegengetreten ist und eine solche Auslegung der Charta dezidiert ablehnt41 – und die deutlich gemacht hat, dass der EuGH für sich das letzte Wort in Grundrechtsfragen beansprucht, bleibt derzeit noch abzuwarten. Der EuGH hat den nationalen Gerichten – und dies gilt insbesondere auch für das BVerfG – immerhin die Möglichkeit eröffnet, ihre nationalen Grundrechte anzuwenden, wenn eine nationale Vorschrift nicht vollständig durch das Unionsrecht bestimmt wird, sofern durch diese Anwendung weder „das Schutzniveau der Charta, wie sie vom Gerichtshof ausgelegt wird, noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden“.42 Die Grundrechtecharta ist inhaltlich weit gefasst. Sie garantiert überwiegend subjektive Abwehrrechte und beginnt, wie das Grundgesetz, mit dem Schutz der Menschenwürde (Art. 1)43, geht aber über die „klassischen“ Grundrechte, wie sie etwa 36 Dazu: Hatje, ibidem, Art. 51 EU-GRC Rn. 16 und 19; Kingreen, ibidem, Art. 51 GRCh, Rn. 8 und 11. 37 Etwa: Pfeffer, Das Recht auf eine gute Verwaltung, 2006, S. 97 ff. (105); Classen, Gute Verwaltung im Recht der EU, 2008, S. 80 ff. (Art. 41 als lex specialis zu Art. 51 EU-GRC); a.A. wohl Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, Kommentar, 7. Aufl. 2008, Einl. Rn. 87. 38 Classen, ibidem, S. 83. 39 Auch Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Anm. 35), Art. 41 GRCh, Rn. 9. 40 EuGH, Urt. v. 26. 02. 2013, Rs. C-617/10 (Åklagare/Hans Åkerberg Fransson), abrufbar über: http://curia.europa.eu. 41 BVerfG, Urt. v. 24. 04. 2013 – 1 BvR 121/07, Rn. 91 (juris). 42 EuGH, Urt. v. 26. 02. 2013, Rs. C-617/10 (Anm. 40), S. 4. 43 Zur Entstehungsgeschichte der EU-GRC und ihrer Ausarbeitung durch den europäischen Grundrechtekonvent unter Vorsitz von Roman Herzog Knecht, in: Schwarze (Hrsg.) (Anm. 35), GRC Präambel, Rn. 8 f.

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aus dem Grundgesetz bekannt sind, deutlich hinaus. So ist etwa das Verbot des reproduktiven Klonens von Menschen (Art. 3), das Recht auf Bildung (Art. 14), der Schutz geistigen Eigentums (Art. 17) und der Anspruch jeden Kindes auf direkten Kontakt zu beiden Elternteilen (Art. 24) verankert. Hinzu kommen wirtschaftliche Rechte und Teilhaberechte, wie z. B. der Zugang zu einem Arbeitsvermittlungsdienst (Art. 29) oder das Recht auf ärztliche Versorgung (Art. 35) sowie originäre Leistungsrechte, wie der Anspruch auf Prozesskostenhilfe (Art. 47 S. 4) und auf Sozialleistungen (Art. 34 Abs. 2). Des Weiteren ist der Umwelt- und Verbraucherschutz verbrieft (Art. 37 f.), ferner das „Recht auf eine gute Verwaltung“ (Art. 41 Abs. 1 und 2)44 und es werden Gruppen geschützt – ältere und behinderte Menschen (Art. 25). Darüber hinaus ist – anders als im Grundgesetz und in der EMRK – in Art. 8 Abs. 1 der EU-Grundrechtecharta, das Recht auf Schutz personenbezogener Daten ausdrücklich proklamiert. Der Schutz persönlicher Daten wird mittels Auslegung des Weiteren von Art. 7 EU-GRC und dem darin garantierten Recht auf Achtung des Privatlebens umfasst, das auch in Art. 8 EMRK geschützt ist, die ebenfalls für die EU gilt.45 In Art. 8 Abs. 2 EU-Grundrechtecharta wird konkretisiert, dass diese Daten nur nach Treu und Glauben für festgelegte Zwecke und mit Einwilligung der betroffenen Person oder auf einer sonstigen gesetzlich geregelten Grundlage verarbeitet werden dürfen, ferner, dass jede Person das Recht hat, Auskunft über die sie betreffenden erhobenen Daten zu erhalten und Berichtigung der Daten zu erwirken. In Abs. 3 wird geregelt, dass die Einhaltung dieser Vorschriften von einer unabhängigen Stelle überwacht wird. 2. Das Urteil des EuGH v. 13. Mai 2014 zum „Anspruch auf Vergessen“ und auf Berichtigung personenbezogener Daten gegenüber dem Betreiber einer Internetsuchmaschine (Google) Außer der EU-Grundrechtecharta wird der Schutz persönlicher Daten durch das Sekundärrecht der EU garantiert, so durch die Richtlinie 95/46/EG46, die den Schutz der Grundrechte und der Privatsphäre natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten zum Inhalt hat. Gestützt auf diese Richtlinie hat der EuGH am 13. Mai 2014 eine für den Datenschutz in der EU entscheidendes Urteil in einem Vorabentscheidungsverfahren47

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Dazu Wittinger, in: Obermayer/Funke-Kaiser (Hrsg.), Kommentar zum VwVfG, 4. Aufl. 2014, Einl., Rn. 93 ff. 45 Dazu Art. 6 Abs. 2 und 3 EUV. 46 Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates v. 24. 10. 1995 (ABl. L 281, S. 31). 47 Art. 267 AEUV.

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gegen Spanien gefällt.48 Zugrunde lag die Beschwerde eines spanischen Staatsbürgers bei der spanischen Datenschutzagentur gegen die Herausgeberin einer spanischen Tageszeitung sowie gegen Google Spanien und Google Inc. Der Beschwerdeführer machte geltend, dass bei der Eingabe seines Namens in der Suchmaschine (Google Search) Links zu einer Tageszeitung von 1998 angezeigt werden, worin über die Pfändung wegen Schulden des Beschwerdeführers bei der Sozialversicherung und über die angekündigte Versteigerung seines Grundstücks berichtet wurde. Er beantragte u. a., Google Spain oder Google Inc. anzuweisen, ihn betreffende personenbezogene Daten zu löschen und zu verbergen, so dass diese weder in den Suchergebnissen noch in den Links zu der Tageszeitung erscheinen. Er stützte sich darauf, dass die Pfändung, von der er betroffen war, seit Jahren vollständig erledigt sei und keine Erwähnung mehr verdiene. Der EuGH hat zugunsten des betroffenen Staatsbürgers geurteilt und entschieden49, dass nach der Richtlinie 95/46/EG eine betroffene Person verlangen kann, dass Links zu Internetseiten aus einer Ergebnisliste gelöscht werden, weil die Person wünscht, dass die über sie enthaltenen Informationen nach einer gewissen Zeit „vergessen“ werden. Die Links müssen gelöscht werden, wenn festgestellt wird, dass zum aktuellen Zeitpunkt die Einbeziehung der Links nicht mit der Richtlinie vereinbar ist. Dies gilt auch, wenn Daten ursprünglich rechtmäßig verarbeitet wurden, wozu auch der Verweis auf Informationen gehört, die bereits von anderen Medien, wie hier der Zeitung, veröffentlicht wurden. Denn im Laufe der Zeit kann diese Verarbeitung der Daten nicht mehr im Einklang mit den Bestimmungen der Richtlinie stehen. Dies ist der Fall, wenn die Daten in Hinblick auf die Umstände des Einzelfalles, vor allem in Anbetracht der verstrichenen Zeit, den Zwecken für die sie verarbeitet wurden, nicht oder nicht mehr erheblich sind. Die betroffene Person kann sich dann direkt an den Suchmaschinenbetreiber wenden und die Löschung der Informationen aus der Ergebnisliste verlangen. Gibt der Betreiber dem Antrag nicht statt, kann sich der Betroffene an eine Kontrollstelle oder das zuständige Gericht wenden, damit diese den Betreiber anweisen, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen. Der EuGH postuliert damit nicht schlechthin einen generellen „Anspruch auf Vergessen“, sondern er nimmt insgesamt eine Abwägung der betroffenen Interessen vor. Er berücksichtigt einerseits das wirtschaftliche Interesse des Suchmaschinenbetreibers, den Anspruch der Öffentlichkeit bzw. des Internetnutzers auf Zugang zu Informationen und andererseits das Recht der betroffenen Person auf Schutz ihrer persönlichen Daten und ihrer Privatheit. Dabei berücksichtigt er die Umstände des Einzelfalls, wie die verstrichene Zeit und den Zweck der Verarbeitung der Daten. Im konkreten Fall überwogen für den EuGH die Rechte des Betroffenen gegenüber denen 48 Rs. C-131/12 Google Spain SL, Google Inc./Agencia Espanola de Protectión de Datos, Mario Costeja Gonzá-les, abrufbar über www.curia.europa.eu, abgedruckt z. B. in EuGRZ 2014, 320 ff. Zum Urt. auch: Kühling, NVwZ 2014, 681 ff.; Boehme-Neßler, NVwZ 2014, 825 ff. 49 Rs. C-131/12, ibidem, insbesondere Rn. 66 ff. (76 ff.).

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des Internetbetreibers sowie gegenüber denen der Öffentlichkeit und der Internetnutzer. Eine Ausnahme vom „Anspruch auf Vergessen“ kann laut EuGH aber bei besonderen Gründen vorliegen, etwa wenn es sich bei der Person um eine des öffentlichen Lebens handelt und ein überwiegendes Interesse der Öffentlichkeit und Nutzer des Internets am Zugang zu diesen Informationen besteht. Der EuGH hat damit im Ergebnis die Rechte von Privatpersonen am Schutz persönlicher Daten gestärkt. Dieser Schutz besteht danach nicht mehr nur gegenüber staatlichen Institutionen, sondern auch gegenüber den Betreibern von Suchmaschinen als den heutigen „Herrschern“ über private Daten und gerade gegenüber Google. Wie schlagkräftig dieses „Recht auf Vergessen“ in der Praxis sein wird, wie es von den deutschen Kontrollbehörden, etwa den Datenschutzbeauftragten, umgesetzt wird und wie ggf. Gerichte den Anspruch bejahen, falls Internetbetreiber eine beantragte Löschung verweigern, kann erst die Zukunft zeigen. Google immerhin hat mit der Umsetzung der EuGH-Rechtsprechung begonnen und seinen Nutzern ein Internet-Formular zur Verfügung gestellt, mit dem sie die Entfernung von personenbezogenen Daten beantragen können, wenn sie „gegen Europäisches Datenschutzrecht“ verstoßen.50

50 Dazu https://support.google.com/legal/contact/lr_eudpa?product=websearch (Stand 4. 12. 2014).

Zur Verfassungsmäßigkeit von Einschränkungen der Berufsfreiheit durch Marktregulierungen auf der „Dritten Ebene“ des Bundesstaates Von Thomas Würtenberger, Freiburg Die Grundrechte der Berufsfreiheit und des Eigentums gehören zu den Eckpfeilern der Wirtschaftsverfassung, die nach den Verfassungsgrundsätzen der Rechtsstaatlichkeit, der Demokratie, der Bundesstaatlichkeit und der Umweltstaatlichkeit einfachrechtlich auszugestalten ist. Im Rahmen dieser und darüber hinaus der unionsrechtlichen Vorgaben können Marktregulierungen erfolgen, die u. a. mit Zulassungsschranken oder Höchstkontingenten die Gemeinwohlverträglichkeit der wirtschaftlichen Betätigung sichern oder aber der Daseinsvorsorge verpflichtet sind. Im Grundsatz ist gegen die Verhältnismäßigkeit derartiger Eingriffe in die Berufsund Eigentumsfreiheit nichts zu erinnern. Kritischer Prüfung bedarf es jedoch, wenn Marktregulierungen nur einigen „beati possidentes“ den Zugang zum Markt offen halten, hingegen anderen Personen den Marktzugang verweigern. I. Die Problematik von Marktregulierungen auf der Dritten Ebene des Bundesstaates Die verfassungsrechtliche Problematik von Marktregulierungen auf der Ebene der Kooperation zwischen den Bundesländern, also der Dritten Ebene des Bundesstaates, betrifft neben der Zulässigkeit entsprechender Grundrechtseingriffe die vorausliegende Frage nach ihrer demokratischen Legitimation. Für gewöhnlich bedarf die demokratische Legitimation grundrechtsbeschränkender Gesetze keiner besonderen Erörterung. Werden derartige Regelungen durch den Bundes- oder Landesgesetzgeber in einem verfassungskonformen Gesetzgebungsverfahren erlassen, sind sie zweifelsfrei demokratisch legitimiert. Anders verhält es sich aber, wenn eine grundrechtsbeschränkende Marktregulierung durch Kooperation der Bundesländer auf der Dritten Ebene der Bundesstaatlichkeit1 ins Werk gesetzt wird. Insbesondere wenn das Re1 Dieser Beitrag vertieft einen Themenkreis, mit dem sich der Autor in einem Rechtsgutachten zu den verfassungsrechtlichen Grenzen der Dritten Ebene im Bundesstaat befasst hat. Zu deren verfassungsrechtlichen Statthaftigkeit: Jost Pietzcker, Zusammenarbeit der Gliedstaaten im Bundesstaat, Landesbericht der Bundesrepublik Deutschland, in: Starck (Hg.), Zusammenarbeit der Gliedstaaten im Bundesstaat, 1988, S. 17 ff., 20 ff.; Walter Rudolf, Kooperation im Bundesstaat, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, 3. Aufl. 2008, § 141 Rn. 92 ff.; Janbernd Oebbecke, Verwaltungszuständigkeit, in: Isensee/

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gulierungsrecht mit objektiven Zulassungsbeschränkungen2 und damit mit äußerst gewichtigen Eingriffen in die Berufsfreiheit arbeitet, muss die demokratische Legitimation gewährleistet sein. Dass sich diese auf der „Dritten Ebene“ der Länderkooperation nicht einfach erreichen lässt, steht dem nicht entgegen. Denn nicht das Demokratieprinzip findet seine Grenzen an den Möglichkeiten horizontaler Kooperationsmodelle, sondern die Kooperationsmodelle am Demokratieprinzip. Daraus folgt: Eingriffe in die Berufsfreiheit, die sich mit den gesetzten Anforderungen des Demokratieprinzips nicht vereinbaren lassen, sind verfassungswidrig. Eng verknüpft mit den Problemen der demokratischen Legitimation der Länderkooperation auf der Dritten Ebene ist das Entstehen einer unitarischen Länderverwaltung, die nicht mit dem Bundesstaatsprinzip vereinbar ist3. Nach Isensee sind der Bund und die Länder die alleinigen staatlichen Einheiten, die das Grundgesetz zulässt, „tertium non datur ist Verfassungsgebot. Alle staatlichen Organisationen und Funktionen müssen sich entweder dem Bund oder einem der Länder zurechnen lassen. Sie können nicht frei schwebend aus eigenem Recht bestehen“.4 Dementsprechend bestehen gegen eine Kooperation der Bundesländer, die im rechtlichen Rahmen einer von einem Land getragenen juristischen Person erfolgt oder von einem Bundesland selbst verantwortet wird, in staatsorganisatorischer Hinsicht regelmäßig keine Bedenken.5 Hingegen ist die verfassungsrechtliche Grenze einer Länderkooperation auf der „Dritten Ebene“ dann überschritten, wenn die Länder eine unitarische bundeseinheitliche Verwaltung schaffen, die praeter constitutionem als solche nach außen auftritt und deren Willensbildung durch verbindliche Mehrheitsbeschlüsse der Länder erfolgt.6 Anlass für die eben angestellten Überlegungen ist die derzeit von den Bundesländern auf den Weg gebrachte Regulierung des Glücksspielmarktes. Durch den – für

Kirchhof, ebd., § 136 Rn. 77 mit Verweis auf BVerfG NVwZ 2008, 183, 186 f.; Martin Nettesheim, Wettbewerbsföderalismus und Grundgesetz, in: FS Badura, 2005, S. 363 ff. m. Nw. 2 Eine Kontingentierung der Vermittler von Sportwetten ist als objektive Berufszulassungsregelung zu qualifizieren (vgl. BVerfGE 115, 276, 309 ff.; BVerwGE 138, 201, 208 ff.). 3 Siehe nur Chistoph Vedder, Intraföderale Staatsverträge, 1996, S. 144. 4 Josef Isensee, Idee und Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz, in: ders./Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, 3. Aufl. 2008, § 126 Rn. 172. 5 Vgl. BVerfGE 33, 303, 356 ff. zu Fragen der Verwaltungseffektivität bei grundrechtlich begründeten Schutzaufgaben; 63, 1, 39, 41 zur Begrenzung der Länderkooperation auf eng umgrenzte Verwaltungsmaterien; BVerwGE 22, 299, 307 ff.; vgl. weiter Vedder (Fn. 3), S. 146. 6 Vgl. Hartmut Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 10 Rn. 68 (zur Beachtung von Verbands- und Organkompetenzen, zum Verbot der Übertragung von Kompetenzen von Land zu Land und zur Unzulässigkeit der Institutionalisierung von Ländergremien); Christoph Degenhart, Rechtsfragen des ländereinheitlichen Verfahrens nach dem Entwurf eines ersten Staatsvertrages zur Änderung des Staatsvertrages zum Glücksspielwesen in Deutschland, S. 18, abrufbar unter www.deutscherlottoverband.de.

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einen Zeitraum von neun Jahren nicht kündbaren – Glücksspielstaatsvertrag7 wurde im Wege der horizontalen Kooperation eine ordnungsrechtlich orientierte Marktordnung geschaffen8. Besagter Vertrag wurde von der Ministerpräsidentenkonferenz der Bundesländer beschlossen und durch die Landtage ratifiziert. Ausweislich seines § 1 verfolgt der Glücksspielstaatsvertrag u. a. das Ziel, die Bevölkerung vor dem Entstehen von Glücksspielsucht und der damit verbundenen Folge- und Begleitkriminalität zu schützen, zugleich aber durch ein begrenztes Glücksspielangebot den natürlichen Spieltrieb der Bevölkerung in geordnete und überwachte Bahnen zu lenken.9 Hierzu ist u. a. in § 10a eine Experimentierklausel für Sportwetten vorgesehen. Demnach dürfen in einem Zeitraum von sieben Jahren private Anbieter Sportwetten veranstalten, allerdings wird deren Zahl auf 20 beschränkt (§ 10a Abs. 3 GlüStV). Die insoweit erforderliche Konzession wird von der Glücksspielaufsichtsbehörde des Landes Hessen, die insofern für alle Bundesländer handelt, erteilt (§ 9a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 GlüStV). Zur internen Vorentscheidung über die Konzessionsvergabe haben die Bundesländer gem. § 9a Abs. 5 S. 1 GlüStV ein Glücksspielkollegium gebildet, in das jedes Bundesland ein Mitglied entsendet (§ 9a Abs. 6 S. 2 GlüStV). Die Beschlüsse werden mit einer Mehrheit von mindestens zwei Dritteln der Stimmen seiner Mitglieder gefasst (§ 9a Abs. 8 S. 1). Sie sind für die zuständigen Behörden, vorliegend die Glücksspielaufsichtsbehörde des Landes Hessen, bei der Erteilung der Konzessionen bindend (§ 9a Abs. 8 S. 4 HS 1). Diese Kooperation der Bundesländer bei der Regulierung des Glücksspielmarktes, die wegen des Ausschlusses weiterer Marktteilnehmer den Charakter eines „closed shop“ hat, verlangt eine Präzisierung der Rahmensetzungen, die das Demokratieund Bundesstaatsprinzip der Länderkooperation auf der Dritten Ebene ziehen. Zur Orientierung wird hier zunächst die Je-desto-Formel zu Grunde zu legen sein, wonach mit zunehmender Eingriffsintensität strengere Anforderungen an die demokratische Legitimation der Grundrechtseingriffe zu stellen sind. Vor dieser Perspektive ist klärungsbedürftig, ob die Legitimationskette von der Ratifikationsgesetzgebung der Landtage, über das Glücksspielkollegium bis hin zu dem für alle Bundesländer die Konzessionen erteilenden Hessischen Ministerium des Innern und für Sport den wegen der Erheblichkeit der Grundrechtseingriffe gesteigerten Anforderungen des Demokratieprinzips zu genügen vermag. Dabei stellt sich die Vorfrage, ob die den Glücksspielstaatsvertrag umsetzenden Landesgesetze den Anforderungen des Demokratieprinzips entsprechen (II.). Weiter ist zu fragen, ob das Glücksspielkollegium als das zentrale Scharnier zwischen den Bundesländern einerseits und dem Land 7

Text abrufbar in beck-online; zu dessen Begründung vgl. Bay LT-Drs. 16/11995, S. 16 ff. Derartige Kompetenzübertragungen zur Ausübung durch Einrichtungen eines anderen Landes sind in der Staatspraxis nicht ohne Beispiel, wurden vielmehr in der Vergangenheit bereits in anderen Sachbereichen, etwa der Verwaltungs- oder Gerichtsorganisation praktiziert. Siehe hierzu die Nachweise bei Rudolf (Fn. 1), § 141 Rn. 70. 9 Zur hier nicht zu verfolgenden Frage, ob der Staat überhaupt befugt ist, „den natürlichen Spieltrieb des Menschen in geordnete Bahnen zu lenken“ vgl. Friedhelm Hufen, Staatsrecht II. Grundrechte, 3. Aufl. 2011, § 35 Rn. 55. 8

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Hessen andererseits mit dem Demokratieprinzip vereinbar ist (III.). Schließlich ist die Unitarisierung der Landesverwaltung durch die Institution des Glücksspielkollegiums unter dem Aspekt zu würdigen, ob hierdurch der erste Schritt in eine neue Ebene der Länderverwaltung getan ist, die in bundesstaatswidriger Weise die Ebenen der Bundes- und der Landesverwaltung um eine dritte Ebene unitarischer Länderverwaltung ergänzt (IV.). II. Zur demokratischen Legitimation intraföderaler Staatsverträge Intraföderale Staatsverträge10, die wie der Glücksspielstaatsvertrag von den Ländern in Landesrecht umgesetzt werden, verfügen nur über eine eingeschränkte demokratische Legitimation. Ihre Grundlage sind einstimmige Beschlüsse der Fachminister- oder Ministerpräsidentenkonferenzen, in denen der Gesetzestext festgelegt wird. Dieser kann bei den Beratungen in den Landesparlamenten nicht mehr modifiziert werden. Nur Annahme oder Ablehnung stehen dem jeweiligen Landtag zur Wahl. Dies rührt daher, dass die jeweilige Landtagsmehrheit ihren Ministerpräsidenten oder Landesminister nicht desavouieren will, man aus der Solidarität der Bundesländer nicht ausscheren möchte, zugleich aber in der Regel auch ein erhebliches Bedürfnis nach einer Regelung der betreffenden Sachmaterie besteht. Demnach lässt die exekutivisch verantwortete paktierte Gesetzgebung die parlamentarische Gestaltungsfreiheit weitgehend leer laufen. Da allerdings den Landtagen gleichwohl noch die Möglichkeit einer Ablehnung und in der Folge einer Modifizierung der intraföderalen Staatsverträge verbleibt, ist nach ganz überwiegender Ansicht auch in diesen Fällen die vom Demokratieprinzip geforderte eigenverantwortliche parlamentarische Gestaltung im Ergebnis noch gewahrt11. Den Anforderungen des Demokratieprinzips ist jedoch dann nicht genügt, wenn eine Kündigung eines Staatsvertrages für die Dauer von zwei oder mehreren Legislaturperioden der Landtage ausgeschlossen ist.12 Die vom Demokratieprinzip geforderte klare Verantwortungszuordnung lässt nur eine Herrschaft auf Zeit zu und verpflichtet den Gesetzgeber auf die Achtung der Entscheidungsfreiheit für die Zukunft.13 Die Wahlperioden von vier oder fünf Jahren gestatten es dem Bürger, durch Vergabe oder Entzug seiner Stimme die politische Richtung nach einem und für einen überschaubaren Zeitraum (neu) zu bestimmen. Dies setzt voraus, dass eine neu gewählte Parlamentsmehrheit über das bestehende Landesrecht verfü10

Zu Begriff und Systematik siehe Rudolf (Fn. 1) §141 Rn. 68 ff. Vgl. Stefan Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, 1998, S. 263 f.; zum (allgemeineren) Problem der paktierten Gesetzgebung, über das das BVerfG im Kontext des Atomausstiegs zu entscheiden haben wird, vgl. Michael Kloepfer/David Bruch, Die Laufzeitverlängerung im Atomrecht zwischen Gesetz und Vertrag, JZ 2011, 377, 380 ff. 12 Beispiele für die unterschiedlichen, die Dauer von fünf Jahren nicht überschreitenden zeitlichen Begrenzungen von Staatsverträgen sind nachgewiesen bei Vedder (Fn. 3), S. 98. 13 Vgl. hierzu BVerfGE 79, 311, 343; Reinhold Zippelius/Thomas Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl. 2008, § 10 Rn. 23. 11

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gen kann, um den im Staatsvertrag geregelten Sachbereich neu regeln zu können. Dies aber ist nach § 35 Abs. 2 S. 1 GlüStV ausgeschlossen. Die hier geregelte neunjährige Kündigungsfrist gilt bis zum 30. Juni 2021. Dies wiederum bedeutet, dass das aufgrund des Staatsvertrages von einer früheren Parlamentsmehrheit beschlossene Landesrecht von Parlamentsmehrheiten in einer späteren Legislaturperiode wegen fehlender Kündigungsmöglichkeiten nicht ohne Rechtsbruch abgeändert werden kann. Das aufgrund von Staatsverträgen gesetzte Landesrecht hätte damit eine höhere normative Qualität als sonstiges Landesrecht, was mit dem Demokratieprinzip nicht vereinbar ist. Demgegenüber mag man zu bedenken geben, dass der Landesgesetzgeber trotz des Kündigungsausschlusses nach einer Kündigung durch die Landesregierung aus wichtigem Grund14 oder auch ohne Kündigung berechtigt sei, das aufgrund des Staatsvertrages gesetzte Landesrecht mit einer lex posterior außer Kraft zu setzen. Ob man allerdings veränderte politische Mehrheiten in einem Bundesland vertragsrechtlich als wichtigen Grund ansehen kann, den langfristig geschlossenen Glücksspielstaatsvertrag zu kündigen, erscheint zweifelhaft. Denn dessen Geschäftsgrundlage war, eine die Bundesländer übergreifende Marktregulierung zu realisieren, die beim Ausscheren auch nur eines Bundeslandes hinfällig würde. Die abweichende Gesetzgebung eines Bundeslandes würde demnach dem Grundsatz der „pacta sunt servanda“ widersprechen, der fordert, dass sich die Länder an die von ihnen geschlossenen Staatsverträge halten. Dieser Grundsatz ergibt sich für Landesstaatsverträge aus dem Prinzip der Bundestreue und hat insofern seinerseits Verfassungsrang.15 Letztlich kann aber offen bleiben, wie entsprechende Konflikte zwischen dem Demokratieprinzip und dem Prinzip der Bundestreue aufzulösen sind.16 Denn alleine die faktisch vereinbarte neunjährige Kündigungsfrist, für deren Einhaltung – ob nun im Ergebnis durchgreifend oder nicht – der Grundsatz „pacta sunt servanda“ streitet, werden sich Abgeordnete künftiger Parlamentsmehrheiten in einer dem Demokratieprinzip widersprechenden Weise in ihrer politischen Gestaltungsfreiheit beschränkt fühlen. Die Regelung des § 35 Abs. 2 S. 1 GlüStV bewirkt, dass sich Abgeordnete in den Landesparlamenten über Legislaturperioden hinweg wenn möglicherweise auch nicht verfassungsrechtlich, so doch faktisch daran gehindert sehen, den Bereich des Glücksspielrechts entsprechend ihren politischen Gestaltungsvor-

14 Zum außerordentlichen Kündigungsrecht von Staatsverträgen wegen Wegfalls der Geschäftsgrundlage: StGH BW Urteil vom 17. 06. 2014, Az 1 VB 15/13, in juris, Rn. 185. 15 Isensee (Fn. 4), § 126 Rn. 166; Peter M. Huber, Aktuelle Fragen des Drei-Stufen-Tests, ZUM 2010, S. 201, 208; StGH BW Urteil vom 17. 06. 2014, Az 1 VB 15/13, in juris, Rn. 180 ff.; vgl. weiter Hartmut Bauer, Die Bundestreue, 1992, S. 362 ff. 16 Zu einer außerordentlichen Kündigung als ultima ratio nach Verhandlungen mit den anderen Bundesländern vgl. StGH BW Urteil vom 17.0 6. 2014, Az. 1 VB 15/13, in juris, Rn. 486.

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stellungen neu zu ordnen. Dies gilt umso mehr, als sich ein Rechtsstreit17 um die Berechtigung eines Landes, sich vom Glücksspielstaatsvertrag zu lösen, längere Zeit hinziehen dürfte, so dass auch aus diesem Grunde das Parlament in seiner Legislaturperiode nicht zur effektiven Kurskorrektur in der Lage wäre. Diese ganz erhebliche Beeinträchtigung freier parlamentarischer Gestaltung führt zur Nichtigkeit des § 35 Abs. 2 S. 1 GlüStV, die allerdings, um Rechtswirkungen zu entfalten, durch eine gerichtliche Entscheidung festzustellen ist.18 Solange die Nichtigkeit dieser Regelung nicht festgestellt ist, infiziert sie den gesamten Glücksspielstaatsvertrag. Daraus resultiert, dass auch die Umsetzungsgesetze, die möglicherweise von einzelnen Landesparlamenten aufgrund der Kündigungsfristen für vorerst nicht, oder nur unter Rechtsbruch abänderbar gehalten werden, nichtig sind. Denn sie teilen sich dem Landesgesetzgeber als vorerst unverrückbare Grenzen seiner politischen Willensbildung mit und verhindern damit jedenfalls faktisch eine freie und damit autonome Staatswillensbildung im Land.19 Es geht nicht an, dass die Ministerpräsidentenkonferenz von den Landesparlamenten eine offensichtlich verfassungswidrige Regelung des Kündigungsausschlusses beschließen lässt, um auf diese Weise den demokratisch gebotenen Gestaltungsspielraum der Landesparlamente auszuhebeln.20 III. Zu den Anforderungen an die Legitimations- und Kontrollketten An den Entscheidungen des Glücksspielkollegiums, etwa über die Vergabe von Konzessionen, wirken alle Bundesländer über ihren jeweiligen Vertreter (aus der für die Glücksspielaufsicht zuständigen Behörde) mit. Dies wirft die Frage auf, ob und wie ein mit Beamten der Bundesländer besetztes Gremium jene demokratische Legitimation zu vermitteln vermag, derer Eingriffe in die Berufsfreiheit zur Regulierung eines Marktes bedarf. Das Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG fordert 17 Zum Gang zum Bundesverwaltungsgericht, wenn ein Land den Anwendungsvorrang von ihm geschlossener Staatsverträge nicht beachtet: Huber, ZUM 2010, 201, 209. 18 Dirk Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, 1997, S. 44 ff. und passim; zu Klagemöglichkeiten vgl. Vedder (Fn. 3), S. 358 ff. 19 Zu dieser Zielsetzung des Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG: Siegfried Magiera, in: Sachs (Hg.), Grundgesetz, 6. Aufl. 2011, Art. 38 GG Rn. 46. 20 Dem steht nicht entgegen, dass es auch zu den Aufgaben des demokratischen Gesetzgebers gehört, über seine jeweilige Amtsperiode hinaus „Vorsorge für die dauerhafte Befriedigung von Gemeinschaftsinteressen zu treffen und damit auch die Entscheidungsgrundlagen nachfolgender Amtsträger inhaltlich vorauszubestimmen“ (BVerfGE 79, 311, 343; zur Einschränkung der Haushaltsautonomie vgl. BVerfGE 132, 195, 242). Dass Entscheidungen im Rahmen der Finanzplanung, der Staatsverschuldung oder (des Ausstiegs aus) der friedlichen Nutzung der Kernenergie die Entscheidungsgrundlagen der Politik künftiger Parlamentsmehrheiten und Regierungen mitbestimmen, steht außer Zweifel. Davon zu unterscheiden ist der Versuch, wie hier, Landesparlamente an der Ausübung ihrer Gesetzgebungskompetenz zu hindern. – Dass für völkerrechtliche Verträge ein anderes Kündigungsregime zu gelten vermag, kann außer Betracht bleiben, da sich die Grundsätze des Völkervertragsrechts auf intraföderale Staatsverträge nicht anwenden lassen.

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nicht nur auf der Ebene des Bundes und der Bundesländer, sondern auch auf der Dritten Ebene, dass jegliches staatliche Handeln vom Volk ausgehen und auf das Volk rückführbar sein muss.21 1. Anforderungen an eine klare demokratische Verantwortung Gemäß den vom Bundesverfassungsgericht immer wieder eingeforderten demokratischen Legitimations- und Kontrollketten müssen die öffentlichen „Aufgaben durch Organe oder Amtswalter unter Bedingungen wahrgenommen werden, die eine klare Verantwortungszuordnung … ermöglichen. Der Bürger muss wissen können, wen er wofür – auch durch Vergabe oder Entzug seiner Wählerstimme – verantwortlich machen kann“.22 Diese Verantwortungszuordnung wird durch die personelle Legitimation der Amtsträger, die letztlich auf das Parlament rückführbar sein muss, sowie durch die sachlich-inhaltliche Legitimation der Amtstätigkeit, die durch die Bindung der Amtsträger an die Gesetze gewährleistet ist, hergestellt. Organisationsrechtlich muss diese sachlich-inhaltliche Legitimation durch Weisungsund Aufsichtsrechte23 gesichert sein, damit über die Weisungsabhängigkeit der Amtsträger die parlamentarischen Kontrollmöglichkeiten ausgeübt werden können. Das verfassungsrechtlich erforderliche Niveau demokratischer Legitimation kann von Sachbereich zu Sachbereich variieren.24 Teile der Literatur befürworten „eine Relativierung der herkömmlichen parlamentszentrierten Demokratiekonzeption zu Gunsten offener Legitimationsmodelle, die es dem Gesetzgeber erlauben, auch andere Legitimationskomponenten, wie z. B. Effizienz, Partizipation und Entscheidungsrichtigkeit bei der Ausgestaltung der Verwaltungsorganisation, mit zu berücksichtigen, wenn und soweit ein Mindestmaß an originärer demokratischer Legitimation gewahrt bleibt“.25 So sind etwa ministerialfreie Räume als Durchbrechung des Demokratieprinzips anerkannt, wenn für zu treffende Entscheidungen von lediglich 21 Dies wird von Alexander Windhoffer, Die Neuregelung des Glücksspielrechts vor dem Hintergrund unions- und verfassungsrechtlicher Rahmenbedingungen, NJW 2012, 257, 261 völlig verkannt. 22 BVerfG NVwZ 2008, 183, 187; Bernd Grzeszick, in: Maunz/Dürig, Art. 20 GG (71. Ergänzungslieferung 2014), Rn. 140 ff. mit weit. Nw. 23 Auch auf der Dritten Ebene muss grundsätzlich zumindest Rechtsaufsicht statthaben: Eberhard Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 1998, S. 95: von Rechtsaufsicht „freigestellte Bereiche kann es nicht geben“; Isensee (Fn. 4), § 126 Rn. 173. 24 Hierzu ausführlich Hans-Heinrich Trute, Die demokratische Legitimation der Verwaltung, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 2012, § 6 Rn. 56 ff.; Schmidt-Aßmann (Fn. 23), 1998, S. 92; BVerfGE 107, 59, 91. 25 Grzeszick (Fn. 22), Art. 20 GG Rn. 149, 155 ff. (gegen alternative Legitimationsmodelle); Andreas Voßkuhle, Sachverständige Beratung des Staates, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 43 Rn. 60 m. Nw.; Matthias Ruffert, Grundfragen der Wirtschaftsregulierung, in: Ehlers/Fehling/Pünder (Hg.), Besonderes Verwaltungsrecht, Bd. 1, 3. Aufl. 2012, § 21 Rn. 31.

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geringer politischer Tragweite klare gesetzliche Vorgaben normiert sind, wenn ein besonderes Bedürfnis nach Neutralität der Aufgabenwahrnehmung besteht oder wenn Entscheidungen aufgrund einer in der Verwaltung normalerweise nicht verfügbaren Sachkompetenz sowie in Verfahren gesellschaftlicher Repräsentanz getroffen werden.26 2. Zur Ausdünnung des Legitimationsniveaus in Gemeinschaftseinrichtungen der Länder Mit dieser Argumentation lässt sich die Ausdünnung des Legitimationsniveaus in Gemeinschaftseinrichtungen der Länder legitimieren. Diese Gemeinschaftseinrichtungen sind entweder bei einer Landesbehörde eingerichtet oder als juristische Personen des öffentlichen Rechts unter der Rechtsaufsicht eines Landes organisiert. In diesen Organisationsformen nimmt eine Behörde oder eine juristische Person eines Bundeslandes Aufgaben anderer Bundesländer wahr, wobei in besonderen Gremien der Gemeinschaftseinrichtungen diesen Bundesländern Einflussmöglichkeiten eingeräumt werden:27 Nach der „Verwaltungsvereinbarung der Länder über die deutsche Film- und Medienbewertung“28 unterhält das Land Hessen im Einvernehmen mit den übrigen Bundesländern die Landesbehörde „Deutsche Film- und Medienbewertung“. Diese ist der Dienstaufsicht des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst unterstellt (Art. 1 Abs. 1 FBW-Verwaltungsvereinbarung). Die Begutachtung der Filme ist unabhängigen Sachverständigenausschüssen übertragen (Art. 4, 8 Abs. 1 FBWVerwaltungsvereinbarung). Diese entscheiden auf der Grundlage des besonderen Sachverstands ihrer Mitglieder, sie sind hierbei keinen Weisungen unterworfen. Allerdings wird die personelle Zusammensetzung der Ausschüsse durch die Bundesländer und die Kultusministerkonferenz gesteuert (Art. 5 FBW-Verwaltungsvereinbarung). Die wegen der Weisungsfreiheit bestehende Ausdünnung des Legitimationsniveaus lässt sich damit rechtfertigen, dass die Film- und Medienbewertung lediglich von geringer politischer Tragweite ist, die Entscheidungen aufgrund besonderer Sachkunde getroffen werden und über Maßnahmen der – allerdings nicht ausdrücklich geregelten – Rechtsaufsicht die Beachtung von Verfahrensregeln gesichert erscheint. Einem besonderen Rechtsregime unterliegen die aufgrund des Rundfunkstaatsvertrages gebildeten Gremien. Dies ist der Rundfunkfreiheit geschuldet, die Organisationsformen in Distanz zu staatlichen Einflussmöglichkeiten fordert. Dies wird da26 Schmidt-Aßmann (Fn. 23), S. 224 (zu Distanz schaffenden Entkoppelungen); Zippelius/ Würtenberger (Fn. 13), § 42 Rn. 14 f.; Ruffert (Fn. 25), § 21 Rn. 31 zu auf der Dritten Ebene nicht zur Verfügung stehenden Möglichkeiten parlamentarischer Einflussnahme. 27 Zu dieser „institutionellen Beteiligungsverwaltung“: Pietzcker (Fn. 1), S. 52 ff. mit Beispielen. 28 In der Fassung vom 1. 9. 2010, abrufbar in beck-online; zur Verfassungskonformität der hessischen Landesbehörde „Deutsche Film- und Medienbewertung“ vgl. BVerwG NJW 1966, 1286 f.

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durch umgesetzt, dass u. a. die in Betracht kommenden gesellschaftlichen Kräfte in den Organen von ARD und ZDF Sitz und Stimme erhalten. Die gebotene Staatsferne steht freilich einer Rechtsaufsicht über die Rundfunkanstalten nicht entgegen.29 Die durch § 35 Abs. 2 Rundfunkstaatsvertrag errichteten Kommissionen für Zulassung und Aufsicht (ZAK) sowie zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich (KEK) sind ebenso wie die Kommission für Jugendmedienschutz30 funktionell zuständige Willensbildungsorgane31 der jeweils zuständigen Landesmedienanstalten. Sie sind als Organe der Landesmedienanstalten gebildet, unterliegen jedoch keiner Rechtsaufsicht. Die gegenteilige Auffassung erscheint fragwürdig32: Zwar unterliegen die Landesmedienanstalten als solche der Rechtsaufsicht. Die bei diesen gebildeten Organe entscheiden jedoch nicht nur weisungsfrei, sondern auch verbindlich. Diese Ausdünnung der Legitimationsketten ist dadurch gerechtfertigt, dass die verfassungsrechtlich gebotene Staatsferne des Rundfunks einen ministerialfreien Raum erfordert. Jedenfalls hätten rechtsaufsichtliche Weisungsmöglichkeiten einer besonderen Regelung bedurft. 3. Demokratische Legitimation des Glücksspielkollegiums? Zu fragen ist, ob das vom Glücksspielstaatsvertrag geschaffene Glücksspielkollegium den eben vorgestellten Gemeinschaftseinrichtungen, bei denen eine Ausdünnung des Legitimationsniveaus für verfassungskonform erachtet wird, vergleichbar ist mit der Folge, dass auch insoweit eine entsprechende Absenkung der demokratischen Legitimation zulässig wäre. Dies ist anhand der organisatorischen Stellung des Glücksspielkollegiums zu beurteilen, die sich im Einzelnen folgendermaßen darstellt: Die Bundesländer entsenden in das von ihnen gebildete Glücksspielkollegium Beamte ihrer obersten Glücksspielaufsichtsbehörden. Diese Beamten unterliegen den Weisungen des jeweiligen Landesministers. Das Hessische Ministerium des Innern und für Sport ist an deren Entscheidung im Glücksspielkollegium über die Konzessionsvergabe gebunden und hat die Konzessionen in rechtsförmiger Weise auszufertigen. Das Glückspielkollegium ist damit das im Vergabeverfahren von den einzelnen zuständigen Landesministern gesteuerte, funktionell zuständige Beschlussorgan, das mehrheitlich zunächst über die Entscheidungsmatrix und auf dieser Grundlage über die Reihung der zu vergebenden Konzessionen sowie über die Ablehnung überzähliger Anträge zu entscheiden hat. 29

Vgl. § 31 ZDF-Staatsvertrag i. d. F. des 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrages. §§ 14 Abs. 6, 17 Abs. 1 Jugendmedienstaatsvertrag, abrufbar bei beck-online. 31 Begriff von Roland Bornemann, Der Jugendmedienschutz-Staatsvertrag der Länder, NJW 2003, 787, 790. 32 Marc Liesching, in: Beck’scher Online-Kommentar JMStV, Stand 12. 05. 2014, § 14 JMStV Rn. 12; Margarete Schuler-Harms, in: Hahn/Vesting, Rundfunkrecht, 3. Aufl. 2012, § 35 RStV Rn. 50; anders Martha Renck-Laufke, Was ist und was kann die KEK?, ZUM 2000, 370: Die Landesmedienanstalt „hat für die Rechtsansicht der KEK einzustehen, selbst wenn sie deren Ansicht im Einzelfall nicht für richtig hält“. 30

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Auf der Grundlage dieser normativen Ausgestaltung ist nach der organisatorischen Zuordnung des Glücksspielkollegiums zu fragen, wobei mehrere Möglichkeiten in Betracht kommen: Ist das Glücksspielkollegium ein Organ (der anderen Länder?), das in Organleihe dem Vollzug der dem Hessischen Ministerium des Innern und für Sport übertragenen Aufgaben der Regulierung des Glücksspielmarktes dient? Oder ist es ein Organ, das in die Organisation des Hessischen Ministeriums des Innern und für Sport integriert sowie dessen Aufsichts- und Weisungsrechten unterworfen ist? Wenn diese beiden Alternativen ausscheiden: Ist es ein eigenständiges Organ der Länder, für das keine Aufsichtsrechte vorgesehen sind? Die Annahme einer Organleihe zwischen Bundesländern würde voraussetzen, dass ein bestimmtes Organ des Rechtsträgers der Verwaltung eines Landes Aufgaben des Rechtsträgers der Verwaltung eines anderen Landes wahrnimmt und dabei als dessen Organ handelt.33 Dabei ist das ausgeliehene Organ funktionell in die Organisation des ausleihenden Verwaltungsträgers integriert, seine Maßnahmen werden diesem zugerechnet und es unterliegt den Weisungen des ausleihenden Verwaltungsträgers. Diese Voraussetzungen sind beim Glücksspielkollegium nicht gegeben, weshalb nicht von einer Organleihe ausgegangen werden kann. Dies bereits aus dem Grunde, als das Glücksspielkollegium dem Land Hessen nicht von einem anderen Bundesland ausgeliehen wurde. Denn dies hätte nach dem Gesagten zur Voraussetzung, dass das Kollegium in die Verwaltungsorganisation eines anderen Landes eingebunden ist und dessen Weisungen unterliegt.34 Eben dies ist aber nach dem Gesagten nicht der Fall, weshalb auch nicht davon ausgegangen werden kann, dass das Gremium dem Land Hessen von einem anderen Bundesland als dessen Rechtsträger geliehen wurde. Allerdings unterliegt das Glücksspielkollegium auch nicht der Organisationsgewalt des Landes Hessen. Darunter „versteht man die Rechtsmacht zur Gründung und Auflösung sowie zur (Aus-)Gestaltung der jeweiligen Organisationseinheit(en). Davon umfasst ist die Errichtung und Einrichtung … sowie die Aufgabenzuweisung, d. i. die Begründung von Zuständigkeiten, und der Sitz“.35 Das Glücksspielkollegium ist nicht, wie die bereits genannte „Deutsche Film- und Medienbewertung“, als hessische Landesbehörde in dessen Verwaltungshierarchie integriert. Es ist vielmehr als eigenständiges Beschlussorgan der Bundesländer organisiert. Dafür streitet der klare 33 So die klassische Definition bei Hartmut Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 17. Aufl. 2009, § 21 Rn. 54; BVerfGE 63, 1, 32 f. 34 Ebenso für die rechtlich ähnlich eingerichtete Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich, die im Rundfunkstaatsvertrag von 1996 geregelt war: RenckLaufke, ZUM 2000, 369 gegen die nicht überzeugende Annahme einer atypischen Erscheinungsform der Organleihe von Stefan Hepach, Die Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich: Verselbständigungstendenzen eines Organs unter Berufung auf das rundfunkspezifische Gebot einer effizienten Konzentrationskontrolle?, ZUM 1999, 603, 606 f. 35 Matthias Jestaedt, Grundbegriffe des Verwaltungsorganisationsrechts, in: HoffmannRiem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 2012, § 14 Rn. 58 m. Nw.

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Wortlaut des Gesetzes: § 9a Abs. 5 S. 1 und Abs. 6 S. 1 GlüStV sprechen vom „Glücksspielkollegium der Länder“. Die Länder also, nicht aber das Land Hessen, sind Zuordnungssubjekte des Glücksspielkollegiums. In diesem Sinne geht auch die Begründung zum Glücksspielstaatsvertrag davon aus, dass das Glücksspielkollegium für jene Landesbehörden entscheidet, die nach außen für die jeweiligen Länder zuständig sind.36 Für die vom Glücksspielstaatsvertrag intendierte Eigenständigkeit des Glücksspielkollegiums streitet ferner, dass es über eine eigene Geschäftsstelle verfügt. Diese wird nicht vom Land Hessen, sondern von den Ländern37 gebildet und eingerichtet (§ 9a Abs. 7 S. 1 GlüStV). Dass die Geschäftsstelle der Organisationsgewalt der Länder unterliegt und nicht organisationsrechtlich in das Hessische Ministerium des Innern und für Sport integriert ist, ergibt sich aus § 17 Abs. 1 der Verwaltungsvereinbarung über die Zusammenarbeit der Länder bei der Glücksspielaufsicht: „Die Länder unterhalten beim hessischen Ministerium des Innern und für Sport eine Geschäftsstelle, die die Tätigkeit des Glücksspielkollegiums …. unterstützt“.38 Daraus folgt, dass Hessen als Sitzland der Geschäftsstelle nicht bestimmen kann, bei welchem Ministerium diese organisatorisch angebunden werden soll. Darüber hinaus bestimmen die Länder die Zuständigkeiten dieser Geschäftsstelle. Sie hat unter anderem zur Aufgabe, die Beschlüsse (einschließlich ihrer Begründung) des Glücksspielkollegiums vor- und nachzubereiten (§ 17 Abs. 2 Nr. 3 der Verwaltungsvereinbarung über die Zusammenarbeit der Länder bei der Glücksspielaufsicht). Aus der Gesamtschau dieser Regelungen ergibt sich, dass weder das Glücksspielkollegium noch seine Geschäftsstelle organisationsrechtlich in die hessische Verwaltungshierarchie integriert werden konnten.39 Indem das Glücksspielkollegium damit nicht der Organisationsgewalt des Landes Hessen unterfällt, unterscheidet es sich von den bisher bekannten Gemeinschaftseinrichtungen der Länder. Diese sind, wie gezeigt, entweder in die Verwaltungshierarchie eines Bundeslandes integriert oder aber als juristische Personen des öffentlichen 36

Bay LT-Drs. 16/11995, S. 28. Dies unterscheidet die Geschäftsstelle des Glücksspielkollegiums von der Geschäftsstelle, die für die Kommissionen nach § 35 Abs. 2 Rundfunkstaatsvertrag gebildet wird. Während nach § 35 Abs. 7 Rundfunkstaatsvertrag die Landesmedienanstalten in ihrem Organisationsbereich die Geschäftsstelle für die Organe nach § 35 Abs. 2 bilden, wird die Geschäftsstelle des Glücksspielkollegiums außerhalb des Organisationsbereichs des hessischen Ministeriums gebildet. 38 Bekanntmachung der Verwaltungsvereinbarung zwischen den Bundesländern über die Zusammenarbeit der Länder bei der Glücksspielaufsicht nach § 9 Abs. 3, die ländereinheitlichen Verfahren nach § 9a und die Einrichtung des Fachbeirats nach § 10 Abs. 1 S. 2 Glückspielstaatsvertrag vom 15. 10. 2012, Amtsblatt für Brandenburg – Nr. 48 vom 05. 12. 2012, S. 1791. 39 Dies ergibt sich im Übrigen auch aus der Regelung, dass die Geschäftsstelle eine Einrichtung ohne Rechtsfähigkeit sei, sie von den Bundesländern finanziert werde und ihre Kosten dem Sitzland der Geschäftsstelle erstattet werde (§§ 18, 19 Verwaltungsvereinbarung über die Zusammenarbeit der Länder bei der Glücksspielaufsicht). 37

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Rechts, die unter der Rechtsaufsicht eines Bundeslandes stehen, gegründet. Demgegenüber ist das Glücksspielkollegium eine auf der Dritten Ebene bislang unbekannte hybride Organisationsform: Es ist ein eigenständiges Organ der Bundesländer mit eigener Geschäftsstelle, und nicht, wie in der genannten Vorschrift des Glücksspielstaatsvertrages missverständlich formuliert, ein dem Hessischen Ministerium des Innern und für Sport dienendes Organ. Es verhält sich vielmehr gerade umgekehrt: Das Glücksspielkollegium ist das funktionell zuständige Beschlussorgan, dessen Beschlüsse sind bindend und vom Hessischen Ministerium des Innern und für Sport zu vollziehen. Das Verhältnis von Herr und Diener kann niemals so gestaltet sein, dass der Diener jenes verbindlich entscheidet, was vom Herrn zu vollziehen ist. In dieser Perspektive ist das Glücksspielkollegium das Organ, dem vom zuständigen hessischen Ministerium Dienstleistungen für den Vollzug seiner Beschlüsse erbracht werden.40 Weil demnach das Glücksspielkollegium nicht in die Behördenhierarchie der hessischen Innenverwaltung integriert ist, entscheidet es in einem ministerialfreien Raum. Eine mit Weisungsrechten verbundene Aufsicht des Hessischen Ministeriums des Innern und für Sport über das Glücksspielkollegium ist nicht vorgesehen. Sie wäre auch mit dem Bemühen der Bundesländer, die Entscheidungen des Glücksspielkollegiums von Einflussnahmen des jeweiligen Sitzlandes abzukoppeln, nicht vereinbar. Da Entscheidungen vom zuständigen hessischen Ministerium ohne weitere Kontrollmöglichkeiten vollzogen werden müssen, ist von Weisungsmöglichkeiten offensichtlich bewusst Abstand genommen worden, weil diese das Verhältnis von entscheidendem und vollziehendem Organ verkehrt hätten.41 Gewisse Einflussmöglichkeiten der Länder auf das Glücksspielkollegiums ergeben sich daraus, als diese über den zuständigen Landesminister ihren dortigen Vertretern Weisungen erteilen können. Den Anforderungen hinreichender verwaltungsinterner Kontrolle genügt dies jedoch nicht. Das jeweils zuständige Landesministerium mag zwar seinem Vertreter im Glücksspielkollegium Weisungen für seinen fachlichen Vortrag und für sein Abstimmungsverhalten erteilen. Die abschließenden Entscheidungen des Glücksspielkollegiums sind jedoch für alle Landesministerien verbindlich. Maßnahmen, die nach Beschlussfassung auf die Rechtskonformität dieser Entscheidungen hinwirken, sind ausgeschlossen. Die demokratische Legitimation des Glücksspielkollegiums lässt sich auch nicht damit begründen, dass die obersten Glücksspielaufsichtsbehörden jedes Landes mit 40

Diesen offensichtlichen terminologischen Fehlgriff des Gesetzgebers rügt ebenfalls Martin Pagenkopf, Der neue Glücksspielstaatsvertrag – Neue Ufer, alte Gewässer, NJW 2012, 2918, 2921. 41 Allerdings ist der zuständige Hessische Minister des Innern und für Sport wegen seiner Bindung an Gesetz und Recht nicht verpflichtet, offensichtlich rechtswidrige Entscheidungen des Glücksspielkollegiums zu vollziehen. Mit Weisungs- oder Aufsichtsrechten hat eine solche Blockade des Vollzugs von Entscheidungen nur wenig zu tun. Immerhin aber würde doch auf diese Weise auf die Rechtmäßigkeit von Entscheidungen des Glücksspielkollegiums Einfluss genommen.

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Weisungen an ihr Mitglied Einfluss auf Entscheidungen dieses Gremiums nehmen können. Zwar besteht auf den ersten Blick eine Legitimations- und Kontrollkette zum jeweiligen Landesvolk, da Weisungsmöglichkeiten des jeweiligen Landesministers bestehen. Diese Legitimations- und Kontrollkette bleibt jedoch lückenhaft, weil das Kollegium Beschlüsse mit einer Mehrheit von mindestens zwei Dritteln der Stimmen seiner Mitglieder treffen kann (§ 9a Abs. 8 S. 1 GlüStV). Unter dem Aspekt demokratischer Legitimation ist nicht hinnehmbar, dass Gremien im Bereich der länderübergreifenden Verwaltungskooperation mehrheitlich entscheiden, weil jene Ländervertreter, die überstimmt worden sind, für diese Entscheidung keine Verantwortung gegenüber ihrem Staatsvolk tragen können.42 So fordert denn auch Kirchhof, dass in Gremien der Kooperation zwischen den Bundesländern nur einstimmige Beschlüsse getroffen werden dürfen: „Die demokratische Rückführung auf den Willen des jeweiligen Landesvolkes kann nicht von einer Majorität aus mehreren Landesvölkern ersetzt werden“.43 Dem Einstimmigkeitsprinzip lässt sich nicht entgegenhalten, dass es sich bei der Beschlussfassung mit vorausgehender Erörterungsmöglichkeit um einen Akt (binnen-)demokratischer Willensbildung handele. Diese ist lediglich im Bereich funktionaler Selbstverwaltung durch juristische Personen des öffentlichen Rechts gestattet44; das Glücksspielkollegium als Beschlussorgan der Länder lässt sich nicht dem Bereich der demokratischen Legitimation funktionaler Selbstverwaltung durch „Verbandsvölker“ zuordnen. Wenn Mehrheitsentscheidungen gesetzlich zugelassen sind, so kann der Mangel an demokratischer Legitimation nicht dadurch geheilt werden, dass das Gremium im Einzelfall einstimmig entscheidet. Entscheidungstheoretisch ist es ein großer Unterschied, ob sich ein Landesvertreter einer Mehrheitsentscheidung in dem Wissen darum anschließt, dass durch ein konträres Abstimmungsverhalten ohnedies nichts erreicht werden kann, oder ob es in dem Bewusstsein handelt, auch aus einer Minderheitenposition eine Mehrheitsentscheidung verhindern zu können und damit seine politische Verantwortung gegenüber dem eigenen Landesvolk zu übernehmen. Blickt man auf die Praxis der Verwaltungskooperation zwischen den Ländern, so gibt es, wie gezeigt, die durch den Jugendmedienschutz-Staatsvertrag eingerichtete Kommission für Jugendmedienschutz sowie die durch § 35 Abs. 2 Rundfunkstaatsvertrag eingerichteten Kommissionen für Zulassung und Aufsicht sowie zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich, die – jedenfalls nach überwiegender An-

42 Insoweit mag man wertend auf die Rspr. des BVerfG zum Vertrag von Lissabon zurückgreifen. Auch dort wurde die Gefahr gesehen, dass durch entsprechende Mehrheitsbeschlüsse die demokratische Willensbildung auf der Ebene der Mitgliedstaaten marginalisiert wird, vgl. BVerfGE 123, 267, 341 ff. 43 Paul Kirchhof, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 83 GG Rn. 85; Klaus Stern, Staatsrecht I, 1977, S. 598; Degenhart (Fn. 6), S. 15 f., 19 ff. 44 Vgl. BVerfGE 107, 59, 92 ff. mit Anm. von Sachs, JuS 2003, 1215; zur demokratischen Legitimation durch „Verbandsvölker“ und deren Repräsentanten: Zippelius/Würtenberger (Fn. 13), § 10 Rn. 34.

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sicht – gleichfalls im Wege des Mehrheitsbeschlusses45 entscheiden und damit das überstimmte Land „fremddeterminieren“ können. Das parallele Konzept des Glücksspielkollegiums lässt sich allerdings mit diesen Kommissionen nicht vergleichen. Im Rundfunk- und Medienbereich rechtfertigt es die grundrechtlich verbürgte Pflicht zu staatsferner Organisation der Verwaltung, die demokratischen Legitimationsketten auszudünnen. Auch agieren diese Kommissionen ohnedies vielfach in einem ministerialfreien Raum, der verfassungsrechtlich gerechtfertigt zu einer Abkoppelung von staatlichen Einfluss- und Kontrollmöglichkeiten zu führen vermag. Demgegenüber wird das Glückspielkollegium im Bereich der Ordnungsverwaltung tätig, in dem bislang entsprechende ministerialfreien Räume nicht gekannt, grundrechtlich nicht erfordert und damit verfassungsrechtlich unzulässig sind. Dementsprechend ist die ordnungsrechtlich motivierte Regelung des Glücksspielmarktes einer Ausdünnung der Legitimations- und Kontrollketten nicht zugänglich. Ist sie – wie vorliegend – gleichwohl erfolgt, ist sie verfassungswidrig. IV. Zu den bundesstaatlichen Rahmensetzungen der Länderkooperation Das Grundgesetz regelt einen Dualismus von Entscheidungszentren, nämlich der Bundesorgane und der Länderorgane in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich. Die klaren kompetenzrechtlichen Abgrenzungen für die Normsetzung sowie für den Vollzug von Normen vermeiden, „dass die Verantwortlichkeit für das Handeln von Bundes- und Landesorganen entsprechend der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung verwischt wird“.46 Gleichwohl haben sich in der Staatspraxis die im Grundgesetz klar geregelten Kompetenzen von Bund und Ländern teilweise verwischt. Dies ist praktischen Erfordernissen, insbesondere der Effektivität staatlicher Verwaltung im Bundesstaat geschuldet. Eine strikte Trennung zwischen den Verwaltungsräumen des Bundes und/oder der einzelnen Bundesländer ist nicht gefordert. Wenn das Leitbild des kooperativen Föderalismus bzw. des kooperativen Bundesstaates dem Bundesstaatskonzept des Grundgesetzes zugrunde gelegt wird, so gehören kooperative Praktiken zu den Strukturmerkmalen bundesstaatlicher Ordnung.47 Die Rechtsprechung hat verschiedentlich die bundesstaatlichen Rahmensetzungen der Länderkooperation präzisiert.48 Die für das Funktionieren eines Bundesstaates erforderliche effektive Zusammenarbeit der Bundesländer kann intraföderale Übertragungen von Verwaltungsaufgaben rechtfertigen. Soweit es das Gewicht sach45 Vgl. § 17 Abs. 1 S. 2 JMStV bzw. § 35 Abs. 9 S. 2 RStV; Pietzcker (Fn. 1), S. 61 hält Mehrheitsentscheidungen nur dann für verfassungsrechtlich statthaft, wenn für die Bundesländer die Möglichkeit besteht, den Vertrag zu kündigen, – was nach dem Glücksspielstaatsvertrag, wie gezeigt, ausgeschlossen ist. 46 Rudolf (Fn. 1), § 141 Rn. 10. 47 Zur Kooperation zwischen den Ländern und mit dem Bund: Zippelius/Würtenberger (Fn. 13), § 14 Rn. 63 ff. 48 Vgl. hierzu die Darstellung bei Vedder (Fn. 3), S. 177 ff.

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licher Gründe rechtfertigt, kann die Länderkooperation und mit ihr die Ausführung von Verwaltungsaufgaben eines Bundeslandes für ein anderes Bundesland durchaus verfassungskonform sein. Dies ist etwa bei einer Kooperation der Länder im Bildungsbereich der Fall, wenn sie auf eine effektive Freizügigkeit im Bundesgebiet hinsichtlich Ausbildungsstätte und Beruf zielt, oder im Medienbereich, wenn einzelne Landeskompetenzen, wie die Veranstaltung von Fernsehen, praktisch nur länderübergreifend wahrgenommen werden können, oder ganz allgemein, wenn sie zur Optimierung der Aufgabenerfüllung einzelner Länder erforderlich erscheint.49 Die Kompetenz der Bundesländer zur Regulierung des Glücksspielmarktes gestattet eine länderübergreifende Kooperation im Bereich von Gesetzgebung und Verwaltung. Bei der Marktregulierung verbieten jedoch das Bundesstaats- und Demokratieprinzip, dass in Konkurrenz zum Bund sowie zur Verwaltung der einzelnen Bundesländer eine weitere Ebene bundeseinheitlicher Verwaltung durch die Länder geschaffen wird. Denn der Bundesstaat des Grundgesetzes duldet keine dritte staatliche Ebene, weil auf dieser die demokratische Verantwortung und rechtsstaatliche Transparenz politischen und exekutivischen Handelns nicht gewährleistet werden kann. Mit dem Glücksspielkollegium ist erstmalig eine verfassungswidrige bundeseinheitliche und damit unitarische Länderverwaltung institutionalisiert worden. Die vorstehende organisationsrechtliche Zuordnung des Glücksspielkollegiums hat gezeigt, dass dieses nicht dem Verwaltungsbereich des Landes Hessen unterfällt. Es handelt sich dabei vielmehr um eine eigenständige Institution verwaltungsmäßiger Länderkooperation, in der die Vertreter der einzelnen Landesministerien funktionell und materiell über die Konzessionsvergabe entscheiden. Hinzu kommt, dass die Höchstzahl der zu vergebenden Konzessionen variabel ist. So kann die Zahl der zu vergebenden Konzessionen durch einen Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz der Länder erhöht oder gesenkt werden (§ 4a Abs. 3 S. 2 GlüStV). Ob die Entscheidung über die Höhe des Kontingents, die für die faktische Reichweite der objektiven Berufszulassungsvoraussetzungen und damit für die Erfolgsaussichten der Bewerber von ganz wesentlicher Bedeutung ist, nicht im Glücksspielstaatsvertrag hätte getroffen werden müssen, mag an dieser Stelle dahinstehen. Jedenfalls gibt die Entscheidungshoheit der Ministerpräsidentenkonferenz, durch länderübergreifende Mehrheitsentscheidung die Zahl der Konzessionen zu verändern, einen weiteren Hinweis darauf ab, dass insoweit eine dritte Verwaltungsebene zwischen Bund und Ländern installiert wurde. Nicht nur das Glücksspielkollegium als eine Art von Repräsentativorgan der Bundesländer, auch die Ministerpräsidentenkonferenz mit der Möglichkeit, die Zahl der zu vergebenden Konzessionen festzulegen, stehen im Zentrum der verwaltungsmäßigen Marktregulierung. Bei diesem organisatorischen Ineinandergreifen von Beschlussmöglichkeiten der Ministerpräsidentenkonferenz, von verbindlicher Entscheidung des Glücksspielkollegiums, von zuständigem hessischem Ministerium als nur ausführendes Organ für die Ausferti49

BVerfGE 63, 1, 39 ff.; BVerwGE 22, 299 ff.

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gung der Konzessionen sowie der Rechtsgrundlage im hessischen sowie den gleichgeschalteten Landesgesetzen ist offensichtlich eine neue Ebene ländereinheitlicher Verwaltung geschaffen worden. Durch das Zusammenspiel von Ministerpräsidentenkonferenz, Glücksspielkollegium und den Ministerien aller Bundesländer ist ein länderübergreifendes Entscheidungszentrum gebildet worden, das sich der zuständigen hessischen Behörde bedient, um seine Entscheidungen länderübergreifend durchzusetzen. Das Glücksspielkollegium ist damit ein unitarisches Gremium, dessen Entscheidungen von Vertretern der Landesexekutiven auf der Grundlage von Mehrheitsbeschlüssen getroffen werden. Damit sind die Länder nicht mehr berechtigt, die von ihnen aufgrund des Glücksspielstaatsvertrages erlassenen Gesetze selbst auszuführen. Die Ausführung der jeweiligen Landesgesetze ist für den Bereich der Konzessionsvergabe formell an das Land Hessen delegiert, das nach dem Prinzip „einer für alle“ deutschlandweit die Konzessionen vergibt, dabei aber materiell an die Entscheidungen des Glücksspielkollegiums gebunden ist. Dies wiederum führt, um einen weiteren Kritikpunkt aufzugreifen, zu einem Verlust an eigenständig zu verantwortender Kompetenzwahrnehmung. Eine Kooperation der Bundesländer muss sicherstellen, dass Gremienentscheidungen prinzipiell auf den Verantwortungs- und Kontrollraum jedes beteiligten Landes zurückgeführt werden können.50 Nach Degenhart ist „die Verpflichtung zu eigenständiger, demokratisch verantworteter Kompetenzwahrnehmung … nicht mehr gewahrt, wenn eine sich jeweils innerhalb eines Gremiums wie dem angestrebten Glücksspielkollegium konstituierende Ländermehrheit über den Gesetzesvollzug und damit über die Wahrnehmung von Verwaltungskompetenzen entscheidet“.51 In diesem Sinne betont auch der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin, dass das Grundgesetz für Bund und Land jeweils die verfassungsunmittelbare Verantwortung für die Erfüllung der in ihrem Bereich entstehenden staatlichen Aufgaben begründet. In bestimmten Grenzen mag die Wahrnehmungsübertragung von Hoheitsrechten auf Gemeinschaftseinrichtungen statthaft sein. Dann aber muss klar erkennbar sein, in welchem Rechtsund Verfassungskreis diese Einrichtung agiert.52 Dem Rechts- und Verfassungskreis und damit der Verantwortung des Landes Hessen lässt sich das Glücksspielkollegium nicht zuordnen. Wegen seiner Zuordnung zu allen Bundesländern eröffnet es organisationsrechtlich jene dritte Ebene unitarischer Länderverwaltung, die unter dem Grundgesetz nicht statthaft ist.

50

So Pietzcker (Fn. 1), S. 57. Degenhart (Fn. 6), S. 21; Nettesheim (Fn. 1), S. 372 ff. 52 VerfGH Berlin, Beschluss vom 19. 12. 2006 – Az 45/06, Juris Rn. 34 zur Frage der getrennten Organträgerschaft der gemeinsamen Fachobergerichte Berlins und Brandenburgs. 51

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V. Ein nochmaliger Blick auf die zu schützende Berufsfreiheit Blicken wir abschließend auf die normativen Voraussetzungen der Erteilung von Konzessionen: Nach § 4b GlüStV trifft das Glücksspielkollegium die Auswahl unter mehreren geeigneten Bewerbern danach, welche nach seiner Beurteilung am besten geeignet sind. Diese Bestenauswahl erfolgt auf Grund einer Optimierung von fünf miteinander konkurrierenden Kriterien: Wer die Erreichung der Ziele des § 1 GlüStV, insbesondere den Schutz der Spieler und der Jugendlichen, gewährleistet, wer weitgehende Informations-, Einwirkungs- und Kontrollbefugnisse der zuständigen Behörden sicherstellt, wer seine nachhaltige finanzielle Leistungsfähigkeit nachweist, wer einen wirtschaftlichen Betrieb und wer die Erfüllung der Abgabenpflichten gewährleistet. Bei der Entscheidung über die Konzessionsvergabe in diesem politisch wesentlichen Gebiet ist dem Glücksspielkollegium kein Regulierungsermessen zuzugestehen.53 Davon abgesehen wird man über den Umfang der Einschätzungsprärogative des Glücksspielkollegiums bei der gradualisierten Maßstabsbildung und -anwendung54 der einzelnen heterogenen Bewertungskriterien und damit über den Prüfungsmaßstab bei der gerichtlichen Überprüfung der Konzessionsvergabe streiten können. Nicht streiten lässt sich jedoch darüber, dass der Gesetzgeber wichtige Entscheidungen im Bereich der Grundrechtsausübung, wie vorliegend die Regelung objektiver Zulassungsvoraussetzungen zu einem Beruf, hinreichend klar rechtlich regeln muss. Soweit ihm dies wegen der Komplexität der Materie nicht möglich ist, kann durch besondere Verfahrensregelungen, so etwa durch eine Art von Spruchkammerverfahren, eine gerichtsähnliche verfahrensrechtliche Legitimation ermöglicht werden.55 Dies flankierend,56 müsste durch Legitimations- und Kontrollketten gesichert sein, dass die verwaltungsmäßige Ausfüllung von Beurteilungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielräumen den Einflussmöglichkeiten von demokratisch legitimierten Organen unterliegt. Wie das erforderliche Legitimationsni53 Ein sehr fragwürdiges Regulierungsermessen ist vom Bundesverwaltungsgericht lediglich im Telekommunikationsrecht bejaht worden und kann nicht verallgemeinert werden (BVerwGE 130, 39 (48); BVerwG N&R 2008, 141, 144). Maßgeblich war u. a., dass das Beschlusskammerverfahren im Telekommunikationsrecht der Rationalität der Entscheidung diene und dass unionsrechtlich ein weiter Entscheidungsspielraum der Behörde vorgegeben sei (vgl. Ruffert (Fn. 25), § 21 Rn. 38 f.; kritisch Klaus Ferdinand Gärditz, „Regulierungsermessen“ und verwaltungsgerichtliche Kontrolle, NVwZ 2009, 1005 ff.). 54 Rainer Pitschas, Maßstäbe des Verwaltungshandelns, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, 2. Bd., 2. Aufl. 2012, § 42 Rn. 70; Thomas Würtenberger, Rechtliche Optimierungsgebote oder Rahmensetzungen für das Verwaltungshandeln?, VVDStRL 58 (1999), S. 139, 146 ff., 162 ff. 55 Kai von Lewinski, „Völlige Unabhängigkeit von Aufsichts- und Regulierungsbehörden“ – Umsetzungsmöglichkeiten für ministerialfreie Eingriffsverwaltung im deutschen Verwaltungsrecht, DVBl. 2013, 339, 342; Trute (Fn. 24), § 6 Rn. 47 f. zur prozeduralen Legitimation durch Partizipation, Öffentlichkeit, Akzeptanz, gleichmäßige Interessenwahrnehmung und Neutralitätssicherung, um die politische Gestaltung bei der Gesetzeskonkretisierung einzuhegen. 56 Vgl. Grzeszick (Fn. 22), Art. 20 GG Rn. 155 ff.

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veau zu erreichen ist, bedarf gesetzlicher Regelung. Mit dem Glücksspielkollegium jedenfalls lassen sich diese Vorgaben des Demokratieprinzips nicht einlösen. Es ist Organ eines administrativen Föderalismus57, das demokratische Legitimation ebenso wie demokratische Kontrolle unterläuft und mit einem demokratischen Bundesstaat nicht zu vereinbaren ist.

57 Zu den Gefahren eines administrativen Föderalismus: Zippelius/Würtenberger (Fn. 13), § 14 Rn. 71.

II. Öffentliche Finanzen und Haushalte

Bestandsaufnahme und Richtungsstreit der gesetzlichen Rentenversicherung im 21. Jahrhundert – Erfahrungen und Diskussionen in der Republik Korea Von Jina Cha, Seoul I. Problemstellung Das 21. Jahrhundert ist bereits 15 Jahre alt, aber der Sozialstaat scheint noch im Horizont des 20. Jahrhunderts zu stehen. Zwar waren seine Entstehung, Charakterisierung und Strukturausgestaltung im 20. Jahrhundert zustande gekommen. Trotz heftiger Auseinandersetzungen hat der Sozialstaat aber bis heute noch keine grundlegenden Änderungen im Verständnis über sein Wesen und seinen Charakter erfahren. Im Mittelpunkt der Debatten über den Sozialstaat stehen heute die Unterschiede in Art und Weise sowie dem Ausmaß seiner Verwirklichung, nicht aber in seinem Wesen oder in seinem normativen Charakter. Bei der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) als Ausdruck der Sozialstaatlichkeit verhält es sich nicht anders. Ihre konzeptionellen Vorstellungen in der Gegenwart weichen von denen in der Zeit des gesamtwirtschaftlichen Aufschwungs bei stabiler Erwerbsbevölkerungsrate ab. Auf Basis der optimistischen Annahme einer ständigen gesamtwirtschaftlichen Prosperität hatte man sich vorgestellt, dass die Verteilung der Früchte des Wirtschaftswachstums eine ausreichende Sicherung des Lebensstandards im Alter ermöglichen und die Rentner nach den Erwerbszeiten ihren Lebensabend genießen lassen werde. Tatsächlich stößt das Wirtschaftswachstum heutzutage deutlich an seine Grenzen, wobei es nicht von einer steigenden Beschäftigungsrate begleitet wird. Deshalb zeigen sich die Leistungsreduzierung und die Steigerung der Lasten im Allgemeinen bei den sozialen Sicherungen einschließlich der GRV immer deutlicher. Diese Entwicklung könnte dazu führen, dass der Traum vieler Rentner von einem rosigen Lebensabend zerplatzen wird. Aber es sollte dabei nicht übersehen werden, dass die GRV einen eigenartigen Charakter aufweist, der sie von den anderen sozialen Sicherungen unterscheidet. Vor allem hat die GRV neben dem Charakter als Sorge für die im Alter nicht erwerbstätigen Menschen auch den Charakter, die während der Erwerbszeiten angesparten Einkommen im Nachhinein auszuzahlen.1 Daher sollte das Recht auf die Rentenleistung so verstanden werden, dass es nicht bloß den Charakter eines Teilhaberechts auf 1

KVerfGE 1995.7.21. 94Hun-Ba27, 29; 2005.10.27. 2004Hun-Ka20.

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Sozialleistung (bzw. sozialen Grundrechts),2 sondern auch den eines verfassungsrechtlich gewährleisteten Eigentums hat.3 Die GRV sollte daher zwar in der allgemeinen Struktur des Sozialstaates aber auch unter Berücksichtigung ihrer Eigenarten4 betrachtet werden. Das Rechtssystem der Republik Korea steht unter dem starken Einfluss des deutschen Rechtssystems.5 Bei der GRV verhält es sich nicht anders, obwohl die Unterschiede der gesellschaftlich-wirtschaftlichen Verhältnisse nicht übersehen werden sollten. Aus rechtsvergleichender Sicht ist es deshalb sehr aufschlussreich und für beide Staaten hilfreich zu beleuchten, wie sich die Sozialversicherungssysteme, insbesondere die koreanische GRV, im Umgang mit dem globalen Problem der Wachstumsgrenze und der Bevölkerungsalterung entwickelt und gewandelt haben. Ebenso ist es von großer Bedeutung zu ermitteln, in welche Richtung die koreanische GRV entwickelt werden sollte. In diesem Zusammenhang sind die Bedeutung und die Bedingungen der GRV einerseits in der allgemeinen Struktur des Sozialstaates und andererseits unter Berücksichtigung ihrer Eigenarten zu beleuchten (II.). Danach sollen der Wandel der gesellschaftlich-wirtschaftlichen Gegebenheiten und seine Auswirkungen auf den Sozialstaat und die GRV im 21. Jahrhundert betrachtet werden (III.). Auf dieser Grundlage sollen Entstehung und Entwicklung sowie Reformen der koreanischen GRV (die Bürgerrentenversicherung: BRV) überblickt werden (IV., V.). II. Die GRV im 20. Jahrhundert und ihre sozialstaatliche Grundlage 1. Bedeutung und Funktionen der GRV im Sozialstaat Die GRV, die wegen der Auflösung des traditionellen Versorgungssystem durch die Industrialisierung und nach dem stetigen Anstieg des Durchschnittsalters mit Hilfe der medizinischen Entwicklung am Anfang für Arbeitnehmer entstand,6 2 Das Recht auf Sozialleistung wird unter der Koreanischen Verfassung im Grunde als ein soziales Grundrecht verstanden. Vgl. Jina Cha, Sozialstaatliche Gebote und Besteuerung – Verwirklichung der sozialstaatlichen Gebote durch den Steuergesetzgeber in der Bundesrepublik Deutschland und in der Republik Korea, Diss. Saarbrücken 2005, S. 18 ff. 3 KVerfGE 2009.9.24. 2007Hun-Ma1092; BVerfGE 69, 272 (300 ff.). 4 Hierzu vgl. unten II. 2. 5 Zur Rezeption des deutschen Rechtssystems in das koreanische Recht, vgl. Young-Soo Chang, Streitbare Demokratie – Begriff und Bedeutung im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und Möglichkeiten und Grenzen einer Übertragung auf das Verfassungsrecht der Republik Korea, Diss. Frankfurt (M) 1990, S. 193. 6 Hierzu Fuchs/Preis, Sozialversicherungsrecht: Lehrbuch für Studium und Praxis, 2. Aufl., Köln 2009, S. 697 f.; Ruland, Gesellschaftliche Veränderungen und Rentenversicherung, in: ders./von Maydell/Papier (Hrsg.), Festschrift für Hans F. Zacher zum 70. Geburtstag, Heidelberg 1998, S. 835 ff. (850).

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aber allmählich auf einen größeren Personenkreis erweitert7 und weltweit verbreitet wurde,8 gewinnt hinsichtlich des dramatischen Verlaufs der Bevölkerungsalterung im 21. Jahrhundert besondere Bedeutung. Ferner werden die Beschäftigungsmöglichkeiten in den Industrieländern im Zuge der Wirtschaftsglobalisierung immer kleiner, wobei die erwirtschafteten Höchst- und Niedrigeinkommen eine immer größere Differenz aufweisen, was einen Schluss auf eine tendenzielle Verschärfung von Ungleichheit in der Einkommensverteilung zulässt. In der Folge sind nicht erwerbstätige Alte in immer größerem Maße auf staatliche Sorge angewiesen. Zudem ist zu berücksichtigen, dass der Staat nicht in der Lage ist, ausschließlich durch öffentliche Finanzmittel dem einzelnen Bürger im Alter eine angemessene Lebenssicherung zu gewähren. Unter diesem Aspekt ist die GRV, die dem Staat seine finanziellen Lasten durch die Beiträge der Versicherten erheblich erleichtert und damit das relativ hohe Sicherungsniveau ermöglicht,9 von zentraler Bedeutung für die Altersvorsorgesysteme. Sie ist zurzeit, freilich in den Staaten mit einem Sozialversicherungssystem unter den Altersvorsorgesystemen,10 zur unabdingbaren Voraussetzung für eine menschenwürdige Lebensführung geworden. In diesem Zusammenhang sind ihre gerechte Ausgestaltung und die hinreichende Entfaltung ihrer Funktionen so wichtig, dass sie die Grundlage nicht nur des sozialen Sicherungssystems sondern auch des Fortbestands der Staatsgemeinschaft selbst bilden. Hinsichtlich ihrer Stellung und Bedeutung im Sozialstaat sollte die GRV in seiner Verwirklichungsstruktur und nicht von seinen anderen Konkretisierungsapparaturen, insbesondere nicht von den anderen sozialen Sicherungen isoliert, sondern in wechselseitigen Beziehungen dazu betrachtet werden, um ihre Bedeutung und Funktion richtig zu verstehen. In diesem Zusammenhang verlangen die jeweiligen wirtschaftlich-gesellschaftlichen Verhältnisse als Verwirklichungsvoraussetzungen des Sozialstaates eine sorgfältige und präzise Analyse und Wertung. Insbesondere kann der enge Zusammenhang zwischen der Verwirklichung des Sozialstaates und dessen finanzieller Grundlage nicht überbetont werden. Im Gegensatz zur steuerfinanzierten Sozialhilfe ohne Eigenleistung der Leistungsempfänger stellt die GRVeine repräsentative Sozialversicherung dar,11 die im Wesentlichen durch Versicherungsbeiträge finanziert wird. Sie ist ein Mittel des sozialen Sicherungsnetzes für die nicht erwerbstätigen Alten und bezweckt im Grunde die Einkommenssicherung im Alter.12 7

Hockerts, Vom Problemlöser zum Problemerzeuger?, in: Boll/Kruke (Hrsg.), Der Sozialstaat in der Krise – Deutschland im internationalen Vergleich, Dietz 2008, S. 10 f. 8 Butterwegge, Krise und Zukunft des Sozialstaates, 5. Aufl., Wiesbaden 2014, S. 28; Fuchs/Preis, a. a. O., S. 697 f.; Hockerts, a. a. O., S. 10. 9 Cha, The constitutional meaning and structure of realization of the public health insurance, in: Korea Law Review Vol. 57 (2010), S. 250 f. 10 Hierzu Ebbinghaus/Schulze, Krise und Reform der Alterssicherung in Europa, in: Boll/ Kruke (Hrsg.), a. a. O., S. 269 ff. 11 Eichenhofer/Rische/Schmähl, Handbuch der gesetzlichen Rentenversicherung SGV VI, 2. Aufl., Köln 2012, S. 265. 12 Eichenhofer/Rische/Schmähl, a. a. O., S. 273 f.

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Die sozialstaatlichen Gebote, die in der Weimarer Reichsverfassung von 1919 zum ersten Mal auf verfassungsrechtlicher Ebene verankert wurden, haben sich nach dem Zweiten Weltkrieg weltweit ausgebreitet und sind als allgemeingültig anerkannt worden.13 Jedoch variieren die Art der Umsetzung sowie deren Reichweite, Gestaltung und Niveau der sozialen Sicherung je nach den gesellschaftlich-wirtschaftlichen Verhältnissen und der Akzeptanz der jeweiligen Rechtsgemeinschaft.14 Bei der GRV verhält es sich nicht anders. Als eine tragende Säule der Altersvorsorgesysteme ist sie zwar weltweit anerkannt. Ihre konkrete Gestalt und ihr Sicherungsniveau weisen jedoch nicht wenige Unterschiede in verschiedenen Staaten auf. 2. Wirtschaftliche Grundlage der GRV Die GRV gehört zu den Sozialversicherungen, die den einzelnen Versicherten grundsätzlich die Einbeziehung und die langfristig dauerhafte Auszahlung des Beitrages aufzwingen und beim Eintritt der zu deckenden sozialen Risiken dem einzelnen Berechtigten Leistungen gewähren.15 Ihre finanzielle Lage, wie auch die der anderen hängt vom Wirtschaftswachstum und vom Verhältnis der Beitragszahler zu den Rentnern ab.16 Die gesamtwirtschaftliche Schrumpfung einerseits und die anhaltende Tendenz zur Abnahme des Anteils der erwerbstätigen Bevölkerung sowie zur Steigerung des Anteils der Sozialleistungsempfänger im Verlauf des demographischwirtschaftlichen Wandels andererseits haben negative Auswirkungen auf die finanzielle Grundlage des Sozialstaates überhaupt und infolgedessen auf die der Sozialversicherungen, indem sie in den miteinander verschränkten Wechselwirkungen die Beitragseinnahmen senken und zugleich die Leistungsausgaben steigern.17 Aber dieser Einfluss zeigt sich bei der GRVam deutlichsten und am tiefgreifendsten, weil die GRV in folgenden Gesichtspunkten diesen finanziellen Variablen in umfassenderer Weise ausgesetzt und für eine Veränderung dieser Variablen anfälliger als andere Sozialversicherungen ist. Zunächst umfasst die GRV im Gegensatz zu den Arbeiterversicherungen, wie etwa der gesetzlichen Unfallversicherung und der Arbeitslosenversicherung, fast alle Bürger. Ferner realisiert sich das durch die GRV zu deckende soziale Hauptrisiko, d. h. das Erreichen der Altersgrenze bei den meisten Versicherten in absehbarer Zukunft, zumal die durchschnittliche Lebenserwartung nach anhaltender Tendenz immer weiter ansteigt. Dagegen ist das Auftreten des Versicherungsfalls, z. B. bezüglich des Ob, Wann und welcher Krankheit in der gesetzlichen Krankenversicherung zufälliger und nicht vorhersehbar. In diesem Zusammenhang ist die Anwartschaft auf 13

Näher hierzu Cha, a. a. O. (2005), S. 12 f. Hierzu Cha, Conditions of the welfare state and the general direction of the national pension system reform, Korea Law Review Vol. 56 (2010), S. 293 ff. 15 Eichenhofer/Rische/Schmähl, a. a. O., S. 265 ff. 16 Döring, Sozialstaat in der Globalisierung, Frankfurt (M) 1999, S. 26 ff. 17 Hauser, Zukunft des Sozialstaates, in: von Maydell/Ruland/Becker (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch (SHR), 4. Aufl., Baden-Baden 2008, S. 204 ff. 14

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die Rentenleistung von höherer Wahrscheinlichkeit und konkreter als auf die der anderen Sozialversicherungsleistungen. Des Weiteren dauert die Gewährung der Rentenleistungen in der Regel ohne Unterbrechung bis zum Tod der Versicherten bzw. deren Hinterbliebenen an, wenn sie beim Eintritt des Versicherungsfalls, d. h. beim Erreichen der Altersgrenze, einmal beginnt. Letzten Endes zielt die GRV darauf, das Alterseinkommen (entweder für sich allein oder zusammen mit der staatlich geförderten privatrechtlichen Altersvorsorge) zu sichern.18 In der Zeit der Gesamtwirtschaftsschrumpfung könnte das Rentenniveau auch dementsprechend abgesenkt werden. Im Gegensatz dazu ist es bei der Krankenversicherung nicht möglich, die Leistungshöhe bei sich verschlechternder Wirtschaftslage entsprechend zu senken, weil dabei unmittelbar Leben und Gesundheit berührt werden können.19 Angesichts dieser Eigenarten der GRV steht sie im Vergleich zu den anderen Sozialversicherungen unter dem stärksten Einfluss der jeweils herrschenden gesellschaftlich-wirtschaftlichen Verhältnisse und ist ihre finanzielle Grundlage von besonderer Bedeutung. Diese sollte deshalb präzise und realitätsgerecht bewertet werden. Andernfalls muss ihre Nachhaltigkeit verloren gehen. 3. Sozialer Konsens als Grundlage der GRV Zurzeit scheint der wirtschaftlich-demographische Strukturwandel unausweichlich und unumkehrbar. Die Leistungsfähigkeit des Sozialstaates ist begrenzt. In dieser Lage muss der Spielraum der Sozialpolitik eingeschränkt werden. Die wichtigste Frage, die dem Sozialstaat im 21. Jahrhundert gestellt wird, ist, gerechte Wege zu seiner Weiterentwicklung unter diesen geänderten Bedingungen zu suchen. Der Kern der Probleme liegt in der Abnahme der Einnahmen und in der Zunahme der Ausgaben für Sozialleistungen wegen der Wirtschaftswachstumsschwäche, der sinkenden Erwerbsbevölkerung und der steigenden Anzahl der Sozialleistungsempfänger. Hinsichtlich dieser Situation sollten begrenzte Mittel effizient ver- und zugeteilt werden. Das Entscheidende in diesem Zusammenhang ist der demokratische Konsens der Bürger für die Verwirklichung des Sozialstaates. Der Sozialstaat wird als das dritte Verfassungsprinzip bezeichnet.20 Dies liegt darin begründet, dass er den demokratischen Rechtsstaat nicht ersetzt, sondern er auf ihn, nämlich auf dessen Legitimität und Prozess angewiesen ist.21 Er gibt zwar dem Staat, primär dem Gesetzgeber, die an der sozialen Gerechtigkeit orientierten Ziele, jedoch keine konkreten Richtlinien für die zu ergreifenden Maßnahmen und ihren Umfang vor. Die Antworten auf die Fragen, auf welche Art und Weise 18

Eichenhofer/Rische/Schmähl, a. a. O., S. 273 f. Cha, Constitutional grounds and constitutionality of restriction on the social security benefit rights – In focus on restriction on the social insurance rights, Korean Social Security Law Vol. 2 No.2 (2013), S. 34. 20 Chang, Verfassungslehre, 8. Aufl., Seoul 2014, S. 215 ff. 21 Cha, a. a. O. (2005), S. 25. 19

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sowie in welchem Ausmaß sozialstaatliche Gebote zu verwirklichen sind, folgert sich nicht aus dem Sozialstaatsprinzip selbst. Sie hängen eher von dem demokratischen Konsens und dem rechtsstaatlichen Prozess ab.22 Auch die Frage, ob und wie weit der Sozialstaat fortschreiten oder rücklaufen sollte, wird auch deshalb im Rahmen des demokratischen Rechtsstaates beantwortet. Die umfassenden Einschränkungen der Sozialleistungen nach der Wiedervereinigung in der Bundesrepublik Deutschland und die unter Betonung der Lastenverteilung ergriffenen Reformmaßnahmen im Arbeitsmarkt während der IWF-Wirtschaftskrise in der Republik Korea sollten, abgesehen von der Wertung über ihre Folgen, in diesem Zusammenhang beispielhaft verstanden werden. Die GRV wird ständig solchen Problemen gegenüber gestellt. Ihre Gestaltung und die Richtung der Problemlösungen variieren im Grunde je nach dem Versicherungsziel, d. h. der Existenzminimumssicherung bzw. der Vermeidung von Armut im Alter oder der Lebensstandardsicherung bzw. der Sicherung des früheren Einkommensniveaus. Dabei übt das von den Bürgern erwartete Leistungsniveau nicht minder Einfluss aus, weil die meisten Bürger bereits gegenwärtig Rentner sind oder in absehbarer Zukunft sein werden. Nicht zu übersehen ist dabei die Gefahr, dass der politische Populismus in den Vorgang der sozialen Konsensbildung einfällt. Wenn Politiker etwa die Senkung der Sozialversicherungsbeiträge, die Steigerung des Rentenniveaus oder die Einführung der steuerfinanzierten Grundbürgerrente für alle Bürger ohne Überlegungen über die Finanzierbarkeit im Wahlkampf versprächen, dann erschütterte dies die Wurzeln des Sozialstaates. Der demokratische Konsens über die Weise und das Ausmaß der Verwirklichung des Sozialstaates sollte unter sorgfältiger Berücksichtigung der Begrenztheit der Mittel bzw. Güter die Prioritäten gerecht setzen. III. Wandel des Sozialstaates und das Dilemma der GRV im 21. Jahrhundert 1. Wirtschaftlicher Wandel und Krise des Sozialstaates Der untrennbare Zusammenhang zwischen dem Sozialstaat und dem Wirtschaftswachstum ist seit langem anerkannt. Je größer (geringer) das Wirtschaftswachstum ist, desto mehr (weniger) Möglichkeiten zur Erhöhung des Sozialleistungsniveaus gibt es.23 In der Zeit des Wirtschaftsaufschwungs in westeuropäischen Ländern herrschte die optimistische Ansicht, dass ein stetiges Wirtschaftswachstum es ermögliche, durch eine angemessene Verteilung seiner Errungenschaften den Sozialstaat hinreichend und mit weniger Spannung bei der (Um-)Verteilung zu finanzieren. Je höher das Wachstum der Gesamtwirtschaft ist, desto mehr nehmen staatliche Einnahmen, insbesondere Steuer- und Versicherungsbeitragseinnahmen, zu. Aber wenn das Wirtschaftswachstum an seine Grenzen stößt, stagniert oder sogar rückläufig 22 23

Cha, a. a. O. (2005), S. 25. Ruland, a. a. O., S. 835 ff.

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ist,24 erschüttern diese wirtschaftlichen Schwierigkeiten die finanzielle Grundlage des Sozialstaates. Je langfristiger und struktureller die Wirtschaftswachstumsschwäche ist, desto besorgniserregender wird die Schwäche der Leistungsfähigkeit des Sozialstaates. Darüber hinaus hat der Wandel des Arbeitsmarkts den Sozialstaat vor neue Aufgaben gestellt, die im bisherigen Rahmen nicht gerecht zu bewältigen sind. Im Verlauf der Globalisierung vermindern die Automatisierung und Rationalisierung der Industrie die Nachfrage nach Arbeitskräften immer stärker. Infolgedessen wird das (begrenzte) Wirtschaftswachstum nicht durch eine dementsprechende Beschäftigungszunahme begleitet (Wachstum ohne Beschäftigung).25 Dies führt nicht nur zur Schwächung der Leistungsfähigkeit des Sozialstaates, sondern auch zur Verschärfung der Ungleichheiten bei der Einkommensverteilung und zu großen Rissen des sozialen Sicherungsnetzes. Die Krise des Wirtschaftswachstums wird zugleich zur Ursache der Krise des Sozialstaates. In der Wirtschaftskrise wird die Lebenslage von sozial Schwächeren schlechter, weshalb die Anforderungen an das Netz sozialer Sicherheit größer werden, während die Finanzierbarkeit dabei immer schwieriger wird. In der Bundesrepublik Deutschland ist die Sorge um die Grenze des Wirtschaftswachstums und ihre Auswirkungen auf den Sozialstaat bereits seit dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts weit verbreitet.26 Die tiefernste Sorge um die Zukunft des Sozialstaates ist mit der Sorge um das Wirtschaftswachstum eng verbunden. In der Republik Korea hat die Wachstumsdynamik einen dramatischen Verlauf erfahren. Die gesamtwirtschaftliche Wachstumsrate hatte seit Mitte der 1970er Jahre einen steilen Anstieg verzeichnet. Aber sie hatte seit der IWF-Wirtschaftskrise (vom Dez. 1997 bis zum Aug. 2000) zu stagnieren begonnen und ist seit Mitte der 2000er Jahre fast beim status quo geblieben. Seit den letzten anderthalb Dekaden hat die marginale Wachstumsrate die Neigung zur Stagnation.27 Während der IWF-Wirtschaftskrise und auch nach ihrer Überwindung trafen und treffen die gesamtwirtschaftlichen Schwierigkeiten die sozial Schwächeren zuerst und am härtesten. Demzufolge werden die

24

Z. B. wie es in der Republik Korea während der IWF-Wirtschaftskrise der Fall war (die Wirtschaftswachstumsrate im Jahre 1998 lag bei -6.9 %: Statistisches Amt der Republik Korea). 25 Hockerts, a. a. O., S. 17 ff. Zur Bestandsaufnahme in der Republik Korea, vgl. Cha, The Premise of Realizing the Right to Labour & Search for Alternatives – Mainly on the recognition of jobless growth reality and searching for its alternatives, Law Review Vol. 14 No. 4 (2010), S. 108 ff. 26 Nützenadel, Wirtschaftskrisen und die Tranformation des Sozialstaates im 20. Jahrhundert, in: Boll/Kruke (Hrsg.), a. a. O., S. 34 ff. 27 Vgl. Statistisches Amt der Republik Korea; Korean Bank, Economic Statics Yearbook, 2014, S. 146.

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Ungleichheiten der Einkommensverteilung und inzwischen auch das Verlangen nach einem feinmaschigen Netz der sozialen Sicherheit immer stärker.28 Freilich zeigen die wirtschaftlichen Verhältnisse zurzeit und die Prognosen über sie nicht wenige Unterschiede zwischen der Republik Korea und der Bundesrepublik Deutschland bzw. den anderen Staaten. Bei allen Unterschieden verlangt die Gemeinsamkeit, dass die Grenze des Wirtschaftswachstums bzw. die Wirtschaftskrise einschneidende Auswirkungen auf den Sozialstaat hat, besondere Aufmerksamkeit, weil sie insoweit als allgemein gültig angesehen wird, dass der Sozialstaat als verfassungsrechtliches Gebot anerkannt worden ist. 2. Wandel zur alternden Gesellschaft und dessen Problematik im Sozialstaat Die Problematik des Sozialstaates hat je nach verschiedenen Entwicklungsphasen in verschiedenen Staaten variiert. Insbesondere in hochentwickelten westlichen Ländern, in denen die Entwicklung des Sozialstaates bereits in die gereifte Phase eingetreten ist, steigt (und wird steigen) der Altenquotient immer höher an.29 Dies liegt zum einen an der stetigen Steigerung der durchschnittlichen Lebenserwartung,30 die auf Basis des hohen Wohlstandsniveaus durch die medizinische Entwicklung und die systematische Ausstattung des öffentlichen Gesundheitssystems verursacht wird, und zum anderen an dem stetigen Rückgang der Geburtenrate.31 Der daraus gefolgerte Wandel zur alternden Gesellschaft stellt heutzutage neue Herausforderungen an den Sozialstaat. Auf der Ausgabenseite im Rahmen des sozialstaatlichen Transfersystems bringt dieser demographische Wandel eine erhebliche Zunahme der Anforderungen an die Sozialleistungen hervor. Der zunehmende Anteil von den auf Sozialleistungen angewiesenen Alten führt zur Expansion des Anteils von Sozialleistungsempfängern und zum Anstieg der Sozialleistungslaufzeiten. Nach der Verschiebung der Altersstruktur nehmen neue sozialstaatliche Nachfragen etwa bezüglich der chronischen und schweren Krankheiten und der Pflegebedürftigkeit usw. von nicht erwerbstätigen Alten zu. Auf der Einnahmenseite im Rahmen des sozialstaatlichen Transfersystems führt die Verschiebung der Altersstruktur zur Schwächung der wirtschaftlichen Tätigkeiten, die die Einnahmensquelle für die Sozialleistungen darstellen, weil sie die stetige Abnahme des Anteils von der erwerbstätigen Bevölkerung und zugleich die stetige Zunahme des Anteils von der nicht erwerbstätigen älteren Bevölkerung dar28 Joon-Young Kim/Byung-In Lim, Die Nachwirkung des sog. „IWF“–Schocks auf Ungleichheiten, in: Public Economic Vol. 6 No. 2 (2001), S. 3 ff. 29 Vgl. UN Department of Economic and Social Affairs/ Population Division, World Population Prospects: The 2012 Revision Volume I, Comprehensive Tables, S. 404 ff. (Altenquotient: Anteil der 65jährigen und Älteren je 100 Personen im Alter von 20 bis zu 64 Jahren). 30 Vgl. UN Department of Economic and Social Affairs/ Population Division, S. 258 ff. 31 Vgl. UN Department of Economic and Social Affairs/ Population Division, S. 214 ff.

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stellen. Ferner verschärft sie im Zusammenwirken mit dem Wachstum ohne Beschäftigung die Ungleichheit der Einkommensverteilung einerseits und Not im Alter andererseits. Da die Chancen zur normalen Erwerbstätigkeit in Industrieländern im Verlauf der Wirtschaftsglobalisierung immer weiter geschrumpft sind, nimmt der Anteil der nicht erwerbstätigen Bevölkerung immer weiter zu. Für den Teil der Bevölkerung, der im erwerbsfähigen Alter nicht in ein Normalarbeitsverhältnis eingetreten ist, wird die Versicherungsdauer kürzer und die Beitragshöhe dementsprechend niedriger. Infolgedessen wird vor allem das Rentenniveau entsprechend niedrig ausfallen.32 Dann würde ihr Lebensniveau lebenslang höchstens annähernd auf dem durch die Sozialhilfe gewährleisteten Niveau, dem Existenzminimum, bleiben. Die neuen Herausforderungen der alternden Gesellschaft betreffen die GRV am tiefgreifendsten. Da die Finanzmittel für die Rentenleistungen begrenzt werden, führt die anhaltende Steigerung der Anzahl von Rentnern bei der ständigen Senkung der Anzahl von Beitragszahlern unvermeidbar dazu, entweder die Rentenleistungen im deutlichen Umfang zu schmälern, den Beitragssatz bemerkbar zu erhöhen oder beide Maßnahmen gleichzeitig zu ergreifen. Ansonsten sollte der steuerfinanzierte Zuschuss für die Erhaltung des Rentenniveaus zunehmend eingesetzt werden, wofür die Finanzmittel für andere Bereiche herabgesetzt werden müssen. Da mit Rücksicht auf den Vorrang der Selbsthilfe vor der Sozialhilfe das Niveau der Rentenleistungen (zumindest im Fall der Regelaltersrenten) das der Sozialhilfe nicht unterschreiten darf,33 geht es um das Mindestniveau der Rentenleistungen. Hierzu sollte nicht außer Betracht gelassen werden, dass die ständige Zunahme des Anteils von gegenwärtigen und künftigen Rentnern deren nicht zu übersehende politische Stärke insbesondere im Wahlkampf darstellt. Die GRV ist in der Bundesrepublik Deutschland bereits seit langem mehrfach reformiert worden.34 Auch in der Republik Korea ist sie Gegenstand einer heftigen Reformdiskussion. Selbstverständlich stößt die Einschränkung des bereits erreichten Leistungsniveaus meistens auf heftigen Widerstand. Es gibt dabei kein salomonisches Urteil. Angesichts des raschen Wandels der jeweiligen gesellschaftlich-wirtschaftlichen Verhältnisse scheint es unvermeidbar, den Vorgang zu wiederholen, nach der Bildung eines möglichst breiten Konsenses zu streben und dadurch die vorübergehenden Kriterien für die Problemlösung zu setzen. 3. Das Dilemma der GRV – immer schwierigere Finanzierung, (trotzdem) stärkere Aufforderungen zu Leistungen Unter den gewandelten demographisch-gesamtwirtschaftlichen Gegebenheiten seit dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts haben die GRV in hochentwickelten 32 Zacher, Aktuelle Herausforderungen für die Sozialversicherung, in: Eichenhofer (Hrsg.), Bismarck, die Sozialversicherung und deren Zukunft, Berlin 2000, S. 92 ff. 33 Schmähl, Alterssicherungspolitik im Wandel, in: Becker/Kaufmann/von Maydell/ Schmähl/Zacher (Hrsg.), Alterssicherung in Deutschland, Festschrift für Franz Ruland zum 65. Geburtstag, Baden-Baden 2007, S. 309. 34 Ebbinghaus/Schulze, a. a. O., S. 273 f., 281 ff.

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westlichen Ländern stetig an (absehbaren) finanziellen Krisen gelitten und sind auf Reformbedarfe gestoßen, während sie nach dem Zweiten Weltkrieg aufgrund der damaligen optimistischen Aussicht auf das langfristig dauerhafte Wirtschaftswachstum bei konstanter Altersstruktur und dem stabilen Anteil der Erwerbsbevölkerung große Errungenschaften und Expansionen erfahren hatten.35 Vor allem hat die anhaltende Neigung zur Wachstumsschwäche und zur alternden Gesellschaft die Abnahme der Beitragseinnahmen und zugleich die Zunahme der Rentenleistungsauszahlungen sowie dadurch eine ständige Ungleichwertigkeit zwischen beiden hervorgerufen. Dies gibt Anlass zu großer Sorge um die Nachhaltigkeit und Verlässlichkeit des Systems der GRV. In diesem Zusammenhang stellt sich auch das Problem der Generationengerechtigkeit. Das Problem stellt sich deswegen ernster unter dem Umlagefinanzierungssystem, für das sich die meisten westlichen Industrieländer entschieden haben, weil unter diesem System die Erwerbstätigen die nicht erwerbstätigen Alten sichern.36 Um die Rentenhöhe nicht erheblich abzusenken, müssen die gegenwärtig Erwerbstätigen immer höhere Beitragsbelastungen tragen. Für die gegenwärtigen Beitragszahler wird es jedoch immer unsicherer, ob ihnen in der Zukunft die ihren Vorbelastungen während der Erwerbszeiten entsprechenden Rentenleistungen gewährleistet werden können.37 Im Lauf der Wirtschaftsglobalisierung zeigt sich deutlich die Tendenz des (begrenzten) Wirtschaftswachstums ohne Beschäftigung in entwickelten Ländern und teilweise auch in Schwellenländern, wie es in der Republik Korea der Fall ist. Sie macht das bis zum Erreichen des Dienstalters andauernde Normalarbeitsverhältnis zur Ausnahme, auf dem die GRV aber im Wesentlichen basiert.38 Dadurch erschüttert sie die finanzielle Grundlage der GRV und verursacht neue Deckungslücken der GRV. Es findet ein breites Echo, dass der Sozialstaat angesichts der geänderten Verhältnisse einer neuen Art und Weise für seine Weiterentwicklung bedarf. Das Wesen der Problematik selbst ist nicht abzuwenden: Der Sozialstaat im 21. Jahrhundert steckt im Dilemma. Unter den geänderten gesellschaftlich-wirtschaftlichen Rahmenbedingungen wird seine Finanzierbarkeit immer schwieriger, was sich in langfristiger Sicht noch verschlimmern wird, während die Anforderungen an Sozialleistungen für sozial Schwächere immer stärker werden. Ferner ist die Gefahr im Auge zu behalten, dass die externen Elemente, z. B. die Ausbrüche der Weltwirtschaftskrisen in der letzten Zeit, die damit in enger Wechselwirkung stehenden Wirtschaftskrisen in einigen Ländern, ihre weltweiten Nachwirkungen, die politische Unsicherheit in Mittelasien und die Instabilität des Ölpreises usw. die finanziellen Grundlagen für die Sozialleistungen entscheidend beeinflussen. In kurzfristiger Hinsicht könnte 35

Hockerts, a. a. O., S. 4 ff. Kesan/Witt, Die „Friedensgrenze“ zwischen gesetzlicher Rentenversicherung und berufsständischen Versorgungssystemen: Verschmelzung oder dauerhafte Koexistenz?, NZS 2013, S. 612 (618). 37 Eichenhofer/Rische/Schmähl, a. a. O., S. 841 f. 38 Zacher, a. a. O., S. 92 ff. 36

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man dieser Problematik auch damit einigermaßen begegnen, aufgrund des demokratischen Konsenses die Prioritäten bei der Verteilung von begrenzten Finanzmitteln zugunsten der Gewährung von Sozialleistungen zu ändern. Wäre diese kasuistische Lösung auch in langfristiger Sicht anwendbar? Und zwar unter Außerachtlassung von der immer stärker werdenden Konzentration des Reichtums und dem demnach immer schlimmer werdenden Teufelskreises „Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer“? Es scheint, dass der Sozialstaat im 21. Jahrhundert für seine nachhaltige Fortentwicklung, genauer für die Erhaltung des demokratischen und sozialen Rechtsstaates, ein neues Paradigma erfordert. IV. Hintergrund der Einführung der GRV und deren Grundstruktur in der Republik Korea 1. Politische und gesellschaftliche Verhältnisse und Verständnis über den Sozialstaat in den 1970 – 1980er Jahren In entwickelten westeuropäischen Ländern wurden öffentliche Altersvorsorgesysteme bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts eingeführt und, über mehrere Reformen, allmählich als System zur Alterssicherung tief verwurzelt. Im Vergleich dazu ist die Geschichte der GRV als sog. Bürgerversicherung39 in der Republik Korea sehr kurz. Sie wurde erst 1988 eingeführt, als das Bürgerrentenversicherungsgesetz von 1986 in Kraft trat, nachdem der erste Einführungsversuch in 1973 gescheitert war.40 Um den Grund, aus dem die koreanische Regierung in den 70er und 80er Jahren versucht hatte, die BRVeinzuführen, zu verstehen, sollen die damaligen politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse ins Auge gefasst werden. Wenn man einen Blick auf den Zeitraum von 1970 bis 1980 wirft, so wird man auf die zwei jeweils durch einen Ölschock ausgelösten Weltwirtschaftskrisen aufmerksam. Im Fall der koreanischen Gesamtwirtschaft begannen jedoch die Industrialisierung und damit die wirtschaftliche Entwicklung erst in diesem Zeitraum. Dabei wurden sie durch die unter den Militärdiktaturen verfolgte Wirtschaftspolitik geprägt, die mittels einer Regulierung des Lohnniveaus den meisten Arbeitnehmern einseitig Opfer zugunsten koreanischer Großkonzerne (Chaebol) abverlangte.41 In den 1980er Jahren folgte darauf eine sehr heftige Arbeiterbewegung in Verbindung mit den demokratischen Kräften, die die Aufmerksamkeit auf die Arbeitnehmerrechte lenkte.

39 Bereits zuvor wurden die berufsständischen öffentlichen Versorgungen eingeführt. Vgl. National Pension Service, 10 Jahre Geschichte der Bürgerrentenversicherung, Bd. I, Seoul 1998, S. 26 ff. 40 Näher hierzu National Pension Service, a. a. O., Bd. I, S. 70. 41 Jeong Ki Kim/Won Gyu Choi/Jae Moon Jin, History of Social Welfare, 2. Aufl., Paju 2010, S. 395 f.

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Diese Lage war Anlass zur Änderung des bürgerlichen Verständnisses vom Sozialstaat. Bis in die 1970er Jahre sah man das Wirtschaftswachstum auf Basis niedriger Lohnkosten als das oberste Staatsziel an. Das Motto: „Bevor wir den Kuchen verteilen (können), müssen wir ihn erst einmal vergrößern“, klang damals zunächst recht einleuchtend. In den 1980er Jahren wurde jedoch das bürgerliche Interesse an einer gerechten Verteilung der Früchte des Wirtschaftswachstums und damit die Forderung nach einer tatsächlichen Umsetzung des Sozialstaates immer stärker. Diesen politisch-gesellschaftlichen Verhältnissen hatten die autoritären Militärregierungen den Hintergrund geboten. Die Jung-Hee Park-Militärregierung (1961 – 1979) und die seines Nachfolgers, Doo¢Hwan Cheon (1980 – 1987),42 hatten autoritär getroffene Entscheidungen über die Wirtschafts- und Verteilungspolitik einseitig durchgesetzt, ohne einen demokratischen Konsens über den gerechten Ausgleich zwischen dem Wirtschaftswachstum und der Verteilung zu bilden. Dieser Entwicklungsdiktatur wurde allmählich kräftiger Widerstand der Bürger entgegengesetzt.43 Im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung der 1970er Jahre wuchsen nicht nur die Erwartungen der Bürger an die Umsetzung der sozialen Grundrechte, sondern auch die Unzufriedenheit mit den Militärregierungen, die die sozialen Grundrechte trotz ausdrücklicher Normierung auf Verfassungsebene weitgehend ignoriert hatten.44 Um dieser gesellschaftlichen Lage zu begegnen, unternahmen die Militärregierungen verschiedene Versuche, die sozialen Sicherungen auszudehnen.45 Im Ergebnis konnten die damals entworfenen und zum Teil umgesetzten Konzepte der sozialen Sicherungen keine funktionsgerechten Wirkungen entfalten, da sie nicht von einem demokratischen Konsens getragen wurden.46 Ähnlich der Bismarck’schen Sozialversicherung für Arbeiter47 war sie durch das Streben nach dem Machterhalt der Militärregierungen, die an einem Mangel an demokratischer Legitimation litten, geprägt.48 In den 1980er Jahren, in denen man wegen des kommunikationstechnischen Fortschritts leichter als früher Auskünfte über das soziale Sicherungsnetz in westlichen Industrieländern erhalten konnte, verglich man den (eigenen) durchschnittlichen Lebensstandard mit dem in diesen Ländern. Diese Situation in Verbindung mit der damaligen Arbeiterbewegung leistete dem Verlangen nach der Verwirklichung des Sozialstaates großen Vorschub. Erst seit der Erkämpfung der demokratischen Verfas42 Zum Yuschin-System und zu den Militärregierungen von 1961 bis 1987 vgl. Chang, a. a. O. (1990), S. 199 ff. 43 Kam/Choi/Jin, a. a. O., S. 393 f. 44 Kwang Seok Cheon, in: Korean Social Security Law, 9th Edition, Seoul 2012, S. 185 f. 45 Zur Geschichte der sozialen Versicherungen in der Republik Korea vgl. In-Jae Lee/JinSeok Ryu/Moon-Il Kwon/Jin-Ku Kim, Lehre der sozialen Sicherung, 3. Aufl., Paju 2010, S. 327 ff., 407 ff. 46 K. S. Cheon, a. a. O., S. 192. 47 Ritter, Der Sozialstaat – Entstehung und Entwicklung im Vergleich, 3. Aufl., München 2010, S. 65 f. 48 K. S. Cheon, a. a. O., S. 188 ff.

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sung von 1987 durch die Juni-Revolution, die den Diktator Cheon zurücktreten ließ, ist die politisch-gesellschaftliche Entwicklung in der Republik Korea auf Basis des gesteigerten durchschnittlichen Lebensstandards in einen neuen Abschnitt eingetreten. 2. Grundstruktur der BRV im Zeitpunkt der Einführung Die BRV nähert sich im folgenden Aspekt dem Bismarck-Modell an49 : Aufgrund ihrer Eigenschaft als öffentlich-rechtliche Zwangsversicherung stellt der einkommensbezogene Versicherungsbeitrag des Versicherten ihre wichtigste Finanzquelle dar und das Rentenniveau hängt von der Versicherungsdauer und der Höhe des Versicherungsbeitrages ab, wenn auch wegen des starken Umverteilungselements (Egalitär-Indikators A) in der Rentenformel die Proportionalität zwischen diesen und jenem schwächer ist als bei der deutschen GRV. Charakteristisch für den (pflichtig) versicherten Personenkreis zum Zeitpunkt der Einführung der BRV war, dass der persönliche Anwendungsbereich auf Arbeitgeber und Arbeitnehmer in den Betrieben mit einer Mindestanzahl von zehn im Normalarbeitsverhältnis beschäftigten Arbeitnehmern beschränkt wurde. Der Grund dafür lag darin, dass hinsichtlich des damaligen durchschnittlichen Lohnniveaus die Arbeitnehmer in kleineren Betrieben wenige Möglichkeiten zur Beitragszahlung hatten.50 Ferner soll darauf hingewiesen werden, dass die gesetzliche Unfallversicherung bereits seit 1981 auf Betriebe mit einer Mindestanzahl von zehn im Normalarbeitsverhältnis beschäftigten Arbeitnehmern ausgedehnt wurde, und daher die Beiträge für den Bürgerrentenfonds in diesen Betrieben ohne zusätzliche Verwaltungskosten erhoben werden konnten.51 Dabei wurde der Schwerpunkt auf die Beitragszahlungsfähigkeit und die Verwaltungskonvenienz gelegt.52 Die Rentenleistungen teilten sich im Großen in vier Arten ein, d. h. die Altersrente, die Invaliditätsrente, die Hinterbliebenenrente und die Pauschalrückerstattung. Die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der abschlagsfreien Regelaltersrente waren das Erreichen von 60 Jahren und von 20 Versicherungsjahren. Die Einkommensersatzrate im Fall der Versicherten mit dem durchschnittlichen Standardentgelt erreichte eine Höhe von 70 % bei einem Zeitraum von 40 Versicherungsjahren und eine Höhe von 40 % bei 20 Versicherungsjahren. Kennzeichnend für die Rentenformel war das starke Umverteilungselement, also Egalitär-Indikator A. Die Berech49 Zur Diskussion über die Eigenarten der BRV und die Schwierigkeiten bei ihrer Eingliederung in ein bestimmtes Modell vgl. Hong-Won Chung, Einführung, Entwicklung und Reform der BRV, in: Moo-Kwon Chung (Hrsg.), Kontroverse um den Charakter des koreanischen Wohlfahrtstaates II, Seoul 2009, S. 723 ff. 50 National Pension Service, 10 Jahre Geschichte der Bürgerrentenversicherung, Bd. II, Seoul 1998, S. 2 f. 51 Young-Bum Kim, Ursprung und Eigenart des koreanischen Sozialversicherungssystems – Insbesondere in Bezug auf die gesetzliche Krankenversicherung und die gesetzliche Rentenversicherung, in: Wirtschaft und Gesellschaft Vol. 55 (2002), S. 26. 52 National Pension Service, a. a. O., Bd. II, S. 2 f.

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nung der Rentenhöhe lautete: Monatsbetrag der Regelaltersrente = Basisrentenbetrag + Zusatzrentenbetrag53; Basisrentenbetrag = 2,4 (A + 0.75B) x (1 + 0.05N).54 Der Beitragssatz wurde auf 9 % festgesetzt, sollte aber unter Berücksichtigung der damaligen geringen Beitragsleistungsfähigkeit mittels einer Übergangsregelung schrittweise von zunächst 3 % auf 9 % erhöht werden. Im Gegensatz zur deutschen GRV wird die BRV im Kapitaldeckungsverfahren finanziert. Aufgrund der Erfahrungen der westeuropäischen Staaten wurden bereits zum Zeitpunkt ihrer Einführung die demographische Tendenz zur Alterung und die damit verbundenen Probleme der Finanzierung und des Generationenkonflikts im umlagefinanzierten System erkannt.55 Zudem sei zu erwarten, dass sich die Struktur der hohen Rentenleistung (Einkommensersatzrate von 70 % mit 40 Versicherungsjahren) beim niedrigen Beitragssatz von 3 % im umlagefinanzierten System nicht halten lassen würde.56 Der Grund, weshalb dieser strukturelle Mangel der BRV, d. h. das Ungleichgewicht zwischen dem Beitragssatz und der Rentenleistung bereits bei Einführung anhaften musste, ist in der Absicht der koreanischen Regierung zu finden, den Bürgerrentenfonds zur Wirtschaftsintervention zu instrumentalisieren. Aus den Umständen, dass das Niveau des durchschnittlichen Lohneinkommens damals zu niedrig war, um einen Anteil als Beitrag zur Rentenversicherung zu leisten,57 und dass die Gewährung der Regelaltersrentenleistung erst nach 20 Jahren zu erwarten war, wurden Zweifel daran erweckt, welche Absicht die koreanische Regierung durch die Einführung der BRV wirklich verfolgte. Man sah das Primärziel der Rentenpolitik nicht in einer nachhaltigen und stabilen Altersvorsorge, sondern vielmehr in der Ausnutzung des Bürgerrentenfonds als Mittel der Wirtschaftspolitik; die Regierung wollte die angesammelten Beiträge sofort zur Förderung bestimmter Industriezweige verwenden.58 Um den Widerstand der Bürger gegen die Beitragserhebung zu mildern und diesen eine hinreichende Motivation zur Beitragszahlung zu bieten, versprach die Cheon-Militärregierung, im Gegenzug zur Erhebung des sehr niedrigen Beitragssat-

53

Der Zusatzrentenbetrag wurde nach der Anzahl der Familienmitglieder angerechnet. In der Formel bedeutet 2,4 , A , B , N . 55 National Pension Service, a. a. O., Bd. I, S. 72 f. 56 Politischer Planungsbeirat des Staatspräsidenten, Reform der Bürgerrentenversicherung – eine Verbesserung zur nachhaltigen gesetzlichen Rentenversicherung, Seoul 2008, S. 7 f. 57 Hierzu vgl. Statistisches Amt der Republik Korea. 58 National Pension Service, Bd. I, S. 42 ff.; Hye Kyung Lee, Limits of the Telescoped Growth and Income Security Policies in Korea, Yonsei Social Welfare Review Vol. 1 (1993), S. 75 ff. 54

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zes die übermäßige Rentenleistung zu gewährleisten.59 Der Reformbedarf war von vornherein strukturimmanent. 3. Tragweite der Einführung der BRV Es ist davon auszugehen, dass die Bedeutung und das Gewicht der Einführung der BRV und infolgedessen die Ernsthaftigkeit ihrer Probleme zu Beginn nicht hinreichend erkannt wurden. Die Regierung hatte sich der Kritik an den strukturellen Problemen der BRV und den geäußerten Bedenken bezüglich ihrer Nachhaltigkeit und Funktionsfähigkeit verschlossen, während sie den Bürgern die erwarteten Vorteile der BRV angepriesen hatte. Der wichtigste Grund ist darin zu sehen, dass im Kapitaldeckungsverfahren die Rentenleistungen bis zum erstmaligen Erreichen der Entgeltpunkte 20 in 2008 in der Tat (fast) nicht ausgezahlt werden mussten, während die Versicherungsbeiträge und ihre Renditen weiter im Bürgerrentenfonds angesammelt wurden. Zudem hatte man wenige Erfahrungen mit dem sozialen Sicherungssystem an sich. Schließlich konnte die außergewöhnliche Geschwindigkeit der koreanischen Bevölkerungsalterung zum Einführungszeitpunkt nicht prognostiziert werden, obwohl man eine Verschiebung der Altersstruktur im Lauf des ständigen Anstiegs der Lebenserwartung in geringerem Maß erwartet hatte.60 Daher hatte die BRV am Anfang ein äußerst hohes Rentenniveau im Verhältnis zur Höhe des Beitragssatzes versprochen. Die Einführung einer derartigen BRV hatte nicht minder Auswirkungen auf wirtschaftlich-gesellschaftliche Verhältnisse. Zunächst hatte sie der zeitgeschichtlichen Forderung entsprochen, obwohl sie nicht auf einem demokratischen Konsens basierte und die Regierung von der Absicht weit entfernt war, den Bürgern die Voraussetzungen für eine selbstbestimmte Lebensführung zu schaffen. Bereits Mitte der 1980er Jahre hatte die rasche Industrialisierung nicht nur zur spürbaren Anhebung des durchschnittlichen Lebensstandards sondern auch zur Auflösung der traditionellen Großfamilie und damit des familiären Unterhaltsverbandes sowie zur Abkehr von der traditionellen Weltanschauung auf konfuzianistischer Basis geführt. Ferner ist das im Bürgerrentenfonds erfasste Kapital immer weiter angewachsen, weshalb er sich zu einem wichtigen Akteur auf dem Finanzmarkt entwickelt hat. Da die Auszahlung der Regelaltersrentenbezüge erst 2008 beginnen sollte, wurden bis zu diesem Zeitpunkt die fortlaufenden Versicherungsbeiträge sowie die erwirtschafteten Renditen in den Bürgerrentenfond eingebracht, während die Rentenleistungen nur in geringerem Maß aus dem Bürgerrentenfonds ausgezahlt wurden.61 Die Handhabung des Bürgerrentenfonds hat daher den Finanzmarkt und die Gesamtwirtschaft 59

Y.-B. Kim, a. a. O., S. 22 ff. National Pension Service, a. a. O., Bd. I, S. 84 ff. 61 Dies galt für die Sonderaltersrenten, die Invaliditätsrente, die Hinterbliebenenrente, die Pauschalrückerstattung und Pauschalrückerstattung beim Tod des (ehemaligen) Versicherten. Vgl. National Pension Service, a. a. O., Bd. II, S. 267 ff. 60

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sehr stark beeinflusst. Vor allem gegen seine Instrumentalisierung zur Wirtschaftspolitik herrschten kritische Stimme und tiefernste Sorge um seine Stabilität. Schließlich stellt die Einführung der BRV einen Wendepunkt für die Weiterentfaltung des sozialen Sicherungsnetzes dar. Seit dem Beginn der Demokratisierung von 1987 und dem folgenden Wettbewerb um Wählerstimmen im Wahlkampf wurde die bisher zurückhaltende und begrenzte Sozialpolitik unter den autoritären Militärregierungen durch das bürgerliche Verlangen nach der wirklichen Gestaltung des sozialen Sicherungsnetzes in die Einführung und Ausdehnung der weiteren sozialen Sicherungen umgewandelt. Deren Grundstein stellt die Einführung der BRV dar.62 V. Wandel der gesellschaftlich-wirtschaftlichen Gegebenheiten und Reformen der BRV 1. Entwicklung der BRV im Anfangsstadium und ihre Bewertung Der Zeitraum ab Gründung der BRV bis zu ihrer Reform 1998 lässt sich als Anfangsstadium verstehen. Eine nähere Betrachtung zeigt jedoch, dass sie wegen des mangelhaften Verständnisses über ihre Bedeutung und Funktion bei ihrer Konzeption von vorneherein an der strukturellen Problematik mit weitreichender und nachhaltiger Tragweite leiden musste. Ihr Anfangsstadium wird also überwiegend durch die beliebige Instrumentalisierung für die Wirtschaftspolitik ausgeprägt statt durch sorgfältige Überlegungen über die ihrem Wesen als sozialem Sicherungsnetz gerecht werdende Umsetzung und Bedingungen für ihre stabile Entwicklung. Was den versicherten Personenkreis betrifft, waren breite Sicherungslücken eine Folge der Beschränkung des Anwendungsbereiches auf große Unternehmen. Im Verlauf der raschen Industrialisierung seit den 1970er Jahren, der damit einhergehenden Urbanisierung und Änderung der Familienstruktur wurden Beschwerden und Forderungen nach sozialer Sicherung im Alter seitens der ausgeschlossenen Bürger immer lauter. Aus dieser Ausgangssituation wurde der sich in zwei verschiedene Gruppen unterschiedene versicherte Personenkreis stufenweise erweitert, nämlich seit 1992 auf Arbeitgeber und Arbeitnehmer in Betrieben mit einer Mindestanzahl von zehn im Normalarbeitsverhältnis beschäftigten Arbeitnehmern (Versicherte auf Arbeitsplatzbasis), seit 1995 auf Bauern sowie Fischer in Städten und Einwohner in ländlichen Gegenden (Individualversicherte). Zwischen beiden Gruppen war die Verteilung der Beitragslast unterschiedlich konzipiert.63 Dabei war vorgesehen, dass der Beitragssatz von 3 % im Zeitpunkt der Einführung durch schrittweise Steigerungen 9 % erreichen sollte.64

62

K. S. Cheon, a. a. O., S. 185 f. Näher hierzu § 3 Abs. 1 Nr. 11, § 75 Abs. 1 – 3 i. V. m. § 4 des Anhangs des Bürgerrentenversicherungsgesetzes vom 05. 01. 1995. 64 Vgl. oben Fn. 63. 63

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Allerdings hat die Erweiterung des versicherten Personenkreises auf Individualversicherte ohne sorgfältige Vorbereitung einer gerechten Einkommenserfassung Anlass zu großer Sorge um die Verteilungsungerechtigkeit der Beitragslasten und der Rentenleistungen zwischen den Versicherten auf Arbeitsplatzbasis und den Individualversicherten gegeben. Aufgrund des starken Umverteilungselements in der Rentenformel (Egalitär-Faktor A) wurden die mangelhafte Erfassung und die daraus folgende realitätsfern niedrigere Anrechnung der Einkommen von den Individualversicherten kritisiert, da sie in langfristiger Hinsicht eine äußerst ungerechte Umverteilung zulasten der Versicherten auf Arbeitsplatzbasis hervorbringen.65 Ferner hatte die fehlerhafte Handhabung des Bürgerrentenfonds die finanzielle Instabilität der BRV verursacht und Misstrauen gegen sie hervorgerufen und verstärkt. Es ging vor allem darum, dass die übrig bleibenden Mittel des Bürgerrentenfonds kraft Gesetzes beim Fonds für Verwaltung der öffentlichen Mittel mit wirtschaftsrealitätsfern niedrigen Zinsen zu hinterlegen waren. Auf diese Weise hatte die Regierung den Bürgerrentenfonds für Wirtschaftspolitik beliebig ausgenutzt, ohne irgendwelche Überlegungen darüber anzustellen, dass der Bürgerrentenfonds einerseits aus den Beitragseinnahmen mit gar keinem staatlichen Zuschuss angesammelt wurde und andererseits das Vorbereitungsmittel für die zukünftige Gewährung der Rentenleistungen bedeutete. In diesem Zusammenhang wurden Beschwerden gegen Diskriminierung zwischen der BRV und den berufsständischen Versorgungen verstärkt, weil im Unterschied zu jener diesen staatliche Zuschüsse für die Finanzierung der Leistungen gewährt wurden. 2. Reform der BRV von 1998 und ihre Bewertung Es ist nicht erstaunlich, dass die BRV bereits nach zehn Jahren eine große Reform erfuhr. Unmittelbaren Anlass zur Reform gab der Versuch, den versicherten Personenkreis auf Gewerbetreibende in Städten auszudehnen. In den dafür durchgeführten finanziellen Projektion der BRV wurde prognostiziert, dass der Bürgerrentenfonds auf Basis des damals geltenden Rechts ab 2025 ein Defizit aufweisen und sich 2033 völlig erschöpfen werde. Zusätzlich müsse der Beitragssatz auf 25 % oder mehr angehoben werden, um das Rentenniveau zu erhalten.66 Aber grundlegender waren die oben genannten Probleme, die Anlass zu tiefer Sorge um die Nachhaltigkeit sowie Funktionsfähigkeit der BRVund zum großen Misstrauen der Bürger gegen die BRV gegeben hatten. Aufgrund dieses Befunds, allerdings auch unter dem Schock der IWF-Wirtschaftskrise, wurde die große Reform von 1998 durchgeführt. Zunächst wurde der Kreis der Individualversicherten weiter auf grundsätzlich alle Einwohner der Städte 65

National Pension Service, a. a. O., Bd. II, S. 19 f. Planungsbeirat zur Verbesserung der Bürgerrentenversicherung, Verbesserung der Bürgerrentenversicherung als Vorbereitung für ihre Erweiterung auf alle Bürger, Seoul 1997, S. 33, 177. 66

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erweitert und hiermit die zu weite Sicherungslücke ein wenig geschlossen, während die aus der niedrigeren Einkommenserfassung bei den Individualversicherten gefolgerte Problematik im Grunde ungelöst blieb. Um die strukturelle Ungleichwertigkeit zwischen dem Beitragssatz und der Rentenhöhe zu korrigieren, wurde die Einkommensersatzrate schrittweise von 70 % auf 60 % abgesenkt, indem man eine Änderung der Konstante in der Rentenformel von 2,4 auf 1,8 vornahm. Ferner wurde das Verhältnis der A zu B in der Rentenformel von 4:3 zu 1:1 geändert.67 Aber der Beitragssatz war noch bei 9 % ungesteigert geblieben. Ferner wurde die regelmäßige Finanzprojektion der Bürgerrentenversicherung in jedem fünften Jahr eingeführt, auf deren Basis der Beitragssatz, die Rentenleistungshöhe und die Voraussetzungen für eine Inanspruchnahme der Rentenleistung nach den jeweiligen wirtschaftlich-gesellschaftlichen Gegebenheiten auszugleichen waren.68 Bei der Reformdiskussion bestand weite Übereinstimmung darüber, dass die zwangsweise Hinterlegung der übrig gebliebenen Mittel des Bürgerrentenfonds beim Fonds für Verwaltung der Öffentlichen Mittel abgeschafft werden müsse,69 obwohl das Koreanische Verfassungsgericht sie für verfassungsmäßig erklärt hatte.70 Infolgedessen wurde die Abschaffung durch die Änderung des Gesetzes zum Fonds für Verwaltung der Öffentlichen Mittel schrittwiese ab 1999 bis 2001 durchgeführt. Obwohl die Reform von 1998 mehrere Probleme der BRV zu korrigieren versuchte, wurden ihre Grenzen deutlich aufgezeigt.71 Vor allem blieb der strukturelle Mangel unberührt: Die Problematik vom Ungleichgewicht zwischen dem Beitragssatz und dem Rentenniveau fand keinen grundlegenden Ausweg. Die Senkung der Einkommensersatzrate auf 60 % stellt nur eine kasuistische Lösung dar. Wegen des starken Misstrauens gegen die Handhabung des Bürgerrentenfonds und die BRV selbst war die Durchsetzung der Steigerung des Beitragssatzes auf ein angemessenes Maß aussichtslos. Zudem verschärfte sich die Ungleichheit zwischen den Versicherten auf Arbeitsplatzbasis und den Individualversicherten einerseits und zwischen Versicherten der BRV und der berufsständischen Versorgungen andererseits. Die Sorge um die finanzielle Nachhaltigkeit und Stabilität der BRV konnte nicht ausgeräumt werden.

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So lautete die Rentenformel wie folgt: Basisrentenbetrag = 1,8 (A + B) x (1 + 0.05N). Außerdem wurde die Altersgrenze von 60 auf 65 schrittweise heraufgesetzt. 69 Vgl. die Literaturnachweise bei Cha, a. a. O. (Conditions), S. 314, Fn. 50. 70 KVerfGE 1996.10.4. 96Hun-Ka6. Zur Kritik daran vgl. K. S. Cheon, Handhabung und Kontrolle des Bürgerrentenfonds, in: Forschung der Entscheidungen des Koreanischen Verfassungsgerichts Vol. 1 (1999), S. 95 ff. 71 Freilich sollten die Auswirkungen der IWF-Wirtschaftskrise auf die Umsetzung der Reform berücksichtigt werden. 68

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3. Auswirkungen der IWF-Wirtschaftskrise sowie der raschen Bevölkerungsalterung und neue Herausforderungen für die BRV Im Dezember 1997 brach die IWF-Wirtschaftskrise aus, als die koreanische Regierung wegen des Fehlers bei der Fremdwährungspolitik den IWF um die Gewährung eines Nothilfekredits bat. Die Krise wurde zwar im Aug. 2000 überwunden, hatte aber umfassende und tiefgreifende Nachwirkungen auf die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse. Im Zuge des Preissturzes am Aktienmarkt und der Abwertung der koreanischen Währung, Won, waren Banken und sonstige Kreditanstalten (beinahe) in Konkurs geraten. Die Umstrukturierung des Finanzmarktes, vor allem die Erhöhung des Leitzinses und die Verkürzung der Laufzeiten bzw. Kündigung von kurzfristigen Krediten, führte zu Masseninsolvenzen von Unternehmen einschließlich des damals zweitgrößten Chaebols, Dae-Woo, und von mittelständischen und kleineren Gewerbebetrieben. Die zur Flexibilisierung des Arbeitsmarktes eingeführte betriebsbedingte Massenkündigung, die zuerst die schwächeren Arbeitnehmer wie etwa Frauen, Leiharbeiter, Teilzeitkräfte und Beschäftigte mit befristetem Arbeitsverhältnis betroffen hatte, hatte zur Massenarbeitslosigkeit und -verelendung geführt. Noch schlimmer war die Arbeitslosenrate der Berufsanfänger, für die auch nach dem Ende der Krise wenige Chancen zum Eintritt in ein Normalarbeitsverhältnis bestanden.72 Dadurch wurde der bis dahin herrschenden Berufsanschauung, bis zur Dienstaltersgrenze in demselben Betrieb zu arbeiten, die Grundlage entzogen. Während der IWF-Wirtschaftskrise hatte sich die Mittelschicht auf einmal aufgelöst, und nicht wenige ihrer Angehörigen waren zu Obdachlosen geworden. Die Erhöhung der Zinsen vergrößerte die Unterschiede der Einkommen zwischen Kapitalbesitzern und Nicht-Besitzern immer weiter.73 Die IWF-Wirtschaftskrise gab den entscheidenden Anlass, sich mit der bis dahin beiseitegelassenen Problematik der Verschiebung der Altersstruktur ernsthaft zu beschäftigen und das Interesse der Bürger an der Bedeutung und Notwendigkeit des sozialen Sicherungsnetzes und – in diesem Rahmen – an der Reform der BRV zu wecken.74 Erst im Zuge der IWF-Wirtschaftskrise richtete man seine Aufmerksamkeit auf die Bevölkerungsalterung. Zwar wurde ihre Tendenz bereits im Zeitpunkt der Einführung der BRV auch in der Republik Korea prognostiziert, allerdings wurden ihre schwerwiegenden und nachhaltigen Auswirkungen damals noch nicht hinreichend wahrgenommen. Erst seit den 2000er Jahren wurden sie in Verbindung mit 72 Sung-Ho Kang/Tae-Wan Kim, Experience of Youth Unemployment and Pension Entitlement, Jounal of DAEHAN Association of Business Administration, Vol. 26 No. 6 (2013), S. 1597 ff. 73 Die oben genannten Maßnahmen gehörten zu den Bedingungen, die seitens des IWF für die Gewährung der Finanzhilfe gestellt wurden: International Monetary Fund, Erholung von der Asienkrise und die Rolle des IWF, 2000. 74 Ok-Hee Kim, Richtung des Ausbaus des sozialen Sicherungsnetzes in der Zeit der Massenarbeitslosigkeit, in: Veröffentlichung der Konferenz der Korean Academy of Social Welfare (Spring 1999), S. 342 ff.

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der Massenarbeitslosigkeit und -verelendung deutlich und als unumkehrbar erkannt und daher unter dem Einfluss der aktuellen krisenhaften Atmosphäre in den Vordergrund gestellt.75 Im Vergleich zu entwickelten westeuropäischen Staaten erlebt die Republik Korea nämlich einen noch dramatischeren Verlauf des demographischen Wandels zur Alterung. Der Altenquotient liegt 2015 noch bei 18, wird aber voraussichtlich 2030 auf 37 (Verdoppelung innerhalb von 15 Jahren) und 2060 auf 73 steigen. Ab 2060 wird die Republik Korea der älteste Staat sein.76 Trotzdem war das damalige soziale Sicherungsnetz zu grob und zu schwach, um die zahlreichen sozial Schwächeren, die während der IWF-Wirtschaftskrise wegen deren Nachwirkungen und des Alters in Not geraten waren, aufzufangen.77 Dieser Zeitraum lässt sich als Übergang vom traditionellen familiären Versorgungssystem zum sozialen Sicherungssystem auffassen, für das die Vorbereitungen jedoch im Zuge der äußerst schnellen Industrialisierung und Wirtschaftsentwicklung ohne große Überlegungen über die gerechte Verteilung und mit weniger Sorge für sozial Schwächere vernachlässigt wurden. Weil die BRV aufgrund ihres erst zehnjährigen Bestehens noch keine ausreichende Reife aufwies und bei den Bürgern kein ausreichendes Vertrauen genoss, wurde ihre Krise noch tiefgreifender durch die rasche und starke Veränderung der Altersstruktur verschärft, als es bei gefestigteren Altersvorsorgesystemen der Fall war. 4. Reform der BRV von 2007 und ihre Folgen: Weder finanzielle Nachhaltigkeit noch dem Wesen der Altersvorsorge gerechte Funktionsfähigkeit Da die erste große Reform von 1998 im Zuge der IWF-Wirtschaftskrise durchgeführt worden war, konnte sie deren Nachwirkungen auf die wirtschaftlich-gesellschaftlichen Verhältnisse und damit auch auf die BRV nicht hinreichend wiederspiegeln. Zudem wurde in der ersten (periodischen) Finanzprojektion nach der Reform von 1998 die Prognose aufgestellt, dass der Bürgerrentenfonds unter Beibehaltung eines Beitragssatzes in Höhe von 9 % und einer Einkommensersatzrate in Höhe von 60 % (bei 40 Versicherungsjahren) ab 2036 ein Defizit aufweisen und sich 2047 völlig erschöpfen werde.78 Um das geltende Rentenniveau zu erhalten, sei es erforderlich den Beitragssatz auf 19,85 % anzuheben.79 Die ab 2003 zwischen den gegensätzlichen politischen Lagern der Regierung und Opposition geführte Reform75 Cha, Protection of Marriage and Family Life in the Low Birth Rate Society, Consitutional Law Vol. 19 No. 4 (2013), S. 10. 76 Vgl. oben Fn. 29. 77 O.-H. Kim, a. a. O., S. 342 ff. Man denke nur daran, dass zur Gewährleistung der Sozialhlilfe das Gesetz zur Existenzminimumssicherung erst im August 1999 verabschiedet wurde. 78 Kommission für die Entwicklung der Bürgerrentenversicherung, Finanzielle Projektion und Vorschläge für die Verbesserung, Seoul 2003, S. 14. 79 Kommission für die Entwicklung der Bürgerrentenversicherung, a. a. O., S. 16, 75 f.

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debatte führte mehrere Jahre lang zu keinem Ergebnis. Zwischenzeitlich wurden das Grundaltersrentengesetz im März 2007 und das Änderungsgesetz zum Bürgerrentenversicherungsgesetz im Juli 2007 verabschiedet. Die Schwerpunkte der Reform von 2007 lagen auf der finanziellen Stabilität der BRV einerseits und auf der Schließung der während der IWF-Wirtschaftskrise verbreiterten Lücke. Im Folgenden werden die wichtigsten Reformmaßnahmen skizziert. Erstens wird die erhebliche Absenkung der Einkommensersatzrate von 60 % auf 40 %, freilich schrittweise, vorgenommen, indem die Konstante in der Rentenformel von 1,8 bis auf 1,2 gesenkt wird.80 Dagegen scheiterte der Versuch, den Beitragssatz (in Verbindung mit einer Absenkung der Einkommensersatzrate auf 50 %) auf 12,5 % anzuheben,81 am starken Widerstand, den die Bürger aufgrund eines inzwischen tief verwurzelten Misstrauens dem System der BRVan sich entgegenbrachten. Infolgedessen wird angestrebt, das Ungleichgewicht zwischen dem Versicherungsbeitrag und der Rentenleistung einseitig durch die rasante Einschränkung der Rentenleistung abzumildern. Die Einkommensersatzrate des Versicherten mit einem durchschnittlichen monatlichen Einkommen in Höhe von A in der Rentenformel gelangt zu 40 % bei 40 Versicherungsjahren, zu 30 % bei 30 Versicherungsjahren und 20 % bei 20 Versicherungsjahren.82 Mit der BRV allein könnte man seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten. Parallel dazu sollte dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die Höchstbemessungsgrenze trotz der Erhöhung des durchschnittlichen Lebensstandards und der Inflation seit 1995 auf 3.600.000 Won eingefroren worden ist. Die realitätsfern niedrig angesetzte Höchstbemessungsgrenze betrifft insbesondere das zu niedrige Rentenniveau der Mittelschicht. Sie wurde daher kritisch als sog. „Taschengeld-Rente“ bezeichnet. Zweitens wurde die durch die öffentlichen Mittel finanzierte Grundaltersrente nach dem OECD-Vorschlag83 als erste Säule der Alterssicherung eingeführt, um die großen Risse der BRV zu schließen.84 Im Laufe der politischen Auseinanderset-

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Die Rentenformel wurde folgenderweise geändert: Monatsbetrag der Regelaltersrente = Basisrentenbetrag + Famillienrentenbetrag (ehemaliger Zusatzrentenbetrag); Basisrentenbetrag = 1,2 (A + B) x (1 + 0.05N). In der Formel bedeutet A , B . 81 Hierzu Lee/Ryu/Kwon/Kim, a. a. O., S. 110. 82 Lee/Ryu/Kwon/Kim, a. a. O., S. 316. 83 OECD, Economic Surveys: Korea 2001, S. 94 ff. Zur Kritik daran vgl. Suk-Myung Yun, The OECD Proposal on Korean Pension Reform Direction: The Past and Now, Health Welfare Policy Forum Vol. 187 (2012), S. 78 ff. 84 Darüber hinaus wurden die Gutschriften von Entgeltpunkten für Wehrdienst und Kindergeburten eingeführt. Hierzu Cha, a. a. O. (Protection of Marriage), S. 23; Hosun Yoo, Policy Alternatives for Childcare Credit in National Pension, Social Security Vol. 26 No. 1 (2010), S. 179 ff.

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zung85 wurde sie derart gestaltet, dass sie denjenigen Einwohnern im Alter ab 65 Jahren mit Wohnsitz im Inland gewährt wurde, deren Einkommen den vom Minister für Gesundheit und Wohlfahrt jährlich festgesetzten Betrag unterschritten hatte. Ihr Betrag gelangte zu 5 % der A in der Rentenformel. Auch die Reform von 2007 war nicht in der Lage, den Verlauf der Erschöpfung vom Bürgerrentenfonds grundlegend zu unterbinden. Von ihr wurde erwartet, dass sie den Zeitpunkt des Eintritts in das Defizit des Bürgerrentenfonds von 2037 auf 2044 und den Zeitpunkt der Erschöpfung des Bürgerrentenfonds von 2047 auf 2060 verschieben werde.86 Dieser kurzfristigen und kasuistischen Lösung liegt das tief verwurzelte Misstrauen der Bürger gegen das System der BRV an sich und damit der Widerstand der Bürger gegen die Erhöhung des Beitragssatzes im Wesentlichen zugrunde. Diese unzulängliche Gewährung der Rentenleistung stellt den Hauptzweck und die Funktionsfähigkeit der BRV als Altersvorsorge überhaupt in Frage. VI. Schlussfolgerung: Bestandsaufnahme und künftige Aufgabe der BRV Man bezeichnet das 19. Jahrhundert als das Zeitalter der Freiheitsrechte und das 20. Jahrhundert als das der Sozialrechte. Aber die Gewährleistung der Menschenrechte in Korea war vor der Befreiung von Japan 1945 von der Wirklichkeit sehr weit entfernt. Nachdem einigen Intellektuellen die Entwicklung der Umsetzung der Menschenrechte in entwickelten westlichen Ländern berichtet worden war, empfanden sie diese als dem eigenen Zeitgeist entsprechend. Daher wurden Anstrengungen unternommen, die Gewährleistung der Menschenrechte in das koreanische Rechtssystem zu übertragen, die allerdings wegen der damaligen politisch-gesellschaftlichen Gegebenheiten vergebens waren. Nach der Befreiung von der japanischen Annektierung erschienen die Realisierung der Menschenrechte und die Errichtung einer Demokratie als Aufgaben des jungen Staats, deren Wahrnehmung in greifbare Nähe gerückt war. Infolge der Kapitulation Japans wurde jedoch die Kolonialregierung im Süden Koreas durch die Militärregierung der USA und im Norden durch die Militärregierung der UdSSR (1945 – 1948) ersetzt. Mit dem Ende der Militärregierungen teilte sich Korea in die Republik Korea im südlichen und in die Demokratische Volksrepublik Korea im nördlichen Teil. Kurz danach brach der Bürgerkrieg (1950 – 1953) aus. Demzufolge bestand eine tiefe Kluft zwischen der Idee der Menschenrechte sowie der Demokratie und ihrer tatsächlichen Umsetzung. In den folgenden 60 Jahren haben die koreanischen Bürger mit Blut, Schweiß und Tränen die Demokratie erkämpft und die Stärkung der Menschenrechte erreicht. 85 Hierzu vgl. Suk-Myung Yun/Hai-Jin Yang/Shin-Hwee Oh, A Critical Review of the Proposal of the New Government on Pension, „National Happy Pension“, Korean Social Security Studies, Vol. 29 No. 2 (2013), S. 31 ff. 86 Kommission der Bürgerrentenfinanzprojektion, Financial projection of national pension, Seoul 2013, S. 5, 25.

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In der Republik Korea haben die Demokratie und die Gewährleistung der Menschenrechte heute einen Stand erreicht, in dem sie, obwohl sie noch einiger Verbesserungen bedürfen, in gefestigten Bahnen verlaufen und auf einer stabilen Grundlage beruhen. Daher liegt heute der Fokus der bürgerlichen Bestrebungen auf der Gewährleistung der sozialen Grundrechte und damit auf dem Ausbau des sozialen Sicherungsnetzes. Entsprechend hat die Größe des aktuellen Etats für den Ausbau sozialer Sicherungen exponentiell zugenommen.87 Einerseits wird dieser Posten als unweigerliche Folge des demographisch-wirtschaftlichen Wandels anerkannt, während andererseits die Sorge vor einer Untergrabung der finanziellen Stabilität durch eine populistische Aufblähung des wohlfahrtsstaatlichen Etats groß ist.88 Es ist deutlich, dass die sozialen Sicherungen immer mehr an Bedeutung gewinnen werden und in diesem Prozess auch die Gewichtung der GRV daher immer weiter zunehmen wird. Seit Einführung der BRV wird mit ihr nach dem Prinzip „Versuch und Irrtum“ verfahren, was dazu geführt hat, dass Struktur und Ausgestaltung der BRV im Einzelnen teilweise sogar in ihr Gegenteil verkehrt wurden. Das ist auf das mangelhafte Verständnis des Gesetzgebers von der BRV und die durch sachfremde Erwägungen geleitete Handhabung des Bürgerrentenfonds zurückzuführen. Angesichts des wirtschaftlich-demographischen Wandels steht die BRV unter ständigem Reformbedarf. Trotz der Bewertung, dass die externen Rahmenbedingungen, wie etwa Überführung der Grundaltersrente zur Grundrente, das Bedenken der Bürger gegen die willkürliche Leitung des Bürgerrentenfonds und die durch die Weltwirtschaftskrisen bedingten starken Schwankungen auf dem Finanzmarkt, den Wert der BRV herabsetzen, ist dennoch davon auszugehen, dass ihr beim Ausbau des sozialen Sicherungsnetzes in der koreanischen Gesellschaft zukünftig ein immer größeres Gewicht zukommen wird. Sofern dem Sozialstaatsprinzip neben der Demokratie und dem Rechtsstaatsprinzip der Rang eines überragend wichtigen Verfassungsprinzips eingeräumt wird, ist es in der heutigen Zeit unerlässlich, der BRV für den Sozialstaat eine ähnlich herausragende Bedeutung wie dem Mehrparteiensystem für die Demokratie zukommen zu lassen. Es ist noch nicht sicher, ob die BRV im sozialen Sicherungssystem erfolgreich Wurzeln schlagen wird. Die BRV muss sich beständig den Herausforderungen stellen. Die koreanische Gesellschaft geht gegenwärtig davon aus, dass ihre Zukunft, unter verschiedenen anderen Faktoren, vor allem von der Verwirklichung des Sozialstaates und der gerechten Ausgestaltung des sozialen Sicherungsnetzes abhängt, wobei unter deren Ausformungen die BRV als unentbehrliches und nicht beliebig ersetzbares Element angesehen werden muss.

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Berichterstattung des Ministers für Strategie und Finanzen (http://www.mosf.go.kr, zuletzt besucht am: 29. 09. 2014). 88 Als Beispiel hierfür sind das Wahlversprechen der Einführung der Bürgerglückrente und deren Modifizierung zur Grundrente als Ersatz von der Grunaltersrente zu nennen, das in dem 2012 um die Staatspräsidentschaft geführten Wahlkampf eine entscheidende Rolle gespielt hat. Näher hierzu und zur Kritik daran vgl. Yun/Yang/Oh, a. a. O., S. 27 ff.

Zur Eigenart des Sonderbelastungsausgleichs nach Art. 106 Abs. 8 GG Von Johannes Hellermann, Bielefeld I. Einführung Nach einer etablierten Unterscheidung regelt die Finanzverfassung des Grundgesetzes (im engeren Sinne) vier Aspekte der finanziellen Beziehungen im Bundesstaat: neben der Verteilung der Steuergesetzgebungskompetenzen und der Organisation der Finanzverwaltung, die im Folgenden nicht näher interessieren werden, die Verteilung der Finanzmassen zwischen Bund und Ländern sowie die Verteilung der Ausgabenverantwortung.1 Gerade für das Verständnis der beiden letztgenannten Aspekte der bundesstaatlichen Finanzverfassung ist ihr Verhältnis zu der vorausliegenden Verteilung der (Verwaltungs-)Aufgaben wesentlich, weshalb – nicht zufällig – die drei Regelungskomplexe der Aufgaben-, Ausgaben- und Einnahmenverteilung finanzwissenschaftlich unter einem weiten Begriff des Finanzausgleichs zusammengefasst werden.2 Die Finanzverfassung des Grundgesetzes kennt allerdings einige Bestimmungen, die sich dieser Systematik einer vor dem Hintergrund der Aufgabenverteilung getroffenen Unterscheidung von Lasten- und Einnahmenverteilung allenfalls mühsam einfügen. Grund dafür ist bei manchen von ihnen – leicht erkennbar – der Umstand, dass sie Ergebnis eines aus aktuellem Anlass geborenen politischen Kompromisses sind, dessen Ergebnis sich nicht den systematisch vorgegebenen Formen fügen wollte; das gilt etwa für den Art. 106a GG, der aus Anlass der Regionalisierung des Schienenpersonennahverkehrs einen aus dem Steueraufkommen des Bundes an die Länder zu gewährenden Bundeszuschuss vorsieht,3 für Art. 106b GG, der als Kompensation für die Übertragung der Kraftfahrzeugsteuer auf den Bund ebenfalls einen Bundeszuschuss an die Länder aus dem Steueraufkommen des Bundes gewährt, oder für Art. 143d Abs. 2 und 3 GG, der vor dem Hintergrund der Einführung der sog. Schuldenbremse in Art. 109 Abs. 3 GG Konsolidierungshilfen für einzelne Bundesländer normiert, die von Bund und Ländern gemeinsam getragen werden. Auch die Regelung des Sonderbelastungsausgleichs in Art. 106 Abs. 8 GG zählt zu diesen schwer einordenbaren Vorschriften. Allerdings handelt es sich bei ihr nicht um eine solche 1

Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 1980, S. 1052. Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 28 ff. 3 Zur problematischen systematischen Stellung vgl. etwa Korioth (Fn. 2), S. 408 mit Fn. 2; Hidien, DVBl. 1997, 595 (596); Waldhoff, DVBl. 2013, 677 (685). 2

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ad-hoc-Regelung, sondern um eine vergleichsweise traditionsreiche Vorschrift. Sie geht zurück auf das Vorbild früherer Finanzausgleichsgesetze der Weimarer Zeit, die vorsahen, dass das Reich die Kosten zu übernehmen bzw. angemessene Zuschüsse zu leisten hatte, wenn den Ländern oder Gemeinden durch Verträge, Gesetze oder Verwaltungsmaßnahmen des Reichs besondere Kosten erwuchsen.4 In das Grundgesetz gelangte die heutige Regelung durch die Finanzverfassungsnovelle von 1956;5 durch das Finanzreformgesetz von 19696 wurde sie in Art. 106 Abs. 8 GG verschoben und redaktionell geringfügig geändert, und seither ist sie unverändert geblieben. Diese Regelungstradition legt die Vermutung nahe, dass die Regelung des Sonderbelastungsausgleichs eine spezifische, legitime Funktion innerhalb des Systems der grundgesetzlichen Finanzverfassung wahrnimmt. Das führt zu der die nachfolgenden Überlegungen leitenden Frage, wie diese Funktion zu bestimmen und wie Art. 106 Abs. 8 GG in der Finanzverfassung systematisch zu verorten ist – eine Frage, die sich vor dem Hintergrund des heutigen finanzverfassungsrechtlichen Umfelds des Art. 106 Abs. 8 GG, das sich durch seiner Einfügung nachfolgende Änderungen, vor allem durch die Ergänzung um klare Lastenverteilungsregelungen im Verhältnis von Bund und Ländern gewandelt hat, noch einmal anders und schärfer als zuvor stellt. Die nachfolgenden Ausführungen gehen zunächst knapp dem aktuellen Meinungsstand zu Art. 106 Abs. 8 GG nach (II.) und unternehmen dann den Versuch, die Bestimmung von ihrer systematischen Verortung in der Finanzverfassung und ihrer Eigenart her zu verstehen und damit auch einen Beitrag zur Behebung bestehender Auslegungsunsicherheiten zu leisten (III.), um mit einer knappen Schlussbemerkung (IV.) zu enden. II. Überblick über den Meinungsstand zu Art. 106 Abs. 8 GG Betrachtet man den aktuellen Meinungsstand zu Art. 106 Abs. 8 GG, so ist zunächst festzustellen, dass die Bestimmung keine hervorgehobene Rolle zu spielen scheint; weder kommt ihr, soweit ersichtlich, große praktische Bedeutung zu noch findet sie große Aufmerksamkeit im Schrifttum. Schaut man die vorhandenen Äußerungen genauer an, so zeigen sich freilich doch einige Unsicherheiten hinsichtlich der Verortung der Bestimmung in der Systematik der grundgesetzlichen Finanzverfassung sowie in einer Reihe von einzelnen Auslegungsfragen, die die Voraussetzungen und Rechtsfolgen der Vorschrift betreffen.

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Vgl. Friauf, VerwArch 66 (1975), 99 (101). Art. I des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Art. 106 des Grundgesetzes vom 24. Dez. 1956, BGBl. I S. 1077. 6 21. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 12. Mai 1969, BGBl. I S. 359. 5

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1. Einzelne Auslegungsfragen a) Tatbestandliche Voraussetzungen Tatbestandlich setzt Art. 106 Abs. 8 GG seinem Wortlaut nach voraus, dass der Bund in einzelnen Ländern oder Gemeinden bzw. Gemeindeverbänden besondere Einrichtungen veranlasst, die diesen Ländern oder Gemeinden bzw. Gemeindeverbänden unmittelbar Mehrausgaben oder Mindereinnahmen (Sonderbelastungen) verursachen. Was die geforderte Veranlassung besonderer Einrichtungen angeht, ist unumstritten, dass mindestens ein für die fragliche Einrichtung ursächliches Verhalten des Bundes vorliegen muss.7 Teilweise wird darüber hinaus verlangt, dass dem Verhalten des Bundes über den bloßen Kausalnexus hinaus ein inhaltliches, seine Verantwortlichkeit begründendes Element zukommen müsse, das in der Finalität seines Verhaltens gesehen wird; seine Lastenausgleichspflicht soll nur eintreten, wenn sein Verhalten auf die Verursachung der belastenden Einrichtung angelegt ist.8 Vor allem aber ist umstritten, wer Träger der veranlassten Einrichtung sein muss. Teilweise wird angenommen, dass die in Art. 106 Abs. 8 GG angesprochene Einrichtung nicht die (primäre) Bundeseinrichtung sein könne, sondern nur die vom Bund veranlasste sekundäre Einrichtung (oder Folgeeinrichtung) des jeweiligen Anspruchsberechtigten, also des betreffenden Landes bzw. der betreffenden Kommune.9 Wohl überwiegend wird jedoch vertreten, dass sowohl vom Bund selbst getragene Einrichtungen wie auch vom Bund veranlasste Einrichtungen der anspruchsberechtigten Körperschaft (oder auch anderer Träger) als „Einrichtung“ i.S.v. Art. 106 Abs. 8 S. 1 GG in Betracht kommen.10 Eine besondere Einrichtung soll vorliegen, wenn diese nicht in allen oder in einer Vielzahl von Ländern bzw. Kommunen existiert.11 Umstritten ist dann weiter, ob nur Lasten, die auf den Betrieb einer Einrichtung zurückgeführt werden können, beachtlich sind oder auch Lasten auf Grund der Schließung einer Einrichtung;12 dafür wird geltend gemacht, dass auch die mit der Schließung auftretenden Sonderlasten bereits mit der Veranlassung der Einrichtung begründet worden sind.13

7

Kube, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG, 2. Aufl. 2013, Art. 106 Rn. 52. H. Meyer, Die Finanzverfassung der Gemeinden, 1969, S. 167; Friauf, VerwArch 66 (1975), 99 (103). 9 Meis, Verfassungsrechtliche Beziehungen zwischen Bund und Gemeinden, 1989, S. 113 ff.; Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. 3, 2. Aufl. 2008, Art. 106 Rn. 42. 10 H. Meyer (Fn. 8), S. 166; Schwarz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 106 Rn. 151; Heintzen, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Bd. 2, 6. Aufl. 2012, Art. 106 Rn. 57; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, 13. Aufl. 2014, Art. 106 Rn. 20. 11 H. Meyer (Fn. 8), S. 166 f.; Schwarz (Fn. 10), Art. 106 Rn. 151. 12 Ablehnend Kube (Fn. 7), Art. 106 Rn. 47; Pieroth (Fn. 10), Art. 106 Rn. 20; Schwarz (Fn. 10), Art. 106 Rn. 153. 13 Heintzen (Fn. 10), Art. 106 Rn. 59. 8

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Weiterhin muss, wie das Bundesverwaltungsgericht betont hat, mit hinreichender Sicherheit feststehen, dass dadurch tatsächlich eine Schwächung der Finanzkraft der betroffenen Körperschaft durch Mehrausgaben oder Mindereinnahmen verursacht worden ist.14 Schon hinsichtlich des Umfangs berücksichtigungsfähiger Mehrausgaben oder Mindereinnahmen gibt es dann jedoch zumindest graduelle Unterschiede. Während teils nur unmittelbar, also zwangsläufig verursachte Mehrausgaben oder Mindereinnahmen ausgleichspflichtig sein sollen,15 wollen andere großzügiger auch sekundäre Folgebelastungen einbeziehen.16 Mehrausgaben können vor allem auf Infrastrukturmaßnahmen beruhen, die die vom Bund veranlasste Einrichtung erforderlich macht.17 Insbesondere soweit es um Mindereinnahmen geht, verlangt das Bundesverwaltungsgericht, dass mit hinreichender Sicherheit feststeht, dass es überhaupt zu den erwarteten Erträgen gekommen wäre und dass der Ertragsausfall unmittelbar auf die (Bundes-)Einrichtung zurückzuführen ist.18 Die vom Bund veranlassten Sonderbelastungen müssen schließlich unzumutbar sein. Folgerichtig wird für die Konkretisierung dieses unbestimmten Rechtsbegriffs auf die Schwere der Belastung und auf das Ausmaß der Ungleichbehandlung abgestellt. Tatbestandlich nicht zureichend sollen danach einerseits bloße Bagatellfälle oder der Anfall normaler Betriebs- und Unterhaltungskosten, andererseits Belastungen sein, die der Bund den Ländern und Kommunen in gleicher Weise auferlegt.19 b) Rechtsfolgen Hinsichtlich der Rechtsfolgen besteht heute Einigkeit darüber, dass Art. 106 Abs. 8 GG bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen einen – verwaltungsgerichtlich durchsetzbaren – Anspruch gegen den Bund begründet.20 Dieser ist dem Umfang nach sowohl in zeitlicher wie auch in sachlicher Hinsicht allein durch die Höhe und Art der Sonderbelastung begrenzt.21 Einigkeit besteht wohl auch darüber, dass allein eine Geldleistung des Bundes in Betracht kommt.22 Nicht ganz geklärt ist jedoch, ob der Bund allein auf die Möglichkeit des Ausgleichs der Sonderbelastung durch Geldleistung beschränkt ist oder ob ihm auch die davon zu unterscheidende

14

BVerwG, DÖV 1994, 437. Schwarz (Fn. 10), Art. 106 Rn. 152. 16 Kube (Fn. 7), Art. 106 Rn. 46. 17 Heintzen (Fn. 10), Art. 106 Rn. 59. 18 BVerwG, DÖV 1994, 437. 19 Heintzen (Fn. 10), Art. 106 Rn. 61. 20 Heintzen (Fn. 10), Art. 106 Rn. 55; Kube (Fn. 7), Art. 106 Rn. 49; Schwarz (Fn. 10), Art. 106 Rn. 156 f. Vgl. H. Meyer (Fn. 8), S. 163 ff. dazu, dass bzgl. der Weimarer Vorgängervorschriften zwar eine Verpflichtung des Reichs angenommen, jedoch ein Anspruch verneint wurde. 21 Hidien, in: BK-GG, Art. 106 Rn. 1283. 22 H. Meyer (Fn. 8), S. 175; Meis (Fn. 9), S. 108 Fn. 188. 15

Zur Eigenart des Sonderbelastungsausgleichs nach Art. 106 Abs. 8 GG

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Möglichkeit zur Verfügung steht, die durch die von ihm veranlasste Einrichtung verursachten Kosten zu übernehmen.23 Im Grundsatz dürfte geklärt sein, dass die verfassungsrechtliche Begründung des Anspruchs der Möglichkeit einer vertraglichen Vereinbarung von Sonderbelastungsausgleichen Grenzen setzt. Insoweit wird auf die Indisponibilität und Exklusivität der Finanzierungszuständigkeiten hingewiesen.24 Das schließt allerdings eine vertragliche Einigung über den gebotenen Ausgleich nicht zwingend und vollständig aus. So wird es für zulässig gehalten, dass der Bund und das jeweilige Land bzw. die jeweilige Kommune sich unter Beachtung von § 59 VwVfG in einem Vertrag über die Höhe des Ausgleichs vergleichen.25 Auch die näheren Modalitäten des Ausgleichs sollen einer vertraglichen Regelung zugänglich sein.26 Weitergehend wird allerdings die Möglichkeit einer vertraglichen Vereinbarung eines Sonderlastenausgleichs unterstellt, wenn vertraglich gewährte Ausgleichsleistungen als jedenfalls nicht verfassungsrechtlich zwingend charakterisiert werden.27 2. Der Standort in der Finanzverfassung des Grundgesetzes Jenseits dieser begrenzten einzelnen Auslegungsunsicherheiten besteht eine grundsätzliche Ungewissheit hinsichtlich der systematischen Verortung des Art. 106 Abs. 8 GG zwischen konkret aufgabenbezogener Lastenverteilung und allgemein finanzkraftbezogener Einnahmenverteilung. Sie kommt noch nicht voll zum Ausdruck, wenn Art. 106 Abs. 8 GG in eher allgemein gehaltenen Formulierungen als eine Ausnahmevorschrift charakterisiert wird, die atypische, d. h. solche Belastungen ausgleichen soll, die im Rahmen des allgemeinen Finanzausgleichssystems nicht erfasst werden.28 Uneinheitlicher wird das Bild, wenn es um die konkretere Zuordnung geht. Einzelne Autoren sehen den in Art. 106 Abs. 8 GG geregelten Sonderlastenausgleich als Durchbrechung der Konnexität nach Art. 104a Abs. 1 GG und insofern als besondere Lastentragungsregel an.29 Andere wollen ihn hingegen wegen seiner Orientierung an Mehrbelastungen bzw. Mindereinnahmen und wegen seines Ziels der Finanzkrafterhaltung zu den aufgabenunspezifischen Ausgleichsmechanis-

23 So Korioth (Fn. 2), S. 25 f., und Meis (Fn. 9), S. 108 f.; Schwarz (Fn. 10), Art. 106 Rn. 156. 24 Vgl. Hidien (Fn. 21), Art. 106 Rn. 1285. 25 Heintzen (Fn. 10), Art. 106 Rn. 56, mit dem Hinweis auf die Vereinbarung über Ausgleichsmaßnahmen für die Region Bonn vom 29. Juni 1994 als Bespiel für eine solche vertragliche Vereinbarung i.S. eines Vergleichs. 26 Vgl. Hidien (Fn. 21), Art. 106 Rn. 1285. 27 So Kloepfer, Finanzverfassungsrecht, 2014, § 5 Rn. 138, in Bezug auf die Vereinbarung über Ausgleichsmaßnahmen für die Region Bonn. 28 Schwarz (Fn. 10), Art. 106 Rn. 147. 29 Kube (Fn. 7), Art. 106 Rn. 52; Kloepfer (Fn. 27), § 5 Rn. 133.

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men für den Haushalt zählen.30 Wiederum andere wollen danach differenzieren, ob der Bund nach Art. 106 Abs. 8 GG die durch die von ihm veranlasste Einrichtung verursachten Kosten übernimmt oder aber einen Ausgleich durch (zweckungebundene) Geldleistung vornimmt.31 Schließlich steht die Qualifikation als insoweit nicht eindeutig zuordenbare Sonderregelung im Raum.32 III. Art. 106 Abs. 8 GG in seiner besonderen systematischen Stellung und Funktion Mit Blick auf die Unsicherheiten, die hinsichtlich der Voraussetzungen und Rechtsfolgen des Art. 106 Abs. 8 GG bestehen, erscheint es hilfreich, sich um eine Schärfung des Verständnisses seines Ausnahmecharakters zu bemühen. Deshalb soll im Folgenden der Versuch unternommen werden, Art. 106 Abs. 8 GG etwas genauer in der Finanzverfassung des Grundgesetzes im Spannungsfeld von Einnahmen- und Lastenverteilungsregelungen zu verorten und so die besondere Eigenart dieser Regelung genauer zu bestimmen, um damit auch einen Ausgangspunkt für die Beantwortung allfälliger Interpretationsfragen zu gewinnen. 1. Die Eigenart des Art. 106 Abs. 8 GG zwischen Lasten- und Einnahmenverteilungsregelung Was genau also begründet den besonderen Charakter des Art. 106 Abs. 8 GG, inwiefern erfasst er als Ausnahmevorschrift atypische Situationen, die von den allgemeinen Finanzausgleichs- und Lastenverteilungsregeln nicht bewältigt werden? In der Sache – so die knapp zusammengefasste These – ist dieser Ausnahmecharakter darin zu erblicken, dass es Art. 106 Abs. 8 GG um den Ausgleich von unzumutbaren Sonderbelastungen geht, die der Bund durch Wahrnehmung seiner (Verwaltungs-) Aufgaben gegenüber anderen Gebietskörperschaften, Ländern oder Kommunen, in der Wahrnehmung ihrer (Verwaltungs-)Aufgaben bewirkt. Diese Umschreibung des spezifischen Anwendungsbereichs und Zwecks der Vorschrift soll in Abgrenzung zu den Lastentragungsregeln einerseits, den Regelungen über die Einnahmenverteilung andererseits weiter konkretisiert und veranschaulicht werden. Es handelt sich bei Art. 106 Abs. 8 GG nicht um eine Lastentragungsregel, weil der Grund der Leistungspflicht des Bundes nicht in seiner Zuständigkeit oder Verantwortlichkeit für die Verwaltungsaufgabe liegt, in deren Wahrnehmung die auszuglei30 H. Meyer (Fn. 8), S. 176: „finanzausgleichsrechtliche Bestimmung“; F. Kirchhof, Empfehlen sich Maßnahmen, um in der Finanzverfassung Aufgaben- und Ausgabenverantwortung von Bund, Ländern und Gemeinden stärker zusammenzuführen? Gutachten D für den 61. Deutschen Juristentag, in: Verhandlungen des einundsechzigsten Deutschen Juristentages, Bd. 1, München 1996, S. D 37; Kloepfer (Fn. 27), § 5 Rn. 133 f., der den Sonderbelastungsausgleich unter den Modifikationen des Finanzausgleichs mit Bundesmitteln einordnet. 31 Korioth (Fn. 2), S. 25 f., und Meis (Fn. 9), S. 108 f. 32 Hellermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 104a Rn. 70.

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chenden Sonderbelastungen auftreten. Rechtlich bleibt die Zuständigkeit und Verantwortlichkeit für diese Verwaltungsaufgabe bei den betroffenen Ländern bzw. Kommunen.33 Die Veranlassung, auf die Art. 106 Abs. 8 GG abstellt, meint gerade keine rechtliche Übertragung von Aufgaben durch den Bund auf das jeweilige Land oder die jeweilige Kommune; für die Kommunen kann man das heute in systematischer Interpretation durch das Durchgriffsverbot des Art. 84 Abs. 1 S. 7, 85 Abs. 1 S. 2 GG, das dem Bund die Übertragung von Aufgaben auf Gemeinden und Gemeindeverbände untersagt, bestätigt sehen. Auch eine rechtliche Verlagerung der Verantwortlichkeit für die Aufgabenbegründung oder -wahrnehmung, die in Art. 104a Abs. 2, Abs. 3 S. 1 GG den Grund für besondere Lastentragungsregeln darstellt, liegt nicht vor. Es geht vielmehr um faktische Auswirkungen der Wahrnehmung von Bundesaufgaben auf den Aufgabenbereich von Ländern und Kommunen. Im allgemeinen geht die grundgesetzliche Zuständigkeits- und Lastenverteilungsregelung unausgesprochen davon aus, dass solche faktischen Wechselwirkungen zwischen der Aufgabenwahrnehmung von Bund und Ländern mit ihren Kommunen stattfinden, ohne dass darauf reagiert werden müsste. Art. 106 Abs. 8 GG will aber solche spezifischen Konstellationen erfassen, in denen die faktische Einwirkung des Bundes auf die Aufgabenwahrnehmung von Ländern und Kommunen ohne finanziellen Ausgleich nicht mehr zumutbar ist. Solche spezifischen Konstellationen werden aber auch von den allgemeinen Finanzausgleichsregelungen nicht erfasst. Der bundesstaatliche Finanzausgleich soll, wie das Bundesverfassungsgericht ausgeführt hat, grundsätzlich sicherstellen, dass allen Gliedern des Bundesstaats eine aufgabenangemessene Finanzausstattung zukommt.34 Dies geschieht im Wesentlichen durch eine angemessene Angleichung der Finanzkraft der Länder und nur sehr begrenzt, namentlich durch die sog. Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen durch den Ausgleich besonderer Ausgabenlasten; spezifische, vereinzelt auftretende Sonderbelastungen der Art, wie Art. 106 Abs. 8 GG sie erfasst, bleiben im Bund-Länder-Finanzausgleich unbeachtet. Soweit solche spezifischen Sonderbelastungen bei den Kommunen anfallen, werden sie regelmäßig auch nicht durch die Länder im Rahmen des kommunalen Finanzausgleichs berücksichtigt.35 Auch hierauf reagiert Art. 106 Abs. 8 GG, indem er – anders als die bundesstaatliche Finanzverfassung im Übrigen, die grundsätzlich von der Zweistufigkeit der Finanzverfassung und damit von der Annahme ausgeht, dass die Kommunen finanzverfassungsrechtlich als Teil der Länder behandelt werden, weshalb der Bund weder berechtigt noch verpflichtet sein soll, die finanziellen

33 Deshalb überzeugt das Argument von Korioth (Fn. 2), S. 26 Fn. 22, für eine Qualifikation des Art. 106 Abs. 8 GG als Lastenverteilungsregel, der Anspruchsgrund von Art. 106 Abs. 8 GG liege in der Veranlassung besonderer Kosten durch den Bund, die eine entsprechende Kostentragungspflicht des Bundes zur Folge habe, nicht. 34 BVerfGE 72, 330 (383). 35 Auf diesen in vorliegendem Zusammenhang wenig beachteten Gesichtspunkt verweist zu Recht H. Meyer (Fn. 8), S. 172.

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Verhältnisse der Gemeinden unmittelbar ohne Einschaltung der Länder zu ordnen36 – unmittelbare finanzverfassungsrechtliche Beziehungen auch zwischen Bund und Gemeinden bzw. Gemeindeverbänden zulässt bzw. anordnet. Das macht die Bestimmung auch insoweit zu einer verfassungssystematischen Besonderheit. Mit Recht wird in der Ermöglichung unmittelbarer Finanztransfers vom Bund hin zu den Kommunen zum Ausgleich unzumutbarer Sonderbelastungen sogar die besondere Bedeutung des Art. 106 Abs. 8 GG gesehen,37 denn die Kommunen als kleinere Einheiten geraten viel eher in die dort geregelte Sonderbelastungssituation. Von den Lastenverteilungsregeln einerseits, den Finanzausgleichsregelungen andererseits unterscheidet sich der Anspruch aus Art. 106 Abs. 8 GG demnach sowohl hinsichtlich des erfassten Sachverhalts wie auch – durch die Erstreckung auf Kommunen – hinsichtlich der Anspruchsberechtigung. Beides hängt, wie gesehen, sachlich miteinander zusammen. In diesen Besonderheiten erweist sich Art. 106 Abs. 8 GG als eine außerhalb der regulären bundesstaatlichen Lasten- und Finanzmittelverteilung stehende Sondervorschrift, die dazu dient, ein einzelnen Gebietskörperschaften durch den Bund auferlegtes Sonderopfer auszugleichen.38 2. Folgerungen für die Auslegung Was kann man aus diesen Überlegungen zur besonderen Funktion des Art. 106 Abs. 8 GG neben Lastentragungs- und Finanzausgleichsregelungen für sein Verständnis im Einzelnen ableiten? a) Anwendungsbereich Zunächst folgt daraus, dass Veranlassung i.S.v. Art. 106 Abs. 8 GG gerade nicht Fälle der (bundesgesetzlichen) Aufgabenübertragung auf Länder oder Kommunen meint. Die finanziellen Folgen solcher Aufgabenübertragungen auf die Länder sind durch Art. 104a GG geregelt; Aufgabenübertragungen des Bundes auf die Kommunen sind seit der Föderalismusreform I durch Art. 84 Abs. 1 S. 7, 85 Abs. 1 S. 2 GG untersagt (und im Verhältnis der Länder zu den Kommunen von den landesverfassungsrechtlichen Konnexitätsregelungen erfasst). Art. 106 Abs. 8 GG findet auf solche Konstellationen keine Anwendung. Veranlassung meint vielmehr die tatsächliche Einwirkung eines Verhaltens des Bundes auf die Aufgabenwahrnehmung der betroffenen Gebietskörperschaft. Der Zweck des Art. 106 Abs. 8 GG, einer so vom Bund bewirkten Schwächung der kommunalen Finanzkraft – in Gestalt von Mehrausgaben oder Mindereinnahmen – Rech36

BVerfGE 26, 172 (181 f.). Meis (Fn. 9), S. 110. 38 H. Meyer (Fn. 8), S. 175, verwahrt sich insoweit – zu Recht – gegen eine Anleihe bei Art. 14 GG, doch steht dies der Charakterisierung als Regelung zum Ausgleich eines Sonderopfers nicht entgegen. 37

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nung zu tragen,39 steht dann insoweit einschränkenden Auslegungsansätzen entgegen; tatbestandliche Einschränkungen bezüglich des Handelns des Bundes, das die Sonderbelastungen auslöst, sind im Lichte des Zwecks der Bestimmung kein überzeugender Ansatz zur Begrenzung der Ausgleichspflicht. Bezeichnenderweise sieht Art. 106 Abs. 8 GG anders als die frühen Vorgängerbestimmungen der Weimarer Zeit keine tatbestandliche Einschränkung auf bestimmte Handlungsformen (Verträge, Gesetze oder Verwaltungsmaßnahmen) vor, und anfängliche Versuche, für die Auslegung der grundgesetzlichen Sonderbelastungsausgleichsregelung auf diese Formtypik zurückzugreifen, sind erfolglos geblieben.40 Es erscheint mit dem verfolgten Zweck auch nicht vereinbar, für das Veranlassen ein besonderes finales Moment zu fordern,41 denn es geht nicht um die Sanktionierung eines intendierten Verhaltens des Bundes, sondern um einen Ausgleich für die unzumutbar geschwächte Finanzkraft der betroffenen Gebietskörperschaft. Auch die teilweise vertretene Beschränkung auf die Veranlassung einer Einrichtung des betreffenden Landes bzw. der betreffenden Kommune überzeugt nicht. Ohnehin ist der Begriff der Einrichtung im öffentlich-rechtlichen Sprachgebrauch wenig aussagekräftig und deshalb zur tatbestandlichen Eingrenzung wenig tauglich.42 Zudem ist jedenfalls nicht leicht einsichtig, wie eine vom Bund veranlasste Einrichtung des betroffenen Landes bzw. der betroffenen Kommune dem Land bzw. der Kommune Sonderbelastungen in Gestalt von Mindereinnahmen bescheren soll; die Anerkennung von Mindereinnahmen als Sonderbelastungen dürfte eher darauf verweisen, dass auch die Einnahmensituation beeinträchtigende Einrichtungen des Bundes erfasst sind. Auch eine restriktive Interpretation des Begriffs der besonderen Einrichtung überzeugt bei einer am Zweck der Bestimmung orientierten Auslegung nicht; vorgeschlagen wird, (nur) solche Einrichtungen als ausgeschlossen anzusehen, die der Bund in allen oder einer unbestimmten Vielzahl von Gebietskörperschaften veranlasst.43 Bei einer am Zweck der Bestimmung orientierten Auslegung besteht schließlich auch kein Anlass, die aus der Schließung einer Einrichtung folgenden Sonderbelastungen von Art. 106 Abs. 8 GG nicht auch erfasst zu sehen. Hinsichtlich der zu berücksichtigenden – und dann auszugleichenden – Sonderbelastungen dürfte eine Unterscheidung zwischen unmittelbar im Sinne von zwangsläufig oder primär verursachten Lasten und sekundären Folgebelastungen kaum weiterführend sein. Überzeugender erscheint es, als unmittelbar verursacht alle Sonderbelastungen anzusehen, denen sich die betroffene Gebietskörperschaft nach pflichtgemäßem Ermessen aufgrund des Verhaltens des Bundes nicht entziehen kann.44 Das für die Begrenzung des Sonderbelastungsausgleichs zentrale Tatbestandsmerkmal 39

Vgl. BVerwG, DÖV 1994, 437; BVerwG, NVwZ 1992, 264 (266). Friauf, VerwArch 66 (1975, 99 (101). 41 Ablehnend auch Meis (Fn. 9), S. 117 ff. 42 So zu Recht auch H. Meyer (Fn. 8), S. 165. 43 H. Meyer (Fn. 8), S. 166. 44 Vgl. Schwarz (Fn. 10), Art. 106 Rn. 152. 40

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liegt dann in dem unbestimmten Rechtsbegriff der Unzumutbarkeit. Insofern ist es folgerichtig, wenn zum einen gefordert wird, insoweit seien nur von den Finanzausgleichsregeln typischerweise nicht erfasste Sonderbelastungen zu berücksichtigen;45 zum anderen wird treffend angenommen, dass mit diesem Begriff auf die Dogmatik der Sonderopferentschädigung verwiesen werde und die Schwere der Belastung sowie das Ausmaß der Ungleichbehandlung ausschlaggebend würden.46 b) Rechtsfolgen Auf der Rechtsfolgenseite begründet Art. 106 Abs. 8 GG einen Anspruch auf den erforderlichen Ausgleich für die unzumutbaren Sonderbelastungen. Dass der Bund diesen Anspruch auch durch eine Übernahme von Kosten der von ihm veranlassten Einrichtungen der betroffenen Gebietskörperschaft erfüllen könnte, wie mitunter angenommen wird, überzeugt nicht. Wie gesehen handelt es sich bei Art. 106 Abs. 8 GG nicht um eine Lastentragungsregelung. Vielmehr lässt Art. 106 Abs. 8 GG nicht nur die Zuständigkeitsverteilung und Verantwortlichkeit für die Aufgabenwahrnehmung, sondern auch die Lastentragung in Bezug auf die durch das Handeln des Bundes tangierten Aufgabenbereiche der betroffenen Gebietskörperschaft unberührt. Sein Zweck ist es, für die durch das Handeln des Bundes bewirkten Sonderbelastungen, die die allgemeine Finanzkraft der Gebietskörperschaft schwächen, einen Ausgleich vorzusehen. Diesem Zweck entspricht es, wenn der Ausgleich allein durch eine zweckungebundene47 Geldleistung erfolgt.48 Aus der begrenzten Korrekturfunktion, die Art. 106 Abs. 8 GG für den Fall zukommt, dass eine sonst von der Finanzverfassung nicht aufgefangene unzumutbare Sonderbelastung für ein Land oder eine Kommune auftritt, folgt im übrigen, dass die Gewährung eines Sonderbelastungsausgleichs auch nur bei Vorliegen der Voraussetzungen erfolgen darf. Mit Recht wird deshalb die Zulässigkeit vertraglicher Vereinbarungen auf Regelungen von Modalitäten oder vergleichsweise Verständigungen über den Umfang unzumutbarer Sonderbelastungen bzw. gebotener Ausgleichsleistungen beschränkt. IV. Schluss Art. 106 Abs. 8 GG erweist sich in der Tat als eine Bestimmung, die sich den großen finanzverfassungsrechtlichen Regelungskomplexen der Einnahmenverteilung und der Lastentragung nicht zuordnen lässt. Es handelt sich um eine Sondervorschrift, die von diesen beiden Regelungskomplexen nicht erfasste, vom Bund faktisch bewirkte besondere Belastungssituationen für einzelne Länder und Kommunen 45

Heun (Fn. 9), Art. 106 Rn. 41. Heintzen (Fn. 10), Art. 106 Abs. 61; Kube (Fn. 7), Art. 106 Rn. 48. 47 Vgl. dazu näher Hidien (Fn. 21), Art. 106 Rn. 1285. 48 So etwa Heintzen (Fn. 10), Art. 106 Rn. 56; Pieroth (Fn. 10), Art. 106 Rn. 19; wohl auch Hidien (Fn. 21), Art. 106 Rn. 1281. 46

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abdeckt. Indem sie diesen auferlegte, unzumutbare Sonderopfer sozusagen durch eine Fein- oder Detailkorrektur auffängt, ergänzt und stabilisiert sie die generellen Regelungen über die Lastentragung und die Finanzausstattung von Ländern und Kommunen. Sie lässt diesen ihre Bedeutung für die Stabilität der bundesstaatlichen Verfassung und bewahrt ihren eigenen Charakter als Sondervorschrift, auch wenn sie tatbestandlich nicht eng ausgelegt und ihr potentiell ein weiter Anwendungsbereich zuerkannt wird, solange sie auf den Ausgleich von unzumutbaren Sonderopfern, insbesondere einzelner Kommunen, beschränkt bleibt.

Finanzierungsverantwortung für gesetzgeberisch veranlasste kommunale Aufgaben Rückblick, Status, Ausblick Von Hans-Günter Henneke, Berlin „Je mehr man den Bund als den eigentlichen Garanten für die wirtschaftliche und sparsame Wahrnehmung einer von den Ländern oder Kommunen durchgeführten Aufgabe ansieht, umso mehr wird man ihn für berechtigt halten müssen, diese Wirtschaftlichkeit durch Detailregelungen und die Festlegung von Standards zu sichern.“ Rudolf Wendt in: Festschrift für Klaus Stern, 1997, S. 603 (616)

Rudolf Wendt gehört seit 1994 zur Stammbesetzung des alljährlich im Frühjahr durchgeführten Professorengesprächs des Deutschen Landkreistages und hat durch seine Beiträge insbesondere zum Finanz- und Haushaltsrecht in den letzten 22 Jahren die inhaltlichen Debatten dieser Runde maßgeblich mitgeprägt. Dieser Befund trifft ebenso für Ferdinand Kirchhof, Friedrich Schoch und Joachim Wieland zu. I. Rückblick Dieses Quartett hat sich parallel zu der Zusammenführung im DLT-Professorengespräch 1994 intensiv mit der „Finanzierungsverantwortung für gesetzgeberisch veranlasste kommunale Aufgaben“ befasst. 1993 nahm nämlich in der Bundespolitik etwas seinen Anfang, was die Politik von Bund und Ländern im größer gewordenen Bundesstaat bis heute zentral beschäftigt: Der weitere Ausbau des Sozialstaates durch den Bundesgesetzgeber mit diversen Regelungsstufen zum Ausbau der Kinderbetreuung einerseits und der Schaffung und des Ausbaus eines Systems der im Wesentlichen kommunal ausgeführten und finanzierten Grundsicherung bei Modifizierung vorgelagerter Leistungssysteme. Genannt seien insoweit nur die Diskussionen um die Begrenzung der Arbeitslosenhilfe auf zwei Jahre im Jahre 1993, die Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zur Grundsicherung für Arbeitsuchende ab 2005, die Neuregelung einer Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, die Neuregelung des SGB XII, die Schaffung eines sog. Bildungsund Teilhabepakets nach dem SGB II und SGB XII, die Unterbringung von und die Erbringung weiterer Leistungen für Asylbewerber, aber auf anderem Felde etwa auch die Regionalisierung des öffentlichen Personennahverkehrs.

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1. Schoch/Wieland: Gesetzeskausalität für Geld- und Sachleistungen Den Aufschlag im rechtlichen Zugriff machten Friedrich Schoch und Joachim Wieland. Formal wurden sie von den hessischen kommunalen Spitzenverbänden beauftragt. Die inhaltliche Koordinierung des rechtlichen und rechtspolitischen Vorgehens lag indes nicht zufällig beim Deutschen Landkreistag, waren und sind doch die Kreise noch deutlich vor den kreisfreien Städten die jeweils Hauptbetroffenen der vorgenannten politischen Entwicklungen. Schoch und Wieland legten im Februar 1995 ihre bis heute grundlegende Untersuchung: „Finanzierungsverantwortung für gesetzgeberisch veranlasste kommunale Aufgaben“ vor, die zu den Kernergebnissen gelangte, dass der bundesunmittelbare Durchgriff auf die Kommunen mit Art. 84 Abs. 1 GG a.F. nicht zu vereinbaren und überdies die Lösung in den landesverfassungsrechtlichen Konnexitätsregelungen zu suchen sei, die es seinerzeit allerdings nur in acht Flächenländern, davon vier mit nur relativem Konnexitätsprinzip, gab. Der Eingriff des Bundes in den Verwaltungsraum der Länder sei nur zulässig, wenn dieser für den wirksamen Vollzug des Bundesrechts notwendig sei. Das sei regelmäßig nicht der Fall. Dann liege die Entscheidung entsprechend dem Grundgesetz gemäß Art. 83 f. GG bei den Ländern, ob sie die Verwaltungsaufgabe durch eigene Landesbehörden erledigen wollten oder ihnen zuzuordnende Rechtspersonen mit der Verwaltungsaufgabe betrauten. Weise das Land die Verwaltungsaufgabe den Kommunen zu, greife der Kerngedanke des Konnexitätsprinzips, einen finanziellen Ausgleich in den Fällen zu gewährleisten, in denen das Land die Kommunen durch die Übertragung von Aufgaben belaste und sich selbst in der Aufgabenübertragung von eigenen Kosten entlaste.1 Mit Blick auf die Steuerverteilung hoben Schoch/Wieland den Zusammenhang der Revision des Umsatzsteuerbeteiligungsverhältnisses mit Art. 104a GG hervor.2 Die finanziellen Belange der Kommunen flössen in die Deckungsquotenberechnung auf Seiten der Länder ein, die Kommunen könnten jedoch direkt aus Art. 106 Abs. 4 S. 1 GG keine Revision der Deckungsquoten verlangen. Die Kommunen seien vielmehr darauf beschränkt, von ihrem Land mit Blick auf dessen Garantenstellung für eine angemessene kommunale Finanzausstattung zu verlangen, dass es eine Revision der Umsatzsteuerverteilung gegenüber dem Bund beanspruche. Der Bundesgesetzgeber habe bei seinen die Gemeinden betreffenden Regelungen und seiner umfassenden steuergesetzlichen Regelungskompetenz eine Berücksichtigung auch der finanziellen Deckungsbedürfnisse der Gemeinden vorzunehmen. Wenn der Bundesgesetzgeber den Gemeinden neue Aufgaben zuweise, die zu merklichen Ausgaben führten, verändere dies das Verhältnis der Deckungsbedürfnisse von Bund, Ländern und Gemeinden nach Art. 106 Abs. 4 S. 1 GG. Weise der 1 Schoch/Wieland, Finanzierungsverantwortung für gesetzgeberisch veranlasste kommunale Aufgaben, 1995, S. 125. 2 Schoch/Wieland (Fn. 1), S. 193 f.

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Bund durch gesetzliche Neuregelungen den Gemeinden den kostenträchtigen Verwaltungsvollzug von Aufgaben zu, müsse er die Verschlechterung der gemeindlichen Deckungsquoten entweder direkt durch Regelungen gem. Art. 106 Abs. 5 GG (= kommunaler Einkommensteueranteil) oder Art. 106 Abs. 6 S. 4 und 5 GG (= Senkung der Gewerbesteuerumlage) oder mittelbar durch eine Erhöhung des Anteils der Länder am Umsatzsteueraufkommen ausgleichen, was in der Praxis in der Vergangenheit auch geschehen sei.3 Unbefriedigend sei demgegenüber die Rechtslage für die Landkreise, da die geltende Fassung des Art. 106 GG die Kreisebene benachteilige. Abhilfe könne insoweit nur dadurch geschaffen werden, dass in Art. 106 GG eine Steuerertragsbeteiligung der (Land-)Kreise vorgesehen werde.4 Rechtspolitisch machten Schoch/Wieland Reformbedarf vorrangig bei Art. 104a GG aus.5 Im Lichte der qualitativ veränderten Bundesgesetzgebung (Durchnormierung mit schwindenden Gestaltungskompetenzen der Verwaltung, Statuierung von von Landes- und Kommunalbehörden zu erfüllenden Individualansprüchen, Schonung des Bundeshaushalts zu Lasten von Ländern und Kommunen) sei die Erkenntnis gereift, dass Art. 104a GG nicht nur in Bezug auf Geldleistungsgesetze reformbedürftig sei. Auf den Prüfstand müsse die Finanzierung der Ausführung von Bundesgesetzen durch die Länder einschließlich ihrer Kommunen insgesamt. Nur so werde die komplette bundesstaatliche Dimension der Problemstellung sichtbar. Schoch/Wieland präferierten eine Änderung des Art. 104a Abs. 2 und 3 GG mit dem Ziel, dass der Bund die Ausgaben bei der Ausführung von Bundesgesetzen durch die Länder zu tragen habe, wenn diese Zahlungen oder Sachleistungen vorsehen.6 Soweit die Leistungen im Ermessen der Länder stehen, könnten die Gesetze Abweichendes bestimmen. Der Bund hätte dadurch im Ergebnis vermehrt finanzielle Lasten zu tragen, wobei es selbstverständlich sei, dass als Folge der Strukturbereinigung der Bundesanteil am Steueraufkommen erhöht werden müsse. Nach Abschluss der Strukturreform werde jedoch in weitaus höherem Maße als bisher sichergestellt, dass jede Gebietskörperschaft vornehmlich zu Lasten des eigenen Haushalts wirtschafte. 2. Ferdinand Kirchhof: Grundsatz der Gesetzeskausalität Ferdinand Kirchhof hatte bereits auf der Bayreuther Staatsrechtslehrertagung 1992 vorgeschlagen: „Die Ausgabenkompetenz sollte sich nach der Aufgabenverursachung und -verantwortung richten. Die Zweckausgaben der Ausführung von Bundesgesetzen durch die Länder trägt

3 Schoch/Wieland (Fn. 1), S. 196. Die kommunale Umsatzsteuerbeteiligung in Art. 106 Abs. 5a GG gab es seinerzeit noch nicht. 4 Schoch/Wieland (Fn. 1), S. 197. 5 Schoch/Wieland (Fn. 1), S. 145 ff. 6 Schoch/Wieland (Fn. 1), S. 150.

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dann der Bund, soweit den Ländern kein Spielraum bei der Ausführung zusteht; die Verwaltungsausgaben bleiben bei den Ländern.“7

Im Rahmen der Bad Iburger Gespräche 1994 hat Ferdinand Kirchhof ergänzt: „Ein Junktim zwischen Aufgabenübertragung und Kostenerstattung würde auch die finanziell besonders delikate Situation beenden, dass die Kreise die Ausgaben für neue Aufgaben durch eine Kreisumlage finanzieren und damit einen Finanzkonflikt in die kommunale Ebene tragen müssen, obwohl die Ursache beim Land liegt.“8

Etwa zur gleichen Zeit wurde Ferdinand Kirchhof mit der Erstellung des Gutachtens D für den Karlsruher Juristentag 1996 zur Fragestellung: „Empfehlen sich Maßnahmen, um in der Finanzverfassung Aufgaben- und Ausgabenverantwortung von Bund, Ländern und Gemeinden stärker zusammenführen?“ beauftragt. Ferdinand Kirchhof stellte fest, dass die Prämisse des Art. 104a Abs. 1 GG, dass der Vollzug die Kosten staatlicher Aufgaben verursache, heute im Grundsatz nicht mehr zutreffe.9 Die Hauptursache bildeten vielmehr die gesetzlichen, detaillierten Aufträge an die Verwaltung. Deshalb solle grundsätzlich die gesetzgebende Körperschaft die Kosten der durch ihr Gesetz verursachten Zweckausgaben tragen; nur wo der verwaltenden Körperschaft noch ein Spielraum zu eigener Entscheidung zustehe, trage diese die Kosten. Bei der Ausführung von Bundesgesetzen habe der Bund die von ihm verursachten notwendigen Kosten den Ländern vollständig zu erstatten. Die Verwaltungsausgaben sollten weiterhin den Ländern bleiben. Die gesamte Kostenerstattung für ein Jahr solle durch ein jährliches Transfergesetz festgesetzt werden, um die Verteilungsfrage einmal im Jahr endgültig zu entscheiden, statt sie in zahllose Einzelerstattungen aufzuspalten. Die Lasten der Kommunen sollten nach dem gleichen Kausalitätsprinzip wie zwischen Bund und Ländern zugewiesen werden. Wo das Prinzip der Gesetzeskausalität anzuwenden sei, habe das Land grundsätzlich eine vollständige Erstattung der konkreten notwendigen Kosten vorzunehmen. 3. Rudolf Wendt: Lösung über Art. 106 und 107 GG hat Vorrang vor Änderung des Art. 104a GG Rudolf Wendt setzte in seinem Beitrag: „Finanzierungsverantwortung für gesetzgeberisch veranlasste kommunale Aufgaben“ in der Festschrift für Klaus Stern zu dessen 65. Geburtstag am 11. 01. 1997 dagegen andere Akzente, ohne die Befassung

7

F. Kirchhof, VVDStRL Band 52 (1993), S. 71 (110 Ls 18). F. Kirchhof, Gemeinden und Kreise in der bundesstaatlichen Finanzverfassung, in: J. Ipsen (Hrsg.), Kommunale Aufgabenerfüllung im Zeichen der Finanzkrise, 1995, S. 53 (65). 9 F. Kirchhof, Empfehlen sich Maßnahmen, um in der Finanzverfassung Aufgaben- und Ausgabenverantwortung von Bund, Ländern und Gemeinden stärker zusammenzuführen?, Gutachten D zum 61. Deutschen Juristentag, Karlsruhe 1996, D 97, Thesen 10 – 12, 15. 8

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des 61. Deutschen Juristentages dabei noch berücksichtigen zu können.10 Er nahm zunächst das Agieren des Deutschen Städtetages durchaus kritisch in den Blick: „Selbst für den Fall bundesrechtlich veranlasster Ausgaben rügen die Kommunen eine Mitverantwortung der Bundesländer für die beanstandeten Fehlentwicklungen, ja zeihen sie der heimlichen Kollusion. Ob dies für die Kommunen ein taugliches Mittel ist, die Bundesländer auf ihre Seite zu bringen, mag dahinstehen. Sie hegen Zweifel an der Weitergabe der vom Bund zugestandenen Mittel, ja an der Rolle der Länder als ,fürsorgende, selbstlose Treuhänder kommunaler Finanzmittel‘ überhaupt. Immerhin sei ja die Bundesregierung im Einvernehmen mit den kommunalen Spitzenverbänden bereit gewesen, einen Ausgleich durch Anhebung des Gemeindeanteils an der Einkommensteuer von 15 auf 16 Prozent zu schaffen.“11

Klar spricht Wendt aus, dass Eingriffe in die kommunale Selbstverwaltung nicht nur durch Aufgabenentzug erfolgten, sondern auch durch die Übertragung von zusätzlichen Aufgaben, die die kommunalen Ressourcen in erheblichem Maße beanspruchten und dadurch die Kapazitäten zur Wahrnehmung der Selbstverwaltungsaufgaben schmälerten.12 Landesrechtliche Zuweisungen von Aufgaben an die Kommunen seien nur in Ausnahmefällen angreifbar. Umso größere Bedeutung gewinne dabei die Frage nach der Notwendigkeit finanzieller Folgeregelungen im Landesrecht. Der Bund dürfe dagegen nicht praktisch voraussetzungslos auf die kommunale Ebene zugreifen, denn: „Die für die Verwaltung zuständigen Länder tragen die Finanzverantwortung auch für bundesgesetzlich zwingend veranlasste Kosten. Der Bund ist nicht berechtigt, geschweige denn verpflichtet, die von ihm bei den Kommunen veranlassten Kosten zu übernehmen oder auszugleichen; nicht nur staatsrechtlich, sondern auch finanzverfassungsrechtlich sind die Kommunen den Ländern zuzurechnen. Allerdings erwächst dem Bund aus seiner umfassenden Gesetzgebungskompetenz und seiner finanzpolitischen Gesamtverantwortung die Pflicht, die Länder und Kommunen im Wege der Steuer- und Finanzausgleichsgesetzgebung finanziell so auszustatten, dass sie die ihnen aufgebürdeten Ausgabelasten tragen können.“13

Der rechtspolitischen Zielsetzung, wie sie Schoch/Wieland und Kirchhof verfolgten, begegnete Wendt mit Skepsis, da sie auf fragwürdigen Annahmen beruhe. Und so fragt er: „Ist der Spielraum der Verwaltung wirklich durchweg so gering, dass regelmäßig von einer materiellen Verwaltungsverantwortung und einem nennenswerten Einfluss der Verwaltung

10 Wendt in: Verfassungsstaatlichkeit, Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburtstag, S. 603 ff. 11 Wendt (Fn. 10), S. 603 (607 f.). 12 Wendt (Fn. 10), S. 603 (608). 13 Wendt (Fn. 10), S. 603 (612 f.).

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auf die Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit der Aufgabenerledigung keine Rede mehr sein kann?“14

Gegenüber der in der Tat zunehmenden gesetzgeberischen Steuerung der kommunalen Selbstverwaltung sei die richtige Antwort nicht Resignation, sondern die ständige Erneuerung der Forderung an den Gesetzgeber, die Gesetze auf die unverzichtbaren Regelungen zu beschränken, um den kommunalen Handlungs- und Entfaltungsspielraum zu bewahren, echte Verwaltungsverantwortung zu ermöglichen und damit das Recht auf kommunale Selbstverwaltung zu respektieren. Unser föderales System setze gerade auf die große Variationsbreite der Modalitäten des verwaltungsmäßigen Vollzugs der öffentlichen Aufgaben und werte sie auch als Ausdruck eines Wettbewerbs um den ökonomischeren Einsatz der Ressourcen. Neben dem Eigengewicht der Verwaltungshoheit sei zu bedenken, dass mit der grundsätzlichen Koppelung von bundesgesetzlicher Veranlassung von Aufgaben und Ausgaben und Kostentragung dem Bund ein derartiges Mehr an Finanzmacht zuwüchse, dass es den Ländern künftig schwer fiele, die volle Sachverantwortung für die ihnen obliegenden Aufgaben zu bewahren. Zu berücksichtigen sei ferner, je mehr man den Bund als den eigentlichen Garanten für die wirtschaftliche und sparsame Wahrnehmung einer von den Ländern oder Kommunen durchgeführten Aufgaben ansehe, umso mehr werde man ihn für berechtigt halten müssen, diese Wirtschaftlichkeit durch Detailregelungen und die Festlegung von Standards zu sichern.15 Für die Beibehaltung der Verknüpfung von Finanzierungslast und Aufgabenzuständigkeit spreche schließlich, dass die mit der Wahrnehmung bestimmter Aufgaben für die Länder inklusive der Kommunen realiter verbundenen finanziellen Lasten vielfach durch den Gesamtzuschnitt der Landespolitik mitbestimmt würden.16 Sodann geht Wendt der Frage nach, ob eine Finanzierungsverantwortung des Bundes zumindest ausnahmsweise bei „einem erwiesenen Fehlen eines eigentlichen Ausführungsspielraums von Ländern oder Kommunen“ in Betracht zu ziehen sei.17 Dabei handele es sich um „ein lediglich auf bestimmte Geldleistungsgesetze beschränktes Phänomen, so dass eine spezifisch hierauf abgestellte Problemlösung ausreichte“. Jedenfalls seien Finanzleistungen des Bundes an die Länder für Landesaufgaben allenfalls als Ausnahme denkbar. Die von Schoch/Wieland sowie Kirchhof vorgeschlagenen Schritte führten zu einer „weiteren Unitarisierung unseres Bundesstaates“, die erst unvermeidlich würden, wenn „erwiesen wäre, dass die regulären Mechanismen der Finanzverteilung und des Finanzausgleichs des Bundesstaates keine angemessene Finanzausstattung der Gebietskörperschaften sichern könnten, d. h. eine Finanzausstattung, die auch die vom Bund zugewiesenen Aufga14

Wendt (Fn. 10), S. 615. Wendt (Fn. 10), S. 603 (616). 16 Wendt (Fn. 10), S. 603 (616). 17 Wendt (Fn. 10), S. 603 (617). 15

Finanzierungsverantwortung für gesetzgeberisch veranlasste kommunale Aufgaben 567 ben zu bewältigen erlaubt. Zugespitzt ließe sich daher sagen, dass die Überbürdung finanzieller Lasten auf Länder und Kommunen bei Licht besehen nur in zweiter Linie ein Thema des Art. 104a GG ist. Vorrangig ist die Überbürdung neuer Lasten in Art. 106, 107 GG zu thematisieren und rechtlich zu bewältigen. Für die definitiven zusätzlichen Kosten, die durch die bundesgesetzliche Erschließung neuer Aufgabenfelder für die Kommunen entstehen, muss daher ein Ausgleich über eine Neufestsetzung der Umsatzsteueranteile gem. Art. 106 Abs. 3 und 4 GG geschaffen werden. Die Länder wiederum sind gehalten, die aus der Erhöhung ihres Anteils gewonnenen Mittel den Kommunen auch tatsächlich zufließen zu lassen. Denn ist vom Neufestsetzungsgesetzgeber ein erhöhter kommunaler Finanzbedarf im Hinblick auf eine bundesgesetzlich zugewiesene Pflichtaufgabe zuerkannt worden, so erfordert die richtige (Hervorhebung im Original) Mittelverteilung zwischen Land und Kommunen, dass die hinzugewonnenen Deckungsmittel auch tatsächlich den Kommunen zur Befriedigung ihres entsprechenden zusätzlichen Bedarfs zugeführt werden.“18

Gerade die jüngste Vergangenheit habe gezeigt, dass Änderungen der Beteiligungsquote bei der Umsatzsteuer anlässlich von Aufgaben- und Lastenverlagerungen im Verhältnis von Bund und Ländern – und d. h. auch: Kommunen – sehr wohl praktisch möglich seien.19 Werde der für Aufgabenzuweisungen des Bundes an die Kommunen entstehende Mehrbedarf bei der (Neu-)Bemessung der Beteiligungsquote der Länder am Umsatzsteueraufkommen berücksichtigt, verdichte sich der Ausgleichsanspruch der Kommunen gegenüber den Ländern zum Anspruch auf Zuweisung der hinzugewonnenen Deckungsmittel. Mit Blick – gerade auch auf die aktuelle – Länderfinanzausgleichsdiskussion fügt Wendt hinzu, „dass von einer stärkeren Bedarfsorientierung des Finanzausgleichs zwischen den Ländern die Kommunen auch hinsichtlich der ihnen bundesgesetzlich übertragenen Aufgaben profitieren könnten. Immerhin schreibt Art. 107 Abs. 2 S. 1 GG ausdrücklich vor, dass bei dem Ausgleich der Finanzkraft der Länder die Finanzkraft und der Finanzbedarf der Gemeinden und Gemeindeverbände zu berücksichtigen sind.“20

Hinzugefügt sei, dass Wendt bezüglich der Finanzierungsverantwortung für landesgesetzlich zugewiesene kommunale Aufgaben die seinerzeitige Rechtsprechung der Landesverfassungsgerichte zu den seinerzeitigen Mehrbelastungsausgleichsregelungen kritisierte, der „es bekanntlich gelungen (sei), die einschlägigen Bestimmungen durch eine nachgerade sinnwidrige Auslegung ihres normativen Gehalts zu entleeren.“21

Last but not least trat Wendt für eine ins Gewicht fallende Finanzierungsquote der Gemeinden und Kreise aus eigenen, möglichst eigenbestimmten Einnahmen ein: 18

Wendt (Fn. 10), S. 603 (618 f.). Wendt nimmt insoweit auf das FAG-Änderungsgesetz v. 13. 11. 1995 (BGBl. I, S. 1506) Bezug. 20 Wendt (Fn. 10), S. 603 (620). 21 Wendt (Fn. 10), S. 603 (622). 19

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„Deshalb bleibt das Thema der Beteiligung der Kommunen an einer großen Wachstumsteuer auf der Tagesordnung. Vor allem die Kreise haben hier einen Nachholbedarf.“22

4. Vergleichbarer Befund – verschiedene Lösungsansätze Ferdinand Kirchhof, Friedrich Schoch, Rudolf Wendt und Joachim Wieland haben vor zwei Jahrzehnten eine vergleichbare Problemanalyse für eine Kernfrage der bundesstaatlichen Ordnung vorgenommen, sind dabei aber zu deutlich voneinander abweichenden Lösungsvorschlägen gelangt. In der „alten“ Bundesrepublik hatte es gegen Ende der 80er Jahre vorrangig aus horizontalen Finanzverteilungsgesichtspunkten heraus bereits eine ähnliche – allerdings unterverfassungsrechtliche – Debatte gegeben, die sog. „Albrecht-Initiative“, die politisch dann aber nicht über Art. 104a Abs. 3 GG gelöst wurde, sondern mit dem sog. Strukturhilfegesetz, welches später die Blaupause für das Investitionsförderungsgesetz Aufbau Ost bilden sollte, über Art. 104a Abs. 4 GG a.F., dessen – modifizierter – Inhalt seit der Föderalismusreform I in Art. 104b GG überführt worden ist. Die rechtspolitische Debatte Mitte der 90er Jahre löste dagegen in der Folgezeit rege Verfassungsrechtsänderungsaktivitäten aus. II. Status 1. Grundgesetz Mit der sog. Maßstäbegesetz-Entscheidung des BVerfG vom 11. 11. 1999 schien die von Wendt eingenommene Position Aufwind zu erhalten.23 Art. 106 Abs. 4 S. 1 GG setze einen gesetzlich festgelegten Maßstab für die Bestimmung der Einnahmen und Ausgaben des Bundes und der Länder voraus, nach dem die Umsatzsteueranteile von Bund und Ländern zu berechnen seien. Ohne einen solchen langfristig angelegten gesetzlichen Maßstab lasse sich nicht feststellen, ob sich das Verhältnis zwischen den Einnahmen und Ausgaben des Bundes und der Länder wesentlich anders entwickelt habe. Der Auftrag zur Umsatzsteuerverteilung sei erst vollziehbar, nachdem der Gesetzgeber die verfassungsrechtlich vorgegebenen Grundsätze inhaltlich verdeutlicht und so bestimmt und berechenbar geformt habe, dass daraus Verteilungsschlüssel abgeleitet werden könnten. Mit der auf langfristige Geltung angelegten, fortschreibungsfähigen Maßstabbildung stelle der Gesetzgeber zunächst sicher, dass Bund und Länder die verfassungsrechtlich vorgegebenen Ausgangstatbestände in gleicher Weise interpretierten, ihnen gemeinsam dieselben Indikatoren zugrunde legten und damit einen Vergleich der Deckungsbedürfnisse ermöglichten.24 Der Gesetzgeber sei verpflichtet, die „not22

Wendt (Fn. 10), S. 603 (625 f.). BVerfGE 101, 158 (215 ff.). 24 BVerfGE 101, 158 (217 f.).

23

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wendigen“ von den im Haushalt veranschlagten Ausgaben zu unterscheiden, also in einer Erforderlichkeits- und Dringlichkeitsbewertung von Ausgabestrukturen der Haushaltswirtschaft von Bund und Ländern eine Grenze des Finanzierbaren vorzugeben. Sicherzustellen sei, dass Bund und Länder bei der Ermittlung der notwendigen Ausgaben und der laufenden Einnahmen jeweils dieselben Indikatoren zugrunde legten.25 Der Gesetzgeber des Maßstäbegesetzes vom 9. 9. 2001 hat die Intention des BVerfG allerdings bewusst ins Leere laufen lassen und in § 4 MaßstäbeG lediglich normiert, dass die vertikale Umsatzsteuerverteilung zwischen Bund und Ländern auf der Grundlage des Deckungsquotenprinzips festgelegt wird – eine Regelung, deren Umfang kürzer ist als die verfassungsrechtliche Vorgabe.26 Die Maßstäbegesetzgebung in vertikaler Hinsicht hat damit nicht zu einer größeren Justiziabilität des Art. 106 Abs. 3 S. 4, Abs. 4 S. 1 GG geführt. Das Umsatzsteuerbeteiligungsverhältnis zwischen Bund und Ländern ist nach der von Wendt gelobten Veränderung mit Wirkung ab 1996 später nie wieder verändert worden.27 Seit 1996 handelt es sich mithin um ein „eingerostetes Scharnier“28, weil sich Bund und Länder – gerade auch mangels Präzisierung im Maßstäbegesetz – anschließend nicht mehr darüber zu verständigen vermochten, was „notwendige Ausgaben“ sind.29 Dennoch war die Verteilung der Umsatzsteuer auf Bund und Länder seit 1995 Gegenstand zahlreicher Verhandlungen unterhalb einer Veränderung der Beteiligungsquote und bot das Feld für viele Kompromisse, die aber den formalen Stand der Aufteilung des Umsatzsteuerbeteiligungsverhältnisses unberührt gelassen haben. § 1 des Finanzausgleichsgesetzes umfasst auf diese Weise derzeit nicht mehr nur einen Satz, sondern mittlerweile 21 Sätze!30 Außerdem ist die Aufteilung des Umsatzsteuerbeteiligungsverhältnisses zwischen dem Bund und der Ländergesamtheit zwischen den Ländern in horizontaler Hinsicht „blind“ für unterschiedliche Bedarfe. Das hat einerseits dazu geführt, dass mit Art. 106a GG wegen der Finanzierung der Regionalisierung des ÖPNV und Art. 106b GG wegen der aufkommensneutralen Übertragung der Kraftfahrzeugsteuer auf den Bund aufgaben- bzw. finanzaufkommensbezogene Sonderregelungen auf Verfassungsebene getroffen wurden, und andererseits dazu, dass bei der Zusam25

BVerfGE 101, 158 (220). BGBl. I, 2302. 27 Dazu Henneke, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 13. Aufl. 2014, Art. 106 GG Rn. 96. 28 Woisin, Das eingerostete Scharnier: Umsatzsteuerverteilung zwischen Bund und Ländern, Wirtschaftsdienst 2008, 446. 29 Henneke, Was sind „notwendige“ Ausgaben? – Logik und Folgeprobleme der Regelungen zu Schuldenbremse und Konsolidierungshilfen, ZG 2010, 52 ff. 30 Dazu näher Henneke, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke (Fn. 27), Art. 106 GG Rn. 94 f. 26

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menlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zum SGB II wegen unterschiedlicher Belastungsfolgen in Ost und West im Saldo westländerfinanzierte Sonderbedarfsbundesergänzungszuweisungen für strukturelle Arbeitslosigkeit eingeführt werden mussten. Bei den Kommunen ist es aus Anlass der dauerhaften Nichteinführung der Gewerbekapitalsteuer im Beitrittsgebiet und der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer in Westdeutschland seit Anfang 1998 zu einer Beteiligung der Gemeinden am Aufkommen der Umsatzsteuer gekommen, das auf der Grundlage eines orts- und wirtschaftsbezogenen Schlüssels, der bereits mehrfach geändert worden ist, an die Gemeinden verteilt wird und damit für eine Berücksichtigung von pflichtaufgabenbezogenen kommunalen Bedarfen nicht offen steht. Bei Art. 84 und Art. 104a GG ist es im Rahmen der Föderalismusreform I zu Veränderungen gekommen, die dem insbesondere von Schoch/Wieland artikulierten Anliegen zumindest partiell Rechnung getragen haben. Das, was Schoch/Wieland und auch Wendt in verfassungsrechtlicher Hinsicht für Art. 84 Abs. 1 GG a.F. bezüglich der eingeschränkten Aufgabenübertragungsbefugnisse des Bundes auf die Kommunen proklamiert haben, hat das BVerfG in der SGB II-Entscheidung vom 20. 12. 200731 jedenfalls mit Blick auf die Kreise zwar nicht aufgegriffen, der verfassungsändernde Gesetzgeber ist aber sogar noch darüber hinausgegangen und hat mit Wirkung seit 01. 09. 2006 in Art. 84 Abs. 1 S. 7 und Art. 85 Abs. 1 S. 2 GG angeordnet: „Durch Bundesgesetz dürfen Gemeinden und Gemeindeverbänden Aufgaben nicht übertragen werden.“

Art. 125a Abs. 1 GG bestimmt, dass Altrecht, das wegen der Einfügung der Art. 84 Abs. 1 S. 7 und 85 Abs. 1 S. 2 GG nicht mehr als Bundesrecht erlassen werden könnte, zwar noch als Bundesrecht fortgilt, aber durch Landesrecht ersetzt werden kann. In Art. 104a Abs. 3 GG ist es dagegen nicht zu der von Schoch/Wieland vorgeschlagenen Änderung, sondern zu der von Wendt empfohlenen Beibehaltung der überkommenen Regelung bei Aufhebung des unstrittig als in der Zielsetzung verfehlt angesehenen Satzes 3 gekommen. Insbesondere ist die Beschränkung der finanziellen Beteiligung des Bundes auf Geldleistungsgesetze bei Nichterstreckung auf Sachund Dienstleistungen beibehalten worden. Dass es sich dabei um eine sehr bewusste Entscheidung der Föderalismuskommission gehandelt hat, wird dadurch besonders deutlich, dass im neuen Art. 104a Abs. 4 GG im Gegensatz zu Abs. 3 bei der Neuschaffung einer Zustimmungspflicht des Bundesrates auf alle Bundesgesetze abgestellt wird, die Pflichten der Länder zur Erbringung von Geldleistungen, geldwerten Sachleistungen oder vergleichbaren Dienstleistungen begründen, wenn daraus entstehende Ausgaben von den Ländern zu tragen sind.32

31 32

BVerfGE 119, 331 (353 ff.). Henneke, in Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke (Fn. 27), Art. 104a GG Rn. 27 u. 52.

Finanzierungsverantwortung für gesetzgeberisch veranlasste kommunale Aufgaben 571

Dabei handelt es sich um eine Systementscheidung gegen vermehrte Bundesmitfinanzierung und gegen einen tendenziell größeren Bundeseinfluss auf den Verwaltungsvollzug der Länder. Die bereits für Geldleistungsgesetze bestehende Finanzierungskompetenz des Bundes wollten die Länder nicht auf Sachleistungsgesetze ausgeweitet wissen.33 Mit der gegenüber der Bundesbeteiligungsmöglichkeit sachlich weiteren Zustimmungspflicht des Bundesrates sollten die Länder gegen die Überbürdung finanzieller Belastungen aus Bundesrecht geschützt werden und es sollte ihnen auch auf diesem Wege Verhandlungsmacht eingeräumt werden, eine – von Wendt als „vorrangig“ bezeichnete – Revision des Umsatzsteuerbeteiligungsverhältnisses durchzusetzen, statt auf den Weg einer erhöhten Bundesbeteiligung bei Umschlagen in Bundesauftragsverwaltung beschränkt zu sein. Bei einer Erstreckung der Bundesbeteiligung auch auf Sach- und Dienstleistungen wären überdies in weitem Umfang rechtspolitisch einzudämmende Mischfinanzierungen zugelassen worden. 2. Landesverfassungsrecht Während es bundesverfassungsrechtlich mithin nicht zu einer Verankerung einer Mehrbelastungsausgleichspflicht des Bundes gekommen ist, ist im Landesverfassungsrecht aller 13 Flächenländer eine – im Detail zum Teil unterschiedlich ausgeformte – Mehrbelastungsausgleichspflicht der Länder gegenüber ihren Kommunen geschaffen worden. Nach den Regelungen in den Ursprungsfassungen der Landesverfassungen34 von Baden-Württemberg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen wurde beginnend 1998 in Schleswig-Holstein und endend 2006 in Niedersachsen jeweils ein striktes landesverfassungsrechtliches Konnexitätsprinzip eingeführt. Den Anfang machte der schleswig-holsteinische Landesgesetzgeber mit Gesetz vom 20. 03. 1998, es folgten Regelungen mit Verfassungsänderungen in Brandenburg vom 07. 04. 1999 und in Mecklenburg-Vorpommern vom 04. 04. 2000. Die Verfassungsänderungen im Saarland vom 25. 8. 199935 und in Hessen vom 18. 10. 2002 stellen kein striktes Konnexitätsprinzip in Reinform dar.36 Um die weiteren Normierungen eines strikten Konnexitätsprinzips handelt es sich demgegenüber bei den Verfassungsänderungen in Bayern vom 21. 09. 2003, in Rheinland-Pfalz vom 14. 06. 2004, in Nordrhein-Westfalen vom 22. 06. 2004 und in Niedersachsen vom 27. 1. 2006. In Baden-Württemberg wurde mit Änderungsgesetz vom 06. 05. 2008 das dort bereits seit 5 1/2 Jahrzehnten geltende Konnexitäts33 Henneke, in Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke (Fn. 27), Art. 104a GG Rn. 27; Schön, „Kostenfolgen von Bundesgesetzen“, in: Holtschneider/Schön (Hrsg.), Die Reform des Bundesstaates, 2007, S. 73 (85 f.). 34 Dazu ausf.: Henneke, Die Kommunen in der Finanzverfassung des Bundes und der Länder, 5. Aufl. 2012, S. 226 ff. 35 Dazu SaarlVerfGH, AS RP 34, 1 sowie Der Landkreis 2013, 701 unter Beteiligung des Verfassungsgerichters Rudolf Wendt. 36 Dazu ausf.: Henneke, Die Kommunen in der Finanzverfassung (Fn. 34), S. 233 ff.

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prinzip runderneuert.37 In Sachsen wurde das Konnexitätsprinzip im Zuge der Einführung der Schuldenbremse im Jahre 2013 spezifiziert.38 a) Kategorien Blickt man systematisierend auf die seither in den 13 Flächenländern geltenden Regelungen, lassen sich vier Kategorien unterscheiden: Ein relatives Konnexitätsprinzip, das nur eine Regelungspflicht hinsichtlich der Kostendeckung vorschreibt, aber nicht zum Kostenausgleich verpflichtet, existiert in keinem Land mehr. In neun Ländern (Baden-Württemberg, Bayern, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Sachsen und Schleswig-Holstein) gilt – bei sprachlichen Abweichungen im Detail – das strikte Konnexitätsprinzip der Gestalt, dass bei der Zuweisung pflichtiger öffentlicher Aufgaben und bei Umwandlung bisheriger Selbstverwaltungsaufgaben in Pflichtaufgaben bei daraus resultierenden finanziellen Mehrbelastungen ein entsprechender aufgabenakzessorischer Ausgleich zu erfolgen hat. Im Saarland und in Hessen bezieht sich die Pflicht zum entsprechenden Ausgleich nicht auf die einzelne Kommune, sondern auf die Gesamtheit der Kommunen.39 Abweichungen finden sich nur noch in den beiden Ländern, die über die frühesten nicht modifizierten Regelungen verfügen, nämlich in Sachsen-Anhalt und in Thüringen. In Sachsen-Anhalt bezieht sich der Mehrbelastungsausgleich wie in den vorgenannten Ländern auf alle pflichtigen bzw. pflichtig gemachten öffentlichen Aufgaben, ist in der Rechtsfolge aber auf einen „angemessenen“ Ausgleich beschränkt.40 Die schwächste Form von Mehrbelastungsausgleich findet sich in Thüringen. Tatbestandlich hat man hier bei der verfassungsrechtlichen Regelung aus dem Jahre 1993 eine Begrenzung auf die Übertragung staatlicher Aufgaben vorgenommen; in der Rechtsfolge wurde statt der Pflicht zu einem entsprechenden finanziellen Ausgleich nur die Schaffung eines angemessenen Ausgleichs angeordnet.41 Der ThürVerfGH hat insoweit aber entschieden, dass Art. 93 Abs. 1 S. 2 ThürVerf die volle Erstattung der angemessenen Kosten der Aufgabenerfüllung, die an die Durchschnittskosten der kommunalen Aufgabenerfüllung anknüpfen, verlangt.42

37

Dazu ausf.: Henneke, Die Kommunen in der Finanzverfassung (Fn. 34), S. 258 ff. SächsGVBl. 2013, 502; dazu ausf.: Henneke, Mehrbelastungsausgleichspflicht des Freistaates Sachsen nur bei eigenem materiellem Gestaltungsspielraum des Landesgesetzgebers?, SächsVBl. 2013, 253. 39 S. dazu aber die Sonderkonstellation SaarlVerfGH, Der Landkreis 2013, 701. 40 Parallel haben Wendt und ich Verfahren vor dem LVerfG LSA betrieben, die zu den Entscheidungen LVerfGE 9, 343, 368 und 390 im Jahre 1998 geführt haben. 41 Dazu Henneke, Landesverfassungsrechtlicher Schutz der kommunalen Finanzausstattung am Beispiel der Thüringischen Verfassung, Der Gemeindehaushalt 1999, 169. 42 ThürVerfGH, LVerfGE 16, 593 Ls 4. 38

Finanzierungsverantwortung für gesetzgeberisch veranlasste kommunale Aufgaben 573

b) Landesrechtliche Sach- und Zuständigkeitsregelungen Die Anwendung der Mehrbelastungsausgleichsregelungen bei der landesrechtlichen Aufgabenübertragung hat sich in den letzten Jahren mehr und mehr eingespielt, auch wenn es immer wieder einmal „hakt“, wie gegenwärtig bei der Umsetzung der Inklusion im schulischen Bereich.43 Eine zentrale Bedeutung der Existenz der Mehrbelastungsausgleichsregelungen liegt in ihrer vorbeugenden Wirkung gerade gegenüber normsetzungswilligen Fachressorts der Länder. c) Landesverfassungsrechtliche Ausgleichspflicht bei Übertragung bundesgesetzlich ausgeformter Aufgaben Die Schwierigkeiten in der Anwendung der Mehrbelastungsausgleichsregelungen liegen im Komplex der landesrechtlichen Weiterleitung bundesgesetzlich in der Sache normierter Aufgaben an die Kommunen, ohne dass das Land eigene materiell-rechtliche Regelungen trifft. Seit der am 01. 09. 2006 in Kraft getretenen Föderalismusreform I kann der Bundesgesetzgeber Aufgaben im Rahmen seiner Gesetzgebungskompetenzen insbesondere nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG zwar weiterhin regeln, er kann diese Aufgabe aber nicht mehr an die Kommunen adressieren. Die Regelung der Ausführungszuständigkeit obliegt allein den Ländern, die, ohne eine eigene Regelung zu treffen, theoretisch selbst gem. Art. 83 GG ausführungspflichtig wären. Dies ist der Regelfall der Gesetzesausführung im Bundesstaat. Mit der Übertragung der – i. d. R. allein – bundesseitig ausgeformten Aufgabe durch das Land ist eine Kostendeckungsregelung zu treffen, die im Falle einer aus der Aufgabendifferenz resultierenden finanziellen Belastungsdifferenz zu einem „entsprechenden finanziellen Ausgleich“ führen muss.44 Für eine dem Land zuzurechnende „Übertragung einer Aufgabe“ nach der landesverfassungsrechtlichen Mehrbelastungsausgleichsregelung genügt es also, dass landesrechtlich kommunale Zuständigkeiten begründet werden müssen. Von einem „eigenen Gestaltungsspielraum“ des Landes ist in den Verfassungstexten der Länder zu Recht keine Rede. Schließlich ist diese Konstellation im Bund-Länder-Zusammenwirken geradezu der Normalfall in denjenigen Materien, für die der Bund die materielle Gesetzgebungskompetenz hat und vollständig nutzt.45 Nach den Formulierungen in allen Landesverfassungen ist der Tatbestand der Mehrbelastungsausgleichsverpflichtung bereits dadurch erfüllt, dass das Land den Kommunen die Aufgaben überträgt bzw. sie dazu verpflichtet. 43 Dazu jüngst Faber, Inklusion und Konnexität, Der Landkreis 2014, 228; dies., in: Henneke (Hrsg.), Gesicherte Kommunalfinanzen trotz Verschuldungs- und Finanzkrise, 2014, S. 67 ff. 44 Henneke, SächsVBl. 2013, 253 (258). 45 Engelken, Das Konnexitätsprinzip im Landesverfassungsrecht, 2. Aufl. 2012, S. 96; Henneke, SächsVBl. 2013, 253 (276).

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Macht der Bund von seiner Sachgesetzgebungskompetenz abschließend Gebrauch und normiert dabei klassische Selbstverwaltungsaufgaben wie bei der Kinderbetreuung, darf er dennoch die kommunale Zuständigkeit wegen Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG nicht regeln. Dies müssen die Länder tun, denen insoweit nichts anderes übrig bleibt. Das aber ist bereits das landesrechtliche Übertragen der Aufgabe.46 Engelken hat in der ersten Auflage seines Werkes: „Das Konnexitätsprinzip im Landesverfassungsrecht“ zutreffend hinzugefügt: „Es mag auf den ersten Blick hart erscheinen, die Konnexitätsfolgen für das Land durch die bloße Tatsache der Aufgabenübertragung durch das Land eintreten zu lassen, auch wenn es dazu ohne jeden eigenen Gestaltungsspielraum gezwungen ist. Aber die Länder sind nun einmal eingebunden in den Bundesstaat und in Europa, wo viele bedeutende und kostenträchtige, vor Ort auszuführende Aufgaben geregelt werden.“47

Klaus Lange hat demgegenüber die Auffassung vertreten, dass die Mehrbelastungsausgleichspflicht dann nicht greife, wenn das Land die Kommunen nur deshalb in Pflicht nimmt, weil es dazu durch Bundesrecht gezwungen wird, ohne alternative Entscheidungsmöglichkeiten zu haben.48 Er argumentiert, die Landesverfassungsgeber hätten mit der Einführung des Konnexitätsprinzips nicht die Haftung für von ihnen unüberschaubare und nicht zu steuernde bundesrechtliche Verpflichtungen der Kommunen übernehmen wollen. Das trifft zumindest seit den Überlegungen zum Aufgabenübertragungsverbot in der Föderalismuskommission I, also seit dem Frühjahr 2004, nicht zu. In den Altfällen des bundesunmittelbaren Zuständigkeitsdurchgriffs auf die Kommunen greift die Mehrbelastungsausgleichspflicht der Länder unstrittig nicht. Wenn aber der Bund seither nur noch die Sachaufgabe regelt und diese Regelung, wenn sie Kostenfolgen hervorruft, der Zustimmungspflicht des Bundesrates gem. Art. 104a Abs. 4 GG unterliegt, handelt es sich anders als in den vorgenannten Fällen der Vergangenheit für die Länder nicht mehr um „von ihnen unüberschaubare und nicht zu steuernde bundesrechtliche Verpflichtungen der Kommunen“. Bundesrechtliche Verpflichtungen treffen seit 2006 im zweistufigen Bundesstaat gem. Art. 83 f., 104a GG ausschließlich die Länder, die daher gem. Art. 104a Abs. 4 GG durch eine Zustimmungspflicht des Bundesrates geschützt sind. Die Landesverfassungsgerichtsbarkeit hat dies bereits zweimal entschieden, nämlich in Nordrhein-Westfalen49 und in Brandenburg.50

46

Engelken, Konnexitätsprinzip (Fn. 45), S. 99 f.; Henneke, SächsVBl. 2013, 253 (258). Engelken, Das Konnexitätsprinzip im Landesverfassungsrecht, 2009, S. 49. 48 Lange, Kommunalrecht, 2013, S. 1056 f. 49 VerfGH NW, DVBl. 2010, 1561; dazu Henneke, DVBl. 2011, 125; ders., Kommunen in der Finanzverfassung (Fn. 34), S. 314 ff., 324 ff. 50 VfG Bbg, DVBl. 2013, 852 m. Anm. Henneke. 47

Finanzierungsverantwortung für gesetzgeberisch veranlasste kommunale Aufgaben 575

aa) Erstmalige landesrechtliche Regelung Im Oktober 2010 hat der VerfGH NW entschieden, dass eine ursprünglich deklaratorische Regelung in eine konstitutive umschlagen kann, und Nordrhein-Westfalen-spezifisch herausgestellt, dass die mit Inkrafttreten von § 69 Abs. 1 SGB VIII n. F. eintretende konstitutive Wirkung der landesgesetzlichen Zuständigkeitsregelung bei Verabschiedung des § 1a Abs. 1 AGKJHG NW absehbar gewesen sei. bb) Umschlagen einer deklaratorischen in eine konstitutive Regelung Diese Auslegung hat sich das VfG Bbg im Frühjahr 2013 für die Konstellation zu eigen gemacht, dass der Landesgesetzgeber nicht durch ausdrückliches gesetzgeberisches Handeln von der ihm seit 01. 09. 2006 eingeräumten Ersetzungsbefugnis nach Art. 125a Abs. 1 S. 2 GG Gebrauch gemacht hat.51 Die vom VfG Bbg angestellten Überlegungen gelten auch für die anderen Länder, sofern sie keine neuen Zuständigkeitsregelungen getroffen haben. cc) Ersetzung durch Landesrecht gem. Art. 125a Abs. 1 S. 2 GG Etwas anderes gilt für ersetzende Regelungen i. S. v. Art. 125a Abs. 1 S. 2 GG. So wurde in Bayern Art. 15 AGSG vom 08. 12. 2006 neu geregelt52 und in Sachsen durch Art. 40 des Verwaltungsneuordnungsgesetzes vom 29. 01. 2008 das Landesjugendhilfegesetz geändert53 und mit Gesetz vom 02. 09. 2008 neu gefasst, wobei § 1 Abs. 1 inhaltlich gegenüber der Altregelung aus dem Jahre 1998 nicht verändert wurde.54 Für beide Länder gilt: Das verfassungsrechtliche Verhältnis von gleichlautendem Bundesrecht und Landesrecht hat sich mit dem 01. 09. 2006 verändert. § 69 KJHG a.F., der zum 16. 12. 2008 aufgehoben wurde, gründete sich seit 01. 09. 2006 nicht mehr auf die Kompetenzgrundlage in Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG, sondern wegen des inzwischen in Kraft getretenen strikten Aufgabenübertragungsverbots in Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG nur noch auf Art. 125a Abs. 1 S. 1 GG mit der Folge, dass er bei einer neuen landesrechtlichen Regelung, die das AGSG in Bayern ebenso darstellte wie die Neufassung des sächsischen Landesjugendhilfegesetzes vom 02. 09. 2008, durch eben dieses Landesrecht ersetzt wurde. Aufgrund der erstmalig konstitutiven Aufgabenbegründung bei den Landkreisen und kreisfreien Städten durch das AGSG vom 08. 12. 2006 in Bayern und die Neufassung des Landesjugendhilfegesetzes in Sachsen vom 02. 09. 2008 lag eine konnexitätsrelevante Aufgabendifferenz vor, mit der allerdings zu diesem Zeitpunkt mangels materieller Aufgabenveränderung keine finanzielle Belastungsdifferenz bei den Landkreisen und kreisfreien Städten einherging. Diese Belastungsdifferenz trat dann 51

VfG Bbg, DVBl. 2013, 852 (852 f.). BayGVBl. 2006, 942; dazu ausf.: Henneke, BayVBl. 2012, 321 (324 ff.). 53 SächsGVBl. 2008, 138 (168); dazu ausf.: Henneke, SächsVBl. 2013, 253 (260). 54 SächsGVBl. 2008, 578. 52

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allerdings mit dem Inkrafttreten des KiföG des Bundes im Dezember 2008 ein. Die Konnexitätsrelevanz setzt nämlich voraus, dass man die Mehrbelastungsausgleichspflicht als fortlaufenden Prozess mit Nachbesserungspflicht für die gesamte Zeit, während derer die Gemeinden und Gemeindeverbände infolge der Übertragung die Aufgabe erfüllen, begreift.55 Zu dem in Brandenburg und anderen Ländern maßgeblichen Umschlagen einer ursprünglich deklaratorischen in eine konstitutive Regelung ohne darauf unmittelbar bezogenes Zutun des Landesgesetzgebers ist es in Bayern und Sachsen aufgrund der aktiven Neuregelung mit der erstmaligen konstitutiven Begründung einer kommunalen Zuständigkeit seitens des Landesgesetzgebers nach Inkrafttreten der Föderalismusreform I also gar nicht erst gekommen. III. Ausblick 1. Landesverfassungsrecht Landesverfassungsrechtlich ist lediglich für Thüringen anzumahnen, dass das dortige Konnexitätsprinzip von seiner Beschränkung auf die Übertragung staatlicher Aufgaben gelöst und – ebenso wie in allen anderen Flächenländern auch – auf die Aufgaben- und Belastungsdifferenz bei allen Pflichtaufgaben erstreckt wird. 2. Grundgesetz Im Grundgesetz zeichnet sich eine grundlegende Veränderung hin zum von Ferdinand Kirchhof vorgeschlagenen Grundsatz der Gesetzeskausalität, auch wenn dieser jüngst von ihm noch einmal aktualisiert worden ist,56 auch für die Zukunft nicht ab. Durch die Ergebnisse der Föderalismusreform I hat sich gegenüber der von Schoch/Wieland und Wendt vor 20 Jahren geführten Ausgangsdiskussion die Problemlage aus Sicht sowohl der Kommunen wie der Länder deutlich verschoben. Die Kommunen sind seither vor nicht mehrbelastungsausgleichspflichtigen Finanzierungslasten, die ihnen unmittelbar seitens des Bundesgesetzgebers auferlegt werden, wegen Art. 84 Abs. 1 S. 7 und Art. 85 Abs. 1 S. 2 GG geschützt. Auch kommt daher ein „kollusives Mitwirken der Länder über den Bundesrat“ nicht mehr in Betracht. Stattdessen trifft die Länder unausweichlich eine Mehrbelastungsausgleichspflicht bei Weiterleitung der Aufgabenerfüllungspflichten an Kommunen durch sie nach Landesverfassungsrecht, und zwar bei jeder finanziellen Mehrbelastung, die nach den Regelungen einiger Landesverfassungen allerdings eine gewisse 55

VfG Bbg, LVerfGE 7, 144 (158); StGH BW, LVerfGE 9, 3 (18); ThürVerfGH, LVerfGE 16, 593 (636 f.); VfG Bbg, DVBl. 2013, 852 (854 f.); zu allem ausf.: Henneke, SächsVBl. 2013, 253 (254 f.). 56 Ferdinand Kirchhof, Jetzt eine moderne Finanzverfassung wagen!, FAZ vom 10. 1. 2014.

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quantitative Relevanz erreichen muss. Manche Klärungen im Detail sind insoweit von der Rechtsprechung allerdings noch herbeizuführen. Dabei kommt es im Verhältnis des jeweiligen Landes zu seinen Kommunen nicht darauf an, ob die Mehrbelastung aus der Erbringung von Geld-, Sach- oder Dienstleistungen oder etwa aufgrund der Schaffung und Unterhaltung von Einrichtungen herrührt. Auf den Charakter der vom Land übertragenen Aufgabe als Selbstverwaltungsangelegenheit oder Auftragsangelegenheit/Pflichtaufgabe zur Erfüllung nach Weisung schlägt die Mehrbelastungsausgleichspflicht nicht durch. Für die Länder bildet der neue Zustimmungstatbestand in Art. 104a Abs. 4 GG einen wirksamen Hebel, zu finanziellen Verbesserungen aus Anlass der Erfüllung ausgabenträchtiger neuer Bundesgesetze zu gelangen (politische Lösung statt Konnexität), der mehr politische Einigungsmöglichkeiten bietet, als eine „bloße“ Mehrbelastungsausgleichspflicht des Bundes und quantitativ darüber sogar hinausgehen kann, wie die Verständigung zur stufenweisen Übernahme der Ausgaben für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung aus Anlass des Vermittlungsverfahrens zum sog. Bildungs- und Teilhabepaket im Frühjahr 2011 eindrucksvoll gezeigt hat. Anders als im Verhältnis von Ländern und Kommunen kommt insoweit die Staatsqualität von Bund und Ländern zum Tragen. Dennoch wird – nicht zuletzt wegen der unterschiedlichen horizontalen Verteilungswirkungen – immer wieder über eine pflichtige Bundesfinanzierung von Sozialleistungsgesetzen nachgedacht und insoweit eine Änderung des Art. 104a Abs. 3 GG vorgeschlagen.57 Insoweit ist m. E. folgendes bedeutsam: Eine aufgabengerechte Finanzverteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen hat grundsätzlich durch eine aufgabeninakzessorische Steuerverteilung auf die einzelnen Gebietskörperschaften und ein darauf gegründetes, auf die Zahl der Einwohner als Bedarfsindikator abstellendes, in sich geschlossenes Finanzausgleichssystem zu erfolgen, das auch auf Aufgabenveränderungen reagieren kann (Art. 106 und 107 GG sowie kommunaler Finanzausgleich). Insoweit ist Rudolf Wendt unstrittig zu folgen.58 Art. 106 GG hat bei der vertikalen Steuerverteilung auf Bund, Länder und Kommunen zwar diese drei Ebenen zu berücksichtigen, die Verteilung auf die Ebenen erfolgt aber nicht nach politischer Opportunität, sondern ist verfassungsgebunden. Danach gelten gemäß der Zweistufigkeit des Staatsaufbaus gemäß Art. 106 Abs. 9 GG als Einnahmen und Ausgaben der Länder im Sinne dieses Artikels auch die Einnahmen und Ausgaben der Gemeinden (Gemeindeverbände). Die aufgabengerechte Finanzausstattung der einzelnen Länder ist nach Art. 107 Abs. 2 S. 1 GG davon geprägt, dass sicherzustellen ist, dass die unterschiedliche Finanzkraft der Länder an57

So z. B. Kempny/Reimer, Neuordnung der Finanzbeziehungen – Aufgabengerechte Finanzverteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen, Gutachten D zum 70. Deutschen Juristentag Hannover 2014, D 39 i.V.m. D 135. 58 Wendt (Fn. 10), S. 603 (618 f.).

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gemessen ausgeglichen wird. Darunter ist ein reiner Einnahmeausgleich auf der Grundlage von Einwohnerzahlen – die bei den Stadtstaaten höher gewichtet wird – zu verstehen. Auch hierbei sind die Finanzkraft und der Finanzbedarf der Kommunen zu berücksichtigen. Das bedeutet, dass das Grundgesetz auch bei den aufgrund des Koalitionsvertrages aus dem Herbst 2013 in Rede stehenden Aufgabenzuwächsen im Bereich Eingliederungshilfe, Kinderkrippen, Kitas, Schulen und Hochschulen davon ausgeht, dass grundsätzlich ein einnahmeseitiger Ausgleich, d. h. eine Erhöhung des Länderanteils an der Umsatzsteuer, erfolgt. Bei den kommunalen Aufgaben kann de lege lata auch eine Erhöhung der gemeindlichen Beteiligung an der Einkommensteuer oder an der Umsatzsteuer bzw. eine Verminderung der Gewerbesteuerumlage erfolgen. Kommt es zu einer Verbesserung der kommunalen Steuerausstattung, ist diese wegen Art. 106 Abs. 9 GG bei der Revision des Umsatzsteuerbeteiligungsverhältnisses zwischen Bund und Ländern auf Seiten der Länder zu berücksichtigen. Daneben kommt – in begründungsbedürftigen Ausnahmekonstellationen – eine vollständige bzw. teilweise Übernahme von Ausgaben durch den Bund für bestimmte Einzelaufgaben von Ländern und Kommunen in Betracht, wenn dafür ein gesamtstaatliches bzw. gesamtwirtschaftliches Interesse besteht (Art. 104b, 91a, 91e Abs. 2, 106 Abs. 8 sowie 104a Abs. 3 GG). Insoweit wird der Grundsatz des Abstellens auf jeden Einwohner als Bedarfsindikator durchbrochen. Art. 104b, 91a, 91e Abs. 2 und 106 Abs. 8 GG stellen begrenzte Konstellationen erfassende Sonderregelungen dar, die gerade deshalb neben dem vierstufigen Finanzausgleichssystem ihren Platz haben, weil dadurch Ungleichheiten kompensiert werden, die das Finanzausgleichssystem als solches nicht auszugleichen vermag. Bei Art. 104a Abs. 3 GG geht es dagegen um eine andere Konstellation: Geldleistungsgesetze sind personenbezogen, gelten dauerhaft und erstrecken sich auf das gesamte Bundesgebiet. Beteiligt sich der Bund hieran, kann dies nicht als zielgerichtete Kompensation ungleicher Ausgangskonstellationen wie bei der regionalen Wirtschaftsförderung, der Agrarstruktur, dem Küstenschutz, den Optionskommunen, Garnisonstandorten, den Hauptstadtlasten oder zum Ausgleich unterschiedlicher Wirtschaftskraft im Bundesgebiet legitimiert werden. Der Grund der Bundes-(mit-)finanzierung ist hier ein anderer: Die Art. 104a Abs. 1 GG zugrundeliegende Erwägung, dass die Zweckausgaben für eine Verwaltungsaufgabe erst auf der Ebene des Aufgabenvollzugs entstehen und von der zuständigen Verwaltung maßgeblich beeinflusst werden können, versagt, wenn die Gesetze der Verwaltung keine wesentlichen Entscheidungsspielräume belassen, sondern das Verwaltungshandeln bis in alle Einzelheiten selbst vorschreiben. Das ist bei Geldleistungsgesetzen grundsätzlich der Fall. Die Verwaltungen der Länder und Kommunen sind hier nahezu reines Ausführungsorgan, quasi ein Subsumtionsmechanismus. Hier kommt dem Bund – und zwar dem Bundesgesetzgeber – abweichend von

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Art. 104a Abs. 1 GG die Zweckverantwortung zu, was die Zweckausgabentragung des Bundes rechtfertigt.59 Streuen die Fallzahlen und damit die Zweckausgaben im horizontalen Vergleich der ausführenden Länder und Kommunen, ist dafür grundsätzlich nicht die Ausführungsbehörde, sondern der durchnormierende Bundesgesetzgeber verantwortlich. Aus dem Charakter der Finanzverfassung als Folgeverfassung mit der Funktion einer Absicherung der Aufgabenverteilung im finanziellen Bereich folgt, dass sich – entgegen der systemwidrigen Anordnung in Art. 104a Abs. 3 S. 2 GG – durch eine finanzielle Bundesbeteiligung an einer (kommunalen) Aufgabenerfüllung der Charakter der zu erfüllenden Aufgabe nicht ändern darf (kein Umschlagen von Selbstverwaltungs- in Auftragsangelegenheiten, kein „Goldener Zügel“). Bundesauftragsverwaltung gem. Art. 85 GG ist im Verhältnis zu Art. 83 f. GG eine ausnahmsweise, im Grundgesetz ausdrücklich zu normierende Art der Ausführung von Bundesgesetzen, die etwa bei der Verwaltung auf dem Gebiet der Kernenergie (Art. 87c GG) oder bei der Bundeswasserstraßenverwaltung (Art. 89 Abs. 2 S. 3 GG) zur Anwendung kommen kann. Bei der Verwaltung der Bundesautobahnen oder von sonstigen Bundesstraßen des Fernverkehrs handelt es sich gem. Art. 90 Abs. 2 GG um einen der seltenen Fälle obligatorischer Bundesauftragsverwaltung. Bei der Bundesauftragsverwaltung, genauer: der Landesverwaltung im Auftrage des Bundes, geht es unentziehbar um Landesverwaltung. Der Bund kann Sachentscheidungen allerdings an sich ziehen und die Verwaltungstätigkeit der Landesbehörden durch Weisungen der zuständigen obersten Bundesbehörden steuern. Zwischen den obersten Bundesbehörden und den obersten Landesbehörden besteht folglich ein Weisungsstrang, wie er gemeinhin den Behördenaufbau innerhalb eines Staates kennzeichnet.60 Die Auftragsverwaltung ist somit – trotz der Zweistufigkeit des Staatsaufbaus – durch einen hierarchischen Behördenaufbau zwischen Bund und Ländern gekennzeichnet und stellt damit eine explizite Ausnahme vom grundsätzlichen Verbot der Mischverwaltung dar.61 Die Bundesaufsicht erstreckt sich bei der Auftragsverwaltung gem. Art. 85 Abs. 4 S. 1 GG auf die Gesetz- und Zweckmäßigkeit der Ausführung, so dass die zuständige oberste Bundesbehörde die Verwaltungstätigkeit der Landesbehörden im Einzelfall und bis in die Einzelheiten hinein steuern kann, ohne dass die Weisung als solche einer Rechtfertigung bedarf. Der Bund kann die Sachentscheidung jederzeit an sich ziehen und damit seine Auffassung von der Rechts- und Zweckmäßigkeit im Einzelfall durchsetzen.62 Auch Weisungen zu vermeintlich unwirtschaftlichen Maßnahmen sind für die ausführenden Länder und Kommunen bindend und müssen vom Land bzw. den Kommunen ausgeführt werden. Die Beurteilung, ob eine Maßnahme 59 Dazu ausf.: Henneke, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke (Fn. 27), Art. 104a GG Rn. 24. 60 Ipsen, Die Ausführung der Bundesgesetze durch die Länder, NdsVBl. 2014, 209 (211). 61 BVerfGE 81, 310 (335 f.). 62 BVerfGE 81, 310 (332).

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als wirtschaftlich anzusehen ist, obliegt dabei dem Bund. Kommt das Land im Fall der Auftragsverwaltung zu einem anderen Ergebnis, so ist gleichwohl die Beurteilung des Bundes maßgeblich. Eine Verletzung der Länder (und ihrer Kommunen) in eigenen Rechten kommt insoweit nicht in Betracht.63 Sowohl Schoch/Wieland64 und Ferdinand Kirchhof65 als auch später Peter M. Huber66 auf dem Bonner Deutschen Juristentag 2004 haben die Auftragsverwaltungsproblematik jeweils gesehen und als Grundannahme für die rechtspolitische Diskussion unterstellt, dass bei einer verfassungsrechtlichen Änderung des Art. 104a Abs. 3 GG die in Satz 2 enthaltene Umschlagensregelung ersatzlos entfällt. Folgte man hingegen den Vorschlägen der DJT-Gutachter67 für den 70. Deutschen Juristentag in Hannover 2014 käme man im Recht der öffentlichen Fürsorge als einem Bereich der Massenverwaltung sowie als zentralem Bereich der Ausübung kommunaler Eigengestaltung zu einer flächendeckenden Bundesauftragsverwaltung. Das ist eine abwegige Vorstellung. Einen solchen Preis kann die kommunale Selbstverwaltung für die nach geltendem Verfassungsrecht nur noch in Rede stehende Refinanzierung der Mehrbelastungsausgleichspflicht der Länder gegenüber ihren Kommunen im Verhältnis zum Bund niemals bezahlen.68 Bei Bundesgesetzen, die Pflichten der Kommunen zur Erbringung von geldwerten Sachleistungen, vergleichbaren Dienstleistungen oder zur Herstellung bzw. Unterhaltung öffentlicher Einrichtungen begründen, ist der ausgabenrelevante Gestaltungsspielraum von Ländern und Kommunen dagegen in der Regel größer als bei Geldleistungsgesetzen. Sie sind hier kein reiner Subsumtionsmechanismus. Eine Ausweitung der Bundesbeteiligungsmöglichkeit oder sogar -pflicht auf geldwerte Sachleistungen, vergleichbare Dienstleistungen oder die Herstellung bzw. Unterhaltung von Einrichtungen würde von Seiten des Bundes zwangsläufig entweder eine Verschärfung bundesrechtlicher Standardvorgaben gegenüber der derzeitigen Rechtslage oder die Forderung nach einem Umschlagen der Aufgabenerfüllung bisher zentraler Selbstverwaltungsaufgaben im Bereich sozialer Fürsorge und der Kinderbetreuung in Bundesauftragsverwaltung nach sich ziehen. Beide Konsequenzen gilt es strikt zu vermeiden. Dieser Befund spricht dafür, - die in Art. 104a Abs. 4 GG im Jahre 2006 statuierte Zustimmungspflicht des Bundesrates beizubehalten, 63

Ipsen, NdsVBl. 2014, 209 (212). Schoch/Wieland (Fn. 1), S. 150. 65 Ferdinand Kirchhof (Fn. 9), D 98. 66 Huber, Klarere Verantwortungsteilung von Bund, Ländern und Kommunen?, Gutachten D zum 65. Deutschen Juristentag Bonn 2004, D 96 i.V.m. D 146. 67 Kempny/Reimer (Fn. 57), D 39 i.V.m. D 135. 68 Henneke, Bundesbeteiligung an Geldleistungs-, Sachleistungs- und Dienstleistungsgesetzen und kommunaler Gestaltungsspielraum, in: ders. (Hrsg.), Gesicherte Kommunalfinanzen (Fn. 43), S. 108 (115). 64

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- die Möglichkeit einer Bundesbeteiligung entsprechend dem bisherigen Konzept auch weiterhin auf Geldleistungen zu beschränken, - die systemwidrige und wegen der durchnormierten Geldleistungsansprüche zur Sicherung des Bundeseinflusses in der Sache darüber hinaus nicht gebotene Regelung in Art. 104a Abs. 3 S. 2 GG ersatzlos zu streichen sowie Art. 104a Abs. 4 GG entsprechend anzupassen. Die derzeitige „Kann-Regelung“ zeigt auf, dass nach der Regelungskonzeption des Grundgesetzes der Belastungsausgleich auch bei der Übertragung von Aufgaben, die in der Erbringung von Geldleistungen bestehen, vorrangig auf der Einnahmeseite herbeigeführt werden soll, um den Grundsatz der Gleichbehandlung aller Einwohner als Bedarfsindikator nicht zu durchbrechen. Überführte man die bisherige „KannBeteiligung“ in eine strikte Ausgabentragungspflicht des Bundes, bliebe zum einen für föderale Verhandlungsprozesse nach dem 2006 neu geschaffenen Art. 104a Abs. 4 GG insoweit kein Raum mehr. Und zum anderen käme es zwingend zu einer horizontalen Ungleichbehandlung der Länder bzw. Kommunen der finanziellen Höhe nach. Vorzugswürdig ist daher eine gewisse Verhandlungsspielräume wahrende „Soll-Regelung“, die vom Grundsatz der Zweckausgabentragung des Bundes ausgeht, im Einzelfall aber Abweichungsmöglichkeiten erlaubt. Das bedeutet, dass eine Ausgabentragung (oder -beteiligung) durch den Bund an von Kommunen ausgeführten Geldleistungsgesetzen nur noch bei der Grundsicherung für Arbeitsuchende und bei der Hilfe zum Lebensunterhalt unter Wegfall der Bundesauftragsverwaltung in Betracht kommt. Die einfachgesetzliche Beschränkung der Bundesbeteiligung an den Kosten der Unterkunft in § 46 Abs. 7 S. 4 SGB II, die im Jahre 2006 in das SGB II hinein gelangt ist, als die Bundesbeteiligung nicht in einer feststehenden Quote bestand, sondern der Revision aufgrund bestimmter im Gesetz genannter Parameter unterlag, kann aufgehoben werden. Um sicherzustellen, dass sich bei einer Veränderung der Parameter die Bundesbeteiligung nicht auf 50 % oder mehr erhöhte, was ein – aus der seinerzeitigen gesetzlichen Regelung nicht unmittelbar ersichtliches – Umschlagen in Bundesauftragsverwaltung zur Folge gehabt hätte, wurde damals konzeptionell richtigerweise eine Deckelung vorgesehen. Bei einer Aufhebung von Art. 104a Abs. 3 S. 2 GG würde die einfachgesetzliche Deckelung der Bundesbeteiligung demgegenüber obsolet. Aber auch ohne Aufhebung des Art. 104a Abs. 3 S. 2 GG hat die Begrenzung wegen der nicht mehr bestehenden nachträglichen Revisibilität des Bundesbeteiligungssatzes ihre Funktion verloren. Eine Bundesbeteiligung an der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen und der Hilfe zur Pflege ist dagegen nicht zu empfehlen. Nach geltendem Verfassungswie einfachem Recht kann sie nicht erfolgen, da es sich nicht um Geldleistungsgesetze handelt. Zudem ist bei beiden Aufgaben nach dem SGB XII die Ausführung von Land zu Land sehr unterschiedlich organisiert, was auch zu sehr unterschiedlichen Kosten sowohl pro Fall als auch bezogen auf die Einwohnerzahl eines Landes führt.

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Realisierte man mit Blick auf die in kommunaler Trägerschaft ausgeführten Bundessozialgeldleistungsgesetze eine vollständige Kostentragung des Bundes, hätte dies erhebliche Umverteilungswirkungen im Bundesstaat in vertikaler und in horizontaler Hinsicht. In vertikaler Hinsicht hätte der Bund Mehrausgaben in Höhe von knapp 11 Mrd. E dauerhaft zu tragen und könnte zumindest weitgehend einen entsprechenden Refinanzierungsanspruch bei den Ländern mit Blick auf das Umsatzsteuerbeteiligungsverhältnis geltend machen; die Länder ihrerseits könnten das Volumen des kommunalen Finanzausgleichs je nach Entlastungsgrad ihrer Kommunen deutlich zurückführen. Weitaus schwieriger stellen sich die Auswirkungen in horizontaler Hinsicht für die einzelnen Länder und Kommunen dar, da es gegenüber dem Status quo zu gravierenden Umverteilungswirkungen insbesondere zugunsten der Stadtstaaten, aber auch zugunsten der Kommunen in Nordrhein-Westfalen und in den neuen Ländern (außer Thüringen) im Verhältnis zu den Kommunen in den anderen Flächenländern käme. Diese Umverteilungswirkungen zugunsten der Stadtstaaten und der Kommunen in Nordrhein-Westfalen würden noch umso mehr verstärkt, je höher die Kompensation des Bundes durch eine Revision des Umsatzsteuerbeteiligungsverhältnisses zugunsten des Bundes ausfällt. Wegen der hohen Ergänzungsanteile der ostdeutschen Länder an der Umsatzsteuer führt für diese eine Revision des Umsatzsteuerbeteiligungsverhältnisses tendenziell zu überproportionalen Einnahmeverlusten, die die Vorteile aus einer Übernahme der Kosten für Unterkunft und Heizung sowie für die Hilfe zum Lebensunterhalt durch den Bund sogar übersteigen können. Politisch umsetzbar erscheint ein solcher Vorschlag nur, wenn - er an den „richtigen“ Gesetzen ansetzt, - er der Höhe nach überschaubar bleibt, - eine partielle, aber nicht vollständige Kompensation des Bundes erfolgt und - entstehende Doppelbegünstigungen bei Ländern und Kommunen durch die horizontale Umverteilungswirkung strikt vermieden werden. Das bedeutet, - dass eine solche Lösung nur an bundesverursachten durchnormierten Geldleistungsgesetzen, nicht aber an vor Ort gestaltbaren Sach- und Dienstleistungsgesetzen ansetzen kann, - keine Totalumstellung von einem – zumindest weitgehenden – Einwohnergleichgewichtungsprinzip zu einem – gestaltungsanfälligen – reinen Bedarfsmodell bei Sozial- und Jugendhilfeleistungen erfolgt, - der Bund einen deutlichen Nettobetrag in ein solches System einspeist und - in horizontaler Hinsicht die auch mit überdurchschnittlich hohen Sozialleistungen begründete Einwohnerveredelung der Stadtstaaten von 135 % im Länderfinanzausgleich deutlich zurückgeführt wird.

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Andere als Geldleistungsgesetze taugen für eine Bundesbeteiligung dagegen nicht. Das gilt in besonderem Maße für die Eingliederungshilfe für Behinderte, die zwar bundesweit dramatische Wachstumsraten aufweist, bei der der Grad der bundesrechtlichen Determinierung im Vergleich zu anderen Sozialleistungsgesetzen aber deutlich geringer ist. Insoweit ist also nach anderen Lösungen – und zwar auf der Einnahmeseite – zu suchen. Die kommunale Umsatzsteuerbeteiligung in Art. 106 Abs. 5a GG weist gegenwärtig zwei Schwachpunkte auf, die einer Ausweitung der kommunalen Umsatzsteuerbeteiligung bisher entgegenstehen: Die Regelung dient bisher rein rückwärts gewandt der Kompensation der in den 90er Jahren vorgenommenen Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer. Zukunftsorientiert gilt es, die kommunale Umsatzsteuerbeteiligung dynamisch für eine Finanzierung bundesrechtlich veranlasster Ausgaben des Sozialstaates zu öffnen. Das setzt eine Öffnung für die Kreisebene (Kreise und kreisfreie Städte) als Hauptaufgabenträgern und eine Abkehr von einem wirtschaftsbezogenen horizontalen Verteilungsschlüssel voraus, da dieser keine sozialaufgabenbedarfsgerechte Verteilung des Steueraufkommens herbeizuführen vermag. Hinsichtlich der kommunalen Ausstattung mit Steuereinnahmen ist seit langem herausgearbeitet worden, dass die Kreisebene (Kreise und kreisfreie Städte) als Hauptaufgabenträger steuerfinanzierter Sozialleistungen strukturell unterfinanziert ist.69 Hier ist der richtige Ort, die dynamische Entwicklung kommunaler Soziallasten, bei denen ein Ausführungsspielraum vor Ort und nicht eine vollständige bundesgesetzliche Durchnormierung besteht, auch in der Wachstumsdynamik in der Zeitachse zu berücksichtigen und eine gleichmäßige Grundfinanzierung in allen Teilen Deutschlands sicherzustellen, wodurch zugleich das 2013 vom Bundesverwaltungsgericht höchstrichterlich eindrucksvoll aufgedeckte Kreisumlagedilemma aufgelöst werden könnte.70

69 Wendt (Fn. 10), S. 603 (625 f.); Schmidt-Jortzig, Urteilsanmerkung DVBl. 1986, 1067 (1068); ders., Der Kampf um eine funktionsadäquate Finanzausstattung, Der Landkreis 2006, 64 (65 ff.); Henneke, Kommunale Finanzstrukturreform statt bloßer Gewerbesteuerreform, Der Gemeindehaushalt 1994, 107 (108 ff.); ders., Weichenstellung in der Gemeindefinanzkommission, Der Landkreis 2011, 4 ff.; ders., in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG (Fn. 27), Art. 28 Rn. 147 f. 70 BVerwGE 145, 378.

Darlegungslasten im Rahmen von Konnexitätsstreitigkeiten Zur Prozeduralisierung des materiellen Prinzips der Finanzierungsverantwortlichkeit Von Wolfram Höfling, Köln I. Problemaufriß und Strukturierung des Problemgegenstandes In seinem Grundlagenbeitrag „Finanzhoheit und Finanzausgleich“ für das Handbuch des Deutschen Staatsrechts hat der Jubilar die unentbehrliche Garantieund Ordnungsfunktion der grundgesetzlichen Finanzverfassung eindrücklich beschrieben und nachdrücklich hervorgehoben.1 Völlig zu Recht weist er auch alle Versuche zurück, die Normativität der Finanzverfassung zu relativieren.2 In der Tat bietet eine den verfassungsmäßigen Aufgaben und Bedürfnissen der einzelnen Ebenen des Bundesstaats gerecht werdende Finanzausstattung eine zentrale Voraussetzung dafür, „daß die von der Volkswirtschaft aufgebrachten Steuermittel auch in einem polyzentrischen Gemeinwesen mit einem Höchstmaß an finanzwirtschaftlicher Zweckmäßigkeit zur Wirkung kommen“. Darüber hinaus – so Wendt – gebe ein ausreichender finanzieller Dispositionsspielraum den Gliedern des föderativen Staatsverbandes die Möglichkeit zu einer konstruktiven, rationellen und zugleich flexiblen Haushaltspolitik. Indem ein insgesamt funktionsfähiges bundesstaatliches Finanzsystem den Steuerbürger und die Volkswirtschaft vor einem ungeregelten Zugriff einer Vielzahl konkurrierender Steuergläubiger schütze und den Einsatz der öffentlichen Mittel einem systematischen Planungs-, Allokationsund Kontrollverfahren unterwerfe, erfülle es zugleich eine bedeutsame rechtsstaatliche garantie- und wirtschaftspolitische Ordnungsfunktion.3 Nun läßt sich kaum bestreiten, daß eine aufgabengerechte Finanzverteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen sich im geltenden Finanzverfassungsrecht nur (höchst)

1 Siehe Rudolf Wendt, Finanzhoheit und Finanzausgleich, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, 3. Aufl. 2008, § 139 Rn. 1 ff. 2 A.a.O, Rn. 5; siehe auch schon Wolfram Höfling, Haushaltsverfassungsrecht als Recht minderer Normativität?, DVBl. 2006, 934 ff. 3 So Wendt, in: HStR VI, § 139 Rn. 2 unter Bezugnahme auf Fischer-Menzhausen, in: von Münch, GG-Komm., Bd. III, 3. Aufl. 1996, Vorbem. zu Art. 104a–109, Rn. 4 ff. sowie BVerfGE 67, 256 (288 f.).

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unzureichend abbildet.4 Dieser Befund aber dementiert nicht den elementaren Ordnungsanspruch des Finanzrechts, sondern weist ihn lediglich aus als eine „immer wieder von neuem zu bewältigende(n) Aufgabe“.5 Unentbehrlich ist daher aber – so die Einschätzung von Rudolf Wendt – die Existenz von „allgemeingültige (n) Finanzzuweisungs- und Finanzverteilungsregelungen“.6 Es geht zentral um die Realisierung von Finanzierungsverantwortlichkeit und Finanzierungsgerechtigkeit. Insoweit kann das finanzverfassungsrechtliche Konnexitätsprinzip als Ausdruck einer umfassenden normativen Leitidee verstanden werden. Danach müssen grundsätzlich Entscheidungsverantwortung und Finanzierungslast in einer Hand liegen.7 Auf diese Weise kann das Konnexitätsprinzip „Struktursicherung durch Recht“ gewährleisten.8 Diese Feststellung beanspruche nicht nur Geltung im bundesstaatlichen Verhältnis zwischen zentralstaatlicher und gliedstaatlicher Ebene, sondern auch im Verfassungsraum der Länder.9 Dieser grundlegenden Einsicht haben inzwischen auch alle Landesverfassungen durch die Aufnahme von Konnexitätsregelungen verfassungstextliche Anerkennung gezollt.10 In seinem Grundsatzurteil zum damals neu in die nordrhein-westfälische Verfassung aufgenommenen Konnexitätsprinzip hat der nordrhein-westfälische Verfassungsgerichtshof insoweit betont: „Art. 78 Abs. 1 LV NRW gewährleistet ebenso wie Art. 28 Abs. 2 GG den Gemeinden und Gemeindeverbänden das Recht der Selbstverwaltung. … Das Selbstverwaltungsrecht schließt einen gegen das Land Nordrhein-Westfalen gerichteten Anspruch auf angemessene Finanzausstattung ein; denn eigenverantwortliches Handeln setzt eine entsprechende finanzielle Leistungsfähigkeit der Selbstverwaltungskörperschaften voraus. … Hierzu gehört gem. Art. 78 Abs. 3 LV NRW auch das Recht auf einen besonderen Anforderungen entsprechenden Kostenausgleich bei Übertragung neuer Aufgaben auf die Gemeinden oder Gemeindeverbände. … Das Konnexitätsprinzip in Art. 78 Abs. 3 LV NRW ist von der Funktion des Finanzausgleichs, die finanziellen Grundlagen der gemeindlichen Selbstverwaltung zu sichern, zu unterscheiden. Es ist eine von der Finanz4 Siehe jüngst dazu das Gutachten D zum 70. Deutschen Juristentag 2014 von Simon Kempny/Ekkehart Reimer, Neuordnung der Finanzbeziehungen, aufgabengerechte Finanzverteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen, Gutachten D zum 70. Deutschen Juristentag, 2014. 5 Wendt, in: HStR VI, § 139 Rn. 141. 6 So a.a.O, Rn. 144 – Hervorhebung im Original. 7 Siehe nur Hans Herbert von Arnim, Finanzierungszuständigkeit, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, 3. Aufl. 2008, § 138 Rn. 8 f.; siehe auch Winfried Kluth, Grundlagen und Begriffe des Konnexitätsprinzips, in: Bunzel/Hanke (Hrsg.), „Wer zahlt die Zeche?“ Das Konnexitätsprinzip – richtig angewandt, 2011, S. 311 ff. 8 So Friedrich Schoch, Schutz der kommunalen Selbstverwaltung durch das finanzverfassungsrechtliche Konnexitätsprinzip, in: Festschrift für von Arnim, 2004, S. 411 (414). 9 Siehe auch Stefan Mückl, Konnexitätsprinzip in der Verfassungsordnung von Bund und Ländern, in: Henneke/Pünder/Waldhoff, Recht der Kommunalfinanzen, 2006, § 3 Rn. 55 ff. 10 Eingehende Darstellung mit zahlreichen Nachweisen bei Andreas Engels, Die Verfassungsgarantie kommunaler Selbstverwaltung, 2014, S. 317 ff.

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kraft der Kommune unabhängige Ausgleichsregelung, die neben die allgemeinen Bestimmungen zur Absicherung einer finanziellen Mindestausstattung durch originäre kommunale Einnahmen und den kommunalen Finanzausgleich tritt. …“.11 Doch so konsensfähig diese Fundamentalwertungen auch sein mögen: In der konkreten Umsetzung der Direktiven in der politischen Alltagspraxis erweisen sie sich als in vielerlei Hinsicht konfliktträchtig. Über jedes Tatbestandsmerkmal der jeweiligen landesverfassungsrechtlichen Konnexitätsregeln läßt sich streiten und wird gestritten.12 Entsprechendes gilt auch für die Rechtsfolgenseite. Eine besonders intensive Diskussion wird derzeit in einer Reihe von Ländern um die Einführung des inklusiven Schulunterrichts unter konnexitätsrechtlichen Gesichtspunkten geführt.13 Diese Themen seien aber im Folgenden vernachlässigt. Näher in den Blick genommen werden soll stattdessen eine andere Problematik. Sie betrifft den Versuch, über eine Art „doppelter Prozeduralisierung“ den materiellen Auslegungsschwierigkeiten Rechnung zu tragen: (1) Es geht insoweit zunächst um die explizite (oder implizite) Verpflichtung des Landesgesetzgebers,14 die Übertragung von Aufgaben15 auf kommunale Gebietskörperschaften mit einer Kostenfolgeabschätzung zu verknüpfen.16 (2) Zum zweiten aber – und dieser Aspekt ist noch wenig erörtert – bedarf der näheren Betrachtung, ob und inwieweit die betroffenen Kommunen ihrerseits etwa in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren Darlegungspflichten hinsichtlich der finanziellen Belastung treffen.17 Zunächst aber soll ein kurzer Blick geworfen werden auf Prozeduralisierungstendenzen bei der Bestimmung des Anspruchs der Gemeinden und Gemeindeverbände auf eine angemessene Finanzausstattung.18

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Verfassungsgerichtshof NRW, DVBl. 2010, 1561 (1562). Siehe hier nur Engels (oben Fn. 10), S. 325 ff. 13 Siehe dazu etwa Wolfram Höfling, Rechtsfragen zur Umsetzung der Inklusion im Schulbereich, 2012; Wolfram Höfling/Andreas Engels, Schulische Inklusion und finanzverfassungsrechtliche Konnexität, NWVBl. 2014, 1 ff.; Angela Faber, Die Umsetzung der Inklusion durch das Neunte Schulrechtsänderungsgesetz in NRW, NWVBl. 2014, 8 ff. 14 Einbezogen kann insoweit auch der Landesverordnungsgeber sein. 15 Der Begriff der Aufgabenübertragung ist hier weit zu verstehen, einschließlich etwa der wesentlichen Veränderung des Inhalts einer schon bestehenden Aufgabe. 16 Dazu nachfolgend sub III. 17 Dazu nachfolgend sub IV. 18 Dazu sub V. 12

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II. Zwischenbemerkung: Zu Prozeduralisierungsansätzen bei der Bestimmung des Anspruchs der kommunalen Gebietskörperschaften auf eine angemessene Finanzausstattung Obwohl das Finanzverfassungsrecht des Bundes die Finanzausstattung der Gemeinden und Gemeindeverbände durchaus in den Blick nimmt,19 herrschen bis heute erhebliche Unsicherheiten in der dogmatischen Herleitung des Anspruchs und seiner näheren Bestimmung.20 Die Landesverfassungsgerichtsbarkeit rekurriert insoweit – der bundesverfassungsgerichtlichen Zurückhaltung zum Trotz21 –, auf Art. 28 Abs. 2 GG: Der Landesgesetzgeber sei verpflichtet, „den Gemeinden und Gemeindeverbänden die zur Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlichen Finanzmittel zur Verfügung zu stellen“.22 Zwar komme dem Gesetzgeber insoweit eine gewisse Gestaltungsfreiheit zu; doch diese finde dort ihre Grenzen, „wo der Anspruch der kommunalen Selbstverwaltungsträger auf eine finanzielle Grundausstattung verletzt und damit das ihm gewährleistete Selbstverwaltungsrecht ausgehöhlt“ werde.23 Die danach „gebotene Mindestausstattung“ sei „jedenfalls dann unterschritten, wenn die Wahrnehmung freiwilliger Selbstverwaltungsangelegenheiten infolge einer unzureichenden Finanzausstattung unmöglich“ werde.24 Allerdings ist insoweit auch die Leistungsfähigkeit der Länder in Rechnung zu stellen.25 Ihr kommt damit eine wichtige Funktion im legislativen Abwägungsprozeß zu.26 Für dessen Strukturierung findet sich in der landesverfassungsgerichtlichen Judikatur der Vorschlag einer Prozeduralisierung des Anspruchs auf eine angemessene Finanzausstattung der kommunalen Gebietskörperschaften. Namentlich der Staatsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg hat diese Konzeptualisierung näher begründet: Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der Entscheidung des 19

Hingewiesen sei hier nur auf Art. 106 Abs. 5 GG. Siehe eingehende Bestandsaufnahme mit umfangreichen Nachweisen bei Engels (Fn. 10), S. 283 ff. 21 Hier z. B. BVerfGE 71, 25 (36 f.); 83, 363 (386); ferner BVerfGE 86, 148 (219) und 101, 158 (230). 22 Siehe etwa StGH BW, DVBl. 1994, 206 (207). 23 Sächs.VGH, LKV 2001, 223 (227). 24 So Niedersächs. StGH, DVBl. 1998, 185 (197); siehe ferner Niedersächs. StGH, Niedersächsische VBl. 2008, 152 (156). 25 Besonders deutlich VerfGH NW, DVBl. 1998, 1280 (1281). 26 Siehe näher – auch zu weiteren Abwägungsaspekten – Engels (Fn. 10), S. 302 ff. – Relativ starke Inpflichtnahme des Staates bei VerfGH RP, DVBl. 2012, 432 ff.: Der vertikale Finanzausgleich werde angesichts der grundsätzlichen Gleichwertigkeit von staatlichen und kommunalen Aufgaben durch den Grundsatz der Verteilungssymmetrie bestimmt, der eine gleichmäßige und gerechte Aufteilung der verfügbaren Finanzmittel auf die verschiedenen Ebenen gebiete. Dabei setze das Erfordernis einer symmetrischen Finanzmittelverteilung der gesetzgeberischen Gestaltungsmacht umso engere Grenzen, je knapper die zu verteilenden Finanzmittel seien (a.a.O, S. 433 mit weit. Nachw.). 20

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Haushaltsgesetzgebers, in die jeweils auch der kommunale Finanzausgleich eingebunden sein müsse, weil die kommunale Finanzgarantie unter dem Vorbehalt der finanziellen Leistungsfähigkeit des Landes stehe, stoße auch deshalb an ihre Grenzen, weil die politischen Bewertungen im Rahmen der Feststellung des jeweiligen Staatshaushalts und damit auch der Daten des kommunalen Finanzausgleichs verfassungsrechtlich weitgehend unwägbar und damit nicht justiziabel seien.27 Dieser Umstand bedeute indes nicht, daß die Verfassungsgerichtsbarkeit auf eine Kontrolle ganz verzichten müsse bzw. dürfe. Vielmehr erscheine lediglich eine direkte, auf die Überprüfung inhaltlicher Richtigkeit abzielende Ergebniskontrolle des kommunalen Finanzausgleichs nicht möglich.28 Möglich und nötig sei aber eine indirekte Überprüfung, deren Gewährleistung durch die Vorgabe prozeduraler Steuerungsmechanismen ermöglicht werden soll. Das Gesetzgebungsverfahren sei so zu strukturieren, daß der gesetzgeberische Entscheidungsprozeß und damit letztlich auch dessen Ergebnis im Sinne einer gerichtlichen Nachprüfbarkeit rational nachvollziehbar sei. „Indem mit der Entscheidungsfindung des Gesetzgebers wesentliche Determinanten seines Entscheidungsergebnisses indirekt überprüft werden, ohne daß deshalb nur ein einziges richtiges Ergebnis in der Sache denkbar wäre, findet somit eine auf das Gesetzgebungsverfahren orientierte Kontrolle statt, die materielle Gesichtspunkte mittelbar einbezieht“.29 III. Zu Funktion und Bedeutung landesseitiger „Darlegungslasten“ Der Gesichtspunkt der rationalisierenden und zugleich kontrollermöglichenden Prozeduralisierung gewinnt nun besondere Bedeutung im Geltungsbereich der landesverfassungsrechtlichen Konnexitätsprinzipien. In einigen Ländern kommt dies unmittelbar im Verfassungstext und/oder den Konnexitätsausführungsgesetzen explizit zum Ausdruck. Beispielhaft kann hier auf die nordrhein-westfälische Rechtslage verwiesen werden. Nach Art. 78 Abs. 3 Satz 2 LV NW muß bei einer Übertragung neuer oder veränderter Aufgaben, die zu einer wesentlichen Belastung der davon betroffenen kommunalen Gebietskörperschaften führt, durch Gesetz oder Rechtsverordnung „aufgrund einer Kostenfolgeabschätzung“ ein Mehrbelastungsausgleich geschaffen werden. Die Grundsätze dieser Kostenfolgeabschätzung sind nach Art. 78 Abs. 3 Satz 5 LV NW im Näheren durch ein Gesetz zu treffen. Diese Regelungen sind Ausdruck eines grundlegenden Prinzips, das der Verfahrensregelung eine unentbehrliche Effektivierungsfunktion für den Geltungsanspruch strikter

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Siehe StGH BW, DVBl. 1999, 1351 (1356 f.). A.a.O., S. 1357. 29 So Thüringer VGH, NVwZ-RR 2005, 665 (671); näher zu dieser Prozeduralisierung und der Einbeziehung eines solchen Konzepts in eine prinzipientheoretische Bedeutung der verfassungsrechtlichen Garantie kommunaler Selbstverwaltung: Engels (Fn. 10), S. 313 ff. 28

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Konnexitätsprinzipien zuweist.30 Dementsprechend findet sich der Gedanke auch in etlichen landesverfassungsgerichtlichen Judikaten, die von der Einsicht ausgehen, daß der konnexitätsrechtliche Mehrbelastungsausgleich zwingend einer verfahrensrechtlichen Flankierung bedarf, um Wirksamkeit zu entfalten.31 So hat etwa das Brandenburgische Verfassungsgericht – für eine Verfassungsbestimmung, die keine explizite Kostenfolgeabschätzung vorschreibt – hervorgehoben, die Verfassungsvorschrift verlange „vom Gesetzgeber, im Gesetzgebungsverfahren eine eigene Prognoseentscheidung zu treffen bzw. – bei Rückgriff auf anderweitige Erkenntnisse – eine eigenständige Überprüfung ihrer Übertragbarkeit unter Berücksichtigung der örtlichen Verhältnisse vorzunehmen“, und verpflichtet ihn diesbezüglich zu prozeduraler Sorgfalt. Diese Prognoseentscheidung unterliege der verfassungsrechtlichen Kontrolle, „welche ihrerseits von der Art und ggf. den Besonderheiten der in Betracht zu ziehenden Umstände, den Möglichkeiten und Schwierigkeiten ihrer Prognostizierung und der Bedeutung der betroffenen Rechtsgüter abhängt. … Erforderlich ist die gründliche gesetzgeberische Befassung mit den tatsächlichen Grundlagen der Prognoseentscheidung unter Ausschöpfung der zugänglichen Erkenntnisquellen bei Berücksichtigung der Verhältnisse vor Ort. Dies setzt voraus, daß der Gesetzgeber die ihm zugänglichen Erkenntnisquellen situationsgerecht ausschöpft und die voraussichtlichen Auswirkungen der Regelung so zuverlässig wie angesichts der Komplexität des jeweils zu regelnden Sachverhalts nur möglich abgeschätzt hat. Hierbei muß er realistisch einschätzen, ob und inwieweit die Gemeinden und Gemeindeverbände rechtlich und wirtschaftlich imstande sind, die bei der Wahrnehmung der übertragenen Aufgabe entstehenden Kosten durch eigenverantwortliches Handeln zu beeinflussen. … Gestaltungsspielräume und Kostensenkungspotentiale bei den kommunalen Selbstverwaltungsträgern dürfen nicht abstrakt und gleichsam ,ins Blaue hinein‘ vorausgesetzt werden, sondern müssen im Einklang mit den tatsächlichen Gegebenheiten stehen“.32 Zusammenfassend läßt sich diese zustimmungswürdige Judikatur wie folgt charakterisieren: Die landesverfassungsrechtlichen Konnexitätsprinzipien verlangen eine mit der Aufgabenübertragung einhergehende Kostenfolgeabschätzung, die den Geboten der Realitätsgerechtigkeit, Transparenz und Kontrolladäquanz Rechnung trägt. Nur eine Vorgaben beachtende und objektivierbaren Kriterien folgende Mehrbelastungsana30 Siehe zu den Funktionen näher Andreas Engels, Kostenfolgeabschätzung und Evaluation als Elemente landesverfassungsrechtlicher Konnexitätsprinzipien, VerwArch 102 (2011), 285 ff. 31 Grundlegend schon Niedersächs. StGH, DVBl. 1995, 1175 (1177) und DVBl. 1998, 185 (186); dem im wesentlichen folgend z. B. Brandenburg. VerfG, LKV 1998, 195 (196) und LKV 2002, 323 (326); VerfG Sachsen-Anhalt, DVBl. 1998, 1288 (1289); Sächs.VGH, SächsVBl. 2001, 61 (62, 65). 32 So VG Brandenburg, LKV 2002, 323 (325); siehe zuvor auch schon Sächs. VGH, NVwZ-RR 1999, 393 (395 f.): Die Kosten seien nachvollziehbar zu ermitteln. Die Kostenregelung müsse aus verfassungsrechtlicher Sicht bestimmten Mindestanforderungen genügen, dazu gehörten Angaben, die den Kommunen Berechnungsmöglichkeiten in die Hände gäben; ferner Thür. VGH, NVwZ-RR 2005, 665 (672 f.): Erforderlich sei eine „fundierte Prognose“.

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lyse und Kostenfolgeabschätzung ermöglicht jene angemessene verfassungsgerichtliche Kontrolle, die ihrerseits unabdingbar für die materielle Verfassungsgarantie eines entsprechenden finanziellen Mehrbelastungsausgleichs ist.33 IV. Zu den „Darlegungslasten“ der kommunalen Gebietskörperschaften in verfassungsgerichtlichen Konnexitätsverfahren Zu klären bleibt, ob auch die kommunalen Gebietskörperschaften (vergleichbare) Darlegungslasten treffen. Eine erste Orientierung vermag insoweit möglicherweise das Verfassungsprozeßrecht zu geben. 1. Untersuchungsgrundsatz und Substantiierungspflichten der Verfahrensbeteiligten: Grundsätzliche Aspekte Dem Verfassungsprozeßrecht sind allerdings nur allgemeine Direktiven für die hier interessierende Fragestellung zu entnehmen. In weitgehender Übereinstimmung mit dem Bundesverfassungsgerichtsgesetz enthalten die landesverfassungsprozessrechtlichen Bestimmungen Aussagen zu Verfahrensgrundsätzen und Mitwirkungspflichten der Prozeßbeteiligten. Hier sei zunächst auf § 26 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG34 verwiesen, der für das verfassungsgerichtliche Verfahren – in Parallele zum Verwaltungs- und Strafprozeß – die Geltung des Untersuchungsgrundsatzes statuiert. Es ist demnach Sache des Verfassungsgerichts selbst, für die Aufklärung des Sachverhalts zu sorgen. Ihm kommt mit anderen Worten die Sachverhaltsaufklärungskompetenz zu; sie ist Recht und Pflicht zugleich.35 Die Untersuchungsmaxime ist stets dort der adäquate Verfahrensgrundsatz, wo die Sachverhaltsaufklärung nicht in die Hände der Prozeßbeteiligten gelegt werden kann.36 Mit dieser Aussage scheint ein gewisses „Spannungsverhältnis“37 markiert zu den durch § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG38 den Verfahrensbeteiligten auferlegten Substantiierungspflichten.39 Doch lassen sich beide Maximen aufeinander beziehen und abstimmen: 33

Dazu näher schon Wolfram Höfling, (Verfassungs-)Rechtsfragen der Kommunalisierung der Versorgungs- und Umweltverwaltung in NRW, Rechtsgutachten, Januar 2008, S. 91 ff.; vgl. auch Winfried Kluth, Das kommunale Konnexitätsprinzip der Landesverfassungen – Überblick über Rechtsetzung und Rechtsprechung, LKV 2009, 337 (341 f.). 34 In der Sache übereinstimmend z. B. § 21 Satz 1 VGHG NW; siehe im übrigen die einzelnen Nachweise bei Zöbeley/Dollinger, in: Umbach/Clemens/Dollinger (Hrsg.), BVerfGG, Mitarbeiterkommentar und Handbuch, 2. Aufl. 2005, § 26 Rn. 1 mit Fn. 3 f. 35 E. Klein, in: Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht. Ein Lehr- und Handbuch, 3. Aufl. 2012, Rn. 299 f. (S. 136 f.) unter Bezugnahme auf BVerfGE 107, 339 (388). 36 Siehe E. Klein, in: Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, a.a.O, Rn. 300 (S. 136). 37 So Christofer Lenz/Ronald Hansel, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Handkommentar, 2013, § 26 Rn. 2. 38 Übereinstimmend etwa § 18 Abs. 1 Satz 2 VGHG NW. 39 Zöbeley/Dollinger, in: Umbach/Clemens/Dollinger (Hrsg.), BVerfGG, a.a.O, § 26 Rn. 6, sprechen davon, daß der Untersuchungsgrundsatz u. a. dadurch „begrenzt“ werde.

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Der Untersuchungsgrundsatz betrifft den Verfahrensgegenstand und kommt nur insoweit zur Anwendung, als die Mitwirkungspflichten der Beteiligten (Begründungs-, Substantiierungspflichten; Darlegungslasten) erfüllt sind.40 Die durch § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG und die vergleichbaren Normen des Landesrechts vorgeschriebene Begründung des Antrags verlangt eine hinreichende Substantiierung des Vorbringens in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht.41 Dem Beschwerdeführer obliegt dementsprechend „die substantiierte Darlegung zur Beurteilung der Zulässigkeit und Begründetheit … (eines Antrags) zu erforderlichen Tatsachen. Kommt er dieser prozessualen Mitwirkungspflicht (Darlegungslast) nicht nach, so ist … (der Antrag) wegen Nichterfüllung der Mindestformerfordernisse … unzulässig“.42 Mit diesen allgemeinen Direktiven sind indes noch keine konkreten Aussagen über das getroffen, was im Einzelfall als Mindestvortrag erforderlich ist. Insoweit können verfahrensspezifische und/oder sachverhaltsbedingte Aspekte eine Rolle spielen. Insgesamt aber ist eine „Überspannung formaler Anforderungen“ zu vermeiden.43 2. Zwei Fallkonstellationen im Konnexitätsverfahren: Sog. unechtes Unterlassen des Gesetzgebers und defizitärer Mehrbelastungsausgleich Für die konkrete Frage nach den Darlegungs- und Substantiierungskosten von Kammern ist damit nicht viel gewonnen. Für die nähere Bestimmung der Substantiierungspflichten klagender Kommunen hilfreich kann aber eine problemabschichtende Unterscheidung zweier grundsätzlicher Fallkonstellationen sein: (1) Zunächst kann eine kommunale Verfassungsbeschwerde, mit der eine Verletzung des landesverfassungsrechtlichen Konnexitätsprinzips gerügt wird, eine Situation betreffen, in der der Landesgesetzgeber überhaupt keine Ausgleichsregelung getroffen hat. Hier richtet sich die Verfassungsbeschwerde in zulässiger Weise gegen die Aufgabenübertragung mit dem Monitum, es fehle an einer sie kompensierenden Regelung der finanziellen Belastungen. (2) Daneben ist es möglich, daß der Landesgesetzgeber zwar die Aufgabenübertragungen mit einem Mehrbelastungsausgleich verbindet (oder einen solchen in hinreichend nahem zeitlichen Abstand folgen läßt), dieser aber von den be-

40 Siehe E. Klein, in: Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, a.a.O, Rn. 302 (S. 137). Keinen Widerspruch zwischen Untersuchungsgrundsatz und Begründungspflichten sieht auch Johann Friedrich Henschel, Zulässigkeit und Darlegungslast im Verfahren der Verfassungsbeschwerde, in: Festschrift Simon, 1987, S. 95 (99). 41 Näher hierzu Christian von Coelln, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 23 Rn. 54 ff.; ferner O. Klein, in: Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, a.a.O, Rn. 207 (S. 99). 42 So Henschel, in: Festschrift Simon, a.a.O, S. 95 (99 f.) – im Blick auf das Verfassungsbeschwerdeverfahren. 43 Siehe Henschel, in: Festschrift Simon, a.a.O, S. 100; vgl. ferner auch Engelmann, Prozeßgrundsätze im Verfassungsprozeßrecht, 1977, S. 62 ff.

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schwerdeführenden kommunalen Gebietskörperschaften als unzureichend eingestuft wird. a) Das Vorbringen im Falle eines sog. unechten Unterlassens Für die erste Fallkonstellation, die als sog. unechtes legislatives Unterlassen charakterisiert werden kann,44 beispielhaft ist der Streit um die Konnexitätsrelevanz der Neuregelungen zur Kindertagesbetreuung in Nordrhein-Westfalen. Zu Recht hat insoweit der VerfGH NW betont, daß es sich hierbei nicht um ein Verfassungsbeschwerdeverfahren gegen ein echtes legislatives Unterlassen handele. Ein solches liege lediglich im Falle eines gänzlichen Untätigbleibens des Gesetzgebers vor und sei mangels (Landes-)Rechtsqualität mit der Verfassungsbeschwerde nicht angreifbar. Zu unterscheiden sei das legislative Unterlassen von der unvollständigen Regelung eines Sachverhalts, bei der der Gesetzgeber im Zusammenhang mit dem Erlaß einer gesetzlichen Regelung entgegen einer landesverfassungsrechtlich verankerten Handlungspflicht die gebotene Vervollständigung der gesetzlichen Normierung nicht vornehme. Eine solche Regelung sei als Landesrecht tauglicher Gegenstand einer kommunalen Verfassungsbeschwerde.45 Angriffsziel der Rüge der Beschwerdeführerin sei es, daß mit der Zuständigkeitsnorm des § 1a Abs. 1 AG KJHG NW der Sachverhalt unvollständig geregelt worden sei, weil entgegen der konnexitäts-verfassungsrechtlichen Bestimmung des Art. 78 Abs. 3 LV NW eine Bestimmung über den finanziellen Belastungsausgleich gerade nicht getroffen worden sei.46 In einer solchen Fallgestaltung eines sog. unechten gesetzgeberischen Unterlassens47 beschränkt sich die Substantiierungspflicht der beschwerdeführende(n) Kommune(n) auf die nachvollziehbare Darlegung, daß die anspruchsbegründenden Voraussetzungen erfüllt sein können. Im Einzelnen: - Es muß eine konnexitätsrelevante Verpflichtung gegeben sein, - eine konnexitätsrelevante Aufgabenübertragung - sowie eine konnexitätsrelevante Belastung.48 Der geltend gemachte Anspruch zielt seinem Inhalt nach auf die Schaffung eines konnexitätsgerechten Mehrbelastungsausgleichs für die Gesamtheit der von der Aufgabenübertragung betroffenen Kommunen. Eine Antragstellerin muß insoweit substantiiert eine wesentliche Belastung49 vortragen. Damit kann die jeweils be44

S. jüngst auch VerfGH NW, DVBl. 2014, 1059 (1064). VerfGH NW, DVBl. 2010, 1565 ff. (1565). 46 Ebenda. 47 Kritisch zu dieser Kategorie im vorliegenden Kontext („Künstlichkeit der Rechtsfigur“): Lange, DÖV 2014, 793 (798). 48 Siehe etwa VerfGH NW, DVBl. 2010, 1561 (1562). 49 Zum Teil verlangen die landesverfassungsrechtlichen Bestimmungen ausdrücklich eine wesentliche Belastung (wie etwa in NRW), wobei damit allerdings nur eine Bagatellschwelle 45

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schwerdeführende Kommune erreichen, daß gleichsam als Vorstufe eine Ausgleichsregelung geschaffen wird, in deren Anwendung auch ihr konkrete Ausgleichsleistungen erbracht werden. Mit ihrem Vorbringen beruft sie sich mit dem Verlangen nach Schaffung einer konnexitätsgerechten Ausgleichsregelung zugleich für sich selbst auf die Beachtung des Konnexitätsprinzips als Bestandteil der Garantie kommunaler Selbstverwaltung.50 Im Übrigen wird man es für die Beschwerdebefugnis als ausreichend ansehen müssen, daß die jeweilige Beschwerdeführerin selbst zum Kreis der betroffenen Gebietskörperschaften gehören kann, auf die das Land Aufgaben übertragen hat. Dies wird man allenfalls dann anders sehen können, wenn die klagende Kommune mit Sicherheit keinen Vorteil von der jeweiligen Umsetzung des Konnexitätsprinzips zu erwarten hat. In einer derartigen Konstellation ginge es nur um ein Recht auf Erfüllung von Ansprüchen, die allein anderen kommunalen Gebietskörperschaften zustehen können; dies ist aber wohl vom Selbstverwaltungsrecht der individuellen Gemeinde nicht umfaßt.51 Dieser totale „Mehrbelastungsausgleichsausfall“ birgt indes ein anderes Problem für die kommunalen Gebietskörperschaften. Verneint etwa ein Land die Konnexitätsrelevanz einer normativen Regelung grundsätzlich, verzichtet es natürlich auch auf die – je nach Sachverhalt: aufwendigen und komplizierten – Prognosen einschließlich der dafür erforderlichen Datenerhebungen. Daraus kann nun aber nicht folgen, daß die beschwerdeführenden kommunalen Gebietskörperschaften gleichsam ersatzweise in die Rolle gedrängt werden, eine Art Kostenfolgeabschätzung vorzunehmen. Dies dürfte den Kommunen oftmals gar nicht möglich sein. Deshalb darf der – möglicherweise verfassungswidrige – Verzicht auf eine landesseitige Kostenfolgeabschätzung (bzw. deren prinzipielle Verweigerung) nicht noch dadurch prämiert werden, daß den Beschwerdeführern kaum oder gar nicht erfüllbare Darlegungslasten hinsichtlich der finanziellen Kosten aufgebürdet werden. Entsprechendes gilt, wenn das Land die Konnexitätsrelevanz mit der Behauptung bestreitet, etwaige Mehrbelastungskosten ließen sich nicht ermitteln. So hat etwa in Nordrhein-Westfalen die Landesregierung in der Begründung zum Neunten Schulrechtsänderungsgesetz ausgeführt, die verfügbaren Erkenntnisse ließen „derzeit eine hinreichend belastbare Aussage darüber, ob und ggf. inwieweit die Einführung der inklusiven Schulbildung zu einer … wesentlichen finanziellen Belastung der Gemeinden und Gemeindeverbände führe, nicht zu“. Die Kosten seien, so umschrieben ist, oder aber sie wird als eine Art ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal vorausgesetzt; siehe etwa Kluth, LKV 2009, 337 (341). 50 Lange, DÖV 2014, 793 (796). – Das VG Brandenburg, Urteil vom 15. 12. 2008 – VfGBbg 66/07, Juris Rn. 17, entnimmt die Beschwerdebefugnis der klagenden Kommunen offenbar deren Vortrag, daß sie für ihre eigenen Mehrbelastungen keinen entsprechenden Ausgleich erhalten hätten. 51 In diesem Sinne Lange, DÖV 2014, 793 (796).

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heißt es lapidar, „nicht prognostizierbar“.52 Geradezu abwegig ist eine ähnliche Konstruktion, die die behauptete Unmöglichkeit der Kostenermittlung unmittelbar überführt in eine normative Fiktion nach dem Muster: „Die Kosten sind nicht abschätzbar, da sie im Einzelfall zu ermitteln wären. Es wird aufgrund der vorstehenden Erwägungen davon ausgegangen, daß sie nicht erheblich … sind“.53 In derartigen Argumentationsversuchen offenbart sich nicht mehr und nicht weniger als ein fundamentales Mißverständnis der Funktion von strikten Konnexitätsprinzipien. Deren Schutzfunktion würde schlicht unterlaufen, wenn die bloße Behauptung der Prognoseunsicherheit oder -möglichkeit den Landesgesetzgeber von den Rechtsfolgen freistellen könnte.54 b) Der Vorwurf eines unzureichenden Mehrbelastungsausgleichs Anders stellt sich die Ausgangssituation dar, wenn das Land seiner Verpflichtung zu einem Mehrbelastungsausgleich jedenfalls dem Grunde nach nachgekommen ist, die betroffene(n) Kommune(n) diesen aber als unzureichend einstufen. Hier können wiederum zwei Problemebenen unterschieden werden: (1) Die erste betrifft das inhaltliche Maß an substantiiertem Zweifel an den Prognosen des Landes. (2) Die zweite bezieht sich auf die Frage, ob und inwieweit die Tatbestandsvoraussetzung der (wesentlichen) Belastung55 aller betroffenen Kommunen56 zugleich kommunal-individuell rückbezogen werden muß, um die Beschwerde als zulässig qualifizieren zu können. Zu (1): Was die Bestimmung des Maßes an substantiiertem Zweifel an den Prognosen des Landes betrifft, kann man auf eine Art „Korrespondenztheorie“ oder „Konvergenztheorie“ zurückgreifen: Je mehr sich eine Kostenfolgeabschätzung als evidenzbasiert, transparenzsichernd, detailgenau und in ihren Prognosen nachvollziehbar erweist, umso höhere Anforderungen ergeben sich für die beschwerdeführende(n) Kommune(n). Und umgekehrt: Beruhen die Kostenprognosen auf unzureichendem Datenmaterial, sind sie abstrakt und in ihrer Extrapolierung ohne hinreichend sachbereichsspezifische Orientierung, genügt ein kommunaler Sachvortrag, der die Unzulänglichkeiten der landesseitigen Kostenfolgeabschätzung durch 52 Siehe LT-Drs. NW 16/2432, S. 7. – Damit folgte die amtliche Begründung dem früher in Auftrag gegebenen Rechtsgutachten von Cyrill-Alexander Schwarz, Gutachten zur Konnexitätsrelevanz einer Umsetzung der UN-BKK in nordrhein-westfälisches Landesrecht, 2012, S. 38 f. 53 So für Niedersachsen die amtliche Begründung, siehe LT-Drs. Niedersachsen 16/4137, S. 10. 54 Siehe dazu auch Höfling/Engels, NWVBl. 2014, 1 (7). 55 Zum Ausmaß der erforderlichen kommunalen Belastung und deren Umschreibung in den einzelnen landesverfassungsrechtlichen Regelungen s. etwa die Regelung in Art. 78 Abs. 3 Satz 2 LV NW. 56 Näher dazu Engels (Fn. 10), S. 329 ff.

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plausible „Gegenrechnungen“ aufdeckt. Eine einzelne Kommune kann beispielsweise geltend machen, daß die vorgesehenen Pauschalen generell nicht so bemessen sind, daß jede Kommune trotz eigener Anstrengungen in der Lage ist, den ihr durch die Aufgabenübertragung entstehenden Mehraufwand zu decken.57 Entsprechend reduzierte Darlegungslasten treffen die kommunalen Gebietskörperschaften auch dann, wenn das Land zu ihren Lasten ohne valide Daten – ,gleichsam ins Blaue hinein‘58 – Kostensenkungspotentiale unterstellt. Als ein Beispiel für deutliche Mängel im Prozeß der Kostenfolgeabschätzung läßt sich die Prognose der nordrhein-westfälischen Landesregierung zu den Einsparungspotentialen einer Kommunalisierung der Versorgungsverwaltung heranziehen. Insoweit hat sich die Landesregierung auf einen Beratungsbericht des Landesrechnungshofs bezogen, der aber allein das Einsparungspotential einer Zentralisierung der Versorgungsverwaltung untersucht hatte. Wenn das Land nunmehr einen optimierten Stellenbedarf errechnet, ohne darzulegen, warum die Überlegungen des Landesrechnungshofs zum Zentralisierungsmodell in gleichem oder vergleichbarem Maße auch für das Kommunalisierungsmodell Geltung beanspruchen, kann von einer kontrollermöglichenden und transparenten Kostenfolgeabschätzung nicht mehr die Rede sein.59 Bei der Anwendung der skizzierten „Korrespondenztheorie“/„Konvergenztheorie“ sind Zulässigkeits- und Begründetheitsebene zu unterscheiden. Auf letzterer bedarf es selbstverständlich eingehenderer Darlegungen, während für die Bejahung der Beschwerdebefugnis die hinreichende Möglichkeit ausreicht, daß die Aufgabenübertragung zu einer (wesentlichen) Mehrbelastung führt. Zu (2): Zu beantworten bleibt die zweite Frage, ob und inwieweit eine beschwerdeführende Kommune den Umstand einer finanziellen Mehrbelastung der Gesamtheit der betroffenen kommunalen Gebietskörperschaften kommunal-individuell konkretisieren muß. Denkbar erscheint zunächst eine Antwort auf diese Frage, die insoweit keine höhere Darlegungslast verlangt als in der Konstellation eines unechten Unterlassens des Gesetzgebers.60 Folgt man dem, läßt sich die Beschwerdebefugnis nur dann verneinen, wenn eine finanzielle Betroffenheit der beschwerdeführenden Kommune mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann. In Betracht gezogen werden kann andererseits aber auch eine Verschärfung der Darlegungslast. Dann könnte etwa von einer klagenden Gemeinde verlangt werden, daß sie hinreichend substantiiert vorträgt, daß die finanziellen Folgekosten der Aufgabenübertragung in ihrem Zuständigkeitsbereich trotz zumutbarer Anstrengungen durch die vom Land vorgesehenen Ausgleichsleistungen nicht kompensiert werden können. Die aufgeworfene Frage ist, soweit ersichtlich, in der landesverfassungs57 Siehe auch Knut Engelbrecht, Schutzschild der Kommunen vor finanzieller Überforderung?, BayVBl. 2007, 164 (169). 58 VerfG Brandenburg, LKV 2002, 323 (325). 59 Näher dazu mit weit. Nachw. Höfling (oben Fn. 33), S. 97 ff. 60 Siehe oben bei Fn. 44 ff.

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gerichtlichen Judikatur bislang nicht beantwortet. Die Struktur und die Teleologie der (strikten) Konnexitätsprinzipien legen aber nach meiner Auffassung die zuerst gegebene Antwort nah. Doch soll dies zunächst auf sich beruhen. Kurz angesprochen werden soll an dieser Stelle ein weiteres Problem. Es tritt dann auf, wenn die Aufgabenübertragung jedenfalls ihrer formalen Ausgestaltung nach den kommunalen Gebietskörperschaften Optionen einräumt. Was damit gemeint ist, sei an folgendem Beispiel verdeutlicht: Einige Landesgesetzgeber knüpfen die Einführung eines inklusiven Schulunterrichts an die Zustimmung des jeweiligen Schulträgers.61 Insoweit könnte man geltend machen, die Einräumung bloßer Handlungsoptionen bedeute noch keine konnexitätsrechtlich relevante Verpflichtung zur Aufgabenwahrnehmung. Jedenfalls im Blick auf die Umsetzung der völkerrechtlichen Verpflichtung aus der UN-Behindertenrechtskonvention vermag eine derartige Argumentation nicht zu überzeugen. Entsprechende „Optionen“ räumen den kommunalen Gebietskörperschaften nämlich keine substantiellen Entscheidungsspielräume ein. Weil die Länder nämlich einen entsprechenden Systemwechsel im Schulrecht herbeiführen müssen, können und dürfen sie den Schulträgern wirkliche Entscheidungsfreiheit gar nicht einräumen.62 Darüber hinaus ist zu bedenken: Der Landesgesetzgeber hat die Schulträger in ihrer Gesamtheit verpflichtet, inklusiven Schulunterricht sicherzustellen. Damit ist seine konnexitätsrelevante Verpflichtung gegeben. Diese führt auch zu einer konnexitätsrelevanten Belastung, nämlich: zu einer wesentlichen Belastung der davon betroffenen kommunalen Gebietskörperschaften. Da das obligatorisch vorgegebene gesetzgeberische Ziel, gemeinsamen Unterricht zu gewährleisten, nur erreicht werden kann, wenn eine sehr große Zahl von Schulträgern sich zur Einführung bereit erklärt, erweist sich auch aus diesem Grund die eingeräumte „Option“ als bloß scheinbare Alternativeneröffnung. Vor diesem Hintergrund erfüllt eine beschwerdeführende Kommune auch die strengere Variante der oben erörterten Darlegungslast,63 wenn sie vorträgt, die Zustimmung des Schulträgers zur Einführung inklusiven Unterrichts werde ernsthaft erwogen. Für die saarländische Verfassungsrechtslage hat der Saarländische Verfassungsgerichtshof, dessen Vizepräsident der Jubilar seit vielen Jahren ist, weitergehend entschieden, unter einer Übertragung von Aufgaben gem. Art. 120 Abs. 1 Satz 1 SVerf seine Begründung jeder Zuständigkeit der Kommunen für staatliche Aufgaben zu verstehen. Dabei werde nicht danach differenziert, ob die Zuständigkeiten mit oder gegen den Willen der Kommunen begründet würden. Weder dem Wortlaut der Verfassungsnorm noch dem in der Entstehungsgeschichte und dem Gesetzge61

Dies gilt etwa für Bayern und Nordrhein-Westfalen; siehe dazu auch Wolfram Höfling/ Andreas Engels, Schulische Inklusion und finanzverfassungsrechtliche Konnexität, NWVBl. 2014, 1 (4 f.). 62 Dazu Höfling/Engels, NWVBl. 2014, 1 (5). 63 Siehe bei Fn. 60.

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Wolfram Höfling

bungsmaterial zum Ausdruck kommenden Willen des Verfassungsgebers könne ein gegenteiliges Verständnis entnommen werden.64 Auch der Schutzzweck des Art. 120 Abs. 1 SVerf spreche für eine derartige Auslegung. Sie sei gerichtet auf die Sicherung der materiellen Kostentragungspflicht des Landes für alle Auftragsangelegenheiten. Auch bei einer optionalen Übernahme von Auftragsangelegenheiten fallen für die Gemeinden und Gemeindeverbände Kosten in gleichem Umfang an wie bei der nicht-optionalen Übertragung. In beiden Fällen fehlten die dafür zu verauslagenden Haushaltsmittel den betreffenden Gemeinden und Gemeindeverbänden gleichermaßen für die Wahrnehmung von Selbstverwaltungsangelegenheiten. Deshalb bestehe kein Anlaß für eine einschränkende Auslegung des Art. 120 Abs. 1 SVerf in dem Sinne, daß die optionale Übertragung von Auftragsangelegenheiten nicht konnexitätsrelevant sei. Der Schutzzweck der Verfassungsvorschrift liege vielmehr uneingeschränkt darin, die Gemeinden davor zu bewahren, daß die Wahrnehmung von Auftragsangelegenheiten auf sie verlagert werde, ohne daß das Land zugleich Bestimmungen über die Deckung der Kosten treffe.65 V. Schlußbemerkungen Man wird nicht fehlgehen in der Annahme, daß diese Zeilen die Handschrift – jedenfalls die finanzverfassungsrechtliche Grundüberzeugung – von Rudolf Wendt zu erkennen geben. Ihm, dessen wissenschaftliches Werk zu einem ganz wesentlichen Teil Zentralaspekte einer gerechten Finanzordnung analysiert und damit die Diskussion maßgeblich beeinflußt hat, seien die vorstehenden Überlegungen in herzlicher Verbundenheit gewidmet.

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VerfGH Saarland – Beschluß vom 8. Oktober 2013 – Az.: Lv 16/12, UA, S. 11. A.a.O, S. 12 f.

Gesamtfinanzverfassung Von Michael Kloepfer, Berlin* I. Zur besonderen Stellung der Finanzverfassung im Grundgesetz 1. Geltende Verfassungslage Der X. Abschnitt des Grundgesetzes, überschrieben mit „Das Finanzwesen“, durchbricht die allgemeine Systematik des Grundgesetzes. Abweichend von den Art. 72 ff., 84 ff., 92 ff. GG schaffen die Art. 104a-108 GG – die Finanzverfassung i. e. S. – ein eigenes Regime der Kompetenzaufteilung zwischen Bund und Ländern im Steuerwesen. Ebenso konstituieren die Art. 109 – 115 GG – die Haushaltsverfassung – eine eigene verfassungsrechtliche Ordnung für das Zusammenwirken der Bundesorgane im Haushaltswesen, wobei auch föderale Aspekte geregelt werden (Art. 109, 109a GG). Die Finanz- und Haushaltsverfassung ist echtes Sonderrecht in der Verfassung.1 Sie ist eine eigene verfassungsrechtliche Teilordnung im Grundgesetz.2 In diesem Beitrag soll nachgezeichnet werden, wie es für das Finanzwesen unter Durchbrechung der Gliederung nach Organen und Funktionen zu der gegenständlichen Zusammenfassung eines bestimmten Bereichs staatlichen Handelns3 kam (I. 2.) und welche Gründe für diesen Ausbruch aus der allgemeinen Systematik sprechen (I. 3.). Davon ausgehend soll untersucht werden, welche Faktoren eine Abgeschlossenheit der Finanzverfassung begrenzen (I. 4.) und in welchen Bereichen der X. Abschnitt des Grundgesetzes trotz dieser Begrenzungen noch schließungsbedürftige Lücken aufweist (II.). Weil es diesem Beitrag gerade um den Blick auf das Gesamtsystem geht, ist im Folgenden mit Finanzverfassung die Finanzverfassung i. w. S. (d. h. Art. 104a-115 GG) gemeint, also sowohl die – auf Verbandszuständigkeiten zielende – föderale Finanzverfassung als auch die – auf die Organzuständigkeiten von Verfassungsorganen des Bundes zielende – Haushaltsverfassung des Grundgesetzes. Noch weiter ist der Begriff der Gesamtfinanzverfassung. Er umfasst nicht nur die bisherige Finanzverfassung i. w. S. (also die Art. 104 – 115 GG), sondern darüber *

Herrn stud. iur. Christoph Schmidt, Berlin, danke ich für seine wertvolle Mitarbeit. Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 26 Rn. 9. 2 Zum Begriff der verfassungsrechtlichen Teilordnung Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 24. 3 So die Formulierung von Stern, Staatsrecht, Bd. II, 1980, § 45 I 1. 1

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hinaus alle zum Teil recht verstreuten finanzspezifischen Vorschriften des Grundgesetzes (s. insbes. I. 4. c)). 2. Vorläuferregelungen und Genese des X. Abschnitts des Grundgesetzes Der X. Abschnitt des Grundgesetzes ist nicht ohne historische Vorbilder.4 Bereits die preußische Verfassung von 1850 enthielt einen Titel VIII unter der Überschrift „Von den Finanzen“. Dort fanden sich vornehmlich Regelungen des Haushaltsverfassungsrechts (Art. 99, 103, 104 PrVerf) und – mangels bundesstaatlicher Strukturen in Preußen – naturgemäß keine föderale Kompetenzaufteilung in Finanzfragen. Über eine bloße Haushaltsverfassung hinaus waren dort aber immerhin inhaltliche Vorgaben für das Steuersystem (Art. 101 PrVerf) sowie ein abgabenrechtlicher Gesetzesvorbehalt (Art. 100, 102 PrVerf) für Steuern, Abgaben und Gebühren normiert. Auch die Reichsverfassung von 1871 enthielt einen eigenen finanzverfassungsrechtlichen Abschnitt, überschrieben mit „XII. Reichsfinanzen“. Im Wesentlichen handelte es sich dabei wiederum um eine Haushaltsverfassung (Art. 69, 71 – 73 RV) des Reichs. Lediglich Art. 70 RV regelte – zunächst nur übergangsweise gedacht5 – die sogenannten Matrikularbeiträge der Länder an das Reich, welche die Grundlage für die bekannte Formel vom Reich als „Kostgänger der Einzelstaaten“ darstellen. Die sonstigen Regeln einer föderalen Finanzverfassung fanden sich eingegliedert in die allgemeine Systematik: Art. 4 RV über die Gesetzgebungskompetenzen des Reichs räumte diesem in Nr. 2 unter anderem eine umfassende Steuerhoheit ein.6 Immerhin finden sich im Abschnitt „VI. Zoll- und Handelswesen“ gebündelt Regelungen zur Gesetzgebungs- (Art. 35 RV), Verwaltungs- (Art. 36 RV) und Ertragshoheit (Art. 38 RV) der dem Reich zustehenden Zölle und indirekten Steuern, wobei diese Vorschriften durchaus an die Regelungstechnik der späteren Art. 105, 106, 108 GG erinnern. Die Weimarer Reichsverfassung von 1919 verzichtete demgegenüber völlig auf einen eigenen Abschnitt zum Finanzwesen und ordnete alle finanzspezifischen Verfassungsvorschriften in die allgemeine Systematik der Verfassung ein. Kompetenzen für die Regelung der Abgaben (Art. 8, 11 WRV) fanden sich zwischen den sonstigen Gesetzgebungskompetenzen. Regelungen über den Vollzug des Abgabenrechts (Art. 83, 84 WRV) wurden im Abschnitt über die Reichsverwaltung platziert, ebenso das gesamte Haushaltsverfassungsrecht (Art. 85 – 87 WRV). 4

Stern, Staatsrecht, Bd. II, 1980, § 45 I 1. Die Worte „solange Reichssteuern nicht eingeführt sind“ wurden erst durch Gesetz vom 14. Mai 1904 (RGBl. S. 169) aus dem Verfassungstext gestrichen. Vgl. auch Henneke, Öffentliches Finanzwesen, 2. Aufl. 2000, Rn. 69. 6 Meyer/Anschütz, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts, 7. Aufl. 1919, § 208 III. 3. Die lange andauernde Beschränkung auf indirekte Steuern hatte politische, nicht verfassungsrechtliche Gründe, vgl. Vogel/Waldhoff, in: Bonner Kommentar, 167. EL 2014, Vorbem. Art. 104a–115 GG, Rn. 134. Siehe dort auch die weiteren Nachweise zur einhelligen Meinung hinsichtlich der umfassenden Steuerhoheit des Reichs. 5

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Für das Grundgesetz sah bereits der Herrenchiemsee-Entwurf von 1948 einen eigenen Abschnitt „XI. Das Finanzwesen“ vor. Daraus ausgegliedert und im allgemeinen Abschnitt über Bund und Länder verortet waren jedoch die Regelungen zur getrennten Haushaltswirtschaft (Art. 37 HChE) und zu den Steuergesetzgebungskompetenzen (Art. 38 HChE), während die sonstigen Fragen der föderalen Finanzverfassung im Abschnitt XI. geregelt waren – insbesondere die hochumstrittenen Fragen der Finanzverwaltung (Art. 122 HChE) und der Steuerertragskompetenzen (Art. 123 HChE). Der Parlamentarische Rat war sich schnell darin einig, dass die Art. 37 und 38 HChE in den Abschnitt über das Finanzwesen einzugliedern waren. So waren mit Inkrafttreten des Grundgesetzes 1949 fast alle – im Grundgesetz angesprochenen – steuerspezifischen Regelungen und die Vorschriften zur Haushaltswirtschaft des Bundes aus der allgemeinen Systematik ausgegliedert und im X. Abschnitt zusammengefasst. Dabei handelte es sich bei der Finanzverfassung i. e.S. von vornherein um steuerspezifische Regelungen, während die Haushaltsverfassung seit jeher alle Einnahmen, d. h. auch die Einnahmen von nichtsteuerlichen Abgaben erfasste. Zu den nichtsteuerlichen Abgaben gab es keine spezifischen Regeln in der Verfassung, so dass sich auch die Frage nach dem richtigen systematischen Standort solcher Regelungen im Grundgesetz 1949 gar nicht stellte. Auf welche historischen Gründe war die gesonderte systematische Stellung der Finanzverfassung als verfassungsrechtliche Teilordnung zurückzuführen? Im Parlamentarischen Rat scheint diese eher gesetzgebungstechnische Frage kaum eine Rolle gespielt zu haben. Man fasste die Finanzverfassung in einem Abschnitt zusammen, weil – in den Worten des im Parlamentarischen Rat für die Finanzverfassung prägend wirkenden Höpker-Aschoff – „die Dinge des Finanzwesens zusammengehören“7, wobei er wohl offensichtlich an Verfassungsvorschriften zu Steuern sowie zum Haushaltswesen des Bundes dachte. Man mag in dieser Beziehung ein Anknüpfen an die entsprechenden „eigenen“ Abschnitte in der preußischen Verfassung von 1850 (Höpker-Aschoff war 1925 – 1931 preußischer Finanzminister) sowie der Reichsverfassung von 1871 sehen.8 Möglicherweise sollte eine ausgegliederte Finanzverfassung auch dabei helfen, etwaigen Einwänden der Alliierten gegenüber der starken Stellung des Bundes im Bereich der Steuergesetzgebungs- und -ertragshoheit auszuweichen.9

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Parlamentarischer Rat, Finanzausschuss, Stenographisches Protokoll der 2. Sitzung vom 16. September 1948, S. 1 (zitiert nach Schneider [Hg.], Das Grundgesetz. Dokumentation seiner Entstehung, Bd. 25, 1997, S. 94). 8 In diese Richtung jedenfalls Stern, Staatsrecht, Bd. II, 1980, § 45 I 1 a. 9 Zum Hinwirken der Alliierten auf eine föderale Struktur Deutschlands Mußgnug, in: HbStR I, 3. Aufl. 2003, § 8 Rn. 26, 71 ff., der aber darauf verweist, dass es auch ohne den Druck der Alliierten zu einem föderalen System gekommen wäre; hingewiesen sei aber auch in spezifisch finanzverfassungsrechtlichem Zusammenhang auf die Interventionen der Alliierten gegen eine zu zentralistische Finanzverwaltung, dazu Schneider (Hg.), Das Grundgesetz. Dokumentation seiner Entstehung, Bd. 26, 2009, S. 16 ff.

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3. Gründe für die „Ausgliederung“ der Finanzverfassung Völlig unabhängig von diesen Mutmaßungen über historische Motive der Grundgesetzgeber spricht aber auch in der Sache einiges für die gesonderte Regelung der Finanzverfassung in einem eigenen Abschnitt: Zum einen besteht eine sachliche Nähe zwischen den einzelnen finanzbezogenen Regelungen, während sich eine Einordnung in die allgemeine Systematik der Verfassung häufig schwierig gestalten würde. Das gilt weniger für die Frage der einschlägigen Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen10 als vor allem für Fragen der Ertragshoheit (Art. 106 GG) und des Finanzausgleichs (Art. 107 GG). Hier gibt es keine Entsprechung in den allgemeinen Zuständigkeitsregelungen der Art. 70 ff., 83 ff. GG. Die Fragen der Ertragshoheit und des Finanzausgleichs sind finanzspezifisch, hängen aber stark mit den Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen in diesem Bereich zusammen. Nach der allgemeinen Systematik des Grundgesetzes (Art. 70 ff., 83 ff. GG) müssten die Regelungen über die Ertragshoheit und den Finanzausgleich aber aus dem Zusammenhang mit den Gesetzgebungs- und Verwaltungszuständigkeiten gerissen und wohl in den (ohnehin schon mit Normen mit Bezügen z. B. zum Völkerrecht und zur Staatshaftung eher eklektisch anmutenden) II. Abschnitt transferiert werden. Ein ähnliches Einordnungsproblem stellt sich für das Haushaltsverfassungsrecht: Eine Verortung bei den Art. 83 ff. GG (analog der Weimarer Reichsverfassung) erscheint zwar unter dem Gesichtspunkt sinnvoll, dass vor allem die Verwaltung vom Haushaltsgesetz gebunden wird. Adressaten der Haushaltsverfassung sind aber überwiegend der Gesetzgeber und die Regierung. Bei Art. 113 GG etwa besteht dann auch keinerlei Bezug zur Bundesverwaltung mehr. Der gegenständliche Bezug der Finanzfragen untereinander ist insgesamt wesentlich größer als der Bezug zu allgemeinen Vorschriften zu bestimmten Verfassungsorganen oder Staatsfunktionen, nach denen das Grundgesetz sonst gegliedert ist. Mit Höpker-Aschoff auf den Punkt gebracht: Die Dinge des Finanzwesens gehören zusammen. Die Finanzverfassung hat also ihre eigenen Voraussetzungen, ihre abgesonderten Gegenstände und auch ihre besonderen Ziele.11 Eine Eingliederung in die restlichen Abschnitte der Verfassung würde ihren inneren Zusammenhang zerreißen und dort wegen ihrer vielen Besonderheiten häufig wie ein Fremdkörper wirken. Dabei ist die Regelung der Finanzverfassung in einem eigenen Abschnitt keine bloße gesetzgebungstechnische Formalität. Die relative Abgeschlossenheit des X. Abschnitts hat auch für den materiellen Gehalt der Finanzverfassung erhebliche Bedeutung. So stützt das Bundesverfassungsgericht seine Sonderabgaben-Judikatur12 10 Diese ließen sich gut ins Umfeld der Art. 72 ff. bzw. 83 ff. GG einfügen, wie dies etwa für die Bundesbank (Art. 88 GG) trotz Sachnähe zur Finanzverfassung geschehen ist. 11 Maunz, VVDStRL 14 (1956), S. 36. 12 BVerfGE 4, 7 ff. – Investitionshilfeabgabe; BVerfGE 8, 274 ff. – Preisausgleichsabgabe; BVerfGE 9, 291 ff. – Feuerwehrabgabe; BVerfGE 13, 167 ff.; BVerfGE 17, 287 ff. – Hebammenabgabe; BVerfGE 18, 315 ff. – Marktordnung; BVerfGE 28, 119 ff. – Spielbankabgabe; BVerfGE 29, 402 ff. – Konjunkturzuschlag; BVerfGE 37, 1 ff. – Weinwirtschaftsabgabe;

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unter weitestgehender Zustimmung des Schrifttums13 insbesondere auch auf das Argument, dass durch Sonderabgaben das Kompetenzgefüge der Finanzverfassung unterlaufen werden könnte. Die Finanzverfassung stelle eine „sorgsam ausbalancierende Regelung dar, die ein Eckpfeiler der bundesstaatlichen Ordnung“14 sei. Ihr wird deshalb auch im Schrifttum ein „prinzipieller Ausschließlichkeitsanspruch“15 hinsichtlich der staatlichen Einnahmenerzielung zugesprochen. Daraus folgt das (in der Literatur teilweise zum Verfassungsprinzip erhobene) Postulat des „Steuerstaats“. Die Regelungen der Finanzverfassung werden regelmäßig als prinzipiell abschließend begriffen. Weil dort nur die Steuern (und die spätestens mit Abschaffung des Branntweinmonopols praktisch irrelevanten Finanzmonopole) erwähnt sind, bestehe für nichtsteuerliche Abgaben ein grundsätzliches Rechtfertigungsbedürfnis.16 Die h. M. lehnt zudem ein Steuererfindungsrecht, welches über die im X. Abschnitt des Grundgesetzes erwähnten Steuerarten hinausgeht, ab.17 Die Normierung der Finanzverfassung in einem eigenen Abschnitt schafft so einen Regelungsgehalt, der über die Summe der Einzelregelungen in den Art. 104a–115 GG hinausgeht: den Anspruch einer im Wesentlichen geschlossenen Regelung des Finanzwesens unter dem Grundgesetz. Eine Regelung der steuerbezogenen Kompetenzen, die sich einpasst in die sonstigen Kompetenzregelungen des Grundgesetzes, würde der Herleitung eines Primats der Steuerfinanzierung jedenfalls wesentlich höheren argumentativen Aufwand abfordern. 4. Finanzverfassung als abgeschlossene Regelung? Die angestrebte prinzipielle Abgeschlossenheit der Finanzverfassung ist im Verfassungstext, aber auch in der Verfassungswirklichkeit nur unvollkommen gelungen. BVerfGE 55, 274 ff. – Ausbildungsplatzfo¨ rderungsabgabe; BVerfGE 18, 274 ff. – Wertzuwachsausgleichsabgabe; BVerfGE 57, 139 ff. – Schwerbehindertenausgleichsabgabe; BVerfGE 67, 256 ff. – Investitionshilfeabgabe; BVerfGE 78, 249 ff. – Fehlbelegungsabgabe; BVerfGE 82, 156 ff. – Abgabe fu¨ r die Land- und Erna¨ hrungswirtschaft nach dem Absatzfondsgesetz; BVerfGE 91, 186 ff. – Kohlepfennig; BVerfGE 92, 91 ff. – Feuerwehrabgabe; BVerfGE 101, 141 ff. – Hessisches Sonderurlaubsgesetz; BVerfGE 108, 186 ff. – Altenpflegeabgabe; BVerfGE 110, 370 ff. – Kla¨ rschlamm-Entscha¨ digungsfonds; BVerfGE 113, 128 ff. – Solidarfonds Abfallru¨ ckfu¨ hrung; BVerfGE 122, 316 ff. – Sonderabgabe Absatzfonds; BVerfGE 123, 132 ff. – Forstabsatzfonds. 13 Die Literatur zu den Sonderabgaben ist kaum mehr überschaubar, vgl. aber die Nachweise bei Kloepfer, Finanzverfassungsrecht, 2014, § 2 Rn. 36 ff. Ist die Sonderabgabendogmatik auch im Einzelnen sehr umstritten, sind die Sonderabgaben als eigene Kategorie – und das Bedürfnis ihrer Eindämmung durch strenge verfassungsrechtliche Anforderungen – allgemein anerkannt. Anders aber etwa Siekmann, in: Sachs (Hg.), GG, 6. Aufl. 2011, Vor Art. 104a Rn. 150 ff., der die Zulässigkeit der Sonderabgaben als eigene Kategorie der Abgabenerhebung grundsätzlich ablehnt. 14 BVerfGE 78, 249 (266) – Fehlbelegungsabgabe. 15 P. Kirchhof, in: HbStR V, 3. Aufl. 2007, § 119 Rn. 76. 16 Vogel, in: HbStR II, 3. Aufl. 2004, § 30 Rn. 70. 17 Kloepfer, Finanzverfassungsrecht, 2014, § 4 Rn. 36, m.w.N.

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Um es vorweg zu sagen: Die Finanzverfassung enthält keineswegs alle verfassungsrechtlich relevanten Aussagen zum Abgaben- und Haushaltswesen des Staates. a) Vielheit der Rechtserzeugungsebenen Dagegen spricht zunächst, dass es außerhalb des Bundesrechts andere Rechtserzeugungsebenen, insbesondere der EU einerseits und der Länder andererseits, gibt. So entsteht, beschleunigt durch die Eurokrise, ein – erst ansatzweise erkennbares – Europäisches Finanz„verfassungs“recht.18 Dabei kann es zu Ausstrahlungen des Unionsrechts auf das deutsche Finanzverfassungsrecht (des Bundes wie der Länder) kommen. Zum Beispiel laufen insbesondere die Vorschriften über die Gesetzgebung von Zöllen (Art. 105 Abs. 1, 106 Abs. 1 Nr. 1 GG) wegen der einschlägigen Kompetenzen der Union und wegen des Gemeinsamen Zolltarifs praktisch leer.19 Letztlich wirkt das Europäische Finanz„verfassungs“recht in seinem Geltungsbereich wie eine bindende Vorgabe für das Grundgesetz, wie sich dies z. B. besonders deutlich an den Regelungen zur Schuldenbremse in Bund und Ländern (Art. 109 Abs. 2 GG) zeigt. Das Finanzverfassungsrecht des Grundgesetzes kann – und soll – auch nicht vollständig die finanz- und haushaltspolitischen Regelungen der Länder verdrängen. Es kann zwar Vorgaben für die Länder machen, z. B. verbleibende enge Steuergesetzgebungskompetenzen für die Länder (Art. 105 Abs. 2a GG) oder Vorgaben durch auch für die Länder geltende Haushaltsgrundsätze (Art. 109 Abs. 2 – 4 GG). Im Übrigen ist aber das Haushaltsverfassungsrecht der Länder – vor allem bei der Bestimmung der im Haushaltswesen zuständigen Landesverfassungsorgane und ihres Zusammenwirkens – ein unantastbares Reservat der Länder, so wie umgekehrt das eigenständige Haushaltsverfassungsrecht des Bundes (Art. 110 – 115 GG) eine Kernregelung der Zuständigkeiten der Bundesorgane darstellt. b) Verfassungskonkretisierende Gesetze Neben diesen kompetenziell bedingten Einschränkungen der Abgeschlossenheit des Finanzverfassungsrechts des Bundes ist ein weiteres Einfallstor für quasi-finanzverfassungsrechtliche Bestimmungen außerhalb der Finanzverfassung durch das Grundgesetz selbst angelegt. Es handelt sich um die inzwischen hohe Zahl der die Finanzverfassung konkretisierenden Bestimmungen des einfachen Bundesgesetzgebers, die ihre Vorgaben überwiegend im Grundgesetz, teilweise aber auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (z. B. Maßstäbegesetz)20 finden. Dies hat dazu geführt, dass die Gestaltungsmacht auch in grundlegenden Fragen des Finanz- und Haushaltswesens zunehmend auf die Ebene des einfachen Gesetzgebers „herab“-gewandert und nicht, jedenfalls nicht abschließend, auf der Ebene 18

Vgl. zur Europäischen Finanzordnung Kloepfer, Finanzverfassungsrecht, 2014, § 16. Kloepfer, Finanzverfassungsrecht, 2014, § 5 Rn. 31, § 16 Rn. 5 ff. 20 BVerfGE 101, 158 – Finanzausgleich III.

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des Grundgesetzes verblieben ist. Man mag diese einfachgesetzlichen Konkretisierungen dann (nur) materielles Finanzverfassungsrecht nennen, das konkretisierend an die Seite des formellen (und zugleich materiellen) Finanzverfassungsrechts des Grundgesetzes tritt. Bei den einfachen die Finanzverfassung konkretisierenden Gesetzen handelt es sich im Einzelnen etwa um - das Lastentragungsgesetz (LastG)21 zu Art. 104a Abs. 6 GG, - das Maßstäbegesetz (MaßstG)22 zu Art. 106 Abs. 3 S. 3, Abs. 4 S. 1, Art. 107 Abs. 1 S. 4 Hs. 2, Abs. 2 GG, - das Finanzausgleichsgesetz (FAG)23 zu Art. 106 Abs. 3 S. 3, Abs. 5a S. 3, Art. 107 Abs. 1 S. 4 Hs. 2, Abs. 2 GG, - das Gemeindefinanzreformgesetz24 zu Art. 106 Abs. 5 S. 2, Abs. 6 S. 5 GG, - das Regionalisierungsgesetz (RegG)25 zu Art. 106a S. 2 GG, - das Gesetz zur Regelung der finanziellen Kompensation zugunsten der Länder infolge der Übertragung der Ertragshoheit der Kraftfahrzeugsteuer auf den Bund26 zu Art. 106b S. 2 GG, - das Zerlegungsgesetz (ZerlG)27 zu Art. 107 Abs. 1 S. 2, 3 GG, - das Haushaltsgrundsätzegesetz (HGrG)28 zu Art. 109 Abs. 2 und 4 GG, - das Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft29 zu Art. 109 Abs. 4 GG, - das Sanktionszahlungs-Aufteilungsgesetz (SZAG)30 zu Art. 109 Abs. 5 GG,

21

Gesetz vom 5. September 2006 (BGBl. I S. 2098, 2105). Gesetz vom 9. September 2001 (BGBl. I S. 2302), das zuletzt durch Artikel 8 des Gesetzes vom 29. Mai 2009 (BGBl. I S. 1170) geändert worden ist. 23 Gesetz vom 20. Dezember 2001 (BGBl. I S. 3955, 3956), das zuletzt durch Artikel 2 des Gesetzes vom 15. Juli 2013 (BGBl. I S. 2401) geändert worden ist. 24 Gesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 10. März 2009 (BGBl. I S. 502), das durch Artikel 1 des Gesetzes vom 8. Mai 2012 (BGBl. I S. 1030) geändert worden ist. 25 Gesetz vom 27. Dezember 1993 (BGBl. I S. 2378, 2395), das zuletzt durch Artikel 4 des Gesetzes vom 14. Dezember 2012 (BGBl. I S. 2598) geändert worden ist. 26 Gesetz vom 29. Mai 2009 (BGBl. I S. 1170). 27 Gesetz vom 6. August 1998 (BGBl. I S. 1998), das zuletzt durch Artikel 25 des Gesetzes vom 26. Juni 2013 (BGBl. I S. 1809) geändert worden ist. 28 Gesetz vom 19. August 1969 (BGBl. I S. 1273), das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 15. Juli 2013 (BGBl. I S. 2398) geändert worden ist. 29 Gesetz vom 8. Juni 1967 (BGBl. I S. 582), das zuletzt durch Artikel 135 der Verordnung vom 31. Oktober 2006 (BGBl. I S. 2407) geändert worden ist. 30 Gesetz vom 5. September 2006 (BGBl. I S. 2098, 2104), das durch Artikel 3 des Gesetzes vom 15. Juli 2013 (BGBl. I S. 2398) geändert worden ist. 22

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- das Stabilitätsratsgesetz (StabiRatG)31 zu Art. 109a GG, - das Bundesrechnungshofgesetz32 zu Art. 114 Abs. 2 S. 3 GG, - das Artikel 115-Gesetz (G 115)33 zu Art. 115 Abs. 2 S. 5 GG, - und das Konsolidierungshilfengesetz (KonsHilfG)34 zu Art. 143d Abs. 2 und 3 GG. Angesichts der Fülle und Bedeutung dieser die Finanzverfassung konkretisierenden Gesetze stellt sich die Frage, ob bei einer Neufassung der Finanzverfassung des Grundgesetzes nicht manche grundlegenden Bestimmungen dieser Gesetze in das Grundgesetz transferiert werden sollten. c) Finanzrelevante Regelungen außerhalb des X. Abschnitts Aber selbst wenn man die offenen kompetenziellen Flanken und die verfassungskonkretisierenden Gesetze außer Betracht lässt, tauchen Zweifel an der Abgeschlossenheit der grundgesetzlichen Finanzverfassung auf. Jedenfalls gibt es neben dem X. Abschnitt im Grundgesetz verstreute weitere Vorschriften, die für das Finanzwesen von Bedeutung sind. Hervorzuheben ist vor allem Art. 88 GG, der die Bundesbank als Währungs- und Notenbank konstituiert und eine Kompetenzübertragung auf die Europäische Zentralbank vorsieht. Darüber hinaus finden sich in den Art. 73 Abs. 1 Nr. 4 (Währungswesen) und Nr. 5 GG (Warenund Zahlungsverkehr), Art. 87 Abs. 1 GG (Bundesfinanzverwaltung), Art. 91a bis 91d GG (Gemeinschaftsaufgaben und Verwaltungszusammenarbeit), Art. 120, 120a GG (Besatzungskosten, Kriegsfolgelasten und Lastenausgleich), Art. 134, 135, 135a GG (Vermögensnachfolge des Reichsvermögens), Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 WRV (Kirchensteuer) sowie Art. 143d GG (Übergang zur Schuldenbremse und zu den Konsolidierungshilfen) relevante Vorschriften zum staatlichen Finanzwesen. d) Ungeschriebenes Finanzverfassungsrecht Schließlich sind die Vorschriften des ungeschriebenen Finanzverfassungsrechts zu nennen, das sich aus den allgemeinen Vorschriften des Grundgesetzes ableiten

31 Gesetz vom 10. August 2009 (BGBl. I S. 2702), das durch Artikel 2 des Gesetzes vom 15. Juli 2013 (BGBl. I S. 2398) geändert worden ist. 32 Gesetz vom 11. Juli 1985 (BGBl. I S. 1445), das durch Artikel 15 Absatz 82 des Gesetzes vom 5. Februar 2009 (BGBl. I S. 160) geändert worden ist. 33 Gesetz vom 10. August 2009 (BGBl. I S. 2702, 2704), das durch Artikel 4 des Gesetzes vom 15. Juli 2013 (BGBl. I S. 2398) geändert worden ist. 34 Gesetz vom 10. August 2009 (BGBl. I S. 2705).

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lässt.35 Hier sind vor allem die Grundrechte, aber auch grundsätzliche rechtsstaatliche, demokratische und sozialstaatliche Gehalte zu erwähnen. Dabei geht es aber um die Anwendung der im Grundgesetz erwähnten Grundrechte und allgemeinen Prinzipien, die im Hinblick auf Steuern und andere öffentliche Abgaben spezifische, eben abgabenspezifische, Ausprägungen erfahren können. Darauf wird noch einzugehen sein (unten II. 3.), insbesondere auch auf die Frage, ob diese abgabenspezifischen Ausprägungen in eine künftige Finanzverfassung aufgenommen werden könnten und vielleicht auch sollten. e) Auslassungen in der Finanzverfassung Anders als bei den soeben angesprochenen abgabenspezifischen Gehalten der allgemeinen Grundrechte und der allgemeinen Staatsprinzipien geht es bei den Auslassungen bzw. sogenannten Lücken in der Finanzverfassung um Gehalte, die bisher im Grundgesetz überhaupt nicht erwähnt sind. Die bekanntesten sind die nichtsteuerlichen Abgaben, einschließlich der Sonderabgaben, und die sogenannten Parafiski, die im Weiteren zu behandeln sein werden (unten II. 1. und 2.). f) Zwischenfazit Schon dieser erste Überblick macht deutlich, dass die Finanzverfassung der Art. 104a-115 GG entgegen ihrer Terminologie („Das Finanzwesen“) keine in sich abgeschlossene Teilverfassung darstellt. Es wäre also ein Irrtum, in ihr alle abgaben- und haushaltsspezifischen Aussagen des Grundgesetzes zu vermuten. Insoweit wurde also das Diktum von Höpker-Aschoff, wonach die Dinge des Finanzwesens zusammengehören, schon bei der Entstehung des Grundgesetzes und erst recht bei vielen folgenden finanzbezogenen Verfassungsänderungen nicht oder doch nur recht unvollkommen beherzigt. Andererseits haben die Regelungen des X. Abschnitts des Grundgesetzes doch eine erhebliche innere Kohärenz, die aber eben nicht erschöpfend oder abschließend ist. Von daher erscheint es sinnvoll, diese Gruppe verfassungsrechtlicher Normen als verfassungsrechtliche Teilordnung zu bezeichnen. Solche verfassungsrechtlichen Teilordnungen gibt es auch an anderer Stelle im Grundgesetz (insbes. Staatskirchenrecht, Wehr- und Verteidigungsverfassung).36 Diese verfassungsrechtlichen Teilordnungen sind generell nicht abschließend und bleiben auf die Ergänzung durch das allgemeine Verfassungsrecht angewiesen. Sie stehen zum allgemeinen Verfassungsrecht im Verhältnis der Spezialität. Ihre Vor35 Vgl. Vogel, Das ungeschriebene Finanzrecht des Grundgesetzes, in: GS Martens, 1987, S. 265 ff.; kritisch zum Begriff des ungeschriebenen Finanzrechts Siekmann, in: Sachs (Hg.), GG, 6. Aufl. 2011, Vor Art. 104a Rn. 29. 36 Zum Konzept der verfassungsrechtlichen Teilordnungen siehe Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 24.

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schriften gehen dem allgemeinen Verfassungsrecht vor. Erst wo die verfassungsrechtlichen Teilordnungen keine Regelungen enthalten, können sie durch allgemeines Verfassungsrecht ergänzt werden. Im Grunde stellen die verfassungsrechtlichen Teilordnungen so etwas wie Abschnitte eines Besonderen Teils des Verfassungsrechts dar. Letztlich führen die Fragen nach dem Selbststand und der Einbettung der Finanzverfassung in das Grundgesetz als Gesamtverfassung zu der bisher noch wenig erörterten allgemeinen Problematik des Verhältnisses der Teile der Verfassung zueinander. Wie ist etwa das Verhältnis zwischen Grundrechten und Kompetenznormen zu beurteilen, wie das Verhältnis zwischen Regelungen der Verfassungsorgane des Bundes und Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen von Bund und Ländern? Vor allem aber: Wie ist das Verhältnis zwischen Staatsstrukturbestimmungen und allen übrigen Bestimmungen der Verfassung? So gesehen sind die delikaten Abgrenzungsund Einordnungsprobleme der Finanzverfassung grundsätzlich nicht einzigartig. Im Kern geht es hier um das Verhältnis des X. Abschnitts des Grundgesetzes zu allen übrigen Teilen der Verfassung. II. Lücken in der Finanzverfassung Wenn aber die Finanzverfassung als ein partiell erschöpfendes verfassungsrechtliches Regime des staatlichen Finanzwesens begriffen wird, sollte auch kritisch hinterfragt werden, ob dies der Realität staatlichen Finanzgebarens in der Bundesrepublik Deutschland (noch) entspricht. Sprich: Bildet die Finanzverfassung alle wesentlichen, der staatlichen Finanzwirtschaft zurechenbaren Geldströme ab oder bestehen „blinde Flecken“ bzw. Lücken in der Finanzverfassung? Zumindest in drei praktisch sehr relevanten Bereichen, die im Folgenden näher untersucht werden sollen, scheint Letzteres der Fall zu sein. 1. Nichtsteuerliche Abgaben a) Ausgangslage Ein nicht unerheblicher Teil der staatlichen Einnahmen in der Bundesrepublik Deutschland stammt aus nichtsteuerlichen Abgaben (insbes. Gebühren, Beiträge, Sonderabgaben, Verleihungsabgaben, sonstige Abgaben). Das gilt weniger für den Bundeshaushalt, der tatsächlich zu einem großen Teil aus Steuereinnahmen bestritten wird, als vielmehr für die Haushalte der Länder und insbesondere der Kommunen.37 Doch selbst mit Blick auf den Bund wäre es verfehlt, von einer flächendeckenden oder gar ausschließlichen Steuerfinanzierung auszugehen.

37 Vgl. Henneke, Öffentliches Finanzwesen, 2. Aufl. 2000, Rn. 270; Gramm, Vom Steuerstaat zum gebührenfinanzierten Dienstleistungsstaat?, Der Staat 36 (1997), 267 (271 f.); siehe insbesondere auch Tabelle 1 bei P. Kirchhof, HbStR V, 3. Aufl. 2007, § 119 (Abschnitt E.).

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b) Sozialversicherungsabgaben Insbesondere aber werden abseits des allgemeinen Bundeshaushaltes in den Sozialversicherungssystemen gewaltige Summen aus den Sozialversicherungsabgaben umgeschlagen.38 Dem Gesamtstaat, also Bund, Ländern und Kommunen zusammen, floss 2011 ein Steueraufkommen von 573,4 Mrd. Euro zu.39 Dem standen im selben Jahr Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von insgesamt 518,8 Mrd. Euro gegenüber.40 Allein dieser Blick auf die Sozialabgaben macht deutlich, dass es mit dem Postulat des Steuerstaates jedenfalls in der Rechtswirklichkeit nicht weit her ist. Eine Erwähnung finden die Sozialversicherungsabgaben im Grundgesetz trotz ihrer überragenden Bedeutung aber an keiner Stelle. Die Rechtfertigung der Sozialversicherungsbeiträge ergibt sich schlicht daraus, dass das Grundgesetz Sozialversicherungen zulässt (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12, Art. 87 und 120 GG) und dem Konzept der Versicherung die Existenz von Versicherungsbeiträgen inhärent ist.41 Die Sozialversicherungsbeiträge sind zwar nicht in der Verfassung geregelt, können aber als Verfassungsvoraussetzung gelten. Doch gerade unter dem Gesichtspunkt des föderalen Machtgefüges überrascht die Wortkargheit des Grundgesetzes zu den Sozialversicherungsbeiträgen, wenn man sich die grundgesetzuntypische Regelungstiefe und Detailverliebtheit der Art. 106 ff. GG als diffizile Austarierung der Finanzkraftverteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen vor Augen führt. Längst hat sich zwischen der Vielzahl an Sozialversicherungsträgern – aber auch zwischen dem Bundeshaushalt und den Sozialversicherungen42 – ein eigenes komplexes System des Finanzausgleichs gebildet.43 Wird häufig schon die Undurch-

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Zwar sind nicht alle Sozialversicherungsträger Körperschaften des Bundes, vgl. Art. 87 Abs. 2 GG. De facto sind die Sozialleistungen aber weitestgehend durch das materielle Sozialrecht determiniert und so der Disposition und politischen Gestaltung der Länder auch dann entzogen, wenn es sich um Körperschaften der Länder handelt. Die Finanzströme in den Sozialversicherungen sind deshalb in einer machtbezogenen Betrachtung des föderalen Finanzgefüges dem Bund zuzuordnen. 39 Statistisches Bundesamt (Hg.), Statistisches Jahrbuch 2013, S. 264. 40 Statistisches Bundesamt (Hg.), Statistisches Jahrbuch 2013, S. 220. 41 Vgl. etwa BVerfGE 75, 108 (148) – Künstlersozialversicherung, wonach die Kompetenz zur Regelung von Sozialabgaben – anders als bei den Sonderabgaben – nicht nur Annex zur Sachkompetenz ist, sondern Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG „bereits aus sich heraus auch auf die Regelung der Finanzierung der Sozialversicherung [gerichtet ist]“. 42 Grund für Finanzströme vom Bundeshaushalt in die Sozialversicherungen sind – neben Beiträgen für Angestellte des Bundes – im Wesentlichen die Übertragung versicherungsfremder Aufgaben und die Bezuschussung von durch Beitragsmittel untergedeckten Systemen. Insgesamt machen die Zuschüsse des Staates zu den Sozialversicherungen 290,8 Mrd. Euro (35,3 Prozent der Gesamteinnahmen) aus, die Beiträge des Staates 31,9 Mrd. Euro (3,9 Prozent der Gesamteinnahmen), vgl. Statistisches Bundesamt (Hg.), Statistisches Jahrbuch 2013, S. 220. 43 Dazu eingehend F. Kirchhof, in: HbStR V, 3. Aufl. 2007, § 125 Rn. 37 ff.; Kilian, Finanzströme zwischen öffentlichen Haushalten im Sozialrecht, in: Schriftenreihe des Deut-

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schaubarkeit des Steuersystems beklagt, gilt dies erst recht und wesentlich mehr noch für das Sozialversicherungswesen.44 Doch obwohl die Finanzströme in der Sozialversicherung (und die korrespondierenden Rechtsregeln, d. h. das – praktisch ungeschriebene – Sozialfinanzverfassungsrecht) hinsichtlich Umfang und Komplexität dem Steuerwesen gleichkommen, sind sie bisher verfassungsrechtlich praktisch nicht durchstrukturiert. Einzig Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG trifft explizit eine Regelung zu einem Teilaspekt der Finanzierung der Sozialversicherung. Ansonsten bleibt als Ansatzpunkt für eine Sozialfinanzverfassung45 nur die Auslegung des grundgesetzlichen Sozialversicherungsbegriffes.46 Will man dem aber mehr als die Forderung einer – grundsätzlichen – Beitragsfinanzierung entnehmen, wird die Luft für verfassungsrechtliche Argumentation schnell sehr dünn. Wird im Zusammenhang mit den Sonderabgaben teilweise vor der Entstehung einer „apokryphen Finanzverfassung“47 gewarnt und vom Bundesverfassungsgericht die „Begrenzungs- und Schutzfunktion der bundesstaatlichen Finanzverfassung“48 besonders hervorgehoben, muss dasselbe auch im Zusammenhang mit dem Sozialversicherungswesen, genauer: für das Sozialfinanzverfassungsrecht, gelten. Das in diesem Bereich bestehende verfassungsrechtliche Ungleichgewicht von grundgesetzlicher Regulierung und finanzieller Bedeutung bedarf dringend einer Neujustierung. c) Sonstige nichtsteuerliche Abgaben Doch auch abseits der Sozialversicherungsbeiträge haben nichtsteuerliche Abgaben eine erhebliche Relevanz erreicht, die sich schwer mit der Wortkargheit des Grundgesetzes in diesem Bereich in Einklang bringen lässt. So waren alleine für das Aufkommen der LKW-Maut – einer streckenabhängigen Benutzungsgebühr für Lastkraftwagen auf bestimmten Fernstraßen49 – im Bundeshaushaltsplan 2012 ca. 4,6 Mrd. Euro veranschlagt50. Zum Vergleich: Das entspricht etwa dem Gesamtaufkommen der – freilich den Ländern zukommenden – Erbschaftsteuer von schen Sozialrechtsverbandes, Bd. 35, 1992, S. 87 ff.; Gößl, Die Finanzverfassung der Sozialversicherung, 1992, S. 73 ff., 133 ff. 44 F. Kirchhof, Finanzierungsinstrumente des Sozialstaats, in: Veröffentlichungen der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft, Bd. 29, 2005, S. 39 ff. (39 f.). 45 Zum Begriff vgl. 5. Sozialrechtslehrertagung 1991, Bd. 35 des Deutschen Sozialrechtsverbandes, 1992, sowie die Nachweise in Fn. 43. 46 Freilich handelt es sich bei den Art. 74 Abs. 1 Nr. 12, Art. 87 Abs. 2 GG nicht um materielle Anforderungen an das Sozialversicherungssystem, sondern um Kompetenznormen. Gleichwohl ergeben sich mittelbar gewisse materielle Anforderungen, weil die Ausübung der Kompetenz nur Systeme erlaubt, die der Sache nach dem grundgesetzlichen Sozialversicherungsbegriff entsprechen. 47 Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht, 1972, S. 183; P. Kirchhof, in: HbStR V, 3. Aufl. 2007, § 99 Rn. 66 und § 119 Rn. 73. 48 BVerfGE 108, 1 (7) – Rückmeldegebühr. 49 Kloepfer, Finanzverfassungsrecht, 2014, § 2 Rn. 23. 50 Bundeshaushaltsplan 2012, Einzelplan 12, S. 84.

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4,3 Mrd. Euro51 im selben Jahr. Auch an die (wenn auch in dieser Höhe einmaligen) Erlöse aus der Versteigerung der UMTS-Frequenzen von fast 100 Mrd. DM sei erinnert, über deren Aufteilung auf Antrag von Bayern, Baden-Württemberg und Hessen das Bundesverfassungsgericht zu entscheiden hatte.52 Weil nichtsteuerliche Abgaben nicht von den Art. 105 – 108 GG erfasst sind, ergeben sich diesbezügliche Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen als Annex zu den entsprechenden Sachkompetenzen.53 Schwieriger zu beantworten ist die Frage nach den Ertragskompetenzen, weil diese ein abgabenspezifisches Problem regeln, das sich bei der Sachgesetzgebung nicht stellt. Denkbar ist grundsätzlich, die Ertragshoheit als eigene Kategorie verfassungsrechtlicher Befugnisse zu sehen, die – mangels einer Art. 106 GG entsprechenden Regelung für nichtsteuerliche Abgaben – gem. Art. 30 GG den Ländern zufällt.54 Umgekehrt ist ebenso vorstellbar, dass die Regelung der Ertragskompetenz grundsätzlich im freien Ermessen des Gesetzgebers steht, das nur für den Fall der Steuern durch zwingendes Verfassungsrecht (Art. 106, 107 GG) eingeschränkt ist. Für eine Entscheidungsbefugnis des Gesetzgebers spricht Art. 74 Abs. 1 Nr. 22 GG, der die Erhebung und Verteilung von Gebühren und Entgelten im Straßenwesen dem Ermessen des Gesetzgebers überlässt. Eine verbreitete Kurzformel lautet hingegen, dass die Ertragshoheit bei nichtsteuerlichen Abgaben den Verwaltungskompetenzen folgt.55 Für Verwaltungsgebühren leuchtet diese Anknüpfung ein, weil regelmäßig der Verwaltungsaufwand von der verwaltenden Körperschaft getragen wird. Entscheidendes normatives Kriterium scheint bei der Ertragskompetenz für die klassischen Vorzugslasten (Gebühren und Beiträge) also eine Anknüpfung an die Lastentragung zu sein,56 d. h. von welcher staatlichen Ebene die Kosten für den entgoltenen Vorzug letztlich getragen werden. Wenn also etwa eine nach Art. 104a Abs. 2 GG vom Bund zu tragende Zweckausgabe im Rahmen der Bundesauftragsverwaltung (Art. 85 GG) durch eine Gebühr

51 Statistisches Bundesamt (Hg.), Statistisches Jahrbuch 2013, S. 264. Die Erbschaftssteuer liegt gem. Art. 106 Abs. 2 Nr. 2 GG in der ausschließlichen Ertragskompetenz der Länder. 52 BVerfGE 105, 185 – UMTS-Erlöse. 53 Kloepfer, Finanzverfassungsrecht, 2014, § 2 Rn. 21. 54 Dagegen ausdrücklich Heintzen, in: von Münch/Kunig (Hg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 6. Aufl. 2012, § 106 Rn. 1; Stern, Staatsrecht, Bd. II, 1980, § 47 III 4 c. 55 BVerfGE 105, 185 (193) – UMTS-Erlöse: „Für Einnahmen, die nicht aus Steuern oder Finanzmonopolen stammen, bei denen vielmehr ein unmittelbarer Zusammenhang mit der Erfüllung einer bestimmten öffentlichen Aufgabe oder Tätigkeit besteht, folgt die Ertragszuständigkeit mangels anderweitiger Regelung grundsätzlich der jeweiligen Verwaltungszuständigkeit für die Sachaufgabe“; Heun, in: Dreier (Hg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. III, 2. Aufl. 2008, Art. 106 Rn. 8; Henneke, Öffentliches Finanzwesen, 2. Aufl. 2000, Rn. 799, der wohl Art. 30 GG für anwendbar hält, aber von ungeschriebenen Ertragskompetenzen zu Gunsten des Bundes ausgeht; Stern, Staatsrecht, Bd. II, 1980, § 47 III 4 c. 56 So wohl – wenn auch nicht eindeutig – auch P. Kirchhof, in: HbStR V, 3. Aufl. 2007, § 119 Rn. 61, der zwar erst auf die Gebührenerhebungskompetenz, in der Folge aber auf die Leistungs- und Aufwandszuständigkeit abstellt.

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kompensiert wird, müsste der Ertrag hieraus – trotz einer bestehenden Verwaltungskompetenz der Länder – dem Bund zustehen. Lassen sich hier auch ohne textliche Anhaltspunkte im Grundgesetz noch hinreichend normative Kriterien finden, um eine verfassungsrechtliche Wertung zu treffen, so befindet sich der Verfassungsjurist spätestens bei den Ertragskompetenzen für sogenannte Verleihungsabgaben im weitgehend luftleeren Raum. Mit diesem Problem sah sich auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zu den UMTS-Erlösen konfrontiert und stellte fest, „vor allem die Höhe der erzielten Versteigerungserlöse [könne] zwar die Frage aufwerfen, ob sich derartige nichtsteuerliche Einnahmen des Bundes noch in die Abgabensystematik des Grundgesetzes einfügen“. Es könne aber „nicht die Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts sein, die Erlöse zwischen Bund und Ländern durch analoge Rechtsanwendung von Verfassungsvorschriften zu verteilen“57. Im Ergebnis, stellt das Bundesverfassungsgericht fest, folge „die Ertragszuständigkeit mangels anderweitiger Regelung grundsätzlich der jeweiligen Verwaltungszuständigkeit“. Das Gericht rekurriert dann freilich im nächsten Satz neben der Verwaltungszuständigkeit aber auch auf die Gesetzgebungskompetenz des Bundes. Der von den Antragstellern geforderten hälftigen Beteiligung der Länder nach Art. 106 Abs. 3 S. 2 GG analog wurde jedenfalls eine Absage erteilt. Das Verhältnis der Regelung von Ertragskompetenzen zu Art. 30 GG wurde weder von den Ländern noch vom Bundesverfassungsgericht thematisiert. Die spezifischen Schwierigkeiten bei den Verleihungsabgaben rühren daher, dass dem Vorzug des Privaten hier kein Aufwand des Staates gegenüber steht, sondern lediglich Nutzungsvorteile aus einer der Allgemeinheit zustehenden Ressource (Wasser, Bodenschätze, Frequenzbänder etc.) abgeschöpft werden. Damit wird tief in die Truhe der Rechtsgeschichte gegriffen und letztlich der alte Gedanke der Regalien (Geld für hoheitlich übertragene Rechte) wiederbelebt. Nun mag man mit der Vereinnahmung der UMTS-Erlöse durch den Bund wegen ihrer Einmaligkeit58 leben können. Die grundsätzliche verfassungsrechtliche Frage der Ertragshoheit bei Verleihungsabgaben aber bleibt. Und sie könnte sich wieder stellen, zum Beispiel wenn es in Deutschland zu einem Fracking-Boom vergleichbar dem in den USA käme (wofür die politischen Vorzeichen freilich derzeit nicht sprechen). Könnte der Bund dann etwa den bisher den Ländern zustehenden Ertrag aus der bergrechtlichen Förderabgabe (§ 31 BBergG, zur Ertragszuständigkeit § 31 Abs. 3, § 30 Abs. 2 BBergG) an sich ziehen, indem er die Abgabenerhebung auf eine selbständige Bundesoberbehörde überträgt? Oder steht ohnehin die Verlagerung der Erträge – selbst ohne Übergang der Verwaltungszuständigkeit – im freien Ermessen des (bergrechtlichen Sach-)Gesetzgebers? Aus dem derzeitigen Bestand der grundgesetzlichen Finanzverfassung lassen sich Antworten auf diese Fragen jedenfalls nur schwer ablei57

BVerfGE 105, 185 (193) – UMTS-Erlöse. Natürlich finden weiter in unregelmäßigen Abständen Frequenzversteigerungen nach §§ 55, 61 TKG statt. Jedenfalls der Höhe nach war die Versteigerung der UMTS-Frequenzen jedoch singulär. 58

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ten – und das, obwohl nichtsteuerliche Abgaben schon lange kein – vor der Öffentlichkeit verborgenes – Schattendasein neben den Steuern mehr fristen. 2. Parafiski Auch in haushaltsverfassungsrechtlicher Hinsicht wird die Finanzverfassung so verstanden, dass sie alle wesentlichen staatlichen Finanzströme erfassen soll. Dieser Anspruch drückt sich vor allem in den Haushaltsgrundsätzen der Vollständigkeit und Einheit59 aus. Werden zurechenbare Finanzströme dem allgemeinen Haushaltswesen – dem Fiskus – entzogen und einer anderen juristischen Person oder Rechenschaftsstruktur – einem Parafiskus (Nebenhaushalt) – zugeordnet, wird dies häufig unter der Überschrift Budgetflucht thematisiert.60 Die Formenvielfalt im Bereich der Parafiski ist groß.61 Bereits in Art. 110 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 GG angelegt sind rechtlich unselbständige Sondervermögen (die dort ebenfalls genannten Bundesbetriebe sind ein Unterfall hiervon62). Aus dem Bereich der juristischen Personen sind zunächst die Anstalten, Körperschaften und Stiftungen des öffentlichen Rechts zu nennen. Neben den juristischen Personen des öffentlichen Rechts bewirtschaften auch solche des Privatrechts staatliche Mittel erheblichen Umfangs – vor allem Gesellschaften mit beschränkter Haftung, Aktiengesellschaften, privatrechtliche Stiftungen und rechtsfähige Vereine. Besonders in diesem Bereich gibt es viele Gestaltungs- und Beteiligungsformen, bei denen eine klare Zuordnung zum Bereich der staatlichen Nebenhaushalte nicht immer einfach ist. Entscheidend ist, dass eine Bewirtschaftung von Geldmitteln vorliegt, die der staatlichen Finanzwirtschaft zuzurechnen sind.63 Das ist – mit Ausnahme der öffentlich-rechtlich verfassten Religionsgemeinschaften – bei den juristischen Personen des öffentlichen Rechts stets der Fall, bei den juristischen Personen des Privatrechts zumindest regelmäßig dann, wenn der Staat in ihnen eine beherrschende Stellung einnimmt.64 Parafiskalische Konstruktionen berühren zunächst vor allem die verfassungsrechtlichen Gebote der Vollständigkeit und der Einheit des Haushalts. Danach sind in einen Haushaltsplan (Einheit) alle Einnahmen und Ausgaben einzustellen (Vollständigkeit). Das Prinzip der Einheit soll insbesondere die lange praktizierte und undurchsichtige Fondswirtschaft verhindern und eine konsistente, rationale Fi59

Vgl. hierzu Kloepfer, Finanzverfassungsrecht, 2014, § 10 Rn. 7 ff., 16 ff. Wegweisend dazu Smekal, Die Flucht aus dem Budget, 1977; siehe auch den Titel der Habilitationsschrift von Puhl, Budgetflucht und Haushaltsverfassung, 1996; zum selben Thema die Habilitationsschrift von Kilian, Nebenhaushalte des Bundes, 1993. 61 Vgl. die Bestandsaufnahme für die frühen 1990er-Jahre bei Puhl, Budgetflucht und Haushaltsverfassung, 1993, S. 84 ff. 62 Hillgruber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hg.), GG, Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 110 Rn. 48; Kube, in: Maunz/Dürig (Begr.), GG, 70. EL 2013, Art. 110 Rn. 99. 63 Puhl, Budgetflucht und Haushaltsverfassung, 1993, S. 37, 39 ff. 64 Puhl, Budgetflucht und Haushaltsverfassung, 1993, S. 45 ff. 60

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nanzpolitik ermöglichen.65 Die Vollständigkeit „zielt nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts darauf ab, das gesamte staatliche Finanzvolumen der Budgetplanung und -entscheidung von Parlament und Regierung zu unterstellen“, wodurch gewährleistet werden soll, „dass das Parlament in regelmäßigen Abständen den vollen Überblick über das dem Staat verfügbare Finanzvolumen und damit auch über die dem Bürger auferlegte Abgabenlast erhält“.66 Das Bundesverfassungsgericht stellt also einerseits auf das gesamte Finanzvolumen und den vollen Überblick ab, verengt dann aber den Blick auf die Abgabenlast. Unter dem Gesichtspunkt der Abgabenlast sind zunächst nur diejenigen Parafiski problematisch, denen am allgemeinen Haushalt vorbei unmittelbar ein Abgabenaufkommen zufließt. Paradebeispiel hierfür sind haushaltsflüchtige Sonderabgaben, für die das Bundesverfassungsgericht deshalb eine gesonderte Auflistung in einer Anlage zum Haushaltsplan fordert.67 Auch wenn das Bundesverfassungsgericht diese besondere Dokumentationspflicht eng an den Begriff der Sonderabgabe knüpft,68 erscheint sie doch verallgemeinerungsfähig und -bedürftig. Der entsprechende Anhang zu den Haushaltsplänen von Bund und Ländern müsste so insbesondere um das Abgabenaufkommen der Sozialversicherungen erweitert werden, aber etwa auch um die Beiträge zu den berufsständischen Körperschaften (Kammern). Vor allem durch die Aufnahme der Sozialversicherungsbeiträge würde der Haushaltsplan dann tatsächlich einen realistischen Überblick über die Abgabenlast der Bürger verschaffen. Schwieriger schon ist die Frage zu beantworten, ob an Parafiski, die sich durch Zuweisungen aus dem allgemeinen Haushalt oder durch erwerbswirtschaftliche Tätigkeit finanzieren, ähnliche Informationspflichten zu knüpfen sind. Bei ersteren (etwa maßgeblich aus Staatsmitteln finanzierten juristische Personen wie der DFG) bildet sich immerhin das staatlich veranlasste Abgabenvolumen – wenn auch nicht bruttoveranschlagt – im Haushalt ab. Bei letzteren (z. B. der Deutsche Bahn AG) ließe sich einwenden, dass sie wie Private am Markt auftreten und dementsprechend keiner darüber hinausgehenden öffentlichen Kontrolle bedürften. Folgert man aber aus dem Vollständigkeitsprinzip nach dem obigen Zitat aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass sich aus dem Haushaltsplan der volle

65

Siekmann, in: Sachs (Hg.), GG, 6. Aufl. 2011, Art. 110 Rn. 53. BVerfGE 108, 1 (16) – Ru¨ ckmeldegebu¨ hr; 108, 186 (216) – Informationspflichten bei Sonderabgaben; 110, 370 (388) – Klärschlamm-Entschädigungsfonds; 113, 128 (147) – Solidarfonds Abfallru¨ ckfu¨ hrung; 119, 96 (119) – Staatsverschuldung II. 67 BVerfGE 108, 186 (218 f.) – Informationspflichten bei Sonderabgaben; 110, 370 (393) – Klärschlamm-Entschädigungsfonds. 68 BVerfGE 108, 186 (219): „Sonderabgaben im engeren Sinn“. Das Bundesverfassungsgericht knüpft zur Herleitung der Dokumentationspflicht nicht an das Prinzip der Vollständigkeit des Haushalts an, sondern stellt auf die besondere Überprüfungs- und Anpassungspflicht des Gesetzgebers ab, die in dieser Form tatsächlich nur bei den Sonderabgaben besteht. Nur durch die gesonderte Dokumentation im Haushaltsplan sei eine effektive Überprüfung und Anpassung überhaupt denkbar. 66

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Überblick über das gesamte Finanzvolumen des Staates ergibt, wird man davon auch die rechtlich verselbständigten Staatsbetriebe schwerlich ausnehmen können. Für eine umfassende Erfassung aller Parafiski spricht neben dem Haushaltsgrundsatz der Vollständigkeit aber ein weiterer durch parafiskalische Konstrukte berührter Bereich der Finanzverfassung: das Staatsschuldenrecht. Während immerhin die früher ausgiebig genutzte Möglichkeit der Schuldenverlagerung in unselbständige Sondervermögen (Art. 115 Abs. 2 GG a.F.) mit der Föderalismusreform II beseitigt wurde, sind nach wie vor selbständige juristische Personen nicht von Art. 115 GG erfasst.69 Soll dieser Umstand nicht zur „offenen Flanke“ des Staatsverschuldungsrechts werden, so muss verhindert werden, dass staatlich beherrschte, aber rechtlich eigenständige juristische Personen zu staatsschuldenrechtlichen Verschiebebahnhöfen werden. Dies ist denkbar, etwa wenn zur Schaffung haushaltspolitischer Spielräume ein öffentliches Unternehmen durch überhöhte Ausschüttungen über Gebühr belastet wird, die dann durch Verschuldung der ausschüttenden juristischen Person gedeckt werden. Für den Bund mag die Bedeutung der erwerbswirtschaftlichen Betriebe nicht sehr groß sein, auf Ebene der Länder und vor allem der Kommunen besteht hier bei strenger werdenden Schuldenbremsen aber eine ernstzunehmende Gefahr. Eine Mindestvoraussetzung dafür, dass dieser Gefahr über eine wirksame Kontrolle durch Parlamente und Öffentlichkeit begegnet werden kann, ist ein hinreichender Überblick auch über von Bund und Ländern beherrschte erwerbswirtschaftliche Unternehmen. Erst durch entsprechende Transparenz kann ein Missbrauch parafiskalischer Strukturen überhaupt effektiv erkannt und dann verhindert bzw. abgebaut werden. Die zu den Sonderabgaben entwickelte Informationspflicht muss deshalb nicht nur auf alle Parafiski mit eigener Abgabenertragszuständigkeit übertragen werden, sondern auch auf alle sonstigen Parafiski, auf die der Staat beherrschenden Einfluss hat. 3. Materielle Grenzen der Abgabenerhebung a) Allgemeines Nach der eher föderal-kompetenziellen Betrachtung der nichtsteuerlichen Abgaben (II. 1.) und der Thematisierung der Parafiski unter dem Gesichtspunkt der haushaltsrechtlichen Kontrolle (II. 2.) soll der Blick nun auf den aus Sicht des Bürgers entscheidenden Aspekt gelenkt werden: die materiellen Grenzen staatlicher Abgabenerhebung. Der X. Abschnitt des Grundgesetzes schweigt dazu weitestgehend. Ausnahme ist lediglich der sehr versteckte Art. 106 Abs. 3 S. 4 Nr. 2 GG, der im Zusammenhang mit der Festlegung der Umsatzsteueranteile von Bund und Ländern die Vermeidung einer Überbelastung der Steuerpflichtigen fordert. Ansonsten aber ist

69 Heun, in: Dreier (Hg.), Grundgesetz, 2. Aufl. 2008 Supplementum 2010, Art. 115 Rn. 23 f.

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bei den Grenzen der Abgabenerhebung auf allgemeine Verfassungsregeln – vor allem die Grundrechte und die Staatsstrukturprinzipien – zurückzugreifen. Das erscheint regelungstechnisch angebracht. Solange sich die allgemeinen Regeln auf abgabenrechtliche Sachverhalte ohne weiteres anwenden lassen, sind zusätzliche Doppelregelungen im X. Abschnitt überflüssig. Teilweise hat sich aber inzwischen in Bezug auf das Abgabenrecht eine Sonderdogmatik entwickelt, die sich inhaltlich verselbständigt und von den allgemeinen Verfassungsregelungen zunehmend losgelöst hat. So spricht etwa Klaus Vogel von einem „ungeschriebenen Finanzrecht des Grundgesetzes“.70 Derartige Bereiche sollten identifiziert und – wenn nicht eine Verallgemeinerung auf die gesamte Verfassungsrechtsordnung sinnvoll erscheint – in der Finanzverfassung positiviert werden. Dies böte die Gelegenheit, auch ungelöste inhaltliche Fragen der materiellen Grenzen der staatlichen Abgabenerhebung anzugehen. b) Leistungsfähigkeitsprinzip Eine erste Besonderheit besteht im Leistungsfähigkeitsprinzip bei der Steuererhebung, nach dem die Höhe einer Steuer sich grundsätzlich nach der Leistungsfähigkeit des konkreten Steuerschuldners zu richten hat.71 Das Bundesverfassungsgericht leitet dieses Prinzip als bereichsspezifische Konkretisierung direkt aus dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) ab.72 Das Bedürfnis für diese Konkretisierung ergibt sich zum einen daraus, dass eine auf eine Willkürkontrolle reduzierte Kontrolle der Steuergesetze zur „Leerformel“ zu werden droht.73 Zum anderen tritt das Prinzip der Leistungsfähigkeit in die Lücke ein, die dadurch entsteht, dass sich eine ZweckMittel-Relation (also eine Verhältnismäßigkeitsprüfung) bei Steuern regelmäßig nicht herstellen lässt (dazu sogleich mehr unter d).74 Das Prinzip der Leistungsfähigkeit könnte und sollte als finanzspezifische Sonderdogmatik im X. Abschnitt auch textlich Niederschlag finden.75 Das wäre im Übrigen auch nicht ohne historische Vorbilder. Schon Art. 134 WRV statuierte: „Alle Staatsbürger ohne Unterschied tragen im Verhältnis ihrer Mittel zu allen öffentlichen Lasten nach Maßgabe der Gesetze 70 Vogel, Das ungeschriebene Finanzrecht des Grundgesetzes, in: GS Martens, 1987, S. 265 ff.; kritisch zum Begriff des ungeschriebenen Finanzrechts Siekmann, in: Sachs (Hg.), GG, 6. Aufl. 2011, Vor Art. 104a Rn. 29. 71 Vgl. dazu Kloepfer, Gleichheitssatz und Abgabengewalt, in: FS Stober, 2008, S. 703 ff. (706 ff.). 72 BVerfGE 50, 386 (391); 66, 214 (223); 74, 182 (199 f.). Die Herleitung ist in der Literatur nicht unumstritten, vgl. Henneke, Öffentliches Finanzwesen, 2. Aufl. 2000, Rn. 322 f. 73 Henneke, Öffentliches Finanzwesen, 2. Aufl. 2000, Rn. 319. 74 Vogel, Das ungeschriebene Finanzrecht des Grundgesetzes, in: GS Martens, 1987, S. 265 ff. (274). 75 Hierfür spricht nicht zuletzt, dass das Grundgesetz auch an anderen Stellen besondere Ausformungen des Gleichheitssatzes kennt: Art. 6 Abs. 5, 38 Abs. 1 S. 1, Art. 33 Abs. 1 und 2 GG; vgl. zu diesen Gleichheitssätzen Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. II, 2010, § 59 Rn. 145 ff.

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bei.“ Bemerkenswert an dieser Regelung ist insbesondere, dass dabei nicht nur Steuern, sondern alle öffentlichen Lasten in den Blick genommen werden. c) Systemgerechtigkeit Ebenfalls aus Art. 3 Abs. 1 GG wird in Bezug auf Steuern das Gebot der Systemgerechtigkeit (Folgerichtigkeit gesetzlicher Regelungen) abgeleitet. Danach steht dem Gesetzgeber zwar vor der erstmaligen Bestimmung z. B. einer steuerlichen Regelung, etwa bei der Auswahl des Steuergegenstandes und der Bestimmung der Höhe des Steuersatzes, ein weiter Gestaltungsspielraum zu, der es ihm erlaubt, sich zwischen mehreren alternativ zur Verfügung stehenden Regelungsmöglichkeiten zu entscheiden. Hat sich der Gesetzgeber jedoch einmal für ein bestimmtes System entschieden, müssen künftige einschlägige Steuern grundsätzlich systemkonform (folgerichtig) sein.76 Bei Vorliegen eines sachlichen Grundes ist das System freilich durchbrechbar.77 Dieser gegenüber der allgemeinen Dogmatik zu Art. 3 Abs. 1 GG wesentlich strengere verfassungsrechtliche Maßstab ist nicht unproblematisch. Zum einen bedeutet demokratische Herrschaft eine Herrschaft auf Zeit. Der derzeitige Gesetzgeber kann deshalb nur in begrenztem Maße Entscheidungen zukünftiger Gesetzgeber vorwegnehmen.78 Zum anderen führt ein derartiges Verständnis des allgemeinen Gleichheitssatzes sehr nah an eine – von den inhaltlichen Grundentscheidungen von Gesetzen abgesehen – umfängliche gerichtliche Rationalitätskontrolle der Gesetzgebung. Die ohnehin schon beachtliche Machtfülle der Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber den unmittelbar demokratisch legitimierten Parlamenten wird so noch größer. Das Gebot der Systemgerechtigkeit sollte deshalb nicht auf die gesamte Rechtsetzung verallgemeinert werden. Im Bereich des Abgaben- und vor allem des Steuerrechts hat die erhöhte gerichtliche Prüfungsdichte aber durchaus ihre Berechtigung. Denn das Steuerrecht unterliegt seit Jahrzehnten durch die Schaffung neuer Ausnahmetatbestände und Sonderregelungen einer Tendenz zu zusätzlicher Komplexität. Steuerreformen mit dem Ziel einer grundlegenden Konsolidierung und Vereinfachung des Steuersystems wurden hingegen zwar schon vielfach versprochen. Sie scheinen aber politisch nicht durchsetzbar zu sein, wenn und weil sie auf einen Schlag die steuerlichen Besitzstände sehr vieler Interessen- und Lobbygruppen berühren. Das Anliegen des Bundesverfassungsgerichts, den dadurch über die Zeit zunehmenden Widersprüchen im Steuersys76 BVerfGE 122, 210 (231) – Pendlerpauschale; 84, 239 (271); Tipke, JZ 2009, 533 ff.; Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, in: FS Lang, 2010, S. 167 ff.; Kloepfer, Finanzverfassungsrecht, 2014, § 2 Rn. 111 ff.; Kloepfer, Gleichheitssatz und Abgabengewalt, in: FS Stober, 2008, S. 703 (713 f.); zu den teilweise noch strengeren europarechtlichen Anforderungen an die „Koha¨ renz“: Scho¨ n, Steuerstaat und Freizu¨ gigkeit, in: Becker/ders., Steuer- und Sozialstaat im europa¨ ischen Systemwettbewerb, 2005, S. 41, 59. 77 Vgl. BVerfGE 85, 238 (247); 132, 179 (189); Kloepfer, Finanzverfassungsrecht, 2014, § 2 Rn. 111. 78 Kloepfer, Gleichheitssatz und Abgabengewalt, in: FS Stober, 2008, S. 703 ff. (714).

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tem durch erhöhte gerichtliche Kontrolldichte zu begegnen, ist deshalb nachvollziehbar und berechtigt. Das Prinzip der Folgerichtigkeit im Steuerrecht sollte deshalb in der Finanzverfassung eine gesonderte Regelung finden. Mit Blick vor allem auf das ebenfalls hochkomplexe System der Sozialversicherungsabgaben erscheint eine gewisse Verallgemeinerung und Bezugnahme des Gebots systemgerechter Gesetzgebung auch auf die Sozialversicherungsabgaben sinnvoll zu sein. d) Freiheitsrechte Zu bisher noch ungelösten Problemen führt schließlich die Steuererhebung im Zusammenhang mit den Freiheitsrechten. Das betrifft zunächst die hochumstrittene Frage, ob bei der Auferlegung von Geldleistungspflichten pauschal Art. 2 Abs. 1 GG heranzuziehen ist oder nicht regelmäßig schon spezielle Freiheitsrechte – vor allem Art. 14 GG – einschlägig sind.79 Diese Frage soll hier aber nicht weiter verfolgt werden. Denn das eigentliche Problem scheint weniger die Bestimmung des betroffenen Schutzbereichs als die Bestimmung brauchbarer Rechtfertigungsmaßstäbe zu sein. Der entscheidende begrenzende Faktor liegt bei Grundrechtsfragen in der Regel im Übermaßverbot. Die darin zum Ausdruck kommende Zweck-Mittel-Relation läuft bei Steuern aber häufig ins Leere, weil der Fiskalzweck als solcher „maßlos“ ist.80 Allenfalls bei Zweck- und Lenkungssteuern lässt sich ein abwägungsfähiger, konkreter Zweck ausmachen. Ebenfalls kann man – auch ohne Rückgriff auf Art. 14 GG81 – die erdrosselnde Steuer als unverhältnismäßig qualifizieren, weil der Fiskalzweck schon abstrakt nie eine erdrosselnde Wirkung, also quasi eine „sterbende Steuer“82, rechtfertigen kann. Solange man sich aber innerhalb dieses äußersten Rahmens hält, fällt das verfassungsrechtliche Korrektiv des Übermaßverbots praktisch aus. Eine gewisse Kompensation dieser Lücke mag sich zwar aus dem Prinzip der Leistungsfähigkeit ergeben,83 mit dem sich aber stets nur die relative Abgabenlast erfassen lässt, nicht hingegen die Frage nach der absolut zulässigen Höhe. Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts versuchte, dem durch die Entwicklung des sogenannten Halbteilungsgrundsatzes zu begegnen.84 Danach sollte 79 Vgl. zur Entwicklung der Rechtsprechung Henneke, Öffentliches Finanzwesen, 2. Aufl. 2000, Rn. 344 ff.; Kloepfer, Finanzverfassungsrecht, 2014, § 2 Rn. 95. 80 Waldhoff, in: HbStR V, 3. Aufl. 2007, § 116 Rn. 119; Vogel, Das ungeschriebene Finanzrecht des Grundgesetzes, in: GS Martens, 1987, S. 265 ff. (269 f.). 81 Das Bundesverfassungsgericht vertrat dennoch grundrechtsdogmatisch kaum nachvollziehbar, der Schutzbereich des Art. 14 GG sei durch die Steuererhebung nicht berührt, bei einer erdrosselnden Wirkung sei aber gleichwohl das Eigentumsgrundrecht verletzt. Vgl. zur verbreiteten Kritik daran Waldhoff, in: HbStR V, 3. Aufl. 2007, § 116 Rn. 117 m.w.N. 82 Zum Begriff der „sterbenden Abgabe“ im Bereich des Umweltrechts Kloepfer, Umweltschutzrecht, 2. Aufl. 2011, § 4 Rn. 84. 83 Vogel, Das ungeschriebene Finanzrecht des Grundgesetzes, in: GS Martens, 1987, S. 265 ff. (274). 84 BVerfGE 93, 121 (138) – Einheitswerte II; vgl. aus der umfangreichen Literatur hierzu etwa Eschenbach, DStZ 1997, 413 ff.; Ho¨ r, DStR 1997, 1862 ff.; Kars, KJ 1997, 201 ff.; Rose,

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dem Wort „zugleich“ in Art. 14 Abs. 2 S. 2 GG der Bedeutungsgehalt „zu gleichen Teilen“ beigemessen werden, woraus die Grenze einer hälftigen Teilung zwischen privater und öffentlicher Hand abgeleitet wurde.85 Diese eher fragwürdige Wortlautauslegung wurde vom Ersten Senat nie akzeptiert und vom Zweiten Senat inzwischen wieder aufgegeben86. Das Bestreben nach einer Quantifizierung des auch in Art. 106 Abs. 3 S. 4 Nr. 2 GG zum Ausdruck kommenden Verbots der „übermäßigen“ (nicht etwa erst: „erdrosselnden“) Belastung ist aber durchaus nachvollziehbar und berechtigt. Nur liefert das Grundgesetz für politisch derart weitreichende Auslegungsfragen keine hinreichenden Anhaltspunkte. Die offene Frage nach Kriterien für die Feststellung einer übermäßigen Abgabenbelastung kann deshalb nur durch den verfassungsändernden Gesetzgeber gelöst werden. Nicht vergessen werden sollte dabei, dass es sich hier in besonderem Maße um ein Problem der kumulativen Grundrechtsbelastung handelt.87 Der Blick sollte deshalb nicht auf die Steuerbelastung verengt werden, sondern – entsprechend dem oben hervorgehobenen Art. 134 WRV – alle Abgabenlasten (von der praktischen Bedeutung her vor allem die Sozialabgaben) erfassen. III. Zusammenfassung und Gesamtfazit Die bisherige Finanzverfassung i. w. S. nimmt als verfassungsrechtliche Teilordnung innerhalb des Grundgesetzes eine formale Sonderstellung ein. Dies ist mit Blick auf die preußische Verfassung von 1850 und die Reichsverfassung von 1871 nicht ohne historisches Vorbild, erreicht aber im Grundgesetz eine neue Qualität. Die formale Sonderstellung ist wegen des inneren Zusammenhangs und einiger nur bei Finanzfragen auftretender Fragen (z. B. Ertragskompetenzen) regelungstechnisch grundsätzlich sinnvoll, führt aber auch zu einem eigenen materiellen Gehalt: dem Anspruch einer grundsätzlich abschließenden Regelung aller für das staatliche Finanzwesen „wesentlichen“ Fragen im Finanzverfassungsrecht. Die Rechtswirklichkeit, aber auch der Verfassungstext stehen mit diesem prinzipiellen Ausschließlichkeitsanspruch88 der Finanzverfassung i. w. S. aber nur teilweise im Einklang. Nichtsteuerliche Abgaben nehmen neben den im X. Abschnitt des Grundgesetzes geregelten Steuern eine zunehmend wichtige Rolle ein. Rechtsprechung und Literatur versuchen, dem vor allem mit strengen Anforderungen an die Zulässigkeit insbesondere von Sonderabgaben zu begegnen. Dabei scheinen aber die nichtsteuerlichen Abgaben jenseits der Sonderabgaben, d. h. die Vorzugslasten, DB 1995, 1879 f.; Tipke, GmbHR 1996, 8 ff.; Vogel, JZ 1996, 43 ff.; Butzer, Freiheitsrechtliche Grenzen der Steuer- und Sozialabgabenlast, 1999; Helbig, Der steuerverfassungsrechtliche Halbteilungsgrundsatz, 2002. 85 BVerfGE 93, 121 (138); P. Kirchhof, in: HbStR V, 3. Aufl. 2007, § 118 Rn. 126 ff. 86 BVerfGE 115, 97. Die Ausführungen auf S. 108 f. klingen noch nach einer Beschränkung des Halbteilungsgrundsatzes auf die Vermögenssteuer, während auf S. 114 die Herleitung des Halbteilungsgrundsatzes sodann vollständig verworfen wird. 87 Hierzu am Beispiel des Abwasserabgabenrechts Kloepfer, VerwArch. 1983, 201 ff. 88 P. Kirchhof, in: HbStR V, 3. Aufl. 2007, § 119 Rn. 76.

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also die Gebühren, Beiträge und Verleihungsabgaben, sowie vor allem die Sozialversicherungsbeiträge aus dem Blick zu geraten. Die Sozialabgaben kommen – wie erwähnt – im Aufkommen den Steuern fast gleich. Aber auch andere nichtsteuerliche Abgaben haben eine Relevanz erreicht, mit der die völlige Abwesenheit grundgesetzlicher Normen hierzu kaum mehr zu vereinbaren ist. Soll die Finanzverfassung im Sinne einer Gesamtfinanzverfassung alle wesentlichen Bereiche des staatlichen Finanzwesens in den Blick nehmen, müssen deshalb die nichtsteuerlichen Abgaben Eingang in die Finanzverfassung finden. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zeigt, dass dem Verfassungsjuristen angesichts fehlender „normativer Leitplanken“ sonst nichts anderes bleibt, als in einen Prozess der kreativen Rechtsschöpfung einzutreten – wie etwa bei den Sonderabgaben – oder mangels anwendbarerer Normen dem Gesetzgeber weitgehend freie Hand zu lassen – so geschehen z. B. bei den UMTS-Erlösen. Im Haushaltsverfassungsrecht drückt sich der Anspruch auf Erfassung aller wesentlichen staatlichen Finanzströme in den Prinzipien der Einheit und Vollständigkeit des Haushalts aus. Dies wird vor allem durch Parafiski (Nebenhaushalte) herausgefordert. Im Bereich der Sonderabgaben hat sich das Bundesverfassungsgericht diesem Problem gewidmet und eine besondere haushaltsrechtliche Informationspflicht kreiert. Diese Informationspflicht ist auf alle Parafiski auszudehnen. Neben der Vollständigkeit des Haushalts spricht insbesondere die Vermeidung von Umgehungen der Schuldenbremse dafür. Hinsichtlich der materiellen Grenzen der Abgabenerhebung ist zunächst vor allem auf die allgemeinen Regeln des Grundgesetzes, insbesondere auf die Staatsstrukturprinzipien und auf die Grundrechte, zurückzugreifen. Hier haben sich bei den allgemeinen Verfassungsaussagen bereits abgabenspezifische Gehalte herausgebildet. Eine Spiegelung aller Grundrechte in der Finanzverfassung wäre aber nicht sinnvoll. Punktuell hat sich aber inzwischen eine eigene, von den allgemeinen Regeln losgelöste Dogmatik zu Finanzfragen – in Anlehnung an Klaus Vogel89: ein ungeschriebenes materielles Finanzrecht des Grundgesetzes – herausgebildet, das einer Positivierung im X. Abschnitt fähig und bedürftig erscheint. Zu denken ist etwa an die Aufnahme eines Finanzgrundrechts – u. a. als Begrenzung der Abgabengewalt – in die Finanzverfassung. Das betrifft insbesondere die aus dem allgemeinen Gleichheitssatz entwickelten Prinzipien der Leistungsfähigkeit und der Systemgerechtigkeit. Ein offenes abgabenspezifisches Problem liegt schließlich in der Bestimmung einer absoluten Grenze der Abgabenbelastung. Das Grundgesetz bietet dafür keine hinreichenden Anhaltspunkte, weshalb auch der Halbteilungsgrundsatz vom Bundesverfassungsgericht zu Recht wieder aufgegeben wurde. Gefragt ist hier der verfassungsändernde Gesetzgeber. Bereits jetzt findet sich mit Art. 106 Abs. 3 S. 4 Nr. 2 GG eine Regelung im Grundgesetz, die in die Richtung einer Begrenzung 89 Vogel, Das ungeschriebene Finanzrecht des Grundgesetzes, in: GS Martens, 1987, S. 265 ff.

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der Steuerlast des Bürgers geht. Sie sollte aus ihrem sehr speziellen Zusammenhang gelöst, mit Bezug auf die gesamte Abgabenbelastung verallgemeinert und näher konkretisiert werden. Dieses Verbot übermäßiger Abgabenbelastungen könnte neben einem abgabenspezifischen Gesetzesvorbehalt und z. B. mit den Abgabenprinzipien der Lastengerechtigkeit, Leistungsfähigkeit und der Systemgerechtigkeit in einem Finanzgrundrecht verankert werden. Ein solches Finanzgrundrecht sollte entsprechend der Regelungssystematik und -logik der Justizgrundrechte als das finanzspezifische Grundrecht in den X. Abschnitt des Grundgesetzes über das Finanzwesen quasi als spezifische, grundrechtliche Begrenzung der staatlichen Abgabengewalt aufgenommen werden. Im Übrigen sollten die allgemeinen Grundrechte aber in ihrer bisherigen Position im I. Abschnitt des Grundgesetzes verbleiben, auch wenn sie auf Abgabengesetze Anwendung finden. Denn aus den Grundrechten der Art. 1 – 19 GG werden zwar durchaus punktuelle Aussagen für die Abgaben entwickelt. Als allgemeine verfassungsrechtliche Regelungen gelten diese Grundrechte aber gerade auch in Bereichen außerhalb von Abgaben. An den verfassungsändernden Gesetzgeber richtet sich also insgesamt der Appell, den X. Abschnitt des Grundgesetzes so zu erweitern und zu aktualisieren, dass er auch textlich das reale Gesamtsystem der deutschen Finanzverfassung erfasst – und sich vor allem aus der Fixierung der bisherigen Finanzverfassung i. e. S. auf die Steuern löst. Am Ende könnte dann in einem neuen X. Abschnitt des Grundgesetzes eine Gesamtfinanzverfassung stehen, welche grundsätzlich alle finanzspezifischen Regelungen des Grundgesetzes normiert und zusammenfasst.

Finanzielle Eigenständigkeit und Solidarität im deutschen Bundesstaat Von Hanno Kube, Heidelberg Rudolf Wendt ist einer der profiliertesten Kenner des deutschen Finanzverfassungsrechts. Seit langem begleitet er die komplexe und oftmals spannungsreiche Entwicklung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen, zum einen durch erfahrungsgesättigte und ausgewogene Beiträge im wissenschaftlichen Diskurs,1 zum anderen aber auch durch die engagierte Wahrnehmung von Prozessvertretungen vor dem Bundesverfassungsgericht, zuletzt im Zusammenhang des Verfahrens zur verfassungsgerichtlichen Prüfung der Regelungen des bundesstaatlichen Finanzausgleichs auf Veranlassung der Länder Bayern und Hessen.2 Verfassungsrechtlich werden die bundesstaatlichen Finanzbeziehungen durch die zwei großen antagonistischen oder auch komplementären Pole des Bundesstaatsprinzips angeleitet, die sich dementsprechend im insoweit konkretisierenden Finanzverfassungsrecht wiederfinden: Dem bundesstaatlichen Struktur- und Ausgangsprinzip der Eigenständigkeit und Eigenverantwortung der Bundesglieder einerseits und dem ergänzenden, die Beziehungen der Bundesglieder untereinander mitbestimmenden Prinzip der Bundestreue, auch des bündischen Einstehens füreinander, andererseits. Dieser Grundbefund soll – zumal im Angesicht der gegenwärtigen Diskussion um die bevorstehende Reform des Finanzausgleichsrechts zum Jahr 2020 – im Folgenden erneut in Erinnerung gerufen und auf seine Konsequenzen für die Ausgestaltung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen hin befragt werden.

1 Aus jüngerer Zeit Rudolf Wendt, Die „eigene“ Finanzausstattung der Länder im System der Steuerverteilung und des Finanzausgleichs, in: Stern/Grupp (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Joachim Burmeister, 2005, S. 457 ff.; ders., Neuordnung der Finanzbeziehungen im Bundesstaat, in: Müller-Dietz u. a. (Hrsg.), Festschrift für Heike Jung zum 65. Geburtstag, 2007, S. 1085 ff.; ders., Finanzhoheit und Finanzausgleich, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VI, 3. Aufl. 2008, § 139; ders., Der bundesstaatliche Finanzausgleich – Karl Heinrich Friaufs Beitrag zum Finanzausgleich aus dem Jahre 1984 aus heutiger Sicht –, in: Höfling (Hrsg.), Festgabe für Karl Heinrich Friauf aus Anlass seines 80. Geburtstages, 2011, S. 199 ff.; ders., Der Finanzausgleich im föderalen System der Bundesrepublik Deutschland, in: Härtel (Hrsg.), Handbuch Föderalismus – Föderalismus als demokratische Rechtsordnung und Rechtskultur in Deutschland, Europa und der Welt, Bd. II: Probleme, Reformen, Perspektiven des deutschen Föderalismus, 2012, § 41; ders., Länderfinanzausgleich, in: Kube u. a. (Hrsg.), Leitgedanken des Rechts, Bd. II, 2013, § 144. 2 BVerfG, Az. 2 BvF 1/13.

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I. Die zwei großen Pole des Bundesstaatsprinzips Föderale Systeme sind immer historisch geprägt. So steht auch das heutige Bild der deutschen Bundesstaatlichkeit am Ende eines langen geschichtlichen Entwicklungspfades. Wesentlicher Bestandteil dieses Bildes ist die Eigenstaatlichkeit der Bundesländer bei gleichzeitiger, gleichsam überwölbender Staatlichkeit des Bundes. Dieses Nebeneinander von Staatlichkeiten, das gerade durch die Reichsverfassung von 1871 zementiert wurde, ist dabei nicht als Nebeneinander konkurrierender staatlicher Souveränitäten zu verstehen, dass es staatstheoretisch und völkerrechtlich nicht geben kann – souverän ist nur der Bund –,3 sondern vielmehr als Nebeneinander von Staatlichkeiten im staatsrechtlichen, durch die Bundesverfassung ausgestalteten Sinne. So verfügen die Länder über eigene, grundgesetzlich durch Art. 28 Abs. 1 GG vorstrukturierte Verfassungsräume, die sie eigenverantwortlich auszufüllen haben,4 und über eine Vielzahl eigener, ihnen als Rechtsträgern durch das Grundgesetz zugewiesener Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungskompetenzen, ja sogar über die Regelzuständigkeit bei fehlender ausdrücklicher Bundeszuständigkeit (Art. 30, Art. 70 Abs. 1 GG). Aus dem Bundesstaatsprinzip wird insoweit abgeleitet, dass den Ländern in ihrer Staatlichkeit ein Mindestbestand an substantiellen Gestaltungsbefugnissen, ein unentziehbarer Kern eigener Aufgaben als „Hausgut“ zugeordnet sein muss.5 Die Folgen ihrer Kompetenzausübung haben die Länder im Grundsatz selbst zu tragen. In letzter Konsequenz zeigt sich dies darin, dass das Grundgesetz keine Garantie für den Bestand des einzelnen Bundeslandes kennt. Art. 79 Abs. 3 GG stellt allein die Bundesstaatlichkeit als solche, also die Gliederung des Bundes in Länder, unverfügbar. Die staatsrechtliche Selbständigkeit und Folgenverantwortung aller Bundesglieder wird allerdings, und erst dies bringt den Bundesstaatsgedanken zu voller Entfaltung, ergänzt durch das bündische Prinzip der Treue, der Rücksichtnahme aufeinander, des Einstehens füreinander; dies im Interesse jedes einzelnen Teils wie auch des gemeinsamen Ganzen. Das Gebot der Bundestreue wirkt sich in ganz unterschiedlicher Art und Weise aus. So kann es als Kompetenzausübungsschranke wirken,6 wenn die Kompetenzausübung eines Bundesgliedes die Kompetenzen und sonstigen Interessen anderer Bundesglieder berührt. Das Treuegebot verlangt darüber hinaus die Gleichbehandlung der Länder durch den Bund,7 beispielsweise bei der Gewährung finanzieller Zuwendungen gemäß Art. 104b GG. Schließlich kann das Treuegebot auch Pflichten zu positivem Handeln, zu gegenseitiger Unterstützung begründen, dies auf Seiten des Bundes8 wie auch der Länder.9 3

Dazu Klaus Stern, Staatsrecht I, 2. Aufl. 1984, S. 645 m. w. N. S. schon BVerfGE 1, 14 (34); aus jüngerer Zeit BVerfGE 102, 224 (234). 5 BVerfGE 34, 9 (20); 87, 181 (196). 6 BVerfGE 4, 115 (140); 8, 122 (138); aus jüngerer Zeit BVerfGE 81, 310 (337); 104, 249 (269 f.). 7 BVerfGE 1, 299 (315); 12, 205 (254 f.); 86, 148 (211 f.). 8 Vgl. BVerfGE 84, 25 (33). 4

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II. Widerspiegelung im Finanzverfassungsrecht Das Zusammenspiel von bundesstaatlicher Selbständigkeit und bündischem Miteinander, von Eigenverantwortung und solidarischer Unterstützung findet sich auch und gerade in der bundesstaatlichen Finanzverfassung klar widergespiegelt.10 Bund und Ländern sind in Art. 105 f. GG je eigene Steuergesetzgebungs-, Steuerverwaltungs- und Steuerertragskompetenzen zugewiesen, die sie selbständig auszuüben haben. Auch die Zuständigkeiten zur Lastentragung sind klar und eindeutig in die Verantwortungssphären der einzelnen Bundesglieder gestellt (Art. 104a GG). Die Mittel, die der Ausgabentragung dienen, werden nach Art. 109 Abs. 1 GG durch Bund und Länder selbständig und unabhängig voneinander bewirtschaftet. Auch das Finanzverfassungsrecht betrachtet den Bund und die Länder mithin als je eigenständige und eigenverantwortliche Körperschaften. Das ergänzende bundesstaatliche Element der Bundestreue, des bündischen Einstehens füreinander, tritt im Bereich der Finanzverfassung in besonderer Weise im Zusammenhang des bundesstaatlichen Finanzausgleichs in den Vordergrund. Während dieser Ausgleich auf den ersten beiden Stufen, beim primären vertikalen und primären horizontalen Ausgleich (Art. 106 und Art. 107 Abs. 1 GG), überwiegend vom Grundgedanken der Eigenständigkeit und Eigenverantwortung geprägt ist, dienen die dritte und die vierte Ausgleichsstufe, der sekundäre horizontale und der sekundäre vertikale Ausgleich (Art. 107 Abs. 2 GG), der Mittelumverteilung im Sinne bündischer Solidarität. Die Umverteilung bezweckt, alle Bundesglieder – im Interesse der einzelnen Glieder wie auch des Gesamtverbandes – finanziell in die Lage zu versetzen, ihre verfassungsrechtlich zugewiesenen Aufgaben zu erfüllen.11 Dabei hat die Umverteilung aber, so auch das Bundesverfassungsgericht, die angemessene Mitte zwischen bundesstaatlicher Autonomie und bündischer Solidarität zu finden.12 Elemente des bündischen Miteinanders finden sich im Bereich der bundesstaatlichen Finanzbeziehungen freilich auch jenseits des sekundären Finanzausgleichs. In der Steuergesetzgebung wird bundesstaatliche Rücksichtnahme schon durch die Bestimmung des Art. 105 Abs. 3 GG sichergestellt, die Bundessteuergesetze, die sich auf die Ertragslage der Länder auswirken, unter den Vorbehalt der Zustimmung durch den Bundesrat stellt. Bündische Gemeinschaft schafft darüber hinaus das in Art. 106 Abs. 3 GG fundierte System der Gemeinschaftsteuern. Eine besondere Herausforderung des bundesstaatlichen Umgangs miteinander ergibt sich schließlich im Zusammenhang der Kreditaufnahme. Will ein Bundesglied – soweit dies verfas9

BVerfGE 1, 117 (131); 12, 205 (254 f.); 73, 118 (197). Zu Finanzautonomie und dem bündischen Prinzip als den beiden maßgeblichen Prinzipien der bundesstaatlichen Finanzverfassung Klaus Vogel/Christian Waldhoff, Grundlagen des Finanzverfassungsrechts, 1999, Rdnr. 60 ff.; Christian Waldhoff, Grundzüge des Finanzrechts des Grundgesetzes, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 116 Rdnr. 73. 11 BVerfGE 72, 330 (383); 86, 148 (213). 12 BVerfGE 101, 158 (222). 10

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sungsrechtlich noch zulässig ist – einen Kredit aufnehmen, so ist dies nach den gesetzlichen Vorgaben ohne Rücksprache mit den anderen Bundesgliedern möglich. Zugleich beeinträchtigt die Kreditaufnahme aber die Kreditaufnahmespielräume der anderen Bundesglieder, weil sich die EU-rechtlichen Vorgaben über den zulässigen Verschuldungsrahmen auf die gesamtstaatliche Verschuldung beziehen. Dies gebietet – solange eine nähere gesetzliche Regelung (nationaler Stabilitätspakt) nicht existiert – bündische Rücksichtnahme, namentlich Kommunikation und Kooperation.13 III. Aktuelle Herausforderungen und Reformperspektiven – im Licht von bundesstaatlicher Eigenständigkeit und bündischer Solidarität Auch in der aktuellen Diskussion über die Zukunft der bundesstaatlichen Finanzbeziehungen müssen die zwei großen Pole des Bundesstaatsprinzips genau im Blick gehalten werden, um Unwuchten oder gar Verfassungswidrigkeiten zu vermeiden. Im Folgenden soll gerade unter diesem Gesichtspunkt auf verschiedene Reformschwerpunkte eingegangen werden. 1. Neugestaltung des bundesstaatlichen Finanzausgleichs Die Regelungen des derzeit vollzogenen Finanzausgleichsgesetzes des Bundes laufen Ende 2019 aus, was eine Erneuerung unabdingbar macht. Die Diskussion ist in vollem Gange. Auf der ersten Ausgleichsstufe stehen sich mit dem Bund einerseits und der Ländergesamtheit andererseits grundsätzlich nicht vergleichbare Einheiten gegenüber. Ziel der primären vertikalen Mittelverteilung gemäß Art. 106 GG ist es, die Ebenen nach Maßgabe ihrer Deckungsbedürfnisse mit den finanziellen Ressourcen auszustatten, die sie zur Erfüllung ihrer Aufgaben brauchen.14 Die Eigenständigkeit der Körperschaften ist hier vorausgesetzt, Solidarität nicht Thema der Bestimmungen. Dies gilt umso mehr auf der zweiten Ausgleichsstufe, im Rahmen des primären horizontalen Ausgleichs (Art. 107 Abs. 1 GG). Hier begegnen sich die grundsätzlich vergleichbaren Einheiten der Länder. Verfassungsrechtlich ist eine Zuweisung der Ländermittel aus der Einkommen- und Körperschaftsteuer und aus den Landessteuern an die Länder nach Maßgabe des örtlichen Aufkommens, also der örtlichen Steuerkraft, vorgesehen. Dies stellt, verfassungsrechtlich verbindlich, den bundesstaatlichen Aspekt der Eigenständigkeit und Eigenverantwortung, gerade auch der Folgen-

13

S. dazu näher Hanno Kube, in: Maunz/Dürig, GG, Kommentar, Stand: Dezember 2013, Art. 109 Rdnr. 77 ff. m. w. N. 14 Rudolf Wendt, Länderfinanzausgleich, in: Kube u. a. (Hrsg.), Leitgedanken des Rechts, Bd. II, 2013, § 144 Rdnr. 5.

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verantwortung etwa für wirtschaftspolitische Gestaltungen, in den Mittelpunkt.15 Bei der – die Ertragsverteilung nach der örtlichen Steuerkraft mit absichernden –16 Steuerzerlegung gemäß Art. 107 Abs. 1 Satz 2 GG wird die Lohnsteuer derzeit allein dem Wohnsitzland zugewiesen. Die – auf der zweiten Ausgleichsstufe zentrale – Eigenund Folgenverantwortung der Länder könnte unterstrichen werden, wenn man, wie schon seit langem erwogen wird,17 auch das Betriebstättenland, also das Land, in dem der Arbeitnehmer seinen Lohn erwirtschaftet, an der Lohnsteuer beteiligt, beispielsweise im Umfang von 50 Prozent. Eine solche Beteiligung könnte funktional an die Stelle der Einwohnerveredelung zugunsten der Stadtstaaten im Rahmen des Länderfinanzausgleichs treten, soweit diese Veredelung Ein- und Auspendlerströmen Rechnung tragen soll, und die im Ganzen nicht zu rechtfertigende Einwohnerveredelung entfallen lassen. Der Länderanteil an der Umsatzsteuer wird dagegen, so Art. 107 Abs. 1 Satz 4 HS 1 GG, nach Einwohnern auf die Länder verteilt. Dies trägt der Tatsache Rechnung, dass das örtliche Aufkommen hier nur sehr eingeschränkt mit örtlicher Steuerkraft im Sinne von Konsumkraft korreliert.18 Soweit Art. 107 Abs. 1 Satz 4 HS 2 GG fakultativ zulässt, dass ein Viertel der Umsatzsteuer vorab nach Bedarfsgesichtspunkten unter den Ländern verteilt wird (Umsatzsteuervorausgleich), nimmt das Grundgesetz ein solidarisches Ausgleichselement vorweg, dies allerdings in einer in der Bemessungsgrundlage unglücklich angelegten, in der Rechtsfolge problematischen und auf die folgenden Ausgleichsstufen nicht abgestimmten Art und Weise. Zur Steigerung von Konsistenz und Transparenz sollte deshalb auf den Umsatzsteuervorausgleich verzichtet werden.19 Dieser Verzicht muss dabei im Ergebnis keineswegs Auswirkungen auf das Gesamtausgleichsvolumen haben. Wird dem entgegengehalten, die Streichung des Umsatzsteuervorausgleichs würde das Volumen des Länderfinanzausgleichs unnötig ausweiten, ist freilich zu replizieren, dass diese Aus15 Rudolf Wendt, Finanzhoheit und Finanzausgleich, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VI, 3. Aufl. 2008, § 139 Rdnr. 86. 16 Zur diesbezüglichen mangelnden Treffsicherheit der Verteilung nach dem örtlichen Aufkommen Rudolf Wendt, Die „eigene“ Finanzausstattung der Länder im System der Steuerverteilung und des Finanzausgleichs, in: Stern/Grupp (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Joachim Burmeister, 2005, S. 457 ff.; ders., Länderfinanzausgleich, in: Kube u. a. (Hrsg.), Leitgedanken des Rechts, Bd. II, 2013, § 144 Rdnr. 6. 17 Ulrich Häde, Finanzausgleich, 1996, S. 210; Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 521; Peter Selmer, NVwZ 2007, S. 872 (876 f.); Rudolf Wendt, Finanzhoheit und Finanzausgleich, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VI, 3. Aufl. 2008, § 139 Rdnr. 87. 18 BVerfGE 72, 330 (384); 101, 158 (221); 116, 327 (379). 19 So schon Rolf Peffekoven, Zur Problematik der Umsatzsteuerverteilung, in: Cansier/Kath (Hrsg.), Öffentliche Finanzen, Kredit und Kapital, Festschrift für Werner Ehrlicher zur Vollendung des 65. Lebensjahres, 1985, S. 53 (73 f.); Peter M. Huber, Das Bund-Länder-Verhältnis de constitutione ferenda, in: Blanke/Schwanengel (Hrsg.), Zustand und Perspektiven des deutschen Bundesstaates, 2005, S. 21 (46); Peter Selmer, NVwZ 2007, S. 872 (877); a. A. Joachim Wieland, JZ 2014, S. 829 (835).

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weitung die tatsächlichen Verhältnisse sehr viel besser widerspiegeln würde als das derzeitige System. Während auf den ersten beiden Ausgleichsstufen mithin die Eigenständigkeit und Eigenverantwortung der Gebietskörperschaften im Zentrum stehen, sind die dritte und die vierte Ausgleichsstufe vom bundesstaatlichen Solidarprinzip bestimmt. Diese Reihung impliziert keine Abstufung in der Bedeutung, auch kein Regel/Ausnahme-Verhältnis und keine besonderen Rechtfertigungsbedarfe. Vielmehr ergibt sich die verfassungsrechtlich angelegte Reihung im Verhältnis der ersten beiden und der letzten beiden Ausgleichsstufen aus dem schlichten Befund, dass Bund und Länder im ersten Schritt originär mit Mitteln ausgestattet werden müssen, wie es ihrer Staatlichkeit entspricht (Gedanke des Hausguts), bevor im zweiten Schritt das erforderliche Maß an Umverteilung ermittelt werden kann. Weil die Umverteilung bezweckt, alle Gebietskörperschaften in die Lage zu versetzen, ihre verfassungsgemäßen Aufgaben wahrzunehmen, trägt sie durchaus – worauf verbreitet hingewiesen wird – dazu bei, Autonomie „wirklich werden zu lassen“. Doch ändert dies nichts an dem Befund, dass die solidarische Umverteilung die – unmittelbar auf die Staatlichkeit zurückzuführende – Eigenständigkeit und Eigenverantwortung aller Bundesglieder (einschließlich der Nehmerländer) relativiert. Dies verbietet es, die Zielsetzung der aufgabengerechten Mittelausstattung absolut zu setzen, den Bedarfsmaßstab also der verfassungsrechtlichen Balance zwischen Eigenständigkeit und Solidarität überzuordnen. Wie das Bundesverfassungsgericht zu Recht feststellt, dient die solidarische Umverteilung zwar dem Ziel der aufgabengerechten Mittelausstattung,20 muss aber in jedem Fall den verfassungsrechtlichen Gehalt der Eigenständigkeit und Eigenverantwortung der Bundesglieder wahren.21 Setzte man den Bedarfsmaßstab dagegen absolut, bedürfte es der vier – der Komplexität des Bundesstaatsprinzips Rechnung tragenden – Stufen des bundesstaatlichen Finanzausgleichs nicht. Stattdessen könnten dann ein großer Haushalt gebildet und die Mittel nach Einwohnerzahlen oder gar nach Bedarfsanmeldungen auf die Regionen verteilt werden. Dies aber bedeutete die Aufgabe des Föderalismus, wie wir ihn verstehen, und den Übergang zum Modell des Zentralstaats. So verlangt die Staatlichkeit der Länder zwingend die Mitberücksichtigung ihrer Eigenständigkeit und Eigenverantwortung auch im Rahmen der auf Bedarfsdeckung ausgerichteten solidarischen Mittelumverteilung.

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So schon BVerfGE 32, 333 (338); sodann BVerfGE 39, 96 (108); st. Rspr.; dazu Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 99 ff.; Rudolf Wendt, Finanzhoheit und Finanzausgleich, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VI, 3. Aufl. 2008, § 139 Rdnr. 3 und 59; Adrian Jung, Maßstäbegerechtigkeit im Länderfinanzausgleich, 2008, S. 11 ff. 21 BVerfGE 101, 158 (222); auch Karl-Heinrich Friauf, JA 1984, S. 618 (619); KyrillAlexander Schwarz, Der Finanzausgleich als Ordnungsrahmen effektiver Aufgabenerfüllung, in: Blanke/Schwanengel (Hrsg.), Zustand und Perspektiven des deutschen Bundesstaates, 2005, S. 107 (112); jüngst Ralf-P. Schenke, NJW 2014, S. 2542 (2545).

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Dies ist nicht nur im Rahmen des Länderfinanzausgleichs, sondern auch bei der Bemessung der Bundesergänzungszuweisungen auf der vierten Ausgleichsstufe zu beachten. Auch hier müssen die Eigenständigkeit und Eigenverantwortung der Gebietskörperschaften eine Rolle spielen, was eine vollständige oder weitestgehende Einebnung der Finanzkraft der Länder durch Bundesergänzungszuweisungen verbietet, die nicht zuletzt auch zu einer Überspannung der finanziellen Leistungsfähigkeit des Bundes führen kann. Es ist genau diese Anerkennung der Staatlichkeit aller Bundesglieder, die es im Übrigen ausschließt, die Finanzverfassung als Gebot zu verstehen, die Länderzuschnitte unter ökonomischen Gesichtspunkten zu optimieren.22 Das Grundgesetz, insbesondere die Finanzverfassung, setzt die Länder in ihrer Existenz, in ihrem gebietlichen Erscheinungsbild und ihren Eigenarten voraus.23 Die Verfassung ist in diesem Sinne instrumental, nicht final angelegt. Eine mögliche Länderneuordnung ist deshalb nicht finanzverfassungsrechtlich determiniert, sondern beruht ausschließlich auf einer originären politischen Entscheidung der dafür nach Art. 29 GG zuständigen Entscheidungsträger; einer Entscheidung, bei der ökonomische Gesichtspunkte freilich eine nicht unwesentliche Rolle spielen würden. Auch die Zuordnung der Aufgaben zu den verschiedenen Ebenen des Bundesstaates ist nicht finanzverfassungsrechtlich bestimmt, sondern Ergebnis vernünftiger politischer Gestaltung, gerade auch unter Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips. Dass sodann jede aufgabenverantwortliche Einheit aufgabengerecht mit Mitteln ausgestattet werden muss, wie es in der aktuellen Diskussion immer wieder betont wird, ist eine finanzausgleichsrechtliche Selbstverständlichkeit und liegt den Regelungen des Finanzausgleichsrechts als Zielorientierung fundamental zugrunde.24 2. Umgang mit extremen Haushaltsnotlagen – Das Desiderat eines Staatsinsolvenzverfahrens Weil das Nebeneinander von Eigenständigkeit und Solidarität der Bundesglieder verfassungsrechtlich unhintergehbar ist, im Bundesstaatsmodell des Grundgesetzes also immer das – aus der Staatlichkeit der Länder entspringende – Element der Eigenverantwortung zum Tragen kommen muss, kann – ganz abgesehen von der Ressourcenfrage – das Grundgesetz die wirtschaftliche Existenz eines Landes schon aus rechtlichen Gründen nicht garantieren. Genau deshalb fällt es dem Bundesverfassungsgericht so schwer, effektiv voraussetzungsarme Sanierungs-Ergänzungszuweisungen oder auch andere Nothilfen bei extremer Haushaltsnotlage aus dem Bundes22 Simon Kempny/Ekkehart Reimer, Neuordnung der Finanzbeziehungen – Aufgabengerechte Finanzverteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen, Gutachten D, in: Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des 70. Deutschen Juristentages Hannover 2014, Bd. I, 2014, S. D 20. 23 Joachim Wieland, JZ 2014, S. 829 (833). 24 S. dazu soeben oben im gleichen Abschnitt.

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staatsprinzip abzuleiten.25 Während der Solidargedanke für bündische Hilfen bei eindeutig unverschuldeten Notlagen streitet, steht der Gedanke der Eigenständigkeit und Eigenverantwortung der Bundesglieder weitergehenden Hilfen in Fällen, in denen ein Land selbstverschuldet insolvent geworden ist, entgegen. Dass das Bundesverfassungsgericht in diesem Zusammenhang gerade auch das Verschulden des betreffenden Landes thematisiert, folgt unmittelbar aus der vorausgesetzten Eigenverantwortung.26 Der im Mittelpunkt der letzten einschlägigen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts stehende Begriff der Sanierungs-Bundesergänzungszuweisung als ultima ratio-Instrument27 verdeutlicht das Bemühen des Gerichts, die engen verfassungsrechtlichen Grenzen, die diesem Instrument gesetzt sind, aufzuzeigen. Der Fokus lag im Anschluss an die Entscheidung bei der Ausgestaltung des Stabilitätsrats und seines Verfahrens (Art. 109a GG), dies in der weithin geteilten Hoffnung, im Wege der Institutionalisierung und Prozeduralisierung der Problematik zu jeweils rechtzeitigen Lösungen zu finden, also eine Situation, in der Sanierungs-Ergänzungszuweisungen in Betracht kommen, von vornherein zu vermeiden.28 Gleichwohl ist es keineswegs ausgeschlossen, dass es erneut zum Schwur kommt; zumal die Instrumente, die dem Stabilitätsrat jedenfalls nach derzeitiger Ausgestaltung zur Verfügung stehen, sehr eingeschränkt sind. Dies zeigt, dass das Problem der Überschuldung eines Landes verfassungspraktisch nicht ausgestanden ist;29 zumal ab 2020 die Schuldenbremse für die Länder voll greifen wird. Eine naheliegende Lösung besteht in der Ausgestaltung eines Staatsinsolvenz- und Staatsresolvenzrechts, das Antworten gibt, wenn ein Bundesland tatsächlich insolvent geworden ist.30 Anders formuliert: Solange ein Staatsinsolvenzverfahren im bundesstaatlichen Finanzrecht fehlt, wird der eigentliche Gehalt der bundesstaatlichen Eigenverantwortung der Länder im letzten Schritt negiert. Verantwortung muss auch Verantwortung für die Folgen des selbstverschuldeten Scheiterns sein. Fehlt das Staatsinsolvenzrecht, fehlt ein Schlussstein im bundesstaatlichen Gefüge von Eigenverantwortung und Solidarität. Dies schließt es freilich nicht aus, dass die bundesstaatliche Solidargemeinschaft auch weiterhin Nothilfe in Fällen leistet, in denen ein Land unverschuldet in finanzielle Bedrängnis kommt. Praktisch erheblich ist allerdings in erster Linie 25

Zuletzt BVerfGE 116, 327. Ausdrücklich BVerfGE 116, 327 (385): „Bundesergänzungszuweisungen zum Zweck der Sanierung eines Not leidenden Haushalts geraten mit diesem Grundsatz eigenständig und eigenverantwortlich zu bewältigender haushaltspolitischer Folgen autonomer Landespolitik in Konflikt.“ 27 BVerfGE 116, 327 (LS 2). 28 Zur Motivationslage BT-Drs. 16/12410, S. 12; siehe auch Hanno Kube, in: Maunz/ Dürig, GG, Kommentar, Stand: Dezember 2013, Art. 109a Rdnr. 1 f. und 15 ff. 29 Auch Peter Selmer, NVwZ 2009, S. 1255 (1261). 30 Ausführlich dazu Kai von Lewinski, Öffentlichrechtliche Insolvenz und Staatsbankrott, 2011; Christoph Paulus (Hrsg.), A Debt Restructuring Mechanism for Sovereigns, 2014; ablehnend Joachim Wieland, JZ 2014, S. 829 (837). 26

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der Fall finanzieller Bedrängnis aufgrund hoher Kreditschulden. Diese aber lassen sich regelmäßig kaum gänzlich auf Situationen der Entscheidungsunfreiheit zurückführen, sondern beruhen typischerweise auch auf bewussten, frei gewählten Entscheidungen für die Liquiditätsausweitung.31 3. Schuldenvergemeinschaftung – Zu Altschuldentilgungsfonds und Gemeinschaftsanleihen Dies führt unmittelbar zu einem weiteren aktuellen Diskussionsthema, der möglichen Schuldenvergemeinschaftung im deutschen Bundesstaat. Erwogen wird gegenwärtig die Einrichtung eines Altschuldentilgungsfonds, der Länderschulden zusammenfasst und der sodann gemeinschaftlich, beispielsweise durch teilweise Heranziehung des Solidaritätszuschlags, über die Zeit zurückgeführt wird. Alternativ wird die Umwidmung von Länderschulden in Bundesschulden vorgeschlagen. Auch diese Vorschläge werfen die Frage nach der verfassungsrechtlichen Bedeutung der Eigenverantwortung der Länder im Verhältnis zum Solidargedanken auf.32 Wiederum ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass bestehende Schulden vielerlei Ursachen haben können, oftmals aber auf autonomen Entscheidungen beruhen. Kompetenzrechtlich ist zu bedenken, dass der Zinsdienst für eine selbst eingegangene Schuld gemäß Art. 104a Abs. 1 GG von demjenigen Bundesglied zu leisten und zu finanzieren ist, das die Schuld eingegangen ist.33 Dies lässt die Ausgabentragung durch einen Gemeinschaftsfonds als problematisch erscheinen.34 Schon angesichts dieser Kompetenzfragen setzt ein Altschuldentilgungsfonds deshalb in jedem Fall eine Verfassungsänderung voraus. Dies gilt umso mehr angesichts des Gebots der föderalen Gleichbehandlung, das Rechtfertigungsbedarf begründet, wenn und soweit die einzelnen Bundesländer in erheblich unterschiedlicher Weise von einem Altschuldentilgungsfonds profitieren. Kompetenz- und Gleichheitsfragen wirft auch der Vorschlag auf, das Schuldenmanagement von Bund und Ländern beim Bund zusammenzuführen und in diesem Zusammenhang Gemeinschaftsanleihen zu begeben, insbesondere um die Zinskonditionen für die finanziell klammeren Länder zu verbessern. Auch derartige „JumboBonds“, gegen die sich die Bundesregierung auf EU-Ebene strikt verwahrt (Euro-

31 Zu diesen zumeist heterogenen Ursachen für die Kreditaufnahme auch BVerfGE 116, 327 (385). 32 Entsprechend für die Schuldenvergemeinschaftung auf europäischer Ebene Sebastian Müller-Franken, NVwZ 2012, S. 1201 ff.; anders in der Bewertung Franz C. Mayer/Christian Heidfeld, ZRP 2012, S. 129 ff. 33 So auch Simon Kempny, FR 2014, S. 300 (307). 34 Joachim Wieland, JZ 2014, S. 829 (837) setzt diesen Bedenken das verfassungsrechtliche Solidaritätsgebot entgegen.

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Bonds),35 führen zu aufgaben- und ausgabenkompetenzrechtlichen Problemen und zu Ungleichbehandlungen der Länder infolge eines durch den Bund initiierten und verklammerten Vorgehens.36 Manche Länder erlangen Vorteile, andere – gerade auch diejenigen, die sich nicht an den Gemeinschaftsanleihen beteiligen – Nachteile; dies vor allem dadurch, dass der Bund finanzielle Risiken übernimmt, die sich im Ergebnis zulasten aller Länder auswirken können. Ungeklärt ist gegenwärtig die Frage, ob und inwieweit sich nichtbeteiligte Bundesländer prozessual gegen Gemeinschaftsanleihen wenden könnten, um die kompetenzrechtliche und gleichheitsrechtliche Problematik dieses Instruments geltend zu machen. 4. Reform der Ordnung der Steuerkompetenzen Das komplementäre Verhältnis von Eigenständigkeit und solidarischem Miteinander ist auch weitergreifend Thema der bundesstaatlichen Kompetenzordnung. Wie bereits ausgeführt,37 sieht die – gerade auch finanzverfassungsrechtliche – Kompetenzordnung Bund und Länder grundsätzlich in ihrer Eigenständigkeit und Eigenverantwortung; denn die Kompetenzen sind den Bundesgliedern zur jeweils eigenen Ausübung zugewiesen. Eine gleichzeitige, die Eigenständigkeit relativierende Verwobenheit wird insbesondere durch Art. 105 Abs. 3 GG und durch das Modell der Gemeinschaftsteuern gemäß Art. 106 Abs. 3 GG begründet.38 Reformüberlegungen betreffen in diesem Bereich vor allem das vertikale Verhältnis zwischen Bund und Ländern. Fragen stellen sich insofern schon mit Blick auf die aktuelle Rechtslage. Die kompetenziellen Freiräume der Länder werden im Zusammenhang der Steuergesetzgebung unter anderem durch Art. 105 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 72 Abs. 2 GG geschützt. Bei den Landessteuern hat der Bund die Gesetzgebungskompetenz nur unter den Voraussetzungen der Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 Abs. 2 GG. Mit guten Gründen wird bezweifelt, ob der Bund nach diesen Maßgaben die Gesetzgebungskompetenz zur vollumfänglichen Regelung der Erbschaftsteuer innehat oder sich möglicherweise auf eine Form der Koordinierungsgesetzgebung beschränken muss, die den Ländern Räume zur eigenständigen und eigenverantwortlichen Ausfüllung eröffnet, so etwa zur Regelung der Steuersätze.39 35 Dazu Sebastian Müller-Franken, JZ 2012, S. 219 ff.; Werner Heun/Alexander Thiele, JZ 2012, S. 973 ff.; Franz C. Mayer/Christian Heidfeld, ZRP 2012, S. 129 ff.; dies., NJW 2012, S. 422 ff.; Sebastian Piecha, EuZW 2012, S. 532 ff. 36 Ausführliche Analyse bei Gregor Kirchhof, ZG 2012, S. 313 ff. 37 S. oben I. und II. 38 S. oben II. 39 In diese Richtung auch Johanna Hey, in: VVDStRL Bd. 66 (2007), S. 277 (311 f.); Anja Korte, Die konkurrierende Steuergesetzgebung des Bundes im Bereich der Finanzverfassung, 2008, S. 128 ff.; weitgehend Rainer Wernsmann/Valentin Spernath, FR 2007, S. 829 ff.; Maximilian Haag, Die Aufteilung steuerlicher Befugnisse im Bundesstaat, 2011, S. 404 ff.; vgl. auch die Ermächtigung zur Harmonisierungsgesetzgebung in Art. 129 der Schweizerischen Bundesverfassung; der Gesetzgeber geht demgegenüber von der Bundeskompetenz zur Vollregelung aus; BT-Drs. 16/7918, S. 25; ebenso Marc Schubert, Die Verfassungswidrigkeit der

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Ähnliches gilt für die Grundsteuer, bei der sich ebenso die Frage stellt, ob die weitgehende Regelung durch den Bund tatsächlich zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder zur Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse erforderlich ist.40 Mit der Zielsetzung, die Eigenständigkeit und Eigenverantwortung der Länder zu stärken, werden darüber hinausgehende Flexibilisierungen des Steuerrechts erwogen, auch dies mit guten Gründen. So kann es der demokratischen Selbstgestaltungsfähigkeit und Verantwortung auf Landesebene dienen, den Ländern Spielräume für Zuschläge zur und Abschläge von der Einkommen- und Körperschaftsteuer zu geben.41 Ein Land mag dann die Strategie verfolgen, sich durch etwas abgesenkte Steuersätze als Standort attraktiv aufzustellen, um Wirtschaftskraft zu generieren, oder aber etwas höhere Steuersätze zu verlangen, um ein Mehr an staatlichen Leistungen finanzieren zu können. Für den Bürger wird dadurch der unmittelbare Zusammenhang zwischen staatlichem Geben und notwendig vorausliegendem staatlichen Nehmen transparent. Derartige Korridore im Bereich der Ertragsteuern lassen sich ohne Verfassungsänderung eröffnen, indem sich der Bund insoweit aus der Steuergesetzgebung zurückzieht (konkurrierende Kompetenz gemäß Art. 105 Abs. 2 GG). An den fiskalischen Konsequenzen der landesautonomen Gestaltungen hat der Bund freilich über Art. 106 Abs. 3 GG teil. Soll diese Teilhabe unterbunden werden, bedürfte es einer Änderung des Art. 106 Abs. 3 GG. Auch diese Reformelemente im Bereich der Kompetenzordnung können dazu beitragen, die deutsche Bundesstaatlichkeit zu beleben, einen gemäßigten Wettbewerb von Konzepten auszulösen und dadurch das Gemeinwohl zu befördern. Die Solidarität unter den Bundesgliedern gerät durch eine solche Stärkung der Eigenständigkeit und Eigenverantwortung nicht in Gefahr. Denn es bleibt im Folgeschritt beim Finanzausgleich, der auf die ausgabenangemessene Ausstattung aller Glieder zielt. Entlastend kann für die Länder schließlich auch die derzeit erwogene Überführung des bislang allein dem Bund zustehenden Solidaritätszuschlags in die Einkommensteuer wirken, genauer die Aufhebung des Solidaritätszuschlags bei gleichzeitiger korrespondierender Erhöhung der Einkommensteuer als Gemeinschaftsteuer. Erbschaft- und Schenkungsteuer und die verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine Neuregelung, 2011, S. 239 ff.; Roman Seer, in: Tipke/Lang (Hrsg.), Steuerrecht, 21. Aufl. 2013, § 2 Rdnr. 42. 40 Kritisch auch Simon Kempny/Ekkehart Reimer, Neuordnung der Finanzbeziehungen – Aufgabengerechte Finanzverteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen, Gutachten D, in: Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des 70. Deutschen Juristentages Hannover 2014, Bd. I, 2014, S. D 77. 41 Jüngst Simon Kempny/Ekkehart Reimer, Neuordnung der Finanzbeziehungen – Aufgabengerechte Finanzverteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen, Gutachten D, in: Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des 70. Deutschen Juristentages Hannover 2014, Bd. I, 2014, S. D 53 f.; vorsichtig bejahend auch Ralf-P. Schenke, NJW 2014, S. 2542 (2544 f.); ablehnend dagegen Joachim Wieland, JZ 2014, S. 829 (834 f.).

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Wenngleich Ergänzungsteuern zeitlich nicht befristet sein müssen, auch wenn ihnen im Ausgangspunkt ein in der Zeit stehendes, historisches Ereignis zugrunde liegt,42 spricht doch vieles dafür, diejenigen finanzrechtlichen Regelungen, die das Ereignis der deutschen Einigung betreffen, auch den Solidarpakt II, auslaufen zu lassen, und die bundesstaatliche Finanzordnung in diesem Sinne in eine Normallage zu überführen. Das finanzielle Volumen aus dem Solidaritätszuschlag mag – in Gestalt von Einkommensteuerertrag über Art. 106 Abs. 3 GG verteilt – dazu dienen, die Bereitschaft, Reformen gerade auch im Bereich des Finanzausgleichs zuzustimmen, zu erhöhen. 5. Abrundung und Bewährung der Schuldenbremse Die Ausweitung der einnahmenseitigen Gestaltungsmöglichkeiten der Länder, gerade durch die Eröffnung von Besteuerungskorridoren bei den Ertragsteuern, ist umso notwendiger, als die Haushaltsfinanzierung durch Verschuldung den Ländern ab 2020 vollständig untersagt sein wird (Art. 109 Abs. 3, Art. 143d Abs. 1 GG). Hieran ist freilich streng festzuhalten. Dass eine nachhaltige Staatsfinanzierung43 einen Verzicht auf jede Nettoneuverschuldung und darüber hinaus einen Abbau des hohen Schuldenbergs und der daraus folgenden Zinslasten voraussetzt, ist mittlerweile – glücklicherweise – weitestgehend anerkannt. Die Staatsverschuldung gehört nicht zu dem „Hausgut“ der Länder als Staaten, das ihnen nicht ohne Verstoß gegen Art. 79 Abs. 3 GG entzogen werden darf.44 Was gleichwohl aussteht, ist die praktische Bewährung der Schuldenbremse. Es wird nun darauf ankommen, dass die Politik den stetigen Versuchungen, sich über die Schuldenbremse hinwegzusetzen, widersteht, und erkennt, dass Autonomie langfristig nur schuldenfrei wirklich werden kann.45 Einer Ergänzung bedarf die grundgesetzliche Schuldenbremse insoweit, als auch die kommunale Verschuldung und die Verschuldung durch sonstige Einrichtungen der mittelbaren Staatsverwaltung dem Regelungsregime unterworfen werden sollten; zum einen, um die Wirksamkeit der Schuldenbremse zu erhöhen, zum anderen auch deshalb, weil im Rahmen des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts

42 BVerfGE 32, 333 (340); BVerfG, NJW 2000, S. 797 (798); BVerfG, NJW 2011, S. 441 ff. 43 Umfassend dazu Wolfgang Kahl (Hrsg.), Nachhaltige Finanzstrukturen im Bundesstaat, 2011. 44 So die ganz h. M.; siehe im Zusammenhang mit der Einführung von Art. 109 Abs. 3 GG Christoph Ohler, DVBl. 2009, S. 1265 (1273); Henning Tappe, DÖV 2009, S. 881 (888); Christian Seiler, JZ 2009, S. 721 (727 f.); Stefan Korioth, JZ 2009, S. 729 (731 f.); Ulrich Häde, AöR Bd. 135 (2010), S. 541 (561 ff.); a. A. Bardo Fassbender, NVwZ 2009, S. 737 (740); Johannes Hancke, DVBl. 2009, S. 621 ff. 45 Zur Bedeutung dieser neuen politischen Kultur des Maßes und der Verantwortung Gregor Kirchhof, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Bd. 3, 6 Aufl. 2010, Art. 109a Rdnr. 20.

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ebenso vorgegangen wird.46 Die bundestreue Kooperation von Bund und Ländern zur Einhaltung der EU-rechtlichen Verschuldungsgrenze47 sollte schließlich, auch dies ein aktueller Reformbelang, institutionell und verfahrenstechnisch verfestigt werden, etwa durch eine Ausweitung der diesbezüglichen Koordinierungs- und Sanktionsbefugnisse des Stabilitätsrats.48 6. Kommunale Selbstverwaltung Für die kommunale Ebene ist die gebietskörperschaftliche Eigenständigkeit, hier in Gestalt der Selbstverwaltung, ausdrücklich in Art. 28 Abs. 2 GG garantiert. Art. 28 Abs. 2 Satz 3 GG stellt klar, dass sich diese Gewährleistung auch auf die Grundlagen der finanziellen Eigenverantwortung erstreckt. Zu diesen Grundlagen gehört, so die gleiche Bestimmung, eine den Gemeinden mit Hebesatzrecht zustehende wirtschaftskraftbezogene Steuerquelle. Diese wirtschaftskraftbezogene Steuerquelle ist gegenwärtig die Gewerbesteuer. Nicht nur aus – sehr tragfähigen – steuersystematischen Gründen, sondern auch zur nachhaltigen Sicherung der Gemeindefinanzierung sollte der schon seit einiger Zeit im Raum stehende Vorschlag erneut aufgenommen werden, die Gewerbesteuer durch Zuschläge der Gemeinden auf die Einkommen- und Körperschaftsteuer zu ersetzen (Art. 106 Abs. 5 Satz 3 GG).49 Die Grundsteuer sollte dagegen erhalten bleiben, allerdings im Bewertungsverfahren modernisiert und – wie die Erbschaftsteuer – jedenfalls teilweise in die Gesetzgebungskompetenz der Länder überführt werden.50 Eine neue, solide Fundierung der Gemeindefinanzen könnte die Eigenständigkeit und Eigenverantwortung der Gemeinden neu sichern und sie veranlassen, von weiteren, die künftige Selbstgestaltungsfähigkeit und auch die Rechtsstaatlichkeit gefährdenden Auswüchsen abzusehen, insbesondere Kassenkredite nur im verfassungs- und kommunalrechtlich eröffneten Rahmen aufzunehmen und Public Private Partnerships nur dort einzugehen, wo dies in der Sache sinnvoll ist.

46 So auch Simon Kempny/Ekkehart Reimer, Neuordnung der Finanzbeziehungen – Aufgabengerechte Finanzverteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen, Gutachten D, in: Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des 70. Deutschen Juristentages Hannover 2014, Bd. I, 2014, S. D 90 f.; Ralf-P. Schenke, NJW 2014, S. 2542 (2545 f.). 47 S. dazu oben II. 48 Aktuell dazu Wolfgang Schäuble, Den Gesamtstaat handlungsfähiger machen, in: FAZ vom 20. 9. 2014, S. 10. 49 Zuletzt Simon Kempny/Ekkehart Reimer, Neuordnung der Finanzbeziehungen – Aufgabengerechte Finanzverteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen, Gutachten D, in: Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des 70. Deutschen Juristentages Hannover 2014, Bd. I, 2014, S. D 63 ff.; ablehnend dagegen Joachim Wieland, JZ 2014, S. 829 (835). 50 S. dazu schon oben III. 4.

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Finanzielle Eigenständigkeit und Eigenverantwortung brauchen daneben auch die Kreise, zumal sie ihrerseits eigene, ihnen zugewiesene Aufgaben zu erfüllen und zu finanzieren haben. Dies führt zu dem Gedanken, auch den Kreisen einen Teil des Ertrag- oder auch Umsatzsteueraufkommens originär zuzuweisen. Letzteres könnte den kommunalen Finanzausgleich entlasten, der Ausdruck gebotener finanzieller Solidarität innerhalb eines Bundeslandes ist, der aber seinerseits nicht überspannt werden darf, um die Eigenständigkeit und Eigenverantwortung der Kommunen nicht zu schwächen. In diesem Licht ist auch das sich gegenwärtig verbreitende Instrument der Finanzausgleichsumlagen zu betrachten, das – strukturell neuartig – einen Finanzausgleich im horizontalen Verhältnis zwischen den Kommunen bewirkt und dabei von Art. 28 Abs. 2 GG sowohl gestützt wie auch beschränkt erscheint.51 Denn Finanzausgleichsumlagen sind, wie der Länderfinanzausgleich im Verhältnis zwischen den Ländern, einerseits solidarische Hilfen zur Herstellung finanzieller Autonomie, zugleich aber andererseits unmittelbare Einschränkungen von Eigenständigkeit und Folgenverantwortung. IV. Fazit und Ausblick Die bundesstaatlichen Finanzbeziehungen lassen sich gewinnbringend unter dem Gesichtspunkt des komplementären Verhältnisses von bundesstaatlicher Eigenständigkeit und Eigenverantwortung der Bundesglieder einerseits und bündischer Solidarität zwischen den Bundesgliedern andererseits beleuchten. Die Analyse zeigt, dass es breite Spielräume für die politische Austarierung der Balance zwischen Eigenverantwortung und Solidarität gibt, beispielsweise bei der Bemessung von Ausgleichssätzen im Rahmen des Länderfinanzausgleichs, dass aber zugleich die Eigenständigkeit und Eigenverantwortung, die unmittelbar aus der Staatlichkeit folgen, niemals ganz hintangestellt werden dürfen, soll nicht die Staatlichkeit selbst – namentlich der Länder – und damit unser historisch hergebrachtes Verständnis von Föderalismus in Frage gestellt werden. Letzteres verbietet eine allzu weitgehende Nivellierung der Finanzkraft auf der dritten und der vierten Ausgleichsstufe des bundesstaatlichen Finanzausgleichs wie auch eine Neugliederung der Länder nach vermeintlich zwingender Maßgabe ökonomischer Effizienz und spricht gegen eine umfangreiche Schuldenvergemeinschaftung durch die Schaffung eines Altschuldentilgungsfonds und durch die Begebung von Gemeinschaftsanleihen. Die Eigenverantwortung der Länder gebietet demgegenüber die Ausgestaltung eines bundesstaatlichen Staatsinsolvenzrechts und die Ausweitung der Gesetzgebungskompetenzen der Länder für diejenigen Steuern, deren Erträge ihnen ganz oder zum Teil zustehen. Schließlich ist auch die Schuldenbremse ein Instrument, das die Eigenständigkeit und Eigenverantwortung aller Bundesglieder sichert, indem sie die kurzfristige, 51 S. Hanno Kube, Kommunales Steuerkraftgefälle: Finanzausgleichsumlage, Solidaritätsumlage und kommunalbegünstigende Gewerbesteuerumlage als Lösungsansatz?, in: Henneke (Hrsg.), Gesicherte Kommunalfinanzen trotz Verschuldungs- und Finanzkrise, 2014, S. 31 (37 ff.).

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kaum je nachhaltige Schaffung finanzieller Handlungsspielräume über die Kreditaufnahme unterbindet. Auf kommunaler Ebene werden Eigenständigkeit und Eigenverantwortung durch die kommunale Selbstverwaltungsgarantie gesichert. Eine solide, auch künftige Selbstgestaltungsfähigkeit gewährleistende Kommunalfinanzierung könnte durch die Ersetzung der Gewerbesteuer durch gemeindliche Zuschläge auf die Einkommen- und Körperschaftsteuer unterstützt werden, auch durch die Schaffung einer originären steuerlichen Ertragshoheit der Kreise. Ebenso wie der bundesstaatliche Finanzausgleich muss auch der kommunale Finanzausgleich angemessen zwischen Eigenverantwortung und Solidarität vermitteln. Auf Seiten der Wissenschaft wird das Finanzverfassungsrecht von einer ganzen Reihe von Stimmen geprägt, die oftmals und in Vielem übereinstimmen, sich mitunter und gerade in Konkretisierungen, wie sie im vorliegenden Beitrag vorgenommen werden, aber auch unterscheiden. Die Stimme Rudolf Wendts ist eine der besonders gewichtigen Stimmen in diesem wissenschaftlichen Gespräch. Der Verfasser der vorstehenden Überlegungen freut sich auf dessen Fortsetzung.

Finanzierung und Haushaltsdisziplin der Europäischen Union Von Siegfried Magiera, Speyer In seinem umfangreichen wissenschaftlichen Werk hat sich Rudolf Wendt wiederholt mit Fragen der bundesstaatlichen Finanzverfassung befasst und dabei überzeugend hervorgehoben, dass es für ein stabiles und funktionsfähiges föderatives System nicht nur auf eine ausgewogene Kompetenzverteilung zwischen den staatlichen Ebenen ankommt, sondern insbesondere auch auf „die Verteilung der finanzrechtlichen Kompetenzen bzw. Finanzmittel, die beide benötigen, um ihre materiellen Kompetenzen sinnvoll wahrnehmen zu können“.1 Die „Finanzverteilung als ständige Aufgabe“, die er als Ergebnis für die Bundesrepublik Deutschland feststellt,2 zeigt sich auch im föderativen System der Europäischen Union bei einer näheren Betrachtung der Aufgaben- und Finanzverteilung zwischen der europäischen und der staatlichen Ebene. I. Von Finanzbeiträgen zu Eigenmitteln der Union 1. Begriff der Eigenmittel Im Anschluss an den nicht verwirklichten Vertrag über eine Verfassung für Europa wurden mit dem Vertrag von Lissabon über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) der Titel über die Finanzvorschriften erheblich überarbeitet und zuvor bestehende Lücken und Unklarheiten beseitigt oder doch verringert.3 Ausdrücklich haben das Europäische Parlament, der Rat und die Kommission nunmehr sicherzustellen, dass der Union die Finanzmittel zur Verfügung stehen, die es ihr ermöglichen, ihren rechtlichen Verpflichtungen gegenüber Dritten nachzukommen (Art. 323 AEUV). Damit wird zwar eine Selbstverständlichkeit ausgesprochen, die jedoch, soll sie nicht leerlaufen, auch die Mitgliedstaaten einbezieht, indem diese die von den Unionsorganen vorbereiteten Eigenmittelbeschlüsse genehmigen (Art. 311 Abs. 3 AEUV). Richtungsweisend ist dabei der vertraglich festgelegte 1 Rudolf Wendt, Finanzhoheit und Finanzausgleich, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band VI, 3. Aufl., 2008, § 139, S. 876 Rdnr. 1. 2 Ebd., S. 960 Rdnr. 141. 3 Vgl. – auch zum Folgen – näher Siegfried Magiera, Die Finanzordnung im Verfassungsvertrag der Europäischen Union, in: Festschrift für Georg Ress, 2005, S. 623 ff.; ders., in: Eberhard Grabitz/Meinhard Hilf/Martin Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 2012, Art. 310 bis 325 AEUV (Finanzvorschriften) mit weiteren Nachweisen.

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Grundsatz, wonach sich die Union mit den erforderlichen (Finanz-)Mitteln ausstattet, um ihre Ziele erreichen und ihre Politik, d. h. ihre Aufgaben, durchführen zu können (Art. 311 Abs. 1 AEUV). Die Art der Finanzmittel der Union ist vertraglich nicht näher bestimmt. Vorgegeben wird lediglich, dass der Haushalt der Union – unbeschadet der sonstigen Einnahmen – vollständig aus Eigenmitteln finanziert wird (Art. 311 Abs. 2 AEUV). Alles Nähere bleibt damit dem Eigenmittelbeschluss überlassen, der neue Kategorien von Eigenmitteln einführen oder bestehende Kategorien abschaffen kann sowie vom Rat auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Parlaments einstimmig zu erlassen und von den Mitgliedstaaten zu ratifizieren ist (Art. 311 Abs. 3 AEUV). Ein beachtlicher Anhaltspunkt für die Bestimmung des Eigenmittelbegriffs ergibt sich allerdings aus der Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Vertragsrechts. Nach dem ursprünglichen Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft von 1957 (EWGV) umfasste der Haushalt – unbeschadet anderer Einnahmen – zunächst Finanzbeiträge der Mitgliedstaaten (Art. 200 EWGV). Zugleich wurde jedoch der Kommission vertraglich aufgegeben zu prüfen, unter welchen Bedingungen diese Finanzbeiträge durch eigene Mittel ersetzt werden können, sowie dem Rat dazu Vorschläge zu unterbreiten; nach Anhörung des Parlaments konnte der Rat einstimmig die entsprechenden Bestimmungen festlegen und den Mitgliedstaaten zur Annahme empfehlen (Art. 201 EWGV). Damit sind die Eigenmittel der Union vertraglich zwar nicht positiv, jedoch negativ dahin bestimmt, dass es sich nicht um Finanzbeiträge der Mitgliedstaaten handeln darf.4 Kennzeichnend für Letztere ist, dass sie der Union aus Haushaltsmitteln der Mitgliedstaaten bereitgestellt werden, die erst mit der Übertragung auf die Union zu deren Finanzmitteln werden, unabhängig davon, ob die Union auf diese Mittel einen Anspruch hat oder nicht. Im Unterschied dazu ist für Eigenmittel bestimmend, dass sie zwar ihre Grundlage in einem von den Unionsorganen erlassenen und von den Mitgliedstaaten angenommenen Rechtsakt haben, jedoch vom weiteren Willen der Mitgliedstaaten unabhängig zugunsten der Union anfallen und ihr zu überlassen sind. 2. Bisherige Entwicklung von Eigenmittelkategorien Die einzelnen Arten von Eigenmitteln sind in dem vom Rat zu erlassenden und von den Mitgliedstaaten anzunehmenden Beschluss über das System der Eigenmittel festzulegen, in dem auch neue Kategorien von Eigenmitteln eingeführt oder bestehende Kategorien abgeschafft werden können (Art. 311 Abs. 3 AEUV). Der Hinweis auf die Einführung bzw. Abschaffung der Kategorien durch den Eigenmittelbeschluss (EMB) erfolgt erstmals im Vertrag von Lissabon, der damit jedoch lediglich die bisherige Praxis bestätigt. Im Übrigen sind die Eigenmittelkategorien weiterhin

4 Zur Abgrenzung vgl. auch EuGH, Rs. 93/85, Kommission/Vereinigtes Königreich, Slg. 1986, 4011 Rdnr. 25.

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durch den Eigenmittelbeschluss und nach der Maßgabe zu bestimmen, dass es sich um Finanzmittel handeln muss, die keine Finanzbeiträge der Mitgliedstaaten sind. Wie schon der erste Beschluss vom 21. 04. 1970 „über die Ersetzung der Finanzbeiträge der Mitgliedstaaten durch eigene Mittel der Gemeinschaften“5 so legt auch der inzwischen siebente Beschluss vom 26. 05. 2014 „über das Eigenmittelsystem der Europäischen Union“6 als Eigenmittel Einnahmen aus Agrarabgaben und Zöllen sowie aus einer Beteiligung an der Mehrwertsteuer fest und darüber hinaus seit dem dritten Eigenmittelbeschluss vom 24. 06. 19887 ergänzende Einnahmen, die nach einem einheitlichen Satz auf den Gesamtbetrag des Bruttosozialprodukts (BSP) bzw. seit dem fünften Eigenmittelbeschluss vom 29. 09. 20008 des Bruttonationaleinkommens (BNE) der Mitgliedstaaten errechnet werden. Die Auswahl der Kategorien lässt sich zurückführen bei den Agrarabgaben und Zöllen auf die Anforderungen der Zollunion und des Binnenmarkts, bei der Mehrwertsteuer auf die Harmonisierung ihrer Bemessungsgrundlage und bei den BSP-/BNE-Einnahmen auf den Wunsch, dass „die von den Mitgliedstaaten abzuführenden Mittel besser ihrer jeweiligen Beitragskapazität entsprechen“.9 Agrarabgaben und Zölle, nunmehr auch im Eigenmittelbeschluss als „traditionelle Eigenmittel“ bezeichnet, umfassen Einnahmen aus dem Warenverkehr mit Drittstaaten und aus Anforderungen der Gemeinsamen Marktorganisation für Zucker und Isoglukose (Art. 2 Abs. 1 lit. a EMB 2014). Die Übertragung insbesondere der „Einnahmen aus dem Gemeinsamen Zolltarif nach dessen endgültiger Einführung“ von den Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft war schon als Beispiel für die Ablösung der Finanzbeiträge durch eigene Gemeinschaftsmittel vorgesehen (Art. 201 Abs. 1 EWGV). Die traditionellen Eigenmittel werden jedoch weiterhin von den Mitgliedstaaten nach ihren innerstaatlichen Vorschriften erhoben, die gegebenenfalls den Erfordernissen des Unionsrechts anzupassen sind, und der Kommission gemäß einer Unionsverordnung zur Verfügung gestellt.10 Von diesen Eigenmitteln behalten die Mitgliedstaaten nunmehr 20 % als Erhebungskosten ein,11 die somit das Haushaltsvolumen der Union entsprechend verringern. Die traditionellen Eigenmittel bezwe5

Beschluss 70/243/EGKS, EWG, Euratom, ABl. 1970 L 94/19. Beschluss 2014/335/EU, Euratom, ABl. 2014 L 168/105. 7 Beschluss 88/376/EWG, Euratom, ABl. 1988 L 185/24. 8 Beschluss 2000/597 EG, Euratom, ABl. 2000 L 253/42. 9 EMB 1988 (10. Erwägungsgrund). 10 EMB 2014 (Art. 8); VO (EU, Euratom) Nr. 609/2014 des Rates v. 26. 5. 2014 zur Festlegung der Methoden und Verfahren für die Bereitstellung der traditionellen, der MwSt.– und der BNE-Eigenmittel sowie der Maßnahmen zur Bereitstellung der erforderlichen Kassenmittel, ABl. 2014 L 168/39. 11 Zunächst belief sich der Betrag auf 10 % und wurde zudem aus dem Gemeinschaftshaushalt erstattet (EMB 1970); später konnten ihn die Mitgliedstaaten einbehalten (seit EMB 1988) und wurde er auf 25 % erhöht (seit EMB 2000). Die Kommission hatte für die Zeit ab 2014 im „Geist der Transparenz und Gerechtigkeit“ eine Rückkehr zu dem Anfangsbetrag von 10 % vorgeschlagen, KOM(2011) 510, S. 8, 17, KOM(2011) 739, S. 11. 6

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cken in erster Linie einen Schutz des Binnenmarkts der Union, nicht deren Haushaltsfinanzierung und unterliegen zudem Absenkungen und Schwankungen im Rahmen des Welthandels. Ihr Anteil an den Haushaltseinnahmen der Gemeinschaft/Union erhöhte sich bis zur Einführung der MwSt.-Eigenmittel zunächst von 27 % (1971) auf 52 % (1978) und verringerte sich danach wiederum von 48 % (1979) auf 12 % (2012).12 Die Einnahmen der Union aus der Mehrwertsteuer ergeben sich aus der Anwendung eines für alle Mitgliedstaaten einheitlichen Satzes von derzeit 0,3 % auf die nach Unionsrecht bestimmte harmonisierte MwSt.-Eigenmittelbemessungsgrundlage, die auf 50 % des Bruttonationaleinkommens eines jeden Mitgliedstaats begrenzt ist (Art. 2 Abs. 1 lit. b, Abs. 4 EMB 2014). Die Mehrwertsteuer wurde als Einnahmequelle für den Unionshaushalt ausgewählt, weil sie am ehesten harmonisierbar erschien, was schließlich mit der MwSt.-Richtlinie von 1977 gelang, nachdem alle Mitgliedstaaten das System der Mehrwertsteuer ab 1973 eingeführt hatten.13 Ihre Regelungen haben sich jedoch als komplex und änderungsbedürftig sowie im Hinblick auf die Beitragsgerechtigkeit zwischen den Mitgliedstaaten als dauerhaft umstritten erwiesen.14 Dies galt insbesondere für die Einschätzung der Mehrwertsteuer als „regressiv“, d. h. als nachteilig für weniger wohlhabende Mitgliedstaaten, was jedoch durch neuere Faktenanalysen nicht bestätigt wird.15 Im Laufe der Entwicklung wurde der einheitliche Abrufsatz von ursprünglich 1 % (EMB 1970) zunächst auf 1,4 % angehoben (EMB 1985) sowie anschließend wieder stufenweise auf 1 % (EMB 1994), dann auf 0,5 % (EMB 2000) und schließlich auf 0,3 % (EMB 2007 und 2014) herabgesetzt. Hinzu kamen ferner die allgemeine Kappungsgrenze16 sowie entlastende Sonderregelungen zugunsten einzelner Mitgliedstaaten, insbesondere des Vereinigten Königreichs,17 später auch Deutschlands,18 der Niederlande, 12

Kommission, Finanzbericht 2005, S. 160 f.; Kommission, Finanzbericht 2012, S. 110. Sechste RL 77/388/EWG des Rates v. 17. 5. 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ¢ Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerliche Bemessungsgrundlage, ABl. 1977 L 145/1; ersetzt durch RL 2006/ 112/EG des Rates v. 28. 11. 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, ABl. 2006 L 247/1. 14 Neben den Eigenmittelbeschlüssen vgl. insbesondere VO (EU, Euratom) Nr. 609/2014 des Rates v. 26. 5. 2014 zur Festlegung der Methoden und Verfahren für die Bereitstellung der traditionellen, der MwSt.– und der BNE-Eigenmittel sowie der Maßnahmen zur Bereitstellung der erforderlichen Kassenmittel, ABl. 2014 L 168/39, und VO (EWG, EURATOM) Nr. 1553/ 89 des Rates v. 29. 5. 1989 über die endgültige einheitliche Regelung für die Erhebung der Mehrwertsteuereigenmittel, ABl. 1989 L 155/9, sowie Kommission, Vorschlag für eine VO des Rates zur Festlegung der Methoden und Verfahren für die Bereitstellung der Eigenmittel auf der Grundlage der Mehrwertsteuer, KOM(2011) 737. 15 Kommission, Finanzierung des EU-Haushalts: Bericht über das Funktionieren des Eigenmittelsystems, SEK(2011) 876, S. 31; vgl. auch Anna Kaßmann, Beitragsgerechtigkeit bei der Finanzierung der Europäischen Union, 2012, S. 53 ff. 16 Zunächst in Höhe von 55 % (EMB 1988), sodann in Höhe von 50 % des BSP/BNE (seit EMB 1994). 17 Seit EMB 1985 (Art. 3 Abs. 3 und 4). 13

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Österreichs und Schwedens.19 Dementsprechend veränderte sich der Anteil der Mehrwertsteuer an den Haushaltseinnahmen der Union erheblich und stieg von zunächst 51 % (1979) auf bis zu 70 % (1986), verringerte sich anschließend jedoch kontinuierlich auf 11 % (2012).20 Die BNE-Einnahmen der Union ergeben sich gegenwärtig – unbeschadet zahlenmäßig begrenzter Entlastungen zugunsten Dänemarks, der Niederlande, Österreichs und Schwedens – aus der Anwendung eines im Rahmen des jährlichen Haushaltsverfahrens unter Berücksichtigung aller übrigen Einnahmen festzulegenden einheitlichen Satzes auf den Gesamtbetrag des Bruttonationaleinkommens der Mitgliedstaaten (Art. 2 Abs. 1 lit. c EMB 2014). Sie erhöhten sich schrittweise von 10,2 % (1988) auf 70,3 % (2012).21 Zu den übrigen Einnahmen gehören insbesondere die Steuern auf die Bezüge der Unionsbediensteten sowie Einnahmen aus der Verwaltungstätigkeit (u. a. Veräußerung von Vermögensgegenständen, Mieteinnahmen, Zinserträge, Geldbußen). Es handelt sich um vergleichsweise geringe Beträge, deren Anteil am gesamten Haushaltsvolumen sich allmählich von 0,3 % (1970) auf 6,2 % (2012) erhöht hat.22 3. Reformansätze für das Eigenmittelsystem Die mit dem Eigenmittelbeschluss von 1970 begonnene „Ersetzung der Finanzbeiträge der Mitgliedstaaten durch eigene Mittel der Gemeinschaften“ ist somit formell erfolgt, materiell jedoch umstritten und im Ergebnis unbefriedigend. Als „echte Eigenmittel“ der Union allgemein anerkannt sind lediglich die „traditionellen Eigenmittel“ aus Agrarabgaben und Zöllen, während die BNE-Einnahmen allgemein als Finanzbeiträge angesehen werden. Umstritten ist die Einordnung der MwSt.-Einnahmen, die jedoch ebenso wie die traditionellen Eigenmittel von den Mitgliedstaaten erhoben werden und der Union zur Verfügung zu stellen sind.23 Auch im Hinblick auf die Ertragskompetenz unterscheiden sich beide Einnahmenquellen nicht mehr eindeutig, seitdem die Mitgliedstaaten einen prozentualen Anteil der von ihnen erhobenen traditionellen Eigenmittel vorab einbehalten dürfen anstatt ¢ wie anfänglich ¢ den gesamtem Betrag an die Union abzuführen und anschließend einen Erhebungsbeitrag aus dem Unionshaushalt zu erhalten.24 Insofern handelt es sich im Er18

Seit EMB 1988 (Art. 2 Abs. 4). Seit EMB 2000 (Art. 2 Abs. 4); gegenwärtig begünstigt infolge eines Abrufsatzes von nur 0,15 % sind noch Deutschland, die Niederlande und Schweden (Art. 2 Abs. 4 EMB 2014). 20 Kommission, Finanzbericht 2005, S. 160 f.; Kommission, Finanzbericht 2012, S. 110. 21 Ebd. 22 Ebd. 23 EMB 2014 (Art. 8); VO (EU, Euratom) Nr. 609/2014 des Rates v. 26. 5. 2014 zur Festlegung der Methoden und Verfahren für die Bereitstellung der traditionellen, der MwSt.– und der BNE-Eigenmittel sowie der Maßnahmen zur Bereitstellung der erforderlichen Kassenmittel, ABl. 2014 L 168/39. 24 Vgl. oben, Fn. 11. 19

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gebnis auch bei den traditionellen Eigenmitteln um eine zwischen Union und Mitgliedstaaten geteilte Einnahmequelle. Gleiches gilt für die MwSt.-Einnahmen, an denen die Mitgliedstaaten und die Union ebenfalls nach unionsrechtlich bestimmten Anteilen beteiligt sind, die lediglich in einem weitaus komplexeren Verfahren konkret zu bestimmen sind.25 Je nachdem, ob allein die BNE-Einnahmen oder diese zusammen mit den MwSt.-Einnahmen nicht als „echte Eigenmittel“ der Union anzusehen sind, belaufen sich die noch abzulösenden Finanzbeiträge der Mitgliedstaaten auf mehr als 70 % oder 80 % der Finanzmittel der Union. Die Unzufriedenheit mit dem Eigenmittelsystem kam kontinuierlich in Beschlüssen des Europäischen Rates26 und in den Eigenmittelbeschlüssen27 zum Ausdruck, in denen die Kommission aufgefordert wurde, eine teilweise und zuletzt eine generelle Überprüfung des Eigenmittelsystems vorzunehmen.28 In seiner Entschließung zur Zukunft der Eigenmittel der Europäischen Union hatte das Parlament neben der Mehrwertsteuer Einnahmen aus zwölf weiteren Steuerarten in Betracht gezogen, nämlich aus Steuern auf Treibstoff, Tabak und Alkohol, Unternehmensgewinne, Wertpapierhandel, Verkehrs- oder Telekommunikationsdienste, Einkommen, Zinserträge, EZB-Gewinne, Umwelt, Währungstransaktionen, Ersparnisse und Finanztransaktionen.29 Die Kommission erörterte neben der Mehrwertsteuer lediglich fünf weitere Einnahmequellen, und zwar aus dem Finanzsektor, dem Emissionshandel, der Luftfahrt, einer Energiesteuer und einer Körperschaftssteuer.30 In ihren vom Europäischen Parlament unterstützten Vorschlägen für den Eigenmittelbeschluss 2014 beschränkte sich die Kommission unter Beibehaltung der traditionellen Eigenmittel und der ergänzenden BNE-Eigenmittel auf eine Reform der MwSt.-Eigenmittel und die Einführung einer Finanztransaktionssteuer.31 Der vom Rat erlassene Eigenmittelbeschluss 2014 hat die Änderungsvorschläge nicht übernommen, sondern die bisherigen Eigenmittelkategorien beibehalten.

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VO (EWG, EURATOM) Nr. 1553/89 des Rates v. 29. 5. 1989 über die endgültige einheitliche Regelung für die Erhebung der Mehrwertsteuereigenmittel, ABl. 1989 L 155/9. 26 Erstmals 1992 in Edinburg, Bull.EG 12 – 1992, Ziff. I.47. 27 Erstmals im EMB 1994 (Art. 10). 28 EMB 2007 (Art. 9). 29 Entschließung v. 29. 3. 2007, Ziff. 37 ff., ABl. 2008 C 27E/214. 30 Kommission, Überprüfung des EU-Haushalts, KOM(2010) 700, S. 31; Kommission, Finanzierung des EU-Haushalts: Bericht über das Funktionieren des Eigenmittelsystems, SEK (2011) 876, S. 29 ff. 31 Kommission, Vorschlag für einen Beschluss des Rates über das Eigenmittelsystem der Europäischen Union, KOM(2011) 510; Kommission, Geänderter Vorschlag für einen Beschluss des Rates über das Eigenmittelsystem der Europäischen Union, KOM(2011) 739; Europäisches Parlament, Bericht (Dehaene, Jensen) über den Entwurf eines Beschlusses des Rates über das Eigenmittelsystem der Europäischen Union v. 7.4.2014, EP-Dok. A7 – 0271/ 2014, S. 11; vgl. dazu auch Jacques Buisson, Vers de nouvelles ressources propres: à la recherche du contribuable européen, in: Mélanges en l’honneur du Professeur Joel Molinier, Paris 2012, S. 119 ff.

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Die Gründe für die Stagnation bei der Entwicklung des Eigenmittelsystems der Union sind vielfältig und seit langem nahezu unverändert zu verzeichnen.32 Neue oder geänderte Eigenmittel müssen einen Beitrag zur Finanzautonomie der Union leisten, dürfen keinen Rückschritt zu Finanzbeiträgen der Mitgliedstaaten bewirken. Sie müssen zudem angemessen im Verhältnis zu den Aufgaben und Ausgaben der Union wie der Leistungsfähigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten sein. Da die in Betracht kommenden Finanzierungsquellen hinsichtlich ihrer Ergiebigkeit und Einziehbarkeit begrenzt und von den Mitgliedstaaten weitestgehend ausgeschöpft sind, lassen sich neuartige Finanzierungsquellen für die Eigenmittel der Union kaum erschließen. Die Beschränkung der vom Parlament und von der Kommission erwogenen zahlreichen neuen Finanzquellen auf eine einzige in dem unterbreiteten Vorschlag für den Eigenmittelbeschluss 2014 hat diese Annahmen bestätigt. Auch ähnelt die neue Finanztransaktionssteuer in ihrer geplanten Ausgestaltung33 den MwSt.-Eigenmitteln, deren System zudem trotz der geplanten Neugestaltung34 weiterhin komplexer Natur wäre.35 Selbst bei vollständiger Verwirklichung der vorgeschlagenen Reform und günstiger Entwicklung der Eigenmittel würde der Anteil der BNE-Einnahmen und damit der materiellen Finanzbeiträge der Mitgliedstaaten an den Haushaltsmitteln der Union im Jahr 2020 immer noch 40,2 % ¢ gegenüber 74,2 % (genauer 70,3 %36) im Jahr 2012 ¢ betragen.37 Eine förmliche Überprüfungsaufforderung an die Kommission, wie sie üblich geworden war, ist in dem Eigenmittelbeschluss von 2014 nicht erfolgt. Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass damit eine Zufriedenheit mit dem erreichten Eigenmittelsystem eingetreten ist und die Suche nach einer Verbesserung eingestellt wurde. Vielmehr hat der Europäische Rat den Rat aufgefordert, die Arbeit an der von der Kom32 Ausführlich dazu Siegfried Magiera, Die Finanzierungsgrenzen der Europäischen Gemeinschaften und ihre Erweiterung, in: Festschrift für Karl Carstens, Band 1, 1984, S. 185 (200 ff.). 33 Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über das gemeinsame Finanztransaktionssteuersystem und zur Änderung der Richtlinie 2008/7/EG, KOM(2011) 594; Kommission, Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Festlegung der Methoden und Verfahren für die Bereitstellung der Eigenmittel auf der Grundlage der Finanztransaktionssteuer, KOM(2011) 738. 34 Kommission, Grünbuch über die Zukunft der Mehrwertsteuer, KOM(2010) 695; Kommission, Vorschlag für einen Beschluss des Rates über das Eigenmittelsystem der Europäischen Union, KOM(2011) 510, S. 4 ff., 17; Kommission, Finanzierung des EU-Haushalts: Bericht über das Funktionieren des Eigenmittelsystems, SEK(2011) 876, S. 41 ff.; Kommission, Geänderter Vorschlag für einen Beschluss des Rates über das Eigenmittelsystem der Europäischen Union, KOM(2011) 739, S. 3, 10. 35 Rechnungshof, Stellungnahme Nr. 2/2012, Ziff. 6, 17 f., ABl. 2012 C 112/1. 36 So die neuere Berechnung gemäß dem Finanzbericht der Kommission für 2012, S. 110. 37 Kommission, Vorschlag für einen Beschluss des Rates über das Eigenmittelsystem der Europäischen Union, KOM(2011) 510, S. 6; zurückhaltender hinsichtlich der erreichbaren Verringerung Rechnungshof, Stellungnahme Nr. 2/2012, Ziff. 31 ff., 51, ABl. 2012 C 112/1.

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mission vorgeschlagenen Mehrwertsteuerreform fortzusetzen, und zugleich die an einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Finanztransaktionssteuer teilnehmenden Mitgliedstaaten38 ersucht zu prüfen, ob dies zu einer neuen Eigenmittelkategorie für den Haushalt der Union führen könnte, ohne Auswirkungen auf die nicht teilnehmenden Mitgliedstaaten oder den Korrekturmechanismus zugunsten des Vereinigten Königreichs zu haben.39 Ferner haben die Präsidenten des Parlaments, des Rates und der Kommission eine hochrangige Gruppe einberufen, die eine allgemeine Überprüfung des Systems der Eigenmittel vornehmen und Ende 2014 eine erste Bewertung abgeben soll, die 2016 auf einer interinstitutionellen Konferenz mit den nationalen Parlamenten erörtert werden und anschließend der Kommission dazu dienen soll, mögliche neue Eigenmittelinitiativen zu ergreifen.40 Richtschnur für die Reformüberlegungen sollen danach die allgemeinen Ziele der Einfachheit, Transparenz und Gerechtigkeit sowie der demokratischen Rechenschaftspflicht sein. Die begrenzte Wegweisung des Europäischen Rates, der sich die drei anderen Unionsorgane angeschlossen haben, und die langjährigen Erfahrungen lassen nur bescheidene Fortschritte erwarten. Dies gilt zunächst für die Finanztransaktionssteuer, an deren Einführung im Rahmen einer Verstärkten Zusammenarbeit bisher nur elf Mitgliedstaaten, darunter Deutschland und Frankreich, nicht aber das Vereinigte Königreich beteiligt sind, und für die eine unionsweite Zustimmung in absehbarer Zeit nicht zu erwarten ist.41 Erfolgversprechender erscheint es, die Komplexität des Mehrwertsteuersystems zu verringern und, da die Union schon Anteil an dieser Steuer hat, dessen Höhe an die Aufgaben- und Ausgabenbedürfnisse der Union anzupassen, wobei die inzwischen als weniger gravierend festgestellte „regressive“ Wirkung42 nochmals zu überprüfen und gegebenenfalls abzumildern wäre. Dennoch dürfte es ohne eine fundamentale Kehrtwendung der Mitgliedstaaten kaum möglich sein, die Anforderung des Vertragsrechts, wonach der Unionshaushalt vollständig aus Eigenmitteln finanziert wird, zu erfüllen.43 Schon eine Begrenzung der BNE-Einnahmen und damit der noch erhaltenen materiellen Finanzbeiträge der Mitgliedstaaten auf etwa die Hälfte der Haushaltsmittel der Union wäre ein erheblicher Fortschritt. 38 Beschluss 2013/52/EU des Rates v. 22. 1. 2013 über die Ermächtigung zu einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Finanztransaktionssteuer, ABl. 2013 L 22/11. 39 Europäischer Rat, Schlussfolgerungen v. 7./8. 2. 2013, EUCO 37/13, S. 44. 40 Gemeinsame Erklärung zu den Eigenmitteln, Anhang zur Legislativen Entschließung des Europäischen Parlaments v. 16. 4. 2014 zu dem Entwurf eines Beschlusses des Rates über das Eigenmittelsystem der Europäischen Union, EP-Dok. P7_TA(2014)0432. 41 Vgl. Beschluss 2013/52/EU des Rates v. 22. 1. 2013 über die Ermächtigung zu einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Finanztransaktionssteuer, 5. Erwägungsgrund, ABl. 2013 L 22/11; ferner ¢ zu Bedenken im Hinblick auf den unionsbegrenzten Bereich der Steuer ¢ Rechnungshof, Stellungnahme Nr. 2/2012, Ziff. 32 f., ABl. 2012 C 112/1. 42 Vgl. oben, Fn. 15. 43 Vgl. auch Vincent Dussard, L’impossible création d’un impôt européen?, Revue française d’administration publique 2012, 1085 (1090 f.); Vlad Constantinesco, Le financement de l’Union européenne: contribution nationale ou impôt européen?, ebd., 1079 (1083 f.).

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II. Haushaltsdisziplin der Union 1. Ausgleich von Einnahmen und Ausgaben Mit der vertraglich vorgesehenen Ablösung der mitgliedstaatlichen Finanzbeiträge durch eigene Finanzmittel erhält die Union die Möglichkeit zur Entwicklung einer eigenverantwortlichen Haushaltswirtschaft im Rahmen der ihr obliegenden Aufgabenwahrnehmung. Die damit verbundene Finanzautonomie führt zu einer Entkopplung der Unionshaushaltsmittel von den mitgliedstaatlichen Haushaltsmitteln. Ohne diese Entkopplung, die mit den bisherigen Eigenmittelbeschlüssen nur unvollkommen erreicht werden konnte, bleibt es bei gravierenden Problemen, die mit den Finanzbeiträgen verbunden sind und sich unter dem Stichwort „Beitragsgerechtigkeit“ zusammenfassen lassen. Schon die ursprünglichen Finanzbeiträge waren entsprechend der Größe und der wirtschaftlichen Stärke der Mitgliedstaaten gestaffelt, und zwar nach unterschiedlichen Aufbringungsschlüsseln für den allgemeinen Haushalt und den Europäischen Sozialfonds (Art. 200 EWGV). Auf der Ausgabenseite wurde zudem angestrebt, mit gemeinschaftlichen Finanzhilfen den Abstand zwischen einzelnen Gebieten und den Rückstand weniger begünstigter Gebiete zu verringern (Präambel EWGV). Auch unter dem Vertrag von Lissabon ist es Ziel und Aufgabe der Union, den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern (u. a. Art. 3 Abs. 3 UAbs. 3 EUV; Art. 174 AEUV). Allgemein lässt sich daraus schließen, dass auf der Einnahmenseite an die Leistungsfähigkeit der Beitragsleistenden und auf der Ausgabenseite an die Bedürftigkeit der Leistungsempfänger abzustellen ist.44 Im Einzelnen sind diese Maßstäbe jedoch nur schwierig zu handhaben. Obwohl die vertraglich gebotene Solidarität und die damit angestrebte Konvergenz zwischen den Mitgliedstaaten eine gewisse Umverteilung von den wohlhabenderen auf die bedürftigeren Mitgliedstaaten und Regionen erfordert, ist die Auseinandersetzung um die Finanzierung der Union kontinuierlich von der sog. Nettozahler-Position geprägt.45 Ihr liegt die Vorstellung zugrunde, dass es sich bei den der Union aus einem Mitgliedstaat zur Verfügung gestellten Finanzmitteln um nationale Haushaltsmittel handelt, denen Ansprüche auf Fördermittel aus dem Unionshaushalt gegenüberzustellen sind. Auch wenn ein „juste retour“, d. h. ein voller Ausgleich zwischen Ein- und Auszahlungen, keinen erkennbaren Sinn macht und zudem nicht mit dem Vertragsrecht vereinbar ist, prägt und erschwert der ihm 44 Vgl. dazu auch Protokoll zum EU-Vertrag von Maastricht über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt, ABl. 1992 C 191/93; Europäischer Rat v. 24./25. 3. 1999, Schlussfolgerungen, Bull.EU 3 – 1999, Ziff. I.34.67 f.; Europäischer Rat v. 8.2.2013, Schlussfolgerungen (Mehrjähriger Finanzrahmen), EUCO 37/13, S. 10; EMB 2014 (3. Erwägungsgrund). 45 Näher dazu Matthias Niedobitek, in: Rudolf Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl., 2012, Art. 311 Rdnr. 36 ff.; Anna Kaßmann, Beitragsgerechtigkeit bei der Finanzierung der Europäischen Union, 2012, S. 87 ff.

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zugrundeliegende Gedanke kontinuierlich das Zustandekommen der Eigenmittelbeschlüsse bis in die Gegenwart. Da der Haushalt der Union unbeschadet der sonstigen Einnahmen aus Eigenmitteln zu finanzieren ist (Art. 311 Abs. 2 AEUV) und der jährliche Haushaltsplan in Einnahmen und Ausgaben auszugleichen ist (Art. 310 Abs. 1 AEUV), richtet sich die jährliche Höhe der BNE-Einnahmen und damit der materiellen Finanzbeiträge der Mitgliedstaaten nach der Differenz zwischen den Ausgaben der Union und den verfügbaren Mitteln aus den Agrarabgaben, Zöllen, MwSt.-Einnahmen und sonstigen Einnahmen der Union. Da die Union über keine Befugnis zur allgemeinen Kreditfinanzierung ihres Haushalts verfügt,46 und um die Höhe der flexiblen BNEEinnahmen zu begrenzen, unterliegt die Union einer strikten Haushaltsdisziplin (Art. 310 Abs. 4 AEUV) und einem mehrjährigen Finanzrahmen (Art. 312 AEUV). Dementsprechend legt der Eigenmittelbeschluss eine jährliche Obergrenze für die verfügbaren Eigenmittel der Union fest, die sich für Zahlungen auf 1,23 % und für Verpflichtungen auf 1,29 % der BNE-Summe der Mitgliedstaaten beläuft,47 und werden die jährlichen Obergrenzen durch den mehrjährigen Finanzrahmen nach einzelnen Ausgabenkategorien aufgefächert und festgelegt (Art. 312 Abs. 3 AEUV). 2. Mehrjähriger Finanzrahmen Während das Vertragsrecht von Anfang an Bestimmungen über den jährlich aufzustellenden Haushaltsplan der Gemeinschaft enthielt (Art. 203 EWGV), sind Bestimmungen über den mehrjährigen Finanzrahmen erst durch den Vertrag von Lissabon hinzugekommen (Art. 312 AEUV). Der Bedarf einer längerfristigen Einnahmen- und Ausgabenplanung hatte sich jedoch schon sehr viel früher gezeigt. Er war begründet in der unterschiedlichen Kompetenzausstattung von Rat und Parlament in den Verfahren der Rechtssetzung und der Haushaltsaufstellung, die zu zahlreichen Konflikten und Auseinandersetzungen vor dem Gerichtshof führte. Im Anschluss an wenig ergiebige Versuche einer Rechtssetzungs- und Haushaltskonzertierung seit Beginn der 1970er Jahre gelang schließlich eine erhebliche Verbesserung aufgrund von periodisch erneuerten Interinstitutionellen Vereinbarungen zwischen Parlament, Rat und Kommission „über die Haushaltsdisziplin und zur Verbesserung des Haushaltsverfahrens“.48 Ihnen beigefügt war jeweils eine finanzielle Vorausschau für 46 Art. 17 VO (EU, EURATOM) Nr. 966/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25. 10. 2012 über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Union …, ABl. 2012 L 298/1; näher dazu Matthias Niedobitek, in: Rudolf Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl., 2012, Art. 310 Rdnr. 28, Art. 311 Rdnr. 27; Stefan Storr, Die Finanzverfassung der Union, in: Matthias Niedobitek (Hrsg.), Europarecht – Grundlagen der Union, 2014, § 9, S. 783 (814 ff.). 47 EMB 2014 (Art. 3). 48 Erstmals 1988, ABl. 1988 L 185/33; danach 1993, ABl. 1993 C 331/1; 1999, ABl. 1999 C 172/1; 2006, ABl. 2006 C 139/1; vgl. dazu auch Kommission, Bericht an das Europäische Parlament und den Rat über die Durchführung der Interinstitutionellen Vereinbarung über die Haushaltsdisziplin und die wirtschaftliche Haushaltsführung, KOM(2010) 185; Matthias

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anfänglich fünf, später sieben Jahre als Bezugsrahmen für die interinstitutionelle Haushaltsdisziplin. In Nachfolge der finanziellen Vorausschau soll nunmehr der mehrjährige Finanzrahmen sicherstellen, dass die Ausgaben der Union innerhalb der Eigenmittelgrenzen eine geordnete Entwicklung nehmen; er soll für einen Zeitraum von mindestens fünf Jahren aufgestellt werden und ist bei der Aufstellung des jährlichen Haushaltsplans einzuhalten (Art. 312 Abs. 1 AEUV). Zusammen mit allen sonstigen für den reibungslosen Ablauf des jährlichen Haushaltsverfahrens sachdienlichen Bestimmungen ist er durch eine Verordnung vom Rat einstimmig nach Zustimmung des Parlaments festzulegen (Art. 312 Abs. 3 AEUV). Dementsprechend enthält die erste Verordnung über den mehrjährigen Finanzrahmen für die Jahre 2014 bis 2020 Bestimmungen über die Einhaltung der allgemeinen Eigenmittelobergrenze und der jährlichen Ausgabenobergrenzen, aber auch ¢ zur Gewährleistung der erforderlichen Flexibilität ¢ Bestimmungen über verschiedene Anpassungs- und Revisionsmaßnahmen sowie über besondere Instrumente, wie die Reserve für Soforthilfe zugunsten von Drittstaaten, den Solidaritätsfonds bei Katastrophen, einen Spielraum für unvorhergesehene Ausgaben und Beiträge zur Finanzierung von europäischen Großprojekten.49 Die Höhe dieser begrenzten und im Bedarfsfall verfügbaren Haushaltsmittel ist bei den einzelnen besonderen Instrumenten vermerkt. Im Übrigen sind die Haushaltsmittel für den mehrjährigen Finanzrahmen in einer Anlage tabellarisch nach Verpflichtungs- und Zahlungsermächtigungen, einzelnen Jahren und Ausgabenkategorien entsprechend den Haupttätigkeitsbereichen der Union aufgefächert und zahlenmäßig festgelegt. Die Mittel für Verpflichtungen belaufen sich – bei einer Verringerung von 1,03 % (2014) auf 0,98 % (2020) – auf insgesamt 1,0 % des BNE der Mitgliedstaaten bzw. 960,0 Mrd. Euro zu Preisen von 2011, die Mittel für Zahlungen – bei einer Verringerung von 0,98 % (2014) auf 0,91 % (2020) – auf insgesamt 0,95 % des BNE der Mitgliedstaaten bzw. 908,4 Mrd. Euro zu Preisen von 2011. Von den Mitteln für Verpflichtungen entfallen in den Jahren 2014 bzw. 2020 im Rahmen des Bereichs „1. Intelligentes und integratives Wachstum“ auf den Teilbereich „1a. Wettbewerbsfähigkeit für Wachstum und Beschäftigung“ 11,6 % bzw. 15,0 % und auf den Teilbereich „1b. Wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Zusammenhalt“ 33,3 % bzw. 34,2 %, auf den Bereich „2. Nachhaltiges Wachstum: natürliche Ressourcen“ 41,6 % bzw. 36,1 %, auf den Bereich „3. Sicherheit und Unionsbürgerschaft“ 1,5 % bzw. 1,8 %, auf den Bereich „4. Europa in der Welt“ 5,9 % bzw. 6,3 % und auf den Bereich „5. Verwaltung“ 6,1 % bzw. 6,7 %. Geht man davon aus, dass der Teilbereich 1b, der Bereich 2 und der Bereich 5 in etwa den bisherigen Bereichen Strukturfonds/Agrarmarkt/Verwaltung entsprechen, Niedobitek, in: Rudolf Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl., 2012, Art. 310 Rdnr. 50 ff.; Johann Schoo, in: Jürgen Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 3. Aufl., 2012, Art. 310 AEUV Rdnr. 23 ff. 49 VO (EU, EURATOM) Nr. 1313/2013 des Rates v. 2.12.2013 zur Festlegung des mehrjährigen Finanzrahmens für die Jahre 2014 – 2020, ABl. 2013 L 347/884.

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so zeigt sich ein Anstieg der Strukturfondsmittel von 3 % (1970) auf 28 % (2010) für Zahlungen und auf 34 % (2020) für Verpflichtungen, eine Verringerung der Agrarmarktmittel von 92 % (1970) auf 47 % (2010) für Zahlungen und auf 36 % (2020) für Verpflichtungen sowie ein Anstieg der Verwaltungsmittel von 3 % (1970) auf 6 % (2010) für Zahlungen sowie auf 7 % (2020) für Verpflichtungen.50 Bemerkenswert ist der allmähliche Aufgabenwandel von einer agrarmarktzentrierten Gemeinschaft zu einer gesamtwirtschaftlich orientierten Union, die mit ansteigenden Haushaltsmitteln auch in den Bereichen der Innen- und der Außenpolitik Aufgaben wahrzunehmen hat. Der mehrjährige Finanzrahmen wird ergänzt durch die Interinstitutionelle Vereinbarung zwischen dem Parlament, dem Rat und der Kommission „über die Haushaltsdisziplin, die Zusammenarbeit im Haushaltsbereich und die wirtschaftliche Haushaltsführung“.51 Die Vereinbarung enthält Bestimmungen zum mehrjährigen Finanzrahmen und zu den nicht darin enthaltenen besonderen Instrumenten, zur interinstitutionellen Zusammenarbeit während des Haushaltsverfahrens sowie zur Verwendung der Haushaltsmittel nach dem Grundsatz der Wirtschaftlichkeit. Sie ist auf Art. 295 AEUV gestützt, der für interinstitutionelle Vereinbarungen erstmals ausdrücklich eine vertragliche Grundlage bietet und eine Bindungswirkung gestattet. Dementsprechend ist sie während ihrer gesamten Laufzeit für die beteiligten Unionsorgane ausdrücklich als verbindlich vereinbart worden, kann aber von ihnen einvernehmlich geändert werden (Ziff. 2 und 4). Sie berührt zwar nicht die Haushaltsbefugnisse der Unionsorgane, die in der Verordnung über den mehrjährigen Finanzrahmen und in der Haushaltsordnung festgelegt sind (Ziff. 3), ergänzt diese jedoch im Hinblick auf die vertraglichen Pflichten der Unionsorgane, dafür zu sorgen, dass der Union die erforderlichen Finanzmittel zur Verfügung stehen (Art. 323 AEUV) und die Haushaltsverfahren vertragsgemäß durchgeführt werden (Art. 324 AEUV). 3. Jahreshaushaltsplan Der Jahreshaushaltsplan der Union wird vom Parlament und vom Rat im Rahmen eines besonderen Gesetzgebungsverfahrens festgelegt (Art. 214 vor Abs. 1 AEUV). Bei seiner Aufstellung sind alle Einnahmen und Ausgaben der Union zu erfassen und in Ausgleich zu bringen (Art. 310 Abs. 1 AEUV) sowie der mehrjährige Finanzrahmen einzuhalten (Art. 312 Abs. 1 AEUV). Das Haushaltsverfahren ist gekennzeichnet durch eine allmähliche Stärkung der Befugnisse des Parlaments im Vergleich zu denjenigen des Rates. Dieser verfügte anfänglich über die alleinige Entscheidungsbefugnis, während das Parlament auf ¢ unverbindliche – Änderungsvorschläge beschränkt war (Art. 203 EWGV).

50 Zahlen errechnet nach Kommission, Finanzbericht 2005, S. 154 ff.; Kommission, Finanzbericht 2012, S. 108 f. 51 Vom 2. 12. 2013, ABl. 2013 C 373/1.

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Mit der vollständigen Finanzierung aus Eigenmitteln wurde das Letztentscheidungsrecht des Rates ab dem Haushaltsjahr 1975 auf die sog. obligatorischen Ausgaben, insbesondere die Agrarmarktmittel, beschränkt; das Parlament erhielt das Letztentscheidungsrecht über die sog. nicht-obligatorischen Ausgaben, insbesondere die Strukturfondsmittel, und das Recht zur Globalablehnung des Haushaltsplans.52 In der Praxis erwies sich die Abgrenzung zwischen den Ausgabearten, die zudem durch eine Höchstsatzfestlegung der nicht-obligatorischen Ausgaben belastet war, als komplex und konfliktanfällig. Hinzu kamen Schwierigkeiten aufgrund der unterschiedlichen Kompetenzausstattung von Parlament und Rat bei der Rechtssetzung und im Haushaltsverfahren. Verbesserungen brachten im Rahmen des Vertragsrechts die Interinstitutionellen Vereinbarungen zur Haushaltsdisziplin und zum Haushaltsverfahren53 sowie schließlich die grundlegende Neugestaltung des Haushaltsverfahrens durch den Vertrag von Lissabon. Mit dem Vertrag von Lissabon ist die Unterscheidung zwischen obligatorischen und nicht-obligatorischen Ausgaben und damit zugleich das Problem der Höchstsatzbegrenzung für Letztere beseitigt worden. Infolgedessen gilt für alle Ausgaben ein einheitliches Bewilligungsverfahren und zugleich eine einheitliche Bewilligungsbegrenzung. Auch muss zur Vermeidung von Kompetenzkonflikten eine Abstimmung zwischen materieller Rechtssetzung und Haushaltsbewilligung erfolgen. Danach bedarf die Verausgabung bewilligter Haushaltsmittel grundsätzlich einer materiellen Rechtsgrundlage und erfordert den Erlass eines Rechtsakts mit erheblicher Auswirkung auf den Haushaltsplan, dass die damit verbundenen Ausgaben im Rahmen der Eigenmittel und des mehrjährigen Finanzrahmens verfügbar sind (Art. 310 Abs. 3 und 4 AEUV). Die Festlegung des Jahreshaushaltsplans erfolgt zwar im Rahmen eines besonderen Gesetzgebungsverfahrens, umfasst jedoch in Anlehnung an das ordentliche Gesetzgebungsverfahren auch ein Vermittlungsverfahren (Art. 314 Abs. 5 AEUV). Hinzu kommt das nunmehr ebenfalls im Vertragsrecht verankerte sog. Trilogverfahren, in dem sich die Präsidenten von Parlament, Rat und Kommission im Rahmen des Haushaltsverfahrens regelmäßig treffen, um dieses zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen (Art. 324 AEUV).54 Im Vergleich zu der vorherigen vertraglichen Regelung weist das neue Verfahren Verbesserungen auf, ist aber weiterhin komplex und konfliktanfällig geblieben. So scheiterte etwa das neu eingeführte Vermittlungs52

Art. 4 Vertrag zur Änderung bestimmter Haushaltsvorschriften der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften … v. 22. 4. 1970, ABl. 1971 L 2/1; Art 12 Vertrag zur Änderung bestimmter Finanzvorschriften der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften … v. 22. 7. 1975, ABl. 1977 L 359/1. 53 Vgl. oben, Fn. 48. 54 Ausführlich zum Verfahrensablauf vgl. den Anhang zur Interinstitutionellen Vereinbarung v. 2.12.2013 zwischen dem Europäischen Parlament, dem Rat und der Kommission über die Haushaltsdisziplin, die Zusammenarbeit im Haushaltsbereich und die wirtschaftliche Haushaltsführung, ABl. 2013 C 373/1; Johann Schoo, in: Jürgen Schwarze (Hrsg.), EUKommentar, 3. Aufl., 2012, Art. 324 AEUV Rdnr. 4 ff.

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verfahren, wenn auch nicht die rechtzeitige Verabschiedung des Haushaltsplans für die Jahre 2011 und 2013.55 Ferner musste für das Haushaltsjahr 2011 vom Gerichtshof geklärt werden, dass die Befugnis des Präsidenten des Parlaments zur endgültigen Feststellung des Haushaltsplans (Art. 314 Abs. 9 AEUV) auch die alleinige Befugnis zu dessen Unterzeichnung umfasst, nicht hingegen, dass der Präsident des Rates daran zu beteiligen ist.56

55 Vgl. zu Einzelheiten European Parliament, Committee on Budgets, Balance of activities 2009 – 2014, S. 1 f., 9 ff.; Ilkka Saarilahti, Les innovations des procédures budgétaires de l’Union europénne, RevUE 2011, 662 (670 ff.), RevUE 2013, 574 (587 f.), RevUE 2013, 641 (646). 56 EuGH, Rs. C-77/11, Rat/Parlament, Urteil v. 17. 9. 2013 Rdnr. 46 ff.

Von der Doppik zu EPSAS – Fragen zur Europäisierung des öffentlichen Rechnungswesens Von Christoph Ohler, Jena I. Einführung Das staatliche Rechnungswesen zählt wahrscheinlich nicht zu den Rechtsgebieten, das den meisten Verfassungsrechtlern Entzückungsrufe entlockt. Technisch und buchhalterisch geprägt scheint es zu sein, eine Materie für Praktiker, aber nicht für die Wissenschaft. Dabei ähnelt die Funktion des Rechnungswesens der der Rechtswissenschaft: Entscheidungen sollen auf rationale, allgemein nachvollziehbare Grundlagen gestellt werden, wofür es abstrakter Regelungen bedarf, deren Anwendung im Einzelfall Urteilsvermögen und sachbezogene Argumentation erfordert. Beide Bereiche dienen der Steuerung staatlichen Handelns, das Verfassungsrecht ebenso wie das Rechnungswesen, das die Basis für alle haushalterischen Entscheidungen des Staates bildet. Dem Jubilar sind solche Erwägungen nicht fremd: Das große „Rechenwerk“ des bundesstaatlichen Finanzausgleichs wie praktisch auch alle sonstigen Fragen des Finanzverfassungsrechts hat er in ihrer verfassungsrechtlichen Steuerungsqualität stets zu schätzen gewusst und kenntnisreich bearbeitet.1 In Deutschland befindet sich das öffentliche Rechnungswesen in einem langwährenden Umbruch, der in seinen Ursprüngen von der umfassender verstandenen Konzeption des „Neuen Steuerungsmodells“ geprägt ist. Als wichtigste Folge führten die meisten Länder ab dem Jahr 2005 für den kommunalen und universitären Bereich ein doppisches Rechnungswesen ein, das nicht mehr Einnahmen und Ausgaben in den Vordergrund stellt, sondern den Ressourcenverbrauch durch die Verwaltung. Auf staatlicher Ebene erfolgte die Neuausrichtung bislang vorsichtiger. Der Bundesgesetzgeber ermöglichte im Jahr 2009 mit der Änderung des Haushaltsgrundsätzegesetzes (HGrG) die Einführung der Doppik auch für den Bund und die Länder, § 1a HGrG.2 Der Orientierung dienen dabei die kaufmännischen Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung und Bilanzierung nach dem HGB, § 7 Abs. 1 Satz 1 HGrG. Einem mit Vertretern des Bundes und der Länder besetzten Gremium obliegt es, die aufgrund der Besonderheiten der öffentlichen Verwaltung notwendi1 Hervorgehoben aus vielen anderen Beiträgen sei Rudolf Wendt, Finanzhoheit und Finanzausgleich, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdBStR, Bd. VI, 3. Aufl. 2008, § 139 Rn. 1 ff. 2 Gesetz zur Modernisierung des Haushaltsgrundsätzegesetzes, BGBl. I 2009, S. 2580.

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gen Konkretisierungen der handelsrechtlichen Grundsätze vorzunehmen, § 7 Abs. 2 HGrG. Diese Entwicklung könnte durch europarechtliche Neuerungen überholt werden.3 Die Europäische Kommission (Eurostat) legte am 25. November 2013 ein Konsultationspapier zur Einführung von „European Public Sector Accounting Standards“ (EPSAS) in den EU-Mitgliedstaaten vor. Hierin erläuterte sie die Notwendigkeit einer kohärenten, an der Periodenrechnung orientierten Rechnungsführung für die wirksame Überwachung und Koordinierung der EU-Wirtschafts- und Finanzpolitik. Der erste Schritt auf diesem Weg erfolgte bereits im Rahmen der Six-Pack-Reformen des Jahres 2011. Ein Element dieses Gesetzgebungspakets zur Effektivierung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes bildet die Richtlinie 2011/85/EU über die Anforderungen an die haushaltspolitischen Rahmen der Mitgliedstaaten.4 In Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie wird ein Prüfauftrag an die Kommission erteilt, die Frage zu bewerten, ob die internationalen Rechnungsführungsgrundsätze für den öffentlichen Sektor (IPSAS) für die Mitgliedstaaten geeignet sind. Der entsprechende, positive Bericht wurde am 6. März 2013 angenommen und dem Rat und dem Europäischen Parlament übermittelt.5 Nach den Vorstellungen der Kommission sollen EPSAS in einem gestuften Verfahren eingeführt werden. Hierfür soll zunächst ein Rahmenrechtsakt allgemeinen Inhalts entstehen, der die Grundlage für weitere Rechtsakte bildet, durch die einzelne EPSAS für rechtlich verbindlich erklärt werden. Die Rahmenverordnung soll überdies der Schaffung eines EPSAS-Ausschusses dienen, der aus Vertretern der Mitgliedstaaten besteht und von der Kommission geleitet wird. Eine maßgebliche sachliche Orientierungshilfe für die Ausarbeitung der EPSAS sollen die IPSAS bilden, die von einem privaten Standardsetzer, dem in New York ansässigen International Public Sector Accounting Standards Board (IPSASB), geschaffen werden.6 Der IPSASB lehnt sich wiederum an den für private Wirtschaftsunternehmen entwickelten International Accounting Standards/International Financial Reporting Standards (IAS/IFRS) an. IAS und IFRS können bereits seit 2002 in die Unionsrechtsordnung übernommen werden und gelten seit 2005 für Konzernabschlüsse kapitalmarktnaher Unternehmen. Grundlage hierfür bildet die VO (EG) Nr. 1606/2002,7 die es der Kommission erlaubt, einzelne Rechnungslegungsstandards in Gänze für kapitalmarktnahe Unternehmen für verbindlich zu erklären. Im Falle der EPSAS soll eine solche Komplettübernahme nicht erfolgen. Die IPSAS 3

Die nachfolgenden Überlegungen gehen auf ein Gutachten des Autors für die Bertelsmann Stiftung sowie die kommunalen Spitzenverbände zurück. Zur Thematik siehe auch C. Gröpl, Auf der Suche nach einer Unionskompetenz zur Einführung von EPSAS in das Haushaltsrecht der Mitgliedstaaten, in: Hessischer Rechnungshof (Hrsg.), Entwicklung der öffentlichen Rechnungslegung in Europa, 2014, S. 255 ff. 4 ABl. 2011 L 306, S. 41. 5 KOM(2013) 114 final. 6 Siehe hierzu B. Adam, Einführung in IPSAS, 2013; R. Gerhards, International Public Sector Accounting Standards (IPSAS), DÖV 2013, S. 70 ff. 7 ABl. 2002 L 243, S. 1.

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werden vielmehr durch den EPSAS-Ausschuss inhaltlich angepasst, bevor sie von der Kommission als EPSAS verbindlich beschlossen werden. II. Die Zuständigkeit der EU zur Einführung von EPSAS 1. Maßstäbe für die Bestimmung der Rechtsgrundlage Die wesentliche, aber zugleich bislang unbeantwortete Frage lautet, ob die Union überhaupt über eine Zuständigkeit verfügt, durch Sekundärrecht die Mitgliedstaaten zur Einführung von EPSAS zu verpflichten. Die Antwort ergibt sich durch Auslegung der primärrechtlichen Kompetenznormen, die die rechtliche Basis für ein solches Vorhaben bilden können. Hierfür kommen mehrere Rechtsgrundlagen in Betracht, nämlich Art. 126 Abs. 14 UAbs. 3, Art. 121 Abs. 6, Art. 338 AEUV und Art. 114 AEUV. Das Zuständigkeitssystem der Union ist wenig strukturiert, meist nur grob thematisch eingegrenzt und gibt schon aus diesen Gründen immer wieder Anlass zu gerichtlichen Streitigkeiten. Die Strukturierungsbemühungen des Gerichtshofs der Europäischen Union sind daher vorwiegend formal-methodischer Natur. So hebt er in ständiger Rechtsprechung hervor, dass die Wahl der Rechtsgrundlage eines Rechtsakts nicht allein davon abhängen kann, welches nach der Überzeugung eines Organs das angestrebte Ziel ist. Vielmehr muss sich die Heranziehung einer primärrechtlichen Kompetenz auf objektive, gerichtlich nachprüfbare Umstände gründen. Zu diesen Umständen gehören insbesondere das Ziel und der Inhalt des zu erlassenden Rechtsakts.8 Enthalten die Verträge dagegen eine spezifischere Bestimmung, die als Rechtsgrundlage für den Rechtsakt dienen kann, so ist er auf diese Bestimmung zu stützen.9 Daher setzt die Wahl der Rechtsgrundlage stets eine materielle Analyse des beabsichtigten Rechtsaktes nach Regelungsgegenstand und Regelungsziel voraus. Verfolgt ein Rechtsakt mehrere Ziele, ist weiterhin zu prüfen, ob sich die geplante Maßnahme hauptsächlich auf einen Aktionsbereich bezieht und sich auf andere Politikbereiche nur beiläufig auswirkt oder ob die beiden Aspekte gleichermaßen wesentlich sind.10 Lässt sich eine dieser Zielsetzungen oder Komponenten als die hauptsächliche ausmachen, während die andere nur nebensächliche Bedeutung hat, so ist die Maßnahme auf nur eine Rechtsgrundlage zu stützen, und zwar auf diejenige, die die hauptsächliche oder vorherrschende Zielsetzung oder Komponente erfordert.11 Ob das der Fall ist, entscheidet der Gerichtshof mitunter mit erheblicher 8 EuGH, Rs. 45/86, Kommission/Rat, Slg. 1987, 1493, Rn. 11; Rs. C-300/89, Kommission/ Rat (Titandioxid), Slg. 1991, I-2867, Rn. 10; verb. Rs. C-164/97 und C-165/97, Parlament/ Rat, Slg. 1999, I-1139, Rn. 12. 9 EuGH, Rs. C-155/07, Parlament/Rat, Slg. 2008, I-8103, Rn. 34. 10 EuGH, verb. Rs. C-164/97 und C-165/97, Parlament/Rat, Slg. 1999, I-1139, Rn. 14. 11 EuGH, Rs. C-155/07, Parlament/Rat, Slg. 2008, I-8103, Rn. 35; Rs. C-130/10, Parlament/Rat, Slg. 2012, I-000, Rn. 43.

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Großzügigkeit, wie der Fall der Tabakwerbe-Richtlinie zeigt.12 Angesichts dieser Maßstäbe kommt es zunächst darauf an, Gegenstand und Ziele einer künftigen Rahmenverordnung zu bestimmen, bevor die oben genannten, möglicherweise einschlägigen Zuständigkeitsnormen untersucht werden. 2. Gegenstand und Ziel von EPSAS EPSAS haben die staatliche Rechnungsführung zum Gegenstand, die einen Bestandteil des öffentlichen Haushaltswesens bildet. Sie dienen der periodischen Erfassung aller wirtschaftlichen Aktiva und Passiva der Mitgliedstaaten auf zentralstaatlicher, teilstaatlicher sowie kommunaler Ebene, die für jede Einheit in einem eigenen Jahresabschluss zusammengefasst werden. Dabei kommt das Prinzip der doppelten Buchführung zum Tragen, d. h., jede wirtschaftliche Transaktion ist zweimal zu buchen, einmal auf der Aufkommensseite unter den Passiva und einmal auf der Verwendungsseite unter den Aktiva. Anders als die Kassenrechnung im kameralistischen System, die sich an monetären Zuflüssen oder Abflüssen orientiert, beruhen EPSAS auf dem Grundsatz der Periodenabgrenzung von Vermögenswerten und Verbindlichkeiten (accrual basis). Dabei kommt es für die bilanzielle Behandlung auf den Zeitpunkt der Entstehung oder Umwandlung des zu verbuchenden Postens an.13 Erfasst werden Vermögenswerte, Verbindlichkeiten, Nettovermögen/Eigenkapital, Einnahmen und Ausgaben, andere Veränderungen des Nettovermögens und der Cashflow.14 Die Bewertung der einzelnen Positionen erfolgt nach dem Grundsatz der „fair presentation“,15 worunter grundsätzlich der Marktpreis zu verstehen ist.16 In der VO (EG) Nr. 2233/96 zum Europäischen System Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen, das ebenfalls auf dem Grundsatz der Periodenabgrenzung beruht, führt der Unionsgesetzgeber hierzu aus: „Im Fall von monetären Transaktionen und von monetären Forderungen und Verbindlichkeiten liegen die benötigten Werte unmittelbar vor. In den meisten anderen Fällen sollten zur Bewertung die Marktpreise vergleichbarer Waren, Dienstleistungen oder Vermögenswerte herangezogen werden. […] Liegen keine Marktpreise vergleichbarer Güter vor, wie etwa bei nichtmarktbestimmten Dienstleistungen des Staates, so sind zur Bewertung die Produktionskosten heranzuziehen. Kann keines der beiden Verfahren eingesetzt werden, können die Strom- und Bestandsgrößen anhand des Gegenwertes der erwarteten künftigen Erträge bewertet werden.“17 12

Siehe EuGH, Rs. C-380/03, Deutschland/Parlament und Rat, Slg. 2006, I-11573, Rn. 39. Siehe Ziffer 157 Anhang A, VO (EG) Nr. 2223/96, ABl. 1996 L 310, S. 1; IPSAS 1, Ziffer 7. 14 IPSAS 1, Ziffer 17. 15 IPSAS 1, Ziffer 27. 16 Siehe Ziffer 151 Anhang A, VO (EG) Nr. 2223/96. 17 Siehe Ziffer 152 Anhang A, VO (EG) Nr. 2223/96. 13

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Insgesamt zielen EPSAS darauf, eine strukturierte, vollständige und realitätsnahe Darstellung der Vermögensverhältnisse einer staatlichen oder kommunalen Körperschaft zu verwirklichen. Sie dienen damit der Rechenschaft über die Verwendung der dem öffentlichen Sektor anvertrauten Ressourcen.18 Als Nutzer dieser Informationen kommt ein breites Spektrum von Institutionen und Personen in Betracht.19 Im innerstaatlichen Zusammenhang dienen sie zunächst der Selbstkontrolle der Haushaltsbehörden, um die Wirtschaftlichkeit der Mittelverwendung sicherzustellen.20 Im gewaltenteilenden, parlamentarischen Verfassungsgefüge sollen sie überdies dem Haushaltsgesetzgeber eine fundierte Entscheidungsbasis liefern. Ferner können sie die Transparenz des staatlichen Haushaltsgebarens verbessern und damit dem Bürger als Steuerzahler und Nutzer staatlicher Leistungen demokratische Kontrolle ermöglichen, die er über Wahlen und Abstimmungen ausübt. Gegenüber der Europäischen Kommission dienen sie mehreren Zielen: Zum einen sollen sie die Qualität der Daten im Europäischen System volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen (ESVG 1995)21 verbessern, das die Grundlage für die wirtschaftspolitische Koordinierung und multilaterale Überwachung nach Art. 121 AEUV bildet. Das ESVG 1995 beruht selbst auf den Prinzipien der Periodenabgrenzung und Bilanzierung zu Marktpreisen, gestattet aber nur eine aggregierte, gesamtstaatliche Betrachtung. Die Einzeldaten auf „Mikroebene“ der einzelnen mitgliedstaatlichen Einheiten werden dagegen nach unterschiedlichen, meist kameralistischen Verfahren und Bewertungsmethoden ermittelt, die häufig nicht mit den bilanziellen Maßstäben der Makrobetrachtung übereinstimmen.22 Zum anderen können EPSAS einer wirkungsvollen Überwachung übermäßiger Defizite im Verfahren nach Art. 126 AEUV dienen,23 soweit Defizit und Schuldenstand sich damit präziser ermitteln lassen. Als weitere Adressaten der staatlichen Rechnungsführung auf Basis von EPSAS wären die Kreditgläubiger der Mitgliedstaaten zu nennen. Eine umfassende Bilanzierung erleichtert fundierte Bonitätsbeurteilungen durch Gläubiger und potentielle Anleger und gibt damit Auskunft über die Kreditfähigkeit der Mitgliedstaaten auf den internationalen Kapitalmärkten.24 3. Mögliche Rechtsgrundlagen in den Verträgen a) Art. 126 Abs. 14 UAbs. 3 AEUV Als Rechtsgrundlage kommt zunächst Art. 126 Abs. 14 UAbs. 3 AEUV in Betracht. Hiernach beschließt der Rat auf Vorschlag der Kommission und nach Anhö18

B. Adam, Einführung in IPSAS, 2013, S. 27. IPSAS 1, Ziffer 15. 20 KOM(2013) 114 final, S. 4. 21 VO (EG) Nr. 2223/96. Künftig: ESVG 2010 gemäß VO (EU) Nr. 549/2013, ABl. 2013 L 174, S. 1. 22 KOM(2013) 114 final, S. 2 f. 23 KOM(2013) 114 final, S. 3 f., 6. 24 KOM(2013) 114 final, S. 7. 19

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rung des Parlaments „nähere Einzelheiten und Begriffsbestimmungen für die Durchführung des genannten Protokolls“. Bei dem Protokoll handelt es sich um Protokoll Nr. 12 über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit.25 Es regelt in seinem Art. 1 die Referenzwerte für Defizit und Schuldenstand im Sinne von Art. 126 Abs. 2 AEUV und definiert in seinem Art. 2 die Begriffe „öffentlich“, „Defizit“, „Investitionen“ und „Schuldenstand“ in Übereinstimmung mit dem ESVG 1995. Art. 3 des Protokolls erklärt die Regierungen der Mitgliedstaaten im Rahmen des Verfahrens nach Art. 126 AEUV für die Defizite des jeweiligen Gesamtstaats einschließlich seiner Untergliederungen verantwortlich. Zudem verpflichtet er die Mitgliedstaaten dazu, dass ihre innerstaatlichen Verfahren im Haushaltsbereich sie in die Lage versetzen, ihre sich aus den Verträgen ergebenden Verpflichtungen in diesem Bereich zu erfüllen. Schließlich verpflichtet Art. 3 des Protokolls die Mitgliedstaaten, ihre geplanten und tatsächlichen Defizite und die Höhe ihres Schuldenstands der Kommission unverzüglich und regelmäßig mitzuteilen. Die eingangs erwähnte RL 2011/85 über die Anforderungen an den haushaltspolitischen Rahmen der Mitgliedstaaten wurde gestützt auf die Rechtsgrundlage des Art. 126 Abs. 14 UAbs. 3 AEUV erlassen. Sie enthält in ihrem Art. 16 Abs. 3 auch den Auftrag an die Kommission, die Eignung von IPSAS für die Mitgliedstaaten zu prüfen. Hieraus lässt sich aber nicht der Schluss ziehen, dass eine Rahmenverordnung über die Einführung von EPSAS ebenfalls auf Art. 126 Abs. 14 UAbs. 3 AEUV gestützt werden könnte. Solche Parallelwertungen entheben nicht von einem Abgleich zwischen der Zuständigkeitsnorm und der konkreten, geplanten Maßnahme.26 Der Gegenstandsbereich dieser Zuständigkeitsnorm ist ausdrücklich auf das Protokoll Nr. 12 begrenzt und erlaubt, anders als nach Art. 126 Abs. 14 UAbs. 2 AEUV, gerade keine Ablösung des Protokolls. Damit muss sich jede sekundärrechtliche Maßnahme als „Durchführung des genannten Protokolls“ qualifizieren lassen können. Art. 2 des Protokolls erlaubt weitere Konkretisierungen der dort genannten Begriffe „Defizit“, „Investitionen“ und „Schuldenstand“. Sie wären auch einer rechnerischen Ermittlung mit Hilfe von EPSAS zugänglich, so dass insoweit eine primärrechtliche Rechtsgrundlage besteht. Allerdings gestaltet Art. 126 Abs. 14 Abs. 3 AEUV nicht die Schaffung einer Rahmenverordnung für die umfassende Einführung von EPSAS. Ließe sich der Begriff der Investitionen noch auf Vermögenspositionen wie Grundstücke, Maschinen, Schiffe, Fahrzeuge und andere Sachanlagen erstrecken, gilt dies beispielsweise nicht für andere Aktivaposten wie Vorräte und Forderungen aus Lieferungen und Leistungen oder – auf der Passivseite – Rückstellungen für Leistungen an Arbeitnehmer. Für eine solche thematische Ausdehnung des Protokolls Nr. 12 gibt sein Wortlaut nichts her. Keine Rechtsgrundlage lässt sich ferner über Art. 126 Abs. 14 UAbs. 3 AEUV in Verbindung mit Art. 3 Satz 2 Protokoll Nr. 12 herstellen. Die Gewährleistungspflicht der Mitgliedstaaten, ihre Verpflichtungen aus Art. 126 AEUV auch dadurch einzu25 26

ABl. 2012 C 326, S. 279. Vgl. EuGH, Rs. C-155/07, Parlament/Rat, Slg. 2008, I-8103, Rn. 34.

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halten, dass sie im Haushaltsbereich über die notwendigen Verfahrensregeln verfügen, besagt gerade nicht, wie diese Verfahren inhaltlich beschaffen sein müssen. Den Mitgliedstaaten steht es nach dieser Bestimmung vielmehr frei, ob sie auf kameralistischer Basis oder auf der Grundlage einer Periodenrechnung ihre Haushalte führen. Eine spezifische Optimierungspflicht, wonach nur durch die Wahl der Periodenrechnung diese Gewährleistung erfüllt werden kann, lässt sich Art. 3 im Übrigen nicht entnehmen. b) Art. 121 Abs. 6 AEUV Als weitere Rechtsgrundlage kommt Art. 121 Abs. 6 AEUV in Betracht. Die Vorschrift wurde in der Vergangenheit extensiv genutzt, um den sog. präventiven Arm des Stabilitäts- und Wachstumspaktes in Gestalt der VO (EG) Nr. 1466/97 über den Ausbau der haushaltspolitischen Überwachung der Mitgliedstaaten zu schaffen.27 Diese Rechtsgrundlage wurde auch bei den Sixpack-Reformen des Jahres 2011 herangezogen.28 Der primärrechtliche Rahmen des Art. 121 Abs. 6 AEUV erlaubt allerdings nur die Verfolgung eines Zieles, nämlich „Einzelheiten des Verfahrens der multilateralen Überwachung im Sinne der Absätze 3 und 4 [festzulegen]“. Die multilaterale Überwachung schließt vornehmlich die Haushaltspolitik der Mitgliedstaaten ein.29 Zur Verwirklichung dieser Aufgabe sind die Mitgliedstaaten zudem informationspflichtig, was sich sekundärrechtlich in der Vorlage von Stabilitäts- und Konvergenzprogrammen an Rat und Kommission niederschlägt.30 Hierzu gehören auch Berichte über die Erreichung des mittelfristigen Haushaltsziels eines ausgeglichenen Haushalts und Informationen über implizite Verbindlichkeiten. Insgesamt verfolgen aber Art. 121 AEUV wie auch das bislang ergangene Sekundärrecht einen ausschließlich makroökonomischen Steuerungsansatz, ohne dass damit Verpflichtungen für die mikroökonomische Rechnungsführung verbunden wären. Das zeigt sich beispielsweise an der sekundärrechtlichen Vorgabe von Art. 5 VO (EG) Nr. 1466/97, der das Haushaltswachstum an das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts knüpft. In Hinblick auf das der Haushaltspolitik vorgeschaltete Rechnungswesen belassen folglich sowohl Art. 121 AEUV wie auch die VO (EG) Nr. 1466/97 den Mitgliedstaaten die Entscheidungsfreiheit, ob sie es auf kameralistischer Grundlage oder nach den Prinzipien der Periodenabgrenzung führen. Insgesamt bildet das staatliche Rechnungswesen eine vom Anwendungsbereich des Art. 121 AEUV nicht erfasste Vorfrage.

27

ABl. 1997 L 209, S. 1. VO (EU) Nr. 1175/2011 zur Änderung der VO (EG) Nr. 1466/97, ABl. 2011 L 306, S. 12; VO (EU) Nr. 1176/2011 über die Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte, ABl. 2011 L 306, S. 25. 29 C. Ohler, in: Siekmann (Hrsg.), Kommentar zur EWU, 2013, Art. 121 AEUV Rn. 8. 30 Art. 3 bis 10 VO (EG) Nr. 1466/97. 28

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c) Art. 136 AEUV Aufgrund seines engen Zusammenhangs mit Art. 121 und Art. 126 AEUV ließe sich auch an die durch den Vertrag von Lissabon neu geschaffene Rechtsgrundlage des Art. 136 AEUV denken. Sie soll den Euro-Mitgliedstaaten eine vertiefte wirtschaftspolitische Integration und eine über Art. 126 AEUV hinausgehende Überwachung staatlicher Defizite ermöglichen. Wegen seines beschränkten räumlich-persönlichen Anwendungsbereichs wäre dagegen ein auf Art. 136 AEUV gestützter Rechtsakt für die Mitgliedstaaten, die nicht den Euro als Währung eingeführt haben, rechtlich unverbindlich. Im Einzelnen sind der Bedeutungsgehalt und sachliche Anwendungsbereich des Art. 136 AEUV aber lebhaft umstritten, da die Vorschrift in sprachlicher Hinsicht überaus unklar gefasst ist. Die Gesetzgebungsorgane der Union stützten auf diese Bestimmung zwar zwei Verordnungen aus der SixpackReform, durch die ein verbessertes Entscheidungsverfahren im Rat und ein wirksamerer Sanktionsmechanismus eingeführt wurden.31 Im Schrifttum überwiegen allerdings die Zweifel, ob Art. 136 AEUV solche weitreichenden Reformen kraft Sekundärrechts trägt, die von allgemeinen Vorgaben des Primärrechts abweichen.32 Auf diesen Streit kommt es im vorliegenden Zusammenhang nicht an. Art. 136 AEUV umfasst nach seinem ausdrücklichen Wortlaut gerade nicht den Zuständigkeitsbereich des Verfahrens nach Art. 126 Abs. 14 AEUV. Maßnahmen zur Ersetzung oder zur Durchführung des Protokolls Nr. 12 wären daher unzulässig.33 Positiv gewendet erlaubt Art. 136 AEUV daher nur solche Maßnahmen, die sich auf das Verfahren nach Art. 126 Abs. 2 bis 13 AEUV beziehen. Soweit Art. 136 AEUV herangezogen werden kann, um eine vertiefte Integration im Bereich der multilateralen Überwachung nach Art. 121 Abs. 3 und 4 AEUV zu ermöglichen, erweitert die Vorschrift jedenfalls nach ihrem Wortlaut nicht den Art. 121 Abs. 6 AEUV, auf den sie aber verweist. Die multilaterale Überwachung, die durch diese Vorschrift ausgestaltet werden kann, zielt nur auf die Makroebene der Haushaltspolitik, ohne den Mitgliedstaaten den Freiraum zu beschneiden, wie sie auf der Mikroebene einzelner Haushalte ihr Rechnungswesen betreiben. Allerdings ließe sich argumentieren, dass Art. 136 AEUV nur dann seine nützliche Wirkung entfaltet, wenn die Zielvorgabe des Abs. 1 lit. a), „die Koordinierung und Überwachung ihrer Haushaltspolitik zu verstärken“, als Begründung herangezo31 VO (EU) Nr. 1173/2011, ABl. 2011 L 306, S. 1; VO (EU) Nr. 1174/2011, ABl. 2011 L 306, S. 8. 32 U. Häde, Art. 136 AEUV – eine neue Generalklausel für die Wirtschafts- und Währungsunion, JZ 2011, S. 333 ff.; C. Joerges, Europas Wirtschaftsverfassung in der Krise, Der Staat 2012, S. 357 (372); C. Ohler, Die zweite Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes, ZG 2010, S. 330 (338, 342); A. Weber, Die Reform der Wirtschafts- und Währungsunion in der Finanzkrise, EuZW 2012, S. 935 (936); andere Ansicht C. Antpöhler, Emergenz der europäischen Wirtschaftsregierung. Das Six Pack als Zeichen supranationaler Leistungsfähigkeit, ZaöRV 2012, S. 353 (369 ff.). 33 U. Häde, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 136 AEUV Rn. 5; C. Ohler, in: Siekmann (Hrsg.), Kommentar zur EWU, 2013, Art. 136 AEUV Rn. 8.

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gen werden darf, tiefer in das Haushaltsrecht der Mitgliedstaaten einzuwirken. Vergleichbare Erwägungen zur „effektiven“ Auslegung von Kompetenzbestimmungen hat der Gerichtshof in der Vergangenheit durchaus angestellt.34 Allerdings liefe der von Art. 136 gewollte Ausschluss des Art. 126 Abs. 14 AEUV leer, wenn die Ermittlung von entscheidenden haushaltspolitischen Referenzwerten, auf die sich Art. 126 Abs. 14 AEUV bezieht, durch Verweis auf die multilaterale Überwachung nach Art. 121 AEUV eingeführt werden könnte. Um diesen Widerspruch zu vermeiden, muss Art. 136 AEUV so verstanden werden, dass er die Einführung eines neuen Rechnungsführungssystems auf einzelstaatlicher Ebene nicht zulässt. Das Ergebnis wird zudem durch die Erwägung gestützt, dass der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung nach Art. 5 Abs. 1 EUV auch für die verstärkte Zusammenarbeit nach Art. 136 AEUV gilt. Dieser Grundsatz, der für das Kompetenzgefüge von Union und Mitgliedstaaten von wesentlicher Bedeutung ist, zieht einer dynamischen Auslegung juristisch unklarer Zuständigkeitsnormen nach dem Grundsatz des „effet utile“ auch vom Unionsgesetzgeber zu beachtende Grenzen. d) Art. 338 AEUV Keine Rechtsgrundlage für die Etablierung von EPSAS bietet Art. 338 AEUV. Gestützt auf diese Vorschrift schuf der Unionsgesetzgeber zwar durch VO (EG) Nr. 2223/96 das statistische Regelwerk des ESVG 1995. Die Kommission führte daher aus, dass die Einführung von EPSAS die statistische Qualität des ESVG 1995 verbessern würde.35 Doch rechtfertigt dieser Umstand nicht die Heranziehung des Art. 338 AEUV, denn EPSAS sind selbst keine Statistiken, sondern Vorschriften zur Rechnungsführung staatlicher Einheiten, die auf die Erstellung eines Jahresabschlusses zielen. Sie bilden damit eine Voraussetzung für statistische Erhebungen, aber nicht schon die Statistik selbst. Eine extensive Interpretation des Begriffs „Statistiken“ scheidet aus, da hierdurch die Funktion des Art. 338 AEUV als begrenzte Einzelermächtigung (vgl. Art. 5 Abs. 1 EUV) verletzt würde. Die Kommission hat überdies nicht vorgetragen, dass das ESVG 1995 funktionsunfähig bliebe, solange die Daten auf der Mikroebene der mitgliedstaatlichen Einheiten nach unterschiedlichen Verfahren ermittelt werden. Die jahrzehntelange Praxis zeigt vielmehr, dass das ESVG 1995 ebenso wie seine Vorgänger als statistisches Werk funktionsfähig sind, was die Möglichkeit einschließt, dass statistische Aussagen mit Ungenauigkeiten verbunden sind. Der bloße Wunsch nach Verbesserung der Berechnungsgrundlagen für statistische Erhebungen rechtfertigt noch keine Einführung eines vollständig neuen Rechnungsführungssystems für staatliche und substaatliche Einheiten. Wäre dies so, könnte auf Basis des Art. 338 AEUV auch ein vollständig neues Rechnungslegungssystem für private Wirtschaftsunternehmen eingeführt und damit nationales Bilanzrecht abgeschafft werden, da in das ESVG 1995 auch Daten der privatwirtschaftlichen Tätigkeit einfließen. Ein solches Verständnis, wonach 34 35

EuGH, verb. Rs. 281/85 u. a., Deutschland u. a./Kommission, Slg. 1987, 3203, Rn. 28. KOM(2013) 114 final, S. 6.

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jedes in der Union entstehende, wirtschaftliche Zahlenwerk über Art. 338 AEUV harmonisiert werden könnte, würde die Reichweite der Vorschrift ersichtlich überstrapazieren. e) Art. 114 AEUV Nach Auffassung der Kommission dienen EPSAS auch dem Binnenmarkt für Finanzdienstleistungen, da sie für Transparenz der staatlichen Haushaltswirtschaft sorgen und damit den Anlegern von staatlichen Schuldverschreibungen sachgerechte Investitionsentscheidungen ermöglichen.36 Für die Heranziehung von Art. 114 AEUV als Rechtsgrundlage kommt es nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs allerdings entscheidend darauf an, dass der auf dieser Grundlage erlassene Rechtsakt tatsächlich die Bedingungen für die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes verbessern soll.37 Diese Bedingung ist bei der Einführung von EPSAS nicht hinreichend erfüllt. Die von der Kommission angeführte verbesserte Wirkungsweise des Binnenmarkts für Finanzdienstleistungen mag eintreten, ist aber nur Nebeneffekt und nicht zentraler Gegenstand der Einführung von EPSAS. Die Märkte kommen bereits heute zu fundierten Bonitätseinschätzungen der Mitgliedstaaten, auch wenn diese auf kameralistischer Basis ihre Haushalte führen. Im Übrigen dürfen die Transparenzwirkungen von EPSAS nicht überschätzt werden. Wenngleich die möglichen europarechtlichen Regelungen noch nicht feststehen, so zeigt die Erfahrung sowohl mit den privatrechtlichen IAS/IFRS als auch den IPSAS, dass bei der Bewertung von einzelnen Vermögenspositionen bilanzpolitische Spielräume zugelassen werden, die von den Mitgliedstaaten restriktiver oder offensiver genutzt werden können.38 Damit sind Unschärfen verbunden, die das Ziel von mehr Transparenz für Anleger zumindest relativieren könnten. Das Beispiel der griechischen Haushaltsnotlage in den Jahren bis 2009 und 2010 verdeutlicht überdies, dass alle bestehenden Rechnungslegungsregeln wirkungslos bleiben, wenn sie vorsätzlich missachtet werden. Die Auswirkungen auf den Binnenmarkt für Finanzdienstleistungen sind daher lediglich mittelbarer und insgesamt äußerst unsicherer Natur, so dass entsprechende Zielsetzungen nicht ausreichen, um die Anwendbarkeit des Art. 114 AEUV zu begründen. Überdies betrifft der Regelungsgegenstand der EPSAS schwerpunktmäßig das Haushaltsrecht der Mitgliedstaaten und damit keine Materie, die sich in irgendeiner Weise dem Binnenmarkt im Sinne von Art. 26 Abs. 2 AEUV zuordnen ließe. Aus kompetenzieller Sicht ist Art. 114 AEUV folglich keine geeignete Rechtsgrundlage für die Einführung von EPSAS.

36

KOM(2013) 114 final, S. 7. EuGH, Rs. C-380/03, Deutschland/Parlament und Rat, Slg. 2006, I-11573, Rn. 80. 38 So zu den IPSAS KOM(2013) 114 final, S. 10; Wahlrechte bestehen auch nach § 7a Abs. 2 HGrG; zur entsprechenden Problematik bei der kommunalen Doppik siehe J. Matz, Bilanzpolitik in der kommunalen Doppik, ZKF 2008, S. 193 ff. 37

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III. Anforderungen an das Rechtsetzungsverfahren 1. Delegierte Rechtsetzung oder Durchführungsrechtsetzung durch die Kommission Nach den Vorstellungen der Kommission soll zunächst nur eine Rahmenverordnung entstehen, auf deren Grundlage in der zeitlichen Folge einzelne EPSAS beschlossen werden. Damit ähnelt die Vorgehensweise dem Verfahren zur Annahme von IAS/IFRS nach VO (EG) Nr. 1606/2002. Nach dem Vertrag von Lissabon wirft das jedoch die Frage auf, ob hierfür das Verfahren der delegierten Rechtsetzung nach Art. 290 AEUV oder der Durchführungsrechtsetzung durch die Kommission nach Art. 291 Abs. 2 AEUV zu wählen ist. Maßgebliches Differenzierungskriterium ist zunächst, ob die Rahmenverordnung als Gesetzgebungsakt verabschiedet wurde, da Delegationen nach Art. 290 AEUV, anders als Durchführungsmaßnahmen nach Art. 291 Abs. 2 AEUV, ausdrücklich diese Eigenschaft voraussetzen. Für die Qualifikation als Gesetzgebungsakt kommt es auf eine rein formale, nicht auf eine materielle Betrachtung an. Ein Gesetzgebungsakt liegt dann vor, wenn seiner Entstehung entweder ein ordentliches oder ein besonderes Gesetzgebungsverfahren zugrunde lag, Art. 289 Abs. 3 AEUV. Die Anwendbarkeit eines Gesetzgebungsverfahrens ergibt sich wiederum aus der konkreten Zuständigkeitsnorm, die die Zuständigkeit der Union für den Erlass einer sekundärrechtlichen Maßnahme regelt. Angewendet auf die vorstehend untersuchten Zuständigkeitsnormen kommt es zu einem gemischten Bild: Art. 126 Abs. 14 UAbs. 3 AEUV sieht kein Gesetzgebungsverfahren, sondern ein unbenanntes Rechtsetzungsverfahren vor, ohne dass dieser Umstand die Qualität des auf dieser Grundlage erlassenen Sekundärrechts beeinträchtigt. Die Zuständigkeitsnormen der Art. 114, Art. 121 Abs. 6 und Art. 338 AEUV sehen dagegen ordentliche Gesetzgebungsverfahren vor. Für die Auswahl zwischen Art. 290 und Art. 291 Abs. 2 AEUV bedeutet dies, dass ein auf Art. 126 Abs. 14 UAbs. 3 AEUV gestützter Rechtsakt nicht im Wege delegierter Rechtsetzung ergänzt werden dürfte. Hingegen wäre es ohne weiteres zulässig, die Rahmenverordnung im Verfahren nach Art. 291 Abs. 2 AEUV durchzuführen. Würde die Rahmenverordnung dagegen als Gesetzgebungsakt auf der Grundlage der anderen Zuständigkeitsnormen erlassen werden, verfügte der Unionsgesetzgeber über ein Ermessen, ob er von Art. 290 oder Art. 291 AEUV Gebrauch macht.39 Die gerichtliche Kontrolle dieser Entscheidung beschränkt sich auf offensichtliche Beurteilungsfehler.40 Verbunden mit der Entscheidung ist jedoch ein wichtiger Effekt. Im Verfahren nach Art. 290 AEUV beschließt die Kommission alleine, während 39 EuGH, Urteil Kommission/Parlament und Rat, C-427/12, ECLI:EU:C:2014:170, Rn. 40; im Schrifttum ist die Frage sehr strittig, wie hier W. Weiß, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2010, S. 60; a.A. M. Möstl, Rechtsetzung der europäischen und nationalen Verwaltungen, DVBl. 2011, S. 1076 (1081); U. Stelkens, Rechtsetzungen der europäischen und nationalen Verwaltungen, VVDStRL 71 (2012), S. 369 (400). 40 EuGH, Urteil Kommission/Parlament und Rat, C-427/12, ECLI:EU:C:2014:170, Rn. 40.

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sie sich nach Art. 291 Abs. 2 AEUVauf einen Ausschuss aus Vertretern der Mitgliedstaaten stützen muss.41 Allerdings wäre es auch im Verfahren nach Art. 290 AEUV nicht ausgeschlossen, wenn sie Vorarbeiten und Entwürfe von sachverständigen Ausschüssen heranzieht. Ein Unterschied zwischen beiden Verfahren besteht ferner darin, dass die Kommission, eine entsprechende Ermächtigung vorausgesetzt, nur nach Art. 290 AEUV den Gesetzgebungsakt abändern dürfte. 2. Beachtung des Wesentlichkeitsvorbehalts Ausdrückliche Vorgaben für die Art und Weise der Ermächtigung der Kommission durch den Unionsgesetzgeber sieht nur Art. 290 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV im Verfahren der delegierten Rechtsetzung vor. Hiernach müssen in dem Gesetzgebungsakt Ziele, Inhalt, Geltungsbereich und Dauer der Befugnisübertragung ausdrücklich festgelegt werden. Die wesentlichen Aspekte eines Bereichs bleiben dem Gesetzgebungsakt vorbehalten und dürfen nicht übertragen werden. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs galt auch für das frühere Komitologieverfahren, in dessen Tradition Art. 291 Abs. 2 AEUV steht, ein Wesentlichkeitsvorbehalt.42 Eine Bestimmung ist dann als wesentlich anzusehen, wenn ihr Erlass politische Entscheidungen erfordert43 oder wenn sie zu Grundrechtseingriffen führt.44 Diese Anforderung besteht für die Erteilung von Durchführungsbefugnissen der Kommission nach Art. 291 Abs. 2 AEUV fort,45 wenngleich das Kriterium der politischen Entscheidung vielfach nur schwierig zu bestimmen ist.46 Die in einem Basisrechtsakt vorgesehenen thematischen Grenzen der Durchführungsbefugnis muss die Kommission aber stets beachten.47 Angesichts der Bedeutung des Rechnungswesens für die staatliche Haushaltswirtschaft unterliegt die Einführung von EPSAS dem primärrechtlichen Wesentlichkeitsvorbehalt. Die Rahmenverordnung kann sich daher nicht darauf beschränken, eine allgemeine Ermächtigung an die Kommission auszusprechen und den EPSAS-Ausschuss einzurichten. Vielmehr bedarf es zwingender inhaltlicher Vorgaben, wie die EPSAS selbst ausgestaltet sein müssen. Wesentliche Bewertungsprinzipien ebenso wie Bewertungsspielräume der Mitgliedstaaten müssen durch den Unionsgesetzgeber selbst festgelegt werden. Dabei muss insbesondere Berücksichtigung finden, dass im nationalen Verfassungsrecht zwingende haushaltsrechtliche Vorgaben bestehen, 41

Hierzu siehe Art. 3 VO (EU) Nr. 182/2011, ABl. 2011 L 55, S. 13. EuGH, Rs. C-66/04, Vereinigtes Königreich/Parlament und Rat, Slg. 2006, I-10553, Rn. 48; Urteil Parlament/Rat, C-355/10, ECLI:EU:C:2012:516, Rn. 64 ff. 43 EuGH, Urteil Parlament/Rat, C-355/10, ECLI:EU:C:2012:516, Rn. 65. 44 EuGH, Urteil Parlament/Rat, C-355/10, ECLI:EU:C:2012:516, Rn. 77. 45 A.A. M. Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Stand April 2012, Art. 291 AEUV Rn. 40: Grenzen nur aus rechtsstaatlichen Grundsätzen. 46 Vgl. M. Gellermann, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 291 AEUV Rn. 14. 47 Vgl. Art. 11 VO (EU) Nr. 182/2011. 42

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die nicht durch EPSAS überspielt werden dürfen. Hierzu gehören vor allem die Haushaltsprinzipien der Wahrheit und Klarheit sowie das Bruttoprinzip. Damit verbunden sind wichtige Konsequenzen für das den IPSAS zugrunde liegende Prinzip der „fair presentation“. Die Koppelung der Bewertung an Marktpreise kann zwar ohne Weiteres zur Grundlage gemacht werden, doch müssen Ausnahmen und Einschränkungen dieses Grundsatzes sachbereichsspezifisch und nach den Geboten wirtschaftlicher Logik erfolgen. Vor allem für die zahlreichen staatlichen Vermögenswerte, für die keine Märkte bestehen, sind alternative Bewertungsverfahren vorzusehen, deren Resultate einem Wirklichkeitstest standhalten müssen. Insgesamt bedarf es daher einer sorgsamen Abwägung, welche Rechtsfragen zum Gegenstand der Rahmenverordnung selbst gemacht werden müssen oder auf die Kommission übertragen werden können. IV. Verstoß gegen Integrationsschranken des Grundgesetzes? 1. Ultra vires-Kontrolle Die oben diskutierte Frage nach der richtigen primärrechtlichen Rechtsgrundlage hat nicht nur eine europarechtliche, sondern auch eine verfassungsrechtliche Dimension. Bereits in der Maastricht-Entscheidung stellte das BVerfG klar, dass es „prüft, ob Rechtsakte der europäischen Einrichtungen und Organe sich in den Grenzen der ihnen eingeräumten Hoheitsrechte halten oder aus ihnen ausbrechen“.48 Hierzu führt es aus: „Würden etwa europäische Einrichtungen oder Organe den Unions-Vertrag in einer Weise handhaben oder fortbilden, die von dem Vertrag, wie er dem deutschen Zustimmungsgesetz zugrunde liegt, nicht mehr gedeckt wäre, so wären die daraus hervorgehenden Rechtsakte im deutschen Hoheitsbereich nicht verbindlich. Die deutschen Staatsorgane wären aus verfassungsrechtlichen Gründen gehindert, diese Rechtsakte in Deutschland anzuwenden.“49 Die damit gezogene verfassungsrechtliche Grenze erstreckt sich ausdrücklich auf die am Gedanken des „effet utile“ orientierte dynamische Auslegung von „Befugnisnormen“ der Verträge, die nicht in der Weise erfolgen darf, dass damit die Grenze zur Vertragsänderung, die allein in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten liegt, überschritten wird.50 Die ultra vires-Kontrolle findet ihre Rechtfertigung daher darin, dass die Mitgliedstaaten „Herren der Verträge“ geblieben sind.51 In dem späteren Honeywell-Beschluss relativierte das BVerfG seinen Beurteilungsmaßstab zwar dahingehend, dass die Kontrolle europarechtsfreundlich zu erfolgen habe und auf offensichtliche, im Kompetenzgefüge strukturell bedeutsame Maßnahmen zu beschränken sei.52 Im Vorlagebeschluss des BVerfG an den Gerichtshof der Europäischen Union vom 14. Januar 2014 bestä48

BVerfGE 89, 155, Leitsatz 5. BVerfGE 89, 155 (188). 50 BVerfGE 89, 155 (210). 51 BVerfGE 123, 267 (381). 52 BVerfGE 123, 286 (304). 49

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tigte das Gericht diesen Maßstab, wenngleich in der Entscheidung eine strenge Prüfung der Zuständigkeitsgrenzen nicht zu verkennen ist.53 Die praktische Bedeutung dieser Rechtsprechung für die hier zu beurteilende Frage liegt darin, dass sie einer dynamischen Auslegung von möglichen Rechtsgrundlagen in den Verträgen für die Einführung von EPSAS jedenfalls dann eine Grenze zieht, wenn damit in der Sache eine Änderung der Verträge verbunden wäre. Bedeutsam ist diese Erwägung insbesondere für Art. 114 und Art. 136 AEUV als mögliche Rechtsgrundlagen, da in beiden Fällen eine Überdehnung des Integrationsprogrammes – gemessen an anerkannten Interpretationsmaßstäben für die Auslegung des Primärrechts – drohte. 2. Haushaltsrecht als Bestandteil des Art. 79 Abs. 3 GG Die Einführung von EPSAS betrifft zwar den durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Haushaltsvorbehalt des Deutschen Bundestags, verletzt ihn aber nicht. In der Lissabon-Entscheidung führte das BVerfG zur Haushaltsverantwortung des Parlaments aus: „Die Hoheit über den Haushalt ist der Ort konzeptioneller politischer Entscheidungen über den Zusammenhang von wirtschaftlichen Belastungen und staatlich gewährten Vergünstigungen. Deshalb wird die parlamentarische Aussprache über den Haushalt – einschließlich des Maßes der Verschuldung – als politische Generaldebatte verstanden. Nicht jede haushaltswirksame europäische oder internationale Verpflichtung gefährdet die Gestaltungsfähigkeit des Bundestages als Haushaltsgesetzgeber. Zu der vom Grundgesetz erstrebten Öffnung der Rechts- und Sozialordnung und zur europäischen Integration gehört die Anpassung an Vorgaben und Bindungen, die der Haushaltsgesetzgeber als nicht unmittelbar beeinflussbare Faktoren in die eigene Planung einstellen muss. Entscheidend ist aber, dass die Gesamtverantwortung mit ausreichenden politischen Freiräumen für Einnahmen und Ausgaben noch im Deutschen Bundestag getroffen werden kann.“54 Gemessen an diesen Maßstäben beeinträchtigt die Einführung von EPSAS weder die Einnahmen- noch die Ausgabenhoheit des Bundestags unmittelbar. Die freie Verfügbarkeit des Parlaments über den Haushalt ist dadurch nicht beeinträchtigt. Insofern würde sich auch unmittelbar nichts am Verfahren der Haushaltsaufstellung von der Entscheidung über den Haushaltsplan durch die Bundesregierung bis zur endgültigen Feststellung des Haushalts durch das Haushaltsgesetz des Bundestags (vgl. Art. 110 GG) ändern. Die zentrale Steuerungsfunktion von Haushaltsplan und Haushaltsgesetz bliebe damit gewahrt. Im Übrigen gilt der Satz: „Die Verfassung verhält sich gegenüber dem Rechnungsstil neutral.“55 Bestätigt wird dies auch dadurch, dass die EPSAS nicht auf eine Verdrängung des kameralistischen Verfahrens zielen sol-

53

BVerfGE 134, 366, Rn. 24 und 36 ff. BVerfGE 123, 267 (361 f.). 55 C. Gröpl, Haushaltsrecht und Reform, 2001, S. 429. 54

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len, sondern auf seine Ergänzung durch eine Periodenrechnung.56 Überdies zeigt auf innerstaatlicher Ebene die Einführung von §§ 1a, 7a HGrG, dass der Bundesgesetzgeber selbst nicht von einer Beeinträchtigung der Haushaltsbefugnisse des Parlaments ausgeht, wenn auf staatlicher Ebene die Doppik zur Anwendung kommt. Bei einer bilanziellen Betrachtung würden sich allerdings die sachlichen Grundlagen für die politische Entscheidung über die Zusammensetzung der einzelnen Posten des Haushaltsplans verändern. Insbesondere würde durch die umfassende Vermögensanalyse deutlich werden, wo und in welchem Umfang ein Ressourcenverzehr eintritt und welche Rückstellungen für die Erfüllung künftiger Verbindlichkeiten, besonders im Bereich der Pensionslasten, erforderlich sind. Die Einführung von EPSAS hätte damit sehr wahrscheinlich Auswirkungen auf die haushaltspolitisch zu beantwortende Frage, nach welchen wirtschaftlichen Kriterien Haushaltsentscheidungen getroffen werden sollen. In welchem Umfang die Periodenrechnung tatsächlich zu einer Neujustierung haushaltspolitischer Entscheidungsparameter führen würde, ist derzeit noch nicht endgültig abzusehen. 3. Beeinträchtigung von konstitutiven Haushaltsgrundsätzen durch EPSAS? Eine bilanzielle Betrachtung staatlicher Haushaltswirtschaft darf jedoch nicht dazu führen, dass die sachlichen Grundlagen haushaltspolitischer Entscheidungen verunklart werden. Zwar gilt die Periodenrechnung überwiegend als das umfassendere, präzisere und daher transparenzfördernde Abbild der Haushaltswirtschaft im Vergleich zur Kameralistik.57 Gleichwohl leidet auch sie an strukturellen Schwächen, die für die verfassungsrechtliche Beurteilung wesentlich sind. Durch die bewusste Ablehnung des Zufluss-/Abflussprinzips und die Betonung des Entstehungszeitpunktes für die Bilanzierung eines Aktivums/Passivums verliert die Periodenrechnung die bei der kassenmäßigen Betrachtung hervorgehobenen Liquiditätsbelange weitgehend aus dem Auge. Eine geordnete staatliche Haushaltsführung beruht aber nicht nur auf der Solvenz des Haushaltsträgers, sondern muss in gleicher Weise Liquiditätsgesichtspunkte berücksichtigen, damit Zahlungsverpflichtungen rechtzeitig und in vollständiger Höhe erfüllt werden können.58 Eine Finanzrechnung gehört daher zu den verfassungsrechtlich zwingend gebotenen Elementen bei der Um-

56

KOM(2013) 114 final, S. 4. So insbesondere S. Korioth, Finanzen, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. III, 2. Aufl. 2013, § 44 Rn. 57 f.; H. Pünder, Der Beitrag der Verwaltung zur Konsolidierung der Staatsfinanzen, Die Verwaltung 2012, S. 1 (34 f.). 58 Vgl. J. Rose, Zur Bedeutung der Liquiditätsplanung im Neuen Kommunalen Rechnungswesen, ZKF 2010, S. 193 ff. 57

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stellung auf die Periodenrechnung,59 vorausgesetzt, sie ermöglicht eine wirksame Liquiditätssteuerung. Daneben zeigen sich diverse Strukturprobleme, die noch nicht befriedigend gelöst sind. So beseitigt die Periodenrechnung als solche nicht das Problem, dass hoch verschuldete staatliche Einrichtungen häufig von einer langfristig orientierten Fremdfinanzierung auf eine sehr kurzfristige Finanzierung in Gestalt von Kassenverstärkungskrediten umsteigen. Mit diesem Vorgehen wird letztlich nur eine strukturelle Überschuldung kaschiert. Ferner droht die Gefahr, dass das Anlagevermögen durch unrealistische Ansätze bilanziell zu hoch ausgewiesen wird, um ein höheres Eigenkapital auszuweisen und Verluste auszugleichen. Jenseits solcher spezifischen Probleme bei hochverschuldeten Staaten sind allgemeine Fragen an die Zwecksetzung und an die Methoden bilanzieller Betrachtung zu stellen. Generell muss gelten, dass Rechnungslegungszwecke und Rechnungslegungsmethoden miteinander harmonieren müssen. Dabei wäre vor allem zu berücksichtigen, dass staatliches Vermögen vielfach entweder aus rechtlichen oder faktischen Gründen nicht liquidierbar ist und daher nicht zur Bedienung von Verbindlichkeiten herangezogen werden kann. Der Umstand, dass ein Staat kein Unternehmen ist, zeigt sich insbesondere im militärischen Bereich, bei der öffentlichen Sicherheit und in grundlegenden sozialpolitischen Aufgabenfeldern, in denen der Staat „Anlagevermögen“ nicht einfach liquidieren kann, ohne an Funktionsfähigkeit bei der Erfüllung elementarer Staatsaufgaben zu verlieren. Insoweit kann der Zweck der Bilanzierung auch nicht der Schutz der Gläubiger sein.60 Bereits diese Erwägung schließt es aus, die auf IAS beruhenden IPSAS, die die Bedürfnisse der Rechnungslegung für Kapitalmarktgläubiger widerspiegeln, ohne Modifikation zu übernehmen. Vielmehr sollte es auf diesen Feldern primär darum gehen, die realen wirtschaftlichen Kosten transparent zu machen, zu denen der Staat derartige Kernaufgaben wahrnimmt. Insgesamt erfordert die Einführung der Periodenrechnung daher eine Neubewertung und Fortentwicklung der Grundsätze der Haushaltsklarheit und Haushaltswahrheit, die beide verfassungsrechtlichen Rang haben.61 Die Bewertung der Solvenz staatlicher Haushalte kann hierbei nicht unhinterfragt nach den Maßstäben der Bewertung von Unternehmen erfolgen, Fragen der ausreichenden Liquidität dürfen bei einer bilanziellen Betrachtung keinesfalls in den Hintergrund geraten. Daraus lassen sich verschiedene Konsequenzen ziehen. Alle Ansätze müssen zu Bruttowerten erfolgen.62 Bewertungsmodelle, die im Rahmen einer „fair presentation“ möglich sind, können auf Marktpreise abstellen, wenn ein Wirtschaftsgut am Markt erworben wurde oder es sich rechtlich und tatsächlich um ein marktmäßig verwertbares Wirt59 C. Gröpl, Haushaltsrecht und Reform, 2001, S. 429; K. Lüder, Notwendige staatliche Rahmenbedingungen für ein reformiertes staatliches Rechnungs- und Haushaltswesen, DÖV 2006, S. 641 (642). 60 J. Meinen, Vorschläge zur Anpassung der Standards staatlicher Doppik an die Zwecke der öffentlichen Rechnungslegung, DÖV 2012, S. 393 (393). 61 Vgl. BVerfGE 119, 96 (129 f.). 62 Zur Frage des netting siehe IPSAS 1, Ziffer 48 ff.

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schaftsgut handelt. In allen anderen Fällen ist die Sachgerechtigkeit alternativer Bewertungsverfahren strikt zu prüfen. Die Grundsätze der Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit ziehen zudem der Inanspruchnahme bilanzpolitischer Spielräume eine verfassungsrechtliche Grenze. Sie ist zweifelsohne bei sachlich unvertretbaren Bewertungen verletzt.63 Als problematisch können sich Bewertungspolitiken aber bereits dann erweisen, wenn ihr Gebrauch offensichtlich allein den Zweck verfolgt, den materiellen Bilanzausgleich herbeizuführen. Das Risiko von „gewisse[n] Schönfärbereien“ besteht, anders als die Kommission annimmt, nicht nur bei der Kameralistik,64 sondern potentiell ebenso bei der Periodenrechnung anhand von EPSAS.65 Die Notwendigkeit einer sachgerechten Fortentwicklung haushaltsrechtlicher Grundsätze66 weist in zweifacher Weise auf das Demokratieprinzip nach Art. 20 Abs. 2 GG (wie nach Art. 10 Abs. 1 EUV) zurück: Zum einen ist es Aufgabe des Gesetzgebers, unter dem Aspekt der Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit inhaltliche und organisatorische Vorkehrungen für eine sachlich realistische Form der bilanziellen Bewertung zu sorgen.67 Zum anderen liefe das Demokratieprinzip leer, wenn bei der Aufstellung des Haushalts haushaltspolitische Entscheidungen auf der Grundlage von Bewertungen getroffen werden, die schon bei einer ex ante-Sicht der Realität nicht standhalten können. Die Grundlage im Demokratieprinzip ergibt sich dabei aus einer einfachen Überlegung. Die wichtigste Wirtschaftsressource eines Staates, sein eigentliches Kapital, bilden die Steuerzahler, von deren Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft am Ende die Leistungskraft des staatlichen Haushalts abhängen. Als wahlberechtigte Staatsbürger müssen sie aber nicht nur erkennen können, in welcher Höhe sie steuerlich belastet werden, sondern auch, wofür der Staat die erhobenen Mittel verwendet. Haushaltsklarheit und Haushaltswahrheit bilden schließlich die Grundlage für eine wirkungsvolle Überwachung staatlicher Haushalte durch Rat und Kommission nach Art. 126 AEUV. Insofern bedeutet die Einführung von EPSAS erst dann eine Verbesserung des Rechnungswesens, wenn sie auf Bewertungsansätzen beruhen, die realitätsgerecht, d. h. eingebettet in die gesamtwirtschaftliche Situation eines Landes und unter Berücksichtigung zwingender rechtlicher Vorgaben, die haushaltswirtschaftliche Situation eines Mitgliedstaats widerspiegeln.

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Vgl. BVerfGE 118, 96 (130). KOM(113), 114 final, S. 4. 65 Vgl. C. Gröpl, Haushaltsrecht und Reform, 2001, S. 434. 66 K. Lüder, Notwendige staatliche Rahmenbedingungen für ein reformiertes staatliches Rechnungs- und Haushaltswesen, DÖV 2006, S. 641 (646 f.). 67 Im Ergebnis ebenso H. Kußmaul/S. Meyering, in: Gröpl (Hrsg.), BHO/LHO, 2011, Vorb. zu §§ 70 ff. Rn. 52, allerdings unter Berufung auf den Grundsatz der Generationengerechtigkeit. 64

Zum Wert der „Schuldenbremse“ des Art. 115 Abs. 2 GG Von Günter Püttner, Speyer I. Die Vorgeschichte Staatsschulden und Staatsüberschuldung sind spätestens seit dem Mittelalter ein sattsam bekanntes und viel beklagtes Thema. Zu diesem Thema gehören aber auch die Frage nach der „richtigen“ Staatsfinanzierung1 und die Frage nach der Berechtigung staatlicher Kreditaufnahme zum Zwecke der Wirtschaftsbelebung im Staat2. Lässt man einmal die (häufig gegebene) Kreditfinanzierung von Kriegen außen vor, so ist immer wieder die Frage gestellt worden, ob nicht eine Regierung, die gar keine Schulden macht, zu wenig für die Zukunft des Landes tut oder getan hat. Zu hohe Schulden sind aber eigentlich immer als schädliche Belastung des Gemeinwesens angeprangert worden. Es fragt sich früher und fragt sich heute, wo die „richtige“ Mitte liegt. In Deutschland hat die Staatsverschuldung eine bewegte Geschichte. In Preußen musste der König nach der Überschuldung während der Napoleonischen Kriege versprechen, künftig ohne Genehmigung durch die Stände keine Kredite mehr aufzunehmen3. Dies mag bis zu erneuten kriegsbedingten Mehrausgaben bremsend gewirkt haben. Zu den bemerkenswerten Details der Reichsgründung 1871 gehört, dass das neu gegründete Reich naturgemäß schuldenfrei startete und auch einige Zeit solide bleiben konnte. Die nachfolgende Entwicklung ist bekannt und braucht nicht dargelegt zu werden. Interessant ist, dass in den Jahren 1946 bis 1949 die Länder und der Bund wiederum frei von internen Schulden starten konnten und erst im Laufe der Zeit zur Kreditfinanzierung übergingen. Hierbei spielt der Übermut der frühen siebziger Jahre („Alles ist machbar“) eine nicht unwichtige Rolle. Zwar

1 Diese Frage hat zwar lange Zeit die Mehrheit der Staatsrechtler nicht beschäftigt, aber in jüngster Zeit hat sich das – unter Beteiligung des Jubilars – geändert. 2 Vgl. die Zusammenstellung von Karl Diehl und Paul Mombert, Das Staatsschuldenproblem, 1980. 3 Daran hat sich der König in der Folgezeit auch gehalten, ein für Politiker merkwürdiges Verhalten. Infolgedessen mußte für die seinerzeit gegründete preußische Staatsbank und für den Eisenbahnbau privates Kapital in Anspruch genommen werden.

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gab es vereinzelt warnende Stimmen4, aber diese fanden so gut wie kein Gehör (Näheres dazu unten). So ist schon vor der Wiedervereinigung ein beträchtlicher Schuldenberg im Bund und (überwiegend) in den Ländern angehäuft worden. In den anderen europäischen (und ferneren) Staaten hat sich eine ähnliche Entwicklung ergeben. Man kann also das Schuldenmachen kaum einer bestimmten politischen Richtung anlasten; allgemein gefiel man sich darin, auf „Pump“ zu leben. In Deutschland hat dann bekanntlich die Wiedervereinigung zu einem weiteren Anstieg der Verschuldung des Bundes geführt, der nun die Lage prägt. II. Die frühen Staatsverschuldungsregelungen des Grundgesetzes Das Grundgesetz enthielt in der ursprünglichen Fassung hinsichtlich der staatlichen Kreditaufnahme nur eine eher formale, noch heute in Art. 115 Abs. 1 GG fortlebende Regelung, nämlich die Anforderung eines die Höhe der Kreditaufnahme festlegenden Bundesgesetzes (Art. 115, GG a.F.). Allerdings sollten Kredite danach „nur bei außerordentlichem Bedarf und in der Regel nur für Ausgaben zu werbenden Zwecken“5 aufgenommen werden, eine Bremse, die keine praktische Wirkung entfaltet hat. Im Zuge der Finanzreform von 1969 wurde die Regelung kaum verschärft; nun sollte die Neuverschuldung künftig nur bis zur Höhe der vorgesehenen Investitionen zulässig sein, aber damit war, wie sich zeigte, nicht viel gewonnen. Allerdings ist diese Großzügigkeit der Staatsschuldenregelung6 unter dem Gesichtspunkt der Grundprinzipien der demokratischen Staaten auf dezidierte Kritik seitens des Verfassers7 und anderen gestoßen. Nach dem Sinn des im Art. 110 GG festgelegten Haushaltsausgleichs müssten in jeder Periode endgültige Ausgaben durch endgültige Einnahmen und nicht z. T. durch Kredite gedeckt sein. Die Einnahmen aus Krediten seien keine endgültigen, sondern nur vorläufige Einnahmen, die in den folgenden Jahren aus den dann anfallenden Einnahmen zurückgezahlt und verzinst werden müssten. Die Kreditfinanzierung des Haushalts sei also nichts anderes als ein Vorgriff auf künftige Einnahmen, der den Grundgedanken der Demokratie (Macht auf Zeit) widerspreche. Freilich musste konzediert werden, dass diese Konsequenz im Grundgesetz nicht hinreichend zum Ausdruck gebracht, insbesondere im Art. 115 GG nicht angesprochen war. Es konnte also nicht verwundern, dass das Bundesverfassungsgericht de constitutione lata ein Verbot der Kreditfinanzierung nicht festgestellt und einen ent4

Zu diesen Stimmen gehört die des Verfassers, der 1980 in einem (im De-Gruyter-Verlag veröffentlichten) Vortrag „Staatsverschuldung als Rechtsproblem“ auf die Probleme hingewiesen hat; dort weitere Nachweise. 5 Die gleiche Formulierung fand sich schon im Art. 87 der Weimarer Reichsverfassung. 6 Zu dieser ausführlich Wolfram Höfling, Staatsschuldenrecht, Heidelberg 1993. 7 Vgl. oben Anm. 4.

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sprechenden Antrag abgewiesen hat8. Die Staatsverschuldung nahm also, wie dargestellt, bis in die jüngste Zeit ihren Lauf. III. Die Neuregelung von 2009 Erst die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise ab der Mitte des Jahres 2008 hat ein Umdenken hinsichtlich der Staatsverschuldung mit sich gebracht. Es setzte sich nun die oben vertretene Auffassung durch, dass ein echter Haushaltsausgleich nur gegeben ist, wenn keine Kreditfinanzierung stattfindet. Dementsprechend ist durch Gesetz vom 29. 07. 20099 u. a. Art. 115 GG geändert und um den neuen Art. 2 erweitert worden, der den echten Haushaltsausgleich vorschreibt. Diese neue Vorschrift ist inzwischen mehrfach ausführlich kommentiert worden10, sodass es keinen Sinn macht, eine weitere Kommentierung hinzuzufügen. Hinzuweisen ist immerhin darauf, dass zumindest in den Sätzen 5 und 8 zahlreiche unbestimmte Rechtsbegriffe enthalten sind, die erheblichen Interpretationsspielraum eröffnen. Das in Satz 5 vorgesehene Bundesgesetz ist bereits im Jahr 2009 ergangen11; es wiederholt z. T. die grundgesetzliche Regelung und bietet einige Ergänzungen, die aber auch nicht wesentlich mehr Klarheit schaffen. Was im Krisenfall geschehen würde, lässt sich deshalb nicht zuverlässig vorhersehen. Die augenblickliche finanzielle Schönwetterlage bedeutet, dass eine Klärung derzeit nicht erforderlich ist, doch die Zukunft liegt wie immer im Dunkeln. IV. Zur Effizienz der Neuregelung Die Bewertung der Effizienz, also der Wirkkraft der Neuregelung, betrifft nicht nur die Interpretation des Grundgesetz-Textes, sondern muss wesentlich mehr Gesichtspunkte berücksichtigen. Einige dieser Punkte sollen hier kurz angesprochen werden. Zu nennen ist zunächst die „Verlagerung“ von öffentlichen Schulden in Nebenhaushalte, insbesondere in öffentliche Unternehmen oder auch in staatlich beherrschte gemischtwirtschaftliche Unternehmen. In dieser Hinsicht hat vor einiger Zeit der Bundesrechnungshof Kritik an der Vorgehensweise des Bundes im Bereich des Fernstraßenbaues geübt12. Auf diesem Feld hat allerdings der Missbrauch Tradition. 8

BVerfGE 79, S. 311 ff., übrigens nach überlanger Prozessdauer. BGBl I S. 2248. 10 Interessanterweise findet sich unter den Kommentierungen eine aus der Feder von Hanno Kube im Maunz-Dürig, der sonst meistens Jahre zurückhinkt. 11 BGBl. I S. 2702. 12 Vgl. das Gutachten des Präsidenten des Bundesrechnungshofs in seiner Eigenschaft als Bundesbeauftragter für die Wirtschaftlichkeit der Verwaltung vom 5. 1. 2009; Bemerkungen des Bundesrechnungshofs 2012 zur Haushalts- und Wirtschaftsführung des Bundes, insbesondere unter 2.2. 9

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Schon vor Jahren bemühten sich die Straßenbauer um die Finanzierung ihrer Vorhaben auch ohne Bewilligung im Haushalt. Sie erfanden die „Privatfinanzierung“ von Straßen, die aber in Wahrheit nur eine private Vorfinanzierung war und später vom Staat abgedeckt werden musste13. Aber auch die Verlagerung von Schulden in rein öffentliche Unternehmen hat in Deutschland Tradition. So hat der Bund seit den siebziger Jahren der damaligen Deutschen Bundesbahn (bundeseigene Verwaltung) die nötige Eigenkapitalausstattung verweigert und die Bahn, begünstigt durch Art. 110 Abs. 1 S. 2 GG, auf das Schuldenmachen verwiesen. Dieser Übelstand14 ist durch die Bahnreform von 1993 beseitigt worden; die Bahn ist jetzt Aktiengesellschaft und darf sich nicht mehr überschulden. Aber es besteht natürlich die Gefahr, dass interessierte Verwalter im Bund wieder neue öffentliche Unternehmen finden, in die sie Schulden verlagern können. Auch die Möglichkeit der Manipulation über Bürgschaften und Gewährleistungen ist zu nennen. Im Übrigen bieten sich für Manipulationen besonders auch die Sozialversicherungen an, deren erhebliches finanzielles Volumen dafür beachtliche Spielräume eröffnet. Dieses weite Feld soll hier nicht näher beleuchtet werden. Immerhin sei angemerkt, dass immer wieder die Neigung besteht, versicherungsfremde soziale Wohltaten in die Versicherungen zu verlagern und so vorbei am Haushalt zu finanzieren. Daraus kann sich in schlechteren Zeiten als heute durchaus eine zusätzliche Verschuldung (bei den Versicherungsträgern) ergeben. Betrachtet man diese „Möglichkeiten“ insgesamt und bezieht man die in Art. 115 Abs. 2 GG selbst angelegten Sonderregelungen mit ein, so drängt sich der Eindruck auf, dass in schlechten Zeiten die Neuregelung letztlich nicht greifen wird. Es stellt sich also die Frage nach dem Wert der Neuregelung, worauf anschließend einzugehen ist. V. Zum Wert der Neuregelung Vorab ist zu bemerken, dass die Regelung des Art. 115 Abs. 2 mit Recht allgemein als Schuldenbremse und nicht als Schuldenverhinderung bezeichnet wird. Ihr Wert bestimmt sich also nach dem Grad der Bremswirkung, den sie zu erzielen vermag. Und aus diesem Blickwinkel fällt die Beurteilung nicht so negativ aus, wie es zunächst den Anschein hatte. Man muss in Rechnung stellen, dass die politischen Akteure auch in Krisenzeiten die verfassungsrechtliche Regelung nicht einfach außer Acht lassen können, weil sie unter öffentlicher Kontrolle stehen. Sie müssen befürchten, im Falle klarer Missachtung der Verfassung aus Kreisen der Opposition und der Öffentlichkeit harte Kritik zu erfahren, die ihnen gefährlich werden kann. Sie werden 13

Zusammenfassend dazu Günter Püttner, Die Privatfinanzierung öffentlicher Vorhaben – Weg oder Irrweg?, in: Festschrift für Karl Heinrich Friauf, 1996. 14 Der Übelstand blieb verborgen, weil die Beamten der Bahn nicht vorbei am Minister an die Öffentlichkeit gehen durften.

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also etwas Vorsicht walten lassen und die Dinge so gestalten, dass sie zumindest eine gewisse Rechtfertigung für ihr Handeln liefern können. So ungeniert wie früher können sie nicht über die Verfassungsregelung hinweggehen. Damit entfaltet die Neuregelung doch eine beachtliche Bremswirkung, die man nicht unterschätzen sollte. Es ist also zum guten Teil eine psychologische Wirkung, die hier in Erscheinung tritt. Es fällt auf, dass im deutschen Verfassungsrecht der Einfluss der Psychologie zu wenig thematisiert wurde, obwohl es sich um einen wichtigen Aspekt handelt. Rechts-Psychologie ist überhaupt bisher ein Randgebiet, das eine institutionelle Pflege im deutschsprachigen Raum nur in Zürich erfährt. In diesem Zusammenhang sind Verfassungsbestimmungen zu erwähnen, die im Wesentlichen dazu dienen, die Bedeutung eines Schutzguts hervorzuheben wie z. B. Art. 20a GG bezüglich des Umweltschutzes. Hierher gehören aber eben auch verfassungsrechtliche Mahnungen wie die Neuregelung des Art. 115 Abs. 2 GG. Es wäre wünschenswert, den Aspekt der Verfassungs-Psychologie nicht allein den Politologen zu überlassen, sondern ihn gerade auch im Verfassungsrecht deutlich zu etablieren. VI. Ein wunder Punkt: Die Investitionen Die Schuldenbremse als Mittel zur Ver- oder Behinderung der Kreditfinanzierung des Haushalts darf allerdings nicht losgelöst von der übrigen Haushaltspolitik und der allgemeinen Staatstätigkeit betrachtet werden. Wenn zum Zwecke des Haushaltsausgleichs ohne Schuldenaufnahme gespart werden muss, so fragt sich natürlich, an welcher Stelle oder an welchen Stellen gekürzt oder gestrichen werden soll. Art. 115 Abs. 2 GG hüllt sich insoweit in Schweigen und liefert keine Hinweise auf Einsparpotentiale. Es ist also Sache der allgemeinen Politik, Sparmöglichkeiten auszumachen. Auf der Suche nach solchen Bereichen stößt man auf zahlreiche „heilige Kühe“ namentlich sozialer Provenienz, die nicht geschlachtet werden dürfen. Wo Kürzungen im sozialen Feld denen, die sie verursachen, Wählerstimmen kosten, kann man im demokratischen Staat kaum erwarten, dass die Abgeordneten dazu bereit sind. Und im Übrigen gibt es immer einige starke Minister, die ihren Bereich zu verteidigen wissen. Ein wunder Punkt ist dabei: Es bleiben recht oft bei den Kürzungen die Investitionen auf der Strecke. Es ist kein Zufall, dass es immer wieder die Straßenbauer waren, bei denen es Kürzungen gab und die sich damit nicht abfinden wollten. So gab es die oben erwähnten Umgehungsversuche. Aber es sind auch andere Investitionen, die bei Kürzungsaktionen auf der Strecke bleiben, z. B. wichtige Erhaltungsinvestitionen. Wenn aus diesem Grunde beispielsweise öffentliche Infrastruktur verrottet, muss später mit viel mehr Aufwand nachgerüstet werden. Aber eben später; zunächst macht sich der Investitions-Ausfall nicht deutlich bemerkbar. Es ist deshalb verständlich, wenn von wirtschaftswissenschaftlicher Seite immer wieder vor der

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Unterlassung wichtiger Investitionen gewarnt wurde15. Aber der Forderung, deshalb doch wieder den Weg der Verschuldung zu gehen, muß nachdrücklich widersprochen werden. Vielmehr ist die Politik gefordert; sie muss für eine bessere Verteilung der Kürzungen sorgen und den Mut aufbringen, auch unpopuläre Sparmaßnahmen zu ergreifen. Das sagt sich leicht, ist aber natürlich eine harte Forderung. Aber es führt kein Weg vorbei an schmerzhaften Einschnitten. Letztlich kann man eben nicht mehr ausgeben, als man hat. Dieser harte Kurs ist auch deshalb notwendig, weil in einigen Jahren die demographische Entwicklung ohnedies zu Einschnitten zwingen wird. Wenn demnächst die ausgedünnte Schicht der im Arbeitsleben Stehenden die vergrößerte Zahl der Ruheständler unterhalten muß, stehen schwere Zeiten bevor. Ob es einen genügenden Ausgleich durch Zuwanderungen geben wird, ist nicht sicher, weil die Infragekommenden möglicherweise nicht hier eintreffen, weil sie in anderen Ländern besser verdienen können. Jedenfalls besteht Grund, die in Grundgesetz eingefügte Schuldenbremse ernst zu nehmen und nicht zu umgehen. Das sind wir der kommenden Generation schuldig.

15 Kurz vor Abschluss des Manuskripts ereignete sich in Frankreich eine diesen Punkt betreffende Regierungskrise.

Was bleibt vom Budgetrecht des Bundestages in der „Fiskalunion“? Anmerkungen zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Von Rudolf Streinz, München I. Problemstellung: Die Beeinträchtigung der bei den Mitgliedstaaten verbliebenen Budgethoheit der nationalen Parlamente durch unionale Vorgaben Die Reaktionen des deutschen Gesetzgebers und des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) auf Vorgaben, die sich aus der europäischen Integration ergeben, hat Rudolf Wendt in letzter Zeit mehrfach behandelt1. Angesichts der in der Europäischen Union in den Bereichen Wirtschaft, Finanzen und Währung zu lösenden Probleme (Finanzkrise, Staatsschuldenkrise, Bankenkrise) liegt dies für den Inhaber eines Lehrstuhls für Staats- und Verwaltungsrecht, Wirtschafts-, Finanz- und Steuerrecht auch nahe. Eine der Problemursachen ist die unterschiedliche Ausgestaltung der beiden Teile der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU). Diejenigen Staaten, deren Währung der Euro ist (sog. Euro-Zone), haben die Währungshoheit und damit ein wesentliches Hoheitsrecht auf die Europäische Union mit entsprechenden Befugnissen der Europäischen Zentralbank (EZB) übertragen. Dies hat hinsichtlich Deutschlands das BVerfG im Maastricht-Urteil auch verfassungsrechtlich gebilligt2, allerdings unter der Prämisse, dass die Währungsunion eine „Stabilitätsgemeinschaft“ ist3. Ausdrücklich vorrangiges Ziel des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB) und damit auch der EZB ist, die Preisstabilität zu gewährleisten (Art. 127 Abs. 1 1 Siehe z. B. Rudolf Wendt, Verfassungskonforme Auslegung und die Umsetzung europäischer Verträge und sonstiger Vorgaben in nationales Recht in Deutschland, in: Werner Meng/ Georg Ress/Torsten Stein (Hrsg.), Europäische Integration und Globalisierung, FS EuropaInstitut der Universität des Saarlandes – Rechtswissenschaft, 2011, S. 625; ders./Steffen Lampert, Finanzmarktregulierung – welche Regelungen empfehlen sich für den deutschen und europäischen Finanzsektor?. Stand und Perspektiven der Maßnahmen zur Stabilisierung des Finanzsystems, DVBl. 2010, 1001. 2 BVerfGE 89, 155 (207 ff.) unter Hinweis auf die verfassungsrechtliche Ermächtigung in Art. 88 Satz 2 GG (ebd. S. 208). 3 BVerfGE 89, 155 (205); bestätigt in BVerfGE 97, 350 (369); 129, 124 (181 f.); 132, 195 (243), Rn. 115.

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S. 1 AEUV). Nur soweit dies ohne Beeinträchtigung des Zieles der Preisstabilität möglich ist, unterstützt das ESZB die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Union, um zur Verwirklichung der in Art. 3 EUV festgelegten Ziele der Union beizutragen (Art. 127 Abs. 1 S. 2 AEUV), und nur insoweit sind auch Maßnahmen der EZB gerechtfertigt4. Die Wirtschaftspolitik in der Union ist dagegen nach wie vor in der Kompetenz der Mitgliedstaaten verblieben, die allerdings unionsrechtlich verpflichtet sind, „ihre“ Wirtschaftspolitik nach Maßgabe der Verträge zu koordinieren (Art. 121 i.V.m Art. 120 AEUV). Diese Koordinierung ist auch erforderlich, da andernfalls eine Währungsunion nicht funktionieren kann. Mit der Vorgabe, übermäßige Defizite zu vermeiden und Haushaltsdisziplin zu üben (Art. 126 AEUV), sind Einschränkungen der in der Kompetenz der Mitgliedstaaten verbliebenen Budgethoheit verbunden, die in letzter Zeit durch eine Verschärfung des so genannten Stabilitätspakts5 durch das sog. Six-Pack6 sowie durch den so genannten Fiskalpakt7 und den Vertrag über den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM)8 sowie den sog. Euro-Plus-Pakt9 und das sog. Two-Pack10 gesteigert wurden. Hinzu kommen

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Vgl. zu diesem Aspekt auch die Erwägungen des OMT-Vorlagebeschlusses des BVerfG vom 14. 1. 2014, BVerfGE 134, 366 = NJW 2014, 907, Rn. 100. Vgl. dazu Walter Pauly/ Hannes Beutel, Die ESM-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts: Wege aus einer Sackgasse, BayVBl. 2014, 453 (455 f.). 5 Vgl. dazu Christoph Herrmann, Europäisches Währungsrecht. Textausgabe mit Einführung, 2013, S. XXIX ff. sowie ebd. die Texte Nr. 29 – 31, die bereits die im Rahmen des SixPack vorgenommenen Änderungen der auf Betreiben Deutschlands und Frankreichs durch VO (EG) Nr. 1055/2005 und VO (EG) Nr. 1056/2005 aufgeweichten VO (EG) Nr. 1466/97 über den Ausbau der haushaltspolitischen Überwachung und der Überwachung und Koordinierung der Wirtschaftspolitiken und VO (EG) 1467/97 über die Beschleunigung und Klärung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit durch VO (EU) Nr. 1175/2011 und VO (EU) Nr. 1177/2011 und damit die aktuelle Fassung enthalten. 6 Vgl. die Texte bei Herrmann (Fn. 5), Nr. 32 – 35. Hinzu kommen VO (EU) Nr. 1175/2011 (ABl. 2011 Nr. L 306/12) und VO (EU) Nr. 1177/2011 (ABl. 2011 Nr. 306/33) zur Verschärfung des Stabilitätspakts (s. o. Fn. 4). 7 Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion vom 2. 3. 2012 – VSKS (BGBl. II S. 1006). Text in Herrmann (Fn. 5), Nr. 36. Deutsches Zustimmungsgesetz vom 13. 9. 2012 (ebd. Nr. 37). 8 Vertrag zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus vom 2. 2. 2012 (BGBl. II S. 981). Text in Herrmann (Fn. 5), Nr. 47. Bekanntmachung des Inkrafttretens am 27. 9. 2012 mit für das hier behandelte Thema relevanten (s. u. III. 2.) interpretativen Erklärungen der Vertreter der Vertragsstaaten sowie des Deutschen Bundestags vom 1. 10. 2012 (BGBl. II S. 1086), deutsches Zustimmungsgesetz vom 13. 9. 2012 (BGBl. II S. 981). Zur innerstaatlichen Durchführung wurde das Gesetz zur finanziellen Beteiligung am Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM-Finanzierungsgesetz – ESMFinG) vom 13. 9. 2012 (BGBl. I S. 1918) erlassen. Texte bei Herrmann (Fn. 5), Nr. 48 – 51. Weitere Texte zu vorhergehenden Phasen des sog. „Europäischen Rettungsschirms“ ebd. Nr. 39 – 46 und Nr. 51. 9 EURO-PLUS-PAKT: Stärkere Koordinierung der Wirtschaftspolitik im Hinblick auf Wettbewerbsfähigkeit und Konvergenz, Anhang 1 der revidierten Fassung der Schlussfolgerungen der Tagung des Europäischen Rates vom 24./25. 3. 2011. Text bei Herrmann (Fn. 5), Nr. 38.

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materielle Verpflichtungen, die Deutschland in Reaktion auf die europäische Banken- und Staatsschuldenkrise seit 2010 insbesondere im Rahmen der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF)11 und den ESM eingegangen ist12. Für diese fordert das BVerfG mit Blick auf die Zustimmung zu Art. 4 Abs. 8 ESMV, wonach Versäumnisse der Einzahlung der geschuldeten Beiträge zur Aussetzung der Stimmrechte und damit für Deutschland zum Verlust seiner gegenwärtig bestehenden Vetoposition führen, dass der Gesetzgeber haushaltsrechtlich durchgehend sicherstellt, dass die Bundesrepublik Deutschland Kapitalabrufen nach dem ESMV fristgerecht und vollständig nachkommen kann13. Wenngleich das sog. „Europäische Semester“ zur Sicherung einer engeren Koordinierung der Wirtschaftspolitik und einer dauerhaften Konvergenz der Wirtschaftsleistung der Mitgliedstaaten durch Vorverlagerung der haushaltspolitischen Überwachung, Vorabmeldung durch die Mitgliedstaaten, Überprüfung der Kommission und deren Stellungnahmen dazu14 keine „Genehmigungspflicht“ der Haushalte der Mitgliedstaaten beinhaltet und die verstärkte Überwachung der Empfänger von Hilfe aus der EFSF und dem ESM durch Art. 136 Abs. 3 AEUV vorgeschrieben ist und letztlich im gemeinsamen Interesse liegt, da anders dieser Mechanismus politisch nicht vermittelbar wäre: Da durch diese Maßnahmen nicht nur die politische Gestaltungsfreiheit der in den jeweiligen Mitgliedstaaten Verantwortlichen, sondern mit dem Budgetrecht das so genannte „Königsrecht“15 des Parlaments beeinträchtigt wird, führte dies nicht nur zu Proble10 VO (EU) Nr. 472/2013 über den Ausbau der wirtschafts- und haushaltspolitischen Überwachung von Mitgliedstaaten im Euro-Währungsgebiet, die von gravierenden Schwierigkeiten in Bezug auf ihre finanzielle Stabilität betroffen oder bedroht sind (ABl. 2013 Nr. L 140) und VO (EU) Nr. 473/2013 über gemeinsame Bestimmungen für die Überwachung und Bewertung der Übersichten über die Haushaltsplanung und für die Gewährleistung der Korrektur übermäßiger Defizite der Mitgliedstaaten im Euro-Währungsgebiet (ABl. 2013 L 140/ 11). 11 European Financial Stability Facility. Articles of Incorporation (EFSF-Gründungsvertrag), Text in Herrmann (Fn. 5), Nr. 44; EFSF-Rahmenvertrag, Text ebd., Nr. 45. 12 Hanno Kube, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, EL 70/2013, Art. 110, Rn. 48. 13 BVerfG, Urt. v. 18. 3. 2014, 2 BvR 1390/12, EuGRZ 2014, 193 (220) = NJW 2014, 1505 (1513) Rn. 200. Vgl. bereits BVerfGE 132, 195 (263), Rn. 164 f. 14 Vgl. Europäische Kommission, Mitteilung vom 7. 6. 2011, Abschluss des ersten Europäischen Semesters für eine Koordinierung der Wirtschafts- und Währungspolitik – Orientierungen für die Politik der Mitgliedstaaten 2011 – 2012, Dok. KOM(2011)400 endgültig. Zur Berücksichtigungspflicht bei der Aufstellung des Haushaltsplans vgl. Kube (Fn. 12), Art. 110, Rn. 45, 164; Christoph Gröpl, Schritte zur Europäisierung des Haushaltsrechts, Der Staat 52 (2013), 1 (18). 15 Ein etwas merkwürdiger Begriff für eine demokratische Institution. Aber „König“ steht wohl generell für Herausragendes, z. B. Königstransfers im Fußball für die jeweils höchste innerhalb einer Periode gezahlte Transfersumme. Vgl. zur verfassungsrechtlichen Bedeutung des Budgetrechts BVerfG, Urt. v. 18. 3. 2014, 2 BvR 1390/12 = EuGRZ 2014, 193 (221), Rn. 201 m.w.N aus seiner Rspr., z. B. BVerfGE 45, 1 (32) – Haushaltsüberschreitung und BVerfGE 70, 324 (355) – Haushaltskontrolle der Nachrichtendienste. Zur historischen Perspektive vgl. Kube (Fn. 12), Art. 110, Rn. 17 m.w.N.; Christoph Gröpl, Staatseinnahmen und Staatsausgaben im demokratischen Verfassungsstaat, AöR 133 (2008), 1 (22 f.); Josef Isensee, Budgetrecht des Parlaments zwischen Schein und Sein, JZ 2005, 971 (972).

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men politischer Realisierung, sondern auch zu verfassungsrechtlichen, aber auch zu europarechtlichen16 Grundsatzproblemen. Mit diesen werden bei entsprechender verfassungsrechtlicher Kompetenzzuweisung die Gerichte, in Deutschland das BVerfG, befasst, das dazu eine Reihe von Urteilen gefällt hat. Hier stellt sich in mehrfacher Hinsicht die Frage nach den Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit. Soweit durch unionsrechtliche Vorgaben der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) zuständig ist, müssen ihm entsprechende Fragen zur Entscheidung vorgelegt werden, was auch das BVerfG jetzt erstmals ausdrücklich praktiziert17. Die Urteile des EuGH sind verbindlich und werden auch vom BVerfG akzeptiert, es sei denn, einer der verbliebenen, europarechtsfreundlich restriktiv ausgelegten Verfassungsvorbehalte, die die Grenzen der Integrationsermächtigung des Artikels 23 GG konkretisieren sollen, hindert es daran. Bevor ein solcher Fall eintritt, ist dem EuGH in jedem Fall Gelegenheit zu geben, seinerseits den Konflikt zu entschärfen18, der angesichts unterschiedlicher „Letztentscheidungskompetenzen“ nur durch gegenseitige Rücksichtnahme und entsprechend ausgestaltetem Dialog vermieden werden kann und zur Vermeidung von Aporien vermieden werden muss19. Innerstaatlich stellt sich die Frage der verfassungsgerichtlichen Kontrolldichte. Denn Fragen der Wirtschafts- und Währungspolitik sind aus verschiedenen Gründen, z. B. wegen der Unsicherheit von Prognosen, nur eingeschränkt rechtlich regelbar. Sie verlangen auch besondere politische Gestaltungsfreiheit, ohne von rechtlichen Vorgaben zu entbinden. Damit ist in einem kritischen Bereich das Problem der Gewaltenteilung zwischen den po16

Vgl. dazu Ulrich Häde, Art. 136 AEUV – eine neue Generalklausel für die Wirtschaftsund Währungsunion?, JZ 2011, 333 (333 ff.), der darin ein unzulässiges Abweichen vom in den in den EU-Verträgen und damit im Primärrecht vorgesehenen Entscheidungsmodell und Sanktionsinstrumentarium sieht. Ebenso Jürgen Bast/Florian Rödl, Jenseits der Koordinierung? Zu den Grenzen der EU-Verträge für eine Europäische Wirtschaftsregierung, EuGRZ 2012, 269 (269 ff.). Die damit auch angesprochene Frage der Abstimmung zwischen dem „vergemeinschafteten“ und dem intergouvernementalen Verfahren sowie den Grenzen von Reformen ohne Änderung der Verträge, vor der man nach den Erfahrungen mit dem Verfassungsvertrag und dem Vertrag von Lissabon zurückschreckt, soweit nicht wie bei der Einfügung des Art. 136 Abs. 3 AEUV ein vereinfachtes Verfahren (Art. 48 Abs. 6 EUV) in Betracht kommt, das der EuGH billigt (Rs. C-370/12 – Pringle, NJW 2013, 29, Rn. 70), wäre ein eigenes Thema. 17 BVerfG, Beschluss vom 14. 1. 2014, BVerfGE 134, 366 = NJW 2014, 907: Aussetzung der Verfahren und Vorlage an den EuGH gem. Art. 19 Abs. 3 Buchst. b und Art. 267 Abs. 1 Buchst. a und b AEUV (Gültigkeitsfrage, hilfsweise Auslegungsfrage). 18 Vgl. zu dieser hinsichtlich der Ultra vires-Kontrolle erfüllten (BVerfGE 126, 268/Leitsatz 1b – Honeywell) und für alle Kontrollmaßstäbe (Grundrechtskontrolle, Identitätskontrolle) geltenden Forderung bereits Rudolf Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1989, S. 304 f. 19 Vgl. ebd., S. 328 ff. Im Bereich des Grundrechtsschutzes ist dies durch gegenseitige Rücksichtnahme gelungen, vgl. einerseits BVerfGE 102, 147 (Leitsatz) – Bananenmarktordnung, andererseits EuGH, Rs. C-36/02 (Omega), Slg. 2004, I-9609, Rn. 37 ff. Insoweit stellen sich jetzt andere Probleme, die ebenfalls durch gegenseitige Rücksichtnahme zu lösen sind, vgl. dazu Rudolf Streinz, Streit um den Grundrechtsschutz? Zum Grundrechtsschutz in der Europäischen Union nach den Urteilen des EuGH in den Fällen Åkerberg Fransson und Melloni und des BVerfG zur Antiterrordatei, in: FS Dauses, 2014, S. 429 (441 ff.).

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litisch Verantwortlichen, nämlich dem Parlament und der Regierung, und der Verfassungsgerichtsbarkeit aufgeworfen, die selbst keine Politik betreiben darf, aber gleichwohl in einem Bereich judiziert, in dem ihre Entscheidungen politische Folgen haben.20 II. Die Rechtsprechung des BVerfG 1. Ansatzpunkte für die Befassung des BVerfG Ansatzpunkte für die Befassung des Bundestags mit Fragen der verfassungsrechtlichen Bedingungen und Grenzen der europäischen Integration sind zum einen Organklagen, die von Oppositionsfraktionen des Bundestages und ihren Abgeordneten21 oder von einzelnen opponierenden Abgeordneten der die Bundesregierung stellenden Fraktionen22 mit der Begründung erhoben werden, ihre Rechte seien durch konkrete Handlungen oder Unterlassungen der Bundesregierung oder der Bundestagsmehrheit verletzt worden23, zum anderen auf die Verletzung von Art. 38 GG gestützte Verfassungsbeschwerden24. Die Zulässigkeit von auf Art. 38 GG gestützten Verfassungsbeschwerden gegen Zustimmungsgesetze, die Hoheitsrechte auf die Europäische Union übertragen, wurde vom BVerfG im Maastricht-Urteil postuliert: „Im Anwendungsbereich des Art. 23 GG schließt Art. 38 GG aus, die durch Wahl bewirkte Legitimation und Einflussnahme auf die Ausübung von Staatsgewalt durch die Verlagerung von Aufgaben und Befugnissen des Bundestags so zu entleeren, daß das demokratische Prinzip, soweit es Art. 79 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und 2 GG für unantastbar erklärt, verletzt wird“25. Art. 38 GG verbürgt danach nicht nur, dass dem Bürger das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag zusteht, sondern erstreckt sich auch auf den grundlegenden demokratischen Gehalt dieses Rechts, nämlich „an der Legitimation der Staatsgewalt durch das Volk auf Bundesebene mitzuwirken und auf ihre Ausübung Einfluß zu nehmen“. Im Anwendungsbereich des Art. 23 GG, d. h. bei der Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union26, schließt es Art. 38 GG daher aus, „die durch die Wahl bewirkte Legi20

Vgl. dazu Wendt (Fn. 1), S. 636. So BVerfGE 123, 267 (269) – Vertrag von Lissabon; BVerfGE 132, 195 – Art. 136 Abs. 1 AEUV, ESM, Fiskalpakt einstweilige Anordnung; BVerfG, Urt. v. 14. 1. 2014, BVerfGE 134, 366 – OMT-Beschluss: Jeweils Fraktion DIE LINKE. 22 MdB Gauweiler (CSU) gegen das Zustimmungsgesetz gegen den Vertrag von Lissabon, verbunden mit einer Verfassungsbeschwerde (BVerfGE 123, 267 (268 f.). Gegen Maßnahmen des „Rettungsschirms“ erhob er Verfassungsbeschwerde, BVerfGE 129, 124 (126 f.). 23 Vgl. dazu BVerfGE 132, 195 (236 ff.), Rn. 99 ff.; BVerfG, Urt. v. 14. 1. 2014, BVerfGE 134, 366 = NJW 2014, 907 – OMT-Beschluss, Rn. 5. 24 So BVerfGE 89, 155 (165 f.); BVerfGE 129, 124 (138 ff.) – Rettungsschirm; BVerfGE 132, 195 (216 ff.), Rn. 42 ff.; BVerfGE 134, 366 – OMT-Beschluss, Rn. 5. 25 BVerfGE 89, 155, Leitsatz 1. 26 Durch BVerfGE 129, 124 (168) wurden „vergleichbare völkervertraglich eingegangene Bindungen, die im institutionellen Zusammenhang mit der supranationalen Union stehen“, einbezogen, „wenn dadurch die demokratische Selbstregierung des Volkes dauerhaft derart 21

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timation von Staatsgewalt und Einflußnahme auf deren Ausübung durch die Verlagerung von Aufgaben und Befugnissen des Bundestages so zu entleeren, daß das demokratische Prinzip, soweit es Art. 79 Abs. 3 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und 2 GG für unantastbar erklärt, verletzt wird“27. Diese sicher etwas überraschende, aber durchaus plausible Konstruktion stieß auf Kritik, weil dies einer vom Grundgesetz nicht vorgesehenen „Popularklage“ gleichkomme28. Die Rechtsprechung ist gleichwohl mittlerweile gefestigt29. Das BVerfG ist durchaus bestrebt, die Tragweite zulässiger Rügen einzuschränken30. Als gegen diesen Ansatz verstoßend wurde die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerden gegen Unterlassungen der Bundesregierung und Weigerungen des Bundestags im Fall des Outright Monetary Transactions (OMT)-Beschlusses der Europäischen Zentralbank (EZB)31 kritisiert32. Soweit sich die Kritik gegen die Befassung des BVerfG mit den betreffenden Gegenständen richtet, ist zu bedenken, dass das Gericht in diesen Fällen nicht nur mit Verfassungsbeschwerden, sondern auch mit Organklagen angerufen wurde, die jedenfalls bei Erhebung durch eine Fraktion zulässig sind33. Allerdings reicht die Verfassungsbeschwerde eingeschränkt wird, dass zentrale politische Entscheidungen nicht mehr selbständig getroffen werden können“. Dies ist zutreffend, soweit der Anwendungsbereich des Art. 23 GG betroffen ist, was hier wegen des institutionellen Zusammenhangs von ESM-Vertrag und Fiskalpakt mit dem Unionsrecht der Fall ist. Darüber hinausgehende Folgerungen sind aber mit großer Vorsicht zu prüfen. 27 BVerfGE 89, 155 (171 f.). Zu den Anforderungen an die hinreichende Geltendmachung einer Verletzung siehe ebd., S. 172 f. 28 Kritisch Steffen Detterbeck, in: Michael Sachs (Hrsg.), GG-Kommentar, 7. Aufl. 2014, Art. 93, Rn. 89 („gekünstelte Konstruktion“); Herbert Bethge, in: Maunz/ Schmidt-Bleibtreu/ Klein/Bethge, BVerfGG (EL 43/2014), § 90, Rn. 45. Zum Lissabon-Urteil z. B. Martin Selmayr, Endstation Lissabon? – Zehn Thesen zum „Niemals“-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Juni 2009, ZEuS 2009, 637 (668 ff.): „ermutigt damit zu künftigen europaskeptischen ,Popularklagen‘“. 29 Bestätigt und konkretisiert z. B. in BVerfGE 123, 267 (330 ff., 340 ff.), BVerfGE 129, 124 (167 ff.), wobei auf die dagegen erhobene Kritik eingegangen wird (ebd., S. 169 f.); BVerfGE 132, 195 (234 ff.), Rn. 91 ff. 30 Vgl. BVerfGE 129, 124 (176) m.w.N.: Erforderlich ist ein ausdrücklicher Auftrag des Grundgesetzes, dessen Erfüllung unterlassen wurde. Vgl. dazu Martin Nettesheim, „EuroRettung“ und Grundgesetz. Verfassungsrechtliche Vorgaben für den Umbau der Währungsunion, EuR 2011, 765 (768 ff.). Ebenso hinsichtlich der Zulässigkeit von Organklagen, vgl. BVerfGE 131, 152 (190). Zu den auch erfolgten Weiterungen, insbesondere der (zutreffenden) Erfassung „vergleichbarer völkervertraglich eingegangener Bindungen, die im Zusammenhang mit der supranationalen Union stehen“ (BVerfGE 129, 124 (168)), und den Grenzen der erweiterten Beschwerdebefugnis vgl. Matthias Ruffert, Die europäische Schuldenkrise vor dem Bundesverfassungsgericht. Anmerkungen zum Urteil vom 7. September 2011, EuR 2011, 842 (844 ff.). 31 BVerfG, Urt. v. 14. 1. 2014, 2 BvR 2728/13, Rn. 34. 32 BVerfG, Urt. v. 14. 1. 2014, 2 BvR 2728/13, abwM Richterin Lübbe-Wolff, Rn. 11 ff., 18 ff.; ebenfalls ablehnend zur Zulässigkeit der Organklagen ebd., Rn. 20. AbwM auch Richter Gerhardt, Rn. 4 ff. 33 Vgl. BVerfGE 123, 267 (337 ff.): Teilweise zulässige Organklage der Fraktion DIE LINKE. Die Organklage des Abg. Dr. Gauweiler wurde als unzulässig verworfen, ebd. S. 336;

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hinsichtlich der rügefähigen Rechte und damit hinsichtlich des Prüfungsmaßstabs und damit der Kontrolle durch das BVerfG weiter34. 2. Pflicht des Bundestags zur Wahrung seiner Integrationsverantwortung Im Maastricht-Urteil hat das BVerfG gefordert, dass dem Deutschen Bundestag bei der Integration in die Europäische Union „Aufgaben und Befugnisse von substantiellem Gewicht verbleiben“ müssen35, die zur Wahrnehmung durch die Europäische Union übertragenen Rechte und das beabsichtigte Integrationsprogramm hinreichend bestimmbar sein müssen36 und es nicht zu einem in seinem Selbstlauf nicht mehr steuerbaren „Automatismus“ kommen darf37. Es hat die Ratifikation des Vertrags von Lissabon davon abhängig gemacht, dass die sog. Begleitgesetze die Wahrung dieser Integrationsverantwortung sicherstellen, was durch die dafür vorgesehenen Regelungen38 nicht hinreichend gesichert sei39. Daraufhin wurde das Integrationsverantwortungsgesetz (IntVG)40 erlassen. Es sieht bei allen Vertragsänderungen und den vom BVerfG gleichgestellten Fällen vor, dass der deutsche Vertreter im Europäischen Rat bzw. im Rat zu seiner Zustimmung oder Enthaltung, soweit diese den gleichen Effekt hätte, der Ermächtigung durch ein Gesetz gemäß Art. 23 Abs. 1 GG41 oder durch einen Beschluss42 bedarf. Im vereinfachten Vertragsänderungsverfahren gemäß Art. 48 Abs. 6 UAbs. 2 und 3 EUV sieht Art. 48 Abs. 6 UAbs. 2 Satz 3 EUV vor, dass der dazu erforderliche einstimmige Beschluss des Europäischen Rates erst nach Zustimmung der Mitgliedstaaten im Einklang mit ihren jeweiligen verfassungsallerdings war seine Verfassungsbeschwerde zulässig, ebd. S. 337; BVerfGE 129, 284 (einstweilige Anordnung) und BVerfGE 130, 318 (340 f.): Organstreit, eingeleitet von zwei Abgeordneten des Deutschen Bundestags mit der Rüge der Verletzung von Abgeordnetenrechten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG durch § 3 Abs. 3 StabMechG („Sondergremium“); BVerfGE 132, 195 (236 ff., 237 f.: Teilweise Zulässigkeit des Antrags der Fraktion DIE LINKE im Organstreitverfahren: Befugnis, geltend zu machen, durch die angegriffenen Gesetze entäußere sich der Deutsche Bundestag seiner haushaltspolitischen Gesamtverantwortung. 34 Vgl. BVerfGE 123, 267 (339). 35 BVerfGE 89, 155 (Leitsatz 4). 36 Ebd., Leitsatz 5. 37 Vgl. ebd., Leitsatz 9 c). 38 Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union (Ausweitungsgesetz), BT-Drs. 16/8489. Siehe dazu Rudolf Streinz, European Parliament and national parliaments. The German experience, in: Evangelos Chrysos (Hrsg.), European Parliament. Experience & Perspectives, 2009, S. 175 (187 ff.). 39 BVerfGE 123, 267 (432 ff.). 40 Gesetz über die Wahrnehmung der Integrationsverantwortung des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union vom 22. 9. 2009 (BGBl. I S. 3022), geändert durch Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung der Grundgesetzänderungen für die Ratifizierung des Vertrags von Lissabon vom 1. 12. 2009 (BGBl. I S. 3822). 41 § 2, § 3 Abs. 1, 2, § 4 Abs. 1 und 2, § 7 Abs. 1 und 2, § 8 IntVG. 42 § 3 Abs. 3, § 5 Abs. 1, § 6 IntVG.

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rechtlichen Vorschriften in Kraft tritt. Die deutsche Regelung konkretisiert die im Unionsrecht vorgesehenen verfassungsrechtlichen Anforderungen. Im Unterschied dazu sieht das vereinfachte Änderungsverfahren gemäß Art. 48 Abs. 7 EUV, das den Übergang von der Einstimmigkeit zur qualifizierten Mehrheit (sog. Brückenklausel – „Passerelle“) ermöglicht, allein vor, dass die Initiative des Europäischen Rates den nationalen Parlamenten übermittelt wird, von denen jedes innerhalb von sechs Monaten dessen Vorschlag ablehnen kann, so dass der entsprechende Beschluss nicht erlassen wird. Unterbleibt dies, kann der Europäische Rat den Beschluss erlassen (Art. 48 Abs. 7 UAbs. 3 EUV). Dem BVerfG genügt dies nicht, es verlangt eine aktive Beteiligung des Bundestags43. Diese Forderung wurde in § 4 Abs. 1 IntVG umgesetzt. Darin wird ein Widerspruch zur unionsrechtlichen Regelung gesehen44. Diese sieht zwar in der Tat bewusst eine Differenzierung vor, um das Passerelle-Verfahren zu erleichtern. Fraglich ist aber, ob dadurch eine weitergehende verfassungsrechtliche Regelung der Mitgliedstaaten, die in Deutschland auch bei besonderen Brückenklauseln (§ 5 und § 6 IntVG) vorgesehen wird, ausdrücklich ausgeschlossen werden sollte. Immerhin trägt das BVerfG der „Zwecksetzung des Art. 48 Abs. 7 UAbs. 3 EUV-Lissabon“ dadurch Rechnung, dass die Frist zum Erlass des geforderten Gesetzes daran „angelehnt“ sein muss45. Weitergehende verfassungsrechtliche Anforderungen gelten auch für die Kompetenzerweiterungsklauseln (§ 7 IntVG) und die sog. Flexibilitätsklausel des Art. 352 AEUV (§ 8 IntVG), die offenbar einer Vertragsänderung gleichgestellt wird46. Die Folgen dieser Regelung sind aber eher kontraproduktiv, weil die Kommission wegen dieser Erschwernis offenbar noch mehr als bisher auf die Rechtsgrundlage des Art. 114 AEUV ausweicht, für deren Aktivierung überdies die qualifizierte Mehrheit im Rat genügt47. Soweit auf Art. 23 Abs. 1 GG verwiesen wird ist wegen dessen Satz 2 generell die Zustimmung des Bundesrats, ferner, in bestimmten Fällen durch ausdrückliche Anordnung zusätzlich zum Beschluss des Bundestages der des Bundesrats erforderlich (§ 5 Abs. 2, § 6 Abs. 2 IntVG, § 10 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 IntVG). Durch einen Beschluss kann der Bundestag, wenn im Schwerpunkt Gesetzgebungsrechte der Länder betroffen oder die Zustimmung des Bundesrats zur Regelung durch ein Bundesgesetz erforderlich ist, auch der Bundesrat den deutschen Vertreter im Rat zur Aktivierung des sog. Not-

43 BVerfGE 123, 267 (434 f.): „Die rechtliche und politische Verantwortung des Parlaments erschöpft sich – auch im Fall der europäischen Integration – insoweit nicht in einem einmaligen Zustimmungsakt, sondern erstreckt sich auch auf den weiteren Vertragsvollzug. Ein Schweigen von Bundestag und Bundesrat reicht daher nicht aus, diese Verantwortung wahrzunehmen“. 44 Wendt (Fn. 1), Verfassungskonforme Auslegung S. 631. 45 BVerfGE 123, 267 (435). 46 Vgl. BVerfGE 123, 267 (393 ff., 336). 47 Vgl. zu diesem Aspekt Rudolf Streinz, Der Vertrag von Lissabon und die Privatrechtsangleichung, in: Michael Stürner (Hrsg.), Vollharmonisierung im Europäischen Verbraucherrecht?, 2010, S. 23 (39 ff.).

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bremsemechanismus anweisen (§ 9 IntVG). Auch das EUZBBG48 und das EUZBLG49 wurden geändert. In dieser Anweisung des Bundestags, seine Rechte hinreichend zu wahren, wurde in der Literatur zum Teil eine Bevormundung50, zum Teil aber auch eine notwendige Erinnerung51 gesehen. Konkretisiert wurde dieser Ansatz des BVerfG, den Bundestag zur Wahrung seiner Rechte zu verpflichten, in seiner Rechtsprechung zur Eingehung finanzieller Verpflichtungen im Rahmen des sog. „Rettungsschirms“. Vor allem in diesen Fällen kommt hinzu, dass damit die Wahrung von Rechten der Minderheit im Parlament verbunden ist52. Besonders deutlich wird dies im Urteil des BVerfG zum sog. „Sondergremium“, das § 3 Abs. 3 StabMechG53 vorsah. Aufgrund von Organklagen von zwei Bundestagsabgeordneten, die sich in ihren Rechten aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG verletzt sahen, erklärte das BVerfG, das bereits zuvor insoweit eine einstweilige Anordnung erlassen hatte54, diese Bestimmung für verfassungswidrig, soweit sie nicht nur auf Ankäufe von Staatsanleihen Anwendung findet, die die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität am Sekundärmarkt tätigt. Denn der Deutsche Bundestag „erfüllt seine Repräsentationsfunktion grundsätzlich in seiner Gesamtheit, durch die Mitwirkung aller seiner Mitglieder, nicht durch einzelne Abgeordnete, eine Gruppe 48

Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union vom 12. 3. 1993 (BGBl. I S. 311), geändert durch Art. 1 ÄndG vom 22. 9. 2009 (BGBl. I S. 3026). Aufgehoben und ersetzt durch EUZBBG vom 4. 7. 2013 (BGBl. I S. 2170). 49 Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union vom 12. 3. 1993 (BGBl. I S. 313), geändert durch Art. 1 ÄndG vom 22. 9. 2009 (BGBl. I S. 3031). 50 Vgl. dazu z. B. Christian Calliess, Das Ringen des Zweiten Senats mit der Europäischen Union: Über das Ziel hinausgeschossen …, ZEuS 2009, 559 (573). 51 Vgl. dazu z. B. Michael Hahn, Mehr Demokratie wagen: „Lissabon“-Entscheidung und Volkssouveränität, ZEuS 2009, 583 (592 f.). Zutreffend weist Eckhard Pache, Das Ende der europäischen Integration? Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon zur Zukunft Europas und der Demokratie, EuGRZ 2009, 285 (295 f.) darauf hin, dass die durch das BVerfG ausgelöste Diskussion „möglicherweise das Interesse für die politische Auseinandersetzung mit Europa fördern und auch in Sachfragen mehr in den Blickpunkt der nationalen politischen Diskussion rücken“ könne, „wenn auch unerwähnt bleibt, dass Bundestag und Bundesrat bereits die bislang bestehenden Beteiligungsmöglichkeiten in Angelegenheiten der Europäischen Union kaum wirklich genutzt haben“. Für den Bundestag trifft dies in der Tat zu, während der Bundesrat (freilich oft auf das Subsidiaritätsprinzip beschränkt) durchaus aktiv war. Auch nach der Reform durch den Vertrag von Lissabon wurde die politische Diskussion leider im Wesentlichen erst in den Verfahren vor dem BVerfG nachgeholt. Vgl. auch Rudolf Streinz, Boxenstopp für Lissabon, Editorial, NJW Heft 30/2009. 52 Vgl. BVerfGE BVerfGE 123, 267 (337 ff.); BVerfGE 130, 318 (340 f.); BVerfGE 132, 195 (236 ff., 237 f.). Siehe dazu oben Fn. 33. 53 Gesetz zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus (Stabilisierungsmechanismusgesetz – StabMechG) vom 22. 5. 2010 (BGBl. I S. 627 i. d. F. des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus vom 9. 10. 2011 (BGBl. I S. 1992). Text in Herrmann (Fn. 5), Nr. 46. 54 BVerfGE 129, 284.

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von Abgeordneten oder die parlamentarische Mehrheit. Budgetrecht und haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages werden grundsätzlich durch Verhandlung und Beschlussfassung im Plenum wahrgenommen.“55 Differenzierungen in Bezug auf den Abgeordnetenstatus, die die Gleichheit der Abgeordneten beeinträchtigen, bedürfen zu ihrer Rechtfertigung eines durch die Verfassung legitimierten besonderen Grundes56. „Soweit Abgeordnete durch Übertragung von Entscheidungsbefugnissen auf einen beschließenden Ausschuss von der Mitwirkung an der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung ausgeschlossen werden sollen, ist dies nur zum Schutz anderer Rechtsgüter mit Verfassungsrang und unter strikter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zulässig57“. Dem Deutschen Bundestag kommt bei der Wahrnehmung seines Selbstorganisationsrechts zwar grundsätzlich ein weiter Gestaltungsspielraum zu58. Er muss jedoch diese Vorgaben beachten. Soweit er Informations- und Kontrollrechte an ein Untergremium delegiert, muss er sicherstellen, dass auch insoweit der Grundsatz des geringstmöglichen Eingriffs gewahrt bleibt. „Das gilt gerade im Bereich des Budgetrechts und der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung, in dem auch dem einzelnen Abgeordneten grundsätzlich weit reichende Informations- und Kontrollrechte zustehen, namentlich das Recht auf Informationen, die eine sachverständige Beurteilung des Haushalts ermöglichen, das Recht auf eigenständige Beurteilung des Haushaltsentwurfs der Bundesregierung und hierzu eingebrachte Änderungsanträge und das Recht auf Kontrolle grundlegender haushaltspolitischer Entscheidungen“59. Die Regelungen über das Sondergremium wurden dem nicht gerecht60. Zutreffend sah das BVerfG das seitens des Bundestags und der beigetretenen Bundesregierung als Antragsgegner geltend gemachte Bedürfnis nach Geheimhaltung allein hinsichtlich des Ankaufs von Staatsanleihen durch die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität auf dem Sekundärmarkt für gerechtfertigt, da ein Bekanntwerden auch nur der Planung einer solchen Notmaßnahme wegen der nahe liegenden Reaktion der Märkte in der Tat geeignet wäre, den Erfolg derselben zu vereiteln61. Grundlegend zu den Anforderungen an den Bundestag, seine Haushaltsautonomie zu bewahren, ist das Urteil des BVerfG vom 7. September 2011 zu den bis dahin getroffenen Maßnahmen des sog. „Rettungsschirms“. Anknüpfend an das MaastrichtUrteil und das Lissabon-Urteil, wonach „die Kompetenzen des gegenwärtigen oder 55

BVerfGE 130, 318 (Leitsatz 1 und S. 347 m.w.N.). Ebd., Leitsatz 2. 57 Ebd., Leitsatz 3. 58 Ebd., S. 349 ff. 59 Ebd., S. 355. 60 Ebd., S. 357 ff. Zur Übertragung von Befugnissen an den Haushaltsausschuss als nicht im Grundgesetz (vgl. Art. 45, Art. 45c, Art. 45d und Art. 53a GG) ausdrücklich zur selbständigen und plenarersetzenden Wahrnehmung von Rechten des Bundestags genanntes Gremium ebd., S. 351 f. unter Hinweis auf BVerfGE 129, 124 (185 f.). 61 BVerfGE 130, 318 (362 f.) unter Hinweis auf die nachvollziehbaren Darlegungen des Bundesministers der Finanzen und des Abg. Altmeier. 56

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künftigen Bundestags nicht auf eine Art und Weise ausgehöhlt werden“ dürfen, „die eine parlamentarische Repräsentation des Volkswillens, gerichtet auf die Verwirklichung des politischen Willens der Bürger, rechtlich oder praktisch unmöglich macht“62, fordert das BVerfG, dass die gewählten Abgeordneten des Deutschen Bundestages als Repräsentanten des Volkes „auch in einem System intergouvernementalen Regierens die Kontrolle über grundlegende haushaltspolitische Entscheidungen behalten“ müssen63. Denn die „Entscheidung über Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Hand ist grundlegender Teil der demokratischen Selbstgestaltung im Verfassungsstaat“, worüber der Deutsche Bundestag dem Volk gegenüber verantwortlich ist. „Das Budgetrecht stellt insofern ein zentrales Element der demokratischen Willensbildung dar“.64 Daher darf der Bundestag „seine Budgetverantwortung nicht durch unbestimmte haushaltspolitische Ermächtigungen auf andere Akteure übertragen. Insbesondere darf er sich, auch durch Gesetz, keinen finanzwirksamen Mechanismen ausliefern, die – sei es aufgrund ihrer Gesamtkonzeption, sei es aufgrund einer Gesamtwürdigung der Einzelmaßnahmen – zu nicht überschaubaren haushaltsbedeutsamen Belastungen ohne vorherige konstitutive Zustimmung führen können“65. „Es dürfen keine dauerhaften völkervertragsrechtlichen Mechanismen begründet werden, die auf eine Haftungsübernahme für Willensentscheidungen anderer Staaten hinauslaufen, vor allem wenn sie mit schwer kalkulierbaren Folgewirkungen verbunden sind. Jede ausgabenwirksame solidarische Hilfsmaßnahme des Bundes größeren Umfangs im internationalen und unionalen Bereich muss vom Bundestag im Einzelnen bewilligt werden. Darüber hinaus muss gesichert sein, dass hinreichender parlamentarischer Einfluss auf die Art und Weise des Umgangs mit den zur Verfügung gestellten Mitteln besteht“.66 „Die den Deutschen Bundestag im Hinblick auf die Übertragung von Kompetenzen auf die Europäische Union treffende Integrationsverantwortung findet hierin ihre Entsprechung für haushaltswirksame Maßnahmen vergleichbaren Gewichts,“67 In beiden Fällen geht es darum, dass der Bundestag auch im Rahmen der Europäischen Union als Integrationsgemeinschaft, die wegen der auf sie übertragenen Hoheitsrechte zwangsläufig dem politischen Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten Grenzen setzt68, die Fähigkeit zu hinreichender eigener politischer Gestaltungsmöglichkeit behält. Denn andernfalls stellte sich 62 BVerfGE 119, 124 (Leitsatz 1) unter Hinweis auf BVerfGE 89, 155 (172) – Maastricht und BVerfGE 123, 267 (330) – Lissabon. 63 BVerfGE 129, 124 (Leitsatz 2b) und S. 178. 64 Ebd., Leitsatz 2a und S. 177 unter Hinweis auf BVerfGE 70, 324 (355 f.) und BVerfGE 79, 311 (329). 65 BVerfGE 129, 124 (Leitsatz 3a) und S. 179. 66 Ebd., Leitsätze 3b und 3c und S. 180 f. 67 Ebd., S. 181 unter Hinweis auf BVerfGE 123, 267 (356 ff.). 68 Vgl. dazu am Beispiel der „grünen Gentechnik“ Rudolf Streinz, „Gemeinschaftsrecht bricht nationales Recht“. Verlust und Möglichkeiten nationaler politischer Gestaltungsfreiheit nach der Integration in eine supranationale Gemeinschaft, aufgezeigt am Beispiel des Lebensmittelrechts, insbesondere der sog. Novel Food-Verordnung, in: Festschrift für Söllner, 2000, S. 1159 (1154 ff.).

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die Frage, wozu ihn die Bürger noch wählen. Dies ist auch der Ansatzpunkt für auf Art. 38 GG gestützte Verfassungsbeschwerden69. Diese Rechtsprechung wurde in den Urteilen zu den deutschen Zustimmungsgesetzen zur Änderung des Art. 136 AEUV70, zur Errichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und zum Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion, dem sog. Fiskalpakt bestätigt71. Zur Sicherung der parlamentarischen Verantwortung des Bundestages forderte das BVerfG, dass vor der Ratifikation des ESM-Vertrages „völkerrechtlich sichergestellt wird“, dass die Regelung des Art. 8 Abs. 5 Satz 1 ESMV „sämtliche Zahlungsverpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland aus diesem Vertrag der Höhe nach auf die in Anhang II des Vertrages genannte Summe in dem Sinne begrenzt, dass keine Vorschrift dieses Vertrages so ausgelegt werden kann, dass für die Bundesrepublik Deutschland ohne Zustimmung des deutschen Vertreters höhere Zahlungsverpflichtungen begründet werden“ und die Regelungen der Art. 32 Abs. 5, Art. 34 und Art. 35 Abs. 1 ESMV „nicht der umfassenden Unterrichtung des Bundestages und des Bundesrates entgegenstehen“.72 Die völkerrechtliche Sicherstellung erfolgte durch die gemeinsame Erklärung der ESM-Vertragsstaaten vom 26. September 2012, die durch deren Botschafter angenommen und beim Ratssekretariat hinterlegt wurde73. Soweit dies wegen der ohnehin vorhandenen Regelung für überflüssig gehalten wird74, ist dies unschädlich. Soweit hier Unsicherheiten bestehen, wofür manche strittige und auch überraschende Interpretation von Bestimmungen im Rahmen der WWU spricht, war dies notwendig.

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Siehe dazu oben II. 1. Die Einfügung des Art. 136 Abs. 3 AEUV erfolgte im vereinfachten Vertragsänderungsverfahren des Art. 48 Abs. 6 UAbs. 1. § 2 IntVG fordert bereits für die Zustimmung der Bundesrepublik Deutschland zum Beschluss des Europäischen Rates ein Gesetz gemäß Art. 23 Abs. 1 GG. 71 BVerfGE 132, 195 (240 ff.), Rn. 108 ff.; BVerfG EuGRZ 2014, 193 (211), Rn. 122. Der durch Beschluss vom 17. 12. 2013 abgetrennte Teil (BVerfGE 134, 357), der zur Vorlage an den EuGH führte (BVerfGE 134, 366) betrifft den OMT-Beschluss der EZB. 72 BVerfGE 132, 195 (196 f.) und S. 251 ff., Rn. 136 ff. 73 Bekanntmachung über das Inkrafttreten des Vertrags zur Errichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) vom 1. 10. 2012 (BGBl. II S. 1086). Text in Herrmann (Fn. 5), Nr. 48.Vgl. auch Bundesministerium der Finanzen, Pressemitteilung Nr. 57 vom 26. 9. 2012: Bundesregierung macht den Weg frei für den dauerhaften Stabilitätsmechanismus ESM. Vgl. dazu Jörg Ukrow, Ein Rettungsschirm für das BVerfG? Zum Urteil vom 12. September 2012, ZEuS 2012, 417 (437 f.) m.w.N. 74 So (mit Begründung) Christoph Herrmann, Die Bewältigung der Euro-StaatsschuldenKrise an den Grenzen des deutschen und europäischen Währungsverfassungsrechts, EuZW 2012, 805 (808 f.). 70

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3. Zurückhaltung des BVerfG in materiellen Fragen: Gestaltungsspielraum der politisch Verantwortlichen Hinsichtlich der materiellen Prüfung des Verhaltens der zuständigen politischen Organe, d. h. der Bundesregierung und des Bundestages, hält sich das BVerfG aber deutlich zurück. Dies ergibt sich bereits aus dem vom BVerfG zugrunde gelegten materiellen Gewährleistungsgehalt des Art. 38 GG. Dieser ist danach „nur, aber immer dann verletzt, wenn das Wahlrecht in einem für die politische Selbstbestimmung des Volkes wesentlichen Bereich leerzulaufen droht, das heißt, wenn die demokratische Selbstregierung des Volkes – mittels des Deutschen Bundestages – dauerhaft derart eingeschränkt wird, dass zentrale politische Entscheidungen nicht mehr selbständig getroffen werden können“75. Dagegen gewährt Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG „keinen Anspruch auf eine über die Sicherung der damit verbundenen Rechte hinausgehende Rechtmäßigkeitskontrolle demokratischer Mehrheitsentscheidungen“ durch das BVerfG: „Das Wahlrecht dient nicht der inhaltlichen Kontrolle demokratischer Prozesse, sondern ist auf deren Ermöglichung gerichtet“76. Dem entsprechend beschränkte sich das BVerfG bereits im Rettungsschirm-Urteil „bei der Feststellung einer verbotenen Entäußerung der Haushaltsautonomie im Hinblick auf den Umfang der Gewährleistungsübernahme auf evidente Verletzungen“ und respektierte „namentlich mit Blick auf das Eintrittsrisiko von Gewährleistungen einen Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers“77. Dies gelte „auch für die Abschätzung der künftigen Tragfähigkeit des Bundeshaushalts und des wirtschaftlichen Leistungsvermögens der Bundesrepublik Deutschland“. Hier könne sich das BVerfG „nicht mit eigener Sachkompetenz an die Stelle der zuvörderst dazu demokratisch berufenen Gesetzgebungskörperschaft setzen“78. Das BVerfG sieht selbst die Grenzen der Justiziabilität einer Begrenzung des Umfangs von Gewährleistungsermächtigungen79. Im „Rettungsschirm“-Fall komme es jedenfalls „mit seiner allgemeinen Maßstäblichkeit aus dem Demokratieprinzip nur auf eine Überschreitung von äußersten Grenzen an“80, die das BVerfG nicht selbst präzisiert. Verfassungsrechtlich bleibt ihre Überschreitung insoweit relevant, als dadurch die politische Gestaltungsmöglichkeit und

75 BVerfGE 134, 366 (381), Rn. 19 mit Hinweis auf BVerfGE 89, 155 (172), BVerfGE 123, 267 (330) und BVerfGE 129, 124 (168). 76 BVerfGE 134, 366 (381), Rn. 19 mit Hinweis auf BVerfGE 129, 124 (168 ff.) und BVerfG, NVwZ 2013, 858 (859). 77 BVerfGE 129, 124 (182). 78 Ebd., S. 183. 79 BVerfGE 129, 124 (182) unter Hinweis auf Art. 115 Abs. 1 GG und die Kommentarliteratur, u. a. Wendt, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. Aufl. 2010, Art. 115, Rn. 26. Vgl. auch Wolfgang Weiß, Das deutsche Bundesverfassungsgericht und der ESM: Verfassungsjustiz an den Grenzen der Justiziabilität, in: Peter Hilpold/Walter Steinmair (Hrsg.), Neue europäische Finanzarchitektur. Die Reform der WWU, 2014, S. 113 (137 f.). 80 BVerfGE 129, 124 (182).

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damit das Budgetrecht des Bundestags gänzlich ausgehöhlt würden81. Diesen Ansatz hat das BVerfG im ESM-Urteil bestätigt82. Es sieht zu Recht nicht sich selbst, sondern die politisch verantwortlichen Organe als „das richtige Forum für den ökonomischen und politischen Streit über den Weg aus der europäischen (Staatsschulden)krise“ und bewahrt mit dieser „politischen und ökonomischen Selbstbeschränkung“ bis auf weiteres „seine juristische Letztentscheidungskompetenz“ auf der Grundlage des geltenden GG83. Grundsätzlich bezieht und beschränkt sich die Verfassungskontrolle auf das Verfahren, nicht auf die Ergebnisse84. Eine materielle Prüfung würde erst dann einsetzen, wenn das Budgetrecht und damit das Verfahren selbst „evident“ gefährdet wären. III. Ergebnis Obwohl die Währungsunion nach wie vor nicht mit einer Politischen Union verbunden wurde und die Wirtschaftspolitik in der Kompetenz der Mitgliedstaaten verblieben ist, können die Bestrebungen zu ihrer Koordinierung und die Vorgaben, die zur Einhaltung der für die Stabilität der Währung als notwendig erachteten Kriterien gedacht sind, zu erheblichen Beschränkungen der Haushaltsautonomie der Mitgliedstaaten und damit des Budgetrechts der nationalen Parlamente führen. Der sog. Fiskalpakt brachte zwar keine wirkliche europäische „Fiskalunion“ mit sich85. Er baut vielmehr auf den bestehenden und nach ihrer zwischenzeitlichen Lockerung ungeachtet der – in vernünftigem und zielgerichtetem Umfang durchaus sinnvollen – Einräumung von Flexibilität durch sekundärrechtliche, d. h. ohne Vertragsänderung erfolgte Maßnahmen verschärften Bestrebungen des Stabilitäts- und Wachstumspakts86 auf und versucht, sie durch zusätzliche Verpflichtungen (Art. 3 SKSV) weiter zu stärken mit dem Ziel, sie letztlich in das Unionsrecht überführen zu können87. Mit den Schuldenbremsen (Art. 3 SKSV), den Verpflichtungen zum Abbau eines übermäßigen Defizits (Art. 4 SKSV) und zur Unterstützung von Empfehlungen der Europäischen Kommission bei Verstößen gegen das Defizitkriterium (Art. 7 SKSV) werden Vorgaben begründet, die der Kontrolle durch die Unionsorgane Rat und Kommission unterliegen (vgl. Art. 5 SKSV). Die Verknüpfung von ESM und Fiskal81 BVerfGE 129, 124 (183); BVerfGE 132, 195 (242), Rn. 112; NZG 2014, 623 (629), Rn. 174. 82 BVerfGE 132, 195 (242 f.) Rn. 112 f.; BVerfG, NZG 2014, 623 (629), Rn. 173 ff. 83 Ukrow (Fn. 73), ZEuS 2012, 420 (zum ESM-Urteil). 84 Vgl. Oliver Lepsius, ESM-Vertrag, Fiskalpakt und das BVerfG, EuZW 2012, 761 (762), der daher im ESM-Urteil einen gangbaren Weg sieht, „der den politischen Prozess stärkt, den Vorrang der Verfassung gewährleistet und die Zukunft der Verfassungsorgane (und damit auch des BVerfG selbst) sichert“. 85 Zutreffend Christian Calliess/Christopher Schoenfleisch, Auf dem Weg in die europäische „Fiskalunion”? – Europa- und verfassungsrechtliche Fragen einer Reform der Wirtschafts- und Währungsunion im Kontext des Fiskalvertrages, JZ 2012, 477 (485). 86 Siehe dazu oben Fn. 5 – 7. 87 So Art. 16 VSKS (Fn. 7).

Was bleibt vom Budgetrecht des Bundestages in der „Fiskalunion“?

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pakt88 und die in Art. 136 Abs. 3 AEUV festgelegte Konditionierung der solidarischen Hilfe mit „strengen Auflagen“89 zwingt Mitgliedstaaten, die diese Hilfe in Anspruch nehmen wollen, diese Auflagen und ihre Kontrolle zu akzeptieren und damit zu einer entsprechenden Gestaltung ihrer Haushalte. Bereits der Hinweis der Kommission, dass die bestehenden und von allen Mitgliedstaaten vereinbarten Kriterien eingehalten werden müssen, führte in Frankreich und Italien jüngst zu heftigen Reaktionen90. Dies offenbart, auf welche Widerstände erst eine wirkliche „Fiskalunion“ stoßen würde91. In den Staaten, die Hilfen im Rahmen des ESM in Anspruch nehmen, ist durch die damit verbundenen Auflagen die Haushaltsautonomie bereits jetzt erheblich eingeschränkt. Allerdings haben die jeweils Verantwortlichen und dabei auch die jeweiligen nationalen Parlamente „autonom“ in diese Begrenzung der Haushaltsautonomie eingewilligt, freilich unter dem Eindruck der Alternative eines (selbst verschuldeten) drohenden Staatsbankrotts.92 Zudem sollen diese Auflagen dem Ziel dienen, dass die Einhaltung der vertraglich vereinbarten und damit ohnehin für den Empfängerstaat rechtsverbindlichen Stabilitätskriterien wiederhergestellt wird, weshalb selbst europäische „Durchgriffsrechte“ gerechtfertigt seien93. Soweit dadurch ihre „Resolvenz“ hergestellt werden soll, liegen die Maßnahmen zum einen im tatsächlichen Interesse der betroffenen Staaten94. Und die Verbindung von Soli88 Diese Verknüpfung wird allerdings nicht im operativen Teil, sondern allein in den Präambeln von VSKS (Erwägungsgrund 23) und ESMV (vgl. Erwägungsgrund 5) hergestellt. Vgl. dazu Calliess/Schoenfleisch (Fn. 85) JZ 2012, 485 f. 89 Vgl. zur entsprechenden Auslegung des Zwecks des Art. 125 AEUV EuGH, Rs. C-370/ 12, NJW, 2013, 29, Rn. 133 ff. (insbes. Rn. 136, 142) – Pringle. 90 Vgl. zur Äußerung des französischen Premiermisters Manuel Valls, Brüssel dürfe eine so große Nation („grande nation“) wie Frankreich nicht an den Pranger stellen, Handelsblatt vom 21. 10. 2014, S. 16. Ähnlich der italienische Premierminister Renzi. Zu Versuchen, zu Lösungen mit der Kommission zu kommen, vgl. Handelsblatt vom 27. 10. 2014, S. 12 und FAZ vom 28. 10. 2014, S. 1, 18. In Deutschland stieß eine mögliche Beanstandung von Exportüberschüssen gem. Art. 6 Abs. 1 VO (EG) Nr. 1176/2011 über die Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte (ABl. 2011 Nr. L 306/25; Herrmann [Fn. 5], Nr. 34) – wobei sich die Frage stellt, wie diese verhindert werden sollen – auf Kritik. 91 Vgl. zu diesen Plänen Wolfgang Schäuble, Europa auf dem Weg zur Politischen Union, in: Gesellschaft für Rechtspolitik (Hrsg.), Fiskalunion Europa – Weg oder Irrweg?, Bitburger Gespräche in München, Bd. 3, 2013, S. 55 (59 ff.). Ferner z. B. Sven Simon, A Direct Vote to Pick the Face that Runs the Union – Some Thoughts on the Occasion of the Current Crisis, ZEuS 2013, 91 (107 ff.); Calliess/Schoenfleisch (Fn. 85), JZ 2012, 486 f.; Gunther Tichy, Banken- und Schuldenkrise: Ursachen, Folgen, Lösungsansätze, in: Hilpold/Steinmair (Fn. 79), S. 223 (237 ff.). 92 Darauf stellen Calliess/Schoenfleisch (Fn. 85), JZ 2012, 487 ab. 93 Calliess/Schoenfeld (Fn. 85), JZ 2012, 487. Für ein künftiges Vetorecht des EU-Währungskommissars gegen einen Haushaltsplan, der ein zu hohes Defizit vorsieht, auch Ukrow (Fn. 73), ZEuS 2012, 427, solange dem Haushaltsgesetzgeber die Entscheidungsfreiheit bleibt, welche Einnahmen zum Abbau des Defizits erhöht oder welche Ausgaben hierzu gesenkt werden sollen. 94 Dazu genügen nicht bloße „Sparprogramme“, so wichtig eine Konsolidierung der Haushalte zur Gewinnung des nötigen Vertrauens ist. Die Verbindung von dieser mit der Konsolidierung der Wirtschaft und der Sozialsysteme (die gelingen kann, wie das Beispiel

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darität und Solidität95, die Art. 136 Abs. 3 AEUVausdrücklich vorsieht und die auch der EuGH im Urteil Pringle zu Recht betont,96 ist auch erforderlich, um die mit Haftungs- und Ausfallrisiken verbundenen Stützungsmaßnahmen in den „Geberländern“ politisch zu vermitteln97. Soweit eine Stärkung der Vollzugskontrolle durch EU-Organe dem Ziel der Einhaltung der vereinbarten Regelungen und damit der Stabilität des Euro dient, verwundert eine Billigung der damit verbundenen Vorgaben und damit Beschränkungen der Haushaltsautonomie durch das BVerfG nicht, sieht dieses doch die Stabilitätsgemeinschaft als Grundlage und Bedingung der Beteiligung Deutschlands an der Währungsunion98. Das BVerfG respektiert aber generell, somit auch hinsichtlich der Beteiligung an Hilfsprogrammen und der Eingehung von damit verbundenen Risiken, die Kompetenz der dafür politisch Verantwortlichen und deren Entscheidungen und fordert allein, dass der Bundestag sicherstellen muss, solche Entscheidungen noch selbst treffen zu können. Seine Budgetautonomie muss er in dem dafür seitens des BVerfG für notwendig erachteten Umfang behalten und sicherstellen. Es liegt am Bundestag selbst, die dafür erforderliche Kontrolle tatsächlich wahrzunehmen. Dies setzt nicht nur einen entsprechenden Willen, sondern auch eine gewisse Spezialisierung von Abgeordneten aller Fraktionen und deren Unterstützung durch Fachleute voraus99.

Deutschlands, aber auch positive Ansätze in einigen Krisenländern zeigen) ist aber ein eigenes Thema. Vgl. zu Modifikationen der sog. Austeritätspolitik Tichy (Fn. 91), S. 238 f. Zur Berücksichtigung wirklicher Reformen bei der Kalkulation des Defizits vgl. Art. 3 Abs. 1 lit. b und c SKSV. Vgl. auch Handelsblatt vom 14. 10. 2014, S. 7 zu den Verhandlungen der EuroZone mit Frankreich: „Reformen können bei der Kalkulation des Defizits berücksichtigt werden.“ 95 Vgl. dazu z. B. Otmar Issing, Europäische Solidarität und mitgliedstaatliche Eigenverantwortung, in: Bitburger Gespräche (Fn. 91), S. 67 (67 ff.). 96 EuGH, Rs. C-370/12, NJW 2013, 29, Rn. Rn. 135. Vgl. zum berechtigten Zweck der Auflagen Christoph Ohler, in: Helmut Siekmann, Kommentar zur Europäischen Währungsunion, 2013, Art. 136 AEUV, Rn. 21 f. 97 Vgl. dazu Rudolf Streinz, Resümee der Tagung, in: Bitburger Gespräche (Fn. 91), S. 111 (114 f.). 98 Vgl. dazu auch Calliess/Schoenfleisch (Fn. 85), JZ 2012, 486 f.; Ulrich Karpen, Demokratie und parlamentarische Kontrolle der Entscheidungen im Europäischen Stabilitäts-Mechanismus und Fiskalpakt, ZParl 2013, 645 (655). 99 Vgl. als Beispiel für die Komplexität der Materie und eventuell versteckte Risiken den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Finanzhilfeinstrumente nach Art. 19 ESMV (BTDrs. 321/14) und den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des ESM-Finanzierungsgesetzes (BT-Drs. 358/14), wodurch die direkte Rekapitalisierung von Banken durch den ESM ermöglicht werden soll. Zu den damit verbundenen Problemen und Risiken vgl. Franz-Christoph Zeitler, Bundestag und Bundesrat sind beim Thema Bankenrekapitalisierung gefordert, Börsen-Zeitung Nr. 134/2014, S. 2 f.

Der kommunale Finanzausgleich zwischen diskretionärer Entscheidung und rechtlicher Steuerung Von Maximilian Wallerath, Bonn I. Einführung Die Zeiten, in denen der kommunale Finanzausgleich eher als rechtswissenschaftliches Stiefkind gelten konnte und das Feld gern den Finanzwissenschaften überlassen wurde, sind vorbei. Auch wenn letztere nach wie vor einen bedeutsamen und nicht zu ersetzenden Beitrag zur Durchdringung der komplizierten, von zahlreichen Finanzbeziehungen geprägten Regelungsmaterie leisten, hat sich der kommunale Finanzausgleich inzwischen als bedeutsame eigenständige Rechtsmaterie emanzipiert. Von einer Zurückhaltung der Rechtswissenschaften kann keine Rede mehr sein, wie eine Fülle von rechtswissenschaftlichen Untersuchungen, an denen Rudolf Wendt1 namhaften Anteil hat, zeigt,2 aber auch eine ansehnliche Reihe (insbesondere landesverfassungs-)gerichtlicher Entscheidungen belegt.

1 Siehe nur K. H. Friauf/R. Wendt, Rechtsfragen der Kreisumlage, 1980; R. Wendt, Kreisumlage, in: R. Voigt (Hrsg.), Handwörterbuch zur Kommunalpolitik, 1984, S. 147 ff; ders., Finanzhoheit und Finanzausgleich, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR Bd. IV1, 1990, § 104; Bd. IV2 § 104; Bd. VI3, 2008, § 139; ders., Finanzierungsverantwortung für gesetzgeberisch veranlaßte kommunale Aufgaben, in: FS für K. Stern, 1997, S. 603 ff. 2 Aus dem Schrifttum: Th. Ammermann, Das Konnexitätsprinzip im kommunalen Finanzverfassungsrecht, 2007; M.-E. Geis, „Political-question-doctrine“ im Recht des kommunalen Finanzausgleichs?, in: FS für Hartmut Maurer, 2001, S. 79 ff.; H.-G. Henneke, Öffentliches Finanzwesen – Finanzverfassung2, 2000, § 16; H.-G. Henneke/H. Pünder/Chr. Waldhoff (Hrsg.), Recht der Kommunalfinanzen, 2006; W. Hoppe (Hrsg.), Reform des kommunalen Finanzausgleichs, 1985; P. M. Huber/St. Storr, Der kommunale Finanzausgleich als Verfassungsproblem, 1999; F. Kirchhof/Hubert Meyer (Hrsg.), Kommunaler Finanzausgleich im Flächenbundestaat, 1996; C. Maas, Die verfassungsrechtliche Entfaltung kommunaler Finanzgarantien, 2004; M. Inhester, Kommunaler Finanzausgleich im Rahmen der Finanzverfassung, 1998; Hans Mayer, Die Finanzverfassung der Gemeinden, 1969; St. Mückl, Finanzverfassungsrechtlicher Schutz der kommunalen Selbstverwaltung, 1998; A. v. Mutius/ H.-G. Henneke, Kommunale Finanzausstattung und Verfassungsrecht, 1985; H. Pagenkopf, Das Gemeindefinanzsystem und seine Problematik, 1978; E. Schmidt Jortzig, Zur Verfassungsmäßigkeit von Kreisumlagesätzen, 1977; F. Schoch, Verfassungsrechtlicher Schutz der kommunalen Finanzautonomie, 1997; K.-A. Schwarz, Finanzverfassung und Kommunale Selbstverwaltung, 1996; Th. Würtenberger, Der kommunale Finanzausgleich – politisch entschieden oder verfassungsrechtlich determiniert? in: FS für W. Leisner, 1999, S. 973 ff.

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Tatsächlich ist der Stellenwert einer hinreichenden Finanzausstattung für eine angemessene Aufgabenerfüllung der Kommunen nicht zu übersehen. Soweit es sich um Aufwendungen für die Wahrnehmung staatlich veranlasster Aufgaben durch die Kommunen handelt, sucht dem das (finanzkraftunabhängige) Konnexitätsprinzip mit entsprechenden Ausgleichsregelungen Rechnung zu tragen. Im Grundgesetz lediglich für das Bund-Länder-Verhältnis angesprochen, ist das Prinzip inzwischen durchgängig auch für das Verhältnis Land – Kommunen (landes-)verfassungsrechtlich abgesichert, wenn auch im Einzelnen unterschiedlich ausgeformt3. Die „offene Flanke“ einer bundesrechtlich veranlassten, finanzwirksamen Aufgabenübertragung auf die Kommunen ist seit der sog. „Föderalismusreform I“ beseitigt. Geblieben ist das faktische Ungleichgewicht von Aufgabenerfindungsrecht („Universalität“) der Gemeinden auf der einen Seite und deren regelmäßig auf Finanzzuweisungen angewiesene Finanzausstattung auf der anderen Seite. Es hat seinen Grund in dem – gemessen an einem typisierten Finanzbedarf – ganz überwiegend unzulänglichen Steueraufkommen der Kommunen und ihrem fehlenden Steuererfindungsrecht. Nicht von ungefähr hat deshalb der kommunale Finanzausgleich inzwischen in allen Ländern außer Bayern eine ausdrückliche verfassungsrechtliche Absicherung erfahren4. Die verfassungsrechtlichen Gewährleistungen der kommunalen Finanzausstattung bewahren die kommunalen Körperschaften nicht vor Verteilungskämpfen um die finanziellen Ressourcen. Hierbei haben die Kommunen eher „schlechte Karten“: Als letztes Glied in der Kette öffentlicher Aufgabenträger sind sie weithin abhängig von den Vorentscheidungen zwischen Bund und Ländern über die Aufteilung der aufkommensstarken Steuern und dem Maß der Bereitschaft des jeweiligen Landes, das eigene Finanzaufkommen mit den Kommunen zu teilen: Rund 33 % der Einnahmen der Kommunen beruhen auf staatlichen Zuweisungen; mit knapp 40 % schlagen die Steuern auf der Einnahmeseite zu Buche; die restlichen Einnahmen speisen sich aus Gebühren und aus sonstigen Quellen.5 Investitionsstaus und überbordende Kassenkredite bestimmen bei vielen Kommunen die Finanzlage. Mit wachsender Dominanz des Ziels, den Mangel zu bewältigen, und zunehmend kreativen Finanzierungsmodellen, welche die Kommunen auch als Geber in den Prozess der Generierung der zu verteilenden Finanzmittel einbeziehen, können die Bedingungen kommunaler Selbstverwaltung und gerechter Verteilung der Mittel leicht aus dem Blick geraten. Einerseits sind die Kommunen an Regelhaftigkeit interessiert und begegnen diskretionären Zuweisungen mit Skepsis – dies vor allem, soweit es um die Bestimmung der Gesamtfinanzmasse, die den Kommunen durch das Land zuzuteilen ist, oder um drohende Ungleichbehandlungen innerhalb der „kommunalen Familie“ geht. Andererseits können einzelne Gebietskörperschaften davon pro3

Übersicht bei Ammermann (Fn. 2), S. 113 ff., 161 ff; Kluth, LKV 2009, 337 ff. Nachweise bei Ammermann (Fn. 2) S. 161 ff.; Henneke, in: ders./Pünder/Waldhoff (Fn. 2), § 25 Rn 1. 5 Geschätzt für das Jahr 2013; siehe Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände, Kommunalfinanzen bis 2016, Umdruck-Nr. L 2125 vom 19. 06. 2013 (www.kommunalespitzenverbaende.de). 4

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fitieren, dass das System nicht geschlossen ist und Einfallstore für Sonderbehandlungen bereit hält. Die unterschiedlichen Interessen und Bedürfnisse beleuchten zugleich das Spannungsverhältnis zwischen Bedarfs- und Aufbringensgerechtigkeit, dem im Folgenden näher nachgegangen werden soll. II. Systematische Annäherungen Unter rechtswissenschaftlichen Aspekten wäre es wenig sinnvoll, alle Zahlungsströme zwischen Staat und Kommunen oder zwischen mehreren Kommunen als Teil eines kommunalen Finanzausgleichs zu deuten: Beruhen diese auf konkreten Austauschbeziehungen oder stellen sie bloße Erstattungen bzw. Ersatzleistungen für einzelne Leistungen oder schadenstiftende Vorgänge dar, so handelt es sich zwar um finanzwirksame Vorgänge zwischen mehreren Körperschaften; sie beschreiben jedoch nicht solche, die mit den spezifischen Problemen eines kommunalen „Finanzausgleichs“ verbunden sind6. Hierbei geht es um Finanzströme, welche die primäre Ertragszuweisung an Kommunen ergänzen und korrigieren. Das erfolgt namentlich im allgemeinen (kommunalen) Finanzausgleich. Der damit verbundene Effekt einer unterschiedlich starken Korrektur der Finanzkraft führt zu einer Nivellierung der finanziellen Leistungsfähigkeit der beteiligten Kommunen. Sie ist von dem Ziel getragen, ein möglichst gleiches Niveau finanzieller Leistungskraft der Kommunen sicherzustellen7. Der Effekt der Angleichung der Finanzkraft ist mit jedem Finanzausgleich verbunden: Indem er an die bestehenden Finanzkraftunterschiede der verschiedenen Gemeinden anknüpft und die geringere eigene Finanzkraft der begünstigten Kommunen in Relation zu „reicheren“ Kommunen stärker anhebt als die letzterer, wird ihre finanzielle Leistungsfähigkeit nivelliert. Das lässt sich unter Gleichheitsaspekten auch als relative „Entwertung“ der originären Einnahmen der im Wettbewerb untereinander stehenden, finanzkraftstärkeren Kommunen deuten. Besondere Problemstellungen verbinden sich mit dem interkommunalen Finanzausgleich im engeren Sinne. Sie haben ihren Grund darin, dass finanzielle Transfers zwischen mehreren kommunalen Körperschaften an die Finanzkraft der betroffenen Körperschaften anknüpfen oder auf einen allgemeinen Ausgleich für verschiedene Belastungen gerichtet sind und so den finanziellen Status der Kommunen eines Landes im Verhältnis zu anderen Kommunen gezielt verändern. Insoweit, als sich die Aufbringung und Zuweisung der Finanzmittel innerhalb des kommunalen Bereichs bewegt und Finanzkraft zugunsten anderer Kommunen relativiert oder abschöpft, handelt es sich um einen horizontalen Finanzausgleich zwischen den Gemeinden

6

Zutreffend Kluth, DÖV 1994, 458. Anders bei Ausgleichsleistungen für Sonderbelastungen nach Art. 106 Abs. 8 GG sowie solchen aufgrund des Konnexitätsprinzips bei Pflichtaufgaben. 7 Siehe Wendt, in: HStR VI (Fn. 1) § 139 Rn. 84; Hoppe, DVBl 1992, 117, 119.

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(Gemeindeverbänden)8. Beispiele hierfür sind Verbandsumlagen, aber auch allgemein aufgabenbezogene (sektorale) Zweckumlagen wie Stadt-Umland-Umlagen oder die Krankenhausumlage, nicht zuletzt allgemeine Finanzausgleichsumlagen, die abundante Gemeinden in die Pflicht nehmen und zunehmend Bedeutung im Zusammenhang mit dem kommunalen Finanzausgleich erlangt haben. III. Formen des kommunalen Finanzausgleichs Dadurch, dass die allgemeinen Schlüsselzuweisungen u. a. auf der Grundlage der Finanzkraft der Gemeinden berechnet werden, wird der horizontale kommunale Finanzausgleich in den vertikalen Finanzausgleich zwischen Land und Kommunen integriert. Auf diese Weise tritt neben seine Finanzierungsfunktion, welche die kommunale Finanzmasse stärken und den Gemeinden eine angemessene Wahrnehmung ihrer Aufgaben sichern soll, die Ausgleichsfunktion. Die Abhängigkeit der Zuweisungen von der (regelmäßig unzureichenden) originären Ertragskraft der Gemeinden macht deutlich, dass die unterschiedlichen Aufkommensarten und Verteilungsmechanismen bei der kommunalen Finanzausstattung nicht isoliert voneinander betrachtet werden können. Sie sind Teil „eines vielschichtigen und feingliedrigen Systems der Verteilung, der Balancierung und des Ausgleichs“ der Finanzmacht in einem polyzentrischen Staat9. Als Komplementärsystem zu den originären Einnahmequellen, das auf die Aufstockung der den Gemeinden zukommenden Finanzmasse unter Abgleich von Finanzkraft und Finanzbedarf gerichtet ist, aber auch eine nachgelagerte Ertragsumschichtung umfassen kann, ist der kommunale Finanzausgleich von zahlreichen Rahmenbedingungen abhängig. Diese werden bestimmt von einem mehrstufigen Ertragszuweisungs- und Ausgleichssystem, zu dem auf der Ebene der Gemeinden eigene Steuererträge wie auch die Beteiligung an den Erträgen aus den Gemeinschaftssteuern gehören. Die finanzielle Ausstattung der den kommunalen Finanzausgleich organisierenden Länder wird ihrerseits bestimmt durch eigene Steuern, die Länderanteile an den Gemeinschaftssteuern und die Kompensationszahlungen für die ihnen früher zustehende Kfz-Steuer, die Zuweisungen aus dem Umsatzsteuervorwegausgleich sowie nicht zuletzt durch die Zuweisungen aus dem Länderfinanzausgleich, ggfls. auch Bundesergänzungszuweisungen. Damit speist sich die Finanzkraft der Kommunen aus Finanzquellen unterschiedlicher Herkunft und Volatilität, die teils der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung, teils demographischen Veränderungen, teils gewandelten Aufgaben, teils sich ändernden steueroder finanzverfassungsrechtlichen Festlegungen geschuldet ist. Diese Abhängigkeit 8 Vgl. demgegenüber Kluth, DÖV 1994, 456, 458, der insoweit von einem „vertikalen Finanzstrom“ spricht, als Kommunen unterschiedlicher funktionaler Ebenen betroffen sind. Demgegenüber sollte von einer „vertikalen“ Beziehung nur insoweit gesprochen werden, als ein Kompetenzgefälle zwischen den beteiligten Körperschaften besteht; s.a. Hans Meyer (Fn. 2), S. 126. Deshalb wird hier maßgeblich darauf abgestellt, ob der Finanzfluss innerhalb des kommunalen Raumes verbleibt. 9 Siehe Wendt, in: HStR VI (Fn. 1), § 139 Rn. 141.

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spiegelt sich in der Zeitgebundenheit der kommunalen Finanzausgleichsgesetze wieder, die einem jährlichen Rhythmus folgen. Demgegenüber sind die Kommunen durchaus nachvollziehbar an einer Verstetigung ihrer Einnahmen interessiert, was sich mit einer möglichen Erwartung des Grundgesetzes an ein von Kontinuität und Funktionsgerechtigkeit geprägtes Länderfinanzausgleichssystem10 treffen mag. Das lässt sich freilich nur bedingt auf die Ebene des von den Ländern in eigener Verantwortung zu regelnden kommunalen Finanzausgleichs übertragen. Die Gemeindefinanzierungsgesetze (Finanzausgleichsgesetze) der Länder haben insoweit eine je eigene Form gefunden, in der sie Kontinuität der Maßstabbildung mit der Reaktionsfähigkeit an wechselnde finanzielle Rahmenbedingungen zu verbinden suchen. Die unterschiedlichen Zielsetzungen des kommunalen Finanzausgleichs finden sich nicht unbedingt in eigenen Regelungsformen wieder: Regelmäßig umfasst der kommunale Finanzausgleich mit der Weiterreichung von Finanzmitteln des Landes an die Kommunen die vertikale Ebene und verknüpft dies mit den Effekten des interkommunalen (horizontalen) Ausgleichs. Eigenen Regeln folgt der Ausgleich aus Anlass der Zuweisung von Pflichtaufgaben, der dem Konnexitätsprinzip Folge leistet, sowie der Ausgleich für Sonderbelastungen. Beide erfolgen finanzkraftunabhängig, auch wenn sie sich gesetzestechnisch in den Finanzausgleichsgesetzen (Gemeindefinanzgesetzen) wiederfinden mögen11. Bestimmungen zu Umlagen – etwa zur allgemeinen Finanzausgleichsumlage – können sich mit den allgemeinen Finanzausgleichsgesetzen verbinden oder ein Eigenleben führen – so die Verbandsumlagen. Beide Umlageformen werfen wiederum je eigene Probleme der Maßstabbildung auf. Angesichts der Vielfalt von sich teilweise überschneidenden Formen und multifunktionalen Instrumenten des kommunalen Finanzausgleichs erscheinen deshalb auch die gängigen typologischen Klassifizierungen des Finanzausgleichs als wenig trennscharf. Für die rechtliche Bewertung stehen jeweils Regelungsgehalt und Verteilungswirkungen der konkreten Regelung, nicht deren formale Verortung im Finanzausgleichssystem im Zentrum der Betrachtung. Diese hat sich vor allem zwei Problemkreisen zuzuwenden: Zum einen dem der Sicherung der den Kommunen durch die Verfassung zugestandenen angemessenen Finanzausstattung durch den Finanzausgleich. Zum anderen der Frage der Kompatibilität einer korrektiven Finanzausgleichsregelung mit den grundgesetzlichen Direktiven zur kommunalen Finanzausstattung; das schließt deren Bedeutung für einen möglichen „Bestandsschutz“ eigener Einnahmequellen der Gemeinden ein.

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Hierzu BVerfGE 101, 158, 215 f. Deshalb werden sie hier nur insoweit aufgegriffen, als es für die Gesamtbetrachtung bedeutsam ist; s.a. Fn. 6. 11

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IV. Finanzverfassungsrechtlicher Rahmen Die Garantie kommunaler Selbstverwaltung wäre weitgehend substanzlos, wenn sie nicht zugleich die Zusage umfasste, dass die Kommunen über eigene Finanzmittel verfügen und über ihre Verwendung selbst entscheiden dürfen. Die Anerkennung der Finanzhoheit als Bestandteil der in Art. 28 Abs. 2 GG gewährleisteten Selbstverwaltung gehört daher zum gesicherten Stand der Verfassungsrechtslehre12. Die zwischenzeitlich erfolgte Ergänzung des Art. 28 Abs. 2 GG durch Satz 3 bedeutet die explizite13 Bestätigung der Einsicht, dass die verfassungsrechtliche Garantie kommunaler Selbstverwaltung ohne gleichzeitige Sicherung ihrer finanziellen Verwirklichungsbedingungen ein „nudum jus“ bliebe. Der Gewährleistungsgehalt des Art. 28 Abs. 2 S. 3 GG wendet sich in erster Linie an den Landesgesetzgeber, in dessen Verantwortung es liegt, die finanzielle Ausstattung der Gemeinden und Gemeindeverbände als unterer Ebene im Verwaltungsaufbau der Länder näher zu bestimmen. Konsequenterweise greifen die Landesverfassungen die verfassungskräftige Verbürgung angemessener kommunaler Finanzausstattung auf und füllen sie in unterschiedlicher Weise näher aus. Die Bestimmungen geben einen Hinweis auf die dualistische Struktur der kommunalen Finanzausstattung, die sich ebenso auf eigene Einnahmequellen der Gemeinden stützt wie auf staatliche Zuwendungen, die ihnen im Wege des Lasten- und Finanzausgleichs zufließen. Die auf verschiedene Finanzquellen setzende Struktur wird bereits im Grundgesetz sichtbar: In seinen Bestimmungen über die Zuteilung der kommunalen Steuerertragshoheit ist es auf Ergänzung angelegt: Die den Gemeinden (Gemeindeverbänden) reservierten Steuern und Steueranteile sind typischerweise nicht so hoch, als dass auf ein zusätzliches Finanzierungsinstrument verzichtet werden könnte. Damit verbinden sich unterschiedliche grundgesetzliche Aussagen über die primäre und die sekundäre Finanzausstattung von (Ländern und) Gemeinden: Erstere umfasst die Erträge, die den Gemeinden unmittelbar kraft gesetzlicher Anordnung zukommen. Ihr Aufkommen fließt den Gemeinden also ohne Umweg über einen staatlichen Haushalt zu, ihr Ertrag bleibt für die Gemeinde individualisierbar. Zur grundgesetzlich vorbehaltenen primären Finanzausstattung der Gemeinden zählen das Aufkommen aus den Realsteuern, die örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern sowie die Beteiligung an den Erträgen aus den Gemeinschaftssteuern (Einkommensteuer, Umsatzsteuer) – letztere freilich mit der Relativierung, dass die Weiterleitung des Gemeindeanteils an der Einkommensteuer „auf der Grundlage der Einkommensteuerleistungen ihrer Einwohner“ bzw. „auf der Grundlage eines orts- und wirtschaftsbezogenen Schlüssels“ zu erfolgen hat, also bereits eine gewisse Relativierung erfährt.

12 13

Siehe nur Geis (Fn. 2), S. 80 m.w.N. Eingefügt durch Gesetz v. 27. 10. 1997 (BGBl. I 2470).

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Die darin liegende Mediatisierung verweist auf ein typisches Kennzeichen der sekundären Finanzausstattung, die auf staatliche Finanzzuweisungen setzt, also durch das Land vermittelt wird. Für beide Formen kommunaler Finanzausstattung – primäre wie sekundäre – zeigt sich der Bund, wie Art. 106 GG belegt, mitverantwortlich14. Indes fällt auf, dass sich das Grundgesetz weitestgehend eines unmittelbaren „Durchgriffs“ auf die Gemeinden enthält. Nur beim „Sonderlastenausgleich“ des Art. 106 Abs. 8 GG kennt es eine unmittelbare Finanzbeziehung zwischen Bund und Gemeinde (z. B. nach § 6a SGB II). Ansonsten setzt es einen vom Land organisierten kommunalen Finanzausgleich voraus, den er mit bestimmten Kautelen versieht: Ausgangspunkt bildet insoweit der von Art. 106 Abs. 7 S. 1 GG den Ländern zwingend vorgegebene und nach S. 2 fakultativ erweiterbare Steuerverbund: Danach fließt vom Landesanteil am Gesamtaufkommen der Gemeinschaftssteuern „den Gemeinden und Gemeindeverbänden insgesamt ein von der Landesgesetzgebung zu bestimmender Hundertsatz zu“15. Dem Landesgesetzgeber bleibt nicht nur vorbehalten, „ob und inwieweit das Aufkommen der Landessteuern den Gemeinden (Gemeindeverbänden) zufließt“, sondern auch, in welcher Weise er das von ihm zur Stärkung der kommunalen Finanzkraft vorgesehene Steueraufkommen auf die einzelnen Kommunen verteilt16. Eine explizite Aussage zur Verteilung trifft dagegen Art. 106 Abs. 6 S. 6 GG, insofern er bestimmt, dass „die Grundsteuer und Gewerbesteuer sowie der Gemeindeanteil vom Aufkommen der Einkommensteuer und der Umsatzsteuer“ vom Landesgesetzgeber „als Bemessungsgrundlage für Umlagen zugrundegelegt werden“ können. Schließlich ordnet Art. 107 Abs. 2 S. 1 Hs. 2 GG an, dass „die Finanzkraft und der Finanzbedarf der Gemeinden (Gemeindeverbände)“ beim Länderfinanzausgleich „zu berücksichtigen“ sind und rechnet diese so dem jeweiligen Land zu17. Die Zurückhaltung des Grundgesetzes bei der Festlegung von Rahmenbedingungen für die Finanzausstattung der Kommunen ist mit der allgemeinen grundgesetzlichen Kompetenzordnung abgestimmt. Sie überlässt die nähere Konturierung der Finanzausstattung der Gemeinden dem Landesgesetzgeber. Dem entspricht, wenn die Verfassungen aller Flächenstaaten der Bundesrepublik – mit der bereits erwähnten Ausnahme Bayerns – eine Bestimmung enthalten, die das Land verpflichtet, im Rahmen seiner finanziellen Leistungsfähigkeit einen übergemeindlichen Finanzausgleich zu gewährleisten, um den Gemeinden und Gemeindeverbänden die zur Durchführung ihrer eigenen und der übertragenen Aufgaben erforderlichen Geldmittel zu sichern. Die verfassungsrechtlich verbürgte Teilhabe der Gemeinden (Gemeindeverbände) an dem Finanzaufkommen der Länder wie auch der Ausgleich der unterschiedlichen Finanzkraft der Kommunen wird durch die Finanzausgleichsgesetze (Gemeindefinanzgesetze) der Länder konkret vermittelt. Diese aktualisieren das 14

Siehe Wendt, HStR VI (Fn. 1), § 139 Rn. 80. F. Kirchhof, in: ders./Meyer (Fn. 2) S. 27. 16 Siehe Schwarz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG 5 2005, Art. 106 Rn. 143. 17 BVerfGE 86, 148. 15

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aus der Selbstverwaltungsgarantie folgende Recht auf angemessene Finanzausstattung und sichern dieses ab18. Der nach dem Grundgesetz „fakultative“ Ansatz ist damit für die Länder im Hinblick auf die Gemeinden – ceteris paribus – durchaus obligatorisch, d. h. sie müssen diese angemessen am Finanzaufkommen des Landes beteiligen19. Insofern geht es um das Zusammenspiel von Bundes- und Landesverfassung, aber auch von verschiedenen Finanzmassen, das immer wieder in das Bild von „kommunizierenden Röhren“ gefasst wird20. Damit werden verschiedene Zielkonflikte des kommunalen Finanzausgleichs sichtbar: Neben der fiskalischen Zielsetzung der aufgabengerechten Finanzausstattung bleibt die Herausforderung des institutionengerechten Abgleichs zwischen primärer und sekundärer Finanzausstattung, aber auch die Auflösung des Zielkonflikts zwischen autonom erzeugter oder auch vorgefundener Verschiedenheit der Bedarfslage und heteronom zu gestaltender Annäherung der Finanzkraft der Kommunen21. V. Allgemeiner kommunaler Finanzausgleich Im Vergleich zu den Regelungen des Grundgesetzes zur primären Finanzausstattung ist der kommunale Finanzausgleich regelmäßig weniger formstreng22. Weil das Grundgesetz offen lässt, in welcher Weise der Landesgesetzgeber den kommunalen Finanzausgleich im Einzelnen ausgestaltet, ist die Regelungstechnik bis hin zur näheren Bestimmung der in die Verteilung eingehenden Verbundgrundlagen äußerst vielgestaltig. Das erschwert den länderübergreifenden Vergleich der einzelnen Finanzausgleichmodelle und deren jeweiligen Effekte und mindert die Transparenz im Hinblick auf mögliche Kumulationen von Ausgleichsleistungen. Umgekehrt befreit die Konzentration verschiedener Zuweisungsarten und -adressaten in einem Gesetz nicht von der Pflicht zur Unterscheidung zwischen finanzkraftabhängigen und finanzkraftunabhängigen Zuweisungen sowie unterschiedlichen Bedarfsstrukturen der verschiedenen kommunalen Ebenen. Bei aller Verschiedenheit der Ausgestaltung des kommunalen Finanzausgleichs im Einzelnen geht es stets darum, den Bedarf der kommunalen Verwaltungsträger an finanziellen Ressourcen, der nicht durch das eigene Finanzaufkommen gedeckt ist, durch eine Zuweisung ergänzender Mittel nach bestimmten Regeln sicherzustellen; zugleich soll diese die unterschiedliche Finanzkraft der Kommunen einander annähern, ohne sie aufzuheben.23

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S.a. Henneke, Finanzwesen (Fn. 2) Rn. 916. F. Kirchhof, in: ders./Meyer (Fn. 2) S. 27; Bayer, DVBl 1993, 1287, 1288. 20 Stüer, in: F. Kirchhof/H. Mayer (Fn. 2), S. 47. 21 S.a. BVerfGE 101, 158, 222; P. Kirchhof, DVBl 1980, 711. 22 Henneke, Die Kommunen in der Finanzverfassung des Bundes und der Länder4, 2008, S. 43. 23 F. Kirchhof, in: ders./Meyer (Fn. 2), S. 25 (25); Mückl (Fn. 2), S. 188 f. 19

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1. Die Bildung der Ausgleichsmasse – das Ausgleichsvolumen Der Gesamtumfang der an die Kommunen im Rahmen des kommunalen Finanzausgleichs auszukehrenden Finanzmasse findet idealtypisch24 zwei Anknüpfungspunkte: Zum einen die Verbundgrundlagen, d. h. die vom Land in die Verteilung einzubeziehenden Finanzquellen, zum anderen die Verbundquote. Von Verfassungs wegen als Verbundgrundlagen einzustellen sind, wie bereits erwähnt, die vom jeweiligen Land zu bestimmenden Anteile vom dem ihm zustehenden Aufkommen an den Gemeinschaftssteuern (obligatorischen Steuerverbund nach Art. 106 Abs. 7 S. 1 GG). Hierzu kommen – je nach landesrechtlicher Entscheidung – etwaige Anteile an den Landessteuern (fakultativer Steuerverbund nach Art. 106 Abs. 7 S. 2 GG). Darüber hinaus kann sich auch aus dem Widmungszweck einer Zuweisung von Geldern des Bundes an die Länder für kommunale Zwecke die Pflicht des Landes zu deren Weiterleitung ergeben. Die mittelbare Adressierung der Zuwendung an die Kommunen verlangt eine konsequente Weitergabe an die Kommunen, so in den Fällen des Art. 106 Abs. 3 S. 5 und 6 GG, Art. 106a (ÖPNV), mit Einschränkungen auch im Falle des Art. 107 Abs. 2 GG: Die Widmung der Finanzmittel aktiviert das Gebot der Folgerichtigkeit mit der Pflicht zur Weiterleitung25, ohne dass allerdings insoweit vorgegeben ist, ob diese im Rahmen des Finanzausgleichs oder außerhalb dessen erfolgt. Die Verbundquote gibt den prozentualen Umfang der Beteiligung der Kommunen an den Verbundgrundlagen an26, soweit diese nicht als zweckbestimmte Mittel des Bundes vom Land vollständig an die Kommunen weiter zu leiten sind. Beide Faktoren – Grundlagen und Quote – bestimmen so (rechnerisch) das Gesamtvolumen der an die Kommunen zu verteilenden Finanzmasse27. a) Die mit dem Schutz kommunaler Selbstverwaltung verbundene Garantie der „Grundlagen finanzieller Eigenverantwortung“ (Art. 28 Abs. 2 S. 3 GG) bestimmt das verfassungsrechtlich gebotene Ausgleichsvolumen. Aus ihr erwächst, konkretisiert durch die verfassungsrechtlichen Bestimmungen zur primären Finanzausstattung wie auch zum kommunalen Finanzausgleich, das normative Programm einer angemessenen, aufgabengerechten Finanzausstattung der Kommunen, von dem 24

Die Praxis weicht teilweise hiervon – mit Billigung der Rechtsprechung – ab; s. StGH BW, DVBl 1999, 1351, 1355; VerfGH NW, DVBl 1993, 1205 f.; Leisner-Egensperger, DÖV 2010, 705, 709 sowie vorstehend zu Fn. 22. 25 F. Kirchhof, in: ders./Mayer (Fn. 2), S. 27; P. Kirchhof, in: Hoppe (Fn. 2), S. 6. 26 Schmidt Jortzig/Makswit, Handbuch des kommunalen Finanz- und Haushaltsrechts, 1991, S. 72 (Rn. 202); Schwarz, Finanzverfassung (Fn. 2), S. 105 m.w.N. 27 Verschiedentlich wird die (Fortschreibung der) Verbundquote (Zuweisungsmasse) durch den „Gleichmäßigkeitsgrundsatz“ überlagert (hierzu Falken-Grosser, Aufgabenorientierung in der Finanzbedarfsbestimmung im kommunalen Finanzausgleich, 2010, S. 71 ff. m.w.N.). Zwar werden so die jährlichen Verteilungskämpfe begrenzt. Indes ist damit die Ausgangsbasis noch nicht generell legitimiert; auch darf die Bedarfsorientierung (Aufgabenbezug) nicht verloren gehen. Das schließt eine entsprechende Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht mit ein; s. BbgVerfG; NVwZ-RR 2000, 129, 131; VerfG MV, LVerfGE 17, 297, 330 ff.; Ammermann (Fn. 2) S. 99.

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sich die Finanzausgleichgesetze der Länder leiten zu lassen haben. Die „angemessene Finanzausstattung“ stößt auf verschiedene Bestimmungsgrößen: Einerseits ist sie an dem typisierten, finanzwirksamen Aufgabenspektrum zu orientieren, das es zu sichern gilt (Finanzbedarf). Andererseits ist das Maß der Ausstattung der Kommunen mit eigenen Finanzmitteln (Finanzkraft) bedeutsam. Beide sind – dem „Ausgleichsgedanken“ folgend – in ein annäherndes Gleichgewicht zu bringen; daraus erwächst der näher zu bestimmende Ausgleichsbedarf. Der Finanzbedarf der Kommunen findet einen relativ eindeutigen28 Anknüpfungspunkt, soweit es sich um Ausgleichsleistungen für die Wahrnehmung der den Gemeinden überantworteten Pflichtaufgaben handelt, für die das Konnexitätsprinzip greift. Sie machen einen Großteil der heute von den Kommunen wahrzunehmenden Aufgaben aus und nehmen insoweit nicht unwesentlich Einfluss auf die Verteilungsmasse, soweit sie nicht außerhalb des allgemeinen Finanzausgleichs abgegolten werden29. Anspruchsvoller gestaltet sich die Ermittlung des Finanzbedarfs, soweit er nicht nur die vom Konnexitätsprinzip erfassten pflichtigen, sondern auch die freiwilligen Aufgaben umfasst30. Diese sind für eine eigenverantwortlich agierende kommunale Selbstverwaltung schlechthin konstituierend. Hierzu gehört bei den Gemeinden die „Universalität“ ihres Wirkungskreises zur Regelung ihrer örtlichen Angelegenheiten, bei den Kreisen die Wahrnehmung von kreisintegralen sowie von Ergänzungs- und Ausgleichsaufgaben. Die finanzielle Absicherung eines autonomen Aufgabenbestimmungsrechts lässt sich kaum mit den üblichen Kategorien von Erforderlichkeit und Angemessenheit31, sondern nur mit gesetzlichen Eingrenzungen („im Rahmen der Gesetze“) rahmenförmig einfangen. Unbeschadet der primären Konkretisierungskompetenz der einfachen (Landes-) Gesetzgeber sollte klar sein, dass die Gewährleistung „angemessener Finanzausstattung“ über die Sicherung des finanziellen, lediglich Überlebensfähigkeit sichernden „Existenzminimums“ der Kommunen hinausreicht.32 Das verlangt über das Vorhalten der unabdingbaren organisatorischen Grundausstattung hinaus, dass die Kommunen neben den Pflichtaufgaben auch freiwillige Aufgaben wahrzunehmen imstande 28

Freilich finden sich nach wie vor unterschiedliche Messlatten für dessen nähere Bestimmung (Erstattung in „entsprechendem“ oder in „angemessenem“ Umfang); im Einzelnen Ammermann (Fn. 2), S. 136 ff., 143 ff., 161 ff. sowie Falken-Grosser (Fn. 27), S. 44 ff.; Henneke (Fn. 22), S. 139 f.; s.a. Dreier, in: ders. (Hg.), GG2, 2006, Art. 28 Rn. 158 Fn. 666. Das gilt auch für den zugrundeliegenden Aufgabenbegriff; dessen Verkürzung (s. VerfG LSA, LVerfGE 9, 368, 383) ist mit Recht auf Ablehnung gestoßen; näher Mückl, in: Henneke/ Pünder/Waldhoff (Fn. 2), § 3 Rn. 73 m.w.N. Nunmehr ausdrücklich: Art. 49 Abs. 5 Satz 1 Hs 2 LV Rh-Pf. 29 Die gesondert auszuweisen sind, s. VerfGH RhPf, DÖV 1978, 763, 766; Wendt, in: FS Stern (Fn. 1) S. 623. 30 P. Kirchhof, DVBl 1980, 1, 9; Schwarz (Fn. 2), S. 107. 31 Kritisch dazu Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 618 f. 32 HessVerfGH, NVwZ 2013, 1151 m. Anm. Oebbecke; NdsStGH, DVBl 1998, 185, 195; Ammermann (Fn. 2) S. 62, 80; Geis (Fn. 2) S. 84; Inhester (Fn. 2 ), S. 82 f.; s.a. Wendt, FS Stern (Fn. 1) S. 609.

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sind, also über das für die örtliche Gemeinschaft Notwendige in angemessenem Umfang („kraftvoll“) selbst bestimmen können. Hierzu gehört nicht zuletzt ein finanzwirtschaftlicher Spielraum für infrastrukturelle, kulturelle, wirtschaftliche und soziale Aufgabenstellungen, der frei von staatlicher finanzwirtschaftlicher Steuerung ist33. Dabei kann es allerdings nur um einen typisierten, abstrakten Bedarf gehen, der den Kommunen den finanziellen Spielraum für eine entsprechende Handlungsfähigkeit verleiht. Dieser ist, wie die Gerichte zunehmend und mit Recht herausstellen34, realitätsnah zu bestimmen und darf sich deshalb nicht von der Empirie entfernen: Der Gesetzgeber muss neben der Finanzkraft der Kommunen auch deren voraussichtlichen Bedarf kennen, an dem er den Ausgleich nachvollziehbar bemisst. Dass freilich das tatsächliche Ausgabenverhalten als solches nicht entscheidend für die normative Bestimmung des Bedarfs und damit auch des Ausgleichsvolumens sein kann, unterliegt keinem Zweifel, mag auch der Verzicht auf eine Normierung des Faktischen auf deutliche Restriktionen in der Praxis stoßen35. Die Schwierigkeit, dem Verfassungsauftrag zur Sicherung „der Grundlagen der finanziellen Eigenverantwortung“ nähere Konturen zu verleihen, hat vor allem zwei Gründe: Zum einen ist es die Unabgeschlossenheit des kommunalen Aufgabenbestandes; sie beruht auf dem verfassungsrechtlich fundierten Aufgabenerfindungsrecht der Kommunen im Hinblick auf die Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft und drängt im Hinblick auf die finanzielle Absicherung eher auf eine typologisch ausgerichtete Rahmensetzung als auf eine inhaltliche Auffüllung. Zum anderen ist der übergemeindliche Finanzausgleich mit der finanziellen Leistungsfähigkeit des Landes abzugleichen. Dieser Vorbehalt ist inzwischen in verschiedenen Landesverfassungen36 ausdrücklich festgehalten; im Übrigen hat er den „Charakter einer ungeschriebenen, von den Verfassungsgerichten entwickelten „immanenten Schranke“ angenommen37: Er folgt dem Gedanken der Gleichwertigkeit der Aufgaben von Bund, Ländern und Gemeinden und verlangt die gleichmäßige Verteilung der Ressourcen zur ordnungsgemäßen Wahrnehmung der ihnen jeweils zukommenden Aufgaben („Verteilungssymmetrie“)38 : Infolge der Einbindung der Kommunen in das gesamtwirtschaftliche Gefüge der öffentlichen Haushalte und der vielfältigen, von den Gebietskörperschaften wahrgenommenen Aufgaben kann der Umfang angemesse33

Siehe Wendt, FS für Stern (Fn. 1) S. 625 m.w.N. BbgVerfG, NVwZ-RR 2000, 129, 131; NdsStGH, NVwZ-RR 2001, 553, 556; s.a.VerfG LSA, DVBl 2012, 1560, 1561; P. Kirchhof , in: Hoppe (Fn. 2), S. 1, 22; Schoch, AfK 2000, 225, 238. Zur Beobachtungspflicht des Gesetzgebers, s. StGH NW, DVBl 2012, 432 ff.; Henneke, Finanzwesen (Fn. 2) Rn. 926 sowie vorsteh. Fn. 27. 35 Näher P. Kirchhof, in: Hoppe (Fn. 2), S. 16 m.w.N. 36 So in Art. 58 NdsVerf, Art. 79 VerfNW; ähnl. Art. 73 Abs. 3 Verf BadWürtt, Art.87 Abs.3 SächsVerf, Art. 93 Abs. 3 ThürVerf. 37 Krit. hierzu Geis (Fn. 2), S. 81 f mwN. Grundsätzlich (auch in der Form eines Abwägungsgebotes) ablehnend: Würtenberger (Fn. 2), S. 977, 984. 38 VerfG MV, LKV 2006, 461, 462; NdsStGH, NVwZ-RR 2001, 553, 557; VerfGH RhPf, DVBl 2012, 432, 433; ThürVerfGH, NVwZ-RR 2005, 665, 668; Geis (Fn. 2), S. 81; Henneke, Finanzwesen (Fn. 2), Rn. 923, 928. 34

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ner Finanzausstattung der Kommunen nicht nur aus deren Perspektive bemessen werden. Weil sich der kommunale Finanzausgleich maßgeblich an den finanziellen „Schicksalsverbund” zwischen Bund und Ländern anlehnt, aber auch, weil die Kommunen staatsorganisationsrechtlich Teil der Verwaltung des Landes sind, lässt sich die Höhe der gemeindlichen Finanzausstattung jeweils nur unter angemessener Berücksichtigung des finanziellen Bedarfs und der Haushaltsituation des Landes bestimmen: Das auch im „bündischen Prinzip“ zum Ausdruck kommende Gebot gegenseitiger Rücksichtnahme wie die Gleichgewichtigkeit der jeweiligen Aufgabenstellung fordern – ähnlich wie bei dem erforderlichen Ausgleich verschiedener grundrechtlicher Güter – die Herstellung „praktischer Konkordanz“ in Form einer dynamischen Ausbalancierung der jeweiligen Bedarfs- und Finanzlage von Land und Kommunen39. Angesichts der Probleme, auf die der Versuch einer Operationalisierung des Verfassungsauftrages der Sicherung einer angemessenen Finanzausstattung der Kommunen stößt, kann es nicht überraschen, wenn die Gerichte insoweit einen weiten Handlungsspielraum des Gesetzgebers annehmen und regelmäßig darauf abstellen, ob die im betreffenden Finanzausgleichsgesetz bereitgestellten Ausgleichsmittel evident unzureichend sind40. Demgegenüber beklagt Geis41, „verbale Bekenntnisse zu abstrakt existierenden Maßstäben“ könnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass „die Landesverfassungsgerichtsbarkeit immer mehr Zuflucht zu einer kommunalverfassungsrechtlichen ,political question doctrine‘“ nehme. Zunehmend wird auf eine prozedurale Absicherung der Verteilungsentscheidung unter Beteiligung der kommunalen Seite und die Flankierung durch die Gebote der Publizität und Transparenz der Ausgleichsregelungenbestimmung gesetzt42. Das kann zwar die Einhaltung der materiellen Anforderungen nicht ersetzen, sichert aber doch eine Reflexionsbasis für eine verfassungsrechtlich angeleitete und verfassungsgerichtlich überprüfbare Entscheidung des Ausgleichsgesetzgebers und kann so die Wahrscheinlichkeit für eine rationale Entscheidung erhöhen43. b) Die Relativierung der über den Finanzausgleich zu sichernden Finanzausstattung der Kommunen, wie sie vor allem im Grundsatz der „Verteilungssymmetrie“ 39 Vgl. auch Huber/Storr (Fn. 2), S. 110 f. Dem würde der pauschale Verweis auf einen Haushaltsengpass des Landes nicht gerecht; s.a. VerfGH RhPf, NVwZ 2012, 1034, 1036 f.; Geis (Fn. 2), S. 82 m.w.N sowie nachfolg. Fn. 60. 40 BayVerfGH, DÖV 1997, 639, 642; BbgVerfG, NVwZ-RR 2000, 129, 130; NdsStGH, NdsVBl 2008, 152, 157; VerfGH NW, DÖV 1999, 300, 301; s.a. VerfG LSA, DVBl 2012, 1560, 1563; ebenso Würtenberger (Fn. 2), S. 978. 41 Geis (Fn. 2), S. 86, 88. 42 StGH BW, DÖV 1999, 687, 692 f.; BayVerfGH, BayVBl 2008, 172, 177; s.a. NdsStGH, DVBl 1998, 185, 186 f.; VerfGH RhPf, DVBl 2012, 432, 434; s.a. Ammermann (Fn. 2) S. 88, 94, 97 ff.; Lohse, Kommunale Aufgaben, kommunaler Finanzausgleich und Konnexitätsprinzip, 2006, S. 138 f. 43 S. Goerlich, DVBl 1999, 1258, 1362; Schoch, AfK 2000, 225, 239 jew. gegen StGH BW, DÖV 1999, 687 ff.

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angelegt ist, stößt auf ihre Grenze am Kernbereich der Garantie kommunaler Selbstverwaltung: Nicht von ungefähr haben Rechtsprechung und Schrifttum den Schwerpunkt der Argumentation von der angemessenen Finanzausstattung auf die Frage der in jedem Fall44 zu wahrenden finanziellen Mindestausstattung verlagert, ohne dass dies die Unsicherheiten letztlich beseitigt. In Anlehnung an die Rastede-Entscheidung des BVerfG45 sollen beide einem abgestuften „Eingriffsschutz“ unterliegen: Während ein Eingriff in das Recht auf angemessene Finanzausstattung „durch entgegenstehende sachliche Gründe“ gerechtfertigt werden“ könne, also dem Gesetzgeber einen weiten Spielraum eröffne, führe der „Eingriff“ in die finanzielle Mindestausstattung „zu einem unzulässigen Eingriff in den Kernbereich der Selbstverwaltungsgarantie“46. Das Bild scheint auf den ersten Blick nicht recht zu passen: Auch wenn man im Hinblick auf die subjektiv-rechtliche Komponente der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie einen Vergleich mit grundrechtlichen Kategorien für angängig hält, geht es hier doch zunächst nur um einen „Eingriff durch Unterlassen“, nämlich die Vorenthaltung einer ausreichenden Finanzausstattung der Kommunen. Insofern läge ein Rückgriff auf das Bild des „Untermaßes“, das für die Erfüllung grundrechtlicher Schutzpflichten entwickelt wurde47, näher. Danach wäre der mit der staatlichen Schutzpflicht verbundene Schutzanspruch (nur) verletzt, „wenn die öffentliche Gewalt Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen hat oder die getroffenen Regelungen und Maßnahmen gänzlich ungeeignet sind, das gebotene Schutzziel zu erreichen, oder erheblich dahinter zurückbleiben“48. Ein solcher Maßstab ist freilich kaum auf die Garantenpflicht der Länder im Hinblick auf die für eine angemessene eigene Kompetenzausübung erforderliche Finanzausstattung der Kommunen49 übertragbar. Tatsächlich gewinnt die in diesem Zusammenhang prima facie wenig verständliche, dennoch verbreitete Rede von einem „Eingriff“ ihre Erklärung darin, dass die Vorenthaltung finanzieller Mittel für eine angemessene kommunale Aufgabenwahrnehmung auch als mittelbare Beeinträchtigung des Aufgabenerfindungs- und Wahrnehmungsrechts in eigenen Angelegenheiten verstanden werden 44

D.h. ohne Relativierung durch das Symmetriegebot; s. BVerwG, DVBl 2013, 858, 861 m.w.N. 45 BVerfGE 79, 127, 146 m.w.N. 46 BVerwG, DVBl 2013, 858, 861; BbgVerfG, DVBl 2013, 1180, 1185; NdsStGH, DVBl 1998, 185, 187; ThürVerfGH, NVwZ-RR 2005, 665, 668; Geis (Fn. 2), S. 82 f.; Lohse (Fn. 42) S. 133 f.; Schoch (Fn. 2), S. 148, 153; Tettinger/Schwarz, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG6, 2010, Art. 28 Rn. 247, 250; Wendt, in: FS Stern (Fn. 1) S. 609 m.w.N. Einschränkend VerfG MV, LKV 2006, 461, 463; s.a. StGH BW, DÖV 1999, 687, 691 ff., der primär an den Gedanken des Grundrechtsschutzes durch Verfahren anknüpft, ohne die materielle Seite gänzlich auszusparen. 47 BVerfG, NJW 1983, 2931, 2932; BVerfGE 88, 203, 254; 92, 26, 46; Hain, DVBl 1993, 982 ff. 48 BVerfG 92, 26, 46. 49 S.a. Art. 115e Abs. 3 GG. Dagegen ist den sog. „Harmonisierungsgeboten“ in diesem Zusammenhang kaum genügend Direktivkraft abzugewinnen; vgl. demgegenüber Schwarz (Fn. 2), S. 108 m.w.N.

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kann. Insoweit liegt die Parallele zur Rastede-Entscheidung des BVerfG mit ihrer Unterscheidung zwischen Kern- und Randbereich der Garantie nicht fern50. c) Es bleibt die Frage, was denn nun den Kernbereich der Garantie kommunaler Selbstverwaltung im Hinblick auf die finanzielle Ausstattung ausmacht und wann dieser konkret betroffen ist. Das Bundesverwaltungsgericht51 formuliert insoweit, der Kernbereich sei erst dann verletzt, wenn die Gemeinden „strukturell und auf Dauer außerstande“ seien, „ihr Recht auf eine eigenverantwortliche Erfüllung auch freiwilliger Selbstverwaltungsaufgaben wahrzunehmen“; sie müssten „mindestens über so große Finanzmittel verfügen, dass sie ihre pflichtigen (Fremd- wie Selbstverwaltungs-)Aufgaben ohne (nicht nur vorübergehende) Kreditaufnahme erfüllen können und darüber hinaus noch über eine ,freie Spitze‘ verfügen, um zusätzlich freiwillige Selbstverwaltungsaufgaben in einem bescheidenen, aber doch merklichen Umfang wahrzunehmen“. Das ist ein „relationaler“Ansatz52, der seinen Grund in dem unterschiedlichen Aufgabenspektrum der Kommunen findet und einem völligen Untergehen des gesetzlich nicht determinierten Anteils an der kommunalen Aufgabenwahrnehmung gegenzusteuern sucht. Im Schrifttum53 werden hierzu überwiegend Zahlen zwischen 5 % und 10 % des Haushaltsvolumens angeführt; demgegenüber hält sich die – in der konkreten Entscheidungsverantwortung gestellte – Rechtsprechung54 sichtlich damit zurück, konkrete Zahlen zu nennen. Prinzipiell sind Grenzwerte geeignet, normativen Zielen zu größerer Operationalität zu verhelfen und so die Entscheidungsrationalität zu erhöhen. Andererseits teilen sie die Schwäche, die mit jedem Versuch einer Ummünzung qualitativer Anforderungen in quantitative Größen verbunden sind. So laufen zahlenmäßige Fixierungen Gefahr, pauschalierende Verfestigungen zu begünstigen und den Besonderheiten des jeweiligen Ausgleichssystems nicht angemessen Rechnung zu tragen: Diese wer50

Vgl. Henneke, Finanzwesen (Rn. 2) § 16 Rn. 774; Schoch, AfK 2000, 225, 229; s.a. Ammermann (Fn. 2) S. 72 f, der sich allerdings auf die Verkürzung der „Eigenverantwortung“ bezieht; diese betrifft indes primär den Modus der Aufgabenwahrnehmung; krit. Maas (Fn. 2) S. 133 ff, 139 ff.; Volkmann, DÖV 2001, 497, 503. 51 BVerwG, DVBl 2013, 858, 860. Lohse (Fn. 42), S. 132 spricht von „Autonomiequote“. Andere stellen auf eine „Aushöhlung“ des Selbstverwaltungsrechts ab, s. VerfGH NW, DVBl 1989, 151 f.; SächsVerfGH, JbSächsOVG 8, 17, 33 f.; Hufen, DÖV 1998, 279; vgl. demgegenüber Ammermann (Fn. 2), S. 67 f.; Wendt, HStR VI (Fn. 1), S. 609. 52 Ammermann (Fn. 2) S. 73; s.a. Hufen, DÖV 1998, 280; Maas (Fn. 2 ), S. 164. 53 Vgl. Dreier (Fn. 36), Art. 28 Rn. 156 (5 – 10 %); Wendt, FS Stern (Fn. 1), S. 625; Stefan Mückl (Fn. 2), S. 200 (5 %); ebenso Geis (Fn. 2) S. 84 f.; Hufen, DÖV 1998, 276, 280; Schmidt-Jortzig, Kommunalrecht, 1982, S. 274 (5,5 – 5,8 %); Schoch/Wieland (Fn. 2), S. 187 f. differenzieren zwischen normalen und angespannten Haushaltslagen (regelmäßig 8 – 10 %, in Krisensituationen 5 %). 54 S. BVerfG, DVBl 2013, 858, 860; ähnl. StGH BW, DVBl, 1999, 1351, 1355; VerfGH RhPf, DVBl 2012, 432, 439 f; generell ablehnend: BayVerfGH, BayVBl 1997, 306; VerfGH NW, DVBl 1999, 391, 392; Würtenberger (Fn. 2), S. 980 ff. Nach VerfG MV, LKV 2006, 461, 462 ist die Mindestfinanzausstattung „nicht allgemein quantifizierbar“; insbesondere muss „nicht durchgehend ein bestimmter prozentualer Anteil des Verwaltungshaushalts“ für Selbstverwaltungsaufgaben verfügbar sein.

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fen nicht nur das Problem der Gegenüberstellung von aggregierter Finanzkraft und entsprechendem Bedarf auf55, sondern sind auch systemabhängig. Nicht zuletzt stößt die Mobilisierung des Topos der „freien Spitze“ im Zusammenhang mit der finanziellen Mindestausstattung der Kommunen auf genetische wie methodische Bedenken56. Unbeschadet dessen lässt sich das Bemühen um ein Herausarbeiten von Grenzwerten als Versuch eines rechtlich geleiteten „Herantastens“ an die Grenze des verfassungsrechtlich geforderten Minimums verstehen: Es geht um die Sicherung des typischen, für eine eigenverantwortliche Betätigung der Kommunen bei wirtschaftlicher und sparsamer Haushaltsführung unabdingbaren finanziellen Spielraums: Deutet man die Zahlen als heuristische Kennziffern57 für ein rechtlich geleitetes „Herantasten“ an die Grenze des verfassungsrechtlich geforderten Minimums, so lassen sie sich durchaus als Entscheidungshilfe nutzbar machen, die auch der unterschiedlichen Aufgabenstruktur von Kreisen, kreisangehörigen Gemeinden und kreisfreien Städten Rechnung tragen können58 und sich einer Marginalisierung finanzwirtschaftlicher Eigenverantwortung der Kommunen entgegenstellen. Dabei gilt: Je geringer die frei disponible Finanzmasse im Vergleich zum Gesamtbedarf der Kommunen ist, umso dringlicher stellt sich die Frage der Wahrung des Kernbereichs und umso höher ist die Ermittlungs- und Begründungslast für den Ausgleichsgesetzgeber59. Wenn allerdings der Kerngehalt „die äußerste Grenze des verfassungsrechtlich Hinnehmbaren“ bezeichnet“, sollte nicht zweifelhaft sein, dass dieser selbst keinen Raum für eine Abwägung oder gar einen Gestaltungsspielraum des Ausgleichsgesetzgebers lässt: Beides findet seine Grenze an der Unterschreitung der notwendigen finanziellen Mindestausstattung60. Das Bundesverwaltungsgericht61 betont deshalb 55

Vgl. VerfG LSA, DVBl 2012, 1560, 1561; P. Kirchhof, in: Hoppe (Fn. 2), S. 12; Maas (Fn. 2), S. 148 ff. 56 Hierzu namentlich Würtenberger (Fn. 2), S. 980 ff. 57 Dreier (Fn. 34), Art 28 Rn. 156 spricht insoweit von „Richtsatz“; im Erg. ähnlich Leisner-Egensperger, DÖV 2010, 711 sowie Ammermann (Fn. 2) S. 79 m.w.N: „für flankierende Maßstäbe offen“. 58 Hierzu Ammermann (Fn. 2) S. 74, 76 Fn. 264, 80; s.a. Lohse (Fn. 42), S. 122 zu weiteren Bestimmungsfaktoren. 59 S.a. HessStGH, NVwZ 2013, 1151, 1153; NdsStGH, NVwZ-RR 2001, 553, 559; Ammermann (Fn. 2) S. 99 m.w.N; Scheffczyk, JuS 2013, 124, 127; abw. Tappe, DVBl 2013, 1079, 1085. Nicht anders verfährt die Rechtsprechung beim Nachvollzug der legislatorischen Konkretisierung des öffentlichen Wohls als Rechtmäßigkeitsbedingung kommunaler Gebietsreformen; s. BVerfGE 86, 90, 108; BbgVerfG, NJOZ 2004, 2509, 2513; Wallerath, in: 20 Jahre Verfassungsgerichtsbarkeit in den neuen Ländern, 2014, S. 51, 83; a.A. VerfG LSA, DVBl 2012, 1560, 1563. 60 BVerwG, DVBl 2013, 858, 860 m.w.N; s.a. VerfGH RhPf, DVBl 2000, 992, 995; DVBl 2012, 432, 439 f.; Tettinger/Schwarz (Fn. 46), Art. 28 Rn. 248 ff.; Schoch, AfK 2000, 225, 238 f.; Wendt, in: FS Stern (Fn. 1) S. 625. StGH BW, DVBl 1999, 1351, 1155, spricht von einer „Einengung des Gestaltungsspielraums“. Das BVerwG (a.a.O.) lässt offen, ob anderes gelten kann, wenn das Land selbst unter Ausschöpfung aller eigenen Steuerquellen und unter möglichster Verminderung ausgabenträchtiger Aufgaben zur Erfüllung der verfassungsrecht-

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mit Recht, der Landesgesetzgeber könne „eine strukturelle Unterfinanzierung“ nicht mit einem „Hinweis darauf rechtfertigen, dass auch die Haushaltslage des Landes notleidend“ sei. Der Mindestfinanzbedarf der Kommunen stelle „vielmehr einen abwägungsfesten Mindestposten im öffentlichen Finanzwesen des jeweiligen Landes dar“. Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bleibt dennoch nicht auf der Strecke: Sie ist nunmehr im Hinblick auf andere Alternativen gefordert wie den Abbau von Aufgaben des Landes oder der Kommunen, von Standards bei der eigenen Aufgabenerledigung wie auch bei kommunaler Aufgabenwahrnehmung, ggfls. verbunden mit der Anfrage an die Struktur des Landes als solchen.62 2. Die Verteilung der Ausgleichsmasse In einem zweiten Schritt werden die mit der Ausgleichsmasse bereitgestellten finanziellen Mittel auf die verschiedenen Kommunen verteilt. Der Gesetzgeber bringt auf diese Weise die unterschiedlichen Funktionen des Finanzausgleichs gegenüber den einzelnen kommunalen Aufgabenträgern zum Tragen: Neben der Finanzierungsfunktion betrifft dies namentlich die Ausgleichsfunktion, welche die vorgefundenen Finanzkraftunterschiede zwischen den Kommunen zum Ausgleich bringt. Dabei ist nach Ausgleichszielen und Bedarfsträgern zu unterscheiden: Divergente Ausgleichsziele finden ihren Ausdruck in entsprechenden Zuweisungsarten (Allgemeine Ausgleichszuweisungen [„Schlüsselzuweisungen“], Zweckzuweisungen und Sonderzuweisungen). Für unterschiedliche Bedarfsträger wie Gemeinden, kreisfreie Städte, Kreise oder höhere Gemeindeverbände können Teilschlüsselmassen gebildet werden, um deren spezifischen Besonderheiten Rechnung zu tragen63. a) Im Zentrum des kommunalen Finanzausgleichs steht der allgemeine Finanzkraftausgleich durch „Schlüsselzuweisungen“. Im Prinzip nicht anders als bei der Bildung der Gesamtschlüsselmasse geht es auch hier um eine aufgabengerechte Zuteilung unter Berücksichtigung der eigenen Finanzkraft der Kommunen, die hier zwar lichen Mindestpflicht außerstande wäre. Der Beklagte mache nur eine eigene Haushaltsnotlage geltend, nicht aber einen Haushaltsnotstand des gesamten Landes. Tatsächlich stieße eine Berufung des Landes auf den Grundsatz des „ultra posse nemo tenetur“ auf eine erhöhte Begründungslast und berührte die zentrale strukturelle Frage der Existenzfähigkeit von Ländern unter den Rahmenbedingungen des Grundgesetzes (s. BVerfGE 86, 146, 270), bei der allenfalls der Zeitfaktor als relativierendes Element eine Rolle spielen kann. Abw. Hufen, DÖV 1998, 276, 284 m.w.N. 61 BVerwG, DVBl 2013, 858, 859; s.a. BVerfGE 116, 327, 381 f. (für Sonderbedarfszuweisungen) sowie Kluth, in: 20 Jahre Verfassungsgerichtsbarkeit in den neuen Ländern, 2014, S. 101, 122 ff. 62 Henneke, Finanzwesen (Fn. 2) Rn. 930; Schoch, AfK 2000, 225, 239. S.a. HessVGH, DVBl 2013, 655, 657. 63 F. Kirchhof, in: ders./Meyer (Fn. 2), S. 31; Henneke, in: ders./Pünder/Waldhoff (Fn. 2), § 24 Rn. 322. S.a. Hess-StGH, NVwZ 2013, 1151, 1156 im Zusammenhang mit der Erhebung einer „Kompensationsumlage“. Zur kreisspezifischen Zusammenfassung von Gemeinden bei ansonsten gleicher Finanzkraft: VerfGH RhPf, DVBl 1998, 505.

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individualisiert, aber zugleich auf der Grundlage eines typisierten Bedarfs wie auch einer fiktiven Bestimmung der eigenen Finanzkraft erfolgt. Reicht die vorhandene Finanzausstattung einer Kommune aus, um ihre Aufgaben zu erfüllen (sog. „abundante“ Gemeinde), so bedarf diese keiner Schlüsselzuweisung. Schlüsselzuweisungen kommen also nur denjenigen Kommunen zugute, deren vorhandene Einnahmen nicht hinreichen, um die Erfüllung der ihnen obliegenden Aufgaben finanziell abzusichern. In diesem Fall besteht ein subjektiv-rechtlicher Anspruch auf eine ergänzende, aus dem Finanzausgleich gespeiste Finanzausstattung, welche eine angemessene Aufgabenerfüllung ermöglicht und die von Verfassung wegen gebotene finanzielle Mindestausstattung nicht unterschreitet64. Während sich die Finanzausstattung der Kommunen aus verschiedenen Quellen speist, wird bei der Ermittlung der Finanzkraft einer kommunalen Körperschaft im Rahmen des allgemeinen Finanzausgleichs ausschließlich auf bestimmte Einnahmen abgestellt. Selbst diese werden nach unterschiedlichen Parametern, in den einzelnen Ländern auch in unterschiedlichem Umfang65, zur näheren Bestimmung der Finanzkraft herangezogen. Regelmäßig werden die Steuerkraftzahlen der Grundsteuer, Gewerbesteuer und des Gemeindeanteils an der Einkommen- und der Umsatzsteuer, überdies die gemeindebezogenen Ausgleichsleistungen aus Anlass des Familienleistungsausgleichs eingestellt. Während der Gemeindeanteil an der Einkommen- und der Umsatzsteuer mit dem Ist-Aufkommen berücksichtigt wird, werden bei der Grund- und Gewerbesteuer fiktive Hebesätze zugrundegelegt: Die spezifische Belastung der Gemeindeeinwohner durch diese Steuern soll ausschließlich der örtlichen Gemeinschaft zugutekommen, auch sollen keine Anreize für eine strategische Ausgestaltung dieser Steuern mit Blick auf den Finanzausgleich gesetzt werden. Örtliche Aufwand- und Verbrauchssteuern bleiben – wie „sonstige Einnahmen“ – gänzlich ausgeblendet: Auch hier gilt, dass das Aufkommen ungeschmälert den eigenen Einwohnern zur Verfügung stehen soll. Die unterschiedliche Behandlung der verschiedenen Einkunftsarten beruht somit auf sachlichen Gründen und hält dem Gebot interkommunaler Gleichbehandlung prinzipiell stand66. Bedeutsamer als bei der Bemessung der Finanzkraft, die sich immerhin teilweise von den tatsächlichen Einnahmen leiten lässt, ist die Abstraktion von den realen Größen bei der Ermittlung des Bedarfs: Würden insoweit die tatsächlichen Ausgaben zugrundegelegt, bestände ein offensichtlicher Anreiz zu einer ausgabenorientierten kommunalen Finanzpolitik. Mit gutem Grund wird deshalb bei der Bestimmung des Finanzbedarfs auf fiktive Maßstäbe in Form bestimmter Bedarfsindikatoren zurückgegriffen. Allerdings müssen diese die mit der Aufgabenstellung typischerweise verbundenen Kosten realitätsnah abbilden. Als Hauptindikator hierfür dient traditio64

NdsStGH, NVwZ-RR 2001, 553, 558. Näher Henneke, in: ders./Pünder/Waldhoff (Fn. 2), § 25 Rn. 33. 66 Siehe NdsStGH, NVwZ-RR 2001, 553, 557; Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG2, 2008, Art. 106 Rn 38; Hidien, in: BK, Art. 106 Rn. 1077 f.; P. Kirchhof, DVBl 1980, 711, 717; Jacob, BayVBl 1972, 141, 144. 65

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nell die Zahl der Einwohner, zunehmend – insbesondere bei Landkreisen – auch die Fläche, die bei einzelnen Aufgaben wie der Straßenbaulast und der Schülerbeförderung als ein wesentlicher Kostenfaktor angesehen wird. Die in der Vergangenheit vielfach – im Anschluss an Arnold Brecht und Johannes Popitz – praktizierte „Veredelung“ der Einwohnerzahl, die mit wachsender Einwohnerzahl einen überproportional ansteigenden Ausgabenbedarf unterstellt67, sieht sich mittlerweile zu Recht auf breiter Front in Frage gestellt68. Die sich in bestimmten „Staffelklassen“ wiederfindende Veredelung der Einwohnerzahl bedeutet die Anlegung ungleicher Maßstäbe bei der Ermittlung des Finanzbedarfs. Das bedarf einer spezifischen Rechtfertigung, die in dieser Allgemeinheit kaum erbracht werden kann. Nicht zuletzt das Bild des sog. „kanalisierten“ Einwohners, der einen höheren Bedarf als der in einer ländlichen Gebietskörperschaft verursachen soll, zeigt die Zwiespältigkeit des Ansatzes. Zielführender ist die Bildung von aufgabenbezogenen Ergänzungsansätzen etwa für zentralörtliche Funktionen, Schüler oder Kurorte, die sich auf empirisch gestützte, spezielle Bedarfsansätze stützt69. Finanzkraft einerseits und Finanzbedarf andererseits bilden die beiden Eckpunkte für die Zuteilung von Mitteln aus der Schlüsselmasse an die einzelnen Kommunen, innerhalb deren sich das rechte Verteilungsmaß zu bewegen hat. Das aus den verfassungsrechtlichen Finanzausgleichsregelungen zu entnehmende Harmonisierungsgebot strebt zu einer Angleichung finanzieller Ausstattung der verschiedenen Kommunen, um deren Einwohnern einen möglichst angenäherten Leistungsstandard zu ermöglichen. Soweit die Schlüsselzuweisungen den kommunalen Körperschaften einen bestimmten finanziellen Handlungsspielraum eröffnen, erweisen sie sich als autonomiefördernd70. Soweit sie zugleich die Bedeutung der eigenen Einnahmen im Verhältnis der beteiligten Kommunen untereinander relativieren, verschieben sie das „natürliche“ Maß unterschiedlicher Finanzausstattung: Die auf höhere eigene Einnahmen gründende größere finanzielle Attraktivität einer Kommune wird so in einem zweiten Schritt teilweise wieder eingeebnet. Dem kommt unter der Perspektive des interkommunalen Gleichbehandlungsgebots die Qualität einer grundsätzlich (durch den verfassungsrechtlichen Harmonisierungsauftrag) gerechtfertigten71, aber auch rechtlich begrenzten staatlichen Intervention zu: Käme es zu einer vollständigen Nivellierung der Finanzkraft, so würde die autonom erzeugte und mit Vorrang 67

Die Erfolgsgeschichte dieses Ansatzes mag auch mit der politischen Attraktivität von großen Einheiten, die ein breiteres Wählerpotential bereithalten, zusammenhängen. S.a. F. Kirchhof, in: ders./Meyer (Fn. 2) S. 17. 68 Vgl. etwa BVerfGE 101, 158, 230; BdgVerfG, NwVZ-RR 2000, 129, 132 f; Henneke, in: ders./Pünder/Waldhoff (Fn. 2), § 24 Rn 335; P. Kirchhof, DVBl 1980, 714; Korioth (Fn. 39), S. 594; Scheffczyk, JuS 2013, 124, 128. 69 F. Kirchhof, in: ders./Meyer (Fn. 2), S. 32; s.a. Wendt, HStR VI (Fn. 1) § 139 Rn. 108. 70 Die Zweckungebundenheit der Schlüsselzuweisungen sperrt sich gegen deren Befrachtung mit Steuerungszwecken. S.a. VerfG MV, LVerfGE 22, 285 ff. (Kürzung als Anreiz zu „freiwilligem Zusammenschluss“). 71 Siehe NdsStGH, NVwZ-RR 2001, 553, 556; VerfGH RhPf, DÖV 1998, 505 ff.; Henneke (Fn. 68) § 24 Rn. 319.

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versehene finanzielle Leistungsfähigkeit der jeweiligen Kommune schlicht entwertet. Ungleichheiten in der kommunalen Finanzausstattung dürfen deshalb nicht eingeebnet, sondern nur gemildert werden. Das Verbot vollständiger Nivellierung (finanzielles Abstandsgebot) bildet so eine immanente Grenze für eine Annäherung der Finanzkraft durch den kommunalen Finanzausgleich und damit die Ausgleichsintensität.72 Erst recht unterliegt die „Übernivellierung“ der Finanzkraft durch die Schlüsselzuweisungen einem verfassungsrechtlichen Verdikt: Sie führte dazu, dass ursprünglich finanzschwächere Kommunen nach erfolgtem Finanzausgleich über mehr Mittel als zuvor finanzstärkere verfügten, die Finanzkraftreihenfolge sich also änderte73. b) Regelmäßig werden die allgemeinen Finanzausgleichsleistungen (Schlüsselzuweisungen) durch Sonderzuweisungen und Zweckzuweisungen ergänzt. Sonderzuweisungen sind bedarfsorientiert. Sie knüpfen an besondere Bedarfslagen (Aufgaben, Konstellationen) einzelner Kommunen oder Gruppen von Kommunen an und durchbrechen die generalisierende Abstraktion der allgemeinen Schlüsselzuweisungen. Mit den Nebenansätzen im Rahmen der Bildung von Schlüsselzuweisungen haben sie gemeinsam, dass sie zwar aufgaben- (oder auch anlass-)bezogen, nicht aber zweckgebunden sind. Sie unterscheiden sich idealtypisch, nicht unbedingt auch realtypisch74 von diesen durch die Atypik der extern verursachten Bedarfslage, welche die spezifische Reaktion eines Lastenausgleichs75 herausfordert, so bei strukturellen Belastungen nach Gebiets- oder Funktionalreformen, unvorhersehbaren Naturkatastrophen oder dem Ausgleich von Kosten der Wahrnehmung von Hauptstadtfunktionen. Als Fehlbetragszuweisungen tragen Sonderzuweisungen der notleidenden Finanzlage einzelner Kommunen Rechnung, die eine angemessene Aufgabenwahrnehmung ohne eine solche Sonderzuweisung nicht mehr leisten könnten. Diese sind bei anhaltenden Haushaltsdefiziten unvermeidbar, aber wegen ihrer Auffangfunktion und einseitigen Bedarfsorientierung ausgleichsrechtlich ambivalent. Zweckzuweisungen sind nicht finanzkraft-, sondern aufgaben- oder vorhabenbezogen. Sie verbinden die Finanzierungs- mit einer Steuerungsfunktion im Hinblick auf bestimmte Aufgabenstellungen und stellen in Verbindung mit einer entsprechen72 BVerfGE 116, 327, 380; Dreier (Fn. 36), Art. 28 Rn. 160; Henneke, Finanzwesen (Fn. 2), Rn. 932; P. Kirchhof, DVBl 1980, 711; Tappe, DVBl 2013, 1079, 1083. 73 BVerfGE 116, 327, 380; Wendt, in: HbStR VI (Fn. 1), § 139 Rn. 97. Abl. Kluth (Fn. 61) S. 133. 74 Anders z. B. § 7 Nr. 1, § 7a KFAG Saarl. 75 Wie hier Grawert, in: FS für G. Chr. von Unruh, 1983, S. 587, 597; Heun (Fn. 66), Art. 106 Rn. 42 jew. zu Art. 106 Abs. 8 GG; die Situation ist der – das Konnexitätsprinzip aktivierenden – Überbürdung von Pflichtaufgaben auf die Kommunen vergleichbar. Demgegenüber spricht F. Kirchhof, in: ders./Meyer (Fn. 2) S. 31 von „typischem Sonderbedarf“; ein solcher sollte freilich – finanzkraftabhängig – in Nebenansätzen erfasst werden.

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den Konditionierung eine besondere Form kondominialer Verwaltung dar, die gleichzeitig Interessen des Landes zur Geltung bringt. Ihr Haupteinsatzgebiet liegt im investiven Bereich, z. B. dem Wasser- und Wegebau, der Wasserver- und Abwasserentsorgung, dem Hochwasser- und dem Brandschutz sowie dem Bau von Kindertagesstätten und Schulen. c) Unterschiedliche Zuweisungsarten sind einerseits unverzichtbar, um den verschiedenen Konstellationen und Aufgabenstellungen finanzwirtschaftlich angemessen Rechnung tragen können. Andererseits werfen sie durchaus gewichtige Probleme auf, die hier nur angedeutet werden können. Dazu gehört zunächst die Frage, ob sich aus der unterschiedlichen Autonomieverträglichkeit der verschiedenen Ausgleichsinstrumente eine bestimmte Präferenzordnung für deren Einsatz herleiten lässt: „Allgemeine“ Finanzzuweisungen (Schlüsselzuweisungen) tangieren die eigene Ausgabefreiheit nicht. Dagegen sind „Zweckzuweisungen“ primär aufgabenbezogen und nicht auf eine Stärkung der allgemeinen Finanzkraft angelegt. Deshalb sind Zweckzuweisungen regelmäßig mit einer Eigenbeteiligung der jeweiligen Kommune oder anderen Auflagen verbunden. Ihre Verknüpfung mit staatlichen Ingerenzen bei der kommunalen Entscheidungsfindung bringt einen zusätzlichen Steuerungszweck zur Geltung. Das verleiht Zweckzuweisungen eine besondere Anfälligkeit im System des kommunalen Finanzausgleichs: Ihr Einsatz kann – bezogen auf das Gesamtsystem des Ausgleichs – immer nur ergänzend sein. Insoweit kommt ihm makroanalytisch ein Nachrang zu, der sich als rechtfertigungsbedürftige Ausnahme von der kommunale Autonomie stärkenden Schlüsselzuweisung erweist und einer besonderen Legitimation bedarf76. Im Falle einer die kommunale Mindestausstattung gefährdenden finanziellen Notlage des Landes sind Zweckzuweisungen zuerst auf den Prüfstand zu stellen. Ähnliches gilt für Sonderbedarfszuweisungen. Indem diese an spezielle Bedarfe anknüpfen, treten sie in Konkurrenz zu „Nebenansätzen“, die als Teil der Schlüsselmasse finanzkraftabhängig ausgestaltet sind. Allerdings dürfen Sonderzuweisungen im Ausnahmefall auch bei überdurchschnittlicher Finanzkraft gewährt werden oder leistungsschwachen Kommunen eine solche verschaffen, soweit außergewöhnliche Gegebenheiten vorliegen. Das Nivellierungsverbot gilt insoweit nicht. Damit sie die auf Angleichung gerichtete Funktion des allgemeinen Finanzausgleichs nicht unterlaufen, unterliegen derartige Zuweisungen aber einer besonderen, ihren Ausnahmecharakter ausweisenden Rechtfertigungs- und Begründungspflicht77. Einer eigenen Beurteilung unterliegen Fehlbedarfszuweisungen: Zwar sind Verteilungsvolumina wie Ausgleichsintensität der Schlüsselzuweisungen so zu wählen, dass eine ausreichende Finanzausstattung regelmäßig ohne die Notwendigkeit von Bedarfszuweisungen gesichert ist. Die allgemeinen Schlüsselzuweisungen können jedoch nicht jeder örtlichen Besonderheit Rechnung tragen. Deshalb erweisen sich 76 Henneke, Finanzwesen (Fn. 2) § 17 Rn. 955; s.a. Wendt, HStR VI (Fn. 1) § 139 Rn. 126. Vgl. demgegenüber Hidien, in: BK, Art. 106 Rn. 1143. 77 Vgl. die Nachweise Fn. 59.

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Maßnahmen zur Aufstockung der Finanzkraft bei besonders finanzschwachen, notleidenden Kommunen zugleich als verfassungsrechtlich geboten wie im Einzelfall legitimationsbedürftig und anfällig für Ungleichbehandlungen. Beruht der Fehlbetrag auf außergewöhnlichen oder strukturellen finanzwirksamen Belastungen, hat die Fehlbetragszuweisung die Funktion eines notwendigen Härteausgleichs78. Beruht sie auf autonom zu verantwortenden Umständen, so drängt das Gebot interkommunaler Gleichbehandlung auf eine Verbindung existenzsichernder Zuweisungen mit Maßnahmen der Haushaltskonsolidierung, um so die Brücke von der Einnahmeseite zur etwa notwendigen Korrektur der Ausgabeseite zu schlagen79. Angesichts der Pluralität der Zuweisungsinstrumente stellt sich schließlich die Aufgabe der Koordination der verschiedenen Zuweisungsformen. Es gilt, kumulative Wirkungen verschiedener Zuweisungen und damit einen Verstoß gegen das Gebot interkommunaler Gleichbehandlung auszuschließen80. Diese Gefahr besteht insbesondere, wenn der Ausgleichgesetzgeber zu einer „Veredelung“ der Einwohnerzahlen greift, die sich mit Sonderzuweisungen überschneiden kann, welche darauf abzielen, einen hiervon erfassten Mehrbedarf speziell zu kompensieren. VI. Die Abschöpfung kommunaler Finanzkraft durch Umlagen Einen eigenen Ausgleichstypus bilden finanzielle Transfers zwischen mehreren kommunalen Körperschaften, die an die Finanzkraft der betroffenen Körperschaft anknüpfen oder auf einen allgemeinen Ausgleich für bestimmte Belastungen gerichtet sind und so den finanziellen Status einer Kommune im Verhältnis zu anderen Kommunen gezielt verändern (interkommunaler Finanzausgleich). Entsprechende Verteilungskorrekturen in Form von Umlagen sind durch horizontale Zahlungsströme zwischen gebender und nehmender Körperschaft gekennzeichnet. Sie bewirken eine Abschöpfung der Finanzkraft von umlagepflichtigen zugunsten umlageberechtigter Kommunen. Umlagen sind öffentlich-rechtlichen Körperschaften zur Finanzierung anderer öffentlich-rechtlicher Körperschaften auferlegte Geldleistungen81. Als Umlagen unter Gebietskörperschaften sind sie spezielle Instrumente des Finanzausgleichs; sie gelten deshalb nicht als Abgaben, auch nicht als solche im weiteren

78 S.a. BbgVerfG, DVBl 2013, 1180, 1185; VerfG MV, NordöR 2012, 229 ff.; SächsVerfGH, LKV 2010, 126, 128. VerfG LSA, LVerfGE 17, 410, 434 f. verlangt „eine gesetzliche Regelung zur Handhabung von Ausnahmefällen“. 79 Vgl. BVerfGE 86, 148, 263 f., 270; Hey, VVDStRL 66 (2007), 277, 296 jew. zum BundLänder-Ausgleich. 80 Henneke, in: ders./Pünder/Waldhoff (Fn. 2), § 25 Rn. 30; Waldhoff, VVDStRL 66 (2007), S. 252 Fn. 271 m.w.N. 81 BVerfGE 83, 363, 390; 108, 186, 213; BVerwGE 106, 280, 283 f.; Hidien, in: BK, Art. 106 Rn. 1125; Pieroth, in: Jarass/ders., GG11, 2011, Art. 106 Rn. 17; Oebbecke, Die Verwaltung 42 (2009), 247.

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Sinne82. Trotz ihrer unterschiedlichen Einsatzbereiche verbinden sich mit ihnen bestimmte gemeinsame Problemstellungen; andererseits werfen sie je nach Ausgestaltung im Einzelnen verschiedene verfassungsrechtliche Fragen auf. 1. Grundgesetzliche Direktiven Hierbei gerät vor Allem Art. 106 Abs. 6 S. 6 GG in den Blick. Danach können „Grundsteuer und Gewerbesteuer sowie der Gemeindeanteil vom Aufkommen der Einkommensteuer und der Umsatzsteuer als Bemessungsgrundlagen für Umlagen zugrunde gelegt werden“. Die Bestimmung lässt offen, wann eine Transferleistung eine „Umlage“ ist, insbesondere wer die Umlage erheben darf und wem das Aufkommen der Umlage letztlich zusteht. Überwiegend83 wird sie als lediglich klarstellende Zuständigkeitsnorm ohne verfassungsrechtlichen Eigenwert gedeutet, die selbst keine Maßstabsfunktion entfalte. Sie mache lediglich deutlich, dass der Landesgesetzgeber mittels des Umlageinstruments das Aufkommen an Gemeindesteuern finanziell tangieren darf. Wenn das Grundgesetz den Umlagebegriff nicht selbst näher konturiert, kann dies nur bedeuten, dass zumindest alle gängigen Formen von Umlagen von der Klarstellung erfasst sein sollen. Darin eingeschlossen sind alle Transferleistungen von öffentlichen Körperschaften an einen Verband regelmäßig höherer Ordnung oder eine Zweckgemeinschaft, an der Gemeinden beteiligt sind84, insbesondere Verbandsumlagen als allgemeines Finanzierungsinstrument85, aber auch (beitragsähnliche) Zweckumlagen, die auf bestimmte Aufgaben bezogen sind. Allerdings sagt Art. 106 Abs. 6 S. 6 GG nichts dazu, wer erhebungsberechtigte Körperschaft und wer Umlagebegünstigter sein soll. Wohl handelt es sich bei den in Bezug genommenen Steuern um solche, die Gemeinden zustehen. Hiermit ist indes nur etwas über den Kreis der möglichen Umlagepflichtigen gesagt. Offen bleibt, ob auch finanzielle Transfers von der Bestimmung erfasst sein sollen, die sich auf einen vertikalen Finanzausgleich von den Kommunen auf das Land beziehen. Nach Auffassung des BVerfG86 sind Umlagen jedenfalls dann von Art. 106 Abs. 6 S. 6 GG erfasst, wenn ihr Aufkommen im kommunalen Raum verbleibt oder in diesen zurückfließt, 82

BVerfGE 83, 363, 391 f.; Henneke, in: ders. /Pünder/Waldhoff (Fn. 2 ) § 14 Rn. 9. Hidien, in: BK, Art. 106 Rn. 1123; ähnl. Meyer (Fn. 2), S. 122, 179; s.a. Heintzen, in: von Münch/Kunig, GG6, 2011, Art. 106 Rn. 53. 84 Huber/Storr (Fn. 2) S. 26 f.; Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 106 Rn. 93; Meyer (Fn. 2), S. 118. 85 BVerfGE 83, 363, 391 f.; Heun (Fn. 66), Art. 106 Rn. 39; Hidien, in: BK, Art. 106 Rn. 1125; Kube, in: Epping/Hillgruber, GG (Hrsg.), 2009, Art. 106 Rn. 40; Kluth, DÖV 1994, 456, 458. 86 BVerfGE 83, 363, 391 f.; ebenso BbgVerfG, DVBl 2013, 1180 ff.; VerfG MV, NordÖR 2012, 229, 231; SächsVerfGH, LKV 2010, 126 ff.; VerfG LSA, LVerfGE 17, 410, 428; Schwarz (Fn. 16), Art 106 Rn. 135. Weitergehend (auch zugunsten des Landes) Hidien, in: BK, Art. 106 Rn. 1125, 1127; Maunz (Fn. 84), Art. 106 Rn. 93; abl. Kluth, DÖV 1994, 459, 463 f. 83

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das Land also lediglich die Mittelumverteilung organisiert; allerdings enthalte die Bestimmung keine normativen Vorgaben für einen interkommunalen horizontalen Finanzausgleich. Immerhin hat der verfassungsändernde Gesetzgeber die Zulässigkeit der Heranziehung der dort genannten Steuern als Bemessungsumlage für Umlagen ausdrücklich herausgestellt. Es mag sein, dass damit nur eine Klarstellung der Befugnis der Länder zu einer entsprechenden Umlageerhebung verbunden sein sollte. Dessen hätte es freilich nicht bedurft, wenn eine solche außer Zweifel gestanden hätte. Auch schließt die grundsätzliche Zulässigkeit eines solchen Bemessungsmaßstabs nicht aus, dass sich aus anderen Gründen einschränkende inhaltliche Vorgaben ergeben, die der Landesgesetzgeber bei der Einräumung eines Umlagerechts zu beachten hat. Aus den grundgesetzlichen Steuerertragszuweisungen als solchen folgt zunächst nur, dass der Landesgesetzgeber die bundesrechtlich geregelten Ertragsrechte nicht verändern oder gar aushöhlen darf.87 Zwar dient die Ertragshoheit der Kommunen der eigenverantwortlichen Aufgabenwahrnehmung der Gemeinden und Gemeindeverbände, indes wird die Ertragszuständigkeit der Kommunen durch eine landesgesetzliche Umlagepflicht nicht direkt berührt. Die Zuordnung der Ertragsberechtigung bleibt nämlich hierbei unverändert. Der Typik der Umlage entspricht, dass sie auf eine aggregierte Finanzmasse zurückgreift, wenn auch unter Einrechnung von bestimmten Einnahmen, die ihrerseits einen Teil der jeweiligen kommunalen Finanzausstattung ausmachen. Durch eine Umlageerhebung werden die in Art. 106 Abs. 6 S. 6 GG angeführten Steuern auch nicht bloß als „durchlaufende Posten“ behandelt: Die Umlageverpflichtung lastet vielmehr auf den Gesamteinnahmen der betroffenen Kommunen88. Ließe sich den Steuerertragszuweisungen allerdings nicht nur eine Zuflussgarantie im Hinblick auf das jeweilige Steueraufkommen, sondern auch eine entsprechende Behaltensgarantie entnehmen, käme es auf die Technik der Abschöpfung der in bestimmten Steuereinahmen zum Ausdruck gebrachten kommunalen Finanzkraft nicht mehr an. Eine generelle Behaltensgarantie wird man jedoch kaum bejahen können89 : Sie ignorierte die universale Finanzierungsfunktion der Steuer, die nicht gegen allgemeine gesetzliche Zahlungspflichten mobilisiert werden kann. Zwar ist die Ertragsgarantie als Teil der kommunalen Finanzhoheit zugleich mit der Garantie freier Mittelverwendung verbunden. Indessen ist diese – wie alle Ausformungen kommunaler Selbstverwaltung – nur im Kernbereich absolut, im Übrigen lediglich „im Rahmen der Gesetze“ gewährleistet. Eine völlige Resistenz des kommunalen Finanzaufkommens gegen Umlagen lässt sich somit nicht begründen.

87

Art. 30 GG. S.a. Hidien, in: BK, Art. 106 Rn. 1123; Kluth, DÖV 1994, 456 ff. Die Ertragszuweisung ist also nicht transitorisch; insoweit übereinstimmend Kluth, DÖV 1994, 460. S.a. VerfG MV, NordÖR 2012, 229; Meyer (Fn. 2), S. 118, 121. 89 VerfG MV, NordÖR 2012, 229, 231; vgl. demgegenüber Kluth, DÖV 1994, 460 f, 464. 88

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Das bedeutet nicht, dass die Korrektur primärer Finanzausstattung der Kommunen durch Umlagen allein politischer Dezision unterliegt. Ebenso wie die Aufstockung unzureichender finanzieller Primärausstattung bestimmten verfassungsrechtlich angeleiteten Regeln zu folgen hat, hat sich die Abschöpfung von kommunaler Finanzkraft solchen Regeln zu stellen. Diese sieht sich hineingestellt in ein umfängliches, fein austariertes finanzverfassungsrechtliches System, das Bund, Länder und Gemeinden umfasst90. Die Vorstellung, der primären Finanzausstattung komme in diesem System nur die Bedeutung einer Rechengröße und nicht ein rechtlicher Eigenwert zu, ginge an dem Charakter einer verfassungsrechtlichen Rahmenordnung vorbei. Zwar lässt Art. 106 Abs. 6 S. 6 GG den Rückgriff auf die dort genannten kommunalen Steuern als Bemessungsgrundlage für Umlagen grundsätzlich zu. Die Bestimmung will damit aber nicht die speziellen Zuweisungen kommunaler Ertragshoheit überspielen. Insbesondere ändert sie nichts an dem Befund, dass die primäre Finanzausstattung der Kommunen deren finanzwirtschaftliche Basis bildet und von Verfassungs wegen auch bilden soll. Umlagerechtfertigung und ihre Begrenzung im Einzelnen sind freilich keine Fragen, die Art. 106 Abs. 6 S. 6 GG selbst beantwortet, sondern richten sich nach Umlagezweck und Bedeutung des umverteilenden Zugriffs auf die Finanzkraft der Kommune im Lichte der Garantie der kommunalen Selbstverwaltung91. Dabei ist auch die Abschöpfung kommunaler Finanzkraft im Blick zu halten, soweit sie sich auf die in Art. 106 Abs. 6 S. 6 GG genannten Steuern stützt92. 2. Anforderungen im Einzelnen Legt man die vorstehenden Grundsätze an die verschiedenen, die kommunale Finanzausstattung beeinflussenden Umlagen an, so zeigt sich, dass diese sich mit durchaus unterschiedlichen Problemstellungen verbinden: Im Vordergrund stehen hierbei Finanzausgleichsumlagen, welche die gesamte Problematik redistributiver Umlagen und deren Legitimation bis hin zur Feinabstimmung mit der primären Finanzausstattung in sich bündeln (a). Demgegenüber werfen Verbandsumlagen, namentlich die hier im Vordergrund stehende Kreisumlage, vor allem Fragen der zulässigen Bemessung auf (b), während sich Zweckumlagen vornehmlich den aus der Zweckbestimmung resultierenden Anforderungen zu stellen haben (c). a) Finanzausgleichsumlagen sind ein den allgemeinen Finanzausgleich ergänzendes Instrument zur Korrektur unterschiedlicher kommunaler Finanzkraft. Ihr Ziel ist eine direkte (Teil-)Abschöpfung der Finanzkraft von Gemeinden, die aufgrund des Umfangs ihrer primären Finanzausstattung nicht auf Schlüsselzuweisungen aus dem 90

BVerfGE 72, 330, 383 f.; Kluth, DÖV 1994, 456, 459 f. Übereinstimmend Heintzen (Fn. 83), Art. 106 Rn. 53; s.a. BVerwGE 106, 280, 286. 92 Das hat an sich auch für die Heranziehung des in Art. 106 Abs. 6 S. 1 GG angeführten Aufkommens an örtlichen Verbrauchs- und Aufwandssteuern zu gelten, freilich mit der Besonderheit, dass der Landesgesetzgeber dieses auch den Gemeindeverbänden zukommen lassen kann. Beides kann hier vernachlässigt werden, da das entsprechende Aufkommen durchweg bei der Umlageberechnung ausgespart bleibt; s. oben zu Fn. 66. 91

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allgemeinen Finanzausgleich angewiesen sind (sog. „abundante Gemeinden“), zugunsten der übrigen Kommunen. Neben ihrer offenen Deklaration können sie sich auch unter anderen, eher beschönigenden Umschreibungen wiederfinden wie „Kompensationsumlage“ oder „Abschöpfung der Komplementärmittel und ihr Einsatz im Rahmen des Stärkungspakts“ – im politischen Diskurs wird, weniger sperrig, auch von „Kommunalsoli“ gesprochen. Solche Umlagen sind nicht neu, mögen sie auch in jüngerer Zeit vermehrt Eingang in den kommunalen Finanzausgleich gefunden haben93. Die grundsätzliche verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Abschöpfung der Finanzkraft abundanter Gemeinden für Zwecke des kommunalen Finanzausgleichs wird ganz überwiegend94 bejaht. Die namentlich von Kluth95 hieran geäußerte Kritik konnte sich nicht durchsetzen. Tatsächlich lässt sich diese am Umlagebegriff des Art. 106 Abs. 6 S. 6 GG nicht festmachen; auch kann nicht zweifelhaft sein, dass die Steuerertragshoheit die Gemeinden nicht vor öffentlichen Lasten schützt, die sie als Teil der Allgemeinheit wie jeden anderen treffen. Indes geht es bei der Finanzausgleichsumlage nicht hierum: Diese greift gezielt und ausschließlich auf die abundanten Gemeinden zu und schöpft deren Finanzkraft korrigierend ab. Zwar lässt sich aus dem „steuerertragsrechtlichen Status der Bemessungsgrundlagen“ nicht folgern, dass die Abschöpfung der Ertragskraft zum Zwecke eines interkommunalen Finanzausgleichs ausgeschlossen ist – im Gegenteil belegt die Offenheit des Umlagebegriffs in Art. 106 Abs. 6 S. 6 GG, dass eine solche gerade nicht grundsätzlich versperrt sein soll. Wenn aber der primären Finanzausstattung in dem austarierten finanzverfassungsrechtlichen System von Steuerertragshoheiten nicht nur die Bedeutung einer Rechengröße, sondern ein rechtlicher Eigenwert zukommt, kann dies bei der Abschöpfung der entsprechenden Finanzkraft nicht belanglos sein. Deshalb ist die Abschöpfung der primären Finanzausstattung in zweifacher Hinsicht rechtfertigungsbedürftig: Dem Grunde nach kann die Abschöpfung ihre materielle Legitimation nur aus einer auf Strukturen oder Funktionen gestützten Solidaritätsbeziehung ableiten, wie sie auch im (planungsrechtlichen) interkommunalen Rücksichtnahmegebot, aber eben auch in dem finanziellen Schicksalsverbund des kommunalen Finanzausgleichs ihren Ausdruck findet96. Insoweit geht es um die Einfügung eines ergänzenden Korrektivs der kommunalen Finanzausstattung, welche das „große Thema“ des interkommunalen Finanzausgleichs nicht verlässt. Das spie93 Vgl. BVerfGE 23, 353, 370 f.; SächsVerfGH, LKV 2010, 126 ff.; Grawert (Fn. 75), S. 598; Henneke, in: ders./ Pünder/Waldhoff (Fn. 2), § 14 Rn. 122; s.a. VerfG MV, ZKF 2013, 65 zur „Altfehlbetragsumlage“ im Gefolge der Kreisgebietsreform sowie das anhängige Verfahren beim VerfGH NW, VerfGH 24/12, zum „Stärkungspaktgesetz“. 94 BVerfGE 83, 363, 391 f.; BbgVerfG, DVBl 2013, 1180 ff.; VerfG MV, NordÖR 2013, 229 f.; Nds StGH, NVwZ-RR 2001, 533 ff.; SächsVerfGH, LKV 2010, 126 ff.; VerfG LSA, NVwZ 2007, 78 ff.; Hidien, in: BK, Art. 106 Rn. 1125; Obermann, LKV 2011, 289, 293. 95 Kluth, DÖV 1994, 458, 463 f. 96 Ähnlich HessStGH, NVwZ 2013, 1151, 1156. Vgl. auch – zur „Bündnistreue“ der Länder im Länderfinanzausgleich – BVerfGE 99, 291, 348 f.

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gelt sich in der zutreffenden Forderung wider, dass das Aufkommen der Umlage im kommunalen Raum verbleibt97. Zugleich stellen sich Anforderungen an den zulässigen Umfang der Abschöpfung: Es kann sich nur um eine „Korrektur“ der grundsätzlich zu respektierenden98, primären Finanzausstattung der Kommunen, nicht um deren Überspielen handeln, was namentlich das Verbot der Nivellierung umfasst. Gilt dies schon bei der aufstockenden Angleichung der Finanzkraft durch Schlüsselzuweisungen, so hat dies erst recht bei der gezielten Abschöpfung primärer Steuerertragskraft durch eine Finanzkraftumlage zu gelten99. Diese hat im Übrigen einem der Steuerertragszuweisung folgenden, immanenten „Koordinationsgebot“ zu folgen, das seinerseits von den Grundsätzen der Folgerichtigkeit und Widerspruchsfreiheit geleitet ist100. Ein solches Gebot sperrt sich gegen eine Abschöpfung der Finanzkraft abundanter Gemeinden, welche die Steuererträge dieser Gemeinden substantiell schmälert und so die verfassungsrechtliche Zuweisung der primären Finanzkraft konterkariert. Eine kritische Grenze dürfte erreicht sein, wenn die Abschöpfungsquote mehr als die Hälfte der (ggfls. fiktiven) Steuererträge ausmacht101. Methodisch geht es hierbei – insoweit vergleichbar mit der umgekehrt gelagerten Fragestellung einer sog. „freien Spitze“ im Zusammenhang mit der Mindestausstattung102 – um eine rechtlich gesteuerte Annäherung an die Grenze zulässiger Abschöpfung primärer kommunaler Finanzkraft. b) Auf den ersten Blick weniger problembehaftet als Finanzausgleichsumlagen erscheinen Verbandsumlagen. Die grundsätzliche Zulässigkeit von Verbandslasten als solchen steht außer Frage. Das gilt namentlich für deren im Vordergrund des Interesses stehende Ausprägung in Form der Kreisumlage; sie stellt die mit Abstand bedeutsamste Einnahmequelle der Kreise dar. Ihre Ausgleichswirkung folgt daraus, dass sie nach der Steuerkraft der kreisangehörigen Gemeinden und den Schlüsselzuweisungen, die sie erhalten, erhoben wird103. Damit verbindet sich freilich eine Reihe von Folgeproblemen, die sich teils an der Aufgaben- und Finanzierungsstruktur der Kreisebene, teils an der konkreten Ausgestaltung der Kreisumlage festmachen104. 97

BVerfGE 83, 363, 391 f.; BVerwGE 106, 280, 284 f.; VerfG MV, NordÖR 2012, 229, 231; VerfG LSA, NVwZ 2007, 78, 81; Heun (Fn. 66), Art. 106 Rn. 40 mwN; Obermann, LKV 2011, 289, 293. 98 Vgl. Hidien, in: BK, Art. 106 Rn. 1127. 99 VerfG MV, NordÖR 2012, 229, 232; VerfG LSA, NVwZ 2007, 78, 81. 100 Vgl. auch – in anderem Zusammenhang – BVerfGE 98, 83, 97 f. (Landesabfallabgabe); 106, 118 f. (kommunale Verpackungssteuer); P. Kirchhof, AöR 128 (2003), 1, 44 f.; s.a. Mückl (Fn. 2), S. 189. 101 Zu den Bemessungsgrundlagen: BbgVerfG, DVBl 2013, 1180 ff.; VerfG MV, NordÖR 2012, 299, 233; SächsVerfGH, LKV 2010, 126, 127. S.a. nachfolg. zu Fn. 113 f. zur entspr. Diskussion im Rahmen der Kreisumlage. 102 Vgl. Fn. 60 ff. 103 S. Wendt, Kreisumlage (Fn. 1) S. 301; vgl. aber auch nachfolgend Fn. 110 zur gespalteten Kreisumlage. 104 Zu den verschiedenen Ausgestaltungsformen: Henneke, in: ders./Pünder/Waldhoff (Fn. 2), § 14 Rn. 122 ff.

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Traditionell haben die Kreise eine im Einzelnen unterschiedlich ausgestaltete105, begrenzt offene Aufgabenstellung: Neben staatlichen (insbes. Kommunalaufsicht) sowie übergemeindlichen und „kreisintegralen“Aufgaben (wie dem Bau und der Unterhaltung von Kreisstraßen, ÖPNV) haben sie regelmäßig auch auf der Grundlage entsprechender generalklauselartiger Zuweisung „Ausgleichs- und Ergänzungsaufgaben“ (z. B. Bau und Betrieb von Krankenhäusern und Berufsschulen sowie Tourismusförderung) wahrzunehmen. Die spezifische Zuweisungstechnik findet ihren Grund in der unterschiedlichen Leistungskraft der kreisangehörigen Gemeinden, die ihrerseits nicht durchgehend im Stande sind, die Einwohner im Kreisgebiet auf einem bestimmten Niveau zu versorgen106. Die Ausgleichsfunktion erschöpft sich also nicht in der Erhebung der Kreisumlage nach Maßgabe der Finanzkraft der Gemeinden107. Mit Recht hat es die Rechtsprechung für zulässig erachtet, die unterschiedliche Leistungskraft der kreisangehörigen Gemeinden durch eine direkte Zuweisung von Mitteln auszugleichen108. Einige Länder sehen überdies ausdrücklich den auf dem Äquivalenzprinzip beruhenden Ausgleich von Mehr- oder Minderbelastungen einzelner Gemeinden durch eine gespaltene Kreisumlage vor. Sie bringen mit dieser gesetzlichen Ausgestaltung der Kreisumlage neben dem Ausgleichs- zugleich den Äquivalenzgedanken109 zur Geltung. Insbesondere verstößt es nicht gegen das Gebot interkommunaler Gleichbehandlung, eine Kreisumlage vorzusehen, die bestimmte Leistungen des Kreises einzelnen kreisangehörigen Gemeinden in besonders hohem oder geringem Maße mit in Rechnung stellt110. Differenzierungen bei der Bemessung von Kreisumlagen werden nicht nur um Hinblick auf besondere Bedarfslagen einzelner kreisangehöriger Gemeinden gebilligt, sondern auch – in Form progressiver Umlagesätze – als Konsequenz einer unterschiedlichen Bewertung überdurchschnittlicher Finanzkraft einzelner umlagepflichtiger Gemeinden. Als rechtfertigender Grund für die gesteigerte Umverteilung kann der Umstand angesehen werden, dass eine überdurchschnittliche Steuerkraft von Gemeinden zugleich Grund für geringere Schlüsselzuweisungen an die Kreise ist; das führt ohne Progression zu einer stärkeren Belastung der übrigen Gemeinden im Kreis111. Dieser Umstand befreit freilich nicht von der Beachtung des Nivellie-

105

Näher Henneke, in: ders./Pünder/Waldhoff (Fn. 2), § 14 Rn. 53 ff. m.w.N. BVerfG, DVBl 1999, 840 ff. m. Anm. Henneke; zum Aufgabenbezug: Oebbecke, DV 42 (2009), 247 ff. 107 Henneke, in: ders./Pünder/Waldhoff (Fn. 2), § 14 Rn. 80 f. 108 BVerwGE 101, 99 ff.; OVG Koblenz, DVBl 1993, 894 ff. Entsprechende Zuweisungen müssen anlassbezogen sein, um vor dem Gebot kommunaler Gleichbehandlung zu bestehen; s.a. Henneke (Fn. 105), § 14 Rn. 83. 109 Vgl. demgegenüber OVG Bbg, NVwZ-RR 1998, 57 ff. 110 VerfGH NW, DVBl 1983, 714 f.; Henneke, Finanzwesen (Fn. 2) Rn. 1031 f.; Wendt, Kreisumlage (Fn. 1), S. 301. 111 BVerwG, DVBl 2013, 858, 862; s.a. BVerwGE 106, 280, 288 f.; OVG Koblenz, DVBl 2011, 910, 911. 106

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rungsverbots und mobilisiert die Pflicht zur Koordination der jeweiligen Ausgleichsinstrumente bei einem kumulierenden Zugriff auf die kommunale Finanzkraft112. Die unterschiedlichen Formen des Rückgriffs auf die Finanzkraft kreisangehöriger Gemeinden werfen ein bezeichnendes Licht auf die strukturelle Schwäche der herkömmlichen Kreisfinanzierung: Die marginale eigene Steuerertragskraft der Kreise hat zur Folge, dass die kreisangehörigen Gemeinden durch die Kreisumlage in beträchtlicher Höhe zur Finanzierung der Kreisaufgaben beitragen müssen. Dadurch kann ein erheblicher Teil der eigenen gemeindlichen Finanzausstattung aufgezehrt werden. Zwar geht die Kreisumlage rechnerisch als Teil des Finanzbedarfs der Gemeinden in die Schlüsselzuweisungen ein. Indes erweisen sich diese insoweit für die Gemeinden als gebundene Mittel und drohen, die verfassungsrechtliche Typik der kommunalen Aufgabenverteilung auf den Kopf zu stellen113. Deshalb stellt sich auch hier die Frage nach den Grenzen einer Abschöpfung kommunaler Finanzkraft zugunsten einer anderen Körperschaft. Verschiedentlich114 wird ein Abschöpfungsgrad von über 50 % mit dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit versehen. Tatsächlich signalisiert ein entsprechendes Maß der Abschöpfung, wie weit sich die Kreisumlage von ihrer ursprünglichen Aufgabe als subsidiäres, auf bloße Ergänzung angelegtes Finanzierungsinstrument entfernt hat:115 Objektiv-rechtlich betrachtet wird so der – vor allem die institutionelle Dimension erfassende – Auftrag verfehlt, eine funktionsgerechte Finanzausstattung kommunaler Selbstverwaltungskörperschaften primär auf andere Weise sicherzustellen. Das allein genügt, um die Änderung des Finanzierungsmechanismus auf diesen Ebenen nicht nur als „rechtspolitische“ Aufgabe zu verstehen. In subjektiv-rechtlicher Hinsicht bedeutet dies nicht unbedingt eine Mehrausstattung dieser oder jener Ebene; insoweit verbleibt es bei dem allgemein zu wahrenden Gebot angemessener Finanzausstattung der jeweiligen kommunalen Ebene, auch wenn dies die Kreise mit dem Dilemma allein lässt, bei der eigenen Aufgabenwahrnehmung auf die Finanzlage der Gemeinden Rücksicht zu nehmen und diesen die zur Erfüllung ihrer Aufgaben erforderliche finanzielle Mindestausstattung zu belassen116. Unbeschadet dessen besteht die Verpflichtung des Landes, die verschiedenen kommunalen Ebenen jeweils mit hinlänglicher eigener Finanzkraft auszustatten, wie auch die Land und Kreise treffende Pflicht, die Ausgleichsmechanismen mit mehr Transparenz zu versehen und die Wirkungen etwaiger Doppelbelastungen abwägend in Rechnung zu stellen.

112 BVerwG, DVBl 2013, 858, 863; BbgVerfG, DVBl 2013, 1180, 1185; SächsVerfGH, LKV 2010, 126, 128. 113 Zu dieser: BVerfGE 79, 127, 148 ff. 114 v. Mutius/Dreher, Reform der Kreisfinanzen, 1990, S. 73; Schmidt Jortzig (Fn. 2), S. 40, 58 ff.; Schwarz (Fn. 16), Rn. 140; a.A. OVG RhPf, DÖV 1988, 310, 312; Wendt, Kreisumlage (Fn. 1), S. 301 f.; s.a. Henneke, in: ders./Pünder/Waldhoff (Fn. 2), § 14 Rn. 28, 32; Hidien, in: BK, Art. 106 Rn. 1127. 115 Siehe Schoch, Verfassungsrechtlicher Schutz (Fn. 2), S. 212 f. 116 BVerwG, DVBl 2013, 858, 862 f. mit Anm. Henneke, DVBl 2013, 651, 654 f.

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c) Eine Besonderheit bilden Zweckumlagen, die auf einen finanziellen Ausgleich für ungleich verteilte Lasten oder besondere Vorteile einzelner Kommunen gerichtet sind. In der Regel handelt es sich hierbei um sektorale (aufgabenbezogene) Umlagen wie Krankenhausumlagen oder Stadt-Umland-Umlagen, die einzelne Kommunen, welche von der Erledigung bestimmter kommunaler Aufgaben durch anderer Kommunen profitieren, an den Kosten der Aufgabenwahrnehmung beteiligen117. Ob es angebracht ist, derartigen Umlagen den Charakter einer „Vorzugslast“ zuzusprechen, ist streitig118. Jedenfalls drängt ihr Aufgabenbezug in Verbindung mit dem Gedanken interkommunaler Gleichbehandlung auf eine „angemessene“ Lastenverteilung, die sich an der jeweiligen Aufgabe orientiert. Das schließt nicht aus, bei der Bemessung der Umlage auf abstrakte Kriterien wie Einwohnerzahl und Finanzkraft zurückzugreifen und so innerhalb der Systematik des kommunalen Finanzausgleichs zu verbleiben119. Als eine spezielle Variante der Zweckumlage lassen sich Solidarumlagen zugunsten der neuen Länder deuten, die einen Beitrag der westdeutschen Kommunen zu den mit der Wiedervereinigung verbundenen besonderen Lasten der Kommunen in diesen Ländern einfordern. Die Rechtsprechung120 hat diese durchweg für zulässig erachtet. Im Schrifttum wurden kaum Vorbehalte hiergegen geäußert121, wiewohl sich damit die grundsätzliche Frage der Reichweite kommunaler Solidaritätspflichten stellt: Zwar sind alle öffentlichen Aufgabenträger im Bundesstaat gesamtstaatlich eingebettet, was entsprechende Rücksichtnahme-, kaum aber landesübergreifende Leistungspflichten begründen kann. Insofern können die Kommunen zwar eine Unterstützungspflicht der Länder nicht negieren, wenn es um ihre eigene angemessene Finanzausstattung unter Berücksichtigung der insoweit eingeschränkten Leistungsfähigkeit des Landes geht. Das mag zu einer Reduktion der Ausgleichsmasse im kommunalen Finanzausgleich führen, kann aber keine darüber hinaus reichenden, landesübergreifenden Solidaritätspflichten der Kommunen begründen. In einem zweistufigen Bundesstaat sind diese auf das Land beschränkt, dem die Kommunen als eigenständige Teile unterer Landesverwaltung zugehören122.

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BVerfGE 83, 363, 392 f.; VerfG MV, NVwZ-RR 2012, 377, 379 ff.; VerfGH NW, DÖV 2004, 662, 664. 118 Bejahend: Grawert (Fn. 75), S. 598 f. Ablehnend: BVerfGE 83, 363, 392 f. 119 BVerfGE 83, 363, 393. 120 BVerwGE 106, 280, 284 f.; NdsStGH, DVBl 1998, 185, 189; OVG RhPf, DÖV 2008, 643, 645. 121 Hidien, in: BK, Art. 106 Rn. 1128; Pieroth (Fn. 81), Art. 106 Rn. 17; abw. Schwarz, ZKF 1998, 242, 245 f., der insoweit mit Recht einen Verstoß gegen den Grundsatz der Formenwahrheit und -klarheit reklamiert. 122 Im Erg. ebenso Schwarz (Fn. 16) Art. 106 Rn. 41; s.a. P. Kirchhof, in: Hoppe (Fn. 2) S. 12; Grawert (Fn. 75), S. 587, 598 m.w.N.

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VII. Ausblick Der kommunale Finanzausgleich gleicht einer „Dauerbaustelle“: Als dynamisches Instrument ergänzt und korrigiert er die mit statischen Elementen versehene primäre Steuerertragskraft der Kommunen. Seine Kontextabhängigkeit zwingt zu einem ständigen Austarieren unterschiedlicher Spannungsfelder. Gesetzgeberische Gestaltungsmacht und staatliche Aufgabenerfüllung sehen sich mit der Garantie kommunaler Selbstverwaltung konfrontiert, die ihrerseits auf die Wahrung eigener Gestaltungsspielräume verweist. Eigene staatliche Finanzkraft ist mit der Notwendigkeit der Sicherung einer hinreichenden kommunalen Finanzkraft als Verwirklichungsbedingung kommunaler Selbstverwaltung abzugleichen. Dabei ist die unterschiedliche Finanzkraft der kommunalen Gebietskörperschaften angemessen zum Ausgleich zu bringen. Die Vielgestaltigkeit dieser Aufgabenstellung lässt sich nicht einseitig auflösen. Das rechtfertigt indes nicht die Kapitulation vor den Problemen in Form eines pauschalen Hinweises auf die im Grundsatz unstreitige Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers – sie liefe auf eine diskretionäre, verfassungsrechtliche Steuerung ausblendende, legislatorische Entscheidung hinaus. Vor diesem Hintergrund ist es grundsätzlich zu begrüßen, wenn die jüngere Rechtsprechung die Zügel anzieht und versucht, den Kommunen einen effektiveren Rechtsschutz zukommen zu lassen: Die inhärente Schwäche der primären kommunalen Finanzausstattung drängt auf eine Rationalitätssteigerung des Finanzausgleichs, mag dies auch nur begrenzt einzulösen sein. Das betrifft namentlich quantifizierende Grenzziehungen, die als hermeneutische Konstrukte nur ein approximatives Vorgehen ermöglichen. Flankierend hierzu verdienen die Verarbeitung der empirischen Entscheidungsgrundlagen und die Wirkungszusammenhänge bei dem Einsatz unterschiedlicher Instrumente verstärkte Aufmerksamkeit.

Kommunale Finanzkraft im Länderfinanzausgleich Von Joachim Wieland, Speyer I. Problemaufriss Seit der Neuregelung des Länderfinanzausgleichs 2001 werden die Kommunalfinanzen zu 64 % und nicht wie zuvor nur zu 50 % in den Länderfinanzausgleich einbezogen. Warum gerade 64 % einbezogen werden, lässt sich nicht rational erklären, sondern ist schlicht das Ergebnis eines politischen Kompromisses. Rudolf Wendt hat gemeinsam mit Michael Elicker schon 2001 dargelegt, dass es keine Anhaltspunkte für eine Rechtfertigung der nur teilweisen Einbeziehung der kommunalen Finanzkraft in den bundesstaatlichen Finanzausgleich gibt.1 Er hat diese Auffassung 2007 in seinem Beitrag zur Festschrift für Heike Jung noch einmal bekräftigt.2 2012 hat er dann erneut nachdrücklich darauf hingewiesen, dass es keine rechtfertigenden Gründe für diese Kürzung gebe.3 In den anstehenden Verhandlungen über die Neuordnung der Finanzverteilung in Deutschland von 2020 an wird die Frage, in welchem Umfang die Kommunalfinanzen in den Länderfinanzausgleich einbezogen werden, eine wichtige Rolle spielen. Wer für eine nur teilweise Einbeziehung plädiert, wird dafür rechtfertigende Gründe anführen müssen. In der bisherigen Diskussion sind noch keine Argumente genannt worden, die Rudolf Wendts Auffassung widerlegt hätten, dass für eine nur teilweise Berücksichtigung keine Gründe ersichtlich seien. Die Bayerische Staatsregierung und die Hessische Landesregierung haben in ihrem Antrag auf abstrakte Normenkontrolle des Maßstäbegesetzes und des Finanzausgleichsgesetzes vom 4. März 2013 die Auffassung vertreten, die Einbeziehung kommunaler Einnahmen sei in ihrer derzeitigen Ausgestaltung nicht mit Art. 107 Abs. 2 GG in Verbindung mit dem Bundesstaatsprinzip gemäß Art. 20 Abs. 1 GG zu vereinbaren. Beide Regierungen räumen ein, dass das Grundgesetz die Gemeinden und Gemeindeverbände „dem Grundsatz nach“ als Teil der Länderebene versteht. Folgerichtig fordere Art. 107 Abs. 2 Satz 1 2. Halbsatz GG, im Rahmen des 1

Wendt/Elicker, DÖV 2001, 762. Wendt, Neuordnung der Finanzbeziehungen im Bundesstaat, in: Müller-Dietz u. a. (Hrsg.), Festschrift für Heike Jung, 2007, S. 1085 ff. (1095). 3 Wendt, Der Finanzausgleich im föderalen System der Bundesrepublik Deutschland, in: Härtel (Hrsg.), Handbuch Föderalismus – Föderalismus als demokratische Rechtsordnung und Rechtskultur in Deutschland, Europa und der Welt, Band II: Probleme, Reformen, Perspektiven des deutschen Föderalismus, 2012, S. 389 ff. (405 f., Rn. 29). 2

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horizontalen Finanzausgleichs auch ihre Finanzausstattung zu berücksichtigen. Hierbei gelte es jedoch zwei strukturellen Besonderheiten Rechnung zu tragen, die beide einen nur anteiligen Ansatz der kommunalen Einnahmen bedingten. Die Regierungen verweisen insoweit auf den Hinweis des Bundesverfassungsgerichts auf die „gestärkte finanzwirtschaftliche Unabhängigkeit und Verselbständigung der Kommunen“, die eine Modifikation der bisherigen Zweistufigkeit der Finanzverfassung darstelle. Das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Zusammenhang auf den Anspruch der Gemeinden auf einen Anteil an dem Aufkommen der Einkommensteuer gemäß Art. 106 Abs. 5 GG, auf die Gewährleistung der Grundlagen der finanziellen Eigenverantwortung der Gemeinden als Teil ihrer Selbstverwaltung gemäß Art. 28 Abs. 2 Satz 3 GG und auf den Anspruch der Gemeinden auf einen Anteil am Aufkommen der Umsatzsteuer gemäß Art. 106 Abs. 5a GG hingewiesen.4 Der Normenkontrollantrag will daraus eine Verpflichtung des Gesetzgebers ableiten, die eigene Finanzkraft der Gemeinden bei der Berechnung des Länderfinanzausgleichs nicht in voller Höhe anzusetzen, sondern sie im zu typisierenden Umfang der für ihre Selbstverwaltungsaufgaben benötigten Mittel vom Länderfinanzausgleich freizustellen.5 Hierfür spreche auch die begrenzte Zugriffsmöglichkeit der Länder auf die Kommunalhaushalte. Die Integration der kommunalen Finanzkraft in den föderalen Finanzausgleich rechne den ausgleichspflichtigen Ländern Einnahmen zu, die tatsächlich für ihre Ausgleichsbeiträge verfügbar seien. Zum anderen beziehe Art. 107 Abs. 2 Satz 1 2. Halbsatz GG neben der Finanzkraft ausdrücklich auch den Finanzbedarf der Gemeinden ein und trage damit den vielfältigen Bindungen der Kommunen Rechnung, aufgrund derer sie nur in begrenztem Maße frei über ihre eigenen Finanzen verfügen könnten. Folglich könnten die gemeindlichen Finanzen auch nur in eingeschränktem Umfang in den Länderfinanzausgleich einbezogen werden. Das Bundesverfassungsgericht habe es in seiner Rechtsprechung6 als grundsätzlich zulässig angesehen, die Einnahmen der Gemeinden nur hälftig einzubeziehen, um zum einen den Äquivalenzgehalt ihrer Realsteuern abzugelten und zum anderen ihren abstrakten Finanzbedarf pauschal abzubilden. Die bundesverfassungsgerichtliche Kritik richte sich also nicht gegen den hälftigen Ansatz der kommunalen Einnahmen an sich, sondern vermisse lediglich eine empirische Unterfütterung seiner Berechnung. Darüber hinaus dürfe die finanzielle Eigenverantwortung der Kommunen eher für eine weitere Senkung des berücksichtigungsfähigen Anteils kommunaler Einnahmen unter 50 % sprechen. Vor diesem Hintergrund sei es nicht nachvollziehbar, dass der Gesetzgeber den Grad der Einbeziehung kommunaler Einnahmen im Anschluss an die geschilderte Rechtsprechung von zuvor 50 % auf 64 % erhöht habe. Definition, Berechnungsmodus und Höhe des typisierend abgezogenen Fi-

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BVerfGE 101, 158 (230). Unter Bezug auf Peter Michael Huber, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Band 3, 6. Aufl. 2010, Art. 107, Rn. 34 ff. und 98 ff. 6 BVerfGE 86, 148 (231 ff.); 101, 158 (230). 5

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nanzbedarfs seien bei alledem nicht erkennbar.7 Damit stellt sich heute erneut die Frage, ob es gerechtfertigt ist, die Finanzkraft und den Finanzbedarf der Gemeinden und Gemeindeverbände im Länderfinanzausgleich nicht vollständig, sondern nur teilweise zu berücksichtigen. Für eine Antwort ist zunächst eine Analyse der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geboten. II. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht hat sich 1992 zum ersten Mal mit der Frage befasst, ob und inwieweit die gemeindlichen Steuereinnahmen bei der Berechnung des Länderfinanzausgleichs nur zum Teil berücksichtigt werden dürfen. Für das Verständnis der Rechtsprechung sind die Ausführungen des Gerichts zur Stellung der kommunalen Finanzen im System der Verteilung des bundesstaatlichen Finanzaufkommens maßgeblich, die der Zweite Senat des Gerichts als theoretische Grundlage seinen Ausführungen vorausgestellt hat. Das Urteil verweist darauf, dass das verfassungsrechtliche Gebot zur Berücksichtigung von Finanzkraft und Finanzbedarf der Kommunen seinen Sinn aus dem Zusammenhang der Finanzverfassung mit der staatsorganisatorischen Regelung erhält, die das Grundgesetz vornimmt: „Im Bundesstaat des Grundgesetzes stehen sich Bund und Länder und die Länder untereinander gegenüber; die Kommunen sind staatsorganisatorisch den Ländern eingegliedert“.8 Das Gericht weist dann nach, dass die Kommunen auch in der grundlegenden Lastenverteilungsregelung der Finanzverfassung in Art. 104a Abs. 1 GG unbeschadet der ihnen verfassungsrechtlich gewährleisteten Autonomie als Glieder des betreffenden Landes behandelt werden. Ihre Aufgaben und Ausgaben werden denen des Landes zugerechnet. Daraus folgert das Gericht zu Recht, „dass die aufgabengerechte Verteilung des Finanzaufkommens zwischen Bund und Ländern, die den bundesstaatlichen Bezugspunkt der Finanzverfassung bildet (…), auch die Kommunen – und zwar als Teil der Länder – einbezieht.“ Auf dieser Einbeziehung basiert nicht nur die Steuerverteilung, sondern auch der Ausgleich der unterschiedlichen Finanzkraft der Länder untereinander nach Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG.9 Daraus ergibt sich, dass das Berücksichtigungsgebot in Art. 107 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 GG dem Ziel eines angemessenen Ausgleichs der Finanzkraft der Länder zu- und untergeordnet ist. Das entnimmt das Bundesverfassungsgericht bereits dem Wortlaut der Vorschrift, in der beide Halbsätze nur durch ein Semikolon getrennt und durch das Wort „hierbei“ verknüpft sind. Daraus leitet es ab, dass der Begriff der Finanzkraft im 2. Halbsatz nicht anders zu bestimmen ist als im 1. Halbsatz von Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG. Die Einnahmen der Kommunen müssen 7

Antrag der Bayerischen Staatsregierung und der Hessischen Landesregierung im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle des Maßstäbegesetzes und des Finanzausgleichsgesetzes vom 4. März 2013, 2 BvF 1/13, S. 55 ff. 8 BVerfGE 86, 148 (215). 9 BVerfGE 86, 148 (215 f.).

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also nach den gleichen Regeln in den Länderfinanzausgleich einbezogen werden, wie die Einnahmen der Länder. Auch Einnahmen aus Quellen, über deren Nutzung Länder und Kommunen eigenverantwortlich entscheiden, können dem Grunde nach von der Berechnung der Finanzkraft nicht ausgenommen werden. Das Gebot eines angemessenen Finanzausgleichs zielt auch in der Bestimmung des Finanzkraftbegriffs auf die finanzielle Fähigkeit der Gebietskörperschaften, die ihnen verfassungsrechtlich zukommenden Aufgaben zu erfüllen. Der Gesetzgeber verfügt insoweit über eine beschränkte Abgrenzungs- und Gestaltungsbefugnis. Er muss sich aber immer daran orientieren, dass die Kommunen staatsorganisationsrechtlich und finanzverfassungsrechtlich Teil der Länder sind und ihre finanziellen Verhältnisse in die Berechnung der Finanzkraft der Länder einzuberechnen sind. Diese Grundsatzfestlegung ist in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzen. Das Gericht hat 1992 auf dieser Grundlage zwischen den Einnahmen aus Realsteuern und dem gemeindlichen Einkommensteueranteil unterschieden. Es hat darauf verwiesen, dass bereits bei der Finanzreform 1955 der verfassungsändernde Gesetzgeber die nicht volle Einbeziehung der den Gemeinden zustehenden Realsteuern als gerechtfertigt angesehen habe. Dafür sei entscheidend gewesen, dass sie öffentliche Lasten deckten, die in einem inneren Zusammenhang mit den durch die Steuern belasteten Objekten stünden. Der verfassungsändernde Gesetzgeber habe sich insoweit auf den Grundsatz der Wechselwirkung zwischen den Besteuerungsmöglichkeiten und den Gemeindeausgaben bezogen, den Popitz bereits 1932 formuliert habe.10 Zur Erläuterung hat das Gericht ausgeführt, dass die Realsteuern als Objektsteuern die in der Gemeinde belegenen Grundstücke und Gewerbebetriebe belasteten, deren Ertrag nicht unwesentlich von den Verhältnissen in der Gemeinde abhänge. Das Steueraufkommen und die durch die Steuerobjekte verursachten Lasten seien somit eng verknüpft. „Diese örtlich radizierbare Verknüpfung rechtfertigt es, im Länderfinanzausgleich dem Land, in dessen Gebiet die Grundstücke und Gewerbebetriebe belegen sind und dessen Gemeinden die dadurch verursachten Lasten zu tragen haben, einen Teil der Realsteuern nicht als Finanzkraft zuzurechnen“.11 Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber insoweit einen Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum eingeräumt. Wenn er einen pauschalen Abschlag vom Realsteueraufkommen in Höhe von 50 % vorsehe, halte er sich noch in den Grenzen des Vertretbaren.12 Die hälftige Kürzung des Gemeindeanteils an der Einkommensteuer bei der Berechnung des Länderfinanzausgleichs hat das Bundesverfassungsgericht 1992 als pauschale Berücksichtigung des gemeindlichen Finanzbedarfs gerechtfertigt gesehen. Das Verfassungsgebot, beim Finanzausgleich unter den Ländern den Finanzbedarf der Gemeinden zu berücksichtigen, schreibe eine bestimmte Form der Bedarfsberücksichtigung nicht vor. Berücksichtigungsfähig sei allerdings nur ein abstrakter, 10 Popitz, Der künftige Finanzausgleich zwischen Reich, Ländern und Gemeinden, 1932, S. 114 ff. 11 BVerfGE 86, 148 (232). 12 BVerfGE 86, 148 (231 f.).

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strukturell vorgegebener Bedarf, der bei den Kommunen aufgrund ihrer Eigenart als Kommunen generell und gemeinsam, das heißt in allen Ländern, auftreten könne. Dem Gesetzgeber bleibe die Art und Weise der Berücksichtigung vorbehalten, sofern seine Regelung die Sachbezogenheit nicht vermissen lasse.13 Mit diesen Ausführungen setzt das Bundesverfassungsgericht bei einer systematischen Interpretation des Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG an. Der normative Inhalt des Gebots, beim Ausgleich der unterschiedlichen Finanzkraft der Länder auch den Finanzbedarf der Gemeinden und Gemeindeverbände zu berücksichtigen, erschließt sich für das Gericht systematisch aus der Zuordnung dieses Gebots im 2. Halbsatz zum 1. Halbsatz des Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG. Die Berücksichtigung des Finanzbedarfs der Kommunen habe sich nach dem Verhältnis zu richten, in dem nach dem 1. Halbsatz der Vorschrift der angemessene Ausgleich der unterschiedlichen Finanzkraft der Länder zum Finanzbedarf stehe. In diesem Zusammenhang verweist das Gericht darauf, dass der Ausgleich der Finanzkraft der Länder primär aufkommensorientiert zu erfolgen habe und die Berücksichtigung von Sonderbedarfen einzelner Länder ausschließe.14 Das Bundesverfassungsgericht sieht die Anordnung, den Finanzbedarf der Gemeinden und Gemeindeverbände zu berücksichtigen, nicht als Durchbrechung dieses Regelungskonzepts. Das Gebot füge sich vielmehr in das Konzept ein, weil es nicht um zu berücksichtigende Sonderbedarfe, sondern um einen abstrakten Finanzbedarf gehe, der ohne Rücksicht auf die besonderen Verhältnisse bestimmter Gemeinden allgemein bei der Erfüllung der den Gemeinden zukommenden Aufgaben anfalle und sich von daher auf die den Gegenstand des Ausgleichs bildende Finanzkraft auswirke.15 Auch für die Berücksichtigung des Finanzbedarfs der Kommunen sieht das Bundesverfassungsgericht den abstrakten Bedarfsmaßstab der Einwohnerzahl als Grundlage. Er sei als Bezugspunkt unabdingbar und werde zugrunde gelegt, um ein summenmäßiges Finanzaufkommen verschiedener Aufgabenträger im Hinblick auf die Erfüllung der zugewiesenen Aufgaben erst vergleichbar zu machen. Da aber der Maßstab der Einwohnerzahl ohnehin auch den Finanzbedarf der Kommunen erfasse, müsse der ausdrücklichen Erwähnung des Finanzbedarfs der Kommunen im 2. Halbsatz der Vorschrift eine darüber hinausgehende Bedeutung zukommen. Die sieht das Bundesverfassungsgericht darin, dass sich die Unterstellung eines gleichen Finanzbedarfs je Einwohner für die Erledigung der kommunalen Aufgaben wegen vorgegebener, gerade die Gemeinden kennzeichnender struktureller Faktoren als unangemessen erweisen könne. Das Grundgesetz erkenne mit der Erwähnung des Finanzbedarfs der Kommunen an, dass es in ihrem Aufgabenbereich bundesweit solche Merkmale geben könne, denen Rechnung zu tragen sei. „Derartige zu einem generellen Mehrbedarf bei der Aufgabenerledigung führende Faktoren sollen beim Finanzkraftausgleich unter den Ländern berücksichtigt werden, weil sie mitbestimmen, in welchem Ausmaß deren Finanzkraft 13

BVerfGE 86, 148 (232 f.). So schon BVerfGE 72, 330 (400 ff.). 15 BVerfGE 86, 148 (222 f.). 14

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durch ihre Sorge für eine aufgabengerechte Finanzausstattung der Kommunen in Anspruch genommen wird“.16 Das Bundesverfassungsgericht qualifiziert diese Faktoren dahin, dass sie unabhängig von eigenen kommunalen Prioritätsentscheidungen gegeben sein müssen. Sie müssten bei Kommunen generell, d. h. aufgrund ihrer Eigenart als Kommunen, und gemeinsam, d. h. bei den Kommunen aller Länder – wenn auch in quantitativ unterschiedlicher Ausprägung – gegeben sein können. Zur Begründung dieser Auffassung beruft sich das Bundesverfassungsgericht auf die Entstehungsgeschichte des Finanzverfassungsgesetzes vom 23. Dezember 1955. Die Pflicht zur Berücksichtigung des Finanzbedarfs der Gemeinden und Gemeindeverbände sei bereits im Regierungsentwurf des Gesetzes als Art. 106 f. enthalten. Sie sei später zum wortgleichen Art. 107 Abs. 2 GG geworden. Besondere Bedeutung komme ihr wegen der Verlagerung des Schwergewichts des Finanzausgleichs von der Bedarfs- auf die Einnahmeseite zu, die eine Beschränkung auf nur noch wenige Bedarfsbestände bedingt habe.17 Da der Finanzbedarf einer Kommune am stärksten von der Einwohnerzahl abhänge, sei die Wohnbevölkerung der primär gegebene Bedarfsmaßstab. Ferner sei der Erfahrungstatsache Rechnung zu tragen, dass auch die Bevölkerungsdichte die Höhe des Finanzbedarfs bestimme. Im gemeindlichen Bereich steige die Pro-Kopf-Quote des öffentlichen Aufwands nicht proportional, sondern progressiv mit der Zunahme der Siedlungsdichte, insbesondere auf sozialem, hygienischem und kulturellem Gebiet.18 Daraus schließt das Bundesverfassungsgericht, dass die Regelung in Art. 107 Abs. 2 Satz 1 2. Halbsatz GG ersichtlich den Zweck verfolge, dem allgemein zugrunde gelegten abstrakten Bedarfsmaßstab der Einwohnerzahl Rechnung zu tragen, ihn aber im Blick auf die angenommene höhere Kostenintensität der Erledigung der den Kommunen obliegenden Aufgaben nach strukturellen Merkmalen wie der Siedlungsdichte, sachgerecht zu modifizieren. Irgendwelche Sonderbedarfe der oder bestimmter Gemeinden zu berücksichtigen, habe der Regelung fern gelegen.19 Angesichts dessen sei es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn der Gesetzgeber eine pauschale Form der Bedarfsberücksichtigung unter Anknüpfung an die Einnahmen aus dem gemeindlichen Einkommensteueranteil wähle. Das gelte allerdings nur solange, wie nicht hinreichende und zuverlässige Kriterien zur Bestimmung des Finanzbedarfs der Gemeinden entwickelt worden seien, die eine Pauschalierung dieser Art und Höhe nicht mehr als vertretbar erscheinen ließen. Das sei derzeit (1992) nicht der Fall. Die Finanzwissenschaft habe bislang keine anerkannten verlässlichen Kriterien zur objektiven Bestimmung des Finanzbedarfs der Gemeinden erarbeitet. „Sobald solche Kriterien gewonnen sein werden, erübrigt sich allerdings eine so pauschale Berücksichtigung des Finanzbedarfs“.20 16

BVerfGE 86, 148 (223). BT-Drs. 2/480, S. 102, Rn. 146. 18 BT-Drs. 2/480, S. 102, Rn. 146. 19 BVerfGE 86, 148 (225). 20 BVerfGE 86, 148 (233). 17

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1999 hat das Bundesverfassungsgericht diese Aussagen noch einmal bekräftigt. Es hat darauf hingewiesen, dass sich die kommunale Finanzkraft nach der Ausgleichserheblichkeit der Einnahmen bemisst. Außerdem hat es den Gesetzgeber daran erinnert, dass er bei der Ausformung der Begriffe Finanzkraft und Finanzbedarf der Gemeinden zu entscheiden haben werde, in welcher Höhe die zu berücksichtigenden gemeindlichen Steuereinnahmen in die Berechnung der Finanzkraft einzustellen seien. Es hat betont, dass eine hälftige Kürzung der Steuereinnahmen nur nach Maßgabe eines Prüfauftrags an den Gesetzgeber als mit der Verfassung vereinbar angesehen worden ist. Dieser Auftrag sei noch nicht erfüllt. In diesem Zusammenhang hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts auch auf die finanzielle Eigenverantwortung der Kommunen verwiesen, die zu einer Modifizierung der bisherigen Zweistufigkeit der Finanzverfassung führe: „Bei der Regelung der verfassungskonkretisierenden Maßstäbe wird zusätzlich zu berücksichtigen sein, dass das Grundgesetz die finanzielle Eigenverantwortung der Kommunen nunmehr ausdrücklich anerkennt (Art. 28 Abs. 2 Satz 3 GG) und den Gemeinden einen eigenen Anteil an dem Aufkommen der Einkommensteuer (Art. 106 Abs. 5 GG) und an der Umsatzsteuer (Art. 106 Abs. 5a GG) garantiert. Diese gestärkte finanzwirtschaftliche Unabhängigkeit und Verselbständigung der Kommunen modifiziert die bisherige Zweistufigkeit der Finanzverfassung“.21 Auf diese beiden Sätze heben die Bayerische Staatsregierung und die Hessische Landesregierung in ihrem aktuellen Normenkontrollantrag ab. III. Zweistufigkeit der Finanzverfassung Die Antwort auf die Frage nach dem richtigen Verständnis des verfassungsrechtlichen Gebots in Art. 107 Abs. 2 Satz 1 2. Halbsatz GG, beim angemessenen Ausgleich der unterschiedlichen Finanzkraft der Länder die Finanzkraft und den Finanzbedarf der Gemeinden (Gemeindeverbände) zu berücksichtigen, muss bei dem Grundsatz ansetzen, dass die Kommunen staatsorganisatorisch und finanzverfassungsrechtlich Teil der Länder sind. Das hat nicht nur das Bundesverfassungsgericht 1992 zutreffend herausgearbeitet, das haben auch Wendt und Elicker 2001 überzeugend dargelegt.22 Die Zweistufigkeit des Bundesstaates ist heute nicht anders als 1992 selbstverständlich. Bund und Länder bilden die Bundesrepublik Deutschland. Die Kommunen sind staatsorganisatorisch Teil der Länder. Für die Steuerverteilung stellt Art. 106 Abs. 9 GG ausdrücklich fest, dass als Einnahmen und Ausgaben der Länder im Sinne der Vorschrift auch die Einnahmen und Ausgaben der Gemeinden (Gemeindeverbände) gelten. Wenn Art. 104a Abs. 1 GG vorschreibt, dass der Bund und die Länder gesondert die Ausgaben tragen, die sich aus der Wahrnehmung ihrer Aufgaben ergeben, sind die Kommunen als Teil der Länder mitgedacht. Das ist auch nur konsequent, weil die Länder für die Finanzausstattung ihrer Kommunen verantwortlich sind. Die Finanzverfassung als Folgeverfassung baut darauf auf, dass die 21 22

BVerfGE 101, 158 (230). DÖV 2001, 762 (766 f.).

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Kommunen staatsorganisatorisch den Ländern eingegliedert sind. Das Finanzaufkommen Deutschlands muss dementsprechend aufgabengerecht zwischen Bund und Ländern verteilt werden, wobei die Aufgaben der Kommunen den Aufgaben der Länder zugerechnet werden. Das hat zwingende Konsequenzen für das Gebot, beim Länderfinanzausgleich die Finanzkraft und den Finanzbedarf der Gemeinden (Gemeindeverbände) zu berücksichtigen. Da das Finanzausgleichsgesetz sicherstellen soll, dass die unterschiedliche Finanzkraft der Länder angemessen ausgeglichen wird, so dass sie ihre Aufgaben erfüllen können, muss die Finanzkraft der Gemeinden grundsätzlich vollständig in die Finanzkraft des jeweiligen Landes einberechnet werden. Ein Verzicht auf eine vollständige Einberechnung der Finanzkraft der Kommunen in die Finanzkraft ihres Landes würde im Länderfinanzausgleich zu einer Verzerrung der miteinander zu vergleichenden Finanzkraft der einzelnen Länder führen. Länder mit reichen Kommunen, die typischerweise selbst finanzstark sind, werden bei einer nur teilweisen Einberechnung der Finanzkraft ihrer Kommunen im Länderfinanzausgleich als finanzschwächer behandelt, als sie tatsächlich sind. Umgekehrt erscheinen Länder mit finanzschwachen Kommunen, die regelmäßig selbst finanzschwach sind, im Länderfinanzausgleich als mit einer relativ höheren Finanzkraft ausgestattet, als es tatsächlich der Fall ist, wenn die Finanzkraft ihrer Kommunen nur teilweise bei der Berechnung des Länderfinanzausgleichs berücksichtigt wird. In diesem Sinne hat das Bundesverfassungsgericht mit Recht nachdrücklich hervorgehoben, dass Einnahmen aus Quellen, über deren Nutzung Länder und Kommunen eigenverantwortlich entscheiden, dem Grunde nach von der Finanzkraft nicht ausgenommen werden können.23 Daran hat die ausdrückliche Anerkennung der finanziellen Eigenverantwortung der Kommunen ebenso wenig geändert wie die Entscheidung des Gesetzgebers den Gemeinden einen eigenen Anteil am Aufkommen der Einkommensteuer und der Umsatzsteuer einzuräumen. Die vom Bundesverfassungsgericht konstatierte Modifikation der Zweistufigkeit der Finanzverfassung hält sich in engen Grenzen. Die ausdrückliche Erwähnung der finanziellen Eigenverantwortung der Gemeinden als Teil der Gewährleistung der Selbstverwaltung in Art. 28 Abs. 2 Satz 3 GG stellt nach dem Willen des verfassungsändernden Gesetzgebers nur eine Klarstellung dar, der keine konstitutive Wirkung zukommt.24 Rupert Scholz, der an der Verfassungsänderung maßgeblich mitgewirkt hat, hat 1997 in seiner Kommentierung der Vorschrift ausdrücklich festgehalten: „Durch diese Neuregelungen ändert sich die Position der Kommunen im System der grundgesetzlichen Finanzverfassung jedoch nicht“.25

23

BVerfGE 86, 148 (217). BT-Drs. 12/6633, S. 7. 25 Scholz, Art. 28 Rn. 84a (November 1997), in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Loseblatt; ebenso Berlit, Uwe, JöR 44 (1996), 17 (50 ff.); Dreier, Horst Art. 28 Rn. 25, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Band II, 2. Aufl. 2006. 24

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Auch Steuerzuweisungen an die Gemeinden in der Finanzverfassung sind nicht neu. Nachdem schon 1955 der verfassungsändernde Gesetzgeber der Landesgesetzgebung die Aufgabe zugewiesen hatte zu bestimmen, ob und inwieweit das Aufkommen der Landessteuern den Gemeinden bzw. Gemeindeverbänden zufließen sollte,26 wurde 1956 Art. 106 GG um die Absätze 6 und 7 ergänzt, in denen nicht nur das Aufkommen der Realsteuern den Gemeinden zugewiesen wurde, sondern auch festgelegt wurde, dass den Gemeinden vom Länderanteil an der Einkommensteuer und der Körperschaftsteuer ein bestimmter Hundertsatz zufließe, über deren Höhe die Landesgesetzgebung entscheiden müsse. Zudem wurde der Bund verpflichtet, den Gemeinden einen Ausgleich von Mehrausgaben oder Mindereinnahmen als Folge von ihm veranlasster besonderer Einrichtungen zu gewähren.27 Damit waren die Gemeinden als eigenständige Akteure in der bundesstaatlichen Steuerverteilung anerkannt. Zugleich wurde aber schon damals ausdrücklich festgestellt, dass als Einnahmen und Ausgaben der Länder im Sinne des Art. 106 GG auch die Einnahmen und Ausgaben der Gemeinden (Gemeindeverbände) gelten.28 Durch die Einräumung der verfassungsrechtlichen Stellung als Empfänger bestimmter Anteile des Steueraufkommens sollte nach dem Willen des verfassungsändernden Gesetzgebers, der im Text des Art. 106 GG ausdrücklich festgehalten wurde, die Zweistufigkeit der Finanzverfassung also nicht berührt werden. Dass mittlerweile der Anteil der Gemeinden am Aufkommen der Einkommensteuer gemäß Art. 106 Abs. 5 Satz 2 GG durch ein Bundesgesetz festgelegt wird und dass die Länder seit dem 1. Januar 1998 einen Anteil am Aufkommen der Umsatzsteuer nach Maßgabe eines Bundesgesetzes erhalten (Art. 106 Abs. 5a GG), modifiziert zwar die Position der Gemeinden als eigenständige Steuerdestinatäre, ändert aber nichts an der weiterhin in Art. 106 Abs. 9 GG gerade mit Blick auf die Steuerverteilung festgeschriebenen Zweistufigkeit der Finanzverfassung. Auch die Neuregelung des Länderfinanzausgleichs muss also davon ausgehen, dass die aufgabengerechte Verteilung des Finanzaufkommens zwischen Bund und Ländern die Kommunen als Teil der Länder einbeziehen muss. Das gilt gerade auch für den Ausgleich der unterschiedlichen Finanzkraft der Länder untereinander nach Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG.29 IV. Berücksichtigung der Finanzkraft der Kommunen Wie das Bundesverfassungsgericht zutreffend herausgearbeitet hat, ist die Pflicht zur Berücksichtigung von Finanzkraft und Finanzbedarf der Kommunen aus Art. 107 Abs. 2 Satz 1 2. Halbsatz GG dem Ziel eines angemessenen Ausgleichs der Finanz26 Art. 106 Abs. 6 Satz 2 GG i. d. F. des Gesetzes zur Änderung der Finanzverfassung (Finanzverfassungsgesetz) vom 23. Dezember 1955, BGBl. I S. 817. 27 Art. 106 Abs. 6 und 7 i.d. F. des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Artikels 106 des Grundgesetzes vom 24. Dezember 1956, BGBl. I S. 1077. 28 Art. 106 Abs. 6 Satz 1 GG i. d. F. des Gesetzes zur Änderung der Finanzverfassung (Finanzverfassungsgesetz) vom 23. Dezember 1955, BGBl. I S. 817. 29 So schon BVerfGE 86, 148 (215 f.).

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kraft der Länder zu- und untergeordnet. Das ergibt sich bereits aus dem engen Zusammenhang beider Halbsätze des Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG und kommt im Text der Vorschrift ausdrücklich durch das Wort „hierbei“ zum Ausdruck. Auch die Finanzkraft der Kommunen ist deshalb umfassend zu verstehen und nicht allein auf die Steuerkraft reduziert. Ihm unterfallen grundsätzlich alle Einnahmen der Kommunen. Der Gesetzgeber darf auch die kommunale Finanzkraft mit Hilfe von zuverlässigen und aussagekräftigen Indikatoren ermitteln. Kommunale Einnahmen brauchen folglich nicht berücksichtigt zu werden, wenn sie in allen Ländern verhältnismäßig gleich anfallen oder wenn der Ermittlungsaufwand im Verhältnis zum Ausgleichseffekt nicht angemessen wäre.30 Wenn Kommunen autonom über die Nutzung von Einnahmequellen entscheiden können, erlaubt der verfassungsrechtliche Begriff der Finanzkraft ein Abstellen auf das „Soll-Aufkommen“.31 Der Gesetzgeber muss dementsprechend die Finanzkraft der Gemeinden in den Länderfinanzausgleich umfassend einbeziehen, soweit nicht spezifische Gründe entgegenstehen. Indem das Grundgesetz den Kommunen in Art. 106 GG bestimmte Einnahmen zuordnet, entlässt es nämlich die Länder nicht aus der Verantwortung für die Finanzausstattung der Kommunen. Sie bildet die Kehrseite der Zugehörigkeit der Kommunen zu den Ländern nach dem Staatsorganisationsrecht. Daran müssen sich die Länder orientieren, wenn sie über den Hundertsatz vom Länderanteil am Aufkommen der Gemeinschaftsteuern entscheiden, der den Gemeinden und Gemeindeverbänden gemäß Art. 106 Abs. 7 Satz 1 GG zufließt. Die Länder müssen auch ihrer Verantwortung für eine ausreichende Finanzausstattung der Kommunen gerecht werden, wenn sie gemäß Art. 107 Abs. 7 Satz 2 GG bestimmen, ob und inwieweit das Aufkommen der Landessteuern den Kommunen zufließt. Das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Zusammenhang zutreffend darauf hingewiesen, dass die Zugehörigkeit der Kommunen zu den Ländern, die in Art. 106 Abs. 9 GG für diesen Artikel ausdrücklich betont wird, in Art. 107 Abs. 2 Satz 1 „eine dem dortigen Regelungsgegenstand zugeordnete differenzierte Ausprägung“ findet.32 Daraus ergibt sich, dass das Gebot der Berücksichtigung der Finanzkraft der Kommunen „grundsätzlich auf deren Einbeziehung (als Rechenposten) in die Finanzkraft des betreffenden Landes zielt“. Nur so kann ein angemessener Ausgleich der unterschiedlichen Finanzkraft der Länder erreicht werden. Weil die Länder für eine aufgabengerechte Finanzausstattung ihrer Kommunen Sorge tragen müssen, wird ihre eigene Finanzkraft je nach der finanziellen Lage ihrer Gemeinden belastet oder entlastet: „Ein Land mit Kommunen von geringer eigener Finanzkraft muss seine Finanzkraft stärker für deren Finanzausstattung einsetzen als ein Land mit Kommunen, die ihrerseits über eine große Finanzkraft verfügen“.33 Die gemeindlichen Einnahmen und Ausgaben sind einzurechnen, damit eine aufgabengerechte Verteilung 30

BVerfGE 86, 148 (216). BVerfGE 86, 148 (217 f.). 32 BVerfGE 86, 148 (219). 33 BVerfGE 86, 148 (219).

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des für Bund und Länder verfügbaren Finanzaufkommens erreicht werden kann. „Mithin lässt sich Art. 107 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 GG ein Reduzierungsgebot nicht entnehmen; vielmehr weist die Vorschrift darauf hin, dass die kommunale Finanzkraft grundsätzlich, d. h. sofern dem nicht besondere Gründe entgegenstehen, voll einzubeziehen ist“.34 Zugleich berücksichtigt das Grundgesetz die spezifischen Verhältnisse der Gemeinden. Nur deshalb ist der Finanzkraft und dem Finanzbedarf der Gemeinden und Gemeindeverbände ein eigener Halbsatz in Art. 107 Abs. 2 Satz 1 gewidmet. Das ändert aber nichts daran, dass grundsätzlich sämtliche Steuereinnahmen in die bundesstaatliche Finanzverteilung einzubeziehen sind. Dementsprechend hieß es in der Begründung des Regierungsentwurfs eines Finanzverfassungsgesetzes, eines Finanzanpassungsgesetzes und eines Länderfinanzausgleichsgesetzes vom 29. April 1954, auf den der zweite Halbsatz des Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG zurückgeht: „Dieser Steuerkraftausgleich kann nur dann zu gerechten und finanzwirtschaftlich angemessenen Ergebnissen führen, wenn er alle Steuern erfasst, die den Ländern und Gemeinden zur Deckung ihres allgemeinen Finanzbedarfs zufließen und nach einheitlichem Recht erhoben werden. Hierzu gehören auch die Realsteuern“.35 Der Gegenvorschlag der Länder, das Aufkommen der Realsteuern nicht in den Länderfinanzausgleich einzubeziehen,36 konnte sich im Gesetzgebungsverfahren nicht durchsetzen. Der Bundesgesetzgeber kam den Ländern jedoch dadurch entgegen, dass er im Finanzausgleichsgesetz entsprechend dem Wunsch der Länder die Realsteuerkraftzahlen um die Hälfte kürzte, obwohl er eigentlich die volle Berücksichtigung für sachgerecht hielt: „Abs. 5: Die nach den Abs. 1 bis 4 errechneten Realsteuerkraftzahlen sind ohne weiteres als Grundlage für den Finanzausgleich geeignet; sie geben das Gewicht der Realsteuern im Verhältnis zu den Landessteuereinnahmen und das Ausmaß der Realsteuerkraftunterschiede unter den Ländern zutreffend wieder. In den Vorverhandlungen haben aber die Länder gefordert, dass die Realsteuerkraftzahlen nur mit einem Bruchteil der Länderfinanzmasse hinzugerechnet werden sollen, weil die höhere Realsteuerkraft einzelner Länder durch eine entsprechende Mehrausgabe im gemeindlichen Bereich kompensiert und diese Mehrbelastung durch die Einwohnerveredlung nach § 7 nicht hinreichend berücksichtigt werde. Eine Herabsetzung der Realsteuerkraftzahlen beeinträchtigt den Ausgleich der tatsächlich vorhandenen Finanzkraftunterschiede und lässt äußerlich die Intensität des Finanzausgleichs größer erscheinen, als sie tatsächlich ist (vgl. auch Nr. 223, 224). Da aber die methodischen Einzelheiten der Ausgleichsregelung in erster Linie die Finanzinteressen der Länder berühren, hat die Bundesregierung den Wünschen der Länder Rechnung getragen. Die Realsteuerkraftzahlen werden auf die Hälfte des tatsächlichen Steueraufkommens einschließlich der Lohnsummensteuer herabgesetzt. Maßgebend ist das Aufkommen in dem Kalenderjahr, das in dem Ausgleichsjahr endet; für das Ausgleichsjahr 1955 also das Kalenderjahr 34

BVerfGE 86, 148 (220). BT-Drs. 2/480 Rn 146 (S. 102); der heutige Verfassungstext findet sich auf S. 3 des Entwurfs. 36 BT-Drs. 2/480, S. 200 (Art. 106 Abs. 5 Satz 2 des Bundesratsvorschlags). 35

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1955. Die Herabsetzung wird gesondert für die Grundsteuer A, die Grundsteuer B und die Gewerbesteuer vorgenommen“.37

Dieses politische Entgegenkommen, das einer sachgerechten Ausgestaltung des Steuerkraftausgleichs widersprach, wie der verfassungsändernde Gesetzgeber klar erkannte, fand aber im Verfassungstext keinen Ausdruck. Eine vom Bundesfinanzminister seinerzeit eingesetzte Studienkommission war sich nicht einig. Mehrheitlich befürwortete sie eine Einbeziehung der Realsteuern „nur zu einem angemessenen Teil“, „weil diese Steuern (insbesondere die Grundsteuer B und die Gewerbesteuer, weniger die Grundsteuer A) auch öffentliche Lasten decken müssen, die in einem inneren Zusammenhang mit den durch diese Steuern belasteten Objekten stehen“.38 Die Bundesregierung wies in ihrer Stellungnahme zu den Änderungsvorschlägen des Bundesrates deutlich auf die Problematik hin, die mit einer nur teilweisen Einbeziehung der Realsteuern verbunden war: „In Nr. 120 der Begründung ist ausgeführt, dass der Finanzausgleich seinen Wirkungsbereich nicht auf die Länderhaushalte im eigentlichen Sinn beschränken kann, sondern auch die gemeindliche Finanzwirtschaft zu berücksichtigen hat. Für die gemeindliche Finanzwirtschaft sind in einem Finanzausgleich, der im Wesentlichen einen Steuerkraftausgleich bildet, die Realsteuereinnahmen von ausschlaggebender Bedeutung. Da die Gemeindefinanzen einen integrierenden Bestandteil der Länderfinanzen bilden, fallen die Realsteuereinnahmen auch im Rahmen der Länderfinanzwirtschaft erheblich ins Gewicht. In dem Regierungsentwurf wird die Realsteuerkraft der Gemeinden allerdings in Übereinstimmung mit dem Bericht der Studienkommission (vgl. Seite 158 der Begründung) und mit einem früheren Beschluss der Finanzminister der Länder (vgl. Nr. 220 der Begründung) nicht voll, sondern nur zur Hälfte angesetzt. Auch der Vorschlag des Bundesrates lässt erkennen, dass ein sinnvoller Vergleich der Steuerkraft der Länder nur bei Einbeziehung der Realsteuereinnahmen möglich ist, da in § 4 des Gegenentwurfs die Klausel zugunsten der Hansestädte auf den Vergleich der Einnahmen aus den Landessteuern und den Realsteuern gegründet wird. Wenn der Vorschlag des Bundesrates im Übrigen gleichwohl die unterschiedlichen Realsteuereinnahmen als Berechnungsmaßstab ausschließt, so geschieht dies offenbar auf Verlangen ausgleichspflichtiger Länder mit dem Ziel, ihre Leistungen für den Finanzausgleich herabzusetzen. Durch den Wegfall des Realsteueransatzes wird die Ausgleichsmasse indessen nicht verringert, wenn hiermit auch der höhere Bedarfsansatz für Nordrhein-Westfalen (infolge Beschränkung der Einwohnerwertung auf die Hansestädte) wegfällt; es treten jedoch sehr erhebliche Verschiebungen in der Aufbringung der Beiträge durch die ausgleichspflichtigen Länder ein“.39

Der verfassungsändernde Gesetzgeber, der die Regelung des Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG in das Grundgesetz aufgenommen hat, sah sich also schon vor 60 Jahren mit dem Widerstand der ausgleichspflichtigen Länder gegen die systematisch von ihm zu Recht für richtig gehaltene volle Einbeziehung des Realsteueraufkommens in den Finanzausgleich konfrontiert. Er hat an seiner systematisch konsequenten Re37

BT-Drs. 2/480, Rn 220 (S. 132). BT-Drs. 2/480, S. 158. 39 BT-Drs. 2/480, S. 235.

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gelung aus dem Regierungsentwurf der Verfassungsänderung festgehalten und sich nur auf der Ebene des Finanzausgleichsgesetzes zu einer Kürzung des Realsteueraufkommens um die Hälfte bereitgefunden. Dieser politische Kompromiss im Finanzausgleichsgesetz hat die Verfassungsergänzung aber unberührt gelassen. Ihr liegt die zutreffende Auffassung des Regierungsentwurfs zugrunde, dass nur die vollständige Einbeziehung des Aufkommens der Realsteuern – und selbstverständlich auch aller anderen den Kommunen zugeordneten Steuererträge – systemgerecht war. V. Berücksichtigung des Finanzbedarfs der Kommunen Die Berücksichtigung des Finanzbedarfs der Kommunen gemäß Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG „hat sich nach dem Verhältnis zu richten, in dem nach dem ersten Halbsatz der Vorschrift der angemessene Ausgleich der unterschiedlichen Finanzkraft der Länder zum Finanzbedarf steht“. Da der Ausgleich der Finanzkraft der Länder primär aufkommensorientiert ist, scheidet die Berücksichtigung von Sonderbedarfen auch bei den Kommunen aus. Vielmehr geht es „um einen abstrakten Finanzbedarf, der ohne Rücksicht auf die Verhältnisse bestimmter Gemeinden allgemein bei der Erfüllung der den Gemeinden zukommenden Aufgaben anfällt“.40 Auszugehen ist von dem abstrakten Bedarfsmaßstab der Einwohnerzahl. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist aber zu berücksichtigen, dass „wegen vorgegebener, gerade die Gemeinden kennzeichnender struktureller Faktoren die Unterstellung eines gleichen Finanzbedarfs je Einwohner für die Erledigung der (eigenen wie übertragenen) Aufgaben sich als unangemessen erweisen kann“. Diese Faktoren müssen bestimmte Qualifikationen erfüllen: Sie müssen von eigenen kommunalen Prioriätsentscheidungen unabhängig sein und sie müssen bei Kommunen generell und gemeinsam auftreten. Beispielhaft nennt das Bundesverfassungsgericht die „Erfahrungstatsache“, dass die Pro-Kopf-Quote des öffentlichen Aufwands nicht proportional, sondern progressiv mit der Siedlungsdichte“ steige.41 Der Finanzbedarf der Kommunen im Sinne von Art. 107 Abs. 2 Satz 1 2. Halbsatz GG ist also grundsätzlich einwohnerbezogen zu berechnen. Die Berücksichtigung eines besonderen Finanzbedarfs, der nicht in der Einwohnerzahl zum Ausdruck kommt, ist nur in engen Ausnahmefällen unter besonderen Voraussetzungen zulässig. Der Bedarf darf nicht auf eigenständigen Entscheidungen beruhen und muss bei allen Kommunen generell und gemeinsam auftreten. Es ist nicht ersichtlich, dass diese Voraussetzungen über den mit der Siedlungsdichte progressiv steigenden Aufwand hinaus von anderen Umständen erfüllt würden. Damit kommt dem kommunalen Finanzbedarf im Länderfinanzausgleich nur ausnahmsweise Bedeutung zu.

40 41

BVerfGE 86, 148 (222 f.). BVerfGE 86, 148 (223 f.) unter Bezug auf BT-Drs. 2/480, Rn. 146 (S. 102).

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VI. Ergebnis Das verfassungsrechtliche Gebot, beim Länderfinanzausgleich die Finanzkraft der Kommunen zu berücksichtigen, zielt also systemgerecht auf die Einbeziehung der gesamten kommunalen Steuerkraft in die Berechnungen. Seit 1954 haben die reichen Länder jedoch darauf hingearbeitet, dass dieses Gebot im Finanzausgleichsgesetz nicht vollständig umgesetzt wurde. Auch das Bundesverfassungsgericht hat es ungeachtet seiner eindeutigen Aussagen zum verfassungsrechtlichen Gebot 1992 für „noch in den Grenzen des Vertretbaren“ erklärt, dass die örtlich radizierten Realsteuern mit Blick auf die durch die Steuerobjekte verursachten Lasten nur mit einem Abschlag von 50 vom Hundert in den Finanzausgleich einberechnet wurden.42 Konsequent war das nicht, zumal das Gericht immer wieder betont, dass Steuern Geldleistungen sind, die keine Gegenleistung für eine besondere Leistung darstellen.43 Bei einer Neuregelung sollte das verfassungsrechtliche Gebot der vollständigen Berücksichtigung der kommunalen Steuerkraft ohne systemfremde Abschläge durchgesetzt werden. Sollten Entlastungen der finanzstarken Länder erreicht werden, müsste das systemkonform an anderer Stelle des Finanzausgleichs geschehen. Durchgesetzt werden muss auch das Gebot der Verfassung, dass beim Finanzausgleich nur ein abstrakter, strukturell vorgegebener Bedarf berücksichtigt wird, „der bei den Kommunen generell, aufgrund ihrer Eigenart als Kommunen, und gemeinsam, d. h. in allen Ländern, auftreten kann“, und im abstrakten Maßstab der Einwohnerzahl nicht abgebildet wird, weil er nicht pro Einwohner gleich, sondern etwa bei steigender Einwohnerzahl progressiv auftritt.44 Auch insoweit hat das Bundesverfassungsgericht auf eine konsequente Umsetzung des Verfassungsgebots noch verzichtet, weil noch keine hinreichenden und zuverlässigen Kriterien zur Bestimmung des Finanzbedarfs der Gemeinden entwickelt worden seien. Wenn das der Fall sei, sei eine Pauschalierung in Form eines Abschlags von bestimmten Steuereinnahmen nicht mehr zulässig.45 Nach mehr als zwanzig Jahren trägt dieser Notbehelf nicht mehr. Finanzbedarfe der Kommunen dürfen nur im Finanzausgleich berücksichtigt werden, wenn sie nach Art und Höhe anhand der aufgezeigten Kriterien nachweisbar sind. Rudolf Wendts Forderung nach einer vollständigen Einbeziehung der kommunalen Steuereinnahmen in den Finanzausgleich ist also weiterhin berechtigt.

42

BVerfGE 86, 148 (232). BVerfGE 67, 256 (282); st. Rspr. 44 BVerfGE 86, 148 (232 f.). 45 BVerfGE 86, 148 (232 f.). 43

III. Abgaben und Steuern

Gedanken zur Verfassungsmäßigkeit von Ergänzungsabgaben im Sinne von Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG Von Roberto Bartone, Saarbrücken I. Einleitung Das Grundgesetz nennt in Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 die Ergänzungsabgabe zur Einkommensteuer und zur Körperschaftsteuer. Die Regelung wurde 1955 als Art. 106 Abs. 1 Nr. 7 GG in das Grundgesetz eingeführt1, um dem Bund die Möglichkeit zu verschaffen, mit der Ergänzungsabgabe einen zusätzlichen Finanzbedarf zu decken.2 Der Ertrag der Ergänzungsabgabe fließt ausweislich der Regelung in der genannten Norm ausschließlich dem Bund zu, während die Einkommensteuer und die Körperschaftsteuer zu den Gemeinschaftsteuern im Sinne von Art. 106 Abs. 3 Satz 1 GG gehören, deren Aufkommen dem Bund und den Ländern je zur Hälfte zusteht (Art. 106 Abs. 3 Satz 2 GG). Es handelt sich bei Art. 106 GG um eine Regelung über die Ertragshoheit, die zunächst nur die vertikale Steuerertragsaufteilung regelt, also eine Regelung darüber trifft, welcher Körperschaft das Aufkommen der aufgeführten Steuern zusteht.3 Aus der ausdrücklichen Nennung der Ergänzungsabgabe in Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG folgt jedoch zugleich, dass der Bund befugt ist, eine Ergänzungsabgabe einzuführen und zu erheben. Dies gilt unabhängig davon, ob man in den Aufzählungen des Art. 106 Abs. 1 und Abs. 2 GG einen vollständigen und abschließenden Katalog sieht, der nicht durch weitere, nicht ausdrücklich benannte Steuerarten ergänzt werden könnte, oder aber ob man dem Bund gleichwohl ein allgemeines „Steuererfindungsrecht“ zubilligt.4 Aus dem Regelungskontext ergibt sich, dass es sich auch bei der Ergänzungsabgabe um eine Steuer im verfassungsrechtlichen Sinn handelt. Dies folgt aus dem Einleitungssatz des Art. 106 Abs. 1 GG, der insbesondere das „Aufkommen der folgen1

Finanzverfassungsgesetz vom 23. Dezember 1955, BGBl. I 1955, 817. Häde, Finanzausgleich, S. 186; Heun, in: Dreier, GG, Art. 106 Rz. 15; Schöberle, in: Klein, Öffentliches Finanzrecht, II. 4 Rz. 166. 3 R. Wendt, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band IV, § 104 Rz. 50. 4 R. Wendt, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band IV, § 104 Rz. 28 und Rz. 50; ebenso Fischer-Menshausen, DÖV 1956, 161 (164); Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 106 Rz. 20; Häde, Finanzausgleich, S. 167; a. A. Heintzen, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 106 Rz. 8; Siekmann, in: Sachs, GG, Art. 105 Rz. 50; offen gelassen in BVerfGE 98, 83 (101); zum Meinungsstreit siehe Häde, Finanzausgleich, S. 160 ff. 2

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den Steuern“ dem Bund zuweist. Es handelt sich um eine Steuer vom Einkommen, die nicht identisch mit der Einkommensteuer und der Körperschaftsteuer ist.5 Daher folgt die (konkurrierende) Gesetzgebungskompetenz des Bundes (Art. 72 GG) für die Ergänzungsabgabe aus Art. 105 Abs. 2 GG.6 Nähere Regelungen zur Ausgestaltung der Ergänzungsabgabe enthält das Grundgesetz nicht. Damit gelten die allgemeinen verfassungsrechtlichen Vorgaben für den Erlass von Steuergesetzen.7 Welche besonderen inhaltlichen verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine gesetzliche Regelung betreffend eine Ergänzungsabgabe zu stellen sind, ist jedenfalls insoweit umstritten, als sich insbesondere die Frage stellt, wie lange eine Ergänzungsabgabe erhoben werden darf. Während sich für (verfassungsmäßige) Steuern unter dem Aspekt der Dauer ihrer Erhebung keinerlei verfassungsrechtliche Beschränkungen ergeben, ist dies für die Ergänzungsabgabe zumindest diskussionswürdig. Denn der Bund kann sich aufgrund von Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG abweichend von der in Art. 106 Abs. 3 Satz 2 GG geregelten Aufkommensaufteilung zusätzliche Einnahmen als Zuschlag zur Einkommensteuer und zur Körperschaftsteuer verschaffen, da ihm – anders als dies für die genannten Maßstabsteuern der Fall ist – das Aufkommen allein zusteht. Darin besteht aus Sicht des Bundes der wesentliche Vorteil gegenüber einer Anhebung der Steuersätze bei der Einkommensteuer und der Körperschaftsteuer.8 Der Frage, ob eine Ergänzungsabgabe zur „unendlichen Geschichte“9 werden darf oder die Dauer ihrer Erhebung aus verfassungsrechtlichen Gründen begrenzt sein muss, will der vorliegende Beitrag nachgehen und – über eine Skizzierung des Problems hinaus – am Beispiel des Solidaritätszuschlags vorsichtig eine Antwort wagen. II. Verfassungsrechtlicher Begriff der Ergänzungsabgabe Die Ergänzungsabgabe stellt eine selbständige Steuer im Sinne der Art. 105 ff. GG dar10, eine „dem Bund vorbehaltene, neben der Einkommensteuer und der Körperschaftsteuer zu erhebende Parallelsteuer“.11 Es handelt sich also um eine dem Staat endgültig zufließende12 Geldleistung (Abgabe), die nicht eine Gegenleistung 5

BVerfGE 32, 333 (337). BVerfGE 32, 333 (338). 7 Siehe dazu statt vieler z. B. Hey, in: Tipke/Lang, § 3 Rz. 90 ff. mit zahlreichen Nachweisen; Tipke, Steuerrechtsordnung, Band I, S. 105 ff. und 228 ff.; Wernsmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 4 AO Rz. 370 ff.; vgl. z. B. auch den Überblick bei Mellinghoff, Stbg 2005, 1 ff. 8 Siekmann, in: Sachs, GG, Art. 106 Rz. 7. 9 So sehr treffend Selmer/Hummel, JböF 2013, 365. 10 BVerfGE 67, 256; vgl. auch BFH vom 21. Juli 2011, II R 50/09, BFH/NV 2011, 1685 zum Solidaritätszuschlag 1995. 11 Fischer-Menshausen, DÖV 1956, 161 (164). 12 BVerfGE 67, 256. 6

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für eine besondere Leistung darstellt und von einem öffentlich-rechtlichen Gemeinwesen zur Erzielung von Einnahmen allen auferlegt wird, bei denen der Tatbestand zutrifft, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft. Das Bundesverfassungsgericht geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass die im deutschen Steuerrecht eingebürgerte Begriffsbestimmung der Steuer, die in der gesetzlichen Definition des § 1 Abs. 1 RAO ihren Niederschlag gefunden hat, auch für das Grundgesetz gilt.13 Sie muss daher den Kompetenzvorschriften des Grundgesetzes über die Steuergesetzgebung (Art. 105 GG) sowie den Regelungen über die Ertragshoheit (Art. 106 GG ff.) und die Verwaltungshoheit (Art. 108 GG) zugrunde gelegt werden.14 Die Besonderheit der Ergänzungsabgabe besteht darin, dass sie zur Einkommensteuer und zur Körperschaftsteuer akzessorisch ist.15 Sie steht aber selbständig neben den genannten Steuern und ist gesondert zu ihnen zu erheben; eine Verknüpfung besteht nur aus erhebungstechnischen Gründen.16 Die Akzessorietät zu den maßstabsbildenden Ertragsteuern geht nicht so weit, dass die Ergänzungsabgabe von einer bestimmten Ausgestaltung dieser Steuern abhängig wäre.17 Nach dem unzweideutigen Wortlaut des Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG ist es ausgeschlossen, Ergänzungsabgaben zu anderen Steuern als der Einkommensteuer und der Körperschaftsteuer zu erheben. III. Die bisherigen Regelungen einer Ergänzungsabgabe 1. Regelungen bis 1991 Die erste Ergänzungsabgabe wurde durch das Ergänzungsabgabengesetz vom 21. Dezember 196718 eingeführt und in den Jahren 1968 bis 1974 (Zuschlag zur Einkommensteuer) bzw. bis 1976 (Zuschlag zur Körperschaftsteuer) erhoben, um seinerzeit voraussehbare Deckungslücken des Bundes zu finanzieren.19 Sie war Gegenstand einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die das Ergänzungsabgabengesetz als mit dem Grundgesetz vereinbar ansah.20 13

Grundlegend BVerfGE 7, 244. BVerfGE 7, 244; z. B. auch BVerfGE 42, 223; BVerfGE 93, 319; vgl. auch Bartone, in: Kühn/von Wedelstädt, AO/FGO, § 3 AO Rz. 2; Drüen, in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 3 AO Rz. 2a; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 105 GG Rz. 3; Siekmann, in: Sachs, GG, Vor Art. 104a Rz. 75; krit. zu diesem sog. Rezeptionsargument Musil, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/ FGO, § 3 AO Rz. 35. 15 Siekmann, in: Sachs, GG, Art. 106 Rz. 7. 16 Hidien, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 106 Rz. 1428; Stuhrmann, NJW 1993, 2421 (2425) zum Solidaritätszuschlag. 17 Hidien, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 106 Rz. 1428. 18 Art. 1 des Gesetzes zur Verwirklichung der mehrjährigen Finanzplanung des Bundes, I. Teil – Zweites Steueränderungsgesetz 1967 – vom 21. Dezember 1967, BGBl I 1967, 1254. 19 Schöberle, in: Klein, Öffentliches Finanzrecht, II. 4 Rz. 166; Selmer/Hummel, JböF 2013, 365 (367). 20 BVerfGE 32, 333; zuvor war bereits eine Verfassungsbeschwerde gegen einen Beschluss des BFH (BFH vom 13. Februar 1969, IV B 80/68, DB 1969, 1819) im einstweiligen 14

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Die zweite Ergänzungsabgabe war der Solidaritätszuschlag nach Art. 1 des Gesetzes zur Einführung eines befristeten Solidaritätszuschlags und zur Änderung von Verbrauchsteuer- und anderen Gesetzen (Solidaritätsgesetz) vom 24. Juni 1991.21 Dieser Solidaritätszuschlag war von vornherein befristet und wurde ausdrücklich nur für die Veranlagungszeiträume 1991 und 1992 erhoben (vgl. § 3 Abs. 1 SolzG in der seinerzeitigen Fassung). Demgegenüber wurde der durch das Stabilitätsgesetz22 eingeführte Stabilitätszuschlag, der als Zuschlag zur Einkommensteuer und zur Körperschaftsteuer für die Kalenderjahre 1973 und 1974 erhoben wurde, vom Bundesverfassungsgericht nicht als Ergänzungsabgabe im Sinne von Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG qualifiziert.23 2. Das Solidaritätszuschlagsgesetz24 Das aktuelle Beispiel für eine Ergänzungsabgabe ist der Solidaritätszuschlag, der als Ergänzungsabgabe zur Einkommensteuer und zur Körperschaftsteuer erhoben wird (§ 1 Abs. 1 SolzG). Nachdem der auf die Jahre 1991 und 1992 befristete erste Solidaritätszuschlag ausgelaufen war, wurde der Solidaritätszuschlag in seiner aktuellen Form durch Art. 31 des Gesetzes zur Umsetzung des föderalen Konsolidierungsprogramms vom 23. Juni 199325 wieder eingeführt und wird seit dem 1. Januar 1995 erhoben. Mangels einer entsprechenden Regelung ist dieser Solidaritätszuschlag zeitlich nicht beschränkt, sondern er wird grundsätzlich auf Dauer erhoben.26 Ausweislich der Gesetzesbegründung sollte der Solidaritätszuschlag zur Abdeckung der im Zusammenhang mit der deutschen Vereinigung entstandenen finanziellen Belastungen dienen.27 Hierzu wird ausgeführt, dass ein solidarisches finanzielles Opfer aller Bevölkerungsgruppen zur Finanzierung der Vollendung der Einheit Deutschlands unausweichlich sei. Deshalb werde mit Wirkung ab 1. Januar 1995 ein – mittelfristig zu überprüfender – Zuschlag zur Lohn-, Einkommen- und Körperschaftsteuer für alle Steuerpflichtigen vorgeschlagen. Dies sei auch unter dem Gesichtspunkt der Steuergerechtigkeit der richtige Lösungsweg. Der Zuschlag ohne Rechtsschutzverfahren nicht zur Entscheidung angenommen worden (BVerfG vom 9. Mai 1969, 1 BvR 218/69, HFR 1969, 398); da die Verfassungsbeschwerde unzulässig war, hatte sich dieser erste Beschluss nicht mit den materiellen Fragen zu befassen. 21 BGBl I 1991, 1318. 22 Art. 4 des Steueränderungsgesetzes 1973 vom 26. Juni 1973, BGBl. I 1973, 676 (StÄndG 1973). 23 BVerfGE 36, 66. 24 SolzG in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. Oktober 2002 (BGBl I 2002, 4130), zuletzt geändert durch das Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetz vom 7. Dezember 2011 (BGBl I 2011, 2592 – BeitrRLUmsG). 25 BGBl I 1993, 944; zur Änderungshistorie siehe Dötsch, in: Dötsch/Pung/Möhlenbrock, Die Körperschafsteuer, SolzG Rz. 1. 26 Dötsch, in: Dötsch/Pung/Möhlenbrock, Die Körperschafsteuer, SolzG Rz. 1. 27 BT-Drucks 12/4401, S. 4 f., 51.

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Einkommensgrenzen belaste alle Steuerpflichtigen entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit. Mehrfachbelastungen würden vermieden.28 Für seine Festsetzung gelten die Vorschriften des Einkommensteuergesetzes und des Körperschaftsteuergesetzes entsprechend (§ 1 Abs. 2 SolzG). Der Solidaritätszuschlag bemisst sich vor allem nach der festgesetzten und nach § 3 Abs. 2 SolzG berechneten Einkommensteuer sowie der festgesetzten Körperschaftsteuer (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 SolzG) und stellt sich damit als Zuschlagsteuer im Sinne von § 51a Abs. 1 EStG dar,29 wobei allerdings die Regelungen des Solidaritätszuschlaggesetzes denjenigen des § 51a Abs. 1 EStG als leges speciales vorgehen.30 Er beträgt gemäß § 4 SolZG 5,5 % der Bemessungsgrundlage. IV. Verfassungsrechtliche Anforderungen an die inhaltliche Ausgestaltung einer Ergänzungsabgabe 1. Allgemeine Anforderungen Es steht außer Frage, dass ein Gesetz betreffend die Erhebung einer Ergänzungsabgabe den allgemeinen formellen und materiellen verfassungsrechtlichen Anforderungen, die auch die übrigen Steuern zu erfüllen haben, gerecht werden muss. Auf diese allgemeinen verfassungsrechtlichen Vorgaben ist an dieser Stelle nicht weiter einzugehen.31 Dabei bedarf die Ergänzungsabgabe – wie alle anderen Steuern auch – der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung.32 Aus dem systematischen Kontext des Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG folgt, dass die Ergänzungsabgabe nur als Abgabe in Ergänzung zur Einkommensteuer und zur Körperschaftsteuer und in Akzessorietät zu diesen Steuern erhoben werden darf. Sie ist daher nur als Steuer auf den Ertrag gerechtfertigt und hat daher dem Gebot der Ausrichtung der Steuerlast am Prinzip der finanziellen Leistungsfähigkeit Rechnung zu tragen.33 Zugleich folgt aus der Regelung des Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG, dass die Ergänzungsabgabe die als Gemeinschaftsteuer

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BT-Drucks 12/4401, S. 4 f., 51. Vgl. z. B. FG Niedersachsen vom 25. November 2009, 7 K 143/08, EFG 2010, 1071 mit Anmerkung Bartone, jurisPR-SteuerR 29/2010; Pust, in: Littmann/Bitz/Pust, EStG, § 51a Rz. 51; Tormöhlen, in: Korn, EStG, § 51a Rz. 5. 30 Siehe zum Beispiel Günther, in: Frotscher, EStG, § 51a Rz. 5 f.; Pust, in: Littmann/Bitz/ Pust, EStG, § 51a Rz. 22 f. 31 Siehe dazu statt vieler zum Beispiel Tipke, Steuerrechtsordnung, Band I, S. 105 ff. und 228 ff.; Hey, in: Tipke/Lang, § 3 Rz. 90 ff.; Jochum, Grundfragen des Steuerrechts, S. 5 ff. 32 Vgl. allgemein hierzu insbesondere Tipke, Steuerrechtsordnung, Band I, S. 228 ff.; sowie Rodi, S. 7 ff. 33 Siehe hierzu zum Beispiel BVerfGE 122, 210 (231); vgl. auch Wendt, Eigentum und Gesetzgebung, S. 334. 29

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konzipierte Einkommensteuer und Körperschaftsteuer nicht aushöhlt34 oder an ihre Stelle treten darf. Daher darf die Höhe der Ergänzungsabgabe nur einen kleinen Prozentsatz der Einkommensteuer bzw. der Körperschaftsteuer ausmachen.35 Dem ist der Gesetzgeber bislang nachgekommen: Die Ergänzungsabgabe von 1967 betrug 3 %, der Solidaritätszuschlag von 1991 7,5 % und der aktuelle Solidaritätszuschlag 5,5 %, jeweils der Einkommensteuer bzw. der Körperschaftsteuer. Der grundsätzliche Zweck einer Ergänzungsabgabe bildet gleichzeitig auch die finanzverfassungsrechtliche Rechtfertigung ihrer Erhebung. Die Ergänzungsabgabe darf ausweislich der Gesetzesbegründung zur Einführung des Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG (Art. 106 Abs. 1 Nr. 7 GG a.F.) nur zur Befriedigung „anderweitig nicht auszugleichender Bedarfsspitzen im Haushalt“, „für den Fall einer unumgänglichen und nicht anderweitig zu deckenden Steigerung des Finanzbedarfs“ des Bundes und „in Notfällen“ erhoben werden.36 Das bedeutet mithin, dass eine Ergänzungsabgabe a priori nicht ohne das Vorliegen von Gründen der vorgenannten Art eingeführt werden darf. Es handelt sich mithin um ein subsidiäres Finanzierungsinstrument, dessen sich der Bund bedienen darf, um Bedarfsspitzen auszugleichen, wenn hierzu keine anderweitigen Möglichkeiten bestehen.37 Daraus folgt, dass der Bund eine Ergänzungsabgabe nicht voraussetzungslos erheben darf, sondern es bedarf einer besonderen finanzverfassungsrechtlichen Rechtfertigung gerade im Hinblick auf die durch Art. 106 Abs. 3 Satz 2 GG zwingend vorgegebene Verteilung des Aufkommens von Einkommensteuer und Körperschaftsteuer.38 Dadurch soll sichergestellt werden, dass die Länderbeteiligung an diesen Steuern (Art. 106 Abs. 3 Satz 2 GG) durch die Erhebung der Ergänzungsabgabe nicht umgangen wird.39 Der bloße Fiskalzweck, das heißt die Einnahmenerzielung stellt für die Ergänzungsabgabe – wie für jede andere Steuer im Sinne der Art. 105 ff. GG auch – keine hinreichende Rechtfertigung dar.40 Ob sich hieraus auch etwas Entscheidendes für die hier zu untersuchende Frage nach der Befristung von Ergänzungsabgaben ableiten lässt, wird den Gegenstand der nachfolgenden Betrachtungen bilden.

34 BVerfGE 32, 333 (340); Burghart, in: Leibholz/Rinck, GG, Art. 106 Rz. 27 Häde, Finanzausgleich, S. 186; Heun, in: Dreier, GG, Art. 106 Rz. 15; Siekmann, in: Sachs, GG, Art. 106 Rz. 7. 35 Heintzen, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 106 Rz. 21. 36 BT-Drucks. 2/480 S. 72; BT-Drucks. 2/480, S. 197; vgl. BVerfGE 32, 333 (341). 37 Hidien, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 106 Rz. 1430. 38 Gl. A. Selmer/Hummel, JbÖF 2013, 365 (375). 39 Vgl. Heintzen, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 106 Rz. 21. 40 Vgl. zum Beispiel BVerfGE 122, 210 (233); Selmer/Hummel, JbÖF 2013, 365 (375).

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2. Insbesondere: Befristung der Ergänzungsabgabe? Nach der Entscheidung des BVerfG zum Ergänzungsabgabengesetz von 196741 scheint festzustehen, dass „es … von der Verfassung her nicht geboten [ist], eine Ergänzungsabgabe von vornherein zu befristen. Der Begriff Ergänzungsabgabe besagt lediglich, daß diese Abgabe die Einkommen- und Körperschaftsteuer, also auf Dauer angelegte Steuern, ergänzen, d. h. in einer gewissen Akzessorietät zu ihnen stehen soll.“42 Darauf verweist der Nichtannahmebeschluss zum ersten Solidaritätszuschlag. Gilt damit: Roma locuta, causa finita? Angesichts der nunmehr nahezu 20 Jahre dauernden Erhebung des Solidaritätszuschlags, der mit dem so genannten Solidarpakt II im Jahr 2019 (vgl. § 15 MaßstG, § 20 FAG)43 auslaufen soll, und der immer wieder aufgestellten Forderung nach seiner Abschaffung44, stellt sich gleichwohl die Frage, ob das Bundesverfassungsgericht wirklich alle Unklarheiten bezüglich der Befristung einer Ergänzungsabgabe beseitigt hat.45 Bei der nachfolgenden Betrachtung der Bundesverfassungsgerichts-Rechtsprechung bleibt der Nichtannahmebeschluss betreffend den Solidaritätszuschlag für das Jahr 200246 unberücksichtigt. Das Bundesverfassungsgericht hat eine Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des BFH vom 28. Juni 200647 nicht zur Entscheidung angenommen (vgl. §§ 93a Abs. 1, 93b Satz 1 BVerfGG), allerdings wurde dieser Nichtannahmebeschluss gemäß § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG nicht begründet.48 Daher lässt sich aus dieser Entscheidung nichts für die hier zu untersuchende Frage ableiten. In der Folgezeit hat das Bundesverfassungsgericht die Gelegenheit, sich zur Verfassungsmäßigkeit des Solidaritätszuschlags zu äußern, nicht ergriffen, obwohl das Niedersächsische Finanzgericht eine durchaus wohlbegründete Richtervorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG gemacht hatte.49 41

BVerfGE 32, 333. BVerfGE 32, 333 (340). 43 Vgl. BT-Drucks. 14/6577, S. 2. 44 Zum Beispiel Lemmer, DSI kompakt Nr. 3/2013. 45 Zweifelnd auch Ortmann-Babel, DStR 2014, 1309 (1312 f.). 46 BVerfG vom 11. 02. 2008, 2 BvR 1708/06, DStZ 2008, 229. 47 BFH vom 28. Juni 2006, VII B 324/05, BStBl II 2006, 692. 48 BVerfG vom 11. 02. 2008, 2 BvR 1708/06, DStZ 2008, 229. Die hiergegen erhobene Kritik (vgl. Nebe, NWB Nr. 18/2008, 1619, 1620 f.; Ortmann-Babel, DStR 2014, 1309, 1316) verkennt dabei, dass eine Verfassungsbeschwerde nach § 93a Abs. 1 BVerfGG der Annahme zur Entscheidung bedarf. Sie ist nur unter den Voraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG zur Entscheidung anzunehmen. Eine Verfassungsbeschwerde, welche nicht die Voraussetzungen der §§ 90 ff. BVerfGG erfüllt, kann nicht zur Entscheidung angenommen werden. Dies ist bei der überwiegenden Anzahl der Verfassungsbeschwerden, die jährlich in sehr hoher Zahl eingelegt werden, der Fall. Dabei macht das BVerfG in den meisten Fällen von der Regelung des § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG Gebrauch, wonach die Ablehnung der Annahme der Verfassungsbeschwerde keiner Begründung bedarf. In diesen Fällen besteht keine Veranlassung, sich zu den Sachfragen zu äußern. 49 FG Niedersachsen vom 25. November 2009, 7 K 143/08, EFG 2010, 1071 mit Anmerkung Bartone, jurisPR-SteuerR 29/2010. Die Entscheidung der 1. Kammer des 2. Senats des 42

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3. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG im Einzelnen a) Der Beschluss BVerfGE 32, 333 Diese Entscheidung stellt die Leitentscheidung zur Frage der verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine Ergänzungsabgabe dar. An ihr orientieren sich die weitere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der Finanzgerichte sowie das Schrifttum. Bereits in dieser ersten, grundlegenden Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht zur Frage der Befristung ausgeführt: Es sei von der Verfassung her nicht geboten, eine Ergänzungsabgabe von vornherein zu befristen. Der Begriff Ergänzungsabgabe besage lediglich, dass diese Abgabe die Einkommen- und Körperschaftsteuer, also auf Dauer angelegte Steuern, ergänzen, d. h. in einer gewissen Akzessorietät zu ihnen stehen solle. Gegen eine Befristung spreche insbesondere die Funktion, die die Ergänzungsabgabe im gesamten Steuersystem erfüllen solle. Bei der Schaffung des Art. 106 Abs. 1 Nr. 7 GG a. F. sei man davon ausgegangen, dass ein zusätzlicher Finanzbedarf des Bundes habe gedeckt, eine Erhöhung der Verbrauchsteuern aber habe vermieden werden sollen. Da die Einführung oder Erhöhung indirekter Steuern erfahrungsgemäß für längere Dauer erfolgte, wies diese gedankliche Verknüpfung darauf hin, dass auch die Ergänzungsabgabe nicht nur für einen ganz kurzen Zeitraum erhoben werden dürfe, und insbesondere darauf, dass eine Befristung der Ergänzungsabgabe sich nicht von vornherein aus dem Begriff der Ergänzungsabgabe in Art. 106 Abs. 1 Nr. 7 GG a. F. ergebe. In die gleiche Richtung wiesen die Erwägungen, durch Einführung der Ergänzungsabgabe die allzu häufige Revision der Beteiligungsquote nach Art. 106 Abs. 4 GG a. F. zu vermeiden. Ferner sei bei den Beratungen zum Finanzverfassungsgesetz bedacht worden, dass sich aus der Verteilung der Aufgaben zwischen Bund und Ländern auch für längere Zeit ein Mehrbedarf des Bundes ergeben könne. Wenn dieser Mehrbedarf auf dem naheliegenden Weg der Erhöhung der Einkommen- und Körperschaftsteuer gedeckt würde, könnte – wegen der Beteiligung der Länder – eine Erhöhung der steuerlichen Gesamtbelastung eintreten, die vom Standpunkt der Länder nicht erforderlich wäre, die Steuerpflichtigen unnötig belastete und auch konjunkturpolitisch in diesem Umfang unerwünscht sein könnte. Während des Gesetzgebungsverfahrens zum Finanzverfassungsgesetz seien keine ernsthaften Versuche angestellt, eine Befristung in das Gesetz einzuführen, obwohl der Bundesrat, um die erwähnte Begrenzung der Ergänzungsabgabe der Höhe nach zu erreichen, den Vermittlungsausschuss angerufen habe. Äußerungen im Gesetzgebungsverfahren, die Ergänzungsabgabe müsse zur Befriedigung „anderweitig nicht auszugleichender Bedarfsspitzen im Haushalt“, „für BVerfG wird daher zu Recht von Selmer/Hummel, JbÖF 2013, 365 (367 f.) kritisch hinterfragt.

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den Fall einer unumgänglichen und nicht anderweitig zu deckenden Steigerung seines (des Bundes) Finanzbedarfs“ und „in Notfällen“ erhoben werden, seien zu unbestimmt, als dass daraus hergeleitet werden könnte, eine Ergänzungsabgabe dürfe nur befristet eingeführt werden. Eine auf vorübergehende Bedarfsspitzen oder Notfälle abgestellte Befristung oder gar eine Befristung von zwei Jahren, wie sie dem vorlegenden Finanzgericht vorschwebe, „wäre auch mit den Grundsätzen einer modernen Finanzplanung sowie Haushalts- und Konjunkturpolitik nicht vereinbar. Sie entspräche einem statischen Haushaltsdenken, das von der Vorstellung eines im Wesentlichen gleichbleibenden Blocks feststehender Ausgaben ausgeht, über welchen hinaus lediglich von Zeit zu Zeit gewisse „Bedarfsspitzen“ auftreten könnten. Mit dem raschen Wachstum der kollektiv zu befriedigenden Bedürfnisse und den sich daraus ergebenden Ansprüchen an die öffentlichen Haushalte stände eine solche Haushaltspolitik nicht in Einklang.“ Die Finanzplanung müsse vielmehr den Zielen der Gesellschafts-, Wirtschafts- und Sozialpolitik fortlaufend angepasst werden. Wie die Ausgaben, so würden auch die Einnahmen des Staates durch langfristige Zielvorstellungen bestimmt. Umfangreiche Projekte und Reformvorhaben, wie zum Beispiel der Aufbau der Bundeswehr und der Ausbau des Bildungswesens, erstrecken sich über viele Jahre. Auch ihre Finanzierung müsse daher für mehrere Haushaltsperioden geplant werden. Während des Laufes der Ergänzungsabgabe könnten sich zudem für den Bund neue Aufgaben ergeben, für deren Erfüllung die bei der allgemeinen Verteilung des Steueraufkommens zur Verfügung stehenden Einnahmen nicht ausreichen, so dass die erneute Einführung der Ergänzungsabgabe und damit auch die Fortführung einer bereits bestehenden gerechtfertigt wäre. Die Entscheidung darüber, welche Aufgaben, insbesondere welche Reformmaßnahmen in Angriff genommen werden, und wie sie finanziert werden sollten, gehöre zur Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, die sich grundsätzlich der Nachprüfung des Bundesverfassungsgerichts entziehe. Es könne dabei dahingestellt bleiben, ob sich ein verfassungsrechtlicher Zwang zur Aufhebung der Ergänzungsabgabe ergeben würde, wenn die Voraussetzungen für die Erhebung dieser Abgabe evident entfielen, etwa weil die dem Bund im vertikalen Finanzausgleich zufallenden Steuern, möglicherweise nach einer grundsätzlichen Steuer- und Finanzverfassungsreform, zur Erfüllung seiner Aufgaben für die Dauer offensichtlich ausreichten.49a b) Der Beschluss vom 19. November 1999, 2 BvR 1167/96, NJW 2000, 797 Mit diesem Beschluss hat die 3. Kammer des 2. Senats des BVerfG eine Verfassungsbeschwerde, welche die Frage, ob das Solidaritätszuschlaggesetz von 1991 verfassungsgemäß war, betraf, nicht zur Entscheidung angenommen (§§ 93a, 93b BVerfGG). Es hat unter anderem angenommen, die Verfassungsbeschwerde habe keine grundsätzliche Bedeutung (§ 93a Abs. 2 Buchst a BVerfGG). Seinen Be49a

BVerfGE 32, 333 (340 ff.).

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schluss begründet das Bundesverfassungsgericht unter Verweis auf BVerfGE 32, 333 (340 ff.) im Wesentlichen damit, dass sich die Erforderlichkeit einer Befristung nicht aus dem Begriff der Ergänzungsabgabe in Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG ableiten lasse, dieser Begriff aber einer Befristung auch nicht grundsätzlich entgegenstehe. Im Hinblick auf ihre Funktion, einen zusätzlichen Finanzbedarf des Bundes ohne Erhöhung der Verbrauchsteuern zu decken, dürfe die Ergänzungsabgabe jedoch nicht nur für einen ganz kurzen Zeitraum erhoben werden.50 Die Ergänzungsabgabe solle die Vorrangigkeit der Einkommensteuer und der Körperschaftsteuer für die Finanzierung des öffentlichen Haushalts auch dann sicherstellen, wenn sich ein ausschließlicher Mehrbedarf des Bundes ergebe, für dessen Deckung die Erhöhung der Einkommenund Körperschaftsteuer keine befriedigende Lösung darstelle51 und eine zusätzliche Anhebung der Verbrauchsteuer unerlässlich sei.52 c) Der Beschluss BVerfGK 18, 26 Das Bundesverfassungsgericht hat den Vorlagebeschluss des Niedersächsischen Finanzgerichts53 als unzulässig zurückgewiesen, da es die Voraussetzungen des Art. 100 Abs. 1 GG i.V.m. §§ 13 Nr. 11, 80 ff. BVerfG nicht als erfüllt ansah. Zur Begründung verweist das Bundesverfassungsgericht – man möchte sagen: lapidar – im Wesentlichen auf die Entscheidung BVerfGE 32, 333 und wirft dem Finanzgericht vor, es habe sich nicht mit den dort entwickelten Grundsätzen hinreichend auseinandergesetzt. Das Bundesverfassungsgericht habe sich zwar mit der Verfassungsmäßigkeit des Solidaritätszuschlaggesetzes 1995 inhaltlich noch nicht auseinandergesetzt. Es habe jedoch im Rahmen seiner grundsätzlichen Stellungnahme zu den Voraussetzungen einer verfassungsrechtlich zulässigen Ausgestaltung einer Ergänzungsabgabe im Sinne des Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG mit eingehender Begründung entschieden, dass es von Verfassungs wegen nicht geboten sei, eine solche Abgabe von vornherein zu befristen oder sie nur für einen ganz kurzen Zeitraum zu erheben. Das vorlegende Gericht, das seine Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit der Abgabe nach dem Solidaritätszuschlaggesetz 1995 allein auf die Dauer ihrer Erhebung stütze, habe gleichwohl diese Entscheidungsbegründung des Bundesverfassungsgerichts nicht zum Ausgangspunkt seiner verfassungsrechtlichen Prüfung genommen und sich weder mit der Reichweite der Bindungswirkungen der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung auseinandergesetzt, noch solche Aspekte aufgezeigt, die vom Bundesverfassungsgericht nicht berücksichtigt worden seien und die eine erneute verfassungsgerichtliche Überprüfung der entscheidungstragenden Auslegung des Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG veranlassen könnten. Das Gericht beschrän50

BVerfGE 32, 333 (340). BVerfGE 32, 333 (341). 52 BVerfG vom 19. November 1999, 2 BvR 1167/96, NJW 2000, 797. 53 FG Niedersachsen vom 25. November 2009, 7 K 143/08, EFG 2010, 1071 mit Anmerkung Bartone, jurisPR-SteuerR 29/2010. 51

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ke sich vielmehr darauf, seine eigene Auslegung der Verfassungsnorm jener des Bundesverfassungsgerichts entgegenzusetzen.54 4. Die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs Im Folgenden soll der Blick kurz auf die beiden Entscheidungen des Bundesfinanzhofs zum Solidaritätszuschlag 1995 gerichtet werden. Die finanzgerichtliche Rechtsprechung braucht dabei nicht im Einzelnen dargestellt zu werden, da alle betroffenen erstinstanzlichen Urteile mit Rechtsmitteln angefochten und vom Bundesfinanzhof mit den nachstehend wiedergegebenen Entscheidungen bestätigt wurden. Für den Gang der Untersuchung genügt es daher, die höchstrichterliche Finanzrechtsprechung zu betrachten. a) Der Beschluss vom 28. Juni 2006, VII B 324/05, BStBl II 2006, 692 Mit diesem Beschluss hat der Bundesfinanzhof eine Nichtzulassungsbeschwerde (§ 116 Abs. 1 FGO) zurückgewiesen, mit der die Kläger unter anderem geltend gemacht haben, die verfassungsrechtliche Grundlage zum Erlass des SolZG 1995 sei jedenfalls für das Jahr 2002 entfallen, da eine Ergänzungsabgabe nur befristet erhoben werden dürfe, die insoweit in Betracht kommende längstens mögliche Befristung aber das Streitjahr nicht mehr erfasse. Dieser Ansicht folgt der Bundesfinanzhof nicht, sondern verwies darauf, dass die Frage, ob eine Ergänzungsabgabe im Sinne des Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG nur befristet erhoben werden dürfe, bereits höchstrichterlich geklärt sei. Jedenfalls gehöre die zeitliche Befristung nicht zum Wesen der Ergänzungsabgabe im Sinne des Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG. Der Begriff der Ergänzungsabgabe besage lediglich, dass diese Abgabe die Einkommen- und Körperschaftsteuer, also auf Dauer angelegte Steuern, ergänze und in einer gewissen Akzessorietät zu ihnen stehen solle. Zum einen sei nicht erkennbar, warum sich „Bedarfsspitzen“, zu deren Ausgleich eine Ergänzungsabgabe erhoben wird, nicht auch über einen Zeitraum von mehreren Jahren ergeben könnten; bezogen auf das Jahr 2002 handele es sich um einen Zeitraum von acht Jahren, so dass von einem „Dauerfinanzierungselement“ offensichtlich nicht gesprochen werden könne. Zum anderen könnten sich während des Laufes einer eingeführten Ergänzungsabgabe für den Bund neue Aufgaben ergeben, für deren Erfüllung die bei der allgemeinen Verteilung des Steueraufkommens zur Verfügung stehenden Einnahmen nicht ausreichten, so dass die erneute Einführung der Ergänzungsabgabe und damit auch die Fortführung einer bereits bestehenden ge-

54 Zur Kritik an dieser Entscheidung siehe insbesondere Selmer/Hummel, JbÖF 2013, 365 (371 f.).

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rechtfertigt wäre. Der Bundesfinanzhof stützt sich damit im Wesentlichen auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Ergänzungsabgabe 1968.55 b) Die Urteile vom 21. Juli 2011, II R 50/09, BFH/NV 2011, 1685 und II R 52/09, BStBl II 2012, 43 Der Bundesfinanzhof hat mit diesen – im hier entscheidenden Punkt inhaltsgleichen – Urteilen die jeweilige Vorinstanz56 bestätigt und begründet dies im Wesentlichen damit, dass die fehlende zeitliche Befristung des Solidaritätszuschlags beim Erlass des SolZG verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei. Denn es sei von Verfassungs wegen nicht geboten, eine Ergänzungsabgabe von vornherein zu befristen oder sie nur für einen kurzen Zeitraum zu erheben. Er verweist damit – wie in seiner vorstehend wiedergegebenen Entscheidung – erneut auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Ergänzungsabgabe 1968.57. Die Ergänzungsabgabe habe die Funktion, einen zusätzlichen Finanzbedarf des Bundes ohne Erhöhung der Verbrauchsteuern zu decken. Dadurch solle die Vorrangigkeit der Einkommenund Körperschaftsteuer für die Finanzierung des öffentlichen Haushalts auch dann sichergestellt werden, wenn sich ein ausschließlicher Mehrbedarf des Bundes ergebe, für dessen Deckung die Erhöhung der Einkommen- und Körperschaftsteuer keine befriedigende Lösung darstelle und eine zusätzliche Anhebung der Verbrauchsteuern unerlässlich sei. Der Gesetzgeber sei von Verfassungs wegen nicht verpflichtet gewesen, das SolZG wegen der fehlenden zeitlichen Befristung mit Wirkung ab dem Veranlagungszeitraum 2005 aufzuheben. Das SolZG sei nicht durch Zeitablauf verfassungswidrig geworden. 5. Der zweite Vorlagebeschluss des Niedersächsischen Finanzgerichts58 Nachdem das Bundesverfassungsgericht den ersten auf Art. 100 Abs. 1 GG gestützten Vorlagebeschluss des Niedersächsischen Finanzgerichts als unzulässig zurückgewiesen hatte59, hat das Finanzgericht einen zweiten Vorstoß unternommen und dem Bundesverfassungsgericht erneut die Frage vorgelegt, ob das SolzG 1995 verfassungswidrig ist. Das Normenkontrollverfahren wird beim Bundesverfassungsgericht unter dem Geschäftszeichen 2 BvL 6/14 geführt. Unter anderem hat das Finanzgericht ausgeführt: „Der Solidaritätszuschlag darf als Ergänzungsabgabe allein zur Deckung (vorübergehender) Bedarfsspitzen im 55

BVerfGE 32, 333. FG München vom 18. August 2009, 2 K 108/08, EFG 2010, 166 mit Anmerkung Bartone, jurisPR-SteuerR 47/2009, und FG Köln vom 14. Januar 2010, 13 K 1287/09, EFG 2010, 1063. 57 BVerfGE 32, 333. 58 Niedersächsisches FG vom 21. August 2013, 7 K 143/08, DStRE 2014, 534. 59 BVerfGK 18, 26. 56

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Bundeshaushalt erhoben werden, weil sich die Ergänzungsabgabe im Vergleich zu den sonstigen Steuern, die in der Finanzverfassung aufgezählt sind, wie die seltene Ausnahme zur Regel verhält. Zwar muss eine Ergänzungsabgabe nicht von vornherein befristet erhoben werden, jedoch verbietet der Ausnahmecharakter der Ergänzungsabgabe eine dauerhafte, eine immerwährende Erhebung dieser Steuer. Dies ergibt sich aus den Gesetzesmaterialien zur Einführung des Finanzierungsinstruments der Ergänzungsabgabe in das Grundgesetz im Jahre 1955 (Rn. 330). Die Fortführung des Solidaritätszuschlags widerspricht auch deshalb den erkennbaren Vorstellungen des Verfassungsgebers, weil es in den letzten Jahren immer wieder umfassende und auf Dauer angelegte allgemeine und punktuelle Steuerermäßigungen gab, obwohl der Solidaritätszuschlag weitgehend unverändert erhoben worden ist. Der damalige Bundesrat bezeichnete es im Jahr 1954 ausdrücklich als ,nicht vertretbar‘, das Zuschlagsrecht (Ergänzungsabgabe) im Zusammenhang mit einer Steuertarifsenkung auszuüben und dadurch die steuerliche Entlastung zum Teil wieder aufzuheben (Bundestags-Drucksache 2/484 vom 29. April 1954, S. 1); entsprechend wurde – wegen der anstehenden Steuertarifsenkung – der damalige Plan, zeitgleich mit der Änderung des Art. 106 Abs. 1 GG ein Gesetz über die Ergänzungsabgabe zur Einkommensteuer und zur Körperschaftsteuer einzuführen, nicht umgesetzt. Der Verfassungsgeber hatte nach den Materialien erkennbar die Vorstellung, dass eine einmal eingeführte Ergänzungsabgabe in Zeiten von geplanten Steuersenkungen zunächst entfallen muss, bevor Tarifsenkungen bei der Einkommensteuer greifen.“60 6. Literatur a) Herrschende Meinung Die herrschende Meinung in der Literatur folgt der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und geht im Anschluss daran davon aus, dass eine Befristung nicht geboten sei.61 Dabei begnügt sich der überwiegende Teil der Stimmen62 mit der Feststellung, die Ergänzungsabgabe müsse nicht von vornherein befristet werden, und stützt sich auf die oben wiedergegebene Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts63 sowie des Bundesfinanzhofs.64 60

Niedersächsisches FG vom 21. August 2013, 7 K 143/08, DStRE 2014, 534. Heintzen, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 106 Rz. 21; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 106 Rz. 4b; Siekmann, in: Sachs, GG, Art. 106 Rz. 7; wohl auch Dötsch, in: Dötsch/Pung/ Möhlenbrock, Die Körperschafsteuer, SolzG Rz. 2; P. Kirchhof, in: Kirchhof, EStG, § 51a Rz. 2; Pust, in: Littmann/Bitz/Pust, EStG, § 51a Rz. 51; Tormöhlen, in: Korn, EStG, § 51a Rz. 5; vgl. auch Seer, in: Tipke/Lang, § 2 Rz. 6. 62 Hilgers/Holly, DB 2010, 1419 (1420); Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 106 Rz. 28; Musil, in: Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 2 EStG Rz. 34; Kienemund, in: Hömig, GG, Art. 106 Rz. 3; P. Kirchhof, in: Kirchhof, EStG, § 51a Rz. 2; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 106 Rz. 4b; Schenke, in: Sodan, GG, Art. 106 Rz. 4; Tormöhlen, in: Korn, EStG, § 51a Rz. 5; krit. Drüen, in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 43 AO Rz. 12. 63 BVerfGE 32, 333 (338 ff.). 61

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b) Differenziertere Auffassung Ein anderer Teil des Schrifttums schließt sich im Kern der vorstehend skizzierten h.M. an, allerdings nicht vorbehaltlos. Vielmehr wird die Einschränkung gemacht, dass für die Erhebung einer Ergänzungsabgabe zwar keine Befristung oder ein Evaluierungsvorbehalt geboten sei;65 in Bezug auf den Solidaritätszuschlag soll indessen mit zunehmendem zeitlichem Abstand zur Wiedervereinigung, welche den zusätzlichen Finanzbedarf des Bundes ausgelöst habe, die Rechtfertigungslast wachsen.66 Der Solidaritätszuschlag in der aktuellen Form entspreche „diesen Anforderungen wohl noch“.67 Vereinzelt wird deshalb spätestens mit dem Auslaufen des Solidarpaktes II die Beibehaltung des Solidaritätszuschlags für nicht mehr zulässig gehalten.68 Unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts69 wird zwar ein Befristungsgebot abgelehnt, aber darauf hingewiesen, dass die Ergänzungsabgabe nicht zum „Dauerfinanzierungselement“ werden dürfe.70 Die Ergänzungsabgabe sei demnach aufzuheben, wenn die Voraussetzungen für ihre Erhebung „evident“ entfielen, etwa weil der Bund nunmehr über ausreichende Finanzmittel verfüge.71 Eine Befristung sei mit der finanzpolitischen Einschätzungsprärogative und der Etatverantwortung des Bundestags nicht zu vereinbaren.72 Es bestehe keine Beobachtungspflicht, sogar eine Auswechslung der Zweckbestimmung der Ergänzungsabgabe sei zulässig, sofern nicht insgesamt die Einnahmenerzielung nicht mehr erforderlich geworden sei.73 c) Mindermeinung Eine Mindermeinung hält schließlich die unbefristete Erhebung des Solidaritätszuschlags von vornherein für verfassungswidrig. Zur Begründung wird angeführt, dass dieser als Ergänzungsabgabe im Sinne von Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG nur zur Deckung vorübergehender Bedarfsspitzen im Bundeshaushalt erhoben werden dürfe.74 64

BFH vom 28. Juni 2006, VII B 324/05, BStBl II 2006, 692. Heintzen, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 106 Rz. 21. 66 FG Münster vom 27. September 2005, 12 K 6263/03 E, EFG 2006, 371; Heintzen, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 106 Rz. 21; Siekmann, in: Sachs, GG, Art. 106 Rz. 7. 67 Siekmann, in: Sachs, Art. 106 GG Rz. 7; vgl. auch Giesen, NZS 2006, 449 (455). 68 Heintzen, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 106 Rz. 21. 69 BVerfGE 32, 333 (340 ff.). 70 Hidien, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 106 Rz. 1434; ebenso K.-A. Schwarz, in: von Mangold/Klein/Starck, GG, Art. 106 Rz. 49. 71 Hidien, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 106 Rz. 1434 unter Hinweis auf BVerfGE 32, 333 (343); K.-A. Schwarz, in: von Mangold/Klein/Starck, GG, Art. 106 Rz. 49. 72 K.-A. Schwarz, in: von Mangold/Klein/Starck, GG, Art. 106 Rz. 49. 73 K.-A. Schwarz, in: von Mangold/Klein/Starck, GG, Art. 106 Rz. 49. 74 Birk, FR 2010, 999 (1003); Lemmer, DSi kompakt Nr. 3/2013; Schemmel, Verfassungswidriger Solidaritätszuschlag, S. 27. 65

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7. Befristung als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal? Die Regelung in Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG begründet kein ausdrückliches Erfordernis der Befristung einer Ergänzungsabgabe. Für Steuern gilt, dass sie grundsätzlich auf Dauer angelegt sind und es der freien Gestaltung des Gesetzgebers unterliegt, ob er einmal erhobene Steuern wieder abschafft. Insbesondere ergibt sich aus Art. 106 Abs. 1 GG für den Bund – und entsprechend Art. 106 Abs. 2 GG für die Länder – keine verfassungsrechtliche Pflicht zur Beibehaltung der in dem Katalog genannten Steuern.75 Hierauf lässt sich die Annahme stützen, dass auch eine Ergänzungsabgabe – jedenfalls nicht von vornherein – befristet sein muss.76 Gleichwohl ist zu untersuchen, ob sich das Erfordernis der Befristung aus dem Wesen bzw. dem Begriff der Ergänzungsabgabe, dem Regelungszusammenhang, dem Zweck oder den Gesetzesmaterialien ermitteln lässt. a) Begriff der Ergänzungsabgabe Der Begriff der Ergänzungsabgabe ist in Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG nicht legal definiert. Oben wurde bereits dargelegt, dass die systematische Auslegung des Begriffs im Zusammenhang mit Art. 105 Abs. 2 GG ergibt, dass es sich um eine Steuer im verfassungsrechtlichen Sinn – und damit auch um eine Steuer im Sinne von § 3 Abs. 1 AO – handelt. Das Argument, dass bereits dem Begriff der Ergänzungsabgabe das Erfordernis einer Befristung innewohne, hat das Bundesverfassungsgericht verworfen:77 Der Begriff besage lediglich, dass die Ergänzungsabgabe die Einkommensteuer und die Körperschaftsteuer ergänzen solle. Damit werde lediglich die Akzessorietät dieser Abgabe begründet.78 Der Begriff „Ergänzung“ als Bestandteil einer Synonymgruppe, die im vorliegenden Zusammenhang von Bedeutung ist, ist gleichbedeutend mit Beifügung, Hinzufügung dessen, was zur Gänze fehlt, Hinzunahme, Zusatz79 ; er bezieht sich also auf etwas Zusätzliches im Sinne einer Verstärkung von Vorhandenem, um dessen Vollständigkeit (wieder-) herzustellen.80 Eine zeitliche Komponente in dem Sinn, dass die Vervollständigung des Vorhandenen binnen bestimmter Fristen erfolgt oder gar zu erfolgen hätte, lässt sich dem nicht entnehmen. Folglich bietet der Begriff der Ergänzung als solcher keinen Anhaltspunkt dafür, über welchen Zeitraum sich dieser erstreckt. Für die Ergänzungsabgabe ist daher festzuhalten, dass dem Begriff 75

Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 106 Rz. 21. BVerfGE 32, 333 (340); BFH vom 28. Juni 2006, VII B 324/05, BStBl II 2006, 692; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 106 Rz. 4b; Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 106 Rz. 28; Siekmann, in: Sachs, GG, Art. 106 Rz. 7. 77 BVerfGE 32, 333 (340). 78 BVerfGE 32, 333 (340). 79 Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Das digitale Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS), www.dwds.de. 80 Vgl. auch Selmer/Hummel, JbÖF 2013, 365 (372). 76

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das Erfordernis einer Befristung nicht innewohnt.81 Sie ist nicht schon ihrem Wesen nach auf eine Befristung angelegt.82 b) Regelungszusammenhang Aus dem systematischen Kontext des Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG lässt sich nicht ohne weiteres auf das Erfordernis einer Befristung schließen. Die Ergänzungsabgabe ist im Zusammenhang mit anderen Steuern geregelt, die – soweit sie noch erhoben werden – allesamt auf Dauer angelegt sind und dementsprechend lange erhoben werden. Insbesondere die Einkommensteuer- und die Körperschaftsteuer liefern zusammen mit der Umsatzsteuer den wesentlichen Ertrag. Daher ist ihr Aufkommen auf Bund und Länder gemeinschaftlich verteilt (Art. 106 Abs. 3 GG). Werden aber die im Grundgesetz aufgeführten Steuern grundsätzlich auf Dauer erhoben, so ließe sich das auch für die Ergänzungsabgabe vertreten, die unzweifelhaft auch eine Steuer im verfassungsrechtlichen Sinn darstellt. Andererseits stellt sie nur eine Ergänzung zur Einkommensteuer und zur Körperschaftsteuer dar, die als Gemeinschaftsteuern (Art. 106 Abs. 3 Satz 1 GG) konzipiert sind. Daraus folgt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zuvörderst das Verbot, die Maßstabsteuern durch die Erhebung der Ergänzungsabgabe, deren Ertrag ausschließlich dem Bund zufließt, auszuhöhlen83, um das austarierte finanzverfassungsrechtliche Gefüge nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen. Das Aushöhlungsverbot wird aber allgemein auf die Höhe der Ergänzungsabgabe bezogen84, nicht auf die Dauer ihrer Erhebung. Tritt die Ergänzungsabgabe ihrer Höhe nach nicht in Konflikt mit der Einkommensteuer und der Körperschaftsteuer, so kommt es auch bei einer dauerhaften Erhebung nicht zu einer Aushöhlung dieser Steuern. Systematische Erwägungen führen daher in der Frage der Befristung der Ergänzungsabgabe nicht weiter. c) Zweck der Ergänzungsabgabe Es stellt sich aber die Frage, ob nicht aus dem Zweck der Ergänzungsabgabe das Erfordernis folgt, dass diese jedenfalls dann nicht mehr erhoben wird, wenn der Sonderbedarf des Bundes nicht mehr besteht. Denn die Ergänzungsabgabe ist als subsidiäres Finanzierungsmittel zur Deckung eines zusätzlichen konkreten Finanzierungsbedarfs des Bundes konzipiert, grundsätzlich aber nicht zur Finanzierung einer Daueraufgabe.85 Anders formuliert begründet Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG eine 81

Selmer/Hummel, JbÖF 2013, 365 (372). Vgl. BFH vom 28. Juni 2006, VII B 324/05, BStBl II 2006, 692. 83 BVerfGE 32, 333 (340). 84 Burghart, in: Leibholz/Rinck, GG, Art. 106 Rz. 27; Häde, Finanzausgleich, S. 186; Heintzen, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 106 Rz. 21; Heun, in: Dreier, GG, Art. 106 Rz. 15; Siekmann, in: Sachs, GG, Art. 106 Rz. 7. 85 Heintzen, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 106 Rz. 21. 82

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subsidiäre Ertragskompetenz des Bundes für den Fall, dass ein nicht anderweitig behebbarer, akuter Fehlbedarf im Bundeshaushalt besteht.86 Hierüber besteht weitgehend Einigkeit.87 Aus dieser Komplementärfunktion lässt sich nicht unmittelbar auf ein Befristungserfordernis schließen. Denn es leuchtet ein, dass der Bundestag, der über das Budgetrecht verfügt, insoweit eine sehr weite Einschätzungsprärogative hat und haben muss. Das bedeutet, allein der Bundestag kann abschätzen, wie hoch der Sonderbedarf ist, auf welchen Zeitraum er sich erstreckt und wie lange infolgedessen die Ergänzungsabgabe erhoben werden muss. Letztlich obliegt es der alleinigen Einschätzung durch den Bundestag, wann der Sonderbedarf überwunden und die Erhebung der Ergänzungsabgabe einzustellen ist. Das Parlament muss zur Bewältigung der Sonderbedarfssituation hinreichend flexibel handeln können.88 Denn Schwankungen in der Konjunktur und wechselnde Finanzbedarfe erfordern eine längerfristige Planung und eine fortlaufende Anpassung an die – von der Politik im Einklang mit den an sie gestellten Anforderungen festzulegenden – Ziele der Gesellschafts-, Wirtschafts- und Sozialpolitik.89 Gestaltung erfordert Handlungsspielraum gerade auch in finanzieller Hinsicht. Dem widerspräche es, für die Erhebung der Ergänzungsabgabe von vornherein zeitliche Vorgaben zu machen, da sich bei Einführung der Abgabe zwar der Sonderbedarf objektiv feststellen lässt, jedoch kaum eine sichere Prognose aufgestellt werden kann, wann die Bedarfsspitze nicht mehr besteht. Vor diesem Hintergrund kann der Auffassung, wonach eine Ergänzungsabgabe im Hinblick auf ihre Subsidiarität von vornherein zu befristen sei90, nicht gefolgt werden, wie das Bundesverfassungsgericht zutreffend entschieden hat.91 Die Dauer der Erhebung ist abhängig von dem Fortbestehen des außergewöhnlichen zusätzlichen Finanzbedarfs, der wiederum von den Umständen abhängig ist, welche ihn verursacht haben. Unter der Maßgabe dieser Grundsätze lässt sich schwerlich eine konkrete zeitliche Vorgabe für die Erhebung einer Ergänzungsabgabe machen. Andererseits lässt sich aus dem vorstehend beschriebenen Zweck der Ergänzungsabgabe ableiten, dass eine auf Dauer angelegte Ergänzungsabgabe ihren Charakter als subsidiäres Finanzierungselement verliert. Denn die Bedarfsspitze, welche die Erhebung rechtfertigt, kann nicht einen Dauerzustand darstellen, sonst liegt bereits begrifflich keine „Spitze“ vor, sondern ein dauerhafter Finanzierungsbedarf.92 Der Zweck ihrer Erhe86

K.-A. Schwarz, in: von Mangold/Klein/Starck, GG, Art. 106 Rz. 49. Siehe Selmer/Hummel, JbÖF 2013, 365 (379) und die dort in Fußn. 825 aufgeführten Nachweise; siehe auch oben Fußn. 63 ff. 88 Vgl. Hidien, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 106 Rz. 1430. 89 BVerfGE 32, 333 (343); Hilgers/Holly, DB 2010, 1419 (1420). 90 Birk, FR 2010, 999 (1003); Lemmer, DSi kompakt Nr. 3/2013; Schemmel, Verfassungswidriger Solidaritätszuschlag, S. 27. 91 BVerfGE 32, 333 (340 ff.). 92 FG Niedersachsen vom 21. August 2013, 7 K 143/08, DStRE 2014, 534.; Selmer/Hummel, JbÖF 2013, 365 (374). 87

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bung gebietet es also, irgendwann einen Zeitpunkt zu bestimmen, in dem die Erhebung enden muss. Dieser Zeitpunkt ist erreicht, wenn der Grund für die Einführung der Ergänzungsabgabe dadurch entfallen ist, dass die Bedarfsspitze nicht mehr besteht oder diese durch das Aufkommen der übrigen, regulären Steuern ausgeglichen werden kann. Dies dürfte gemeint sein, wenn das Bundesverfassungsgericht ausführt, die Ergänzungsabgabe sei aufzuheben, wenn die Voraussetzungen für ihre Erhebung „evident“ entfielen, etwa weil die Steuern, deren Aufkommen dem Bund zusteht, „zur Erfüllung seiner Aufgaben für die Dauer offensichtlich“ ausreichten.93 Auch nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts kann deshalb eine ursprünglich verfassungsgemäß beschlossene Ergänzungsabgabe verfassungswidrig werden, wenn sich die Verhältnisse, die für die Einführung maßgebend waren, aus den vorgenannten Gründen grundlegend ändern, aber auch, wenn eine dauerhafte Finanzierungslücke entstanden ist.94 Die Verfassungsmäßigkeit der Ergänzungsabgabe soll in diesen Fällen aber erst zweifelhaft sein, „wenn die Änderung der Verhältnisse eindeutig und offensichtlich feststeht“.95 Allerdings erscheint es angesichts des Charakters der Ergänzungsabgabe als subsidiäres Finanzierungselement angebrachter, nicht auf eine „offensichtliche“ Änderung der Verhältnisse abzustellen. Vielmehr muss es ausreichen, wenn es „erkennbar“ ist, dass das dem Bund zustehende Steueraufkommen dauerhaft nicht zur Erfüllung seiner Aufgaben ausreicht.96 Es kann demnach nur festgehalten werden, dass sich eine zeitliche Begrenzung einer nach Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG unbefristet erhobenen Ergänzungsabgabe daraus ergebe, „dass die Ergänzungsabgabe nach ihrem Charakter den Zweck hat, einen vorübergehenden aufgabenbezogenen Mehrbedarf des Bundes zu finanzieren, und sie damit kein dauerhaftes Instrument der Steuerumverteilung sein darf“.97 Sobald aus einer finanziellen Sonderbelastung des Bundeshaushalts ein dauerhafter Zustand wird, hat die Aufbringung der erforderlichen Mittel durch die regulären Steuern zu erfolgen, die Ergänzungsabgabe darf dabei als „bewegliche Steuerreserve“ keine tragende Bedeutung haben.98 Eine weitere Präzisierung erscheint kaum möglich. Daher können auch die teleologischen Betrachtungen nicht zu dem zwingenden Ergebnis führen, die Erhebung der Ergänzungsabgabe sei nach fünf, zehn oder zwanzig Jahren zu beenden.

93 BVerfGE 32, 333 (343); vgl. Hidien, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 106 Rz. 1434; K.-A. Schwarz, in: von Mangold/Klein/Starck, GG, Art. 106 Rz. 49. 94 BVerfGK 18, 26. 95 BVerfGK 18, 26. 96 So Selmer/Hummel, JbÖF 2013, 365 (379). 97 BVerfGE 18, 26. 98 Selmer/Hummel, JbÖF 2013, 365 (379).

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d) Exkurs: Austausch der Begründung? Im Zusammenhang mit den vorstehenden Erwägungen wird die Frage aufgeworfen, ob eine zur Bewältigung eines Sonderbedarfs erhobene Ergänzungsabgabe unveränderte fortgeführt werden darf, wenn zwar der ursprüngliche Grund entfallen ist, aber ein neuer außergewöhnlicher Finanzbedarf des Bundes aufgrund einer neuen Aufgabe entsteht. Kann also bei Zweckerreichung durch schlichten Austausch der Zweckbestimmung im Sinne einer „Umwidmung“99 in puncto Ergänzungsabgabe alles „beim Alten“ belassen werden? Dies wird in der Tat vereinzelt angenommen: Soweit die Neueinführung einer Ergänzungsabgabe zulässig sei, soll auch eine bestehende fortgeführt werden können; dadurch soll die Ergänzungsabgabe keinen unzulässigen Dauercharakter erhalten.100 In diesem Sinne dürften auch die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zu verstehen sein, wonach sich für den Bund während des Laufes einer eingeführten Ergänzungsabgabe neue Aufgaben ergeben könnten, für deren Erfüllung die bei der allgemeinen Verteilung des Steueraufkommens zur Verfügung stehenden Einnahmen nicht ausreichen, so dass die erneute Einführung der Ergänzungsabgabe und damit auch die Fortführung einer bereits bestehenden gerechtfertigt wäre.101 Dem ist Folgendes entgegenzuhalten: Ist die Erhebung einer Ergänzungsabgabe nur durch einen konkreten zusätzlichen Finanzbedarf des Bundes gerechtfertigt, so entfällt diese Rechtfertigung, wie oben ausgeführt, mit der Bedarfsspitze oder dann, wenn der Finanzbedarf mit den übrigen Finanzierungselementen gedeckt werden kann. Verbleibt es demgegenüber bei dem finanziellen Mehrbedarf, spricht dies für ein dauerhaftes Defizit, das nur durch die auf Dauer angelegten Finanzierungsinstrumente ausgeglichen werden kann. Ein dauerhafter Finanzbedarf ist über die auf Dauer angelegten Steuern und nicht über eine Ergänzungsabgabe zu decken.102 Die Erhebung einer Ergänzungsabgabe ist dann unzulässig.103 Es liegt auf der Hand, dass die Politik immer wieder auf neue Herausforderungen reagieren muss, so dass der Bund aufs Neue die Mittel für die Finanzierung der dadurch erwachsenden Aufgaben aufzubringen hat. Hierdurch werden indessen keine außergewöhnlichen Mehrbelastungen erzeugt, so dass der hierfür erforderliche Finanzierungsbedarf durch das Aufkommen der regulären Steuern zu decken ist. Eine Rechtfertigung für die Erhebung einer Ergänzungsabgabe ist darin grundsätzlich nicht zu sehen.104 Demzufolge ist die Fortführung einer Ergänzungsabgabe unter bloßer Auswechslung der Begründung aus den vorgenannten Gründen verfassungsrechtlich nicht zu99

Ortmann-Babel, DStR 2014, 1309 (1313). So zum Beispiel Hilgers/Holly, DB 1419 (1420). 101 BVerfGK 18, 26 unter Verweis auf BVerfGE 32, 333 und BFH vom 28. Juni 2006, VII B 324/05, BStBl II 2006, 692. 102 BVerfGK 18, 26. 103 In diesem Sinne auch Ortmann-Babel, DStR 2014, 1309 (1313). 104 Vgl. Ortmann-Babel, DStR 2014, 1309 (1313). 100

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lässig. Erfordert die Erhebung einer Ergänzungsabgabe eine konkrete Deckungslücke, so muss zwischen der konkreten, außergewöhnlichen Finanzierungsaufgabe und der Ergänzungsabgabe eine enge Konnexität bestehen, die der Bund begründen können muss.105 Entfällt der ursprüngliche Grund für deren Erhebung, muss sie aufgehoben werden, denn damit entfällt auch die verfassungsrechtliche Rechtfertigung. Zeichnet sich dann ein neuer Sonderbedarf ab, so muss der Gesetzgeber seinen Willen erneut in einem eigenen, durch den nunmehrigen Erhebungszweck gerechtfertigten Regelungswerk betätigen. Eine Aufrechterhaltung der bisherigen Ergänzungsabgabe in unveränderter Form kommt nicht in Betracht.106 e) Wille des historischen Gesetzgebers Zur Vervollständigung der Bemühungen um das Verständnis des Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG ist ein Blick in die Gesetzesmaterialien zum Finanzverfassungsgesetz 1955 zu werfen.107 Im Einzelne heißt es dort: „Die Ergänzungsabgabe zur Einkommensteuer und zur Körperschaftsteuer ist dazu bestimmt, anderweitig nicht auszugleichende Bedarfsspitzen im Bundeshaushalt zu decken, den gesetzgebenden Körperschaften des Bundes in begrenztem Rahmen eine elastische, der jeweiligen Konjunkturlage und dem jeweiligen Haushaltsbedarf angepaßte Finanzpolitik zu ermöglichen und das Steuerverteilungssystem im Verhältnis zwischen Bund und Ländern dadurch zu festigen, daß die Notwendigkeit einer Revision der Steuerbeteiligungsquoten … auf solche Mehrbelastungen des Bundes beschränkt wird, die nicht aus dieser beweglichen Steuerreserve gedeckt werden können …“.108 „Die mit einem durch Gesetz jederzeit abänderbaren und damit ,beweglichen‘ Hebesatz ausgestattete Ergänzungsabgabe zur Einkommensteuer und zur Körperschaftsteuer soll es dem Bundesgesetzgeber ermöglichen, ohne Anwendung der Revisionsklausel und ohne Änderung der Steuersätze Bedarfsspitzen im Bundeshaushalt zu decken, die auf anderem Wege, insbesondere durch Senkung von Ausgaben nicht ausgeglichen werden können. Auf diese Weise wird die Abgabe, deren Erhebung nur mit geringen Hebesätzen in Betracht kommt und keineswegs für die Dauer, sondern lediglich für Ausnahmelagen bestimmt ist, wesentlich zur inneren Festigung der bundesstaatlichen Finanzstruktur beitragen. Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß die steuerliche Belastung des Einkommens normalerweise in der Gestalt der Einkommensteuer und Körperschaftsteuer erfolgen sollte. Der Entschluß, gleichwohl die Erhebung einer Ergänzungsabgabe vorzuschlagen, hat es der Bundesregierung ermöglicht, in ihrem Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung von Steuern das Ausmaß der Senkung der Einkommensteuer und der Körperschaftsteuer soweit zu spannen, daß sich ein wirtschaftsgerechter Tarif und eine fühlbare Entlastung der Steuerpflichtigen für die Dauer ergibt. Die gleichzeitig mit der Steuerreform einzuführende Ergänzungs-

105 106

534. 107 108

Vgl. Hidien, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 106 Rz. 1431. Anschaulich Niedersächsisches FG vom 21. August 2013, 7 K 143/08, DStRE 2014, Vgl. eingehend Selmer/Hummel, JbÖF 2013, 365 (372 ff.). BT-Drucks. 2/480, S. 72.

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abgabe schränkt diese Entlastung nur unwesentlich und nur für den Zeitraum ein, in dem die Deckungslücke des Bundeshaushalts nicht anderweitig geschlossen werden kann“.109 „Der Bundesrat lehnt zwar eine Ergänzungsabgabe des Bundes zur Einkommensteuer und zur Körperschaftsteuer im Sinne der Regierungsvorlage ab. Er erkennt aber, wie sich aus der Begründung zu seinem Änderungsvorschlag zu Art. 106 Abs. 3 des Grundgesetzes ergibt, die Notwendigkeit eines Zuschlagsrechts des Bundes zu den oben bezeichneten Steuern grundsätzlich an. Von dem Zuschlagsrecht sollte jedoch nur in besonderen Notfällen Gebrauch gemacht werden. Es ist nicht vertretbar, im Zusammenhang mit der Steuerreform, die eine Tarifsenkung vorsieht, von dem Zuschlagsrecht Gebrauch zu machen und dadurch die steuerliche Entlastung zum Teil wieder aufzuheben“.110

Aus dem Vorstehenden wird deutlich, dass es dem Gesetzgeber darauf ankam, die Ergänzungsabgabe als außerordentliches, subsidiäres Finanzierungselement zu regeln, das nur in „Ausnahmelagen“ zum Ausgleich von Bedarfsspitzen im Bundeshaushalt herangezogen werden soll. Eine ausdrückliche Regelung über die Befristung der jeweiligen Ergänzungsabgabe wurde zwar erwogen, aber nicht in das Gesetzeswerk aufgenommen.111 Gleichwohl war von Anfang an anerkannt, dass die Ergänzungsabgabe im finanzverfassungsrechtlichen Gefüge des Grundgesetzes einen Ausnahmecharakter hat und sich aus ihrer Funktion heraus die Notwendigkeit ergibt, sie nur für einen bestimmten Zeitraum zu erheben. Es war nie intendiert, mit der Regelung der Ergänzungsabgabe die Möglichkeit eines Instruments zur dauerhaften Finanzierung des Bundeshaushalts zu schaffen. V. Auslegungsergebnis Die Auslegung des Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG in grammatischer, systematischer, teleologischer und historischer Hinsicht hat für die Frage, ob die Erhebung einer Ergänzungsabgabe nur befristet erfolgen darf, kein befriedigendes Ergebnis geliefert. Zwar decken sich die Einzelergebnisse im Wesentlichen, es lässt sich für die Befristung der Ergänzungsabgabe jedoch keine konkrete Aussage treffen. Folgt man der oben dargestellten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sowie der h.M., ist die Beantwortung der Frage nach der Befristung der Ergänzungsabgabe zwischen folgenden zwei entgegengesetzten Punkten zu suchen: auf der einen Seite der Beginn der Erhebung, in dem keine Befristung zu stehen braucht und der noch völlig unproblematisch ist, und auf der entgegengesetzten Seite der Moment, ab dem die Ergänzungsabgabe zum Dauerfinanzierungsinstrument und damit finanzverfassungsrechtlich unzulässig wird. Indessen lässt sich der Zeitpunkt, in dem die Ergänzungsabgabe umschlägt, genauso wenig präzise bestimmen, wie in unseren Breiten der Moment, in dem der Tag zur Nacht wird.112 109

BT-Drucks. 2/484, S. 4 f. BT-Drucks. 2/484, S. 1. 111 Siehe dazu BVerfGE 32, 333 (341) und die dortigen weiteren Nachweise. 112 Siehe Herbert Rosendorfer, Das Zwergenschloß und sieben andere Erzählungen, dtv, 4. Aufl., München 1984, S. 10: „… Glauben Sie mir, daß es mir noch nie gelungen ist, den 110

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VI. Zusammenfassung und Folgerungen für den Solidaritätszuschlag Die Untersuchung hat ergeben, dass die Ergänzungsabgabe nur ein subsidiäres Finanzierungselement im finanzverfassungsrechtlichen Gesamtgefüge darstellt. Aus dieser Komplementärfunktion folgt, dass die Ergänzungsabgabe zwar nicht von vornherein auf eine kalendermäßig bestimmte Zeit befristet werden muss, die Dauer ihrer Erhebung aber eng mit dem konkreten Zweck ihrer Einführung verbunden ist. Daher ist die Erhebung einer Ergänzungsabgabe einzustellen, sobald der besondere Mehrbedarf im Bundeshaushalt, der den Anlass zu ihrer Einführung gab, überwunden ist oder es sich herausstellt, dass der Mehrbedarf sich von einer temporären, außergewöhnlichen Bedarfsspitze zu einem Dauerbedarf entwickelt hat. Dabei obliegt es der Einschätzungsprärogative des Bundestags im Rahmen seiner Budgethoheit, dies festzustellen. Eine feste, nach Jahren bestimmte Dauer kann es daher nicht geben. Wird eine Ergänzungsabgabe jedoch über 25 Jahre – ein Vierteljahrhundert lang – erhoben, ohne dass sich eine Deckung des Mehrbedarfs abzeichnet, dürfte in aller Regel ein dauerhafter Bedarf bestehen, der über die von vornherein auf Dauer angelegten Steuern zu decken ist. Zu denken ist dabei in erster Linie an die Aufteilung des Umsatzsteueraufkommens nach Maßgabe des Art. 106 Abs. 4 GG. Diese zuletzt genannte Erwägung legt daher eine Antwort auf die eingangs gestellte Frage dahingehend nahe, dass der Solidaritätszuschlag angesichts der gewaltigen Aufgabe der deutschen Wiedervereinigung seine finanzverfassungsrechtliche Rechtfertigung verliert. Es besteht kein Zweifel daran, dass der Solidaritätszuschlag als Ergänzungsabgabe für eine längere Zeit erhoben werden kann.113 Wenn aber die finanziellen Auswirkungen der Wiedervereinigung auf den Bundeshaushalt auch mehr als 25 Jahre noch nicht bewältigt sind, spricht dies für einen dauerhaften Mehrbedarf des Bundes, der anders als durch den Solidaritätszuschlag zu decken ist. Dies gilt umso mehr, als selbst der Bundesfinanzminister einräumt, dass das Aufkommen des Solidaritätszuschlags von Anfang an nicht ausgereicht hat, um die Mehrbelastungen auszugleichen. So heißt es in einer Stellungnahme: „Zur Finanzierung des Gesamtvolumens der seitens des Bundes in vorher nicht gekannten Dimensionen unternommenen Aufbauanstrengungen hat der Solidaritätszuschlag zu keinem Zeitpunkt auch nur annähernd ausgereicht. Die Finanzlage des Bundes ist weiterhin – nicht zuletzt infolge der immer noch bestehenden Vereinigungslasten – angespannt, so dass auf die Finanzmittel aus dem Solidaritätszuschlag nicht verzichtet werden kann. Damit ist die Zukunft des Solidaritätszuschlags politisch zwar eng mit den durch den Bund zu tragenden Sonderlasten der Wiedervereinigung verknüpft, auch wenn die Einnahmen aus dem Solidaritätszuschlag nur einen Bruchteil der Gesamtbelastung ausmachen. Das Aufkommen dient rechtlich allerdings ebenso wie das Moment zu beobachten, in dem das Licht, wenn man so sagen kann, umkippt? Es muß doch einen solchen Moment geben, wo das Licht nicht mehr von draußen hereintritt, aber auch noch nicht von innen hinaus …“. 113 BVerfGK 18, 26.

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Aufkommen anderer Steuern nach dem Grundsatz der Gesamtdeckung der Finanzierung aller Bundesausgaben. Eine normierte Zweckbindung der Einnahmen aus dem Solidaritätszuschlag zu bestimmten Haushaltspositionen wäre verfassungsrechtlich nicht zulässig, da das Recht des Parlaments beschränkt würde, über die Verwendung der Staatseinnahmen bei der jährlichen Aufstellung des Bundeshaushalts zu entscheiden.“114 Damit stellt die Bundesregierung selbst die grundsätzliche Tauglichkeit des Solidaritätszuschlags zum Ausgleich des vereinigungsbedingten Mehrbedarfs an finanziellen Bundesmitteln in Frage.115 Gleichzeitig wird damit eingeräumt, dass die verfassungsrechtliche Rechtfertigung für die Erhebung des Solidaritätszuschlags fehlt. Zu wünschen ist, dass den Solidaritätszuschlag nicht das Schicksal der vor über 100 Jahren eingeführten Schaumweinsteuer ereilt: Einst zur Finanzierung der kaiserlichen Marine eingeführt116, hat sie diese und zwei weitere deutsche Kriegsflotten sowie zwei Weltkriege überdauert und bildet heute einen Teil des dem Bund nach Art. 106 Abs. 1 Nr. 2 GG zufließenden Verbrauchsteueraufkommens. Ob dieser Wunsch in Erfüllung geht, wird sich zeigen. Die Worte des Bundesfinanzministers geben möglicherweise Anlass zu einem winzigen Funken Hoffnung: „Gleichwohl ist der Solidaritätszuschlag keine Abgabe für die Ewigkeit und muss zu gegebener Zeit auf den Prüfstand gestellt werden.“117 Wann der gegebene Zeitpunkt gekommen sein wird, wird dabei offengelassen. Er sollte nicht in allzu ferner Zukunft liegen, damit nicht erst das Bundesverfassungsgericht in einer verbindlichen Entscheidung die Verfassungsmäßigkeit des Solidaritätszuschlags verneinen muss. Mit Spannung darf darüber hinaus erwartet werden, wie das Bundesverfassungsgericht mit der neuerlichen Richtervorlage des Niedersächsischen Finanzgerichts118 umgehen wird. Zu wünschen wäre, dass das Gericht, das als einziges zur Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit des SolzG 1995 berufen ist, eine Entscheidung in der Sache wagt. Literatur Birk, Rolf, Anmerkung zu BVerfG vom 8. September 2010, 2 BvL 3/10, FR 2010, 999. Dötsch, Ewald/Pung, Alexandra/Möhlenbrock, Rolf, Die Körperschaftsteuer, Stuttgart 2014. Dreier, Horst (Hrsg.), Grundgesetz, 2. Aufl., Tübingen 2008. Fischer-Menshausen, Herbert, Das Finanzausgleichsgesetz, DÖV 1956, 161. Frotscher, Gerrit, Kommentar zum Einkommensteuergesetz, Freiburg 2014. 114 http://www.abgeordnetenwatch.de/suche-223– 0–122—aw-—–wolfgang.html; vgl. auch BT-Drucks. 17/10933, S. 2 f. 115 Zutreffend Selmer/Hummel, JbÖF 2013, 365 (380). 116 Schaumweinsteuergesetz vom 26. April 1902 (RGBl. S. 155). 117 http://www.abgeordnetenwatch.de/suche-223 – 0 – 122—aw-—–wolfgang.html. 118 Niedersächsisches FG vom 21. August 2013, 7 K 143/08, DStRE 2014, 534.

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Giesen, Richard, Beteiligung der Privaten Krankenversicherung am Gesundheitsfonds, NZS 2006, 449. Häde, Ulrich, Finanzausgleich, Tübingen 1996. Henneke, Hans-Günter, Öffentliches Finanzwesen, Finanzverfassung, 2. Aufl., Heidelberg 2000. Hilgers, Dennis/Holly, Isabelle, Die Verfassungskonformität des Solidaritätszuschlags, DB 2010, 1419. Hömig, Dieter, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 10. Aufl., Baden-Baden 2013. Isensee, Josef/Kirchhof, Paul (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band IV (Finanzverfassung – Bundesstaatliche Ordnung), 2. Aufl., Heidelberg 1999. Jarass, Hans D./Pieroth, Bodo, GG, 13. Aufl., München 2014. Jochum, Heike, Grundfragen des Steuerrechts, Tübingen 2012. Kahl, Wolfgang/Waldhoff, Christian/Walter, Christian (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Heidelberg u. a. 2014. Klein, Franz (Hrsg.), Öffentliches Finanzrecht, 2. Aufl., Neuwied u. a. 1993. Korn, Klaus/Carlé, Dieter/Stahl, Rudolf/Strahl, Martin (Hrsg.), Einkommensteuergesetz – Kommentar, 1. Aufl., Bonn/Berlin 2000 (Grundwerk). Kühn, Rolf/von Wedelstädt, Alexander, Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 21. Aufl., Stuttgart 2015. Leibholz, Gerhard/Rinck, Hans-Justus, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Köln 1975/2006. Lemmer, Jens, Abbau des Solidaritätszuschlags geboten, DSi kompakt, Nr. 3/2013. von Mangold/Klein/Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Band 3 (Art. 83 bis 146), 6. Aufl., München 2010. Mellinghoff, Rudolf, Steuergesetzgebung im Verfassungsstaat, Stbg 2005, 1 ff. von Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 2 (Art. 70 bis 146), 6. Aufl., München 2012. Ortmann-Babel, Martina, Verfassungskonformität und Zukunft des Solidaritätszuschlags – auch unter Berücksichtigung der Diskussion zum Abbau der kalten Progression, DStR 2014, 1309. Rodi, Michael, Die Rechtfertigung von Steuern als Verfassungsproblem, Münchener Universitätsschriften (Reihe der Juristischen Fakultät) Band 101, München 1994. Schmidt-Bleibtreu, Bruno/Hofmann, Hans/Hopfauf, Axel, Kommentar zum Grundgesetz, 13. Aufl., Heidelberg 2014. Selmer, Peter/Hummel, Lars, Solidaritätszuschlag – eine unendliche Geschichte?, in: Junkernheinrich, Martin/Korioth, Stefan/Lenk, Thomas/Scheller, Henrik/Woisin, Matthias (Hrsg.), Jahrbuch für öffentliche Finanzen 2013 (Schriften zur öffentlichen Verwaltung und öffentlichen Wirtschaft Band 228), S. 365 ff. Sodan, Helge, Grundgesetz – Beck’scher Kompaktkommentar, 2. Aufl., München 2011.

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Stuhrmann, Gerd, Die Grundzüge der Steuergesetzänderungen 1993, NJW 1993, 2421. Tipke, Klaus, Die Steuerrechtsordnung, Band I: Wissenschaftsorganisatorische, systematische und grundrechtlich-rechtsstaatliche Grundlagen, 2. Aufl., Köln 2000. Tipke, Klaus/Kruse, Heinrich Wilhelm, Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung – Kommentar zu AO und FGO, Köln 1961/2013. Tipke, Klaus/Lang, Joachim, Steuerrecht, 21. Aufl., Köln 2013. Wendt, Rudolf, Eigentum und Gesetzgebung, Schriften zum Wirtschaftsverfassungs- und Wirtschaftsverwaltungsrecht Band 24, Hamburg 1985. Wendt, Rudolf, Finanzhoheit und Finanzausgleich in: Isensee, Josef/Kirchhof, Paul, Handbuch des Staatsrechts, Band IV, § 104 (S. 1021 ff.).

Vom Wert verfassungsrechtlicher Streitigkeiten im Steuerrecht Von Dieter Birk, Münster/Berlin Grundelement des Rechtsstaats ist die Bindung aller staatlichen Gewalt an das Recht, Art. 20 Abs. 3 GG spricht von „Gesetz und Recht“. Damit ist gemeint, dass selbst das parlamentarische Gesetz nicht über dem Recht stehen darf, dass es einen Konflikt zwischen Gesetz und Recht geben kann, in dem das Recht das Gesetz verdrängt. Schon in der Formulierung des Verfassungstextes des Art. 20 Abs. 3 GG („Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung … gebunden“) ist ein gewisses Misstrauen gegen das vom Parlament verabschiedete Gesetz angelegt. Dieses Misstrauen beruht auf historischen Erfahrungen der deutschen Geschichte, in denen Gesetze sich von der Rechtsidee gelöst haben und einen Grad der Ungerechtigkeit erreicht haben, wonach für jeden erkennbar das gesetzliche Recht zu Unrecht pervertierte. In der berühmten Radbruchschen Formel wurde dieser Konflikt 1946 auf den Begriff gebracht.1 Das Misstrauen hat aber auch einen ganz schlichten Grund, der in der Normenhierarchie begründet ist: Parlamentsgesetze können gegen die Verfassung als höherrangiges Gesetz verstoßen. Der Rechtsanwender, insbesondere der Richter, muss diesen möglichen Konflikt vor Augen haben. Es gibt deshalb jenseits der Rechtspervertierung in „unerträgliche Ungerechtigkeit“2 weitere Situationen, in denen der Richter gehalten ist, sich gegen das Gesetz zu stellen. Da der Extremfall der Rechtspervertierung in einem funktionierenden Rechtsstaat ausgeschlossen ist und wir davon ausgehen, dass die Verfassung die Rechts- und Gerechtigkeitsidee weitgehend konkretisiert hat, wird in der Praxis der Konflikt zwischen Gesetz und Recht immer ein Konflikt zwischen Gesetz und Verfassung sein. Dies gilt in besonderem Maße für das Steuerrecht, das sich an den Gerechtigkeitsmaßstäben der Verfassung orientieren sollte.

1 Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, in: Dreier/Paulson (Hrsg.), Gustav Radbruch: Rechtsphilosophie – Studienausgabe, 1999 S. 211; Karl-Ludwig Kunz/Martino Mona, Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtssoziologie, 2006, S. 142 f.; Hasso Hofmann, Einführung in die Rechts- und Staatsphilosophie, 5. Aufl. 2011, S. 114. 2 Kunz/Mona, Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtssoziologie, 2006, S. 145.

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I. Keine Verfassungsbindung ohne Verfassungsstreit Obwohl das Grundgesetz zu den Steuern nur bei der Regelung der Kompetenzverteilung (Art. 105, 106 GG) Aussagen trifft, ist der Einfluss des Verfassungsrechts auf die Steuerrechtsordnung groß. Verfassungsfragen werden über den Verfassungsstreit an das Steuerrecht herangetragen. Verfassungsrechtliche Streitigkeiten gehören heute zum Steueralltag. Die Auseinandersetzungen beginnen nicht selten schon im Gesetzgebungsverfahren, wenn im Rahmen der Ausschussanhörungen oder in wissenschaftlichen Stellungnahmen, die den Gesetzesvorschlag zum Gegenstand haben, verfassungsrechtliche Zweifel vorgebracht werden.3 Von Erfolg gekrönt sind diese kritischen Stellungnahmen selten. Zu ungleich sind die Waffen in dieser doch nur geistig-theoretischen Auseinandersetzung, die es mit häufig politisch verfestigten (Macht-)Positionen aufnimmt. Solche lassen sich mit bloßem Verweis auf verfassungsrechtliche Aussagen oder Werte nicht so einfach räumen. Bestes Beispiel hierfür ist die Reform des Erbschaftsteuergesetzes aus dem Jahre 2008. Gegen den Gesetzentwurf wurden bereits im Gesetzgebungsverfahren von nahezu allen Sachverständigen verfassungsrechtliche Bedenken vorgebracht4, der Gesetzgeber hat das Gesetz dennoch beschlossen. Politischer Machtanspruch lässt sich mit verfassungsrechtlichen Argumenten in der Regel nicht bändigen. Verfassungsrechtlicher Diskurs5, auch wenn er wissenschaftlich fundiert ist, beeindruckt den Gesetzgeber regelmäßig nicht. Dies ändert sich erst, wenn die verfassungsrechtlichen Argumente zum Machtfaktor werden. Dies gelingt, wenn sie in einem streitigen Verfahren vor den Gerichten eingebracht und schließlich vor dem Bundesverfassungsgericht ausgetragen werden. Nur durch den Verfassungsstreit kann der in Gesetzesform gebrachte Wille des Gesetzgebers gebrochen oder geändert werden. Anders als etwa in Frankreich6 setzt ein solcher Streit aber ein gültiges, d. h. in Kraft getretenes Gesetz voraus. Eingriffe des Bundesverfassungsgerichts in laufende Gesetzgebungsverfahren sieht unsere Rechtsordnung nicht vor. Das BVerfG diszipliniert den Gesetzgeber nach getaner Arbeit, es prägt damit unsere Rechtskultur. Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts haben Gesetzeskraft, sie binden die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden (§ 31 BVerfGG). Aber diese Disziplinierung nach Erlass in der Phase der Anwendung des Gesetzes hat Vorwirkungen auf das Gesetzgebungsverfahren. Denn schon im Entstehungsprozess des neuen Gesetzes müssen die Positionen 3

Dazu Klaus Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Band III, 2. Aufl., 2012, S. 1335 f. Zur Expertenanhörung im Bundestag Antje Herbach/Jörg Kühnold, ErbStB 2008, S. 110. 5 An diesem Diskurs hat sich auch der Jubilar immer wieder beteiligt. Siehe etwa Rudolf Wendt, Spreizung von Körperschaftsteuersatz und Einkommensteuerspitzensatz als Verfassungsproblem, in: FS für Friauf, 1996, S. 859; ders., Familienbesteuerung und Grundgesetz, in: FS für Tipke, 1995, S. 47. 6 Dazu Dieter Birk, Rahmenbedingungen für den Grundrechtsschutz im Steuerrecht in Europa, in: FS für Klaus Vogel zum 70. Geburtstag, 2000, S. 157 (169). 4

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des BVerfG und die möglichen späteren Entscheidungsverläufe mit bedacht werden. Die Bundesministerien, die die Bundesgesetze vorbereiten, müssen zumindest die Rechtsprechung des BVerfG ernst nehmen und bei ihren Überlegungen verarbeiten, wenn sie – ihrem politischen Auftrag folgend – versuchen, verfassungsrechtlich problematische Regelungsvorschläge im Entstehungsprozess des Gesetzes vor der bestehenden Rechtsprechung zu rechtfertigen. Mit anderen Worten: Ohne die Rechtsprechung des BVerfG wäre es um die gegen das Gesetz sprechenden verfassungsrechtlichen Argumente noch viel schlechter bestellt. Der Gesetzgeber könnte sie ganz einfach negieren. Vor dem Hintergrund der bestehenden Rechtsprechung und des drohenden Verfassungsstreits muss er zumindest versuchen, die Argumente zu entkräften. Erst durch die Macht des BVerfG erlangt also die Verfassung Autorität. Aber im Gegensatz zum Gesetzgeber kann kein Gericht, auch nicht das BVerfG, von sich aus tätig werden. Es bedarf der „verfassungsrechtlichen Unzufriedenheit“ streittauglicher Prozessparteien, die einen Grad erreichen muss, dass sie den risikoreichen Weg des Prozesses beschreiten. Erst durch den Streit, der regelmäßig erst über die Fachgerichte zum BVerfG führt, entfaltet die Verfassung ihre Wirkung in der Rechtsordnung. Dem Verfassungsprozess kommt also erhebliche Bedeutung zu. Die richterliche Gewalt stellt – wenn sie behutsam und nicht missionarisch ausgeübt7 wird – die notwendige Balance zwischen der Macht des Souveräns und dem Recht her. Dass diese Balance zwischen richterlicher Gewalt und politischer Macht, welche auf die Einhaltung verfassungsrechtlich zweifelhafter Gesetze pocht, empfindlich gestört sein kann, zeigt ein Blick in die Niederlande: Dort steht es den Richtern nicht zu, die Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin zu überprüfen. Es gibt keine richterliche Kontrolle von Gesetzen, auch nicht von Steuergesetzen.8 Was dies in den Fällen bedeutet, in denen Steuerpflichtige vor Gericht rügen, das Steuergesetz würde sie willkürlich ungleich behandeln, hat mein niederländischer Kollege Meussen auf dem Münsteraner Symposion 2009 so formuliert: „… Das heißt, der Steuerpflichtige unterliegt eigentlich immer… Es gibt vielleicht acht oder zwölf Beispiele, wo der Hoge Raad dem Steuerpflichtigen mitgeteilt hat: ,Sie haben Recht, aber Sie bekommen kein Recht‘. Oder anders gewendet: ,Ich sehe einen Verstoß gegen das Gleichheitsprinzip, aber der Gesetzgeber muss das Problem lösen.‘ … Der Steuerpflichtige zieht dann mit leeren Händen von dannen. Er hat zwar Recht gehabt, aber sein Steuerbescheid wurde aufrechterhalten.“9 Gleichheitssatz und Leistungsfähigkeitsprinzip 7 Dazu für die Finanzgerichte Dieter Birk, Die Finanzgerichtsbarkeit – Erwartungen, Bedeutung, Einfluss, DStR 2014, S. 65 (67). 8 Dazu Dieter Birk, Rahmenbedingungen für den Grundrechtsschutz im Steuerrecht in Europa, in: FS für Klaus Vogel zum 70. Geburtstag, 2000, S. 157 (168). 9 Gerard T. K. Meussen, in: Birk (Hrsg.), Steuerrecht und Verfassungsrecht – Zur Rolle der Rechtsprechung bei der verfassungskonformen Gestaltung der Steuerrechtsordnung, 2009, S. 58 f.

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würden – so Meussen – in einem Staat, in dem Gerichte die Steuergesetze nicht auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin überprüfen dürfen, zur hohlen Phrase. Diese Erfahrungen zeigen, dass Grundrechtsschutz immer und nur der Schutz durch den Richter ist. Die Gewährung von Grundrechten in der Verfassungsurkunde kann und wird in der Praxis leerlaufen, wenn diese nicht verfahrensrechtlich abgesichert und durch die Rechtsprechung durchsetzbar sind. Deshalb wurde die Bedeutung der Rechtsweggarantie in Art. 19 Abs. 4 GG von Anfang an als überragend eingeschätzt.10 Thoma hat diese Verfassungsbestimmung als Schlussstein im Gewölbe des Rechtsstaats bezeichnet.11 Und in der Tat: Wahrscheinlich hat kein Artikel des Grundgesetzes den Staat der Bundesrepublik Deutschland so stark beeinflusst und geprägt wie diese doch relativ unscheinbare Vorschrift. Durch Art. 19 Abs. 4 GG rückt die unabhängige dritte Gewalt als Kontrollorgan in die vorderste Front staatlicher Macht. Sie kann zum Widerpart legislativer und administrativer Ausübung von Hoheitsgewalt werden. Fällt darunter auch die Kontrolle der Gesetze, insbesondere der Steuergesetze, ist der Konflikt mit der politischen Leitungsebene vorprogrammiert. Unter dem Grundgesetz kann die Macht des Verfassungsgerichts, den Gesetzgeber zu korrigieren, schon im Vorfeld der Entscheidung zu erheblicher Unruhe in der politischen Leitungsebene führen. So wird der Gesetzgeber, der – wie häufig im Steuerrecht – Gesetzesänderungen rückwirkend in Kraft setzen will, die verfassungsgerichtlich gezogenen Grenzen beachten müssen.12 Da hilft es dann auch nichts, wenn der Gesetzgeber versucht, die rückwirkende Gesetzänderung als bloße Klarstellung zu bezeichnen.13 Erst die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung hat den rechtsstaatlich notwendigen Vertrauensschutz in geltendes Gesetzesrecht gewährt. Wie sehr diese Rechtsprechung schon in den einschlägigen Ausschusssitzungen des Bundestages für Unruhe und besondere Wachsamkeit sorgt, zeigt eine Äußerung des Bundesrichters Brandt, der in der Sachverständigenanhörung zu einzelnen Gesetzesvorschlägen im sog. Kroatiengesetz gewissermaßen den Finger hob und den Gesetzgeber nochmal zu einer genauen verfassungsrechtlichen Prüfung aufforderte, denn bei rückwirkender Steuergesetzgebung begebe sich dieser auf „vermintes Gelände“.14 Aber nicht nur die gesetzgebenden Organe haben angesichts eines drohenden Verfassungsstreits Grund zur Unruhe. Auch der Berater muss sich über verfassungs10

Helmuth Schultze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. I, 3. Aufl., 2013, Art. 19 Abs. 4, Rn. 35. 11 Richard Thoma, Über die Grundrechte im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, in: Recht – Staat – Wirtschaft, Bd. III, 1951, S. 9. 12 Dazu Dieter Birk, Der Schutz vermögenswerter Positionen bei der Änderung von Steuergesetzen, FR 2011, S. 1; Marc Desens, Echter Vertrauensschutz bei „unechten Rückwirkungen“ im Steuerrecht, FR 2013, 148. 13 BVerfG vom 17. 12. 2013, 1 BvL 5/09, FR 2014, S. 326 (mit Anm. Dieter Birk, S. 338). 14 Wortprotokoll der 12. Sitzung des Finanzausschusses des Deutschen Bundestags am 23. Juni 2014 (Protokoll-Nr. 18/12, S. 31).

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rechtliche frühzeitige Bedenken informieren und in einschlägigen Fällen prüfen, ob ein Verfassungsstreit bereits anhängig ist. Er muss seinen Mandanten darauf hinweisen, dass das anzuwendende Gesetz auf dem verfassungsgerichtlichen Prüfstand steht. Unterlässt er dies, kann er sich gegenüber seinem Mandanten schadensersatzpflichtig machen.15 II. Die Steuer als Sonderbeziehung zwischen Staat und Bürger Der Einfluss des Verfassungsrechts ist für das Steuerrecht von besonderer Bedeutung. In der Steuer manifestiert sich das gegenseitige Abhängigkeitsverhältnis des Bürgers vom Staat, aber auch des Staats vom Bürger. Der Staat gewährt die Freiheitsrechte, partizipiert aber finanziell an deren Wahrnehmung, soweit deren Gebrauch wirtschaftlichen Ertrag bringt. Je mehr der Bürger seine wirtschaftlichen Freiheiten zu Einkünftezwecken nutzt, desto mehr profitiert auch der Nutznießer Staat. „Die wirtschaftlichen Freiheitsrechte fordern also den steuerfinanzierten Staat“16, und dieser ist darauf angewiesen, dass der Bürger von seinen wirtschaftlichen Freiheiten Gebrauch macht. Im Steuerrecht ist der Eingriff nicht der Ausnahmefall (wie im Polizeirecht), sondern der Normalfall, das steuerliche Eingriffsrecht sollte deshalb in besonderem Maße von gegenseitiger Rücksichtnahme und vom Gerechtigkeitsgedanken geprägt sein. Das Verhältnis des Bürgers zum Staat in puncto Steuern ist vielschichtig. Jeder Bürger wird wissen, dass es ohne Steuern keine gesunden Staatsfinanzen und ohne gesunde Staatsfinanzen keine hinreichende Daseinsvorsorge gibt. Da Steuern aber nicht mit einer zurechenbaren Gegenleistung verknüpft sind, weiß jeder Bürger ebenso, dass das Gemeinwesen auch funktioniert, wenn die anderen die Steuern zahlen, er selbst sich aber seiner steuerlichen Pflichten entzieht. Seinen individuellen Vorteil, der durch seine Steuerzahlung ausgelöst wird, sieht er als gering an, jedenfalls korreliert er aus der individualistischen Sicht nicht mit der eigenen Steuerlast. Das begünstigt die Trittbrettfahrermentalität. („Let George do it.“) Die Versuchung, den eigenen Egoismus auf Kosten der anderen auszuleben, ist der Steuer immanent. Das Bewusstsein, dass die eigene Steuerverweigerung auch einem selbst schaden könnte, nämlich wenn sie zum „Volkssport“ wird, ist wenig entwickelt. Steuern sind gut, solange sie einen nicht selbst treffen. Auf der anderen Seite stellt die Steuer für den Staat die ständige Versuchung dar, sich leicht und ohne Skrupel Geld zu beschaffen, muss er doch „individuell“ nichts zurückgeben. Diese beiden Mechanismen – individueller Egoismus und staatliche Selbstbedienung – führen dazu, dass auf beiden Seiten rechtliche Sicherungen notwendig sind. Zum einen bedarf es gemeinsamer Wertvorstellungen, die die Bereitschaft zum Steuerzahlen erzeugen, und zum anderen bedarf es der Begrenzung 15

Landgericht Stuttgart vom 29. 7. 2013, 27 O 128/12, juris. Paul Kirchhof, in: Kirchhof/Neumann (Hrsg.), Freiheit, Gleichheit, Effizienz, 2001, S. 13. 16

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des Steuerzugriffs, also rechtlicher Grenzen, die Schutz vor willkürlicher und übermäßiger Besteuerung gewähren. Der gemeinsame Nenner, den jeder als Verteilungsmaßstab steuerlicher Lasten akzeptieren wird, ist die Steuergerechtigkeit, die über das Leistungsfähigkeitsprinzip konkretisiert wird.17 Schwieriger ist die Zügelung des staatlichen Verlangens nach Steuergeld (Klaus Vogel sprach von einer Droge18). Verfassungsrechtlich hilft nur das Übermaßverbot, nachdem der aus Art. 14 Abs. 2 Satz 2 GG abgeleitete Halbteilungsgrundsatz vom 2. Senat des BVerfG wieder aufgegeben wurde.19 Da Steuern nicht abgewehrt werden können, reduziert sich die Frage der Grundrechtskonformität in der Regel auf die gerechte Verteilung der steuerlichen Lasten. Das Gleichmaß der Besteuerung ist Ausdruck des Gedankens der Gemeinlast. Es engt den Staat aber nicht in seiner Aufgaben- und Ausgabenplanung ein, da die Besteuerungshöhe nicht Gegenstand der Kontrolle der Gleichmäßigkeit ist. Demgegenüber ist die freiheitsrechtliche Begrenzung der Steuer Ausdruck individueller Eingriffsabwehr, der sich mit dem Gedanken der Gemeinlast nur schwer verträgt. Steuern müssen deshalb in gewissem Umfang resistent gegenüber den Freiheitsrechten, insbesondere der Eigentumsgarantie des Art. 14 GG sein, da sie sonst ihren Charakter als Gemeinlast verlieren. Andererseits kann nicht zweifelhaft sein, dass die individuelle Steuerlast einen Grad des Besteuerungsübermaßes erreichen kann, der den freiheitsrechtlichen Abwehranspruch gegenüber der Steuerlast realisiert.20 All das sind verfassungsrechtliche Grundfragen, deren Antworten nicht aus dem Verfassungstext entnommen werden können. Im Gegenteil: Das Grundgesetz ist in Bezug auf den grundrechtlichen Schutz des Steuerpflichtigen „konturenarm“21, es enthält zu den gleichheitsrechtlichen Anforderungen und zu den freiheitsrechtlichen Grenzen der Besteuerungsgewalt keinerlei spezifische Aussagen. Die Antworten müssen also Schritt für Schritt über Fallrecht, über verfassungsrechtliche Streitigkeiten, die unterschiedliche Fallkonstellationen betreffen, entwickelt werden.22 Es gibt ca. 300 Senatsentscheidungen des BVerfG, die einen steuerrechtlichen Bezug aufweisen. Dazu kommen ungezählte Kammerentscheidungen, in denen ebenfalls verfassungsrechtliche Aussagen zu steuerrechtlichen Fragen getroffen wurden, die aber nicht den Senat erreichten. Erst über die Vielzahl verfassungsrechtlicher Entscheidungen entwickelt sich eine Dogmatik des Steuerverfassungsrechts, die Richtschnur 17

Dieter Birk, in Leitgedanken des Rechts, FS für Paul Kirchhof, Bd. 2, 2013, § 147 (S. 1591). 18 Klaus Vogel, DStJG 12 (1989), S. 123 (128); dazu Dieter Birk, „… dass unser Staat auch in seinem Steuerrecht wieder ein Rechtsstaat, ein Staat des Rechts werden wird“, in: Lehner (Hrsg.), Reden zum Andenken an Klaus Vogel, 2010, S. 17 (18). 19 BVerfGE 115, 97 (113 f.). 20 BVerfGE 115, 97 (117); Rudolf Mellinghoff, Steuerverfassungsrecht im Gespräch, FR 2012, 989 (990). 21 Paul Kirchhof, Der Grundrechtsschutz des Steuerpflichtigen, AöR128 (2003), S. 1 (6). 22 Kritisch dazu Bernhard Schlink, Abschied von der Dogmatik. Verfassungsrechtsprechung und Verfassungsrechtswissenschaft im Wandel, JZ 2007, 157.

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für die Gesetzgebung und Verwaltung sein kann. Eine bloße Wissenschaft des Steuerverfassungsrechts könnte das nicht leisten, da ihr jegliche Bindungswirkung fehlt. Jedenfalls im „Steuerverfassungsrecht“ sehe ich – anders als Schlink23 – das BVerfG als Motor dogmatischer Rechtswissenschaft. Die bloße Kraft des Arguments reicht nicht für die Herausbildung gefestigter verfassungsrechtlicher Dogmatik, die geeignet wäre, den Steuergesetzgeber zu bändigen.24 Für das dogmatisch unzureichend ausgeformte Steuerrecht bringt die Rechtsprechung des BVerfG immer noch einen Dogmatisierungsschub, auch wenn sie schwer prognostizierbar geworden sein mag.

III. Die Verantwortung des Richters für die Verfassungsmäßigkeit von Steuergesetzen Ohne eine unabhängige richterliche Gewalt gibt es keinen Grundrechtsschutz. Das Grundgesetz hat den Anspruch auf Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4) deshalb richtig im Anschluss an den Grundrechtskatalog geregelt. Jedermann kann gegen Akte der öffentlichen Gewalt, also auch gegen Maßnahmen der Besteuerung, Rechtsschutz vor den zuständigen Gerichten in Anspruch nehmen. Der Richter prüft den Hoheitsakt nicht nur am Maßstab des Gesetzes, sondern auch am Maßstab der Verfassung. Damit wird – mittelbar – das parlamentarische Gesetz Gegenstand der richterlichen Prüfung. Art. 100 GG verbietet dem Richter allerdings aus Respekt vor dem parlamentarischen Gesetzgeber, das Gesetz wegen verfassungsrechtlicher Bedenken außer Acht zu lassen. Er hat das Gesetz zu akzeptieren, auch wenn es seiner politischen Grundüberzeugung widerspricht und ihm verfassungsrechtliche Zweifel kommen. Nur wenn sich seine Zweifel zur Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit verdichten25, er also das einschlägige Gesetz für verfassungswidrig hält und auch keine Möglichkeit der verfassungskonformen Auslegung sieht26, hat er das Verfahren auszusetzen und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen. Der Richter – insbesondere das Revisionsgericht in letzter Instanz – verantwortet auf diese Weise im Einzelfall die Verfassungskonformität des von ihm anzuwendenden Gesetzes und der von ihm vorgenommenen Gesetzesinterpretation.27 Fühlt sich der Bürger durch einen Akt der öffentlichen Gewalt, der das Gesetz vollzieht, in seinen Grundrechten verletzt, so kann er nach Erschöpfung des Rechtswegs im Wege der Verfassungsbeschwerde das Bundesverfassungsgericht anrufen und dort seine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die gesetzliche Grundlage 23

Bernhard Schlink, JZ 2007, 157 (161). Dazu Klaus Tipke, StuW 2013, 97. 25 St. Rspr., siehe etwa BVerfGE 80, 54 (59); Klaus Schlaich/Stefan Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 9. Aufl. 2012, Rn. 145. 26 BVerfGE 87, 114 (133); 78, 20 (24); 127, 335 (356). 27 Paul Kirchhof, Steuerrechtsprechung und Verfassungsrechtsprechung, in: FS für Klaus Offerhaus, 1999, S. 83 (84). 24

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geltend machen (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG). Unabhängig von einer Vorlage des einschlägigen Gesetzes durch Gerichte kann also jeder vom Gesetz betroffene Bürger auch selbst den Weg zum BVerfG suchen. Auf diese Weise kann praktisch jedes Steuergesetz, welches gleichheitswidrig belastende oder freiheitsbeschränkende Auswirkungen gegenüber dem Bürger hat, einer nachträglichen Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht unterzogen werden. Das schafft verfassungsrechtliche Risiken, die häufig im Gesetzgebungsverfahren gar nicht überblickt werden können. Denn der verfassungsrechtliche Diskurs ist in der relativ kurzen Zeit des Gesetzgebungsverfahrens regelmäßig nicht abgeschlossen und erreicht meist erst nach dem Gang durch die Instanzen der Fachgerichte das BVerfG, dessen Richter dann natürlich „klüger“ sind als die Parlamentarier im Gesetzgebungsverfahren. Die Meinungen über die Verfassungskonformität von Gesetzen können weit auseinandergehen. Dies liegt an den abwägungsoffenen Normen des Grundgesetzes. Die Entscheidung für oder gegen die Verfassungskonformität von Gesetzen, insbesondere von Steuergesetzen, ist das Ergebnis eines argumentativen Diskurses, der zu unterschiedlichen Ergebnissen führen kann. Deshalb hat das Grundgesetz dem „normalen“ Richter die Verwerfung von Gesetzen entzogen. Es sollte sich nicht jedes einzelne Gericht über den Willen des Bundes- oder Landesgesetzgebers hinwegsetzen können, indem es die von ihnen beschlossenen Gesetze einfach nicht anwendet.28 Dem „normalen“ Richter verbleibt nur die Befugnis, aber auch die Pflicht, das Gesetz auf seine Verfassungskonformität zu prüfen. Ist er nach sorgfältiger Prüfung zur Überzeugung gelangt, das Gesetz sei verfassungswidrig, dann muss er das Verfahren aussetzen und eine Entscheidung des BVerfG herbeiführen (Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG)29. Nur das BVerfG ist in der Lage, das Gesetz wegen Verfassungswidrigkeit zu verwerfen. Seine Entscheidungen binden alle Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden. Soweit sie die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen zum Gegenstand haben, kommt ihnen Gesetzeskraft zu (Art. 94 Abs. 2 Satz 1 GG, § 31 BVerfGG). Die praktische Bedeutung der Richtervorlage – und ihr weises Konzept der Trennung zwischen Prüfungs- und Verwerfungskompetenz – kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Schlaich/Korioth sehen eine gewisse Parallele zur Verfassungsbeschwerde, da sich jedermann und auch jeder Richter an das BVerfG wenden könne.30 Bis 1993 musste noch der volle Senat über alle Richtervorlagen entscheiden. Da hatten auch der Amtsrichter oder jedes Finanzgericht die Gelegenheit wahrnehmen können, ihre Auffassung von verfassungsrelevanter „Gerechtigkeit“ dem BVerfG in voller Besetzung zu unterbreiten, mochte sie auch das BVerfG dann als „ungenügend“ und die Vorlage als unzulässig zurückweisen. 28 So schon BVerfGE 1, 184 (197); s.a. Klaus Schlaich/Stefan Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 9. Aufl. 2012, Rn. 136 f. 29 Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, 13. Aufl., 2014, Art. 100 Rn. 3. 30 Klaus Schlaich/Stefan Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 9. Aufl., 2012, Rn 139.

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Seit 1994 müssen nur noch die Richtervorlagen der obersten Bundesgerichte und der Landesverfassungsgerichte zwingend vom Senat entschieden werden. Wenn die Kammer einstimmig die Unzulässigkeit feststellt, erreichen die Richtervorlagen aller übrigen Gerichte den Senat nicht mehr (§ 81a BVerfGG). Darüber hinaus hat das BVerfG nach und nach Hürden für die Begründung aufgebaut, die die Anforderungen an eine zulässige Richtervorlage immer mehr erhöht haben.31 Das vorlegende Gericht muss sich eingehend mit den in Rechtsprechung und Literatur entwickelten Rechtsauffassungen auseinandersetzen, es hat die unterschiedlichen Auslegungsmöglichkeiten zu erörtern und zu würdigen und seine Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit eingehend und sorgfältig zu begründen.32 Diese Begründungsanforderungen haben in der Praxis zu einer erheblichen Disziplinierung der Fachgerichte geführt. Gerade im Steuerrecht hat das BVerfG auch in jüngster Zeit immer wieder Richtervorlagen auch des Bundesfinanzhofs als unzulässig zurückgewiesen.33 Aber Finanzgerichte können hartnäckig sein. Ein gutes Beispiel ist die Gewerbesteuer, deren Belastungsfolgen elementaren Vorstellungen von Steuergerechtigkeit widersprechen34, weshalb es immer wieder Finanzgerichte gab, die dagegen – erfolglos – im Wege der Richtervorlage „anrannten“.35 Über die jüngste Vorlage des FG Hamburg36, das die gewerbesteuerlichen Hinzurechnungsvorschriften auf den Prüfstand stellt, hat das BVerfG noch nicht entschieden.37 § 8 Nr. 1 Buchst. a), c) und d) GewStG führen dazu, dass unternehmerische Kosten, die durch Miet-, Pacht- und sonstige Zinsen entstehen, besteuert werden, die Regelungen können in Fällen schwieriger Ertragslage zu einer krassen Übermaßbesteuerung führen. Man sieht, dass sich Gerichte auch durch eine abweisende Rechtsprechungslinie des BVerfG nicht abhalten lassen, für ihre Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit vor dem BVerfG einzutreten. Die Anwendung steuerlicher Vergünstigungen für Ehegatten auf nicht-eheliche Lebensgemeinschaften38 zeigt, dass es manchmal eine Frage der Zeit ist, bis die Argumente in Karlsruhe Gehör finden. 31

Dazu Tobias Franz, Zulässigkeit von steuerlichen Richtervorlagen – Zufall oder Methode, DStR 2011, 2118. 32 BVerfGE 127, 335 (355 f.). 33 Zuletzt Beschluss v. 1. 4. 2014, 2 BvL 2/09, HFR 2014, 556. 34 Heinrich Montag, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 21. Aufl., 2012, § 12 Rn. 1 f.; Johanna Hey, Körperschaft- und Gewerbesteuer und objektives Nettoprinzip, DStR Beihefter 2009 zu Nr. 34, S. 109 ff.; Monika Jachmann, Die Gewerbesteuer im System der Besteuerung von Einkommen, DStJG 25 (2002), S. 195 ff.; Wilfried Schulte, Gewerbesteuer, in: Leitgedanken des Rechts, FS für Paul Kirchhof, 2013, § 188 (S. 2057 ff.). 35 Allen voran das Niedersächsische Finanzgericht, siehe etwa Beschluss vom 23. 7. 1997, IV K 317/91, EFG 1997, 1456; vom 21. 4. 2004, IV K 317/91, EFG 2004, 1065; v. 14. 4. 2005, 4 K 317/91, EFG 2005, 1417. 36 Vorlagebeschluss vom 29. 2. 2012, 1 K 138/10, EFG 2012, 960. 37 Az. des BVerfG: 1 BvL 8/12. 38 Johanna Hey, in Tipke/Lang, Steuerrecht, 21. Aufl., 2012, § 3 Rn. 167 f. stimmt noch der Auffassung des BFH zu, der ein verfassungsrechtliches Gebot der Einbeziehung der nicht-

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Richtervorlagen sind mühsam und erfordern einen hohen Arbeitsaufwand. Auch wenn die hohen Anforderungen des BVerfG mitunter überzogen erscheinen, so ist diese Linie grundsätzlich zu begrüßen, da sich der Richter über eine Richtervorlage aus der Gesetzesbindung befreien kann. Deshalb mag es verständlich sein, dass der „missionarische Richter“39, der einer Richtervorlage nur geringe Erfolgsaussichten einräumt, nach anderen Wegen sucht, um sich aus der Gesetzesbindung zu lösen. Doch diese gibt es nicht. Denn die Unabhängigkeit des Richters rechtfertigt sich aus dessen strikter Gesetzesbindung, er soll sich nicht aus eigener Kraft und schon gar nicht aus rechtspolitischen Gründen aus der Gesetzesbindung befreien können. Dennoch hat es der BFH versucht. Er hat Ausbildungskosten zum Abzug zugelassen, deren Abzugsfähigkeit der Gesetzgeber in § 12 Nr. 5 EStG explizit ausgeschlossen hat40 und insoweit den Gesetzesgehorsam verweigert. Aber er tat dies nicht offen. Der 6. Senat des BFH hat mittels „Auslegung“ versucht, dem Gesetz einen Inhalt zu geben, der seinen steuerpolitischen Vorstellungen entspricht. Der BFH argumentierte – kurz gesagt – so41: Da § 12 Nr. 5 EStG unter dem Vorbehalt einer anderweitigen Regelung in § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG stehe, müsse zunächst geprüft werden, ob dieser Vorbehalt eingreife. Nach § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG seien Aufwendungen für den Steuerpflichtigen für seine Berufsausbildung nur dann Sonderausgaben, „wenn sie weder Betriebsausgaben noch Werbungskosten sind“. Bei Aufwendungen für das Erststudium handle es sich aber um (vorweggenommene) Betriebsausgaben/Werbungskosten, deshalb gelte der Vorrang des Betriebsausgaben-/ Werbungskostenabzugs, die Einschränkung in § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG laufe leer. Dieser Vorrang sei auch auf § 12 Nr. 5 EStG zu beziehen, denn wenn die Einschränkung des Sonderausgabenabzugs leerlaufe, müsse dies wegen des Einleitungssatzes in § 12 EStG auch für diese Vorschrift gelten. Die Argumentation des 6. Senats setzt sich über den Gesetzeswortlaut hinweg. Denn selbst wenn man unterstellt, der Gesetzgeber habe mit einer rechtstechnisch fehlplatzierten Regelung in § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG den Betriebsausgaben-/Werbungskostenabzug nicht einschränken können, bleibt es dennoch beim Abzugsverbot des § 12 Nr. 5 EStG. Der Sinn, den der 6. Senat des BFH dieser Vorschrift unterlegt, ist ganz offensichtlich konträr zum gesetzgeberischen Willen. Er hätte die Vorschrift dem BVerfG vorlegen müssen, um sich aus der Gesetzesbindung zu befreien – frei-

ehelichen Lebensgemeinschaften in das Ehegattensplitting verneint hatte. 2013 hat das BVerfG diesen Ausschluss für verfassungswidrig erklärt, BVerfGE 133, 377. 39 Dieter Birk, Die Finanzgerichtsbarkeit – Erwartungen, Bedeutung, Einfluss, DStR 2014, 65 (67). 40 Dazu Jutta Förster, Lohnt sich Bildung für den Steuerpflichtigen? DStR 2012, 486. 41 BFH vom 28. 7. 2011, VI R 38/10, BStBl. II 2012, 561; anders – nach nochmaliger Gesetzesänderung – BFH vom 5. 11. 2013, VIII R 22/12, BStBl. II 2014, 165.

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lich dann mit dem Risiko, dass das BVerfG ihm nicht folgt und er dem Gesetz Folge leisten muss41a.

IV. Verfassungsstreitigkeiten erzeugen Rationalitätsdruck Das BVerfG arbeitet mit Grundwerten, die nahe an der Politik sind. Die Konkretisierung verfassungsrechtlicher Grundwerte ist immer ein Stück weit auch Politik, wenn auch in dem (verfassungs-)rechtlichen Rahmen, den das BVerfG selbst definiert. Durch die Verfassung ist alles staatliche Handeln, auch wenn es rein politischer Natur ist, rechtlichen Bindungen unterworfen. Der an das Gericht herangetragene Streit geht deshalb nur um Rechtsfragen und erhält dadurch den Charakter von Rationalität. Die Macht des BVerfG legitimiert sich aus der Normenhierarchie.42 Verfassungsrecht bricht Parlamentsrecht (siehe Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG). Im Konfliktfall zwischen Verfassungsrecht und Gesetzesrecht, geht also das Verfassungsrecht vor. Diese klare Trennung zwischen den Normebenen wird allerdings aufgehoben oder zumindest aufgeweicht, wenn Mängeln auf der einfachgesetzlichen Ebene über den „verfassungsrechtlichen Kunstgriff“ mangelnder Folgerichtigkeit verfassungsrechtliche Relevanz zugesprochen wird43 oder wenn Gesetzesdefizite Vollzugsmängel auslösen44 und dies zur Verfassungswidrigkeit des Gesetzes führen soll. Das BVerfG hat über die Rechtsfiguren der „Folgerichtigkeit“45 (Gesetzesrecht ist widersprüchlich) und des „strukturellen Vollzugshindernisses“46 (Gesetzesrecht funktioniert nicht) versucht, verfassungsrechtlich hergeleitete Rationalitätsanforderungen an die Steuerrechtsordnung zu stellen, um dadurch dem Verlust an Systematik47 oder wie es Klaus Vogel drastisch formulierte, dem Verlust des Rechtsgedankens im Steuerrecht entgegenzuwirken.48 Die genannten Rechtsfiguren haben im Steuerrecht erhebliche Bedeutung, da das Verfassungsrecht keine spezifischen materiellen Maßstäbe für das Steuerrecht enthält. Rechtsprechung und Verfassungsrechtswissenschaft haben aus Grundrechten und Organisationsprinzipien (insbesondere Gleichheitssatz und Rechts- und Sozialstaatsprinzip) Grundwertungen für das Steuerrecht abgeleitet, weitere Konkretisierungen folgten. So wird das Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, 41a Mittlerweile hat der 6. Senat die Neuregelung des § 9 Abs. 6 EStG dem BVerfG vorgelegt, BFH vom 17. 7. 2014, VI R8/12, DStR 2014, 2216 (Az. des BVerfG: 2BvL 24/14). 42 Dieter Birk, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 4 AO, 1999, Rn. 240, 275. 43 BVerfGE 99, 280 (290); 93, 121 (136); 105, 17 (47); 123, 111 (122). 44 BVerfGE 84, 239 (268); 96, 1 (6); 110, 94 (112). 45 BVerfGE 122, 210 (231). 46 BVerfGE 84, 239; 110, 94. 47 Dazu Rudolf Mellinghoff, Der Beitrag der Rechtsprechung zur Systematisierung des Steuerrechts am Beispiel des Gebots der Folgerichtigkeit, Ubg 2012, 369. 48 Klaus Vogel, DStJG 12 (1989), S. 123.

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das in der Weimarer Reichsverfassung (Art. 134) noch ausdrücklich enthalten war, als Ausfluss des Gleichheitssatzes gesehen49 und fand weitere Ausformungen in zahlreichen Entscheidungen zum subjektiven50 und neuerdings auch zum objektiven Nettoprinzip51. Prinzipien sind keine Regeln, aber sie geben dem Steuergesetzgeber Orientierung. Sie sollen ihn zur Rationalität anhalten, zwingen ihn aber nicht zu einer bestimmten Ordnung.52 In seinem Beitrag über „Rechtssystem und praktische Vernunft“ unterscheidet Alexy zwischen Regeln und Prinzipien. Regeln sind unbedingt verpflichtend, Prinzipien nicht. Prinzipien sind Optimierungsgebote, während Regeln definitiven Charakter haben. „Als Optimierungsgebote sind Prinzipien Normen, die gebieten, dass etwas in einem relativ auf die rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten möglichst hohen Maße realisiert wird.“53 Wenn das Grundgesetz eine Bestimmung enthielte, wonach die Einkommensteuer nur höchstens 50 % des steuerbaren Einkommens betragen darf, dann wäre ein Höchststeuersatz von 51 % verfassungswidrig. Wird hingegen aus Art. 14 GG ein Prinzip – der Halbteilungsgrundsatz – abgeleitet, so ist dieses nicht im Einzelfall bindend. Prinzipien können in unterschiedlichen Graden erfüllt werden, sie sind abwägungsbedürftig und spannungsgeladen. Es gehört also gewissermaßen zu ihrem Wesen, dass sie nicht immer erfüllt werden. Demgegenüber sind Regeln, also gesetzte Rechtsnormen, stets verbindlich. „Wenn eine Regel gilt und anwendbar ist, dann ist es geboten, genau das zu tun, was sie verlangt, nicht mehr und nicht weniger.“54 Prinzipienkollisionen werden nach einem Wertungsmuster gelöst, d. h. das zurückweichende Prinzip bleibt Teil der Rechtsordnung. „In einem anderen Fall kann die Vorrangfrage umgekehrt zu lösen sein.“55 Bei Regelkollisionen wird hingegen einer Regel die Geltung abgesprochen. Prinzipienkollisionen werden durch den Vorgang der Gewichtung, Regelkollisionen durch den Vorgang des Ausschlusses gelöst.56 Der Vorgang verbindlicher Gewichtung und Konkretisierung der Leitprinzipien im Steuerrecht ist dem BVerfG im Rechtsstreit vorbehalten. Wir können diesen Prozess beobachten, wenn wir einen Blick auf die Entwicklung der Rechtsprechung zum Steuerrecht werfen, die aus „steuerfernen“ Verfassungsnormen mehr und mehr Steu49 Dieter Birk, Leistungsfähigkeitsprinzip, in: Leitgedanken des Rechts, FS für Paul Kirchhof, Bd. 2, 2013, § 147 (S. 1591). 50 BVerfGE 87, 153 (169 f.); 99, 216 (240 f.). 51 BVerfGE 126, 268 (279 f.); siehe neuerdings auch die Vorlagebeschlüsse des BFH vom 14. 11. 2013, VI R 49/12 und VI R 50/12, FR 2014, 376 und 472. 52 Dieter Birk, Ordnungsmuster im Steuerrecht – Prinzipien, Maßstäbe und Strukturen, in: FS für Schaumburg, 2009, S. 3 (6). 53 Robert Alexy, Rechtssystem und praktische Vernunft, Rechtstheorie 1987, S. 405, 407. 54 Robert Alexy, Rechtssystem und praktische Vernunft, Rechtstheorie 1987, S. 405, 408. 55 Robert Alexy, Rechtssystem und praktische Vernunft, Rechtstheorie 1987, S. 405, 409. 56 Robert Alexy, Rechtssystem und praktische Vernunft, Rechtstheorie 1987, S. 405, 408; ders., Theorie der Grundrechte, 3. Aufl., 1996, S. 77.

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errechtsmaßstäbe entwickelt hat57, bis zum Gebot der Widerspruchsfreiheit, das aus dem Rechtsstaatsprinzip und dem Gleichheitssatz abgeleitet wurde.58 Auch dies ist Teil der Klugheit, die hinter dem Art. 100 GG steht, dass die Frage, wann eine Prinzipienverletzung zu einer Verfassungsverletzung führt, nicht den Fachgerichten überlassen, sondern deren Beantwortung allein dem höchsten Gericht übertragen wird. Die Interpretation und Konkretisierung von Verfassungsprinzipien im Steuerrecht ist ein langer Prozess, an dem viele Akteure – Gesetzgeber, Fachgerichte, Vertreter der Wissenschaft – beteiligt sind. Er kann in der Feststellung einer Verfassungsverletzung münden, die am Ende dieses langen Wegs aber allein das BVerfG treffen kann. V. Der Verfassungsstreit als Beitrag zur Steuerrechtskultur Verfassungsgerichtliche Rechtsprechung ist schwer prognostizierbar, schwerer noch als jede andere Rechtsprechung. Dies hängt mit den Schwierigkeiten der Entwicklung einer für das Steuerrecht relevanten verfassungsrechtlichen Dogmatik59, mit der Offenheit der Argumentation und mit der Kasuistik zur Frage nach den Grenzen des Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers zusammen. Dazu kommt, dass auch Verfassungsrichter Menschen sind, die dem Zeitgeist unterliegen und in ihren eigenen Wertungsgefügen leben, und dass deshalb die Rechtsprechung auch immer wieder unterschiedliche Phasen durchläuft. Klaus Vogel hat in einem Vortrag 199860 solche Phasen beschrieben: Auf den „Paukenschlag“ der Entscheidung zur Ehegattenbesteuerung im Jahre 195761 folgten weitere bedeutende Entscheidungen etwa zum System der Umsatzbesteuerung62 oder zur Anerkennung von Ehegattenarbeitsverträgen63. Daran schloss sich eine Phase der Stagnation an, die durch übergroße Zurückhaltung des BVerfG geprägt war. Diese dauerte bis zum Ende der 70er Jahre. Danach gab es einen Schub, der dem Gesetzgeber deutlich engere verfassungsrechtliche Bindungen auferlegte und mit der Entscheidung zur Vermögensteuer und dem darin enthaltenen Halbteilungsgrundsatz seinen Höhepunkt fand.64 Ende der 90-er Jahre ging der Schwung zurück, es trat aber keine Stagnation ein. Im Gegenteil: Die damalige für das Steuerrecht zuständige Berichterstatterin im 2. Senat führte in einem Vortrag im Jahre 2000 aus, dass die Klage über den Verlust des Rechtsgedankens im Steuer57

Paul Kirchhof, AöR 128 (2003), Der Grundrechtsschutz des Steuerpflichtigen, S. 1. Paul Kirchhof, AöR 128 (2003), Der Grundrechtsschutz des Steuerpflichtigen, S. 1 (44). 59 Dazu allgemein – ohne auf das Steuerrecht einzugehen – Bernhard Schlink, Abschied von der Dogmatik. Verfassungsrechtsprechung und Verfassungsrechtswissenschaft im Wandel, JZ 2007, 157. 60 Klaus Vogel, Verfassungsrechtsprechung zum Steuerrecht, 1999. 61 BVerfGE 6, 55. 62 BVerfGE 21, 12. 63 BVerfGE 1 BvR 232/60. 64 BVerfGE 93, 121 (138). Dazu Paul Kirchhof, Der Grundrechtsschutz des Steuerpflichtigen, AöR 128 (2003), S. 1 (12, 19). 58

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recht65 in Karlsruhe Gehör gefunden habe und die Rechtsprechung des BVerfG weiterhin geprägt sei durch „weichenstellende verfassungsgerichtliche Korrekturen“ des Gesetzgebers.66 Und in der Tat hat das Bundesverfassungsgericht nicht nachgelassen, den Gesetzgeber immer wieder in seine verfassungsrechtlichen Schranken zu weisen. Grundlegende Entscheidungen wie etwa zur Verfassungswidrigkeit der Erbschaftsteuer67, der Einschränkung der Abzugsfähigkeit der Aufwendungen für Fahrten zum Arbeitsplatz68 oder für das häusliche Arbeitszimmer69, der Rückwirkung von Gesetzen im Steuerrecht70 zeigen, dass der Gesetzgeber gut daran tut, im Gesetzgebungsverfahren die verfassungsrechtlichen Fragen sorgfältig mit zu bedenken. Dass dieser im Falle der Erbschaftsteuer nun zum zweiten Mal innerhalb weniger Jahre zur verfassungsrechtlichen Ordnung gerufen werden musste, spricht nicht für dessen verfassungsrechtliche Lernfähigkeit.71 Das Demokratieprinzip verlangt, dass der Steuergesetzgeber seine Gestaltungsfreiheit ausschöpfen kann und auch ausschöpft. Das BVerfG hat den Primat der Gesetzgebung stets betont. Der Respekt vor dem parlamentarischen Gesetzgeber gehört in guten wie in schwierigen Zeiten zu den Grundvoraussetzungen des Funktionierens des Staatswesens und der Staatsgewalten. Das BVerfG hat bei der Ausdifferenzierung der verfassungsrechtlichen Anforderungen, die der Gesetzgeber zu beachten hat, Augenmaß zu bewahren, aber es muss auch seinem Auftrag gerecht werden, den Steuerbürger gegenüber dem Steuerstaat in dem verfassungsrechtlich gebotenen Maße zu schützen. Während der Gesetzgeber auf seine Gestaltungsfreiheit pocht, fordert der Steuerbürger, den Gesetzgeber (noch mehr) verfassungsrechtlich zu disziplinieren. Das BVerfG agiert zwischen diesen Fronten, wie ich meine, klug und behutsam. Verfassungsrechtliche Streitigkeiten im Steuerrecht schärfen das Bewusstsein, dass Steuergerechtigkeit immer nur eine „Momentaufnahme“, nämlich das Ergebnis eines nie endenden argumentativen Diskurses im Rahmen des verfassungsrechtlichen Wertgefüges, ist. Der Gesetzgeber ist bei der Besteuerung nicht allmächtig, der Bürger ihr gegenüber nicht ohnmächtig. Der im Zuge der Verfassungsstreitigkeiten stattfindende Diskurs nutzt allen, dem Bürger und dem Staat. Wenn der Finanzmacht des Staats Argumente entgegengesetzt werden können, die sich aus verfassungsrechtlichen 65

Klaus Vogel, Der Verlust des Rechtsgedankens im Steuerrecht, in: DStJG 12 (1989), S. 123; dazu Dieter Birk, „… dass unser Staat auch in seinem Steuerrecht wieder ein Rechtsstaat, ein Staat des Rechts werden wird“, in: Lehner (Hrsg.); Reden zum Andenken an Klaus Vogel, 2010, S. 17. Siehe auch Paul Kirchhof, Der Grundrechtsschutz des Steuerpflichtigen, AöR 128 (2003), S. 1 (5). 66 Lerke Osterloh, Lenkungsnormen im Einkommensteuerrecht, in: DStJG 24 (2001), S. 383 (384). 67 BVerfGE 117, 1. 68 BVerfGE 122, 210 69 BVerfGE 126, 268. 70 BVerfGE127, 1; 127, 31; 127, 61. 71 BVerfG vom 17. 12. 2014, Az: 1 BvL 21/12; juris.

Vom Wert verfassungsrechtlicher Streitigkeiten im Steuerrecht

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Schutzpositionen ergeben, und die Chance besteht, sich damit durchsetzen zu können, so trägt dies ganz wesentlich zur Steuerakzeptanz bei, auf die auch der Staat angewiesen ist.

Verfassungsfragen der naturschutzrechtlichen Ausgleichszahlung bei einer Flexibilisierung der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung Von Christoph Degenhart, Leipzig Einführung Das Recht der Steuern und Abgaben verfassungsrechtlich zu strukturieren, die Schutz- und Begrenzungsfunktion der Finanzverfassung des Grundgesetzes zu entfalten, dies bezeichnet ein zentrales Anliegen des wissenschaftlichen Werks von Rudolf Wendt. Wiederholt haben ihn in diesem Zusammenhang Verfassungsfragen der nichtsteuerlichen Abgaben in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen beschäftigt, so etwa der verfassungsrechtliche Rahmen der Schwerbehindertenabgabe als einer Ausgleichsabgabe1 oder – in Ko-Autorenschaft mit Heike Jochum – der Abwasserabgabe als einer Abschöpfungsabgabe.2 Die Thematik ist von unverminderter Aktualität, wie nicht nur zahlreiche Judikate des Bundesverfassungsgerichts belegen.3 Fragen nach den verfassungsrechtlichen Kriterien für die Erhebung nichtsteuerlicher Abgaben und die Verwendung des Aufkommens hieraus werden durch wiederholte Forderungen aufgeworfen, im Zuge einer Flexibilisierung der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung das naturschutzrechtliche Ersatzgeld als eine nichtsteuerliche Abgabe dem Naturalausgleich bei Eingriffen in den Naturhaushalt gleichzustellen,4 bzw. die Länder dazu zu ermächtigen, diese Gleichstellung im Rahmen ihrer Befugnis zur Abweichungsgesetzgebung5 gemäß Art. 72 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GG vorzunehmen. Eine dahingehende Gleichstellung ist eine Frage zunächst materiellen Verfassungsrechts, wirft aber auch Fragen der Gesetzgebungszuständigkeiten für die Abweichungsgesetzgebung des Art. 72 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GG auf. Denn soweit es sich bei bestimmenden Prinzipien des geltenden Rechts um allgemeine Grundsätze 1

Wendt, ZSR 1992, 541: „Der verfassungsrechtliche Rahmen der Schwerbehindertenabgabe“. 2 Wendt/Jochum, NuR 2006, 333: „Wie weit reicht die Zweckbindung der Abwasserabgabe?“. 3 S. zuletzt zur Filmabgabe nach dem Filmförderungsgesetz BVerfG NVwZ 2014, 646. 4 Dies war vorgesehen in den Koalitionsvereinbarungen von CDU, CSU und FDP für die 17. Legislaturperiode, s. dazu Antrag der Fraktionen der CDU und der FDP im Niedersächsischen Landtag – Drs. 16/2412. 5 Zur Abweichungsgesetzgebung vgl. u. a. Köck/Wolf, NVwZ 2008, 353; Fischer-Hüftle, NuR 2007, 78; Selmer, ZG 2009, 33; Degenhart, DÖV 2010, 422.

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i. S. dieser Bestimmung6 handeln sollte, kann der Bundesgesetzgeber gehindert sein, den allgemeinen Grundsatz aufzuheben oder ihn der Abweichungsgesetzgebung der Länder zu öffnen.7 Wie sich ein derartiger Bedeutungszuwachs und ein Funktionswandel des Ersatzgeldes auf die verfassungsrechtlichen Anforderungen an dessen Erhebung und die Verwendung auswirken, dieser vorrangig finanzverfassungsrechtlichen Fragestellung ist im Folgenden nachzugehen.8 Hierfür bedarf es zunächst einer Vergewisserung der materiell-verfassungsrechtlichen Vorgaben. I. Die naturschutzrechtliche Eingriffsregelung als allgemeiner Grundsatz – Gleichstellung des Ersatzgelds als Verfassungsfrage 1. Die naturschutzrechtliche Pflichtenkaskade – materiellrechtliche Fragestellung Zu den zentralen Instrumenten des modernen Naturschutzrechts zählt die naturschutzrechtliche Eingriffsregelung des § 13 BNatSchG9 mit ihrer „Pflichtenkaskade“10 Vermeidung – Naturalausgleich – Geldausgleich. Es gilt zunächst das Vermeidungs- und Minimierungsgebot des § 15 Abs. 1 Satz 1 BNatSchG. Es handelt sich hierbei nach der normativen Festlegung des § 13 BNatSchG um einen allgemeinen Grundsatz und damit um einen abweichungsfesten Kern des Naturschutzrechts.11 § 15 BNatSchG legt diese Stufenfolge konkretisierend fest. In der so begründeten Stufenfolge gilt: Vermeidbare Beeinträchtigungen sind zu unterlassen. Ob die Vermeidungspflicht besteht und wie weit sie reicht, dies ist nach Maßgabe der Verhältnismäßigkeit zu bestimmen.12 Unvermeidbare Beeinträchtigungen sind durch Ausgleichs- oder Ersatzmaßnahmen zu kompensieren, § 15 Abs. 2 Satz 1 BNatSchG. Ist dies nicht möglich, kann gemäß § 15 Abs. 5 BNatSchG der Eingriff nur zugelas6 Zur Definition der allgemeinen Grundsätze s. etwa Hendrischke, NuR 2007, 454 ff.; Meßerschmidt, UPR 2008, 361 (385); Fischer-Hüftle, NuR 2007, 78; Köck/Wolf, NVwZ 2008, 353 (355); Schulze-Fielitz, NVwZ 2007, 250 (256); Appel, NuR 2010, 171 (172 f.); Degenhart, DÖV 2010, 422 (428 f.); Franzius, ZUR 2010, 346 (348 ff.). 7 Degenhart, in: Festschrift Kloepfer, 2013, S. 21 (27 ff.). 8 Zum Ersatzgeld im Fall der Nichterfüllung einer Rechtspflicht s. Wendt, ZSR 1992, 541 (556). 9 Gesetz über Naturschutz und Landespflege (Bundesnaturschutzgesetz – BNatSchG) vom 29. Juli 2009, BGBl. I S. 2542, zul. geändert durch G.v. 07. August 2013, BGBl I S. 3154. 10 Vgl. Scheidler, UPR 2010, 135 (136): „Pflichtenkaskade“; ebenso Funke, SächsVBl 2010, 153 (157); vgl. zur abgestuften Prüfung Maas/Schütte, in: Koch, Umweltrecht, 3. Aufl. 2010, § 7 Rdn. 48 ff.; Koch, in: Kerkmann (Hrsg.), Naturschutzrecht in der Praxis, 2010, § 4 Rdn. 27 f.; Gellermann, in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht, Bd. IV, Vorb. BNatSchG (2009) Rdn. 4 ff. 11 Zur Frage einer gesetzgeberischen Definitionskompetenz insoweit s. Degenhart, DÖV 2010, 422 (429); Schulze-Fielitz, NVwZ 2007, 250 (256). 12 Gellermann, in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht, Bd. IV, Vorb. BNatSchG (2009) Rdn. 6.

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sen werden, wenn Belange des Naturschutzes und der Landschaftspflege in der Abwägung nicht überwiegen. In diesem Fall, also bei Zulassung des Eingriffs, greift die Ersatzzahlung ein. Diese ist nach der klaren Systematik der gesetzlichen Regelung nachrangig. Sie ist der Naturalrestitution nicht gleichwertig. Wiederholt jedoch stand das Primat der Naturalrestitution, das bereits im Vorfeld des Bundesnaturschutzgesetzes 2009 in Frage gestellt worden war,13 zur Diskussion, mit dem Ziel einer Flexibilisierung der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung,14 vornehmlich im Wege einer Öffnung für abweichende Landesgesetzgebung – die geltende Eingriffsregelung ist in § 13 BNatschG als allgemeiner Grundsatz des Naturschutzes definiert. Der Bundesgesetzgeber hat in § 13 BNatSchG von seiner Befugnis, abweichungsfeste Kerne i.S.v. Art. 72 Abs. 4 Nr. 2 GG zu bestimmen, in kompetenzgerechter Weise Gebrauch gemacht.15 Die wesentlichen Elemente der Eingriffsregelung – Verursacherpflichten, Vermeidungsgebot, Vorrang der Naturalkompensation – sind damit einer abweichenden Gesetzgebung der Länder nicht zugänglich. Ersatzgeld und Naturalrestitution unter Abkehr von der bisherigen Stufenfolge als gleichrangig einzustufen, bedingt also eine dahingehende Zurücknahme der allgemeinen Grundsätze des Naturschutzes. Dies ist nicht von vornherein ausgeschlossen – dass bestimmte Inhalte des Naturschutzrechts vom Gesetzgeber als allgemeine Grundsätze definiert werden, bedeutet noch nicht, dass sie damit verfassungskräftig festgeschrieben wären.16 Durch eine Gleichstellung des Ersatzgeldes mit Maßnahmen der Naturalrestitution würde jedoch die geltende Eingriffsregelung in ihren prägenden Elementen systemwidrig abgeschwächt. Es handelt sich um konkretisiertes Verfassungsrecht. Dies indiziert einen relevanten normativen Rückschritt17 und berührt Kerngehalte des verfassungsrechtlichen Schutzgebots des Art. 20a GG, insbesondere durch Minderung des normativen Schutzniveaus, auch wenn ein generelles „Rückschrittsverbot“ aus Art. 20a GG nicht abgeleitet werden kann.18

13

BR-Drucks. 278/09 S. 8; vgl. dazu Gellermann, NVwZ 2010, 73 (76). Vgl. dazu Louis, NuR 2004, 714; Wolf, NuR 2004, 6; Gellermann, in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht, Bd. IV, § 16 BNatSchG (2010) Rdn.1. 15 Meßerschmidt, UPR 2008, 361 (366); Becker, DVBl 2010, 754 (757); Köck/Wolf NVwZ 2008, 353 (359); Schulze-Fielitz NVwZ 2007, 249 (253); Degenhart, in: Sachs, GG, 7. Aufl. 2014, Art. 74 Rdn. 123. 16 Zur Frage einer Definitionskompetenz s. Degenhart, in: Sachs, GG, 7. Aufl. 2014, Art. 74 Rdn. 101; ders., in: Festschrift Kloepfer, 2013, S. 21 (24, 26); ders., DÖV 2010, 422 (428). 17 Vgl. zur Indizwirkung der Systemwidrigkeit Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 87 ff. 18 Vgl. Kloepfer, BonnK, Art. 20a (2005) Rdn. 35 f.; Epiney, in: von Mangoldt/Klein/ Starck, GG II, 6. Aufl. 2010, Art. 20a Rdn. 68. 14

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2. Funktionen des Ersatzgeldes – die finanzverfassungsrechtliche Fragestellung Eine Gleichstellung des Ersatzgeldes mit Maßnahmen der Naturalrestitution verändert dessen Funktion im Rahmen des naturschutzrechtlichen Instrumentariums, als dessen „systemgerechten Bestandteil“ das Bundesverwaltungsgericht die naturschutzrechtlichen Ausgleichszahlungen bezeichnet hat.19 Würde die Gleichstellung des Ersatzgeldes mit Maßnahmen der Naturalrestitution im Rahmen der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung deren Schutzwirkungen maßgeblich abschwächen, so ist andererseits in Erwägung zu ziehen, ob dergestalt nachteilige Auswirkungen auf das Staatsziel des Art. 20a GG durch weitergehende normative Anforderungen an die Verwendung von Ersatzgeldern ausgeglichen oder abgemildert werden können. Hier wird zum einen den finanzverfassungsrechtlichen Vorgaben für die Erhebung und die Verwendung eines Ersatzgeldes nachzugehen, zum anderen der verfassungsrechtliche Rahmen für entsprechende Vorgaben des Gesetzgebers, auch bei Festlegung abweichungsfester Grundsätze, abzugrenzen sein. Dabei wird die Frage zu beantworten sein, ob und in welchem Maße Art. 72 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 GG die Befugnis des Bundesgesetzgebers begrenzt, im Rahmen allgemeiner Grundsätze dahingehende Vorgaben zu normieren. Hierfür bedarf es zunächst der Vergewisserung über den Standort der naturschutzrechtlichen Ausgleichzahlung im System der grundgesetzlichen Finanzverfassung. II. Die naturschutzrechtliche Ersatzzahlung im System des Finanzverfassungsrechts 1. Ersatzgeld und Verursacherprinzip Das Ersatzgeld wird in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts als Ausdruck des Verursacherprinzips gewertet.20 Es soll für den Fall, dass ein realer Ausgleich im Sinne des Verursacherprinzips nicht möglich ist, der „weiteren Denaturierung unserer Umwelt … entgegenwirken“ und an anderer Stelle die Leistungsfähigkeit des Naturhaushalts herstellen oder bewahren. Als Fortschreibung des Verursacherprinzips ist die Verpflichtung zu Ausgleichszahlungen damit „systemgerechter Bestandteil des naturschutzrechtlichen Instrumentariums“.21 Dass die Ersatzgeldzahlung die Funktion hat, an anderer Stelle als der des Eingriffs einen realen Ausgleich durchzuführen, kommt auch in den Gesetzesmaterialien für das BNatSchG 1976 zum Ausdruck, das als Rahmengesetz selbst keine derartigen Abga19 BVerwGE 81, 220 (225); s. ferner zu Ausgleichszahlungen im Rahmen der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung BVerwGE 74, 308 (309); 110, 370 (387 ff.); 108, 186 (214 ff.); vgl. auch „zu „Verursacherabgaben“ Wendt/Jochum, NuR 2006, 331 (334 f.); Kirchhof, HStR V, 3. Aufl., 2007, § 119 Rdn. 99 ff. 20 Vgl. zum umweltrechtlichen Verursacherprinzip Wendt/Jochum, NuR 2006, 331 (334 f.). 21 BVerwG, U.v. 20. 01. 1989, BVerwGE 81, 220 (225); s. ferner zu Ausgleichszahlungen im Rahmen der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung BVerwGE 74, 308 (309); 110, 370 (387 ff.); 108, 186 (214 ff.).

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ben festlegte, die Länder jedoch zum Erlass von Vorschriften auch über Ausgleichszahlungen ermächtigte.22 Dort ist von „Ersatzvornahmen der öffentlichen Hand anstelle der Verursacher auf deren Kosten“ die Rede,23 wie auch in den Aussagen des Bundesverwaltungsgerichts zu den seinerzeitigen landesrechtlich vorgesehenen Ausgleichszahlungen, deren Schadensausgleichs- oder Wiedergutmachungsfunktion betont wird.24 Der Begriff der „Ersatzvornahme“ wird hierbei nicht im technischen Sinne des Verwaltungsvollstreckungsrechts gebraucht, sondern weitergehend zur Kennzeichnung der maßgeblichen Zwecksetzung der Ausgleichszahlung im Sinne des Verursacherprinzips.25 In einzelnen Ländern war diese in der Tat unter der Geltung des BNatSchG von 1976 bzw. 2002 als Verpflichtung des Verursachers ausgestaltet, die Kosten einer ihm obliegenden und von der Behörde durchgeführten Ersatzvornahme zu tragen.26 Andere landesgesetzliche Bestimmungen bezogen die Ausgleichspflicht demgegenüber von vornherein auf vom Verursacher nicht ausgleichbare Beeinträchtigungen. Das Bundesverwaltungsgericht stufte die seinerzeit nach Maßgabe der Rahmengesetzgebung des BNatSchG 1976 landesrechtlich geregelte naturschutzrechtliche Ausgleichsabgabe als Sonderabgabe ein, jedoch als Sonderabgabe eigener Art, die nicht den in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelten besonderen Anforderungen an Sonderabgaben mit Finanzierungszweck27 entsprechen musste.28 Dabei handelte es sich um Abgaben nach baden-württembergischem Landesrecht, die zweckgebunden einem Naturschutzfonds zuzuführen waren, deren Höhe sich dabei nicht primär an den Kosten der Ersatzvornahme orientierte.29 Auf die unmittelbar durch Bundesrecht festgesetzten, zweckgebundenen Ausgleichszahlungen nach § 15 Abs. 6 BNatSchG können diese Aussagen übertragen werden. Auch sie dienen dem Zweck, einen anderweitigen Ausgleich zu schaffen für die beim Eingriff nicht kompensierbaren Beeinträchtigungen und hierfür den Verursacher heranzuziehen.

22

Vgl. hierzu grundsätzlich BVerwGE 74, 308 Koch, in: Kerkmann (Hrsg.), Naturschutzrecht in der Praxis, 2010, § 4 Rdn. 57; Scheidler, UPR 2010, 134 (138). 23 BT-Drs. 7/5251, S. 9; s. hierzu BVerwGE 81, 220 Rdn. 8; zur unterschiedlichen Ausrichtung landesrechtlicher Regelungen als Kostenersatz oder öffentliche Abgabe s. Köck, Die Sonderabgabe als Instrument des Umweltschutzes, 199, S. 67 f. 24 BVerwG, U.v. 04. 07. 2096, BVerwGE 74, 308 Rdn.12. 25 Vgl. Kloepfer, Umweltrecht, 3. Aufl. 2004, § 11 Rdn.104. 26 Vgl. Breuer, Umweltschutzrecht, in: Schmidt-Aßmann, Besonderes Verwaltungsrecht, 12. Aufl. 2003 Rdn. 5.87; Kloepfer, Umweltrecht, 3. Aufl. 2004, § 11 Rdn.108. 27 S. hierzu zuletzt BVerfG NVwZ 2014, 646 Rdn. 121; vorgehend BVerfGE 108, 187 (217 f.); 110, 370 (389); 113, 128 (150); 122, 316 (334); 122, 316 (334); 123, 132 (142); 124, 235 (244); 124, 348 (366); 132, 334 (350). 28 BVerwGE 74, 308 Rdn. 12 f.; so auch für den Ausgleichsbetrag für Stellplätze BVerfG (Kammer), B.v. 05. 03. 2009 – 2 BvR 1824/05 – Rdn. 15; s. zur Ausgleichsabgabe Wendt, ZSR 1992, 541 (542 f.). 29 Vgl. Kloepfer, Umweltrecht, 3. Aufl. 2004, § 11 Rdn. 107 .

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2. Ersatzgeld als „Sonderabgabe eigener Art“ Derartige Abgaben werden also als „Sonderabgabe eigener Art“30 in Unterscheidung von den Sonderabgaben im engeren Sinn mit vorrangigem Finanzierungszweck31 nicht unter allen Gesichtspunkten den in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelten finanzverfassungsrechtlichen Anforderungen an Sonderabgaben unterstellt.32 Dies steht im Einklang mit der Aussage des Bundesverfassungsgerichts in seiner Entscheidung zum baden-württembergischen „Wasserpfennig“, nach der das Grundgesetz keinen abschließenden Katalog zulässiger Abgabentypen enthält.33 Die naturschutzrechtliche Ausgleichsabgabe des § 15 Abs. 6 BNatSchG zieht den Verursacher eines Eingriffs zur Kompensation für einen Eingriff heran, der ihm gestattet wird, obschon er nicht naturaliter auszugleichen ist. Der Verursacher greift damit auf natürliche Ressourcen zu, die ein Gut der Allgemeinheit darstellen.34 Es handelt sich um Ressourcen, deren Nutzung, wenn sie einen Eingriff bedeutet, einer besonderen Erlaubnis bedarf,35 und damit einer öffentlich-rechtlichen Nutzungsregelung unterliegt.36 Dem Verursacher wird gestattet, dieses Gut der Allgemeinheit zu nutzen. Er wird, wenn ihm der mit nicht ausgleichbaren Beeinträchtigungen verbundene Eingriff gestattet wird, insoweit von der Verpflichtung ausgenommen, derartige Beeinträchtigungen zu vermeiden.37 Er zieht gleichzeitig aus der Nutzung dieses Guts der Allgemeinheit einen besonderen Vorteil.38 Ein derartiger Sondervorteil, wie er in der Nutzung begrenzter natürlicher und einer öffentlich-rechtlichen Nutzungsregelung39 unterliegender Ressourcen liegt, rechtfertigt die Erhebung einer Abgabe, die, wie auch bei Gebühren und Beiträgen als Vorzugslasten, diesen Vorteil ausgleichen soll gegenüber den Anforderungen der bundesstaatlichen Finanzverfassung. Die naturschutzrechtliche Ausgleichsabgabe ist daher hinsichtlich ihres Belastungsgrundes vorrangig unter den Abgabentypus der Ressourcennutzungsgebühren oder Vorteilsabschöpfungsabgaben zu fassen;40 30

BVerwGE 74, 309. S. hierzu BVerfG (K), B. v. 05. 03. 2009 – 2 BvR 1824/05 – Rdn. 15; BVerwGE 139, 42 (53, 56 f.) Rdn. 34, 38 ff. 32 Vgl. auch für Ausgleichsabgaben Wendt, ZSR 1992, 541 (542 f.). Wendt, ZSR 1992, 541 (555 f.). 33 BVerfGE 93, 319 (342); Kirchhof, HStR V, 3. Aufl., 2007, § 119 Rdn. 18. 34 Vgl. zu diesem Gesichtspunkt BVerfG (Kammer), B.v. 05. 03. 2009 – 2 BvR 1824/05 – Rdn. 15 unter Bezugnahme auf BVerfGE 93, 319 (345). 35 Vgl. auch für die Abwasserabgabe Wendt/Jochum, NuR 2006, 331 (335). 36 BVerfGE 93, 319 (345). 37 Hierauf abstellend Voßkuhle, Das Kompensationsprinzip, 1999, S. 221 ff., 242 ff. 38 So auch die maßgeblichen Gesichtspunkte bei BVerfGE 93, 319 (342). 39 Entscheidend ist hier insbesondere der Bezug zu einer Rechtspflicht, vgl. Köck, Die Sonderabgabe als Instrument des Umweltschutzes, 1991, S. 58 f., 66 ff., 120 ff.; Wendt, ZSR 1992, 541 (556). 40 BVerfGE 93, 319 (345); Koch, in: Festschrift Selmer (2006), S. 769 (785); Kirchhof, HStR V, 3. Aufl., 2007, § 119 Rdn. 99 ff.: Verursacherabgabe; zu weiteren Differenzierungen 31

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sie weist Elemente der Ausgleichsabgabe auf, die erhoben wird für die Nichterfüllung einer öffentlich-rechtlichen Pflicht.41 3. Finanzverfassungsrechtliche Legitimation: rechtfertigender Grund für die Abgabenerhebung Verfassungsrechtlich entscheidend ist jedoch das Vorliegen eines sachlichen Grundes für die Abgabenerhebung.42 Ein solcher sachlicher, die Abgabenerhebung verfassungsrechtlich im Grundsatz rechtfertigender Belastungsgrund liegt, wie dargelegt, zum einen im Ausgleich des wirtschaftlichen Wertes eines – einer Erlaubnis bedürftigen – Zugriffs auf eine natürliche Ressource als eines Gutes der Allgemeinheit, also in einer zumindest teilweisen Abschöpfung des Sondervorteils des Ressourcenzugriffs. Vor allem aber ist legitimer Grund für die Erhebung der Abgabe ihre Zielsetzung einer Wiedergutmachung43 des Eingriffs in Natur und Landschaft und die Kompensation einer an sich dem Verursacher obliegenden, von ihm aber nicht erfüllten Rechtspflicht. Insoweit weist die naturschutzrechtliche Ersatzzahlung aber auch Elemente der Kostentragungspflicht unter dem Aspekt einer Ersatzvornahme auf.44 Sie hat die Funktion einer vorgezogenen Erstattung der Aufwendungen für die Kompensation dieses Zugriffs und der damit verbundenen Beeinträchtigungen. Die Abgabe kann in diesem Sinn als das „Surrogat“ für die Erfüllung einer öffentlich-rechtlichen Realpflicht gedeutet werden;45 insoweit kann auch von einem besonderen Abgabentypus der Kompensationsabgabe gesprochen werden,46 die ihre Rechtfertigung nicht zuletzt auch im umweltrechtlichen Verursacherprinzip findet.47 In dieser Funktion steht die naturschutzrechtliche Ersatzzahlung als öffentlichrechtliche Abgabe im Einklang mit den Anforderungen der Finanzverfassung der Art. 104a ff GG, auch soweit das Finanzverfassungsrecht des Grundgesetzes auf eine vorrangige Staatsfinanzierung durch Steuern ausgerichtet ist48 und Verleiim Schrifttum s. Voßkuhle, Das Kompensationsprinzip, 1999, S. 219; zur Abschöpfungsabgabe s. Wendt/Jochum, NuR 2006, 331; BVerfGE 78, 249 (267); 101, 141 (150); 110, 370 (388). 41 BVerfGE 92, 91 (116) – zur Ausgleichsabgabe s. auch Wendt, ZSR 1992, 541 sowie Wendt/Jochum, NuR 2006, 331 (338 f.). 42 BVerfGE 124, 235 (244); 132, 334 (349); BVerfG NVwZ 2014, 646 Rdn. 121. 43 Voßkuhle, Das Kompensationsprinzip, 1999, S. 221, der demgegenüber die Vorteilsabschöpfung nur als Sekundärzweck sieht, a. a. O. S. 225; die Vorteilsabschöpfungsfunktion betonend BVerwGE 74, 308 (309); 81, 220 (225 f.) – ähnlich BVerfGE 78, 249 (267); zur Abschöpfungsabgabe im Bezug zur Ausgleichsabgabe s. Wendt/Jochum, NuR 2006, 331 (339). 44 So Voßkuhle, Das Kompensationsprinzip, 1999, S. 217; ebenso auch Köck, Die Sonderabgabe als Instrument des Umweltschutzes, 1991, S. 58, 120 ff. 45 Vgl. Voßkuhle, Köck jew. a. a. O. 46 Voßkuhle, Das Kompensationsprinzip, 1999, S. 220 ff. 47 Ähnlich Kirchhof, HStR V, 3. Aufl., 2007, § 119 Rdn. 99 ff.; Wendt/Jochum, NuR 2006, 331 (334 f.). 48 Vgl. Kirchhof, HStR V, 3. Aufl., 2007, § 119 Rdn. 1 ff.

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hungsgebühren als Entgelt für eine öffentlich-rechtliche Erlaubnis nur begrenzten Raum eröffnet.49 Die Ersatzzahlung ist auch, da sie als Kompensation einer Rechtspflicht und als Ausgleich für den konkreten Eingriff in Natur und Landschaft konzipiert ist und sich am Verursacherprinzip orientiert, klar von der Steuer zu unterscheiden.50 Die vom Bundesverfassungsgericht für die landesrechtlichen Ausgleichsbeträge für Stellplätze getroffene Feststellung, dass die Abgabe entscheidend durch ihre Ausgleichsfunktion geprägt ist, deswegen in einem speziellen Sachund Zweckzusammenhang steht und sich von den Steuern unterscheidet,51 gilt auch für eine naturschutzrechtliche Ausgleichsabgabe, wie sie das Ersatzgeld im Rahmen der Eingriffsregelung darstellt. Im Ergebnis ist also die Ersatzzahlung im Rahmen der Eingriffsregelung des BNatSchG unter den Abgabentypus der Sonderabgaben im weiteren Sinn zu fassen. Sie ist insofern Abschöpfungsabgabe, als sie den Sondervorteil eines Zugriffs auf beschränkte, einer öffentlich-rechtlichen Nutzungsregelung unterliegenden natürliche Ressourcen ausgleicht. Sie kann hierin auch als Umweltnutzungsabgabe,52 als Ausgleichsabgabe oder Kompensationsabgabe oder auch Verursacherabgabe bezeichnet werden,53 die der Kompensation einer dem Verursacher an sich obliegenden Rechtspflicht dient.54 III. Naturschutzrechtliches Ersatzgeld im Fall einer Gleichstellung mit Naturalrestitution 1. Funktion des Ersatzgeldes bei Gleichstellung mit Naturalrestitution Eine Gleichstellung der naturschutzrechtlichen Ersatzzahlung mit Maßnahmen der Naturalrestitution würde erneut die Frage nach deren finanzverfassungsrechtlichem Standort aufwerfen. In ihrer Funktion tritt der Gesichtspunkt der Wiedergutmachung, der Kompensation, dann jedoch zurück. Die Ersatzgeldzahlung ist dann nicht mehr in erster Linie Kompensation für die vorrangige, aber bei dem konkreten Vorhaben nicht realisierbare Verpflichtung zur Naturalkompensation von Beeinträchtigungen der Schutzgüter des BNatSchG. Auch deshalb erscheint es geboten, insbesondere das Erfordernis eines räumlichen Zusammenhangs in der Zweckbestimmung der Ersatzgelder verbindlich durch Gesetz festzulegen. Andernfalls 49 Vgl. Vogel/Walter, in: BonnK, Art. 105, Zweitb. 1971 Rn. 40; F. Kirchhof, DVBl 1987, 554 ff.; Koch, in: Festschrift Selmer (2006), S. 769 (787). 50 Vgl. hierzu BVerfGE 93, 342 (346 f.); vgl. für den Ausgleichsbetrag für Stellplätze BVerfG (K), B.v. 05. 03. 2009 – 2 BvR 1824/05 – Rdn. 13 f. – ; vgl. allgemein für die „Kompensationsabgabe“ Voßkuhle, Das Kompensationsprinzip, 1999, S. 241. 51 BVerfG (K), B. v. 05. 03. 2009 – 2 BvR 1824/05 Rdn. 16 – iuris. 52 Franzius, ZUR 2010, 346 (352). 53 So für den „Wasserpfennig“ – BVerfGE 93, 319 –Köck, Die Sonderabgabe als Instrument des Umweltschutzes, 1991, S. 142. 54 Vgl. Kirchhof, HStR V, 3. Aufl., 2007, § 119 Rdn. 99 ff.; Wendt, ZSR 1992, 541 (556).

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würde sich die Abgabe ihrem Charakter nach einer Verwaltungsgebühr oder Verleihungsgebühr55 annähern. Der Sach- und Zweckzusammenhang der naturschutzrechtlichen Ersatzzahlung mit den dem Verursacher an sich obliegenden Pflichten zur Naturalkompensation ist daher zu wahren. Eben hieraus erhält die naturschutzrechtliche Ersatzzahlung oder Ausgleichsabgabe ihre maßgebliche finanzverfassungsrechtliche Legitimation; eben dieser Zweckzusammenhang ist wesentliches Kriterium der sachlichen Rechtfertigung einer Sonderabgabe im weiteren Sinn eines Vorteilsausgleichs. Das naturschutzrechtliche Ersatzgeld kann auch dann in Einklang mit den Anforderungen der Finanzverfassung gebracht werden, wenn es im Zuge einer Flexibilisierung der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung mit Maßnahmen der Naturalkompensation gleichgestellt wird und hierdurch erhöhte Bedeutung erlangt. Die zu kompensierende „Naturallast“ muss sich zudem für derartige Abgaben „in der Rechtswirklichkeit als reale Belastung aktualisieren“ und darf nicht nur „in ihrem Surrogat, der Geldlast“ in Erscheinung treten – ist Letzteres der Fall, so verfehlt sie ihren Ausgleichszweck56 und kann hieraus sachlich nicht gerechtfertigt werden. Auch deshalb sind der Kompensationscharakter der Ersatzzahlung und ihre sachliche Nähe zum Verursacherprinzip zu wahren. 2. Anforderungen an die Verwendung des Ersatzgeldes a) Sachlicher Belastungsgrund und räumlich-funktionaler Zusammenhang Aus dieser finanzverfassungsrechtlichen Qualifikation der naturschutzrechtlichen Ausgleichsabgabe bzw. Ersatzzahlung ergeben sich die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Anforderungen an deren Erhebung und Verwendung. Die Abgabe ist, wie dargelegt nicht als Sonderabgabe mit Finanzierungszweck zu qualifizieren. Denn sie dient primär dazu, die dem Verursacher anzulastenden Beeinträchtigungen von Natur und Landschaft, die nicht im Zusammenhang mit dem Eingriff selbst ausgeglichen werden können, durch anderweitige Maßnahmen zu kompensieren und den wirtschaftlichen Vorteil auszugleichen, den der Verursacher aus dem Zugriff auf Natur und Landschaft als einem Gut der Allgemeinheit zieht. Hierin liegt die sachliche Rechtfertigung der Abgabe, hieraus folgen verfassungsrechtliche Vorgaben für die Verwendung des Aufkommens aus der Abgabe.57 In diesem Sinn ist es auch gerechtfertigt, von einer Sonderabgabe eigener Art zu sprechen. Sie weist auch im Fall eine Gleichstellung mit der Naturalrestitution Elemente einer Abschöpfungsund Kompensationsabgabe auf,58 an die auch für die Verwendung des Abgabenaufkommens nicht diejenigen Anforderungen gestellt werden, die für Sonderabgaben 55

Zu deren eingeschränkter Zulässigkeit s. Kirchhof, HStR V, 3. Aufl., 2007, 119 Rdn. 37. Vgl. BVerfGE 92, 91 (118 ff.). 57 S. Voßkuhle, Das Kompensationsprinzip, 1999, S. 242 ff. 58 So auch BVerfG (K), B. v. 05. 03. 2009 – 2 BvR 1824/05 Rdn. 26 – iuris für die Stellplatzablösung. 56

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im engeren Sinn gelten, also etwa das Erfordernis der gruppennützigen Verwendung.59 Sie kann nur in dem Sinn vorausgesetzt werden, dass das Aufkommen zur Finanzierung eben jener Naturalpflichten eingesetzt wird, von denen der Verursacher entlastet wird – hierin liegt dann auch die Rechtfertigung für ein Abgehen vom Prinzip der Vollständigkeit des Haushaltsplans.60 Wenn die Abgabe gerechtfertigt ist als Kompensation für einen Eingriff, so muss die Verwendung des Ersatzgeldes der tatsächlichen Kompensation dienen. Sie muss also, wie dies gefordert wird bei Maßnahmen der Naturalkompensation, in einem räumlich-funktionalen Zusammenhang zum Eingriff stehen.61 b) Weitergehende Zweckbindung bei Gleichrangigkeit des Ersatzgeldes? Solange das Ersatzgeld nur nachrangig ist, also dann erst angeordnet wird, wenn Beeinträchtigungen weder vermeidbar noch vom Verursacher durch Ausgleichsoder Ersatzmaßnahmen kompensierbar sind, müssen an diesen Zusammenhang geringere Anforderungen gestellt werden, als bei Maßnahmen der Realkompensation. Das Ersatzgeld ist in diesen Fällen ja dann erst anzuordnen, wenn Naturalkompensation durch den Verursacher nicht möglich ist, so dass es nicht für Ausgleichs- oder Ersatzmaßnahmen verwendet werden kann.62 Bei einer Gleichstellung des Ersatzgeldes kann dieses auch dann angeordnet werden, wenn Naturalkompensation durch den Verursacher an sich möglich wäre. Daher sind auch weitergehende Vorgaben für die Verwendung des Ersatzgeldes möglich. Wenn der Eingriff und die mit ihm verbundenen Beeinträchtigungen an sich durch Ausgleichs- oder Ersatzmaßnahmen ausgeglichen werden könnten, ist eine dahingehende Zweckbindung des Ersatzgeldes in Erwägung zu ziehen. Eine Konkretisierung der Bestimmung des § 15 Abs. 6 Satz 7 BNatSchG ist mithin im Fall einer Gleichstellung des Ersatzgeldes mit Naturalkompensation dahingehend vorzunehmen, dass das Aufkommen in einer Weise verwendet wird, dass der räumliche und funktionale Zusammenhang zum Eingriff – nicht zuletzt auch unter Berücksichtigung des unionsrechtlichen Ursprungs- und Verursacherprinzips des Art. 191 Abs. 2 Satz 2 AEUV63 – weitestmöglich gewahrt bleibt. Dies kann etwa durch eine Regelung dahingehend erfolgen, dass das Aufkommen aus dem Ersatzgeld für Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen zu verwenden ist, und nur dort, wo dies nicht möglich ist, anderweitig für Zwecke des Naturschutzes – die gleichwohl nä59

So zutr. Köck, Die Sonderabgabe als Instrument des Umweltschutzes, 1991, S. 120 f. Vgl. auch Kirchhof, HStR V, 3. Aufl., 2007, § 119 Rdn. 99. 61 Vgl. aber Koch, in: Kerkmann (Hrsg.), Naturschutzrecht in der Praxis, 2010, § 4 Rdn. 60, wonach die wenigsten der Länder, die auf der Grundlage des BNatSchG 2002 eine Ersatzzahlungspflicht eingeführt haben, einen naturräumlichen Bezug verlangen. 62 Vgl. Koch, in: Kerkmann (Hrsg.), Naturschutzrecht in der Praxis, 2010, § Rdn. 59; Sparwasser/Wöckel, NVwZ 2004, 1189 (1193 ff.). 63 S. hierzu Caspar, in: Koch, Umweltrecht, 3. Aufl. 2010, § 2 Rdn. 47; Epiney, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG II, 6. Aufl. 2010, Art. 20a Rdn. 73. 60

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herer Bestimmung durch Gesetz bedürften. Eine dahingehende Festlegung würde Erfordernissen eines räumlichen und funktionalen Zusammenhangs weitestmöglich entsprechen, würde zudem das Konzept der Ökokonten aufwerten, wobei nähere Bewertungskriterien im Wege der Rechtsverordnung festzusetzen wären.64 Es bleibt daher zu prüfen, ob derartige gesetzliche Vorgaben mit der Finanzverfassung des Grundgesetzes vereinbar sind, inwieweit sie zu einer weitergehenden Erfüllung der Schutzpflichten des Art. 20a GG beitragen können oder auch geboten sind, und ob sie schließlich in einen allgemeinen Grundsatz i.S.v. Art. 72 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GG eingehen können. c) Zweckbindung und Finanzverfassung Unter finanzverfassungsrechtsrechtlichen Gesichtspunkten bestehen gegen eine im Verhältnis zur geltenden Regelung weitergehende Zweckbindung für das Aufkommen aus den Ersatzgeldern keine Einwände. Diese trüge im Gegenteil entscheidend dazu bei, den Charakter der Ausgleichsabgabe als einer Sonderabgabe eigener Art zu wahren, insbesondere durch die Verknüpfung der Ersatzzahlung mit eben der Rechtspflicht, an deren Stelle die Ersatzzahlung tritt.65 Sie wäre gleichermaßen sachgerecht, um die Abgabe gegenüber etwaigen Einwänden haushaltsverfassungsrechtlicher Natur abzusichern.66 Der Grundsatz der Vollständigkeit des Haushaltsplans67 ist nicht tangiert, solange das Gebührenaufkommen in den jeweiligen Landeshaushalt fließt. Die Zweckbindung von Einnahmen ist unabhängig von der Frage eines etwaigen verfassungskräftigen Prinzips der Gesamtdeckung des Haushalts „jedenfalls in Einzelfällen“ zulässig,68 solange es nicht in einem unvertretbaren Ausmaß zu einer Einengung der Dispositionsfreiheit des Haushaltsgesetzgebers kommt. Davon ist für das Aufkommen aus der naturschutzrechtlichen Ausgleichsabgabe oder Ersatzzahlung nicht auszugehen. Die Budgethoheit des Parlaments69 wird damit durch eine sachlich gerechtfertigte Abgabe, wie die naturschutzrechtliche Ersatzzahlung, nicht verletzt; diese ist andererseits im Hinblick auf ihre finanzverfassungsrechtliche Rechtfertigung durch das Verursacherprinzip zweckgebunden zu verwenden. Dass gegen eine Zweckbindung keine finanzverfassungsrechtlich begründeten Einwände bestehen, dies gilt auch im Bund-Länder-Verhältnis. Es ist das Budgetrecht der Landesparlamente, das durch bundesrechtliche Vorgaben für die Verwendung des Aufkommens aus den naturschutzrechtlichen Ersatzgeldzahlungen beschränkt wird. 64

So insbesondere Koch a. a. O. Rdn. 42. BVerfG (K), B.v. 05. 03. 2009 – 2 BvR 1824/05 Rdn. 28 – juris. 66 S. hierzu BVerfGE 93, 319 (347 f.). 67 BVerfGE 93, 319 (347 f.); 108, 1 (16); 108, 186 (216); 113, 128 (147); BVerfG NVwZ 2014, 646 Rdn. 122. 68 Offengelassen bei BVerfGE 93, 319 (348); vern. Stern, Staatsrecht II, 1980, S. 1244; vern. auch BVerfGE 110, 274 (294). 69 BVerfGE 91, 186 (202). 65

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Die Befugnis des Bundesgesetzgebers, Regelungen des Ersatzgeldes hinsichtlich Erhebung und Verwendung zu treffen, umschließt auch Vorgaben für die Verwendung des Ersatzgeldes. Allerdings ist zu fordern, dass bundesgesetzliche Bindungen für den Landesgesetzgeber in der Verwendung des Aufkommens aus bestimmten Abgaben als Eingriff in die Budgethoheit der Landtage ebenso wie die Erhebung der Abgaben auf einem hinreichenden sachlichen Belastungsgrund beruhen. Dieser ist umso mehr gegeben, als der Kompensationscharakter der Ersatzzahlung und ihre Anbindung an das Verursacherprinzip gewahrt bleiben. Finanzverfassungsrechtlich ist der Bundesgesetzgeber also nicht gehindert, den allgemeinen Grundsatz des § 13 BNatSchG durch Vorgaben hinsichtlich des Kompensationscharakters der naturschutzrechtlichen Ersatzzahlungen fortzuschreiben. IV. Zweckbindung der Ausgleichszahlungen als allgemeiner Grundsatz des Naturschutzes und Verfassungsrecht 1. Verfassungsrechtliche Anforderungen an eine Zweckbindung und umweltrechtliches „Untermaß“ Um im Fall der Gleichstellung der Ausgleichszahlung eine ihren Kompensationscharakter so weit wie möglich wahrende und abweichungsfeste Zweckbestimmung zu erzielen, wäre der allgemeine Grundsatz des § 13 BNatSchG also um Aussagen zu einer Zweckbindung der Ersatzgelder zu ergänzen. Satz 2 wäre, wie ausgeführt, dahingehend zu ändern, dass nicht vermeidbare erhebliche Beeinträchtigungen durch Ausgleichs- oder Ersatzmaßnahmen oder durch einen Ersatz in Geld zu kompensieren sind. Dem könnte dann ein Satz 3 angefügt werden, in dem die Verwendung des Ersatzgeldes in der Weise geregelt wird, dass eine tatsächliche Aufwertung des Naturhaushalts gesichert, die Verwendung nicht in das Belieben des Gläubigers der Ersatzgeldzahlung gestellt sein darf. Eine schlichte Übernahme der in der geltenden Fassung des BNatSchG 2009 enthaltenen Zweckbindung allerdings wäre unzureichend und sachwidrig. Denn die geltende Regelung § 15 Abs. 6 Satz 7 BNatSchG 2009 wurde auf der Grundlage der Nachrangigkeit der Ersatzgeldzahlung getroffen und bezieht sich nur auf Fälle, in denen Realkompensation nicht möglich ist. Eine grundsätzliche Bestimmung über die Verwendung des Ersatzgeldes könnte also etwa dahingehend formuliert werden, dass das Ersatzgeld dann, wenn Ausgleichsoder Ersatzmaßnahmen an sich möglich sind (aber eben vom Verursacher nicht verlangt werden), für eben diese, dann von Seiten der Behörde zu veranlassenden Maßnahmen zu verwenden ist. Eine dahingehende Regelung würde der geltenden, auf dem Vorrang der Naturalkompensation beruhenden Eingriffsregelung, am nächsten kommen. Eine weitergehende Flexibilisierung würde erzielt mit einer Bestimmung dahingehend, dass die Verwendung der Ersatzgelder zu einer tatsächlichen und nachhaltigen Aufwertung des Naturhaushalts führen muss. Demgegenüber würde eine noch weitergehende Freigabe der Verwendung der Ersatzgelder die Gel-

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tung zentraler, verfassungsrechtlich abgesicherter und auch unionsrechtlich determinierter Grundsätze des Umweltrechts in einem seiner zentralen Anwendungsfelder nahezu ersatzlos suspendieren und damit das gebotene Schutzniveau verfassungswidrig unterschreiten. Dies folgt auch aus den nachstehenden Überlegungen. 2. Materiell-verfassungsrechtliche Bewertung von Zweckbindungen a) Zweckbindungen als Ausgleich für eine Abschwächung der Eingriffsregelung Nicht nur unter finanzverfassungsrechtlichen Gesichtspunkten und im Hinblick auf die Haushaltsautonomie der Länder, sondern gleichermaßen in materiellverfassungsrechtlicher Hinsicht ist für den Fall einer Gleichstellung des Ersatzgeldes zu fordern, dass sich der Verwendungszweck des Abgabenaufkommens möglichst eng am Kompensationsgedanken orientiert, um sich systemkonform in die geltende Eingriffsregelung als einen allgemeinen Grundsatz des Naturschutzes einzufügen.70 Gleichstellung des Ersatzgeldes bedeutet einen Eingriff in verfassungsrechtlich abgesicherte Kerngehalte des Umweltrechts.71 Im Hinblick auf die verfassungsrechtlich abgesicherten und auch unionsrechtlich determinierten Schutzpflichten des Art. 20a GG ist die Abgabe in Erhebung und Verwendungszweck so auszugestalten, dass diese Verkürzung und Effizienzminderung umweltrechtlicher Prinzipien hinreichend ausgeglichen wird. Für das umweltrechtliche Verursacherprinzip72 allerdings ist die Zweckbindung von Ausgleichsabgaben nicht von unmittelbarer Bedeutung. Denn mit deren Gleichstellung wird der Verursacher weitergehend aus seiner Verantwortung entlassen. Wenn ein Wahlrecht des Verursachers zwischen Ausgleichsmaßnahme, Ersatzmaßnahme und Ersatzgeld jedoch verneint wird,73 so ist für eine Verpflichtung der Behörde, ihrerseits mit dem Aufkommen aus den Ersatzgeldern Maßnahmen durchzuführen, die zu einer realen Stärkung der Funktionsfähigkeit des Naturhaushalts führen, insbesondere über mögliche Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen, ein Steuerungseffekt auf die behördliche Vollzugspraxis zu erwarten. Von den gesetzlichen Vorgaben für die Verwendung des Ersatzgeldes hängt es auch ab, in welchem Maße der für eine gleichwertige Kompensation erforderliche räumliche und funktionale Bezug gewahrt bleibt. Eine Verpflichtung der Behörde, ihrerseits Ausgleichsund Ersatzmaßnahmen durchzuführen, würde hierzu maßgeblich beitragen; eine Verpflichtung, jedenfalls Maßnahmen durchzuführen, die den Naturhaushalt tat70

Breuer, NuR 1980, 89 (98). S. dazu näher Degenhart, in; Festschrift Kloepfer, 2014, S. 21 (26 ff.). 72 Vgl. zum Verursacherprinzip Ramsauer, in: Koch, Umweltrecht, 3. Aufl. 2010, § 3 Rdn. 23 ff.; Murswiek, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 20a Rdn.35; Scholz, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 20a (2002) Rdn. 35; Kloepfer, BonnK, Art. 20a (2005) Rdn. 48 f. 73 Vgl. Gellermann, NVwZ 2010, 73 (78). 71

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sächlich stärken, würde jedenfalls den gebotenen funktionalen Bezug wahren. Damit bliebe auch das Konzept der vorgezogenen Kompensation durch Ökokonten in seiner Effizienz gewahrt. Nähere Festlegungen, vorzugsweise im Wege einer Rechtsverordnung,74 sind jedoch geboten in der Frage der Bewertung der beeinträchtigenden Wirkungen von Eingriffen. Sie sind ebenso geboten, um Bewertungsmaßstäbe für die kompensierenden, aus Ersatzzahlungen zu finanzierenden Maßnahmen und die Anforderungen an die notwendigen räumlichen und funktionalen Zusammenhänge zu gewinnen, wie schließlich auch für die Bemessung der Ersatzzahlungen und für die Anforderungen an Ökokonten. b) Ausreichender, kein vollwertiger Ausgleich Einen vollwertigen Ersatz für die Abschwächung der Eingriffsregelung bedeutet dies freilich nicht. Auch eine verstärkte Zweckbindung der Ersatzzahlungen ändert andererseits nichts daran, dass eine Gleichstellung des Ersatzgeldes mit Ausgleichsund Ersatzmaßnahmen die Abwägung nach § 15 Abs. 5 BNatSchG strukturell verändern75 und die rechtlichen Anforderungen an die Zulassung von Eingriffen absenken würde. Die Abschwächung des in der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung vorrangig verankerten Vermeidungsgebots76 als Ausdruck des verfassungsrechtlich fundierten Vorsorgeprinzips bliebe damit unberührt. Auch weiterhin bestünden zudem jene Vollzugsdefizite, die sich aus dem Auseinanderfallen von Eingriffsplanfeststellung oder sonstiger Vorhabenzulassung und Kompensationsmaßnahme ergeben. Gleichwohl bliebe im Ergebnis der Grundsatz der Kompensation von Beeinträchtigungen bei den hier erwogenen gesetzlichen Zweckbindungen der Ausgleichszahlungen in deutlich weitergehendem Maße gewahrt, als dies der Fall wäre bei einer bloßen Gleichstellung der Ersatzzahlungen mit Maßnahmen der Naturalkompensation ohne eine gegenüber der geltenden Regelung des § 15 Abs. 6 Satz 7 BNatSchG 2009 weitergehende Zweckbindung. Dies gilt allerdings nur unter dem Vorbehalt, dass insoweit keine abweichenden Regelungen auf Landesebene getroffen werden. Letzteres stünde im Widerspruch zu den Schutzpflichten des Art. 20a GG. Mithin ist eine abweichungsfeste Regelung im Rahmen der allgemeinen Grundsätze des Art. 72 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GG anzustreben.

74 So insbesondere Koch, in: Kerkmann (Hrsg.), Naturschutzrecht in der Praxis, 2. Aufl. 2010, § 4 Rdn. 62. 75 Vgl. Koch a. a. O. 76 Epiney, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG II, 6. Aufl. 2010, Art. 20a Rdn. 67.

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V. Kompetenzfragen 1. Allgemeine Grundsätze und Verfassungsrecht – zur Frage einer Definitionskompetenz des Gesetzgebers § 13 BNatSchG entspricht einem allgemeinen Grundsatz des Naturschutzes i.S.v. Art. 72 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GG. Diese Feststellung konnte hier unabhängig von der Frage einer Definitionskompetenz des Bundesgesetzgebers getroffen werden, der Frage also, ob die Festlegung allgemeiner Grundsätze konstitutiven oder deklaratorischen Charakter hat. Hierauf kann es jedoch ankommen, wenn der allgemeine Grundsatz des § 13 BNatSchG dahingehend zu konkretisieren ist, dass auch die Verwendung der Ersatzgelder abweichungsfest geregelt werden soll. Es handelt sich bei den in Art. 72 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GG genannten allgemeinen Grundsätzen um Begriffe des Verfassungsrechts, die verbindlich festzulegen der einfache Gesetzgeber nicht befugt ist.77 Gleichwohl ist es die einfachgesetzliche Begrifflichkeit, die maßgeblich die Auslegung der Verfassungsnorm bestimmt, wenn diese im Fall einer Kompetenznorm ihren Gegenstand normativ-rezeptiv benennt, also auf die Begriffe und Prinzipien des einfachen Gesetzesrechts Bezug nimmt.78 Hiernach war jedenfalls davon auszugehen, dass die Grundsätze der Eingriffsregelung mit dem Begriff der allgemeinen Grundsätze rezipiert werden sollten. Normative Vorgaben für die Verwendung des Aufkommens aus der Abgabe waren demgegenüber in den Naturschutzgesetzen der Länder, wenn überhaupt, so doch in sehr unterschiedlicher Weise ausgeformt – die Rahmengesetzgebung des Bundes ermächtigte, verpflichtete die Länder jedoch nicht zur Einführung naturschutzrechtlicher Ausgleichsabgaben. 2. Allgemeine Grundsätze als Verfassungsbegriff Allgemeinheit bedeutet jedenfalls, dass die Grundsätze bundesweit und unabhängig von lokalen Differenzierungen gelten.79 Insoweit bestünden gegen eine Festlegung abstrakt gefasster Grundsätze für die Verwendung von Ersatzgeldern etwa in dem Sinne, dass sie vorrangig für die Durchführung von Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen i. S. der Legaldefinition des § 15 Abs. 2 BNatSchG zu verwenden sind bzw. eine tatsächliche Stärkung der Funktionsfähigkeit des Naturhaushalts bewirken müssen, keine Bedenken. Dahingehende Forderungen sind allgemein und abstrakt gefasst und bewegen sich auf grundsätzlicher Ebene. Im Übrigen können „Grundsät77

Insoweit zutr. Gellermann, NVwZ 2010, 73 (78). Grundlegend BVerfGE 109, 190 (218); zuletzt BVerfG, B. v. 11. 07. 2013 – 2 BvR 2302/ 11 – Rdn. 55 bei juris BeckRS 2013, 54018; SächsVerfGH NVwZ-RR 2012, 873; Degenhart, in: Sachs, GG, 7. Aufl. 2014, Art. 70 Rdn. 51 ff.; Degenhart, Recht des gewerblichen Gewinnspiels und Recht der Spielhallen in der Kompetenzordnung des Grundgesetzes, 2014, S. 39 ff., 62 ff. 79 Vgl. Schulze-Fielitz, NVwZ 2007, 249 (257); Köck/Wolf, NVwZ 2008, 353 (358); Hendrischke, NuR 2007, 489 (456); Heitsch, JöR 57 (2008), S. 333 (346); Grünewald, Die Abweichungsgesetzgebung der Bundesländer, 2010, S. 48. 78

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ze“ auch instrumentale Regelungen umfassen. Die – vereinzelt gebliebene – Auffassung, es müsse sich bei den allgemeinen Grundsätzen des Naturschutzes um ausfüllungsfähige und -bedürftige Prinzipien leitlinienhafter Art handeln,80 verkennt, dass es sich bei der Bestimmung abweichungsfester Kerne nicht um einen Anwendungsfall der früheren Rahmengesetzgebung handelt. In ihrer bisherigen Form bezeichnet die naturschutzrechtliche Eingriffsregelung, wie dargelegt, eine grundsätzliche und grundlegende Regelung zum Ausgleich und zum Ersatz von Eingriffen in Natur und Landschaft.81 Dies gilt insbesondere für die in § 13 BNatSchG aufgenommene Pflichtenkaskade. 3. Befugnis des Gesetzgebers zu systemgerechter Modifizierung Eine Modifizierung dieser Pflichtenkaskade dahingehend, dass Ersatzgelder als gleichwertiger Ersatz für Maßnahmen der Naturalkompensation gelten, würde einen tiefgreifenden Einschnitt in die geltende Eingriffsregelung bewirken und sähe sich hierin dem Einwand ausgesetzt, die Definitionskompetenz des einfachen Gesetzgebers zu überschreiten. Denn dieser ist zwar frei darin, ob und in welchem Umfang er von seiner Ermächtigung zur Festlegung abweichungsfester Kernbereiche des Naturschutzrechts als Gegenausnahme zum Abweichungsrecht der Länder Gebrauch machen will. Wenn er sich aber dafür entscheidet, bestimmte allgemeine Grundsätze ausdrücklich im Gesetz zu definieren, dann muss er diese Definition im Einklang mit deren verfassungsrechtlichem Gehalt vornehmen. Eine Eingriffsregelung, die deren wesentliche Elemente systemwidrig verändert, weil sie insoweit nicht mehr dem in ihrer abgestuften Pflichtenkaskade zum Ausdruck kommenden allgemeinen Grundsatz des Naturschutzes entspricht, wäre nicht mehr von der Definitionskompetenz des Gesetzgebers getragen. Vielmehr ist im Rahmen der Eingriffsregelung auch der Kompensationscharakter der Ersatzzahlung zu wahren. Dem entspräche eine Zweckbindung des Ersatzgeldes dahingehend, dass das Aufkommen hieraus zwingend im räumlichen Zusammenhang zu verwenden ist, und verstärkt noch eine Regelung dahingehend, dass dort, wo Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen an sich möglich wären, eben diese Maßnahmen mittels des Ersatzgeldes durchzuführen sind. Dem entspräche auch noch eine Verpflichtung, eine tatsächliche Stärkung der Funktionsfähigkeit des Naturhaushalts durch geeignete Maßnahmen zu bewirken. Dahingehende Zweckbindungen würden, wenn man denn Maßnahmen der Naturalkompensation mit Ausgleichszahlungen gleichstellen wollte, der Zielsetzung der Eingriffsregelung am nächsten kommen. Eine entsprechende Konkretisierung des § 13 BNatSchG würde dessen grundsätzlichen Charakter nicht aufheben und sich systemgerecht in die Eingriffsregelung des BNatSchG einfügen. Eine derartige Modifizierung eines allgemeinen Grundsatzes, die dessen Zielsetzung ebenso wahrt, wie dessen Systematik und auf dessen Instru80 81

Gellermann, NVwZ 2010, 73 (74). Vgl. Fischer-Hüftle, NuR 2007, 78 (83); BT-Drucks. 16/767 S, 5 f.

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mentarium zurückgreift, würde sich im Rahmen jener allgemeinen Grundsätze des Naturschutzes bewegen, die auch die Kompetenznorm des Art. 72 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GG rezipiert hat. Im Ergebnis ist mithin davon auszugehen, dass der Bundesgesetzgeber, soweit er den allgemeinen Grundsatz des § 13 BNatSchG dahingehend modifiziert, dass Ersatzzahlungen mit Maßnahmen der Naturalkompensation gleichgestellt werden, kompetenziell befugt ist, diesen „Eingriff in die Eingriffsregelung“ durch eine Zweckbindung der Ersatzgelder auszugleichen oder jedenfalls abzumildern.

Der neue Rundfunkbeitrag – sachgerechte Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks oder verkappte Steuer Von Dieter Dörr*, Mainz Einleitung Mit der Reform der Rundfunkfinanzierung haben die Länder die geräteabhängige Rundfunkgebühr aufgegeben und einen geräteunabhängigen Beitrag eingeführt. Dies stellte eine Reaktion auf die veränderten Rahmenbedingungen einer sich durch die Möglichkeit der Digitalisierung weiterentwickelnden Medienwelt dar. Die überkommene Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks durch eine geräteabhängige, nach Hörfunk und Fernsehen differenzierende Rundfunkgebühr verlor durch die mit der Digitalisierung einhergehende Konvergenz der Übertragungswege, Endgeräte und Märkte derart an Durchsetzungskraft, dass den Ländern eine grundsätzliche Neuordnung der Rundfunkfinanzierung unausweichlich schien, um die verfassungsrechtlich geforderte Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sicherzustellen. Bis zum 31. Dezember 2012 erhoben die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten auf der Grundlage des bis dahin geltenden Rundfunkgebührenstaatsvertrages (RGebStV) die sog. Rundfunkgebühr. Dabei handelte es sich um eine gerätebezogene und geräteabhängige Abgabe. Im Grundsatz musste für jedes „Rundfunkempfangsgerät“, welches „zum Empfang bereitgehalten“ wurde, eine Rundfunkgebühr entrichtet werden. Bei der Ermittlung der Abgabenhöhe wurde dabei nach der Funktionalität des Gerätes differenziert. Zu klären war stets die Frage, ob mit dem Gerät Radio- und/oder Fernsehempfang möglich war. Für den Radioempfang wurde nur die sog. „Grundgebühr“ (zuletzt in Höhe von 5,76 Euro), bei einem Gerät, das (auch) Fernsehsendungen empfangen konnte, die sog. „Fernsehgebühr“ (zuletzt zusätzliche 12,22 Euro, also insgesamt 17,98 Euro) fällig. Entscheidend für die Entstehung der Abgabenpflicht war dabei die bloße Eignung eines Gerätes zum Rundfunkempfang. Ob mit dem vorhandenen Gerät tatsächlich Rundfunkangebote empfangen wurden, war ebenso unerheblich wie der Einwand, keine Angebote des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu nutzen.

* Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht, Medienrecht, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Direktor des Mainzer Medieninstituts.

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An dieser Sichtweise wurde auch im Hinblick auf sog. multifunktionale Endgeräte, wie etwa internetfähige PCs, höchstrichterlich festgehalten. Diese Geräte waren in Folge der fortschreitenden technischen Entwicklung in die Eigenschaft als Rundfunkempfangsgerät qua definitionem des Rundfunkgebührenstaatsvertrages „hineingewachsen“. Mit einem Computer, dessen Zweckbestimmung sich vorher noch im Rechen- und Arbeitsmittel erschöpfte, konnten relativ schnell und problemlos über den Distributionsweg Internet Hörfunksendungen und mit zunehmendem technischen Fortschritt und erhöhter Leistungsfähigkeit von Internetverbindungen auch Fernsehsendungen empfangen werden. Daneben zeichnete sich eine Entwicklung hin zu multifunktionalen portablen Endgeräten wie internetfähigen Handys, PDAs (Personal Digital Assistants) oder Tablet PCs ab.1 Auf diese Entwicklung reagierten die Länder im 4. Rundfunkänderungsstaatsvertrag mit einem ersten Moratorium für die Nichterhebung von Rundfunkgebühren auf „Rechner, die Rundfunkprogramme über Angebote aus dem Internet wiedergeben können“2, das sie letztmalig durch den 8. Rundfunkänderungsstaatsvertrag bis 31. Dezember 2006 verlängerten. Die Befreiung bezog sich auf alle sog. „neuartigen Empfangsgeräte“. Nach dem Auslaufen des Moratoriums wurde in der Literatur3 und in der Rechtsprechung4 kontrovers diskutiert, ob für internetfähige PCs tatsächlich Rundfunkgebühren erhoben werden dürfen. Klarheit brachte erst die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. Oktober 20105, das die Rechtmäßigkeit der Erstreckung der Rundfunkgebührenpflicht auf internetfähige PCs bestätigte.6 Insbesondere folgte es nicht der Auffassung, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen der Rundfunkteilnehmereigenschaft um ein subjektives, auf den Empfangswillen bezogenes Element angereichert werden müssten. Die gegen dieses Urteil eingelegte Verfassungsbeschwerde nahm das Bundesverfassungsgericht7 nicht zur Entscheidung an. 1

Vgl. zu dieser Entwicklung van Eimeren/Fress, MP 2012, 362 ff. Ehemaliger § 5a RGebStV. 3 Vgl. etwa Ricker, NJW 1997, 3200 ff.; Ory, AfP 1997, 848 ff.; Degenhart, MMR 1998, 137 ff.; Schoch, AfP 1998, 253 ff.; Lent, K&R 2003, 502 ff.; Jutzi, NVwZ 2008, 603 ff.; Eicher/Schneider, NVwZ 2009, 745; Zimmermann, K&R 2008, 524; Fiebig, Gerätebezogene Rundfunkgebührenpflicht und Medienkonvergenz, 2008; Überblick bei Wagner, Abkehr von der geräteabhängigen Rundfunkgebühr, 2011, S. 40 ff. 4 Vgl. einerseits VG Ansbach, Urt. v. 10. 7. 2008 – 5 K 08.00348; VG Würzburg, Urt. v. 27. 1. 2009 – W 1 K 08.1886; VG Regensburg, Urt. v. 24. 3. 2009 – RO 3 K 08.01829; VG Augsburg, Urt. v. 5. 2. 2010 – 7 K 09.105; VG Hamburg, Urt. v. 24. 7. 2008 – 10 K 1261/08; VG Gera, Urt. v. 9. 6. 2009 – 3 K 2353/08 Ge.; andererseits etwa VG Koblenz, Urt. v. 15. 7. 2008 – 1 K 496/08.KO; VG Braunschweig, Urt. v. 15. 7. 2008 – 4 A 149/07 sowie Urt. v. 13. 11. 2008 – 4 A 109/07; VG Berlin, Urt. v. 17. 12. 2008 – VG 27 A 245.08; VG Münster, Urt. v. 26. 9. 2008 – 7 K 1473/07, VG München, Urt. v. 17. 12. 2008 – M 6b K 08.1214; VG Wiesbaden, Urt. v. 19. 11. 2008 – 5 K 243/08.WI (V); VG Stuttgart, Urt. v. 29. 4. 2009 – 3 K 4387/08 sowie 3 K 4393/08; VG Gießen, Urt. v. 25. 2. 2010 – 9 K 3812/09.GI. 5 BVerwG, NJW 2011, 946. 6 So auch OVG Rheinland-Pfalz, ZUM 2009, 500; BayVGH, ZUM 2009, 876; OVG Nordrhein-Westfalen, MMR 2009, 646; HessVGH, MMR 2010, 500. 7 BVerfG, NJW 2012, 3423 f. 2

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Zwar lag aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts ein Eingriff in die von Art. 5 Abs. 1 Hs. 2 GG geschützte Informationsfreiheit darin, dass der Beschwerdeführer durch die Rundfunkgebühr für seinen internetfähigen PC in der Beschaffung und Entgegennahme von Informationen aus dem Internet behindert wurde. Der Eingriff sei jedoch verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Insbesondere sei die generelle Rundfunkgebührenpflicht für internetfähige PCs nicht unangemessen. Auch wenn das Bundesverwaltungsgericht die Erstreckung der Rundfunkgebührenpflicht auf internetfähige PCs damit im Ergebnis als rechtmäßig bestätigte, wies es ausdrücklich darauf hin, dass an der Rundfunkgebühr zukünftig nur festgehalten werden könne, wenn sich diese auch tatsächlich durchsetzen lasse. Insoweit führte es aus: „Der Gesetzgeber wird die Entwicklung genau beobachten müssen, damit nicht am Ende die potentiell große Zahl internetfähiger PC zum Problem für die Einlösung der Abgabengerechtigkeit und somit zur Rechtmäßigkeitsfrage für die Anknüpfung der Gebührenerhebung überhaupt wird.“8

Ebenso sahen die Länder einen zunehmend dringender werdenden Reformbedarf. Der Streit um die Erstreckung der Rundfunkgebührenpflicht auf internetfähige PCs stellte nur eine von mehreren „offenen Flanken“ des Rundfunkgebührensystems dar. Die zunehmende Multifunktionalität von Endgeräten machte die nach dem Rundfunkgebührenstaatsvertrag stets notwendige Unterscheidung zwischen Radio- und/ oder Fernsehempfang immer schwieriger. Angesichts der Portabilität vieler Geräte war die vor allem im nicht privaten Bereich notwendige Erhebung ihrer Anzahl faktisch aussichtslos. Eine Abgabe, die darauf angewiesen ist, zur Ermittlung der Abgabenhöhe sämtliche multifunktionalen Endgeräte als Rundfunkempfangsgeräte zu klassifizieren, gegebenenfalls noch zu zählen und einem Abgabenpflichtigen zuzuordnen, kann jedoch nur noch sehr eingeschränkt durchgesetzt werden. Daneben war noch eine abnehmende Bereitschaft der Bevölkerung zu verzeichnen, vorhandene, und dabei vor allem multifunktionale Geräte, auch tatsächlich anzumelden. In Städten wie Berlin, München, Frankfurt am Main und Stuttgart kam annähernd jeder Vierte seiner Abgabenpflicht nicht nach.9 Damit drohte die Rundfunkgebühr als ein Abgabensystem, das solche Entwicklungen zulässt, das abgabenlegitimierende Ziel der Belastungsgleichheit zu verfehlen. I. Die Reformüberlegungen Vor dem Hintergrund der aufkommenden PC-Problematik diskutierten die Länder ausgehend von einem Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz vom Oktober 1997 in Stuttgart eine Reihe von Modellen künftiger Rundfunkfinanzierungsansätze. 8

BVerwG, NJW 2011, 946 (952). Vgl. dazu den 17. KEF-Bericht, Tz. 460, abrufbar auf der Internetseite der Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten (KEF) unter www.kef-online.de. 9

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Die Arbeitsgruppe „Zukunft der Rundfunkgebühr“ ging im Jahr 2000 zunächst in Zusammenarbeit mit einer Arbeitsgruppe von ARD und ZDF von acht Grundmodellen aus, die von einer Modifizierung des status quo über ein Geräteabgabe-Modell, eine „Bürgerabgabe“, ein Beitragsmodell, eine „Rundfunksteuer“ analog der Kirchensteuer, eine Finanzierung aus einer Bundessteuer, eine Finanzierung aus einer Landessteuer bis hin zu einer Finanzierung über eine landesrechtliche Zwecksteuer reichten.10 Zunächst entschied man sich – auch in Anbetracht des noch fehlenden validen Zahlenmaterials – für einen behutsamen Reformansatz, der zu dem vorstehend angesprochenen Moratorium sowie schließlich zu dessen Aufgabe mit der Konsequenz der Erstreckung der Rundfunkgebührenpflicht auf multifunktionale Endgeräte führte. Angesichts der zunehmenden Erosion der Zahlungsbereitschaft beauftragten die Ministerpräsidenten allerdings auf ihrer Konferenz am 19./20. Oktober 2006 die Rundfunkkommission, alternative Lösungen zur Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks innerhalb eines Jahres zu erarbeiten. Nach einer Analyse der Situation wurden von der Rundfunkkommission die relevanten Ansätze beschrieben, wobei vor allem die Aufkommensneutralität neben der sozialen Ausgewogenheit der Belastung, dem staatsfernen und einfachen Einzug sowie der gesellschaftlichen Akzeptanz eine große Rolle spielte.11 Auf dieser Grundlage sprachen sich die Ministerpräsidenten auf ihrer Konferenz am 18./19. Oktober 2007 dagegen aus, das Modell der Finanzierung durch Auskehrung des notwendigen Finanzbedarfs aus bestehenden Landessteuern oder Gemeinschaftssteuern von Bund und Ländern weiterzuverfolgen. In der engeren Auswahl verblieben dagegen das Modell einer modifizierten Rundfunkgebühr sowie das als Rundfunkbeitrag umgesetzte System einer Wohnungs- und Betriebsstättenabgabe. Das in der engeren Auswahl verbliebene Modell einer „vereinfachten“ oder „modifizierten“ Rundfunkgebühr hielt am Bereithalten eines Gerätes als Belastungsgrund der Abgabe fest. Allerdings sollte die nicht mehr praktikable Unterscheidung nach Grund- und Fernsehgebühr aufgegeben werden.12 Weiterhin sah dieses Modell eine gesetzliche Vermutungsregelung vor, wonach in den Räumlichkeiten von Wohnungen und Betriebsstätten grundsätzlich das Vorhandensein von Rundfunkempfangsgeräten widerlegbar vermutet wird.13 Allerdings bestand bei diesem Modell 10 Vgl. dazu sowie ausführlich zu den erwogenen sog. „kleinen“ und „großen“ Lösungen Ukrow, in: Hartstein/Ring/Kreile/Dörr/Stettner/Cole/Wagner, Rundfunkstaatsvertrag, B 1, Rn. 213. 11 Vgl. Potthast, in: Hartstein/Ring/Kreile/Dörr/Stettner/Cole/Wagner, Rundfunkstaatsvertrag, B 1, Rn. 504. 12 Vgl. hierzu ausführlich Jarass, Verfassungsrechtliche Fragen einer Reform der Rundfunkgebühr, S. 20 ff., abrufbar unter http://www.ard.de/download/398614/index.pdf; Wagner, Abkehr von der geräteabhängigen Rundfunkgebühr, 2011, S. 111 ff. 13 Eingehend dazu Wagner, Abkehr von der geräteabhängigen Rundfunkgebühr, 2011, S. 111 ff.

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die Möglichkeit, sich der Zahlungspflicht dadurch zu entziehen, dass tatsächlich keine Geräte zum Empfang bereitgehalten bzw. vorhandene Geräte nicht angemeldet werden. Ein derartiges System wäre demnach, wie die Rundfunkgebühr auch, auf eine intensive Kontrolle durch einen Beauftragtendienst angewiesen, um den Grundsatz der Abgabengleichheit effektiv zu wahren. Die in diesem Zusammenhang diskutierte Beweislastumkehr, wonach die Rundfunkanstalten zunächst von dem Vorhandensein eines rundfunkempfangsfähigen Gerätes pro Wohnung und pro Betriebsstätte ausgehen dürfen und die Betroffenen dieser Vermutung nur durch eine eidesstattliche Versicherung entgegenwirken können, führte aus Sicht der Länder letztlich zu keiner abweichenden Einschätzung. Die diskutierte Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung wäre für die Verifikation der Abgabenpflicht ungeeignet, da sie nur Lebensausschnitte in der Vergangenheit und Gegenwart erfassen kann. Sie sagt jedoch nichts darüber aus, ob in der nächsten Minute oder am nächsten Tag ein Gerät bereitgehalten wird. Das von ARD, ZDF und Deutschlandradio in Auftrag gegebene Gutachten über die künftige Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks von Paul Kirchhof14 trug schließlich entscheidend dazu bei, dass mit dem Rundfunkbeitrag ein geräteunabhängiges Finanzierungsmodell gewählt wurde. Auf ihrer Konferenz am 9./10. Juni 2010 beauftragten die Ministerpräsidenten die Rundfunkkommission, einen Staatsvertragstext auszuarbeiten, der schließlich am 17. Dezember 2010 unterzeichnet wurde.15 Nachdem nach Zustimmung der Landesparlamente alle Ratifikationsurkunden fristgemäß vor dem 31. Dezember 2011 hinterlegt wurden, konnte der in den Fünfzehnten Rundfunkänderungsstaatsvertrag (RÄndStV) inkorporierte Rundfunkbeitragsstaatsvertrag (RBStV) zum 1. Januar 2013 sowie die in Art. 7 Abs. 2 des 15. RÄndStV genannten Bestimmungen bereits zum 1. Januar 2012 in Kraft treten. Das gewählte Beitragsmodell wurde von den Ländern nach jahrelangen Vorarbeiten und unter Abwägung sämtlicher rechtlicher Aspekte erlassen, um durch die Abkehr vom Gerätebezug dem Reformziel der zukünftigen Sicherstellung der funktionsadäquaten Finanzierung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten Rechnung zu tragen. II. Die finanzverfassungsrechtliche Einordnung des Rundfunkbeitrages und die Gesetzgebungskompetenz 1. Allgemeines Gegen den Rundfunkbeitrag wird eingewandt, dass den Ländern bereits die Gesetzgebungskompetenz fehle, diese Abgabe im Rundfunkbeitragsstaatsvertrag und den diesbezüglichen Zustimmungsgesetzen bzw. Zustimmungsbeschlüssen zu diesem Staatsvertrag vorzusehen, da es sich in Wahrheit nicht um eine Vorzugslast, son14

P. Kirchhof, Die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, 2010. Vgl. zu den weiteren Einzelheiten Potthast, in: Hartstein/Ring/Kreile/Dörr/Stettner/ Cole/Wagner, Rundfunkstaatsvertrag, B 1, Rn. 543 – 551. 15

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dern um eine Steuer handele.16 Zwar ist die Gesetzgebungskompetenz für Vorzugslasten, also Gebühren und Beiträge, im Wege einer Annexkompetenz aus den allgemeinen Regeln der Art. 70 ff. GG herzuleiten. Insoweit ist die Kompetenz der Länder für die Fragen der Rundfunkfinanzierung höchstrichterlich17 geklärt und wird soweit ersichtlich auch nicht mehr bestritten. Handelt es sich dagegen um die Erhebung einer Steuer, sind die Vorschriften der Finanzverfassung der Art. 104a ff. GG einschlägig, die in Art. 105 GG eine eigene Kompetenzregelung enthalten. Diese sieht keine Kompetenz der Länder zur Einführung einer Rundfunksteuer vor. Demnach erhält für die Gesetzgebungskompetenz die Frage entscheidende Bedeutung, ob es sich bei der im Rundfunkbeitragsstaatsvertrag geregelten Abgabe tatsächlich um einen Beitrag oder um eine Steuer handelt. Einigkeit besteht insoweit, dass es auf die Bezeichnung nicht ankommt. Maßgeblich ist vielmehr deren – anhand der normativen Ausgestaltung zu bestimmender – materieller Gehalt.18 Der Steuerbegriff des Grundgesetzes knüpft an das traditionelle Begriffsverständnis der Steuer an, wie es in § 1 der Reichsabgabenordnung vom 13. Dezember 1919 seinen Niederschlag gefunden hatte, fügt diesem traditionellen Verständnis jedoch noch eine Auslegung „im Funktionszusammenhang der bundesstaatlichen Finanzverfassung“19 hinzu. Danach sind Steuern Geldleistungen, die nicht eine Gegenleistung für eine besondere Leistung darstellen und von einem öffentlich-rechtlichen Gemeinwesen zur Erzielung von Einnahmen auferlegt werden, wobei die Einnahmeerzielung auch Nebenzweck sein kann. Steuern dienen folglich dazu, den allgemeinen, in den Haushaltsplänen ausgewiesenen Finanzbedarf zu decken.20 Die von der Steuer zu unterscheidenden Vorzugslasten21 werden dagegen gerade nicht voraussetzungslos geschuldet, sondern stellen eine Gegenleistung für eine besondere Leistung dar. Dieser Gegenleistungsbezug der Vorzugslasten erfährt je nach Abgabenart eine unterschiedlich starke Ausprägung. Die Gebühr wird als Entgelt für eine tatsächlich in Anspruch genommene Leistung erhoben und ist durch einen direkten Gegenleistungsbezug gekennzeichnet. Beiträge dagegen entgelten nicht erst die tatsächliche Inanspruchnahme einer Leistung, sondern bereits die eröffnete Möglichkeit einer Angebotsnutzung. Beim Beitrag entsteht der für die Vorzugslast erforderliche Gegenleistungsbezug damit in 16

Vgl. etwa Degenhart, K&R Beihefter 1/2013 zu Heft 3, 1 (12); Korioth/Koemm, DStR 2013, 833 (836). 17 BVerfGE 12, 205 (243 ff.). 18 Vgl. etwa BVerfGE 42, 223 (227 f.); BVerfGE 108, 1 (13); 108, 186 (212); 110, 370 (384); 113, 128, (145 f.); 123, 1 (16); VerfGH Rheinland-Pfalz, ZUM 2014, 687 (691); BayVerfGH, ZUM-RD 2014, 404 (415). 19 So BVerfGE 55, 274 (299); 67, 256 (282). 20 Vgl. zum Steuerbegriff auch Kube, Der Rundfunkbeitrag, Rundfunk- und finanzverfassungsrechtliche Einordnung, 2014, S. 27 f. 21 Dazu Kube, Der Rundfunkbeitrag, Rundfunk- und finanzverfassungsrechtliche Einordnung, 2014, S. 41 ff.

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der Möglichkeit der Nutzung eines Angebots und dem Genuss eines sich dadurch ergebenden Vorteils. Darauf, ob der Vorteil tatsächlich in Anspruch genommen wird, kommt es gerade nicht an.22 Der Beitrag neutralisiert den wirtschaftlichen Vorteil eines öffentlich-rechtlichen Leistungsangebots und den daraus erwachsenden Aufwand, unabhängig von der tatsächlich nachgewiesenen Nutzung. Er ist durch einen vorausgehenden Aufwand bedingt und fordert diejenigen, die aus diesem Aufwand Vorteile ziehen können, zur individuellen Mitfinanzierung auf.23 2. Der Rundfunkbeitrag als Vorzugslast Entscheidend ist also, ob die mit der Neuordnung der Rundfunkfinanzierung eingeführte Abgabe den Namen „Beitrag“ auch im finanzverfassungsrechtlichen Sinne zu Recht trägt. In diesem Zusammenhang ist zunächst darauf hinzuweisen, dass schon bei der Rundfunkgebühr die Abgabenpflicht nicht auf der tatsächlichen, im Einzelfall nachgewiesenen Rundfunknutzung beruhte, sondern auf der Möglichkeit, mit einem Rundfunkempfangsgerät Rundfunkprogramme zu nutzen. Ihr wurden deshalb – entgegen ihrer Bezeichnung als Gebühr – in der Literatur zumindest beitragsartige Elemente zugesprochen.24 Das Bundesverfassungsgericht erkannte in der Rundfunkgebühr ein „Mittel zur Finanzierung der Gesamtveranstaltung Rundfunk“25 und wertete sie als die „dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk gemäße Finanzierungsart“26 In einem Beschluss vom 22. August 201227 ordnete das Bundesverfassungsgericht zwar die Rundfunkgebühr nicht exakt in den Kanon der Abgabenarten ein. Es nahm aber eine Negativabgrenzung zur Steuer vor, indem es formulierte, dass es sich bei der Rundfunkgebühr nicht um eine voraussetzungslose Steuer zur Finanzierung des Gemeinwesens, sondern um eine Vorzugslast handele. Damit wird klar, dass das Gericht bei der Rundfunkgebühr von dem Bestehen eines für die Vorzugslast obligatorischen Gegenleistungsverhältnisses ausging. Der Rundfunkbeitrag knüpft im Unterschied zur Rundfunkgebühr nicht länger unmittelbar und ausschließlich an das Bereithalten eines Rundfunkempfangsgerätes an, sondern ersetzt diesen in den Zeiten der Konvergenz als nicht mehr praktikabel erkannten Anknüpfungspunkt durch einen anderen. Nunmehr gilt derjenige, der Inhaber einer Wohnung, Betriebsstätte oder eines zugelassenen Kraftfahrzeugs ist, als 22 Vgl. zu Gebühren und Beiträgen Kube a.a.O sowie P. Kirchhoff, in: Handbuch des Staatsrechts, Band V, 3. Auflage, 2007, § 119 Rn. 62. 23 P. Kirchhof, Die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, 2010, S. 37 ff. 24 Etwa F. Kirchhof, Die Höhe der Gebühr, 1981, S. 35; Ipsen, Die Rundfunkgebühr, 2. Auflage, Hamburg 1958, S. 34; P. Kirchhof, Die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, 2010, S. 46; Oppermann, Kulturverwaltungsrecht, Tübingen 1969, S. 502; Wagner, Abkehr von der geräteabhängigen Rundfunkgebühr, 2011, S. 28 f. 25 So BVerfGE 31, 314 (329). 26 So BVerfGE 73, 118 (158); 87, 181 (199); 90, 60 (90). 27 BVerfG, NJW 2012, 3423.

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Abgabenschuldner. Der Beitrag unterscheidet sich dadurch von der Steuer, dass nur die Personen zur Abgabe herangezogen werden, die einen Vorteil durch das zu finanzierende Angebot erhalten. Die Abgabenpflichtigen sind dadurch verbunden, dass ihnen der Vorteil gemeinsam zu Gute kommt. Ausweislich der Gesetzesbegründung soll hierdurch die Möglichkeit abgegolten werden, öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu empfangen. Insoweit geht der Gesetzgeber auf der Grundlage statistischer Angaben davon aus, dass heutzutage nahezu jeder über empfangsfähige Geräte verfügt. Zudem nimmt er – obwohl ein Rundfunkempfang auch ortsunabhängig möglich ist – an, dass in der Wohnung, Betriebsstätte und KFZ der Schwerpunkt der Rundfunknutzung liege. Daher kann nach Einschätzung des Gesetzgebers auch eine entsprechende Zusammenfassung mehrerer Rundfunknutzer zu einer Empfangs- und damit Beitragsgemeinschaft erfolgen. Der Rundfunkbeitrag wiederum dient nach § 1 RBStV der funktionsgerechten Finanzausstattung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks im Sinne des § 12 Abs. 1 RStV sowie der Finanzierung der Aufgaben nach § 40 RStV. Ziel des Rundfunkbeitragsstaatsvertrags ist es, die Finanzierungsverantwortung für die objektiv vorteilhaften Angebote des öffentlich-rechtlichen Rundfunks auf diejenigen zu übertragen, die die Möglichkeit haben, diese Rundfunkangebote in Anspruch zu nehmen. Erst wenn objektiv keine Möglichkeit besteht, über irgendeinen Übertragungsweg Rundfunkangebote zu empfangen, ist der Belastungsgrund des Rundfunkbeitrags nicht gegeben. Damit liegt ein beitragslegitimierender Belastungsgrund beim Rundfunkbeitrag überall dort vor, wo Rundfunkwellen ihren Weg hin finden und ihr Empfang nicht objektiv ausgeschlossen ist. Insoweit weist der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz in seinem Urteil vom 13. Mai 201428 zutreffend darauf hin, dass nach der normativen Ausgestaltung des Rundfunkbeitrags die Abgabenpflicht in einem Wechselseitigkeitsverhältnis zur Einräumung der Möglichkeit der Rundfunknutzung als Vorteil steht. Seine Entsprechung findet dies, wie der Verfassungsgerichtshof zu Recht hervorhebt, darin, dass taubblinde Menschen, denen eine Rundfunknutzung objektiv unmöglich ist, gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 10 RBStV von der Beitragspflicht befreit sind, blinde und hörgeschädigte Menschen, die das Rundfunkangebot nur eingeschränkt nutzen können, gemäß § 4 Abs. 2 RBStV nur einen verringerten Beitrag zahlen und in einem besonderen Härtefall, der dann vorliegt, wenn es einem Rundfunkbeitragsschuldner objektiv unmöglich ist, Rundfunk zu empfangen, gemäß § 4 Abs. 6 RBStV eine Beitragsbefreiung vorgesehen ist. Zudem ergibt sich die Konnexität von Abgabenlast und besonderer staatlicher Leistung auch daraus, dass die Abgabenbelastung wie auch die Verwendung der Einkünfte nach Grund und Höhe durch ihre Funktion zur Finanzierung (allein) des Rundfunks bedingt, also unauflösbar miteinander verbunden sind.29 Die Höhe der Rundfunkabgabe bestimmt sich von Verfassungs wegen durch den Finanzbedarf der öf28 29

VerfGH Rheinland-Pfalz, ZUM 2014, 687 (692). VerfGH Rheinland-Pfalz, ZUM 2014, 687 (692).

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fentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und wird von diesem zugleich auch begrenzt. Einerseits haben die Rundfunkanstalten einen Anspruch auf funktionsgerechte Finanzausstattung, um ihrem Grundversorgungs- bzw. Funktionsauftrag nachzukommen. Auf der anderen Seite sind die Länder nicht nur nicht verpflichtet, jede Programmentscheidung, welche die Rundfunkanstalten in Wahrnehmung ihrer Programmfreiheit treffen, finanziell zu honorieren; sie sind vielmehr daran gehindert, soweit die daraus folgende Geldleistungspflicht der Abgabenschuldner das zur Funktionserfüllung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks gebotene Maß überschreitet. Die Länder dürfen nur die Finanzierung der zur Wahrnehmung der spezifischen Funktionen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks erforderlichen Programme ermöglichen.30 Allerdings lässt sich der Betrag, den der öffentlich-rechtliche Rundfunk zur Erfüllung seiner Aufgaben benötigt, nicht durch materielle Bestimmungen hinreichend genau konkretisieren und errechnen. Daher musste ein Verfahren vorgegeben werden, das zu möglichst sachgerechten Ergebnissen führt und die Unabhängigkeit, also die Staatsferne des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, gewährleistet. Dieses dreistufige Verfahren wurde vom Bundesverfassungsgericht – seinerzeit noch zu den Rundfunkgebühren – in Grundzügen vorgegeben31 und ist seitdem im Rundfunkfinanzierungsstaatsvertrag (RFinStV)32 verankert. Diese verfahrensmäßige Lösung ändert aber nichts daran, dass es sich bei der Festsetzung der Beitragshöhe um keine politische oder um eine Ermessens-, sondern innerhalb der rundfunkverfassungsrechtlichen Grenzen um eine gebundene fachliche Entscheidung handelt.33 Demnach ist der Einschätzung des Verfassungsgerichtshofs Rheinland-Pfalz nachdrücklich zuzustimmen, dass diese in der Natur der Rundfunkfinanzierung wurzelnde verfassungsrechtliche Begrenzung des Tatbestands der Abgabenlast durch den Abgabenzweck bei gleichzeitiger entsprechender Verwendungsbindung deren Konnexität begründet.34 Dafür spricht auch der Umstand, dass das Abgabenaufkommen nicht in den allgemeinen Landeshaushalt einfließt, sondern der eigenständigen Verwaltung der Rundfunkanstalten unterliegt.35 Demnach bleibt festzuhalten, dass die Rundfunkabgabe keine Steuer, sondern eine Vorzugslast in Form eines Beitrags ist.36 Sie trägt also ihren Namen zu Recht. 30 Vgl. vor allem BVerfGE 90, 60 (90, 92 f., 102 ff.); 119, 181 (219); dazu auch VerfGH Rheinland-Pfalz, ZUM 2014, 687 (692). 31 Vgl. BVerfGE 90, 60 (90 ff.). 32 Vgl. § 1 – 7 RFinStV. 33 So BVerfGE 90, 60, (95, 103 f.); 119, 181 (219). 34 VerfGH Rheinland-Pfalz, ZUM 2014, 687 (692). 35 So zutreffend VerfGH Rheinland-Pfalz, ZUM 2014, 687 (692); vgl. auch BVerfGE 113, 128 (146). 36 So mit eingehender Begründung auch Kube, Der Rundfunkbeitrag, Rundfunk- und finanzverfassungsrechtliche Einordnung, 2014, S. 49 ff; vgl. auch Bornemann, K&R 2013, 557 f.; Bosmann, K&R 2012, 5 (9); Schneider, NVwZ 2013, 19 (21); unzutreffend Degenhart,

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Dem steht auch nicht die Breite ihres Anwendungsbereiches entgegen. Gerade bei der Ordnung von Massenerscheinungen darf der Gesetzgeber einen möglichst unausweichlichen Belastungsgrund wählen, um die Gleichmäßigkeit des Gesetzesvollzuges nicht zu erschweren.37 Es trifft zu, dass im privaten Bereich gemäß § 2 RBStValle Wohnungsinhaber sowie im nicht privaten Bereich gemäß § 5 RBStV alle Inhaber von Betriebsstätten Beitragsschuldner sind. Als Wohnungsinhaber gelten alle volljährigen Personen, die die Wohnung selbst bewohnen. Dies schließt aber den Beitragscharakter keineswegs aus. Zwar spricht der Umstand, dass kein abgegrenzter bzw. ein schwer abgrenzbarer Kreis der Abgabenpflichtigen vorliegt, eher gegen eine Vorzugslast. Entscheidend ist und bleibt aber, dass es sich bei der Bereitstellung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks dennoch um eine besondere, vorteilsbegründende – und damit im Wege nichtsteuerlicher Abgaben finanzierbare bzw. zu entgeltende – öffentliche Leistung handelt. Dies wird auch dadurch verdeutlicht, dass die Zahl der durch den Rundfunkbeitrag tatsächlich Beitragsbelasteten aufgrund des Umstands, dass der Beitrag je Wohnung nur einmal anfällt, nur unwesentlich von derjenigen nach dem bisherigen Rundfunkgebührenstaatsvertrag abweicht. Das Bundesverfassungsgericht hat, wie bereits ausgeführt, ohne eine konkrete Einordnung in eine bestimmte Art der Vorzugslast vorzunehmen, stets daran festgehalten, dass die Rundfunkgebühr als nichtsteuerliche Abgabe anzusehen ist und es sich bei ihr um die dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk gemäße Art der Finanzierung handele.38 III. Die Wahl zulässiger Anknüpfungspunkte 1. Die Zulässigkeit typisierender Regelungen Fraglich ist darüber hinaus, ob der Gesetzgeber für die Beitragspflicht mit der Wohnung, der Betriebsstätte und den KFZ zulässige Anknüpfungspunkte gewählt hat und auf dieser Grundlage die Betroffenen zur Abgabenzahlung verpflichten durfte. Dieses Problem betrifft nach zutreffender Auffassung des Verfassungsgerichtshofes Rheinland-Pfalz39 nicht die Bestimmung der Abgabenart und damit auch nicht die Gesetzgebungskompetenz dem Grunde nach. Ist eine Abgabe wegen der rechtlichen Verknüpfung von Leistung und Gegenleistung dem Grunde nach als nicht steuerlich zu qualifizieren, so bleibt es bei ihrer formalen Zuordnung zu den allgemeinen Sachgesetzgebungskompetenzen der Art. 70 ff. GG unabhängig davon, ob ihre Erhebung als solche sachlich gerechtfertigt bzw. ihre Bemessung möglicherweise unzulässig überhöht ist.40 Wie bereits dargelegt, bedarf eine Vorzugslast stets einer besonderen

K&R Beihefter 1/2013, 1 (11 f.) und Geuer, VR 2012, 378 (379) und, die annehmen, es läge eine Steuer vor. 37 BVerfGE 101, 297 (309). 38 BVerfGE 73, 118 (158); 87, 181 (199); 90, 60 (90); BVerfG, NJW 2012, 3423 f. 39 VerfGH Rheinland-Pfalz, ZUM 2014, 687 (692). 40 BVerfGE 108, 1 (13).

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sachlichen Rechtfertigung.41 Mit dem Rundfunkbeitrag soll nach dem Willen des Gesetzgebers im privaten wie im nicht privaten Bereich der Vorteil abgegolten werden, der daraus resultiert, dass öffentlich-rechtliche Rundfunkangebote zur Nutzung bereitgestellt werden. Die Abgabenschuldner werden hierdurch an den Kosten einer öffentlichen Einrichtung, welche ihnen besondere Vorteile gewährt, beteiligt, ohne dass es darauf ankommt, ob sie diese tatsächlich wahrnehmen. Der Gesetzgeber hat damit, wie der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz42 zutreffend ausführt, zwei Abgabengründe – das zu finanzierende Rundfunkangebot (anstaltsbezogene Kosten) einerseits sowie die (vermutete) individuelle Nutzung des Rundfunks (nutzungsbedingte Vorteile) andererseits – miteinander auf unterschiedlichen Ebenen kombiniert. Abgabengrund ist danach allein die Möglichkeit des Rundfunkempfangs. Die Beitragshöhe hingegen hat der Gesetzgeber anhand einer (typisierten) tatsächlichen Nutzung des Rundfunkangebots bemessen, indem er nicht an die – insbesondere mit Aufgabe des Gerätebezugs individuell nicht mehr berechenbare – Rundfunknutzung des Einzelnen bzw. deren Umfang anknüpft, sondern die potenziellen Rundfunknutzer unter Zugrundelegung deren (angenommenen) üblichen Rundfunkkonsums zu Gruppen zusammengefasst und den Wert der Bereitstellung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks anhand einer die individuell unterschiedlichen Nutzungsgewohnheiten ausgleichenden „durchschnittlichen“ Nutzung der Gruppenmitglieder – Bewohner, Beschäftigte bzw. Kraftfahrzeug – bewertet hat. Bezogen auf das Finanzierungssystem des Rundfunkbeitrags stellt sich hier also konkret die Frage, ob es zulässig ist, die Abgabenpflicht in dieser Weise an das Innehaben von Wohnungen, Betriebsstätten und Kraftfahrzeugen zu knüpfen. Da der Beitrag in Abgrenzung zur Gebühr gerade nicht die Feststellung einer tatsächlichen Leistungsinanspruchnahme fordert, sondern bereits die Möglichkeit der Inanspruchnahme einer vorteilhaften Leistung entgilt, ist er nicht auf den jeweils einzeln individualisierbaren tatsächlichen Nutzer, sondern auf eine Gruppe möglicher Empfänger ausgerichtet. Ist die Gruppe möglicher Empfänger bei Rundfunkangeboten sehr groß, muss die tatbestandsmäßige Erfassung der Gruppe nach den Regeln der in Massenverfahren üblichen tatbestandlichen Typisierungen sachgerecht verallgemeinert werden dürfen, weil ansonsten die Vollzugspraktikabilität der Abgabe in Frage stünde. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts43 kommt dem Gesetzgeber vor allem bei der Ordnung von Massenerscheinungen und deren Abwicklung ein Spielraum für generalisierende, typisierende und pauschalierende Regelungen zu. Der in der Literatur44 erhobene Einwand, dass die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Typisierungsbefugnis bei Massenerscheinungen beim Rundfunkbeitragsstaatsvertrag nicht herangezogen werden könnte, weil sich die Aussagen im Abgabenrecht nur auf die Belastungshöhe und nicht auf den Belas41

BVerfGE 108, 1 (16 f.); 93, 319 (342 f.); 91, 186 (202 f.). VerfGH Rheinland-Pfalz, ZUM 2014, 687 (694). 43 St. Rspr., vgl. BVerfGE 82, 126 (151 f.); 84, 348 (359 f.); 96, 1 (6); 101, 297 (309). 44 Vgl. Degenhart, Verfassungsfragen des Betriebsstättenbeitrags nach dem Rundfunkbeitragsstaatsvertrag der Länder, K&R Beihefter 1/2013, 1 (16 f.). 42

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tungsgrund bezögen, trifft schon deshalb nicht zu, weil die Entscheidungen zur Typisierungsbefugnis allgemeingültige Aussagen enthalten, die auch bei der Regelung anderer Massenerscheinungen, etwa bei unterschiedlichen Kündigungsregeln für Arbeiter und Angestellte45 oder bei Entscheidungen zum Renteneintrittsalter46, angewendet werden. Der Gesetzgeber ist danach grundsätzlich berechtigt, generalisierende, typisierende und pauschalierende Regelungen zu verwenden, ohne allein wegen der damit verbundenen Härten per se gegen den allgemeinen Gleichheitssatz zu verstoßen.47 Typisierungen bewegen sich, ihrer Natur als Verallgemeinerung geschuldet, in einem Spannungsverhältnis zwischen der Allgemeinheit des Rechts und der Differenziertheit von Sachverhalten. Gesetzgeberische Typisierung hat nämlich zur Folge, dass ein Sachverhalt im Hinblick auf den Regelungszweck nur schematisch erfasst wird, ohne den Besonderheiten jedes möglichen Einzelfalls Rechnung zu tragen.48 Gerade in einem Massenverfahren wie der Erhebung einer Rundfunkabgabe gefährdet eine individualisierende und spezialisierende Gesetzgebung letztlich die Gleichmäßigkeit des Gesetzesvollzugs. Zweckmäßig sind hier vielmehr die Formulierung eines allgemein verständlichen und möglichst unausweichlichen Belastungsgrundes sowie die gesetzliche Erfassung typischer Lebensvorgänge unter Ausblendung individuell gestaltbarer Besonderheiten.49 Die in der Rechtsprechung eindeutig im Vordergrund stehende Begründung für typisierende Normen ist die Praktikabilität ihres Vollzuges durch die Verwaltung.50 Daneben kommen ebenso „Erwägungen der Verfahrensökonomie“51, „praktische Erfordernisse der Verwaltung“52, „Bedürfnisse einer effektiven und sparsamen Verwaltung“53 und „verwaltungstechnische“54 oder „Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte“55 in Betracht. Zudem dienen Typisierungen auch dazu, Gesetzesumgehungen zu verhindern, da die Verwaltung bei der Anwendung eindeutig feststellbarer Tatbestandsmerkmale nicht auf unkontrollierbare Angaben der Normadressaten angewiesen ist.56 Ferner kann vermieden werden, dass die Verwaltung zur Sachverhaltsaufklärung in die Privatsphäre eindringen muss. Die Einfachheit des Normvollzuges ist 45

BVerfGE 82, 126 (151 f.). BVerfGE 74, 163 (180 f.). 47 BVerfGE 100, 138 (174); 108, 1 (19), vgl. auch Kube, Der Rundfunkbeitrag, Rundfunkund finanzverfassungsrechtliche Einordnung, 2014, S. 53 f. 48 Vgl. dazu Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 248. 49 Vgl. auch BVerfGE 96, 1 (6); 101, 297 (309). 50 Vgl. dazu Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 249 ff. 51 BVerfGE 60, 16 (49). 52 BVerfGE 6, 55 (83). 53 BVerfGE 31, 145 (179), ähnlich BVerfGE 80, 109 (118 f.). 54 BVerfGE 6, 55 (8). 55 BVerfGE 9, 20 (32); 18, 97 (110). 56 Vgl. BVerfGE 6, 55 (83); 13, 331 (343 f.). 46

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dabei umso bedeutsamer, je mehr Einzelfälle die Verwaltung zu bearbeiten hat. Dies gilt insbesondere für Rechtsgebiete, in denen es um die „Ordnung von Massenerscheinungen“57 geht. Diese in der Rechtsprechung anerkannten Gründe gesetzlicher Typsierungen – die Einsichtigkeit der Abgabe, die Praktikabilität des Gesetzesvollzuges, die Unausweichlichkeit der Abgabenlast und die Schonung der Privatsphäre – sprechen in besonderer Weise für die im Rundfunkbeitragsstaatsvertrag enthaltene typisierende Anknüpfung. Anschaulich lässt sich dies im Vergleich zur Rundfunkgebühr erläutern, bei der die vorstehend formulierten Gründe gesetzlicher Typisierung in ihrer Ausprägung als die Typisierung rechtfertigende Ziele zunehmend nicht mehr erreicht werden konnten. Vor allem in der administrativen Umsetzung zeigten sich immer drängendere Defizite des Gerätebezugs, nicht zuletzt bei dem Versuch, die Möglichkeit der Angebotsnutzung in ausreichendem Maße vor dem Hintergrund der Belastungsgleichheit zu erfassen. Nach dem 17. Bericht der Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten vom Dezember 200958 lag die Teilnehmerdichte insbesondere in Großstädten weit unter dem Durchschnitt. Sie betrug im Jahr 2007 in Berlin, Frankfurt a. M., München und Stuttgart lediglich zwischen 76,9 und 78,5 Prozent (der bundesweite Durchschnitt liegt bei etwa 90 Prozent). Diese Zahlen zeigen, dass eine gleichheitsgerechte Durchsetzung einer Abgabenpflicht, die an das Bereithalten eines Rundfunkempfangsgeräts anknüpfte, vielerorts nicht mehr dem Grundsatz der Abgabengleichheit gerecht werdend umgesetzt werden konnte. Zwar berührt die Ineffektivität des Rechts nicht grundsätzlich dessen Geltung. Sie kann aber seine Verfassungswidrigkeit zur Folge haben. Eine Abgabe, die das Defizit ausreichender Verifizierung der sie begründenden Umstände bereits strukturell in sich trägt, droht das abgabenlegitimierende Ziel der tatsächlichen Belastungsgleichheit zu verfehlen.59 Ein, diese Entwicklung möglicherweise eindämmender, verstärkter Einsatz von Beauftragten mittels einer „Überführung“ vor Ort, hätte wiederum zusätzliche Eingriffe in die grundrechtlich geschützten Sphären von Wohnungen und Betriebsstätten und damit einhergehende Akzeptanzschwächung zur Folge gehabt. Daher ist es sachgerecht und zulässig, dass der Gesetzgeber typisierende Regelungen gewählt hat. Allerdings muss sich seine Einschätzung, dass in Wohnungen, Betriebsstätten und Kraftfahrzeugen die Möglichkeit des Rundfunkempfangs besteht und gerade dort auch typischerweise wahrgenommen wird, als nachvollziehbar erweisen und sich im Rahmen seines Prognosespielraums bewegen. Er ist allerdings nicht gezwungen, das optimale Abgrenzungskriterium für die Erreichung seiner Ziele zu wählen, sondern kann sich darauf beschränken, ein Kriterium zu wählen, das zwar die wesentlichen, nicht aber alle denkbaren Fälle erfasst. 57

BVerfGE 129, 49 (71). 17. KEF-Bericht, abrufbar auf der Internetseite der KEF unter www.kef-online.de, Rn. 460. 59 Vgl. BVerfGE 84, 239 (271 f.); 110, 94 (113). 58

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2. Die Wohnung als Anknüpfungspunkt Auf dieser Grundlage ist zu klären, ob der vom Gesetzgeber für den privaten Bereich gewählte Anknüpfungspunkt „Wohnung“ zulässig ist. In Deutschland waren 2010 nur vier Prozent der Privathaushalte nicht mit mindestens einem Fernsehgerät ausgestattet.60 Bei lebensnaher Betrachtung kann deshalb davon ausgegangen werden, dass in nahezu allen Wohnungen in der Bundesrepublik die Möglichkeit besteht, Rundfunkangebote über vorhandene Geräte zu empfangen. Da der Belastungsgrund des Rundfunkbeitrags jedoch gerade nicht in der tatsächlichen Inanspruchnahme von Rundfunkangeboten, sondern nur in der Eröffnung der Möglichkeit ihrer Inanspruchnahme liegt, ist die Frage zu stellen, ob der Anknüpfungspunkt der Wohnung insoweit zutreffend gewählt wird, als dort regelmäßig die Möglichkeit zum Rundfunkempfang besteht. Selbst wenn in den Räumlichkeiten einer Wohnung überhaupt keine Geräte vorhanden sein sollten, so sind doch die tatsächlichen und hier vor allem die finanziellen Hürden, diesen Zustand zu ändern, um die grundsätzlich gegebene Rezeptionsmöglichkeit auch zu nutzen, sehr gering. Insoweit kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber mit der Wohnung einen Anknüpfungspunkt gewählt hat, der im Lichte des gewählten Belastungsgrundes nicht als willkürlich oder untypisch erscheint. Für den Fall, dass es außerhalb des typischen Sachverhalts eine Raumeinheit geben sollte, die zwar der Definition der Wohnung unterfällt, in der Rundfunkempfang jedoch aus welchen Gründen auch immer objektiv ausgeschlossen ist, sieht der Rundfunkbeitragsstaatsvertrag in § 4 Abs. 6 RBStV ein Härtefallregelung vor. Wie die Gesetzesbegründung zu dieser Vorschrift zeigt, entspricht dieser Sachverhalt, in dem Belastungsgrund und Anknüpfungspunkt auseinanderfallen, der Vorstellung eines Härtefalls, wie ihn auch der Gesetzgeber vor Augen hatte.61 Demnach stellt die Wohnung einen zulässigen Anknüpfungspunkt dar. 3. Die Betriebsstätte als Anknüpfungspunkt Auch die Räumlichkeiten der Betriebsstätten müssen, um sachgerechte Anknüpfungspunkte darzustellen, Orte des nicht nur möglichen, sondern auch typischen Rundfunkempfangs sein. Zunächst ist es sachgerecht, dass man mit der Betriebsstätte an eine Räumlichkeit und nicht an Unternehmen als gesellschaftsrechtliche Konstrukte anknüpft, die an sich noch keinen Rückschluss auf die Möglichkeit von Rundfunkempfang zulassen. Nur die Anknüpfung an Räumlichkeiten bietet eine ausreichende Gewähr dafür, dass tatbestandlich nur solche Konstellationen erfasst werden,

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Vgl. Geräteausstattung 2010, Quelle: Mediendaten Südwest, abrufbar unter: http://www. mediendaten.de/index.php?id=medienausstattung-geraete-d. 61 Vgl. Begründung zum Fünfzehnten Rundfunkänderungsstaatsvertrag, abgedruckt bei Hartstein/Ring/Kreile/Dörr/Stettner/Cole/Wagner, Rundfunkstaatsvertrag, A 2.12.

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in denen typisierend von der Nutzung des Rundfunkangebots ausgegangen werden kann. Angesichts der weiten Definition der Betriebsstätte in § 6 RBStV, die auch Raumeinheiten auf zusammenhängenden Grundstücken umfasst, sowie der Zuordnung jeweils eines Kraftfahrzeugs zu jeder Betriebsstätte, wie sie § 5 Abs. 2 Satz 2 RBStV zu Grunde liegt, durfte der Gesetzgeber davon ausgehen, dass in diesen Räumlichkeiten von der Möglichkeit, Rundfunkprogramme zu empfangen, durchgängig Gebrauch gemacht wird. Rundfunkempfang ist auf Autofahrten, in Arbeitspausen, als Empfang erwerbsdienlicher Informationen oder als ständige Nutzung im Betriebsalltag üblich. Es ist allerdings davon auszugehen, dass die Möglichkeit der Nutzung von Rundfunkangeboten in kleinen Betrieben typischerweise nicht in dem Maße wahrgenommen wird, wie dies im Bereich der Wohnungen der Fall ist. Darauf hat der Gesetzgeber reagiert und den Erstbetrag bei derartigen Betrieben nur bei einem Bruchteil (ein Drittel) der Wohnungsabgabe angesetzt. Dem kann, wie der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz62 zutreffend betont, auch nicht entgegengehalten werden, die Bedeutung des Rundfunks beschränke sich auf die Meinungsbildung der Bürger, mithin den privaten Bereich im Sinne von § 2 RBStV.63 Zutreffend weist der Verfassungsgerichtshof darauf hin, dass Unternehmen und ihre Verbände an der gesellschaftlichen und damit insbesondere auch der politischen Meinungsbildung mitwirken und in vielen Bereichen gleichermaßen sich in viel stärkerem Maße Gehör verschaffen können als der einzelne Bürger. Zudem ergibt sich ein weiterer ausgleichsfähiger potenzieller Vorteil für den nicht privaten Bereich daraus, dass der Rundfunk eine wichtige Informationsquelle wirtschafts- und erwerbsrelevanter Informationen ist.64 Dem Inhaber einer Betriebsstätte stehen diese Informationen unabhängig davon zur Verfügung, ob er sie hieraus tatsächlich nutzt oder sich anderer Quellen bedient. Für den Fall, dass in einer Räumlichkeit, die unter das Tatbestandsmerkmal der Betriebsstätte subsumiert werden kann, kein Arbeitsplatz eingerichtet ist, sieht § 5 Abs. 5 Nr. 2 RBStV eine Befreiung von der Beitragspflicht vor. Hier schätzt der Gesetzgeber nachvollziehbar die Möglichkeit, Rundfunkangebote in Anspruch zu nehmen, als atypisch ein und verzichtet folgerichtig auf die Erhebung der Abgabe. Gleiches gilt für die in § 5 Abs. 4 RBStV vorgesehene Freistellung wegen Betriebsstilllegung. Auch hier erkennt der Gesetzgeber, dass Rundfunkempfang in leerstehenden Räumlichkeiten atypisch ist. Die Forderung nach einem Stilllegungszeitraum von mindestens drei Monaten ist verwaltungspraktischen Gründen geschuldet. Allerdings fehlt im Unterschied zum privaten Bereich eine allgemeine Härteregelung. Aus Sicht des Verfassungsgerichtshofs Rheinland-Pfalz ist eine Rücksichtnahme auf weitere atypische Fälle derzeit verfassungsrechtlich nicht geboten, zumal extremen Härtefälle auch im Wege einer verfassungskonformen Auslegung oder (entspre62

VerfGH Rheinland-Pfalz, ZUM 2014, 687 (695). So aber Wiemers, GewArch 2013, 110 (113). 64 P. Kirchhof, Die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, 2010, S. 65. 63

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chender) Anwendung von § 5 Abs. 4 Satz 1, Abs. 5 Nr. 2 RBStV Rechnung getragen werden könne. Allerdings müsse der Gesetzgeber die Entwicklung des Rundfunkbeitragsrechts einschließlich der hierzu wechselbezüglichen technischen Veränderungen fortlaufend beobachten und ihnen gegebenenfalls durch eine Anpassung der beitragsrechtlichen Vorschriften – etwa durch die Aufnahme einer allgemeinen Härtefallregelung auch für den nicht privaten Bereich – Rechnung tragen. 4. Kraftfahrzeuge als Anknüpfungspunkt Schließlich knüpft § 5 Abs. 2 Nr. 2 RBStV die Beitragspflicht im nicht privaten Bereich an Kraftfahrzeuge, die zu gewerblichen, gemeinnützigen oder öffentlichen Zwecken oder zu anderen selbstständigen Erwerbstätigkeiten genutzt werden. Dagegen wird kritisch eingewandt, dass dies einen Systembruch durch die Einführung einer „faktischen Gerätegebühr“ darstelle.65 Dieser Einwand geht fehl. Er berücksichtigt nicht, dass gerade nicht an das Gerät als solches, sondern wie bei Wohnungen und Betriebsstätten an die Raumeinheit der Fahrgastzelle angeknüpft wird, in der der Gesetzgeber Rundfunkempfang vermutet. Diese Vermutung ist zutreffend. Kraftfahrzeuge verfügten schon 2007 mit einer Wahrscheinlichkeit von 97 Prozent über ein Hörfunkgerät und stellen sich damit als Stätte des typischen Rundfunkempfangs dar.66 IV. Fazit Die Bestimmung des Anknüpfungspunktes eines Beitrags, der nicht in der tatsächlichen, sondern in der möglichen Nutzung seinen Belastungsgrund findet, bewegt sich stets im Spannungsfeld zwischen vermuteter und tatsächlicher Inanspruchnahme der Leistung, worin zugleich ihre Problematik umschrieben ist. In einem Vorgang der Massenverwaltung, in dem von einer sehr großen Anzahl an Schuldnern in kurzen Abständen (Monatszeiträume) Abgaben erhoben werden, muss die Abgabepflicht verlässlich durchgesetzt werden können. Der Gesetzgeber darf sich hier an vorgegebenen Realitäten orientieren, konkret an den Orten des typischen Rundfunkempfangs. Durch eine Anknüpfung an Wohnung, Betriebsstätte und Kraftfahrzeug erscheint zwar die mögliche Diskrepanz zwischen vermuteter und tatsächlicher Inanspruchnahme etwas weiter als bei der Anknüpfung am Empfangsgerät. Eine unverhältnismäßige Ausweitung ist hierin jedoch nicht zu sehen. Die Vorteile der neuen Typisierung stehen vielmehr im rechten Verhältnis zu den mit ihr verbundenen Nachteilen. Die Erneuerung des Anknüpfungspunktes bewirkt einen deutlichen Fortschritt im Hinblick auf eine gleichmäßige Durchsetzung der Abgabenpflicht. Die Inhaberschaft von Wohnung, Betriebsstätte und Kraftfahrzeug lässt sich schwerlich leugnen und ist in den meisten Fällen von außen sichtbar. Diese Neuerung vermag auch keiner 65 66

So Degenhart, ZUM 2011, 193 (197 f.). Vgl. Deutsches Kraftfahrzeuggewerbe, Zahlen und Fakten 2007, Ausgabe 2008.

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Einordnung der Abgabe als Beitrag entgegenzustehen. Wird für eine geräteunabhängige Abgabe der Belastungsgrund der generellen Möglichkeit des Rundfunkempfangs innerhalb von Wohnungen, Betriebsstätten und Kraftfahrzeugen gewählt, so handelt es sich dabei um einen vermuteten Vorteil. Ob der Betroffene diesen Vorteil dadurch nutzt, dass er ein Gerät anschafft, mit dem er den vermuteten Vorteil für sich individuell aktualisiert, ist für die Einordnung als Beitrag unerheblich. V. Zusammenfassung Der Rundfunkbeitrag trägt seinen Namen zu Recht. Er ist ein Beitrag im finanzverfassungsrechtlichen Sinne. Die Abgabenform des Beitrags wirft in ihrer Wirkungsbreite zwischen Gemeinlast und Leistungsentgelt grundsätzlich die Frage nach der Abgrenzung zur Steuer auf. Seine sachliche Rechtfertigung findet er neben der Steuer in der Ausgleichsfunktion für eine besondere individuell zurechenbare öffentliche Leistung, wohingegen die Steuern losgelöst von bestimmten staatlichen Gegenleistungen nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip zur Bewältigung aller die Gemeinschaft treffenden Lasten beitragen. Die vorstehenden Ausführungen zeigen, dass dem Rundfunkbeitrag ein solcher Gegenleistungscharakter zukommt. Dass sich der Rundfunkbeitrag „gefühlt“ von anderen gängigen Beitragskonstellationen unterscheidet, hängt an der Besonderheit der Rundfunkfinanzierung als staatsfern auszugestaltende Finanzierung einer Leistung, die von so vielen Personen potentiell in Anspruch genommen werden kann, dass sich die Abgabenerhebung als Massenphänomen darstellt. In der Regel hebt sich der Beitragsschuldner von der Allgemeinheit durch eine räumliche Nähe zu der Einrichtung ab, deren Nutzungsmöglichkeit für ihn potentielle Vorteile bieten kann, wie etwa bei der Kurtaxe, der Fremdenverkehrsabgabe oder beim Anliegerbeitrag. Das Kriterium der räumlichen Nähe kann jedoch angesichts der Tatsache, dass Rundfunkwellen räumliche Grenzen überschreiten, im Bereich einer Rundfunkabgabe keine Distinktionskraft beanspruchen. Weiter darf es nicht durch das Kriterium des Gerätebesitzes ersetzt werden, um dem subjektiven Bedürfnis nach einer Einschränkung des Wirkungskreises nachzugeben. Der Besitz zum Rundfunkempfang geeigneter Geräte ist nur ein möglicher, mit der Zeit jedoch als nicht praktikabel erkannter Anknüpfungspunkt. Es ist verfehlt, diesen Anknüpfungspunkt als den einzig möglichen anzusehen. Vielmehr bildet er nur einen mehrerer möglicher Anknüpfungspunkte für den Belastungsgrund des möglichen Rundfunkempfangs. Die typisierten Empfangsgemeinschaften in Wohnungen und Betriebsstätten vermögen den Belastungsgrund in Zeiten der Konvergenz wesentlich praktikabler und umgehungssicherer tatbestandlich zu erfassen. An den Anknüpfungspunkt des Beitrags darf nicht die Forderung herangetragen werden, dass er ausschließlich Konstellationen umfasst, die durch eine tatsächliche Nutzung gekennzeichnet sind. Dies bestätigen auch die Entscheidungen des Bundes-

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verfassungsgerichts67 und des Bundesverwaltungsgerichts68, welche die damalige Erstreckung der Rundfunkgebührenpflicht auch auf internetfähige PCs im Rahmen einer Vorzugslast als zulässig ansahen. Die Gerichte waren sich bewusst, dass nicht jeder internetfähige PC tatsächlich zum Rundfunkempfang benutzt wird. So weist das Bundesverwaltungsgericht darauf hin, dass PCs vorrangig Rechner und Internet-Kommunikationsgeräte sind, während das traditionelle Rundfunkempfangsgerät nur Rundfunk empfangen kann und keine andere Funktion hat. Trotzdem war die typisierende Anknüpfung an diese multifunktionalen Geräte angesichts des Spielraumes, der dem Gesetzgeber bei der adäquaten Bewältigung von Massenerscheinungen zukommt, aus Sicht beider Gerichte gerechtfertigt. Die große Zahl potentieller Abgabenpflichtiger ist schließlich kein Alleinstellungsmerkmal der Steuer. Der Beitrag unterscheidet sich von der Steuer nicht durch die Anzahl der Abgabenpflichtigen, sondern durch den Gegenleistungsbezug, der sich in dem Vorteil eines Leistungsangebots manifestiert. Nach alledem ist der Rundfunkbeitrag finanzverfassungsrechtlich als Beitrag einzuordnen. Die Abgabenkompetenz folgt als Annexkompetenz der Sachkompetenz. Die Länder waren für den Erlass des Rundfunkbeitragsstaatsvertrages gem. Art. 70 GG zuständig. Mit dem neuen Rundfunkbeitrag haben sie ein sachgerechtes und zukunftsfähiges Finanzierungsinstrument für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk gewählt. Ob mit der – insoweit typisierenden – Wahl des Anknüpfungspunktes sowie der im nicht privaten Bereich geltenden Staffelregelung eine in jeder Hinsicht dem Gleichheitssatz genügende Regelung gefunden wurde, ist keine Frage der Beitragsqualität der Abgabe, sondern ein Problem der Grundrechtskonformität, die hier nicht mehr behandelt werden kann. Insoweit muss der Hinweis genügen, dass der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz69 und der Bayerische Verfassungsgerichtshof70 nach sorgfältiger und überzeugender Prüfung einen Grundrechtsverstoß, insbesondere einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz, verneint haben.

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BVerfG, NJW 2012, 3423 f. BVerwG, NJW 2011, 952. 69 VerfGH Rheinland-Pfalz, ZUM 2014, 687 (697 ff.). 70 BayVerfGH, ZUM-RD 2014, 404 (420 ff.). 68

Besteuerung der Alterseinkünfte der Basisversorgung: intertemporale Korrespondenz auch bei internationalen Sachverhalten? Von Jutta Förster, München Durch das Alterseinkünftegesetz1 wurde vor zehn Jahren die steuerliche Berücksichtigung der Altersvorsorgeaufwendungen und die Besteuerung der Alterseinkünfte neu geregelt. Insbesondere die steuerliche Behandlung der Basisversorgung, zu der neben der gesetzlichen Rentenversicherung die landwirtschaftlichen Alterskassen, die berufsständischen Versorgungseinrichtungen sowie die kapitalgedeckte Altersversorgung, die sog. Rürup-Rente gehören, erfuhr einen grundlegenden Systemwechsel. Sie beruht nunmehr auf dem Modell der nachgelagerten Besteuerung. Altersvorsorgeaufwendungen sind abziehbar, Alterseinkünfte sind als solche steuerbar. Steuerlich berücksichtigt werden damit – wenn auch zeitlich versetzt – Aufwendungen und Erträge. Dieses Konzept beruht auf der Annahme der „intertemporalen Korrespondenz“, d. h. das Lebenseinkommen eines Steuerpflichtigen soll nur einmal, aber mindestens einmal besteuert werden.2 Bei der nachgelagerten Besteuerung wird dem Steuerpflichtigen der Vermögensaufbau, d. h. der Erwerb von Rentenbzw. Versorgungsanwartschaften, aus unversteuerten Mitteln ermöglicht, die Zuflüsse aus dem Vermögen und auch solche, die auf dessen Wertsteigerung beruhen, sind dann – nachgelagert – als Alterseinkünfte steuerpflichtiges Einkommen. Was bedeutet die intertemporale Korrespondenz für internationale Sachverhalte, d. h. im Wesentlichen für die Sachverhalte, in denen ein Staat die Altersvorsorgeaufwendungen steuerlich zu berücksichtigen hat, während ein anderer Staat die darauf beruhenden Alterseinkünfte besteuern kann? Diese Frage versucht der Beitrag, der dem verehrten Jubilar gewidmet ist, durch Systematisierung und Veranschaulichung anhand der verschiedenen Fallgruppen unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs zu beantworten. I. Bedeutung der intertemporalen Korrespondenz Ein Aspekt der intertemporalen Korrespondenz ist die steuerliche Behandlung der Altersvorsorgeaufwendungen. Deren Abziehbarkeit ist verfassungsrechtlich geboten. Dabei kann dahinstehen, ob die Altersvorsorgeaufwendungen als Werbungskos1 2

Vom 5. Juli 2004, BGBl I 2004, 1427. Vgl. grundlegend BFH-Urteil vom 26. November 2008 X R 15/07, BStBl II 2009, 710.

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ten zur Erzielung von Alterseinkünften anzusehen sind und daher aufgrund des objektiven Nettoprinzips steuerlich berücksichtigt werden müssen. Auch dadurch, dass der Gesetzgeber sie – trotz ihrer Rechtsnatur als Werbungskosten – konstitutiv den Sonderausgaben zugeordnet hat, konnte er sich der Geltung des objektiven Nettoprinzips und damit ihrer Abziehbarkeit nicht entziehen.3 Zudem fordert das im Sozialstaatsprinzip verankerte subjektive Nettoprinzip die steuerliche Freistellung von zwangsweise entstehendem existenzsichernden Aufwand, wozu zweifelsfrei die Altersvorsorge gehört. Die Messgröße ist hier jedoch das sozialhilferechtlich gewährleistete Leistungsniveau.4 Der andere Aspekt der intertemporalen Korrespondenz bezieht sich auf die Besteuerung der auf den Altersvorsorgeaufwendungen beruhenden Alterseinkünfte. Er soll sicherstellen, dass die Alterseinkünfte tatsächlich besteuert werden, gleichzeitig aber auch verhindern, dass gegen das Verbot der Doppelbesteuerung verstoßen wird. II. Die intertemporale Korrespondenz im Inlandsfall Im Inlandsfall wird die intertemporale Korrespondenz für die Altersvorsorgeaufwendungen durch § 10 Abs. 1 Nr. 2 EStG und in Bezug auf die daraus resultierenden Alterseinkünfte durch § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a Doppelbuchst. aa EStG normiert. 1. Abziehbarkeit der Altersvorsorgeaufwendungen Die Altersvorsorgeaufwendungen zur Basisversorgung sind seit dem 1. Januar 20155 – sofern sie nicht bereits gemäß § 3 Nr. 62 EStG steuerfrei sind – als Sonderausgaben bis zum Höchstbeitrag zur knappschaftlichen Rentenversicherung (vorher 20.000 E) abziehbar. Für Ehegatten verdoppelt sich der Höchstbetrag. Bei den Steuerpflichtigen, die ihre Altersversorgung ohne eigene Beitragsleistung erhalten (wie z. B. Beamte), ist der Höchstbetrag um den fiktiven Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteil zur allgemeinen Rentenversicherung zu kürzen. Bei der Ermittlung der vom Steuerpflichtigen tatsächlich geleisteten Aufwendungen ist hingegen der steuerfreie Arbeitgeberanteil zur gesetzlichen Rentenversicherung oder ein diesem gleichgestellter steuerfreier Zuschuss des Arbeitgebers hinzuzurechnen. 3 S. BFH-Urteile vom 18. November 2009 X R 34/07, BStBl II 2010, 414; X R 45/07, BFH/NV 2010, 421; X R 6/08, BStBl II 2010, 282; X R 9/07, BFH/NV 2010, 412, und vom 9. Dezember 2009 X R 28/07, BStBl II 2010, 348. 4 Vgl. insbesondere BFH-Urteil vom 9. Dezember 2009 X R 28/07, BStBl II 2010, 348; vgl. auch Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 13. Februar 2008 2 BvL 1/06, BVerfGE 120, 125 zur Abziehbarkeit von Beiträgen zur Krankenversicherung; siehe auch Förster, Jutta, Begrenzte Abziehbarkeit der Altersvorsorgeaufwendungen: verfassungsgemäß trotz aller Bedenken, DStR 2010, 137 ff. 5 Art. 5 Nr. 8 Buchst. b Doppelbuchst. aa des Gesetzes zur Anpassung der Abgabenordnung an den Zollkodex der Union und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften vom 22. Dezember 2014, BGBl I 2014, 2417.

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Da eine sofortige vollständige Abziehbarkeit der Rentenbeiträge ab dem Jahr 2005 den Staatshaushalt zu sehr belastet hätte, wurde eine Übergangsregelung geschaffen: Seit 2005 können zunächst 60 % des Höchstbetrages steuermindernd geltend gemacht werden, abzüglich des steuerfreien Arbeitgeberanteils. Der Prozentsatz steigt seitdem jährlich um 2 Prozentpunkte an, so dass ab 2025 der volle Sonderausgabenabzug erreicht sein wird.6 2. Besteuerung der Alterseinkünfte Eine vollständige Besteuerung der Alterseinkünfte ab 2005 – sei es bei den Rentnern, sei es bei den Beamten – wäre aus sozialpolitischen Gründen nicht zu vertreten gewesen, so dass im Rahmen der Übergangsregelung bei der Besteuerung der Alterseinkünfte die spezifischen Steuervergünstigungen der jeweiligen Einkunftsarten, die den Steuerpflichtigen im Laufe der Zeit zum Ausgleich gewährt worden waren, schrittweise abgesenkt wurden. Nach dem Stufenplan zur Verwirklichung der nachgelagerten Besteuerung der Altersrenten gehen alle Basisversorgungsrenten, die im Jahr 2005 bzw. bereits in davor liegenden Jahren begonnen haben, zu 50 % in die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer ein. Der steuerbare Anteil der Rente für jeden neu hinzukommenden Rentenjahrgang wird bis zum Jahr 2020 jährlich um zwei Prozentpunkte erhöht, danach um einen Prozentpunkt, so dass erstmalig für die „Rentnerkohorte“ des Jahres 2040 die Leibrente in voller Höhe steuerpflichtig sein wird. Die Prozentsätze gelten einheitlich für alle Rentenbezieher, also auch für vormals Selbstständige und Nichtpflichtversicherte. Der steuerfrei bleibende Betrag wird – von gewissen Änderungsmöglichkeiten abgesehen – auf die Laufzeit der Rente festgeschrieben. Zudem ist die sog. Öffnungsklausel zu beachten: Sind die Voraussetzungen des § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a Doppelbuchst. bb Satz 2 EStG erfüllt, kann der entsprechende Teil der Altersrente mit dem niedrigeren Ertragsanteil besteuert werden. 3. Verwirklichung der intertemporalen Korrespondenz im Inlandsfall Der Gesetzgeber hat sich erkennbar bemüht, im Rahmen der gesetzlichen Neuregelung die intertemporale Korrespondenz zu berücksichtigen; dennoch ist sie in den folgenden Konstellationen nicht uneingeschränkt verwirklicht worden.

6 Da es bei der Neuregelung durch die Separierung der Altersvorsorgeaufwendungen von den anderen Vorsorgeaufwendungen in bestimmten Fällen zu einer Schlechterstellung kommen kann (vor allem bei kleinen Einkommen bis 12.000 E oder bei Selbstständigen mit geringen Altersvorsorgeaufwendungen i.S.d. § 10 Abs. 1 Nr. 2 EStG und hohen Beiträgen zu kapitalbildenden Lebensversicherungen), wird bis zum Jahr 2019 von Amts geprüft, ob die Abziehbarkeit nach der früheren Rechtslage günstiger ist, vgl. 10 Abs. 4a EStG.

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a) Eingeschränkte Abziehbarkeit der Altersvorsorgeaufwendungen Die Begrenzung der abziehbaren Altersvorsorgeaufwendungen auf den Höchstbeitrag zur knappschaftlichen Rentenversicherung führt zwar zur Einschränkung des objektiven Nettoprinzips, sie ist aber verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Mit der Höchstgrenze wollte der Gesetzgeber verhindern, dass die Steuerpflichtigen die Möglichkeit der freiwilligen Altersvorsorge in einem Maße nutzen, die über eine – in seinen Augen – angemessene Alterssicherung hinausgeht. Zwar ist eine solche „Missbrauchsgefahr“ wegen der Einschränkungen in der Nutzbarkeit der Basisversorgung relativ gering, da keine Möglichkeit besteht, die Basisaltersversorgung zu übertragen, zu beleihen oder zu vererben. Dem Steuergesetzgeber steht aber insoweit eine Einschätzungsprärogative zu7. Offensichtlich erscheint indes eine Berührung des objektiven Nettoprinzips bei der Übergangsregelung, weil in dem Zeitraum bis 2025 ein erheblicher Teil der Altersvorsorgeaufwendungen nicht abziehbar ist. Dennoch verneint der Bundesfinanzhof eine Verletzung des Nettoprinzips und beruft sich dabei auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nach der die Einschränkungen des objektiven Nettoprinzips ausdrücklich als zulässig anerkannt werden, wenn es um einen grundsätzlichen Systemwechsel geht. Dies setzt allerdings voraus, dass wirklich ein neues Regelwerk geschaffen wird, woran man bei der Neuregelung der steuerlichen Behandlung der Basisversorgung durch das AltEinkG nicht ernsthaft zweifeln kann. Zudem ist bei der verfassungsrechtlichen Überprüfung einer Übergangsregelung zu beachten, dass es sich um Regelungen für einen begrenzten Zeitraum handelt und dass im AltEinkG komplexe Lebenssachverhalte zu regeln waren, bei denen dem Gesetzgeber gröbere Typisierungen und Generalisierungen zugestanden werden müssen8. b) Verbot der Doppelbesteuerung Insbesondere in der Übergangsphase kann es zu einer – der intertemporalen Korrespondenz widersprechenden – Doppelbesteuerung kommen, nämlich in den Fällen, in denen die steuerliche Belastung der Vorsorgeaufwendungen höher war als die steuerliche Entlastung der Altersbezüge ist bzw. sein wird. Unter Anwendung des Nominalwertprinzips ist bei der Ermittlung der steuerlichen Belastung der Aufwendungen der Sonderausgabenabzug anhand der Beitragssätze der gesetzlichen Sozialversicherung aufzuspalten. In die Berechnung der steuerlichen Entlastung der Altersbezüge sind die bisher vereinnahmten sowie die der statistischen Wahrscheinlichkeit nach zu erwartenden Leistungen einzubeziehen.9 In den bisherigen vom BFH entschiedenen Fällen konnte jedoch keine Doppelbesteuerung festgestellt werden.10 7

S. BFH-Urteile in Fußnote 3. S. BFH-Urteile in Fußnote 3. 9 S. grundlegend BFH-Urteil vom 26. November 2008 X R 15/07, BStBl II 2009, 710. 8

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III. Steuerliche Behandlung der Altersvorsorgeaufwendungen mit internationalem Bezug Der Auslandsbezug bei den Vorsorgeaufwendungen kann darin begründet sein, dass entweder ein unbeschränkt Steuerpflichtiger Zahlungen in eine ausländische Basisversorgungseinrichtung leistet oder dass die Beiträge mit im Ausland steuerpflichtigen und im Inland steuerbefreiten Einkünften im Zusammenhang stehen oder dass ein beschränkt Steuerpflichtiger Beiträge in eine in- oder ausländische Basisversorgungseinrichtung entrichtet. Auch in internationalen Sachverhalten muss sowohl das objektive als auch das subjektive Nettoprinzip beachtet werden. Dies fordert nicht nur der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG, sondern auch das Unionsrecht. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH ist es grundsätzlich Sache des Wohnsitzstaats, dem Steuerpflichtigen sämtliche an seine persönliche und familiäre Situation geknüpften steuerlichen Vergünstigungen zu gewähren, da dieser Staat, von Ausnahmen abgesehen, am besten die persönliche Steuerkraft des Steuerpflichtigen beurteilen kann, weil dieser dort den Mittelpunkt seiner persönlichen und seiner Vermögensinteressen hat.11 Eine Ausnahme gilt dann, wenn der Steuerpflichtige sein gesamtes oder fast sein gesamtes zu versteuerndes Einkommen aus einer in einem anderen Staat ausgeübten Tätigkeit erzielt und in seinem Wohnsitzstaat über keine nennenswerten Einkünfte verfügt, so dass dieser nicht in der Lage ist, ihm die Vergünstigungen zu gewähren, die sich ansonsten aus der Berücksichtigung seiner persönlichen und familiären Situation ergeben würden. In diesem Fall trifft den Tätigkeitsstaat die Verpflichtung, die persönliche und familiäre Situation zu berücksichtigen.12 1. Zahlungen eines unbeschränkt Steuerpflichtigen in eine ausländische Basisversorgungseinrichtung Beispiel (nach BFH-Urteil vom 24. Juni 2009 X R 57/06, BStBl II 2009, 1000): Eine im Inland mit ihrem Arbeitslohn unbeschränkt steuerpflichtige Lehrerin arbeitet in Frankreich und entrichtet ihre Sozialversicherungsbeiträge in die französische Sozialversicherung. Nach französischem Einkommensteuerrecht wären die Altersvorsorgeaufwendungen vollständig abziehbar. Die künftigen Altersrenten sind in Frankreich zu versteuern.

10

S. z. B. BFH-Urteile vom 23. Oktober 2013 X R 3/12, BStBl II 2014, 58; X R 11/12, BFH/NV 2014, 328; X R 21/12, BFH/NV 2014, 330. 11 Zur Verpflichtung des Wohnsitzstaates zur Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse vgl. z. B. EuGH-Urteile vom 12. Dezember 2002, C-385/00 – de Groot –, Slg. 2002, I11838, 287, Randnr. 87 ff.; vom 12. Dezember 2013, C-303/12 – Imfeld/Garcet –, HFR 2014, 183, Randnr. 43. 12 Zur Verpflichtung des Tätigkeitsstaates zur Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse vgl. z. B. EuGH-Urteile vom 14. Februar 1995, C-279/93 – Schumacker –, Slg. 1995, I225, Randnrn. 36 ff., vom 10. Mai 2012 C-39/10 – Kommission/Estland –, IStR 2012, 466, Randnrn. 53 ff.

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Beiträge an ausländische berufsständische Versorgungseinrichtungen und Sozialversicherungsträger sind grundsätzlich gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a EStG i.V.m. § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b und c EStG als Sonderausgaben abziehbar, da diese Vorschriften nicht danach unterscheiden, ob es sich um einen in- oder ausländischen Sozialversicherungsträger oder eine berufsständische Versorgungseinrichtung handelt13. a) Einordnung der ausländischen Versorgung notwendig Bei der Anwendung des deutschen Steuerrechts ist es jedoch erforderlich, eine rechtsvergleichende Qualifizierung der ausländischen Versorgung nach deutschem Recht vorzunehmen. Diese ist dann mit der deutschen Basisversorgung vergleichbar, wenn sie in ihrem Kerngehalt den gemeinsamen und typischen Merkmalen der inländischen Versorgung entspricht, d. h. nach Motivation und Funktion gleichwertig ist. Wesentliche Merkmale der Basisversorgung sind, dass - die Renten erst bei Erreichen einer bestimmten Altersgrenze bzw. im Fall der Erwerbsunfähigkeit gezahlt werden; - die Renten in der Grundkonzeption als Entgeltersatzleistung der Lebensunterhaltssicherung dienen. Die tatsächliche Verwendung als Unterhaltssicherung wird dadurch sichergestellt, dass die Rentenversicherungsansprüche nicht beleihbar, nicht vererblich, nicht veräußerbar, nicht übertragbar und nicht kapitalisierbar sind; - die zu erbringenden Beitragszahlungen auf einer gesetzlichen Anordnung beruhen; - die Versicherung für den betroffenen Personenkreis obligatorisch ist und - die Renten als Leistungen öffentlich-rechtlicher Art zu erbringen sind. Unmaßgeblich ist dagegen, ob das ausländische Altersversorgungssystem die zu beurteilende Rentenversicherung ebenfalls der Basisversorgung zuordnet oder die Versorgungseinrichtung im Wege eines Kapitaldeckungsverfahrens oder eines Umlageverfahrens finanziert wird14.

13

BFH-Urteil vom 24. Juni 2009 X R 57/06, BStBl II 2009, 1000. Vom BFH wurde bislang entschieden, dass die dänische „Den Sociale Sikringsstyrelse“ DSS-Rente sowie die Dänische „Arbejdsmarkedets Tillægspension“ ATP-Rente als Basisversorgung anzusehen sind, vgl. BFH-Urteil vom 14. Juli 2010 X R 37/08, BStBl II 2011, 628. Zur Qualifizierung einer öffentlich-rechtlichen schweizerischen Pensionskasse siehe BFHUrteil vom 23. Oktober 2013 X R 33/10, BStBl II 2014, 103. Vgl. die Übersicht über ausländische gesetzliche Rentenversicherungen im Sinne des § 10 Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe a EStG und des § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchstabe a Doppelbuchstabe aa EStG der OFD Frankfurt/M. v. 17. 03. 2014 – S 2255 A – 36 – St 220. 14

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b) Begrenzung des Sonderausgabenabzugs gemäß § 10 Abs. 3 EStG nicht unionsrechtswidrig Die fehlende Unterscheidung zwischen einer inländischen und ausländischen Basisversorgung in § 10 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b und c EStG bedeutet aber auch, dass die Vorsorgeaufwendungen an die ausländischen Vorsorgeeinrichtungen ebenfalls nur im Rahmen der Höchstbeträge des § 10 Abs. 3 EStG abziehbar sind. Eine Diskriminierung ist hierin nicht zu sehen, auch wenn – zumindest im Übergangszeitraum bis 2040 – die daraus resultierenden Alterseinkünfte in dem ausländischen Staat höher besteuert werden könnten als in Deutschland15. Die nachteiligen Folgen beruhen darauf, dass die steuerliche Berücksichtigung der Vorsorgeaufwendungen und die daraus resultierenden Alterseinkünfte zwei unterschiedlichen Steuerrechten unterliegen, weil zwei Staaten gleichzeitig und unabhängig voneinander ihre Besteuerungsbefugnis ausüben und im Bereich der Altersvorsorge und der Alterseinkünfte unterschiedlichen Besteuerungsansätzen folgen können. Eine unionsrechtliche Verpflichtung für die Mitgliedsstaaten der EU oder des EWR, entweder in dem von ihnen abgeschlossenen Doppelbesteuerungsabkommen die Besteuerungsbefugnisse so aufzuteilen, dass das Besteuerungsrecht der Alterseinkünfte und die Verpflichtung zur steuerlichen Berücksichtigung der vorausgehenden Altersvorsorgeaufwendungen demselben Staat zugewiesen werden, oder ihr entsprechendes nationales Steuerrecht so zu harmonisieren, dass es zur möglichen Doppelbesteuerung nicht kommen kann, kann beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts nicht gefordert werden.16 2. Zahlungen eines unbeschränkt Steuerpflichtigen in eine Basisversorgungseinrichtung, die mit in Deutschland steuerfreien Einkünften im Zusammenhang stehen Beispiel nach BFH-Urteil vom 18. April 2012 X R 62/09, BStBl II 2012, 721: Ein im Inland unbeschränkt Steuerpflichtiger erzielt in der Schweiz nach dem DBA Schweiz in Deutschland freigestellte gewerbliche Einkünfte. Auf diese Einkünfte waren Beiträge zur Schweizerischen Alters- und Hinterlassenenversicherung zu entrichten, die in der Schweiz bei der Ermittlung des dort zu versteuernden Einkommens abgezogen werden konnten. Die daraus resultierenden Renten werden in Deutschland steuerpflichtig sein.

Ist ein Steuerpflichtiger verpflichtet, aufgrund seiner Tätigkeit Beiträge in eine (aus- oder inländische) Basisversorgung zu leisten und sind die für diese Tätigkeit geleisteten Vergütungen in Deutschland steuerfrei, so scheidet ein Sonderausgabenabzug zunächst aus, weil die Beiträge in unmittelbarem wirtschaftlichen Zusammenhang mit steuerfreien Einnahmen stehen (§ 10 Abs. 1 Nr. 2 EStG i.V. mit § 10 Abs. 2 15

Vgl. BFH-Urteil vom 24. Juni 2009 X R 57/06, BStBl II 2009, 1000. Im Ergebnis ebenso Musil, Andreas, Die Besteuerung der Renten mobiler Arbeitnehmer, FR 2014, 45 ff. 16 Vgl. z. B. EuGH-Urteile vom 12. Mai 1998 Rs. C-336/96 – Gilly –, Slg. 1998, I-2793, Rdnr. 34; vom 12. Februar 2009, Rs. C-67/08 – Margarete Block –, Slg. 2009, I-883, Rdnr. 31.

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Satz 1 Nr. 1 EStG). Ein unmittelbarer wirtschaftlicher Zusammenhang zwischen Einnahmen und Aufwendungen ist dann anzunehmen, wenn die Einnahmen und die Aufwendungen durch dasselbe Ereignis veranlasst sind17. Diese Voraussetzung ist dann erfüllt, wenn ein Steuerpflichtiger steuerfreie Einnahmen erzielt und dieser Tatbestand gleichzeitig Pflichtbeiträge an einen Sozialversicherungsträger auslöst. In diesem Fall geht die Steuerbefreiung dem Sonderausgabenabzug logisch vor. Die mit der Verausgabung der Pflichtbeiträge verbundene Minderung der Leistungsfähigkeit wird bereits durch den Bezug der steuerfreien Einnahmen aufgefangen. Es kommt hingegen nicht darauf an, ob die Vorsorgeaufwendungen zu steuerfreien oder steuerpflichtigen Einnahmen führen.18 Die Verpflichtung, die Altersvorsorgeaufwendungen steuerlich zu berücksichtigen, obliegt in diesem Fall nicht Deutschland als dem Ansässigkeitsstaat, sondern dem Staat, der das Besteuerungsrecht für die die Beitragspflicht auslösenden Einkünfte hat. Berücksichtigt dieser Staat die Beiträge in einem dem inländischen Abzug entsprechenden Maße (wie im Beispielsfall die Schweiz), ist die internationale intertemporale Korrespondenz gegeben. Sieht das ausländische Steuerrecht jedoch keinen oder einen nur eingeschränkten Steuerabzug vor, muss Deutschland als Ansässigkeitsstaat dafür sorgen, dass die Altersvorsorgeaufwendungen im Ergebnis in einem dem Inlandsfall vergleichbaren Umfang abgezogen werden können.19 Die fehlende Berücksichtigung der Altersvorsorgeaufwendungen über die Steuerfreistellung der zugrunde liegenden Einkünfte hinaus würde sowohl gegen das objektive wie das subjektive Nettoprinzip verstoßen, wenn ein Steuerpflichtiger weder im Tätigkeitsstaat (als beschränkt Steuerpflichtiger) noch im Inland (als unbeschränkt Steuerpflichtiger) seine Vorsorgeaufwendungen geltend machen kann.20 Auch das Unionsrecht fordert die Berücksichtigung der Altersvorsorgeaufwendungen im Ansässigkeitsstaat, da es diesem nach ständiger EuGH-Rechtsprechung verboten ist, seine Staatsangehörigen daran zu hindern, ihre Grundfreiheiten auszuüben.21 Die Weigerung des Wohnsitzstaates, die von einem gebietsansässigen Steuerpflichtigen in einem anderen Mitgliedstaat gezahlten obligatorischen Sozialversi17

Vgl. zur Rechtslage vor dem AltEinkG BFH-Urteile vom 18. Juli 1980 VI R 97/77, BStBl II 1981, 16 zum steuerfreien Arbeitslohn aufgrund des Montage-Erlasses; vom 27. März 1981 VI R 207/78, BStBl II 1981, 530 zum gemäß § 3 Nr. 63 EStG 1975 steuerfreien Arbeitslohn für eine Tätigkeit in der Deutschen Demokratischen Republik, und vom 29. April 1992 I R 102/91, BStBl II 1993, 149 zu den aufgrund eines Doppelbesteuerungsabkommens steuerfreien Einkünften. 18 BFH-Urteil vom 18. April 2012 X R 62/09, BFHE 237, 434, BStBl II 2012, 721. 19 So wohl im Ergebnis auch EuGH-Urteil vom 12. Dezember 2013, C-303/12 – Imfeld/ Garcet –, HFR 2014, 183, Rdnr. 79; wohl ebenso von Brocke, Klaus/Wohlhöfler, Andreas, EuGH-Urteil zur Berücksichtigung der persönlichen und familiären Situation, ISR 2014, 101 f. 20 Ähnlich auch BFH-Beschluss vom 18. Dezember 1991 X B 126/91, BFH/NV 1992, 382. 21 Vgl. u. a. EuGH-Urteile vom 13. April 2000 Rs. C-251/98 – Baars –, Slg. 2000, I-2787, Rdnr. 28; vom 11. März 2004 Rs. C-9/02 – de Lasteyrie du Saillant –, Slg. 2004, I-2409, Rdnr. 42.

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cherungsbeiträge steuerlich zu berücksichtigen, stellt grundsätzlich eine unzulässige Beschränkung der Grundfreiheiten dar.22 Dies gilt aber nicht, wenn die von dem Steuerpflichtigen in dem anderen Staat entrichteten Pflichtbeiträge in diesem Staat abgezogen werden konnten.23 3. Zahlungen eines beschränkt Steuerpflichtigen in eine in- oder ausländische Basisversorgungseinrichtung Beispiel nach EuGH-Urteil vom 14. Februar 1995 Rs. C-279/93 – Schumacker –, Slg. 1995, I-228: Ein in Belgien ansässiger Steuerpflichtiger ist mit seinen in Deutschland erzielten Arbeitseinkünften beschränkt steuerpflichtig. Er will seine in die (belgische oder deutsche) gesetzliche Rentenversicherung zu leistenden Beiträge als Sonderausgaben abziehen.

Für beschränkt Steuerpflichtige sieht Deutschland als Tätigkeitsstaat in § 50 Abs. 1 Satz 3 EStG als Grundsatz vor, dass u. a. § 10 EStG nicht anzuwenden ist, so dass ein Sonderausgabenabzug daher ausscheiden würde. Hiervon gibt es jedoch zwei gesetzliche Ausnahmen: Die erste Ausnahme in § 50 Abs. 1 Satz 4 EStG betrifft beschränkt steuerpflichtige Arbeitnehmer; diese können ihre Altersvorsorgeaufwendungen wie unbeschränkt Steuerpflichtige abziehen. Voraussetzung ist lediglich, dass die Aufwendungen auf die Zeit entfallen, in der die beschränkt steuerpflichtigen Einkünfte erzielt wurden, und dass sie diese Einkünfte nicht übersteigen. Die zweite Ausnahme gilt für fingiert unbeschränkt Steuerpflichtigen gemäß § 1 Abs. 3 EStG. Steuerpflichtige, die im Inland weder einen Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, können auf Antrag als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt werden, soweit sie inländische Einkünfte i.S.d. § 49 EStG erzielen. Voraussetzung ist aber, dass ihre Einkünfte im Kalenderjahr mindestens zu 90 % der deutschen Einkommensteuer unterliegen oder die nicht der deutschen Einkommensteuer unterliegenden Einkünfte den Grundfreibetrag nach § 32a Absatz 1 Satz 2 Nr. 1 EStG nicht übersteigen. Der in § 1 Abs. 3 EStG gewählte Prozentsatz des in Deutschland steuerpflichtigen Einkommens ist sehr hoch; er dürfte aber aufgrund der Tatsache, dass er nicht für die Arbeitnehmereinkünfte sowie für ein geringes Gesamteinkommen gilt, gerade noch den unionsrechtlichen Anforderungen genügen. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der jüngsten EuGH-Rechtsprechung, wonach der Tätigkeitsstaat – selbst wenn in ihm weniger als 75 % der Einkünfte erzielt werden – verpflichtet ist, die persönliche Situation des Betreffenden zu berücksichtigen, wenn aufgrund des niedri-

22

So EuGH-Urteil vom 19. November 2009 Rs. C-314/08 – Filipiak –, Slg. 2009, I-11049, Rdnrn. 60 ff. und 71. 23 So auch EuGH-Urteil vom 19. November 2009 Rs. C-314/08 – Filipiak –, Slg. 2009, I11049, Rdnr. 51.

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gen Betrags der Gesamteinkünfte dieser nach dem Steuerrecht seines Wohnsitzstaates nicht steuerpflichtig ist24. IV. Besteuerung der Alterseinkünfte mit internationalem Bezug Der Auslandsbezug kann sich daraus ergeben, dass entweder der unbeschränkt Steuerpflichtige aus dem Ausland stammende Alterseinkünfte bezieht oder der im Ausland ansässige Steuerpflichtige mit seinen Alterseinkünften in Deutschland beschränkt steuerpflichtig ist. Inwieweit Deutschland überhaupt ein Besteuerungsrecht hat, richtet sich nach dem im Einzelfall einschlägigen Doppelbesteuerungsabkommen. Genauso wie in den Inlandsfällen ist das Verbot der Doppelbesteuerung zu beachten. 1. Unbeschränkte Steuerpflicht bei aus dem Ausland stammenden Alterseinkünften Beispiel nach BFH-Urteil vom 23. Oktober 2013 X R 33/10, BStBl II 2014, 103: Die im Inland ansässige Steuerpflichtige bezieht von einer schweizerischen öffentlichrechtlichen Pensionskasse eine sog. Austrittsleistung. Das DBA Deutschland/Schweiz hat das Besteuerungsrecht für diese Leistung dem Ansässigkeitsstaat zugewiesen.

Deutschland hat als Wohnsitzstaat das Besteuerungsrecht für die Alterseinkünfte, wenn entweder kein Doppelbesteuerungsabkommen existiert oder im Doppelbesteuerungsabkommen das Besteuerungsrecht für diese Alterseinkünfte (auch) dem Ansässigkeitsstaat zugewiesen wird25. a) Steuerpflicht gemäß § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a Doppelbuchst. aa EStG Ist das deutsche Besteuerungsrecht gegeben, sind ausländische ebenso wie inländische Alterseinkünfte der Basisversorgung gemäß § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst a Doppelbuchst aa EStG mit dem dort geregelten Besteuerungsanteil zu versteuern, da diese Vorschrift nicht zwischen inländischen und ausländischen Alterseinkünften unterscheidet. Notwendig ist aber ebenso wie bei der Prüfung der Anwendbarkeit des § 10 Abs. 1 Nr. 2 EStG, dass die ausländische Versorgung als mit einer deutschen Basisversorgung vergleichbar angesehen werden kann. Bei ausländischen Alterseinkünften ist es daher ebenfalls möglich, für den Teil der Alterseinkünfte, der auf Beiträgen beruht, die jenseits der deutschen Beitragsbemessungsgrenzen entrichtet wurden, die Öffnungsklausel des § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a Doppelbuchst. bb Satz 2 EStG anzuwenden, so dass auf Antrag diese Be24 EuGH-Urteil vom 10. Mai 2012 C-39/10 – Kommission/Estland –, IStR 2012, 466, Randnrn. 55 ff. So im Ergebnis auch Rochow, Stephan, Alterseinkünfte im internationalen Kontext unter Berücksichtigung der deutschen DBA-Politik, ISR 2013, 181 ff. 25 Vgl. Art. 18 bzw. Art. 21 des Doppelbesteuerungsabkommens Schweiz in der Fassung der letzten Änderung vom 27. Oktober 2010, BGBl. II 2011, 1090.

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züge lediglich mit dem Ertragsanteil besteuert werden können. Ebenso wie Kapitalabfindungen deutscher Versorgungseinrichtungen können Kapitalleistungen ausländischer Versorgungseinrichtungen gemäß § 34 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 4 EStG progressionsmildernd ermäßigt besteuert werden, weil sie eine Vergütung für mehrjährige Tätigkeiten und eine atypische Zusammenballung darstellen26. b) Anrechnung/Abzug der ausländischen Steuern gemäß § 34c EStG Besteuert der Quellenstaat, aus dem die Alterseinkünfte stammen, diese ebenfalls, weil entweder kein Doppelbesteuerungsabkommen besteht oder in dem Doppelbesteuerungsabkommen auch dem Quellenstaat ein Besteuerungsrecht zugewiesen wurde und stellt Deutschland die Alterseinkünfte nicht frei27, wird die ausländische Steuer nach Maßgabe des § 34c Abs. 1 EStG angerechnet oder – auf Antrag – bei der Ermittlung der Einkünfte nach § 34c Abs. 2 EStG abgezogen. Der Anrechnungshöchstbetrag muss, um dem Unionsrecht zu entsprechen28, „geltungserhaltend“ in der Weise errechnet werden, dass der Betrag der Steuer, die auf das in Deutschland zu versteuernde Einkommen – einschließlich der ausländischen Einkünfte – zu entrichten ist, mit dem Quotienten multipliziert wird, der sich aus den ausländischen Einkünften und der Summe der Einkünfte ergibt, wobei der letztgenannte Betrag um alle steuerrechtlich abzugsfähigen personenbezogenen und familienbezogenen Positionen, vor allem Sonderausgaben und außergewöhnliche Belastungen, aber auch den Altersentlastungsbetrag sowie den Grundfreibetrag, zu vermindern ist.29 c) Verbot der Doppelbesteuerung Ergibt der Rechtsvergleich, dass die ausländischen Altersbezüge mit der deutschen Basisversorgung vergleichbar sind, muss ebenso wie bei deutschen Renten im Übergangszeitraum geprüft werden, ob die Besteuerung zu einem Verstoß gegen das Verbot der Doppelbesteuerung führen könnte. Bei der Ermittlung der steuerlichen Belastung der den Alterseinkünften zugrunde liegenden Altersvorsorgeauf26 Vgl. BFH-Urteil vom 23. Oktober 2013 X R 33/10, BFHE 243, 332, BStBl II 2014, 103 zu der von einer schweizerischen Pensionskasse bezogenen Austrittsleistung. 27 Vgl. z. B. die Besteuerung einer aus Spanien stammenden Sozialversicherungsrente gemäß Art. 22 Abs. 2 Buchst. b vi i.V. mit Art. 17 des Doppelbesteuerungsabkommens Spanien vom 3. Februar 2011, BGBl. II 2012, 18. 28 S. aber EuGH-Urteil vom 28. Februar 2013 C-168/11 – Beker und Beker –, IStR 2013, 275. 29 BFH-Urteil vom 9. Februar 2011 I R 71/10, BStBl II 2011, 500; siehe aber auch die Neufassung des § 34c Abs. 1 Sätze 2 und 3 EStG durch Art. 5 Nr. 16 des Gesetzes zur Anpassung der Abgabenordnung an den Zollkodex der Union und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften vom 22. Dezember 2014, BGBl I 2014, 2417, die diesen Vorgaben nicht entspricht.

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wendungen ist indes nicht auf die steuerliche Belastung im Ausland abzustellen, sondern im Rahmen der sog. isolierenden Betrachtungsweise abstrakt zu prüfen, ob es bei Zugrundelegung des deutschen Steuerrechts zu einer Doppelbesteuerung gekommen wäre30. Dieser Ansatz der isolierenden Betrachtungsweise hat – ebenso wie bei der oben unter II.1.b dargestellten beschränkten Abziehbarkeit von Altersvorsorgeaufwendungen – zur Folge, dass sich aus der Tatsache, dass zwei Staaten in Bezug auf einen Lebenssachverhalt – nämlich die Altersvorsorge und die Alterseinkünfte – unabhängig voneinander ihre Besteuerungsbefugnisse ausüben, Nachteile aber auch Vorteile ergeben können, wenn die nationalen Steuerrechte im Bereich der Altersvorsorge und Alterseinkünfte unterschiedliche Besteuerungsansätze verfolgen. Diese Konsequenzen sind jedoch hinzunehmen. Sie stellen – wie bereits ausgeführt – keinen Verstoß gegen die europäischen Grundfreiheiten dar. 2. Beschränkte Steuerpflicht bei aus dem Inland stammenden Einkünften der Basisversorgung Beispiel: Ein in Brasilien wohnender Rentner bezieht eine deutsche Sozialversicherungsrente.

Existiert kein Doppelbesteuerungsabkommen (mehr)31 oder weist das betreffende Doppelbesteuerungsabkommen (auch) dem Quellenstaat das Besteuerungsrecht für die Alterseinkünfte zu32, kann Deutschland die Alterseinkünfte besteuern. Von diesem Besteuerungsrecht wird erst seit 2005 aufgrund der Änderung des § 49 Abs. 1 Nr. 7 EStG durch das AltEinkG Gebrauch gemacht. Seitdem ist der im Ausland lebende Bezieher von Alterseinkünften in Deutschland gemäß § 1 Abs. 4 EStG beschränkt steuerpflichtig, wenn er Einkünfte aus inländischen Basisversorgungseinrichtungen bezieht. Bei der beschränkten Steuerpflicht erfolgt i. d. R. kein Abzug an der Quelle, es wird vielmehr ein Veranlagungsverfahren durchgeführt. Zentral zuständiges Finanzamt ist seit 2009 aufgrund einer Zuständigkeitsübertragung gemäß § 19 Abs. 6 AO das Finanzamt Neubrandenburg. Der im Ausland lebende Rentner hat wie ein inländischer Rentner seine Alterseinkünfte mit dem Besteuerungsanteil nach § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a Doppelbuchst. aa EStG zu versteuern. Da es sich um eine beschränkte Steuerpflicht handelt, können zwar Werbungskosten bzw. die Werbungskostenpauschale gem. § 9a Satz 1 Nr. 3 EStG in Höhe von 102 E abgezogen werden; ein Abzug von Sonderausgaben und von außergewöhnlichen Belastungen und die Berücksichtigung des Grundfreibetrags sind gemäß § 50 Abs. 1 Satz 3 EStG ausge30

So auch BFH-Urteil vom 14. Juli 2010 X R 37/08, BFHE 230, 361, BStBl II 2011, 628. Das Doppelbesteuerungsabkommen mit Brasilien wurde mit Wirkung ab 2007 von Deutschland gekündigt. 32 Beispielsweise sieht Art. 18 Abs. 2 des Doppelbesteuerungsabkommens mit den Philippinen vom 9. September 2013 das ausschließliche Besteuerungsrecht des Quellenstaates für Sozialversicherungsrenten vor, vgl. BT-Drucks. 18/1568, 18. 31

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schlossen. Die Anwendung des Splittingtarifs ist ebenfalls nicht möglich. Daher kann es ggf. in den Fällen, in denen der Rentner hauptsächlich Renteneinkünfte hat, vorteilhaft sein, das Wahlrecht zur Besteuerung wie ein unbeschränkt Steuerpflichtiger nach § 1 Abs. 3 EStG ggf. i.V.m. § 1a EStG auszuüben, sofern die entsprechenden Voraussetzungen gegeben sind. Wie der entsprechende Ansässigkeitsstaat die Doppelbesteuerung vermeidet, richtet sich nach dessen nationalem Recht in Verbindung mit dem jeweiligen Doppelbesteuerungsabkommen. Zu einer unzulässigen Doppelbesteuerung in Deutschland kann es nur in den Fällen kommen, in denen auch bei einem unbeschränkt Steuerpflichtigen eine Doppelbesteuerung vorliegen würde. Die Ermittlung der Doppelbesteuerung hängt nämlich allein von der Höhe der zufließenden Einkünfte ab, unerheblich ist demgegenüber, wie sie besteuert werden, ob beispielsweise eine beschränkte oder unbeschränkte Steuerpflicht vorliegt oder der Splittingtarif zu gewähren ist. Sollte sich eine Doppelbesteuerung daraus ergeben, dass der Ansässigkeitsstaat die in Deutschland bereits besteuerten Einkünfte nicht freistellt oder die deutsche Einkommensteuer nicht ausreichend anrechnet, so dass es zu einem Anrechnungsüberhang der in Deutschland gezahlten Steuer kommt, ist dies die Konsequenz von nicht harmonisierten Steuerrechten. 3. Beschränkte Steuerpflicht bei aus dem Ausland stammenden Einkünften der Basisversorgung Beispiel: Ein in Frankreich ansässiger Rentner bezieht eine Rente aus einer schweizerischen Pensionskasse. Die Beiträge zur Pensionskasse hatte er geleistet, als er in Deutschland gelebt und in der Schweiz gearbeitet hat.

Bis zum Jahr 2010 bestand für Deutschland keine Möglichkeit, diese ausländischen Renteneinkünfte zu besteuern, da Deutschland weder Ansässigkeits- noch Quellenstaat ist. Aufgrund einer Ergänzung des § 49 Abs. 1 Nr. 7 EStG durch das Gesetz zur Umsetzung steuerlicher EU-Vorgaben sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften33 kann es jetzt in Ausnahmefällen zu einer deutschen Steuerpflicht kommen. Wurden die Altersvorsorgebeiträge an ausländische Versicherungsträger nach § 10 Abs. 1 Nr. 2 EStG ganz oder teilweise bei der Ermittlung der Sonderausgaben in Deutschland berücksichtigt, sind nunmehr die darauf beruhenden Renteneinnahmen beschränkt steuerpflichtig. Relevant wird diese Vorschrift insbesondere in Drittlandsfällen.

33

Vom 8. April 2010, BGBl. I 2010, 386.

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4. Durch DBA ausgeschlossenes Besteuerungsrecht für inländische Einkünften der Basisversorgung Beispiel: Ein in Griechenland ansässiger Steuerpflichtiger bezieht eine deutsche Sozialversicherungsrente, deren Anwartschaft er in seiner Zeit als in Deutschland beschäftigter Arbeitnehmer erworben hat.

In vielen von Deutschland vor 2005 abgeschlossenen DBA wurde dem Ansässigkeitsstaat das ausschließliche Besteuerungsrecht für die Alterseinkünfte der Basisversorgung, insbesondere für die Sozialversicherungsrenten eingeräumt34. Damit entfällt in diesen Fällen eine deutsche Steuerpflicht; die Besteuerung der Renten richtet sich ausschließlich nach dem Recht des jeweiligen Ansässigkeitsstaats. Die Renteneinkünfte sind in Deutschland lediglich im Rahmen des Progressionsvorbehalts zu berücksichtigen, § 32b Abs. 1 Nr. 3 EStG.35 Die Frage der Doppelbesteuerung im engeren Sinne stellt sich wegen deren Nichtbesteuerung im Inland zwar nicht. Bei der Berechnung des besonderen Steuersatzes gemäß § 32b Abs. 2 EStG müssen die Alterseinkünfte aber nach deutschem Recht ermittelt werden, so dass die verfassungsrechtlichen Anforderungen, die an die Besteuerung einer (auch ausländischen) Leibrente – vor allem im Rahmen der Übergangsregelung – gestellt werden, entsprechend zu beachten sind. Auch hier ist die Einhaltung des Verbots der Doppelbesteuerung im Rahmen der Anwendung des Progressionsvorbehalts abstrakt danach zu prüfen, ob es bei Zugrundelegung des deutschen Steuerrechts zu einer Doppelbesteuerung gekommen wäre. Die tatsächliche steuerliche Behandlung im Ausland bleibt dagegen unberücksichtigt.36 Das Problem dieser Fallgruppe liegt für den Fiskus darin, dass er aufgrund des objektiven bzw. des subjektiven Nettoprinzips verpflichtet ist, zu Lasten seines Steueraufkommens die Altersaufwendungen eines Steuerpflichtigen zu berücksichtigen; er aber durch das von ihm abgeschlossene Doppelbesteuerungsabkommen daran gehindert wird, die daraus resultierenden Alterseinkünfte zu besteuern. Daher ist Deutschland bestrebt, beim Abschluss oder bei einer Änderung eines Doppelbesteuerungsabkommens ein – zumindest beschränktes – Besteuerungsrecht für diese Alterseinkünfte zu erhalten. So sieht die Verhandlungsgrundlage des BMF für Doppelbesteuerungsabkommen vom 17. April 2013 zwar in Art. 17 Abs. 1 vor, dass der Ansässigkeitsstaat die Alterseinkünfte besteuern kann, regelt in Art. 17 Abs. 2 aber, dass Leistungen, die aufgrund des Sozialversicherungsrechts eines Vertragsstaats ge34 Vgl. z. B. Art. XII Abs. 1 des Doppelbesteuerungsabkommens Griechenland vom 18. April 1965, BGBl. II 1967, 852; Art. 10 des Doppelbesteuerungsabkommens Großbritannien 1964/1970/2010, in der Fassung der letzten Änderung vom 30. März 2010, BGBl. II 2010, 1333. 35 Zur möglichen Unionsrechtswidrigkeit dieser Vorschrift vgl. Ismer, Roland, Die Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse bei Anrechnungshöchstbetrag und Progressionsvorbehalt, IStR 2013, 297 ff. 36 So BFH-Urteil vom 14. Juli 2010 X R 37/08, BFHE 230, 361, BStBl II 2011, 628.

Besteuerung der Alterseinkünfte der Basisversorgung

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zahlt werden, auch in diesen Staat besteuert werden können. Nach Art. 17 Abs. 3 der Verhandlungsgrundlage können Ruhegehälter oder Renten auch in dem Quellenstaat besteuert werden, wenn sie ganz oder teilweise auf Beiträgen beruhen, die in diesem Staat insgesamt länger als 15 Jahre entweder nicht zu den steuerpflichtigen Einkünften gehörten oder steuerlich abzugsfähig waren oder in anderer Weise öffentlich gefördert worden sind.37 In den jüngsten Doppelbesteuerungsabkommen sind diesem Ziel entsprechende Regelungen vereinbart worden38. V. Fazit Die intertemporale Korrespondenz wird auch in den internationalen Sachverhalten im Grundsatz vom deutschen Steuerrecht – soweit wie möglich – beachtet. Ebenso wie in Inlandssachverhalten ist der im Übergangszeitraum bis 2025 nur eingeschränkt mögliche Abzug der Altersvorsorgeaufwendungen verfassungsrechtlich noch zulässig, ebenso wie der insgesamt auf den Höchstbeitrag zur knappschaftlichen Rentenversicherung begrenzte Abzug die Gestaltungsbefugnis des Gesetzgebers nicht überschreitet. Als Ansässigkeitsstaat hat Deutschland in internationalen Sachverhalten die Altersvorsorgeaufwendungen sowohl aufgrund des objektiven als auch aufgrund des subjektiven Nettoprinzips steuerlich zu berücksichtigen und den Steuerabzug zu gewähren. Davon darf Deutschland nur dann absehen, wenn in dem anderen Staat bereits der Sonderausgabenabzug in ausreichendem Maße vorgenommen wird. Deutschland hat als Quellensteuerstaat bei einem lediglich beschränkt Steuerpflichtigen erst die Aufgabe, die Altersvorsorgeaufwendungen bei der Ermittlung des in Deutschland steuerpflichtigen Einkommens zu berücksichtigen, wenn deren Abzug im Ansässigkeitsstaat mangels dort steuerpflichtiger Einkünfte nicht möglich ist. § 1 Abs. 3 EStG stellt grundsätzlich sicher, dass sowohl das subjektive als auch das objektive Nettoprinzip beachtet werden. Bei in Deutschland beschränkt steuerpflichtigen Arbeitnehmern besteht die Möglichkeit des Sonderausgabenabzugs für Altersvorsorgeaufwendungen auch ohne die Einschränkung, dass mindestens 90 % der Einkünfte der deutschen Einkommensteuer unterliegen müssen. Das Verbot der Doppelbesteuerung wird nach den gleichen Regeln wie bei einem Inlandssachverhalt überprüft; die steuerliche Belastung der Vorsorgeaufwendungen ist nach deutschen Rechtsgrundsätzen zu ermitteln. Kommt es unabhängig davon zu

37 Vgl. BMF, „Verhandlungsgrundlage für Doppelbesteuerungsabkommen im Bereich der Steuern vom Einkommen und Vermögen“ vom 17. April 2013, IStR 2013, Beihefter zu Heft 10, 49. Siehe dazu auch Rochow, Stephan, ISR 2013, 181; Lüdicke, Jürgen, Anmerkungen zur deutschen Verhandlungsgrundlage für Doppelbesteuerungsabkommen, IStR 2013, Beihefter zu Heft 10, 26 ff. 38 Vgl. z. B. Art. 18 Abs. 2 des Doppelbesteuerungsabkommens Türkei vom 19. September 2011, BGBl. II 2012, 526.

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einer Doppelbesteuerung, beruht diese auf der fehlenden Harmonisierung der Steuerrechte im Bereich der Altersvorsorge und der Alterseinkünfte.

Körperschaftsteuerrecht und Verfassungsrecht – § 8c KStG als verfassungswidriges Regelungsinstrument Von Adrian Hans, München I. Das Phänomen des „Mantelkaufs“ Der Begriff des „Mantelkaufs“ meint den Erwerb von Anteilen an einer Kapitalgesellschaft, die keine eigene Geschäftstätigkeit entfaltet und die nur über ein geringes Betriebsvermögen verfügt. Verfügt die Kapitalgesellschaft über Verlustvorträge, können diese Verluste nach Anteilserwerb für Zwecke der Körperschaftsteuer nicht oder nur eingeschränkt genutzt werden. Rechtsgrundlage ist die möglicherweise verfassungswidrige Vorschrift in § 8c des Körperschaftsteuergesetzes (KStG). Der (Steuer-)Staat greift mit Vorliebe dort zu, wo Gewinne entstehen, der Steuergesetzgeber übt Zurückhaltung, wenn es um die Beteiligung an wirtschaftlichem Misserfolg in Form von steuerlichen Verlusten geht. Im Körperschaftsteuerrecht ist § 8c KStG ein Ausdruck dieser „Lastenteilung“ zwischen Bürger und Staat. Die Vorschrift wurde im Jahr 2007 eingeführt.1 Sie regelt den Wegfall von Verlusten einer Kapitalgesellschaft nach einer Anteilsübertragung. Eine Vorgängerregelung zu § 8c KStG gab es in § 8 Abs. 4 KStG.2 Der Gesetzgeber reagierte mit § 8 Abs. 4 KStG auf sogenannte Mantelkäufe. Noch in den 1980er Jahren hatten Kapitalgesellschaften die Möglichkeit, erlittene Verluste steuerlich umfassend zu nutzen und mit Gewinnen zu verrechnen, die in anderen Veranlagungszeiträumen entstanden waren. Verluste, die von einer Kapitalgesellschaft angehäuft worden waren, konnten auch „verkauft“ werden. Anteile an wirtschaftlich gehaltlosen Kapitalgesellschaften wurden veräußert, der Erwerber konnte die Gesellschaft für neue Geschäftstätigkeiten nutzen und bezahlte sogar noch die Steuerersparnis als Teil des Kaufpreises an den Veräußerer der Anteile. Die steuerlichen Verluste sollten mit den nach der „Wiederbelebung“ erzielten Gewinnen verrechnet werden. Die Verlustnutzung auch nach Erwerb von Anteilen an einer Kapitalgesellschaft war zunächst möglich. Voraussetzung hierfür war, dass eine „rechtliche und wirtschaftliche Identität“ bestand zwischen demjenigen, der einen Verlust erlitten hatte und demjenigen, der den Verlust steuerlich geltend machte.3 Im Jahr 1986 1

§ 8c KStG wurde durch das Unternehmenssteuerfortentwicklungsgesetz in das KStG eingefügt, Art. 2 Nr. 7 des Gesetzes vom 14. 8. 2007 (UntStRefG, BGBl. I 2007, 1912). 2 § 8 Abs. 4 KStG wurde mit Steuerreformgesetz 1990 vom 25. 7. 1988, BGBl. I 1988, 1093 eingefügt. 3 BFH Urt. v. 8. 1. 1958 – I 131/57 U, BStBl. III 1958, 97.

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gab der BFH seine Rechtsprechung zur „wirtschaftlichen Identität“ auf, was den Gesetzgeber veranlasste, § 8 Abs. 4 in das Körperschaftsteuergesetz aufzunehmen.4 Voraussetzung für den Verlustabzug bei einer Kapitalgesellschaft war danach, dass sie „nicht nur rechtlich, sondern auch wirtschaftlich mit der Körperschaft identisch ist, die den Verlust erlitten hat“ (§ 8 Abs. 4 Abs. 1 Satz 1 a.F. KStG). Einen Regelfall für das Nichtvorliegen wirtschaftlicher Identität war in § 8 Abs. 4 Abs. 1 Satz 2 a.F. KStG beschrieben: „Wirtschaftliche Identität liegt insbesondere dann nicht vor, wenn mehr als drei Viertel der Anteile an einer Kapitalgesellschaft übertragen werden und die Gesellschaft danach ihren Geschäftsbetrieb mit überwiegend neuem Betriebsvermögen wieder aufnimmt.“ Im Jahr 1997 wurde die Vorschrift verschärft,5 danach konnte die wirtschaftliche Identität einer Gesellschaft verloren gehen, wenn mehr als die Hälfte der Anteile übertragen wurden und es zu einer „schädlichen Betriebsvermögenszuführung“ kam. Mit dieser Verschärfung erstreckte sich der Verdacht missbräuchlicher Verlustnutzung auf eine größere Anzahl von Unternehmensübernahmen. In der Folge zeigte sich an der zunehmenden Zahl finanzgerichtlicher Streitigkeiten, dass für die Praxis eine Reihe von Zweifelsfragen beantwortet werden musste: Welche Betriebsvermögenszuführung sollte „schädlich“ sein, welche Zeiträume müssen bei Bestimmung einer Betriebsvermögenszuführung betrachtet werden, welche Folge hat die Verschmelzung oder Umwandlung von Gesellschaften? Der Umstand, dass § 8 Abs. 4 KStG in der Praxis schwer zu handhaben war, veranlasste den Gesetzgeber zu einer „Vereinfachung“. Von § 8 Abs. 4 KStG blieb ein „Torso“ übrig, streitanfällige Tatbestandsmerkmale wurden abgeschafft. Ergebnis der Vereinfachung war § 8c KStG, von § 8 Abs. 4 KStG blieb (vereinfacht gesagt) der Gesetzesbefehl, dass die Übertragung von Anteilen zum Wegfall von Verlusten führt. Voraussetzung ist die mittelbare oder unmittelbare Übertragung von mehr als 25 Prozent des gezeichneten Kapitals der Mitgliedschaftsrechte, Beteiligungsrechte oder der Stimmrechte an einer Körperschaft, innerhalb von fünf Jahren an einen Erwerber (oder diesem nahe stehende Personen). Dieser sogenannte „schädliche Beteiligungserwerb“ führt zur anteiligen Nichtabziehbarkeit von Verlusten (bei Übertragung von 25 % der Anteile sind 25 % der Verluste nicht abziehbar), bei einer Anteilsübertragung von mehr als 50 % gehen die Verluste in vollem Umfang unter. Die Rechtsfolge des § 8c KStG besteht darin, dass Verlustvorträge nicht mit Gewinnen verrechnet werden können. Der Tatbestand des § 8c KStG wird also auf Ebene der Gesellschafter verwirklicht, die Rechtsfolge wirkt sich auf Ebene der Gesellschaft aus. Die Anteilsübertragung zwischen Veräußerer und Erwerber wirkt sich zu Lasten eines Dritten aus.

4

BFH Urt. v. 29. 10. 1986 – I R 202/82, BStBl. II 1987, 308; BFH Urt. v. 29. 10. 1986 – I R 318319/83, BStBl. II 1987, 310. Steuerreformgesetz 1990 vom 22. 6. 1988, BGBl. I 1988, 1093. 5 Unternehmenssteuerreformgesetz vom 29. 11. 1997, BGBl. I 1997, 2590.

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II. Finanzgericht Hamburg zur Verfassungsmäßigkeit von § 8c KStG (Beschluss vom 4. 4. 2011 – 2 K 33/10) Das Finanzgericht Hamburg hat verfassungsrechtliche Bedenken gegen § 8c KStG aufgegriffen und eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts darüber eingeholt, ob § 8c Satz 1 KStG gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstößt.6 Dem Vorlagebeschluss an das Bundesverfassungsgericht lag folgende Fallkonstellation zugrunde: Eine Kapitalgesellschaft hatte seit 2006 Pauschalreisen angeboten. Die Umsatzerlöse waren gering, die Gesellschaft hatte hohe Aufwendungen aus dem Ankauf der Reiseleistungen. In den Jahren 2006 und 2007 waren Verluste aufgelaufen. Der Kooperationspartner der Kapitalgesellschaft kündigte Ende 2007 die Zusammenarbeit, die noch verbleibenden Reiseangebote wurden im Jahr 2008 abgesetzt, der Kapitalgesellschaft verblieb ein Gewinn für das Jahr 2008. Ein Gesellschafter geriet in finanzielle Schwierigkeiten und sah sich zudem einer Schadensersatzklage in Millionenhöhe gegenüber, man befürchtete, dass die Gläubiger des Gesellschafters in den Geschäftsanteil vollstrecken würden und sein Geschäftsanteil eingezogen werden würde. Im Jahr 2008 übertrug ein Gesellschafter seinen Geschäftsanteil in Höhe von 48 %. Die Gesellschaft wurde Ende 2008 liquidiert, der Gesamtverlust in den Jahren 2006 – 2008 hatte rund 600 Euro betragen. Wegen § 8c KStG konnten die Verluste nicht verrechnet werden, die Steuerlast im Jahr 2008 betrug rund 90.000 Euro (Gewerbesteuer und Körperschaftsteuer). Für den aus § 8c KStG resultierenden Verfassungsverstoß7 hat das FG Hamburg folgende (stichwortartig zusammengefasste) Gründe herausgearbeitet: - Das objektive Nettoprinzip gilt im Bereich der Körperschaftsteuer (Art. 19 Abs. 1 GG). - Ein Verstoß gegen das objektive Nettoprinzip liegt vor, da § 8c KStG eine periodenübergreifende Verlustverrechnung versagt. - Der Gesetzgeber darf den Verlustabzug einer Körperschaft beschränken, allerdings sei dies im Fall von § 8c KStG nicht folgerichtig umgesetzt. - Es liegt ein Verstoß gegen das „Trennungsprinzip“ (der Beteiligte hat keinen Einfluss auf die Leistungsfähigkeit der Kapitalgesellschaft, Vermögenssphäre ist abgeschirmt gegen Anteilseigner) vor. Im Falle eines Anteilseignerwechsels entsteht ein steuerlicher Nachteil gegenüber Gesellschaften, bei denen kein Anteilseignerwechsel gegeben ist.

6 FG Hamburg Beschl. v. 4. 4. 2011 – 2 K 33/10, DStR 2011, 1172. Beim BVerfG ist das Verfahren unter dem Aktenzeichen 2 BvL 6/11 anhängig. 7 Vgl. dazu auch FG Thüringen Beschl. v. 19. 1. 2012 – 3 V 1001/11, EFG 2012, 861; BFH Verfahren unter dem Aktenzeichen I R 75/12, das Verfahren wurde durch Beschluss vom 23. 10. 2013 bis zur Entscheidung des BVerfG in dem Verfahren 2 BvL 6/11 ausgesetzt.

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- Die Beteiligung oder Kontrolle der Gesellschaft muss von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Gesellschaft getrennt werden, zumal eine Beeinflussung der Beteiligungsverhältnisse nicht möglich sei. - Das Argument der Missbrauchsbekämpfung rechtfertigt die Ungleichbehandlung nicht. Der Beteiligungserwerb sei ein üblicher wirtschaftlicher Vorgang. - Das Argument der Rechtsvereinfachung rechtfertigt die Ungleichbehandlung ebenfalls nicht. Eine typisierende Vereinfachung ist nicht gegeben, die Typisierung betreffe andere Konstellationen, als diejenigen, die von der Vorgängervorschrift geregelt wurden. - Ein Systemwechsel, der nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dem Gesetzgeber einen weiten Spielraum für Typisierungen eröffnet, ist nicht gegeben. III. Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG Die Vorschrift des § 8c KStG wird schon seit ihrer Einführung verfassungsrechtlich kritisiert. In Frage kommt – neben rechtsstaatlichen Bedenken – ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz. Der aus Art. 3 Abs. 1 GG („Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“) abgeleitete allgemeine Gleichheitsgrundsatz gebietet es, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Der allgemeine Gleichheitsgrundsatz wird im Steuerrecht konkretisiert durch das Prinzip der Ausrichtung der Steuerlast nach der finanziellen Leistungsfähigkeit. Dieses Prinzip wird im Ertragssteuerrecht und damit auch im Körperschaftsteuerrecht, weiter konkretisiert: das „objektive Nettoprinzip“ soll gewährleisten, dass eine Kapitalgesellschaft leistungsgerecht besteuert wird. Vereinfacht gesagt, soll der Steuerzugriff sich auf das Resultat aus Ertrag und Aufwand erstrecken. Die Regelung in § 8c KStG kollidiert mit dem objektiven Nettoprinzip. Die Regelung verbietet die Verrechnung von Verlusten einer Kapitalgesellschaft aus vergangenen Veranlagungszeiträumen mit Erträgen der Kapitalgesellschaft. Aufwand kann steuerlich nicht berücksichtigt werden, wenn er in einem vergangenen Veranlagungszeitraum entstanden ist. Dieser Befund lässt sich mit Bezug auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) belegen. Im BVerfG Beschluss vom 22. 7. 19918 stand die Regelung in § 10d EStG (in der Fassung des EStG 1976) auf dem verfassungsrechtlichen Prüfstand. Mit § 10d EStG wurde die Verrechnung von Verlusten zeitlich beschränkt. Im Jahr der Verlustentstehung, im Jahr davor und in den fünf der Verlustentstehung folgenden Jahren war die Kompensation mit Gewinnen möglich. Geprüft wurde in dem Verfahren, ob die Verlustverrechnung zeitlich unbegrenzt verfassungsrechtlich garantiert ist. Das BVerfG löste das Spannungsverhältnis zwischen dem Grundsatz der Abschnittsbesteuerung und dem „abschnittsübergreifenden“ Netto8

BVerfG Beschl. v. 22. 7. 1991 – 1 BvR 313/88, NJW 1992, 168.

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prinzip in diesem Fall zu Gunsten der Abschnittsbesteuerung. Die Abschnittsbesteuerung schaffe Überschaubarkeit und Klarheit über den Sachverhalt und die anzuwendenden Vorschriften. Der „Vorteil“ (das BVerfG spricht von „Bedeutung“) für den Staat liege darin, dass jährlich und zeitnah ein Steuerfall bearbeitet werden könne. Der Vorteil für den Bürger liege darin, Verwaltungshandeln vorhersehbar und messbar werden zu lassen. Ein Nutzungszeitraum von insgesamt 7 Jahren sei nicht unangemessen und nicht willkürlich. Für die verfassungsrechtliche Dimension des § 8c KStG von Bedeutung ist die Aussage, dass die Nichtberücksichtigung von Verlustverrechnung dem objektiven Nettoprinzip widerspreche – wird die Verlustverrechnung ausgeschlossen, ist die Besteuerung nicht mehr materiell richtig: „§ 10d Satz 4 EStG 1976 steht im Spannungsverhältnis zwischen dem Grundsatz der Abschnittsbesteuerung und dem Grundsatz des abschnittsübergreifenden Nettoprinzips als Ausfluß des Leistungsfähigkeitsprinzips. Der Grundsatz der Abschnittsbesteuerung […] schafft Überschaubarkeit und Klarheit bezüglich des Sachverhalts und der anzuwendenden steuerlichen Vorschriften […]. Insoweit hat der Gesichtspunkt der Rechtssicherheit nicht nur Bedeutung für den Steuerpflichtigen, […] sondern auch für die Verwaltung […]. Demgegenüber ist das Nettoprinzip Ausdruck der materiellen Richtigkeit eines Steueranspruchs, welcher an der Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen ausgerichtet sein muß […]. Rechtssicherheit und materielle Gerechtigkeit sind wesentliche Bestandteile des Rechtsstaatsprinzips. Beide Forderungen können – wie auch hier – miteinander in Widerstreit geraten.“

Das BVerfG betont, dass der Ausschluss der Verlustverrechnung zu einem Widerstreit führt, dem Kontext der Formulierung kann man entnehmen, dass der Ausschluss von Verlustvor- oder -rückträgen gegen das objektive Nettoprinzip verstößt. Ohne die Berücksichtigung von Verlusten ist der Steueranspruch materiell nicht richtig. Da auch § 8c KStG die Verlustverrechnung ausschließt, kann man auf Grundlage dieser Entscheidung eine Einschränkung des objektiven Nettoprinzips annehmen. Bejaht man eine Beeinträchtigung des objektiven Nettoprinzips, stellt sich die Frage nach einem rechtfertigenden Grund. Es zeigt sich, dass der Verstoß gegen das objektive Nettoprinzip nicht gerechtfertigt werden kann. § 8c KStG versagt die Verlustverrechnung bei Konstellationen, in denen sich die Gesellschafterstruktur einer Kapitalgesellschaft verändert. Dabei gehört es „zum Wesen juristischer Personen wie der GmbH und der AG, dass diese Kapitalgesellschaften mit ihrer Verselbständigung gegen ,Durchgriffe‘ auf Tatbestände im Kreis oder in der Person ihrer Gesellschafter grundsätzlich abgeschirmt sind“.9 § 8c KStG durchbricht eine vom Körperschaftsteuerrecht vorausgesetzte zivilrechtliche Ordnungsstruktur. Besteuerungsfolgen der Gesellschaft werden mit der Änderung der Verhältnisse des Gesellschafterkreises begründet. Wegen der besonderen Intensität der Ungleichbehandlung müssten zur Rechtfertigung dieser Ungleichbehandlung besonders gewichtige Gründe gegeben sein. Solche Gründe liegen nicht vor. 9

BVerfG Urt. v. 24. 1. 1962 – 1 BvR 845/58, NJW 1962, 435.

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Der Gesetzgeber operiert zur Rechtfertigung von potenziell gleichheitswidrigen Normen bevorzugt mit dem Argument der Missbrauchsbekämpfung und er tut dies auch bei § 8c KStG. Der Begriff der Missbrauchsbekämpfung wird in der Steuergesetzgebung meist mehr oder weniger beliebig eingesetzt und oft wird der Begriff durch eine einseitige Fiskalsicht geprägt. Im Fall von § 8c KStG ist der Missbrauchsvorwurf vorgeschoben. Die Veräußerung von Anteilen an einer Kapitalgesellschaft führt zu einer steuerlichen Schlechterstellung der Kapitalgesellschaft. Man muss sich also fragen, welche Missbrauchsneigung man in der Übertragung von GmbH-Anteilen erkennen kann. Welche Überlegungen leiten der Steuergesetzgeber, wenn er die Annahme statuiert, wirtschaftlich erlittene Verluste müssten steuerlich wirkungslos sein, weil sich der Gesellschafterkreis ändert? In der Vergangenheit wurden „pathologische“ Fälle und Gestaltungsvarianten beobachtet, in denen verlustbehaftete Gesellschaften als Rechtskleid für Steuersparmodelle verwendet wurden. Nicht der Geschäftswert der Gesellschaft, sondern vorrangig eine angestrebte Steuerersparnis waren der Auslöser für den Erwerb der Verlustgesellschaft. Der Gesetzgeber reagierte auf diese pathologischen Fälle und konstruierte einen auf zwei Kriterien abgestimmten Abwehrmechanismus: Übertragung einer bestimmten Quote von Anteilen und Zuführung von Betriebsvermögen – sind beide Kriterien innerhalb eines bestimmten Zeitraums erfüllt, kann man jedenfalls bei pauschalierender und typisierender Betrachtungsweise eine missbräuchliche Konstellation vermuten. Allein die Veränderung des Gesellschafterkreises aber ermöglicht den Rückschluss auf missbräuchliche Gestaltungen nicht. Die Antwort auf diese Frage, ob eine Anteilsveräußerung missbräuchlich sein kann, muss deutlich ausfallen und selten wird man in einer steuerrechtlichen Stellungnahme ein Ergebnis so deutlich akzentuieren können: Eine Veräußerung von Anteilen an einer Kapitalgesellschaft kann für sich genommen nicht rechtsmissbräuchlich sein. § 17 EStG regelt dieses alltägliche Phänomen, der Veräußerungsgewinn unterliegt auf Ebene des Anteilseigners der Einkommensteuer, die Veräußerung einer GmbH-Beteiligung durch eine Kapitalgesellschaft ist sogar (weitgehend) steuerfrei möglich (§ 8b Abs. 2 KStG). Die Veräußerung von Anteilen an einer Kapitalgesellschaft ist ebenso wenig missbräuchlich, wie die Veräußerung eines Grundstücks. Auf den Umstand, dass eine Kapitalgesellschaft steuerliche Verlustvorträge ausweist, kommt es im Tatbestand des § 8c KStG nicht an. Ein sachlicher Grund, der den Verstoß gegen das objektive Nettoprinzip rechtfertigen könnte, ist unter dem Aspekt „Missbrauchsvermeidung“ nicht gegeben. Auch eine Rechtfertigung unter dem Gesichtspunkt der „Rechtsvereinfachung“ scheidet aus. Im Kern geht es dabei um die Frage, innerhalb welcher Grenzen der Gesetzgeber typisieren und pauschalieren darf. Das Verfassungsrecht erlaubt typisierende und pauschalierende Regelungen, der Regelfall darf bei der „Ordnung von Massenerscheinungen“ als gesetzgeberisches Leitbild dienen.10 Vereinfachungser10

Vgl. BVerfG Beschl. v. 7. 11. 2006 – 1 BvL 10/02, DStR 2007, 235.

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wägungen rechtfertigen nicht, die Veräußerung von Geschäftsanteilen mit dem Untergang von steuerlichen Verlusten zu sanktionieren. Die Anwendung des § 8c KStG lässt die im Körperschaftsteuerrecht vom Gesetzgeber vorgesehene Belastungsentscheidung sowie Belange der steuerlichen Leistungsfähigkeit und der Folgerichtigkeit außer Betracht. Der Gesetzgeber macht es sich bei der Ausgestaltung der Norm einfach; der Gesellschafterwechsel ist ein leicht zu identifizierendes Merkmal, um daran den Untergang steuerlicher Verluste als Rechtsfolge zu knüpfen. Die Vorschrift soll nicht durch findige Steuerpflichtige ausgehebelt werden, daher ist sie weit und offen formuliert („… liegt ein vergleichbarer Sachverhalt vor …“). Der Gesetzgeber benennt jeden Fall als „schädlichen Beteiligungserwerb“, es genügt, dass irgendeine Art der „Vergleichbarkeit“ gegeben ist. Die durch § 8c KStG geregelte Verallgemeinerung beruht nicht auf einer Beobachtung der betroffenen Gruppen und Regelungsgegenstände. Der von der Norm geregelte „typische“ Fall (Anteilsveräußerung) ist nicht missbräuchlich. Die von Art. 3 Abs. 1 GG erzeugte Benachteiligung betrifft indes den Regelfall einer Anteilsveräußerung und sie ist in ihrer wirtschaftlichen Dimension für den Betroffenen – oder das betroffene Unternehmen – intensiv. Wie sonst ist erklärbar, dass die Sanierungsklausel schon nach der Gesetzesbegründung existenzsichernd wirken sollte. Da die Intensität des von § 8c KStG erzeugten Steuerzugriffs weder im Wege einer verfassungskonformen Auslegung noch durch Billigkeitsmaßnahmen reduziert werden kann, überschreitet die § 8c KStG zugesprochene Vereinfachung die Grenzen, die der Gesetzgeber im Rahmen einer Vereinfachung durch Typisierung oder Pauschalierung beachten muss. Den Anforderungen für eine Rechtfertigung des Verstoßes gegen das objektive Nettoprinzip genügen die Vereinfachungserwägungen nicht. IV. Sanierungsklausel Rund um die Vorschrift des § 8c KStG ergeben sich europarechtliche Probleme: Seit Einführung des § 8c KStG waren von der Vorschrift Unternehmen betroffen, die finanziell, etwa infolge der sog. „Finanzkrise“ in Schwierigkeiten gekommen waren. Verbessert eine Kapitalgesellschaft mit der Aufnahme eines neuen Gesellschafters die finanzielle Ausstattung, war und ist die Anwendung von § 8c KStG schwer abzuwenden. In § 8c Abs. 1a KStG wurde im Jahr 200911 die sog. „Sanierungsklausel“ eingeführt.12 Nach dieser Vorschrift ist ein Beteiligungserwerb zum Zweck der Sanierung des Geschäftsbetriebs unbeachtlich – es bleiben nach einem sanierungsge-

11 Gesetz vom 16. 7. 2009, BGBl. I 2009, 1959; zum Zweck der Sanierungsklausel im Hinblick auf die „Finanz- und Wirtschaftskrise“ vgl. die Gesetzesbegründung in BundestagsDrucksache 16/13429, 50. 12 Vgl. dazu Roser, in: Gosch KStG § 8 Rn. 1451 ff.; Jochum, Systemfragen zu Mantelkauf und Sanierungsklausel, FR 2011, 497; Breuninger/Ernst, § 8c KStG im „Zangengriff“ von Europa- und Verfassungsrecht, GmbHR 2011, 673; Blumenberg/Haisch, Die unionsrechtliche Beihilfeproblematik des § 8c Abs. 1a KStG, FR 2012, 12.

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triebenen Gesellschafterwechsel steuerliche Verluste der Kapitalgesellschaft erhalten. Die EU-Kommission erklärte die Sanierungsklausel für unvereinbar mit der EUBeihilferichtlinie.13 Die Argumentation der Kommission lässt sich vereinfacht zusammenfassen: ohne einen Bescheid, der eine Beihilfe gewährt, dürfe es keine Begünstigung durch § 8c Abs. 1a KStG geben. Die Bundesrepublik Deutschland klagte gegen den Beschluss der Kommission, versäumte jedoch die Klagefrist.14 Unternehmen, die der Anwendung von § 8c KStG entgingen, weil sie sich auf die Sanierungsklausel berufen konnten, müssen mit Steuernachzahlung rechnen, die Nichtanwendung der Sanierungsklausel würde dem Staat ein zusätzliches Steueraufkommen von jährlich 500 Millionen Euro bescheren.15 V. Beihilfeproblematik vs. Verfassungsverstoß Die Situation ist bemerkenswert: Der deutsche Gesetzgeber schafft mit § 8c KStG eine systemwidrige Regelung, wirtschaftliche Gegebenheiten werden gesamtwirtschaftlich spürbar negiert. Die EU-Kommission stellt im Ergebnis die Dinge (wieder) auf den Kopf. Muss man danach eine „normale“ – also von § 8c KStG unberührte – Besteuerungssituation (Verrechnung von Verlusten mit Gewinnen) als Beihilfe werten? Steht das deutsche Ertragsteuerrecht im Verdacht, systemimmanent Beihilfen zu vermitteln? Vor diesem Hintergrund wäre es jedenfalls zu begrüßen, würde das Bundesverfassungsgericht § 8c KStG außer Kraft setzen. Der Ausgang des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht soll freilich nicht prognostiziert werden. Das BVerfG kann seine Rechtsprechung zu Art. 3 Abs. 1 GG im Steuerrecht weiter konkretisieren. Wendet man die Prüfungskriterien an, die in den letzten Jahren zu Art. 3 Abs. 1 GG in Schrifttum und Rechtsprechung entwickelt wurden, kann man § 8c KStG als verfassungswidrig einstufen. § 8c KStG führt nicht nur zu einer Ungleichbehandlung, für die keine besonderen sachlichen Gründe ersichtlich sind; die Vorschrift stellt sich als willkürliche staatliche Maßnahme dar. Sie betrifft jeden Fall der Anteilsübertragung, ohne Rücksicht auf die tatsächlichen wirtschaftlichen Belange, der Gesetzgeber blendet Historie, Hintergrund und Handlungsperspektiven der betroffenen Gesellschaft aus, Anteilsübertragungen – mittelbar und unmittelbar bis in die entlegenste Gesellschafterebene – werden als „schäd13

Beschluss der Europäischen Kommission vom 26. 1. 2011 – K (2011) 275, siehe auch Drüen, Die Sanierungsklausel des § 8c KStG als europarechtswidrige Beihilfe – Anmerkungen zur Beihilfeentscheidung der EU-Kommission vom 26. 1. 2011, DStR 2011, 289; Hackemann/Sydow, Richtungsentscheidung des EuGH in der Rs. C-6/12, P Oy für die Voraussetzungen der Einstufung einer Sanierungsklausel als staatliche Beihilfe; Auswirkungen auf die suspendierte deutsche Sanierungsklausel des § 8c Abs. 1a KStG, IStR 2013, 786. 14 EuG Beschl. v. 18. 12. 2012 – T-205/11, IStR 2013, 101. 15 Vgl. Kippenberg in der Anmerkung zum EuG Beschl. v. 18. 12. 2012 – T-205/11, IStR 2013, 101 (105): Gegen den Beschluss der Kommission gibt es auch eine Reihe Privatklagen, die Bundesrepublik Deutschland unterstützt die Kläger in den Verfahren.

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lich“ betitelt, zu Lasten der Gesellschaft und auf Kosten der materiellen Richtigkeit der Besteuerung. Hinzu kommt, dass die Gesellschaft durch einen Rechtsakt den Verlustuntergang erleidet, der sich auf Ebene der Gesellschafter vollzieht. Die Anteilsübertragung geht überdies zu Lasten eines Dritten.16 Angesichts dieser Ausgangslage wird das BVerfG mit der Entscheidung im Verfahren zu § 8c KStG die Möglichkeit haben, dem Gesetzgeber für die Zukunft eine deutliche Grenze zu ziehen und damit auch für die betroffenen Steuerpflichtigen Planungssicherheit zu schaffen. Gleichzeitig wäre auch den Unternehmen gedient, die vor dem Gericht der Europäischen Union die Anerkennung der steuerlichen Verlustvorträge durchsetzen müssen.

16 Ein Nachteil zu Lasten eines Dritten liegt darin, dass die Steuerbelastung auf Ebene der Gesellschaft steigt. Aus Sicht des Zivilrechts wird man jedoch nicht die Unwirksamkeit der Anteilsübertragung annehmen können. Die Steuerbelastung ergibt sich als Reflex aus der Anteilsübertragung und ist nicht von den Vertragsparteien intendiert.

Steuersystematische und verfassungsrechtliche Aspekte der Abgeltungsteuer Von Heinz Kußmaul und Christian Schwarz, Saarbrücken1 Einleitung Am 30. 03. 2007 wurde der Regierungsentwurf zur Unternehmensteuerreform 2008 veröffentlicht.2 Nach langer und heftiger Diskussion ist am 25. 05. 2007 mit Beschluss der Bundesregierung und der Zustimmung des Bundesrates am 06. 07. 20073 das Unternehmensteuerreformgesetz 2008 verabschiedet worden. Im Bundesgesetzblatt wurde das neue Gesetz schließlich am 17. 08. 2007 veröffentlicht.4 Mit Implementierung des zweiten Teils der Reform zum 01. 01. 2009 trat ein bedeutender Bestandteil der Unternehmensteuerreform 2008 in Kraft. Bundesfinanzminister Peer Steinbrück hat die Einführung einer pauschalen Abgeltungsteuer in seiner Rede vom 25. 05. 2007 anlässlich der abschließenden Beratung des Bundestages über den Entwurf des Unternehmensteuerreformgesetzes 2008 in gewohnt prägnanter Form wie folgt gerechtfertigt:5 „Es ist besser, 25 Prozent auf X zu haben statt 42 Prozent auf gar nix. So simpel ist die Rechnung.“

Doch bei genauerer Betrachtung scheint die Rechnung eben nicht in Gänze so simpel, wie dies von politischer Seite propagiert wurde. Die seit nunmehr über fünf Jahren in Kraft getretene Abgeltungsteuer musste sich während dieser Zeitdauer erheblicher Kritik sowohl von ökonomischer6 als auch von steuerjuristischer Seite unterziehen; vor allem die Komplexität7 einzelner Vorschriften sowie steuersystema-

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Univ.-Professor Dr. Heinz Kußmaul ist Direktor des BLI (Betriebswirtschaftliches Institut für Steuerlehre und Entrepreneurship, Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insb. Betriebswirtschaftliche Steuerlehre, Institut für Existenzgründung/Mittelstand) an der Universität des Saarlandes. Christian Schwarz, M.Sc., ist dort wissenschaftlicher Mitarbeiter; vgl. dazu auch http://www.bli.uni-saarland.de. 2 Vgl. BR-Drucksache 220/07 vom 30. 03. 2007, S. 1 ff. 3 Vgl. BR-Drucksache 384/07 (Beschluss) vom 06. 07. 2007, S. 1 ff. 4 Vgl. Unternehmensteuerreformgesetz 2008 vom 14. 08. 2007, BGBl. I 2007, S. 1912 ff. 5 Vgl. Plenarprotokoll 16/101 vom 25. 05. 2007, S. 10364. 6 Vgl. Hechtner, Frank/Hundsdoerfer, Jochen (2009), S. 23 ff.; Watrin, Christoph/Benhof, Hanno (2007), S. 233 ff. 7 Vgl. Hey, Johanna (2007), S. 1309; Hey, Johanna (§ 8 2013), Rn. 504.

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tische und verfassungsrechtliche8 Aspekte rückten hierbei in den Fokus der Betrachtung. I. Systematik und rechtliche Grundlagen der Abgeltungsteuer Nach dem neuen Besteuerungssystem, das zum 01. 01. 2009 in Kraft getreten ist, werden private Kapitaleinkünfte (dazu zählen vor allem Dividenden, Zinsen und Gewinne aus der Veräußerung von Kapitalanlagen) einem einheitlichen Steuersatz in Höhe von 25 v.H. unterzogen (§ 32d EStG).9 Hinzu kommen Solidaritätszuschlag (SolZ) und gegebenenfalls Kirchensteuer (KiSt). Unterschiedliche Kapitalertragsteuersätze, wie beispielsweise 20 v.H. auf Dividenden, 25 v.H. auf Wandelanleihen und 30 v.H. auf Zinsen sind somit nicht mehr zu berücksichtigen.10 Die Abgeltungsteuer wird durch Einbehalt einer Kapitalertragsteuer bei Zufluss der Kapitalerträge durch das jeweilige inländische Kreditinstitut oder den Schuldner der Kapitalerträge erhoben.11 Der pauschale Steuerabzug an der Quelle (Quellensteuer) entfaltet für Privatanleger abgeltende Wirkung. Damit soll grundsätzlich auch – nach der Auffassung des Gesetzgebers – das Besteuerungsverfahren abgeschlossen sein (§§ 43 Abs. 5 und 43a EStG).12 Jedoch besteht weiterhin ein unveränderter Vorrang anderer Einkunftsarten gemäß § 20 Abs. 8 EStG (Subsidiaritätsprinzip). Hierzu zählen insbesondere Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft (§ 13 ff. EStG), Einkünfte aus Gewerbebetrieb (§ 15 ff. EStG), Einkünfte aus selbständiger Arbeit (§ 18 EStG) sowie Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung (§ 21 EStG). Daneben gilt die Abgeltungsteuer auch für ausländische Kapitaleinkünfte, die in Deutschland steuerpflichtig sind.13 Die Abgeltungsteuer vermindert sich gem. § 32d Abs. 1 Satz 2 EStG um die nach Maßgabe des § 32d Abs. 5 EStG anrechenbaren ausländischen Steuern. Hat ein deutscher Kapitalanleger beispielsweise Kapitaleinkünfte in Höhe von 8.000 E erzielt und 1.200 E ausländische Quellensteuer gezahlt, beträgt die Abgeltungsteuer exakt 800 E (0,25 · 8.000 E – 1.200 E). Mit der Einführung einer Abgeltungsteuer geht auch zugleich eine Verbreiterung der Steuerbemessungsgrundlage in § 20 EStG einher.14 Des Weiteren entfällt ein Abzug der tatsächlichen Werbungskosten (§ 20 Abs. 9 EStG) und das Halbeinkünf8

Vgl. Eckhoff, Rolf (2007a), S. 989 ff.; Englisch, Joachim (2007), S. 221 ff. Vgl. hierzu grundlegend Behrens, Stefan (2007), S. 1025; Binnewies, Burkhard (2008), S. 17; Schlotter, Josef/Jansen, Gabi (2008), S. 3. 10 Vgl. Oho, Wolfgang/Hagen, Alexander/Lenz, Thomas (2007), S. 1325. 11 Vgl. Schlotter, Josef/Jansen, Gabi (2008), S. 3. 12 Vgl. Rödder, Thomas (2007), S. 17; Weber-Grellet, Heinrich (2008), S. 545. 13 Vgl. Franz, Roland/Schmitt, Michael (2008), S. 20. 14 Vgl. Kußmaul, Heinz (2015), S. 20. 9

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teverfahren für Dividenden und Veräußerungsgewinne ist im Privatvermögen nicht mehr anzuwenden (100 %ige Versteuerung).15 Bei einem Privatanleger kann diese Änderung trotz eines abgeltenden Steuersatzes von 25 v.H. zu einer deutlichen Steigerung der effektiven Steuerbelastung führen.16 Zu den wesentlichen Neuerungen in Bezug auf die Abgeltungsteuer gehört die Vorschrift des § 20 Abs. 9 EStG. Nach Satz 1 ist ein Werbungskostenabzug im Rahmen der Abgeltungsteuer ausgeschlossen. Stattdessen ist nun bei der Ermittlung der Einkünfte aus Kapitalvermögen ein sogenannter Sparer-Pauschbetrag in Höhe von 801 E zu berücksichtigen (bei Zusammenveranlagung 1.602 E, § 20 Abs. 9 Satz 2 EStG). Dieser Betrag setzt sich aus dem zuvor in § 20 Abs. 4 EStG geregelten Sparer-Freibetrag in Höhe von 750 E (1.500 E bei Ehegatten) und dem in § 9a Satz 1 Nr. 2 EStG genannten Werbungskosten-Pauschbetrag von 51 E (bei Zusammenveranlagung 102 E) zusammen.17 Allerdings darf der Abzug des Sparer-Pauschbetrags nicht zu negativen Einkünften aus Kapitalvermögen führen.18 Gegenüber der alten Rechtslage ergeben sich betragsmäßig also keine Änderungen. Außerdem ist nach § 44a EStG eine Berücksichtigung des Sparer-Pauschbetrags auf Ebene des zum Abzug Verpflichteten (bspw. Kreditinstitut) in Form eines Freistellungsauftrags auch weiterhin bis zur Höhe des Sparer-Pauschbetrags möglich.19 Jedoch ist ein Abzug der tatsächlich entstandenen Werbungskosten (z. B. Depot- oder Kontoführungsgebühren) auch im Falle einer Veranlagungsoption – beispielsweise die in § 32d Abs. 6 EStG geregelte Günstigerprüfung – nach § 20 Abs. 9 Satz 1 EStG ausgeschlossen.20 Eine derartige Bruttobesteuerung begründet der Gesetzgeber damit, dass sowohl in den unteren Einkommensgruppen eine Typisierung hinsichtlich der Höhe der Werbungskosten vorgenommen als auch bei den oberen Einkommensgruppen berücksichtigt wird, dass mit einem relativ niedrigen Proportionalsteuersatz in Höhe von 25 v.H. die Werbungskosten abgegolten werden.21 Demnach sind gemäß § 43a Abs. 2 EStG die vollen Kapitalerträge ohne Abzug der tatsächlich angefallenen Werbungskosten als Bemessungsgrundlage der Abgeltungsteuer heranzuziehen. Darüber hinaus hat der deutsche Gesetzgeber die Regelungen zur Verlustverrechnung in den §§ 20 Abs. 6 i.V.m. 43a Abs. 3 EStG neu gefasst. Nach § 20 Abs. 6 Satz 2 EStG dürfen Verluste aus Kapitalvermögen nicht mit positiven Einkünften aus anderen Einkunftsarten ausgeglichen werden. Des Weiteren ist ein Verlustrücktrag ausgeschlossen; ein Verlustvortrag ist jedoch möglich (§ 20 Abs. 6 Satz 6 EStG). 15 Vgl. Binnewies, Burkhard (2008), S. 18.; Brusch, Friedrich (2007), S. 1001 f.; Rödder, Thomas (2007), S. 17. 16 Vgl. Loos, Gerold (2007), S. 704 ff. 17 Vgl. Fischer, Carola (2007), S. 1898; Franz, Roland/Schmitt, Michael (2008), S. 14. 18 Vgl. Franz, Roland/Schmitt, Michael (2008), S. 14. 19 Vgl. Behrens, Stefan (2007), S. 1029; Brusch, Friedrich (2007), S. 1002. 20 Vgl. Hey, Johanna (2007), S. 1307. 21 Vgl. BT-Drucksache 16/4841 vom 27. 03. 2007, S. 57.

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Eine weitere Besonderheit weisen Verluste aus Aktienveräußerungen im Rahmen der Verlustverrechnung auf. Hierzu besagt § 20 Abs. 6 Satz 5 EStG, dass für diese Einkünfte eine gesonderte Schedule gebildet werden muss. Nach dem Gesetzeswortlaut dürfen Verluste, die aus der Veräußerung von Aktien resultieren, nur mit positiven Einkünften aus der Veräußerung von Aktien ausgeglichen werden. Es handelt sich insoweit um eine Schedule in der Schedule. Auch bei der Kirchensteuer sind durch die Einführung der Abgeltungsteuer einige Änderungen zu verzeichnen.22 Einkommensteuer und Kirchensteuer sind interdependent. Auf der einen Seite bildet die Einkommensteuer die Bemessungsgrundlage der Kirchensteuer und auf der anderen Seite ist die Kirchensteuer unbegrenzt als Sonderausgabe bei der Ermittlung der Einkommensteuerbemessungsgrundlage gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 4 EStG abzugsfähig.23 In diesem Zusammenhang erweist sich die Erhebung der Kirchensteuer auf die Abgeltungsteuer als problematisch, da Kapitaleinkünfte von der Normalveranlagung ausgenommen sind. Ihre Abzugsfähigkeit als Sonderausgabe muss aber dennoch Berücksichtigung finden.24 Der deutsche Gesetzgeber hat eine Lösung dergestalt entwickelt, dass der fehlende Sonderausgabenabzug durch eine verringerte Bemessungsgrundlage ausgeglichen wird. Insofern berechnet sich die Kirchensteuer nicht mehr als prozentualer Aufschlag zur Abgeltungsteuer; vielmehr wird die Abgeltungsteuer um 25 v.H. der auf die Kapitalerträge entfallenden Kirchensteuer ermäßigt (§§ 32d Abs. 1 und 43a Abs. 1 Satz 2 EStG). Hieraus ergibt sich folgende Berechnungsformel: Kapitaleinkînfte ¢ ð4 ¡ anrechenbare ausl•ndische SteuerÞ 4 þ Kirchensteuersatz Ein Steuerpflichtiger erzielt beispielsweise Kapitaleinkünfte in Höhe von 10.000 E. Bei einem Kirchensteuersatz von 9 v.H. beträgt die zu entrichtende Abgeltungsteuer 2.445 E; die hierauf entfallende Kirchensteuer beläuft sich in der Folge auf 220,05 E. Nach den Absätzen 2c respektive 2d des § 51a EStG wird dem Steuerpflichtigen ein Wahlrecht gewährt, wonach er die abzuführende Kirchensteuer entweder nach dem Kapitalertragsteuerabzugsverfahren oder im Wege einer gesonderten Veranlagung ermitteln kann. Am 01. 01. 2015 tritt nun ein neues, automatisiertes Verfahren zum Einbehalt und Abfuhr der Kirchensteuer in Kraft.25 Nunmehr sind die Kirchensteuerabzugsverpflichteten gesetzlich dazu angehalten, einmal im Jahr beim Bundeszentralamt für Steuern die Religionszugehörigkeit aller Kunden zu erfragen (§ 51a 22

Vgl. hierzu grundlegend Kußmaul, Heinz/Meyering, Stephan (2008), S. 2298 ff. Vgl. Kußmaul, Heinz (2014), S. 355. 24 Vgl. ausführlich Kußmaul, Heinz (2014), S. 355. 25 Die Umsetzung erfolgte durch das Gesetz zur Umsetzung der Beitreibungsrichtlinie sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften (Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetz – BeitrRLUmsG) vom 07. 12. 2011, BGBl. I 2011, S. 2592 ff. Vgl. hierzu ausführlich Meyering, Stephan/Serocka, Johanna (2012), S. 1378 ff. 23

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Abs. 2c Nr. 3 EStG n.F.). Diese datenschutzrechtlich höchst umstrittene Abfrage kann durch den Ausschüttungsempfänger mit Hilfe eines sogenannten Sperrvermerks umgangen werden.26 Gemäß § 51a Abs. 2e Satz 3 EStG n.F. wird der Kirchensteuerpflichtige in der Folge zur Abgabe einer Steuererklärung zum Zwecke der Veranlagung verpflichtet. II. Einordnung der Abgeltungsteuer in das bisherige Steuersystem Die Abgeltungsteuer ist sowohl aus steuersystematischer als auch verfassungsrechtlicher Sicht höchst umstritten. Durch die Einführung einer Abgeltungsteuer auf Kapitalerträge bricht der Gesetzgeber gleich in zweifacher Hinsicht mit den steuersystematischen Grundprinzipien, die der deutschen Einkommensteuer bislang zugrunde lagen.27 Nicht nur der synthetische Einkommensbegriff, sondern auch der Dualismus der Einkünfteermittlung wurde aufgegeben.28 Des Weiteren ist eine Aufgabe des objektiven Nettoprinzips für abgeltungsbesteuerte Kapitaleinkünfte zu beobachten.29 Vor Einführung der Abgeltungsteuer wurde im Rahmen des synthetischen Einkommensbegriffs ein einheitlicher Steuersatz (§ 32a EStG) auf das aus den sieben Einkunftsarten ermittelte zu versteuernde Einkommen (§ 2 Abs. 5 EStG) angewendet.30 Seit dem Veranlagungszeitraum 2009 erfolgt nun jedoch eine Trennung zwischen Kapitaleinkünften auf der einen Seite und den restlichen Einkunftsarten auf der anderen Seite, was zur Entstehung einer neuen Schedule führte (duale Einkommensteuer).31 Bei dieser sogenannten Schedulensteuer werden im Gegensatz zu einer synthetischen Steuer die verschiedenen Einkunftsarten getrennt voneinander betrachtet und besteuert. Durch die Einführung der Abgeltungsteuer im Jahre 2009 gibt es einen einheitlichen Steuersatz in Höhe von 25 v.H., der lediglich auf die Einkünfte aus Kapitalvermögen anzuwenden ist. Somit sind nach § 2 Abs. 5b Satz 1 EStG abgeltungsbesteuerte Einkünfte aus Kapitalvermögen bei der Ermittlung des zu versteuernden Einkommens nicht zu berücksichtigen. Für die Einkünfte aus den verbliebenen sechs Einkunftsarten gilt aber weiterhin der progressive und bis zu 20 Prozentpunkte höhere Tarif.32 Eine weitere steuersystematische Änderung ergibt sich im Hinblick auf die Methoden der Einkünfteermittlung. § 2 Abs. 2 EStG unterteilt die Einkunftsarten in Gewinneinkünfte und Überschusseinkünfte, die jeweils unterschiedlichen steuertheore26

Vgl. Schmidt, Fritz (2014), S. 922 ff. Vgl. Bäuml, Swen/Gageur, Patrick (2006), S. 213; Eckhoff, Rolf (2007a), S. 989. 28 Vgl. Hey, Johanna (2007), S. 1308; Möstl, Markus (2003), S. 721. 29 Vgl. Eckhoff, Rolf (2007a), S. 990. 30 Vgl. Bäuml, Swen/Gageur, Patrick (2006), S. 214; Eckhoff, Rolf (2007a), S. 989. 31 Vgl. Hechtner, Frank/Hundsdoerfer, Jochen (2009), S. 24; Weber-Grellet, Heinrich (2008), S. 547. 32 Vgl. Eckhoff, Rolf (2007a), S. 989; Englisch, Joachim (2007), S. 224. 27

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tischen Einkommensbegriffen folgen. Während sich die Gewinneinkünfte an der sogenannten Reinvermögenszugangstheorie orientieren, ist für die Überschusseinkünfte die Quellentheorie charakteristisch. Dieser theoretische Unterschied wird als Einkünftedualismus oder Dualismus der Einkunftsarten bezeichnet. Für die Gewinneinkunftsarten, die auf die Reinvermögenszugangstheorie ausgerichtet sind, ist der Zugang von Reinvermögen während einer Periode entscheidend.33 Dagegen ist für die Quellentheorie entscheidend, dass die Vermögensmehrungen aus ständig fließenden Quellen stammen, wobei Wertsteigerungen der Quelle selbst davon ausgegrenzt sind.34 Vor Einführung der Abgeltungsteuer waren Gewinne aus der Veräußerung privater Kapitalanlagen mit Ausnahme der in § 23 Abs. 1 EStG kodifizierten Tatbestände sowie den sogenannten „§ 17-Beteiligungen“ nicht steuerbar.35 Im betrieblichen Bereich allerdings unterliegen Veräußerungsgewinne als laufender Gewinn immer der Besteuerung.36 Dieser Einkünftedualismus wurde vom Bundesverfassungsgericht in mehreren Entscheidungen als nicht verfassungswidrig eingestuft.37 Mit Einführung der Abgeltungsteuer ab dem Veranlagungszeitraum 2009 unterliegen aber auch erstgenannte Einkünfte unabhängig von der Haltedauer einem einheitlichen Steuersatz in Höhe von 25 v.H. (zzgl. SolZ und ggf. KiSt). In weiten Teilen der Literatur wird diese Art der Besteuerung als positive Entwicklung gedeutet, wobei die Abschwächung des Einkünftedualismus als konsequenter Schritt zu einer gleichmäßigeren Besteuerung angesehen wird.38 Ein weiterer steuersystematischer Grundsatz, der durch die Einführung der Abgeltungsteuer verletzt wird, ist das objektive Nettoprinzip. Das objektive Nettoprinzip stellt eine Konkretisierung des Leistungsfähigkeitsprinzips dar,39 wonach nur die Reineinkünfte besteuert und Verluste prinzipiell berücksichtigt werden sollen.40 Das Leistungsfähigkeitsprinzip wiederum konkretisiert bereichsspezifisch den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG.41 Dieser gibt einen zentralen verfassungsrechtlichen Maßstab vor, an dem sich Steuergesetze messen lassen müssen.42 Allerdings hat sich das Bundesverfassungsgericht bis jetzt vor einer eindeutigen verfassungsrechtlichen Einordnung des objektiven Nettoprinzips gescheut.43 Nach frü33

Vgl. Kußmaul, Heinz (2014), S. 271. Vgl. Kußmaul, Heinz (2014), S. 271; Hey, Johanna (§ 8 2013), Rn. 50. 35 Vgl. Englisch, Joachim (2007), S. 233; Watrin, Christoph/Benhof, Hanno (2007), S. 233. 36 Vgl. Watrin, Christoph/Benhof, Hanno (2007), S. 233. 37 Vgl. BVerfG-Beschluss vom 09. 07. 1969, 2 BvL 20/65, BStBl. II 1970, S. 156 ff.; BVerfG-Beschluss vom 07. 10. 1969, 2 BvL 3/66, 2 BvR 701/64, BStBl. II 1970, S. 160 ff. 38 Vgl. Bäuml, Swen/Gageur, Patrick (2006), S. 216; Eckhoff, Rolf (2007a), S. 994; Herzig, Norbert/Lutterbach, Thomas (1999), S. 526; Wagner, Franz W. (2000), S. 433; Watrin, Christoph/Benhof, Hanno (2007), S. 233. 39 Vgl. Hey, Johanna (2007), S. 1304; Mellinghoff, Rudolf (2003), S. 8. 40 Vgl. Weber-Grellet, Heinrich (§ 2 EStG 2014) Rn. 10. 41 Vgl. Wendt, Rudolf (1987), S. 1259. 42 Vgl. Eckhoff, Rolf (2007a), S. 992; Intemann, Jens (2007), S. 1659 f. 43 Vgl. Lang, Joachim (2007), S. 4. 34

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herem Recht war bei Kapitalerträgen lediglich der Überschuss der Einnahmen über die Werbungskosten steuerpflichtig (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 EStG). Nach nun geltendem Recht ist aber ein Abzug der tatsächlich angefallenen Werbungskosten ausgeschlossen und es kann lediglich ein Sparer-Pauschbetrag in Höhe von 801 E abgezogen werden (bei Zusammenveranlagung 1.602 E, § 20 Abs. 9 Satz 2 EStG). Somit kommt es im Bereich der Kapitalerträge zu einer typisierten Bruttobesteuerung.44 III. Verfassungsrechtliche Problematik 1. Gleichheitsgrundsatz Der allgemeine Gleichheitsgrundsatz45 des Art. 3 Abs. 1 GG bildet einen der zentralen Verfassungsmaßstäbe der Besteuerung, an dem sich Steuergesetze und somit auch die Abgeltungsteuer messen lassen müssen.46 Im Gleichheitsgrundsatz ist das Postulat der Steuergerechtigkeit verfassungsrechtlich verankert,47 wonach der Gesetzgeber wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu besteuern hat.48 Das Bundesverfassungsgericht hat den Gleichheitsgrundsatz für den Bereich des Steuerrechts dahingehend konkretisiert, dass sich die Besteuerung an der Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen zu orientieren hat.49 Deshalb soll jeder Steuerpflichtige in Anlehnung an seine finanzielle Leistungsfähigkeit zur Finanzierung der allgemeinen Staatsaufgaben beitragen.50 Dies bedeutet für den Gesetzgeber in Bezug auf die steuerliche Lastengleichheit, dass Steuerpflichtige mit gleicher Leistungsfähigkeit gleich hoch zu besteuern sind (horizontale Steuergerechtigkeit) und dass die Besteuerung von höherem Einkommen im Vergleich zur Belastung von niedrigerem Einkommen angemessen sein muss (vertikale Steuergerechtigkeit).51 Des Weiteren hat sich der Gesetzgeber an dem Gebot der Folgerichtigkeit auszurichten.52 Dies hat zur Folge, dass eine einmal getroffene Entscheidung des Gesetzgebers folgerichtig im Sinne der Belastungsgleichheit umgesetzt werden muss.53 Dennoch ist der Gesetzgeber dazu befugt, Ausnahmen von diesem Gebot vorzuneh44

Vgl. Birk, Dieter (2000), S. 331; Eckhoff, Rolf (2007a), S. 990. Vgl. ausführlich zum allgemeinen Gleichheitsgrundsatz Wendt, Rudolf (1988), S. 778 ff. 46 Vgl. Eckhoff, Rolf (2007a), S. 992; Intemann, Jens (2007), S. 1659 f. 47 Vgl. Intemann, Jens (2007), S. 1660. 48 Vgl. BVerfG-Beschluss vom 16. 03. 2005, 2 BvL 7/00, DStR Heft 23, 2005, S. 958 ff. 49 Vgl. BVerfG-Beschluss vom 29. 05. 1990, 1 BvL 20/48, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86, BStBl. II 1990, S. 653 ff. 50 Vgl. BVerfG-Beschluss vom 22. 06. 1995, 2 BvL 37/91, BStBl. II 1995, S. 655 ff. 51 Vgl. BVerfG-Beschluss vom 29. 05. 1990, 1 BvL 20/48, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86, BStBl. II 1990, S. 653 ff.; BVerfG-Beschluss vom 10. 11. 1998, 2 BvL 42/93, BStBl. II 1999, S. 174 ff. 52 Vgl. BVerfG-Beschluss vom 21. 06. 2006, 2 BvL 2/99, DStR Heft 30, 2006, S. 1316 ff. 53 Vgl. BVerfG-Beschluss vom 04. 12. 2002, 2 BvR 400/98, 2 BvR 1735/00, DStR Heft 16, 2003, S. 633 ff. 45

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men, wenn besondere sachliche Gründe vorliegen.54 Für die Abgeltungsteuer bedeutet dies, dass die unterschiedliche steuerliche Behandlung der Einkünfte aus Kapitalvermögen gegenüber den anderen Einkünften einer Rechtfertigung bedarf. In der Gesetzesbegründung wird als Rechtfertigungsgrund die Sicherung des deutschen Standorts aufgeführt.55 Das Bundesverfassungsgericht erkennt in seinem Beschluss vom 21. 06. 2006 diesen Rechtfertigungsgrund an, lässt jedoch offen, ob dieser Grund allein ausreichend ist.56 Im Hinblick auf die im steuerlichen Wettbewerb stehenden Staaten ist das Konzept einer abgeltenden Kapitalertragsteuer gleichheitsrechtlich zu akzeptieren.57 Hey erkennt jedoch durch die sehr komplizierte Ausgestaltung der Abgeltungsteuer eine Vereinbarkeit mit dem Gleichheitsgrundsatz nicht an.58 Die in der Literatur teilweise vertretenen Rechtfertigungsgründe,59 wie bspw. die Einfachheit und Vollzugseffizienz der Abgeltungsteuer, können in der Praxis nicht bestehen, da die Komplexität der abgeltungsteuerlichen Regelungen überwiegt.60 Bei einer Gesamtbetrachtung der steuerlichen Umstände ist eine Vereinbarkeit der momentan gültigen Abgeltungsteuer mit dem Gleichheitsgrundsatz zu verneinen.61 2. Schedularisierung der Einkünfte aus Kapitalvermögen Des Weiteren ist es fraglich, ob die Unterscheidung zwischen linear besteuerten Kapitaleinkünften einerseits und den restlichen progressiv besteuerten Einkünften andererseits einer verfassungsrechtlichen Beurteilung standhält. Hierbei könnte es sich möglicherweise um einen Verstoß gegen das Leistungsfähigkeitsprinzip handeln, da gleich hohe Einkünfte in Abhängigkeit von der Einkunftsart einer unterschiedlichen Besteuerung unterzogen werden.62 Bei einer derartigen Beurteilung kommt es maßgeblich darauf an, ob sachliche Rechtfertigungsgründe für eine solche Entscheidung einschlägig sind. Nach der Auffassung von Eckhoff hat die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu § 32c EStG a.F. insoweit zu einer Verschiebung der Maßstäbe geführt.63 Nach diesem Judikat erkennt das Bundesverfassungsgericht eine Schedulenbesteuerung grundsätzlich an. In seinem Beschluss vom 21. 06. 2006 akzeptiert das Bundesverfassungsgericht das Ziel der Verbesserung 54

Vgl. BVerfG-Beschluss vom 30. 09. 1998, 2 BvR 1818/91, DStR Heft 45, 1998, S. 1743 ff. 55 Vgl. BR-Drucksache 220/07 vom 30. 03. 2007, S. 49. 56 Vgl. BVerfG-Beschluss vom 21. 06. 2006, 2 BvL 2/99, DStR Heft 30, 2006, S. 1316 ff. Anderer Auffassung Englisch, Joachim (2007), S. 224 f. 57 Vgl. Hey, Johanna (§ 8 2013), Rn. 505. Hierzu bejahend Hey, Johanna (2006), S. 858; Tipke, Klaus (2007), S. 209. Insgesamt dagegen Englisch, Joachim (2007), S. 221 ff. 58 Vgl. Hey, Johanna (§ 8 2013), Rn. 507. 59 Vgl. Hey, Johanna (2006), S. 858. 60 Vgl. Hey, Johanna (§ 8 2013), Rn. 507. 61 Vgl. stellvertretend hierzu Englisch, Joachim (2007), S. 239. 62 Vgl. Eckhoff, Rolf (2007a), S. 994. 63 Vgl. Eckhoff, Rolf (2007a), S. 993.

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des Wirtschaftsstandorts Deutschland als solchen sachlichen Rechtfertigungsgrund.64 Fiskalische Gründe, wie beispielsweise knappe Haushaltskassen, werden hingegen nicht als ausreichender Rechtfertigungsgrund für eine Schedulenbesteuerung anerkannt.65 Durch dieses Urteil wird dem Gesetzgeber ein nahezu unbegrenzter Spielraum für die Einführung von Schedulensteuern dargeboten.66 Vor diesem Hintergrund kommt Eckhoff zu dem Entschluss, dass der Gesetzgeber kein fiskalisches Interesse mit der Einführung der Abgeltungsteuer verfolgt. Legt man zusätzlich noch den weit gefassten verfassungsrechtlichen Maßstab des Beschlusses zu § 32c EStG a.F. zugrunde, dann müsste die Neuregelung vom wirtschaftlichen Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers gedeckt sein.67 Englisch steht diesem Judikat und den daraus resultierenden Folgen jedoch weitaus kritischer gegenüber. Seiner Ansicht nach vertritt der Gesetzgeber weder außerfiskalische noch wirtschaftspolitische Ziele, welche eine Ungleichbehandlung rechtfertigen könnten.68 Somit handele es sich bei der Abgeltungsteuer um eine rein fiskalische Maßnahme, mit der eine Schedulenbesteuerung nicht gerechtfertigt werden könne. Die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit der Abgeltungsteuer ist in der Literatur höchst umstritten. Allerdings dürfte die Wahrscheinlichkeit, dass die Abgeltungsteuer einer verfassungsrechtlichen Prüfung standhält, durch den Beschluss zu § 32c EStG a.F. enorm gestiegen sein.69 3. Werbungskostenabzugsverbot und Sparer-Pauschbetrag Nach § 20 Abs. 9 Satz 1 EStG ist ein Abzug tatsächlich entstandener Werbungskosten nicht mehr möglich. Es kommt lediglich ein typisierter Sparer-Pauschbetrag in Höhe von 801 E bzw. 1602 E zur Anwendung. Der ganz überwiegende Teil des Schrifttums sieht darin einen erheblichen Verstoß gegen das Leistungsfähigkeitsprinzip in der Ausprägung des objektiven Nettoprinzips, wonach eine Bruttobesteuerung ausgeschlossen ist.70 Grundsätzlich darf der Gesetzgeber Typisierungen und Pauschalierungen verwenden, allerdings muss dafür nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein typischer, realitätsgerechter Fall als Maßstab zugrunde gelegt wer-

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Vgl. BVerfG-Beschluss vom 21. 06. 2006, 2 BvL 2/99, DStR Heft 30, 2006, S. 1316 ff. Vgl. Eckhoff, Rolf (2007a), S. 994. 66 Vgl. Hennrichs, Joachim/Lehmann, Ulrike (2007), S. 16. 67 Vgl. Eckhoff, Rolf (2007a), S. 996. 68 Vgl. Englisch, Joachim (2007), S. 224. 69 Vgl. Axer, Jochen (2007), S. 201. 70 Vgl. Behrens, Stefan (2007), S. 1028; Englisch, Joachim (2007), S. 239; Gratz, Kurt (2008), S. 1105; Hey, Johanna (2006), S. 858; Jochum, Heike (2014), Rn. K 48 ff.; Oho, Wolfgang/Hagen, Alexander/Lenz, Thomas (2007), S. 1323. 65

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den.71 Wenzel sieht diese Voraussetzung beim Sparer-Pauschbetrag nicht erfüllt, da der frühere Sparer-Freibetrag und der Werbungskosten-Pauschbetrag in den jetzigen Sparer-Pauschbetrag aufgegangen sind.72 Er begründet seine Auffassung damit, dass eine realitätsgerechte Pauschalierung der Werbungskosten nicht vorliegen kann, wenn man sich die Unstetigkeit des ehemaligen Sparer-Freibetrags bezüglich seiner Höhe betrachtet.73 Eckhoff ist dagegen anderer Auffassung und stützt diese wiederum auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 21. 06. 2006 zu § 32c EStG a.F., wonach es dem Gesetzgeber durchaus erlaubt ist, typisierende Regelungen zu treffen, wenn kein atypisches Leitbild zugrunde gelegt wird.74 Er kommt zu dem Entschluss, dass es sich im Fall des „normalen“ Kapitalanlegers um eine angemessene Pauschalierung handelt, bei der der Sparer-Pauschbetrag die tatsächlichen Werbungskosten ausreichend berücksichtigt.75 Ausnahmefälle, wie zum Beispiel in den Fällen eines intensiv beratenen Spitzeninvestors (Beratungskosten) oder bei fremdfinanzierten Kapitalanlagen (Zinsaufwand), gebe es bei jeder Pauschalierung, wobei diese nicht berücksichtigt werden können, da sonst der Vereinfachungseffekt marginal wäre. Käme es jedoch zu einer Häufung solcher Ausnahmefälle, müsste die verfassungsrechtliche Betrachtung überdacht werden.76 Auch Jachmann sieht den Werbungskostenausschluss als gerechtfertigt an, da die Abgeltungsteuer als Schedulensteuer nicht an die Folgerichtigkeit im synthetischen System der Einkommensteuer gebunden sei.77 Nach der Auffassung von Musil steht das Werbungskostenabzugsverbot mit der Verfassung im Einklang; allerdings hält er die Rechtslage für nicht befriedigend.78 Kritischer fällt hingegen das Urteil von Hey aus. Die Bruttobesteuerung sei der Tribut, der gezollt werden müsse, um eine Vereinfachung des Besteuerungsverfahrens herbeizuführen.79 Allerdings wird durch den Gesetzesentwurf die Abgeltungsteuer zum „allgemeinen Prinzip“ erhoben.80

71 Vgl. BVerfG-Urteil vom 09. 12. 2008, 2 BvL 1/07, 2 BvL 2/07, 2 BvL 1/08, 2 BvL 2/08, DStR Heft 51 – 52, 2008, S. 2460 ff. 72 Vgl. Wenzel, Sebastian (2009), S. 1183. 73 1975 – 1989: 300/600 DM; 1990 – 1992: 600/1200 DM; 1993 – 1999: 6000/12000 DM; 2000 – 2001: 3000/6000 DM; 2002 – 2003: 1550/3100 E; 2004 – 2006: 1370/2740 E; 2007 – 2008: 750/1500 E. 74 Vgl. BVerfG-Beschluss vom 21. 06. 2006, 2 BvL 2/99, DStR Heft 30, 2006, S. 1316 ff. 75 Vgl. Eckhoff, Rolf (2007a), S. 998. 76 Vgl. dazu Eckhoff, Rolf (2007b), S. 22. 77 Vgl. Jachmann, Monika (2009), S. 131; ebenfalls für eine Zulässigkeit plädierend Wernsmann, Rainer (2009), S. 102. 78 Vgl. Musil, Andreas (2010), S. 154 f. 79 Vgl. Hey, Johanna (2007), S. 1307. 80 Vgl. Hey, Johanna (2007), S. 1307.

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Unabhängig von den teilweise diametralen Auffassungen im Schrifttum hat das Finanzgericht Baden-Württemberg in seinem Judikat vom 17. 12. 201281 entschieden, dass das Verbot des Werbungskostenabzugs im Rahmen der Günstigerprüfung (§ 32d Abs. 6 Satz 1 EStG) verfassungswidrig ist.82 4. Verlustausgleichsbeschränkung Verluste aus Kapitalvermögen dürfen nicht mit positiven Einkünften aus anderen Einkunftsarten ausgeglichen werden und müssen so innerhalb der Schedule verbleiben (§ 20 Abs. 6 Satz 2 EStG). Eine weitere Besonderheit bei der Verlustverrechnung weisen die Verluste aus Aktienveräußerungen auf, wonach für diese Einkünfte eine gesonderte Schedule gebildet werden muss (§ 20 Abs. 6 Satz 5 EStG). Die Literatur sieht auch in dieser Vorgehensweise einen Verstoß gegen das Prinzip der Leistungsfähigkeit in der Ausprägung des objektiven Nettoprinzips,83 denn die Verlustverrechnung dient dazu, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Steuerpflichtigen in der abgelaufenen Periode zu bestimmen.84 Dabei stellt der Verlustausgleich keine Steuerbegünstigung dar, sondern ist Ausdruck richtiger Leistungsfähigkeitsbemessung nach dem objektiven Nettoprinzip.85 Nach der Auffassung des Gesetzgebers sind diese neu eingeführten Regelungen über den Verlustausgleich gerechtfertigt, da für die Einkünfte aus Kapitalvermögen ein Sondertarif von lediglich 25 v.H. gilt, womit auch das Steuerminderungspotenzial auf diesen Wert beschränkt sein solle.86 Selbst wenn man in diesem Symmetrieprinzip87 eine im verfassungsrechtlichen Sinne ausreichende Rechtfertigung sieht, ist es nicht ersichtlich, warum Verluste aus Aktienverkäufen nicht mit positiven Zinseinkünften verrechenbar sein sollen, obwohl sie sich in ihrer Besteuerung im Erfolgsfall nicht unterscheiden.88 Die Intention des Gesetzgebers besteht darin, die durch Spekulationsgeschäfte bedingten – abstrakt drohenden – qualifizierten Haushaltsrisiken zu verhindern.89 Eine solche Argumentation, die lediglich das Fiskalinteresse des Staates verdeut-

81 Vgl. FG Baden-Württemberg vom 17. 12. 2012, 9 K 1637/10, DStRE Heft 9, 2013, S. 530 ff. Gegen dieses Urteil wurde das Rechtsmittel der Revision eingelegt (Aktenzeichen BFH: VIII R 13/13). 82 Vgl. ausführlich zu diesem Urteil Mertens, Heinz-Peter/Karrenbrock, Lukas (2013), S. 950 ff. 83 Vgl. Englisch, Joachim (2007), S. 237; Jochum, Heike (2014), Rn. A 27 und H 31 ff.; Oho, Wolfgang/Hagen, Alexander/Lenz, Thomas (2007), S. 1324. 84 Vgl. Wehrheim, Michael (2009), S. 84. 85 Vgl. Hey, Johanna (§ 8 2013), Rn. 61. 86 Vgl. BT-Drucksache 16/4841 vom 27. 03. 2007, S. 58. 87 Vgl. Englisch, Joachim (2007), S. 236. 88 Vgl. Oho, Wolfgang/Hagen, Alexander/Lenz, Thomas (2007), S. 1324. 89 Vgl. BT-Drucksache 16/5491 vom 24. 05. 2007, S. 19.

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licht, droht das Prinzip der Leistungsfähigkeit zu untergraben und ist daher abzulehnen.90 5. Besteuerung von Dividendeneinkünften Im Schrifttum werden erhebliche Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der Ungleichbehandlung von privaten und betrieblichen Kapitalanlegern geäußert.91 Für betrieblich vereinnahmte Dividenden wurde das Halbeinkünfteverfahren zu einem Teileinkünfteverfahren fortentwickelt (§ 3 Nr. 40 EStG),92 wodurch 60 v.H. (zuvor 50 v.H.) der Betriebsausgaben abziehbar sind (§ 3c Abs. 2 EStG) und im Gegenzug aber nur noch 40 v.H. (zuvor 50 v.H.) der Dividenden steuerbefreit sind. Für im Privatvermögen vereinnahmte Dividenden gilt hingegen vollumfänglich die Abgeltungsteuer, bei der ein Ansatz der tatsächlichen Werbungskosten untersagt ist.93 Hierin wird ein verfassungsrechtlicher Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz und das Leistungsfähigkeitsprinzip gesehen, da gleiche Dividendeneinnahmen ungleich behandelt werden.94 Dieses Problem hat wohl auch der deutsche Gesetzgeber erkannt und im Rahmen des Jahressteuergesetzes 200895 den § 32d Abs. 2 Nr. 3 EStG implementiert. Hiernach kann ein Steuerpflichtiger unter bestimmten Voraussetzungen zum Teileinkünfteverfahren optieren und damit die Abgeltungsteuer abwählen. Dazu muss allerdings eine unternehmerische Beteiligung im Sinne des § 32d Abs. 2 Nr. 3 EStG vorliegen. Diese ist in den folgenden zwei Fällen einschlägig, wenn der Anleger unmittelbar oder mittelbar - zu mindestens 25 v. H. an der Kapitalgesellschaft beteiligt ist oder - zu mindestens 1 v. H. an der Kapitalgesellschaft beteiligt ist und beruflich für diese tätig ist.96 Entsprechende Kapitalerträge sind dann auf Antrag in der Einkommensteuererklärung zu erfassen und dem jeweiligen progressiven Steuertarif zu unterwerfen.97 6. Kirchensteuer Ausweislich der Norm des Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 136 Abs. 3 der deutschen Verfassung vom 11. 08. 1919 ist niemand dazu verpflichtet, seine religiöse 90

Vgl. Schönfeld, Jens (2007), S. 639 f. Vgl. Englisch, Joachim (2007), S. 331; Intemann, Jens (2007), S. 1660 f.; Loos, Gerold (2007), S. 704; Oho, Wolfgang/Hagen, Alexander/Lenz, Thomas (2007), S. 1324. Keine Bedenken hingegen äußert Eckhoff, Rolf (2007a), S. 997. 92 Vgl. BT-Drucksache 16/4841 vom 27. 03. 2007, S. 46. 93 Vgl. hierzu auch Jochum, Heike (2015), S. 10 ff., in der Festschrift S. 191 (197 ff.). 94 Vgl. Oho, Wolfgang/Hagen, Alexander/Lenz, Thomas (2007), S. 1324. 95 Vgl. Jahressteuergesetz 2008 (JStG 2008) vom 20. 12. 2007, BGBl. I 2007, S. 3153. 96 Vgl. dazu ausführlich BT-Drucksache 16/7036 vom 08. 11. 2007, S. 14. 97 Vgl. zum Verfahren der Antragstellung Schmitt, Volker/Wänger, Manuela (2008), S. 14952. 91

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Überzeugung zu offenbaren. Diesen Grundsatz hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 08. 11. 196098 in Bezug auf Art. 4 Abs.1 sowie Art. 5 Abs. 1 GG konkretisiert, wonach „das Grundrecht der Glaubensfreiheit erlaubt auszusprechen und auch zu verschweigen, daß und was man glaubt oder nicht glaubt“. Mit der Einführung des Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetzes99 sind die Kirchensteuerabzugsverpflichteten nunmehr gesetzlich dazu angehalten, einmal im Jahr beim Bundeszentralamt für Steuern die Religionszugehörigkeit aller Kunden zu erfragen (§ 51a Abs. 2c Nr. 3 EStG n.F.). Auch wenn die vom Bundeszentralamt für Steuern übermittelten Daten nur für Zwecke des Kirchensteuerabzugs genutzt werden dürfen und darüber hinaus sichergestellt werden muss, dass kein anderweitiger Zugriff auf diese Daten erfolgen kann,100 bestehen – trotz der Möglichkeit der Einreichung eines Sperrvermerks (§ 51a Abs. 2e EStG n.F.) – nicht unerhebliche datenschutzrechtliche101 und verfassungsrechtliche Bedenken gegen eine derartige Vorgehensweise. IV. Kritische Würdigung und Ausblick Mit der 2009 eingeführten Abgeltungsteuer gehen tiefgreifende Eingriffe in die elementaren Grundprinzipien des Einkommensteuerrechts einher. Der Gesetzgeber verabschiedet sich nun endgültig vom System der synthetischen Einkommensteuer und schränkt das Leistungsfähigkeitsprinzip in der Ausprägung des objektiven Nettoprinzips in massiver Weise ein.102 Für die Einkünfte aus Kapitalvermögen wurde eigens eine Schedule gebildet, in der Bruttoerträge – aufgrund der Versagung des tatsächlichen Werbungskostenabzugs – mit einem pauschalen Steuersatz besteuert werden. Positiv vor diesem Hintergrund ist die Abkehr von der Quellentheorie zu erwähnen (Einbeziehung jeglicher Veräußerungsgewinne), was von weiten Teilen der Literatur als konsequenter Schritt zu einer gleichmäßigeren und moderaten Erfassung dieser Einkünfte angesehen wird.103 Indes ist es sehr fraglich, ob die vom Gesetzgeber verfolgten Ziele, wie zum Beispiel die Steigerung der Attraktivität des Finanzplatzes Deutschland sowie die Eindämmung der Kapitalflucht, mit Einführung der Abgeltungsteuer erreicht werden können. Es ist nicht ersichtlich, wie ein Abgeltungsteuersatz in Höhe von 25 v.H. (zzgl. SolZ und ggf. KiSt) dem Steuerhinterziehungs-

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Vgl. BVerfG-Beschluss vom 08. 11. 1960, 1 BvR 59/56, NJW Heft 5, 1961, S. 211. Gesetz zur Umsetzung der Beitreibungsrichtlinie sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften (Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetz – BeitrRLUmsG) vom 07. 12. 2011, BGBl. I 2011, S. 2592 ff. 100 Vgl. BT-Drucksache 17/7524 vom 26. 10. 2011, S. 14. 101 Vgl. Schmidt, Fritz (2014), S. 923. 102 Vgl. Bäuml, Swen/Gageur, Patrick (2006), S. 218; Weber-Grellet, Heinrich (2008), S. 550. 103 Vgl. Bäuml, Swen/Gageur, Patrick (2006), S. 216; Eckhoff, Rolf (2007a), S. 994; Herzig, Norbert/Lutterbach, Thomas (1999), S. 526; Wagner, Franz W. (2000), S. 433; Watrin, Christoph/Benhof, Hanno (2007), S. 233; anderer Auffassung Loos, Gerold (2007), S. 704 f. 99

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potenzial und der Kapitalflucht ins Ausland entgegenwirken kann,104 zumal Aktionäre durch die Weiterentwicklung des Halbeinkünfteverfahrens zum Teileinkünfteverfahren sogar noch stärker belastet werden.105 Darüber hinaus bestehen erhebliche verfassungsrechtliche, insbesondere im allgemeinen Gleichheitsgrundsatz fußende Bedenken gegen den fehlenden Werbungskostenabzug, die Einschränkungen in der Verlustverrechnung sowie gegen die Ungleichbehandlung von privaten und betrieblichen Kapitalanlegern. Festzuhalten bleibt, dass es dem Konzept einer einheitlichen Pauschalbesteuerung privater Kapitalerträge an der nötigen systematischen Konsequenz fehlt und damit einhergehend verfassungsrechtliche Fragestellungen aufgeworfen werden.106 Vor diesem Hintergrund hat die Fraktion DIE LINKE, federführend vertreten durch Herrn Gysi, am 02. 07. 2014 einen Antrag zur Abschaffung der Abgeltungsteuer gestellt.107 Als Begründung führen die Antragsteller zum einen an, dass die abgeltende Besteuerung von Einkünften aus Kapitalvermögen ein klarer Verstoß gegen die steuerliche Gleichbehandlung aller Einkunftsarten darstelle, und zum anderen wird stark in Zweifel gezogen, dass die Abgeltungsteuer jemals zu einer Verminderung der grenzüberschreitenden Steuerhinterziehung beigetragen hat. Literatur Axer, Jochen (2007): Abgeltungs- und Veräußerungsgewinnbesteuerung ab 2009, in: Die Steuerberatung, Heft 5, 2007, S. 201 ff. Bäuml, Swen/Gageur, Patrick (2006): Die geplante Abgeltungsteuer auf Kapitaleinkünfte – Aktuelles Beratungs-Know-How und potentielle Verfassungswidrigkeit, in: Finanz-Rundschau Ertragsteuerrecht, Heft 5, 2006, S. 213 ff. Behrens, Stefan (2007): Neuregelung der Besteuerung der Einkünfte aus Kapitalvermögen ab 2009 nach dem Regierungsentwurf eines Unternehmenssteuerreformgesetzes vom 14. 3. 2007, in: Betriebs-Berater, Heft 19, 2007, S. 1025 ff. Binnewies, Burkhard (2008): Die neue Abgeltungsteuer, in: GmbH-Steuerberater, Heft 1, 2008, S. 16 ff. Birk, Dieter (2000): Das Leistungsfähigkeitsprinzip in der Unternehmenssteuerreform, in: Steuer und Wirtschaft, Heft 4, 2000, S. 328 ff. Brusch, Friedrich (2007): Unternehmensteuerreformgesetz 2008: Abgeltungsteuer, in: FinanzRundschau, Heft 21, 2007, S. 999 ff. 104 Vgl. Englisch, Joachim (2007), S. 239; Paukstadt, Maik/Luckner, Markus (2007), S. 657. 105 Vgl. Hechtner, Frank/Hundsdoerfer, Jochen (2009), S. 41. 106 Das FG Nürnberg bejaht eine verfassungsrechtliche Zulässigkeit in seiner Entscheidung vom 07. 03. 2012, 3 K 1045/11, EFG 2012, S. 1054 ff.; insgesamt gegen eine Schedulenbesteuerung Englisch, Joachim (2005), S. 99 ff.; Englisch, Joachim (2007), S. 221 ff. 107 Vgl. BT-Drucksache 18/2014 vom 02. 07. 2014, S. 1 ff.

Steuersystematische und verfassungsrechtliche Aspekte der Abgeltungsteuer

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Steuergerechtigkeit im Internationalen Steuerrecht Von Moris Lehner, München Die Themen Steuergerechtigkeit und Abgabengerechtigkeit beschäftigen Rudolf Wendt seit langer Zeit unter grundlegenden dogmatischen1 und steuerpolitischen Fragestellungen2 und mit Bezügen zum Internationalen Steuerrecht3. Wie das innerstaatliche, so kommt auch das Internationale Steuerrecht nicht zur Ruhe. Beiden Bereichen gemeinsam ist eine der Not schnelllebiger Entwicklungen gehorchende Praxis, die wichtige Gerechtigkeitsfragen an den Schnittstellen zwischen dem innerstaatlichen und dem Internationalen Steuerrecht einschließlich des unionsrechtlich geprägten Steuerrechts in den Hintergrund treten lässt. Dem Jubilar und Kollegen im Amt des Hochschullehrers sei deshalb ein Beitrag aus dem Pflichtprogramm des Professors gewidmet. Untersucht und diskutiert seien einige grundlegende Fragestellungen der Steuergerechtigkeit im Internationalen Steuerrecht. Ausgehend von finanzwissenschaftlichen4 und verfassungsrechtlichen5 Vorgaben wird der Blick auf das Völkerrecht6 und auf das Unionsrecht7 erweitert. I. Rechtfertigung der Besteuerung als Steuergerechtigkeit im weiteren Sinn und als Voraussetzung für Steuergerechtigkeit im engeren Sinn Steuergerechtigkeit in einem engeren Sinn, verstanden als gerechte Lastenverteilung nach Maßgabe des Leistungsfähigkeitsprinzips8 und des Gebots der Folgerich-

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Rudolf Wendt, Besteuerung und Eigentum, NJW 1980, S. 2111; ders., Die Gebühr als Lenkungsmittel, 1975. 2 Rudolf Wendt, Eigentum und Gesetzgebung, 1985, S. 316 ff.; ders., Empfiehlt es sich, das Einkommensteuerrecht zur Beseitigung von Ungleichbehandlungen und zur Vereinfachung neu zu ordnen?, DÖV 1988, S. 710 ff.; ders., Gleichheit im Steuerrecht, NVwZ 1988, S. 787 ff. 3 Rudolf Wendt, Reform der Unternehmensbesteuerung aus europäischer Sicht, StuW 1992, S. 66 ff. 4 S. u. I. 1. 5 S. u. I. 2. 6 S. u. I. 3.; II. 1. b). 7 S. u. I. 4.; II. 1. b); 2. b). 8 Dazu im internationalen Kontext u. II. 1.; II. 2.

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tigkeit9, setzt die Rechtfertigung des steuerlichen Eingriffs dem Grunde nach voraus10. Diese Voraussetzung kann als Steuergerechtigkeit in einem weiteren Sinn bezeichnet werden. Sie ist mit besonderem Differenzierungsanspruch vor allem im Internationalen Steuerrecht zu fordern, das die Gesamtheit der Normen umfasst, die auf die Besteuerung grenzüberschreitender Sachverhalte zur Anwendung kommen11. Die grundlegende Unterscheidung zwischen der unbeschränkten Steuerpflicht des im Inland ansässigen Steuerpflichtigen und der beschränkten Steuerpflicht des Steuerausländers wirft die Frage nach einer Rechtfertigung dieser Unterscheidung und der mit ihr verbundenen Reichweite des steuerlichen Zugriffs auf die in- und ausländischen Einkünfte unter dem Aspekt der Doppelbesteuerung12 auf. Von der Rechtfertigung der Reichweite des steuerlichen Zugriffs und dem Problem der Doppelbesteuerung zu unterscheiden ist die unterschiedliche Ausgestaltung der jeweiligen Steuerpflicht: Während der unbeschränkt Steuerpflichtige grundsätzlich in den vollen Genuss einer den gesetzlichen Konkretisierungen des Leistungsfähigkeitsprinzips13 und des Gebots der Folgerichtigkeit entsprechenden Besteuerung im Sinne der hier eingangs angesprochenen Steuergerechtigkeit im engeren Sinn kommt, gilt dies für den beschränkt Steuerpflichtigen, gelindert durch unionsrechtlich bedingte Änderungen des innerstaatlichen Steuerrechts, nur eingeschränkt14. 1. Finanzwissenschaftliche Grundlagen a) Territoriale Begründung der Steuerpflicht Bereits Karl Neumeyer15 hat festgestellt, dass jede Steuer „der Abgrenzung im Raum“ bedarf. Dieser Abgrenzung entsprechen die Unterschiede zwischen der unbeschränkten und der beschränkten Steuerpflicht. Während die unbeschränkte Steuerpflicht auf einer räumlichen bzw. territorialen Verbindung des Steuerpflichtigen in Gestalt seiner Ansässigkeit im Gebiet eines Staates beruht, besteht der territoriale Bezug für die beschränkte Steuerpflicht in der inländischen Einkommensquelle des Steuerausländers. Auf diesen territorialen Verbindungen beruht die territorial-

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Dazu Paul Kirchhof, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 118 Rn. 178 ff.; BVerfGE u. a. 122, 210, 230 f. 10 Grundlegend Klaus Vogel, Rechtfertigung der Steuern – eine vergessene Vorfrage, Der Staat 25 (1986), S. 481 ff.; Kirchhof (Fn. 9), Rn. 2 ff.; Christian Waldhoff, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 116 Rn. 110 ff. 11 Moris Lehner, in: Klaus Vogel/Moris Lehner (Hg.), Doppelbesteuerungsabkommen, 6. Aufl. 2015, Grundlagen des Abkommensrechts, Rz. 3. 12 Dazu u. 1 ff. 13 Dazu im internationalen Kontext u. II. 1.; II. 2. 14 Vgl. nur Hanno Kube, in: Paul Kirchhof/Hartmut Söhn/Rudolf Mellinghoff (Hg.), EStG, Kommentar, § 50 Rn. A 2 ff. 15 Karl Neumeyer, Internationales Verwaltungsrecht, Bd. 4, Allgemeiner Teil, 1936, S. 61.

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äquivalenztheoretische bzw. nutzentheoretische Begründung der Steuerpflicht16. Der Inlandsbezug bildet den Rechtfertigungsgrund für die Besteuerung des Inländers und des Steuerausländers, der Einkünfte aus inländischen Quellen erzielt, wenn beide die inländische Rechts- und Infrastruktur für die Erzielung ihrer Einkünfte nutzen17. In diesem Bedingungszusammenhang erscheint die Abgabe in Gestalt der gegenleistungsunabhängig geschuldeten Steuer zwar nicht als konkrete Gegenleistung in einem synallagmatischen Vertragsverhältnis, wohl aber als eine im Sinne genereller Äquivalenz zu rechtfertigende Gegenleistung an den Staat, der die Bedingungen für die Erzielung von Einkünften durch seine Rechts- und Wirtschaftsordnung schafft und sichert. Dadurch wird deutlich, dass der Inlandsbegriff der Einzelsteuergesetze nicht nur eine formal-geographische, sondern auch eine materiell äquivalenztheoretische Abgrenzungs- und Rechtfertigungsfunktion hat18. Besonders deutlich wird dieser Zusammenhang in § 1 Abs. 1 Satz 2 EStG. Danach gehört zum „Inland im Sinne dieses Gesetzes… auch der der Bundesrepublik Deutschland zustehende Anteil am Festlandsockel, soweit dort Naturschätze des Meeresgrundes… erforscht oder ausgebeutet werden oder dieser der Energieerzeugung… dient.“ Ein weiteres Beispiel bildet § 9 Satz 3 AO, der einen gewöhnlichen Aufenthalt in Fällen ausschließt, in denen der Aufenthalt „ausschließlich zu Besuchs-, Erholungs-, Kuroder ähnlichen privaten Zwecken“, also nicht zur Erzielung von Einkünften, dient. Die Markteinkommenstheorie ist finanzwissenschaftlicher Ausdruck dieses Rechtfertigungszusammenhangs19. b) Notwendige Korrekturen Aus dem Zusammenwirken zwischen der unbeschränkten Steuerpflicht im Ansässigkeitsstaat und der beschränkten Steuerpflicht im Quellenstaat resultiert das Problem der Doppelbesteuerung20. Sie wird unilateral oder durch Doppelbesteue16 Grundlegend Kirchhof (Fn. 9), Rn. 2, 87 f., 222; Wolfgang Schön, Steuergesetzgebung zwischen Markt und Grundgesetz, in: Rudolf Mellinghoff/Gerd Morgenthaler/Thomas Puhl (Hg.), Die Erneuerung des Verfassungsstaats, 2003, S. 143 (156 ff.); zur historischen Entwicklung s. Klaus Vogel, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 30 Rn. 64 ff. 17 Vgl. die Nachw. in Fn. 16. 18 Moris Lehner, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. XI, 3. Aufl. 2013, § 251 Rn. 12. 19 Vgl. Hans Georg Ruppe, Möglichkeiten und Grenzen der Übertragung von Einkunftsquellen als Rechtsproblem, in: VDStjG 6 (1979), S. 7 (16) mit Bezug auf Fritz Neumark, Theorie und Praxis der modernen Einkommensbesteuerung, 1947, S. 41; Paul Kirchhof, in: Paul Kirchhof/Hartmut Söhn/Rudolf Mellinghoff (Hg.), EStG, Kommentar, § 2 Rn. A 364 ff. 20 In einer von Klaus Vogel geprägten Definition entsteht internationale juristische Doppelbesteuerung durch die „Erhebung vergleichbarer Steuern in zwei (oder mehreren) Staaten von demselben Steuerpflichtigen für denselben Steuergegenstand und denselben Zeitraum“ (Klaus Vogel (Hg.), Doppelbesteuerungsabkommen, 1. Aufl. 1983, Einl. Rz. 1); wirtschaftliche Doppelbesteuerung oder Doppelbelastung liegt vor, wenn derselbe Wirtschaftsvorgang oder Vermögenswert in zwei oder mehreren Staaten in demselben Zeitraum besteuert wird, dies jedoch nicht bei demselben Steuerpflichtigen (vgl. die Nachw. bei Lehner (Fn. 11),

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rungsabkommen beseitigt bzw. vermieden, indem der Ansässigkeitsstaat die im Ausland auf die ausländischen Einkünfte gezahlte Steuer auf seine eigene, das ausländische Einkommen umfassende Besteuerung, anrechnet oder die ausländischen Einkünfte von seiner Besteuerung freistellt21. Diese Korrekturen sind nicht nur aus Gründen leistungsfähigkeitsgerechter Besteuerung geboten22, vielmehr liegen sie bereits in der Konsequenz des hier vertretenen äquivalenztheoretischen Ansatzes23, weil der unbeschränkt Steuerpflichtige seine ausländischen Einkünfte wenn nicht allein, so doch vorwiegend durch Inanspruchnahme der ausländischen und nicht der inländischen Rechts- und Wirtschaftsordnung erzielt. Diese Korrekturen gelingen allerdings nur unter der für die äquivalenztheoretische Rechtfertigung sehr problematischen Prämisse, dass die Quelle der Einkünfte einem der beiden Staaten eindeutig zugeordnet werden kann. Das ist allerdings nur in wenigen Fällen möglich, etwa dann, wenn der in einem Staat ansässige Steuerpflichtige Einkünfte aus der Vermietung einer im anderen Staat belegenen Immobilie erzielt. Sehr schwierig kann die Quellenbestimmung dagegen in den weltweit verzweigten Geschäftsbeziehungen zwischen grenzüberschreitend tätigen Konzernen sein. Zahlreiche Möglichkeiten zur Gewinnverlagerung, etwa durch die Vereinbarung spezieller Verrechnungspreise zwischen einzelnen Konzerngesellschaften, erschweren die zutreffende territoriale Zuordnung der Quelle des Gewinns24. Diese Probleme stellen sich nicht nur im Vorfeld individueller Steuergerechtigkeit im engeren Sinn, sie stellen sich auch für die sachgerechte Abgrenzung der Besteuerungszuständigkeit im Verhältnis der Staaten zueinander, die als Ansässigkeits- und als Quellenstaaten an der Besteuerung eines grenzüberschreitenden Sachverhalts beteiligt sind25. Schließlich ist zu beachten, dass der territorial- äquivalenztheoretische Rechtfertigungsgrund ein für den jeweiligen Staat, d. h. für die jeweilige Rechts- und Wirtschaftsordnung spezifischer Rechtfertigungsgrund ist, weil die Bedingungen für die Erzielung von Einkünften im Vergleich der Staaten zueinander unterschiedlich sind26 ; sie sind Determinanten für Standortentscheidungen, d. h. für die Betätigung innerhalb eines bestimmten Mark-

Rz. 9); ein Beispiel bildet die Besteuerung der ausgeschütteten Dividenden auf der Ebene der Gesellschaft und zusätzlich auf der des Anteilseigners. 21 Zu den Einzelheiten s. Rainer Prokisch, in: Paul Kirchhof/Hartmut Söhn/Rudolf Mellinghoff (Hg.), EStG, zu § 34c EStG; Roland Ismer, in: Klaus Vogel/Moris Lehner (Hg.), Doppelbesteuerungsabkommen, 6. Aufl. 2015, zu Art. 23 A/B OECD-MA. 22 Dazu u. II. 1. 23 Dazu o. 1. a); zur weiteren Vertiefung s. Moris Lehner/Christian Waldhoff, in: Paul Kirchhof/Hartmut Söhn/Rudolf Mellinghoff (Hg.), EStG, Kommentar, § 1 Rn. A 173 ff. 24 Vgl. nur Wolfgang Schön, International Tax Coordination for a Second-Best World, World Tax Journal 2009, I, S. 67 (68 f.). 25 Vgl. dazu den Überblick bei Lehner (Fn. 11), Rz. 23 ff. 26 Vgl. Moris Lehner, Begrenzung der nationalen Besteuerungsgewalt durch die Grundfreiheiten und Diskriminierungsverbote des EG-Vertrages, in: VDStjG 23 (2000), S. 263 (276 ff.).

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tes27 und sie sind deshalb auch ursächlich für den Wettbewerb der Steuerrechtsordnungen28. 2. Verfassungsrechtliche Bestätigung und Begrenzung der äquivalenztheoretischen Rechtfertigung Die äquivalenztheoretische Rechtfertigung der Besteuerung findet in der Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für den Steuerstaat und in den Grundrechten sowohl Bestätigung als auch Grenzen. a) Steuerstaatliche Vorgaben Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für den sozialen Steuerstaat trägt die äquivalenztheoretische Rechtfertigung der Besteuerung als grundlegende Voraussetzung für Steuergerechtigkeit im engeren Sinn29. Als Steuerstaat wird ein Staat bezeichnet, der seinen Finanzbedarf durch Steuern deckt, der selber nicht produziert bzw. Produktionsentscheidungen trifft und der auch nicht unmittelbar am Produktionsertrag der Wirtschaft beteiligt ist30. Die damit umschriebene Trennung zwischen Staat und Gesellschaft bzw. produzierender Wirtschaft ist ein wesentliches Kennzeichen des freiheitsverpflichteten Steuer- und Sozialstaats31. Dies begründet eine wechselseitige Abhängigkeit: die des Staates vom Ertrag der produzierenden und Steueraufkommen generierenden Wirtschaft und die der produzierenden Wirtschaft von verfassungsrechtlich gewährleisteter Freiheit und staatlich gesicherter Rechts- und Wirtschaftsordnung. Die Bezeichnung der „Steuer als Preis der Freiheit“32 bringt diesen Zusammenhang sehr deutlich zum Ausdruck. Der äquivalenztheoretische Ansatz für die Rechtfertigung der Besteuerung, der auch in der Markteinkommenstheorie Ausdruck findet33, kann somit als Ausprägung des steuerstaatli-

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Vgl. Stefan Empter/Robert B. Vehrkamp (Hg.), Wirtschaftsstandort Deutschland, 2006; Wolfgang Ritter, Steuerliche Perspektiven für den Standort Deutschland, in: Lutz Fischer (Hg.), Wirtschaftsstandort Deutschland im internationalen Steuerrecht, 1994, S. 1 ff.; Ulrich Wehrlin, Wirtschaftsstandorte und Unternehmensrechtsformen, 2010, S. 67 ff.; s. a. Stellungnahme des Bundesrates zum Standortsicherungsgesetz, BT-Drs. 12/4487, 49; BT-Drs. 12/ 5016. 28 Wolfgang Schön, Der „Wettbewerb“ der europäischen Steuerordnungen als Rechtsproblem, in: VDStjG 23 (2000), S. 191 ff.; Moris Lehner, Entwicklungslinien europäischer Steuerpolitik und Steuerrechtsprechung, in: FS Ruppert Scholz, 2007, S. 1047 (1053 ff.). 29 S. o. nach Fn. 10. 30 Grundlegend zu diesen Funktionszusammenhängen Vogel (Fn. 16), Rn. 51 ff.; Waldhoff (Fn. 10), Rn. 110. 31 Zu dieser sozialstaatlichen Komponente des Steuerstaats s. Moris Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, Bausteine zu einem Verfassungsrecht des sozialen Steuerstaates, 1993, S. 337 ff. 32 Kirchhof (Fn. 9), Rn. 2. 33 Nachw. in Fn. 19 sowie Lehner (Fn. 18), Rn. 13.

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chen Prinzips verstanden werden. Weitere Vorgaben ergeben sich aus den Grundrechten. b) Vorgaben des Gleichheitssatzes und des Eigentumsgrundrechts Grundrechte entfalten ihre Bedeutung für die Besteuerung nicht erst auf der Ebene gerechter Lastenverteilung, die hier zur Abschichtung des Rechtfertigungsproblems als Steuergerechtigkeit in einem engeren Sinn bezeichnet wird34, vielmehr wirken sie bereits im Vorfeld, d. h. im Bereich der Steuerrechtfertigung mit besonderer Relevanz für das Internationale Steuerrecht. Dies gilt bereits für den allgemeinen Gleichheitssatz, der seine Hauptbedeutung für Steuergerechtigkeit im hier verstandenen engeren Sinn zwar primär als verfassungsrechtliche Grundlage des Leistungsfähigkeitsprinzips35 und des Gebots der Folgerichtigkeit36 hat37. Der allgemeine Gleichheitssatz gebietet aber bereits im Vorfeld leistungsfähigkeitsgerechter Feinsteuerung der Belastungsentscheidung die bereits angesprochenen Korrekturen der äquivalenztheoretischen Steuerrechtfertigung38. Dem allgemeinen Gleichheitssatz ist insoweit zu entnehmen, dass eine Besteuerung des Welteinkommens mit der Folge einer Doppelbesteuerung39 durch beide Staaten schon dem Grunde nach sachlich nicht gerechtfertigt ist, wenn und soweit die ausländischen Einkünfte bereits im Quellenstaat besteuert wurden. Auch für das Eigentumsgrundrecht ist zunächst festzustellen, dass es im Steuerrecht primär Bedeutung für eine freiheitsrechtliche Konkretisierung der Belastungsentscheidung hat40. Andererseits wirkt die in der Sozialbindung verankerte Verpflichtung zur Abgabe an die Allgemeinheit auch im Sinne einer äquivalenztheoretischen Rechtfertigung der Besteuerung41. Es bereitet keine Probleme, diese Sozialbindung auch für die beschränkte Steuerpflicht des Steuerausländers zu bejahen, der Einkünfte aus inländischen Quellen bezieht42. Im Grundsatz zu bejahen ist auch eine auf die Sozialbindung gestützte Steuerpflicht des Inländers für seine ausländischen Einkünfte, weil die Sozialbindung über ihre Verknüpfung mit der Privatnützigkeit als 34

S. o. bei Fn. 8. Vgl. nur Dieter Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, 1983, S. 123 ff.; zum internationalen Kontext s. u. II. 1.; II. 2. 36 Vgl. Kirchhof (Fn. 9), Rn. 173 ff. 37 Umfassend zur Bedeutung des Gleichheitssatzes im Steuerrecht auch Wendt, Gleichheit (Fn. 2). 38 S. o. I. 1. b). 39 Dazu bereits o. I. 1. a). 40 Grundlegend dazu Hans-Jürgen Papier, Die Beeinträchtigung der Eigentums- und Berufsfreiheit durch Steuern vom Einkommen und Vermögen, Der Staat 11 (1972), S. 483 ff.; Paul Kirchhof, Besteuerung und Eigentum, in: VVDStRL 39 (1981), S. 213 ff.; ders. (Fn. 9), Rn. 117 ff. 41 Kirchhof (Fn. 9), Rn. 122 ff.; dazu auch Wendt, Eigentum (Fn. 2), S. 320 f. 42 Vgl. Moris Lehner, Besteuerung und Eigentum im Kontext des innerstaatlichen und des Internationalen Steuerrechts, in: FS Papier, 2013, S. 533 (544 f.). 35

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Bedingung der Freiheit zu eigenverantwortlichem Wirtschaften auch die Freiheit zu grenzüberschreitendem Wirtschaften umfasst. 3. Völkerrechtliche Anforderungen an die Rechtfertigung der Besteuerung Während die Vornahme von Hoheitsakten auf fremdem Staatsgebiet nach den allgemeinen Regeln des Völkerrechts unzulässig ist (Grundsatz der formellen Territorialität), erlaubt es die Erstreckung des Anwendungsbereichs innerstaatlicher Normen auf grenzüberschreitende Sachverhalte (Grundsatz der materiellen Territorialität)43 unter der Voraussetzung, dass zwischen dem inländischen und dem ausländischen Sachverhalt eine „echte“ bzw. „substanziell hinreichende“ Verbindung44, ein „genuine link“45, besteht. Eine in diesem Sinne hinreichende territoriale Verbindung kann für die Ansässigkeit des Steuerpflichtigen in einem Staat als Voraussetzung für die unbeschränkte Steuerpflicht und für die im Inland belegene Einkommensquelle als Voraussetzung für die beschränkte Steuerpflicht bejaht werden. Beide Anknüpfungen sind aus dem Blickwinkel des äquivalenztheoretischen Rechtfertigungsansatzes solche, die eine besonders enge Verbindung des Steuerpflichtigen mit der Rechts- und Wirtschaftsordnung eines Staates begründen46. Daraus folgt nicht nur die völkerrechtliche Rechtfertigung der unbeschränkten und der beschränkten Steuerpflicht, sondern auch der Grundsatz, dass Doppelbesteuerung nicht gegen allgemeine Regeln des Völkerrechts verstößt47. Korrekturen dieser Wirkungen sind Gegenstand unilateral innerstaatlicher und bilateral völkervertraglicher Maßnahmen zur Vermeidung und Beseitigung der Doppelbesteuerung48. 4. Vorgaben des Unionsrechts Während die Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der indirekten Steuern spezielle primärvertragliche Bindungen an unionsrechtliche Vorgaben vereinbart und Kompetenzen auf die Organe der Union übertragen haben, sind sie auf dem Gebiet der direkten 43 Alfred Verdross/Bruno Simma/Rudolf Geiger, Territoriale Souveränität und Gebietshoheit, 1980, S. 90 f.; Klaus Vogel, Der räumliche Anwendungsbereich der Verwaltungsrechtsnorm, 1965, S. 347 ff., der insoweit auch zwischen „transitiver“ und „intransitiver“ Geltung unterscheidet; speziell mit steuerrechtlichem Bezug s. Jürgen Hidien, in: Paul Kirchhof/ Hartmut Söhn/Rudolf Mellinghoff (Hg.), EStG, Kommentar, § 49 Rn. A 114. 44 Knut Ipsen, Völkerrecht, 5. Aufl. 2004, Rn. 90 ff. 45 Alfred Verdross/Bruno Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. 1984, Rn. 1183 ff.; Christof Strasser, Die Auslegung von Quellenstaatsregelungen in Doppelbesteuerungsabkommen, 2005, S. 26 ff.; vgl. auch BVerfGE 63, 343, 369. 46 Dazu mit zahlreichen Nachw. Moris Lehner/Christian Waldhoff, in: Paul Kirchhof/ Hartmut Söhn/Rudolf Mellinghoff (Hg.), EStG, Kommentar, § 1 Rn. A 464 ff. 47 So bereits Vogel (Fn. 20), Rz. 5 f.; zu neueren Nachw. Lehner (Fn. 11), Rz. 13. 48 S. bereits o. 1. b) sowie u. II. 1.

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Steuern bislang grds. nur durch einige Richtlinien49 und durch die Grundfreiheiten gebunden50. Neue Fragestellungen ergeben sich in diesen Bereichen allerdings aus der Charta der Grundrechte der Europäischen Union51. Bereits die überkommenen Vorgaben bewirken weitreichende Einschränkungen der mitgliedstaatlichen Steuergesetzgebungskompetenz bei der Ausgestaltung der Besteuerung vor allem in Bezug auf Nachteile, die für beschränkt Steuerpflichtige im Vergleich zu unbeschränkt Steuerpflichtigen bestanden und teilweise noch bestehen52. Im Hinblick auf die Ausübung ihrer territorial radizierten Besteuerungshoheit53 sind die Mitgliedstaaten zwar nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH an die Grundfreiheiten gebunden54, in ihrer Kompetenz zur Steuererhebung sind sie jedoch, von speziellen Richtlinienwirkungen abgesehen55, durch Unionsrecht grundsätzlich nicht beschränkt. In der Rechtsprechung des EuGH kommt dies dadurch zum Ausdruck, dass der Gerichtshof den Grundfreiheiten weder Vorgaben für die Abgrenzung bzw. Aufteilung der Besteuerungshoheit zwischen den Mitgliedstaaten56, noch eine für diese bestehende Verpflichtung zur Beseitigung der juristischen Doppelbesteuerung57 entnimmt. Die Besteuerung nach dem Territorialitätsprinzip wird vom EuGH ausdrücklich anerkannt58. Somit kann auch für das Unionsrecht festgestellt werden, dass es einer äquivalenztheoretisch fundierten Steuerrechtfertigung nicht entgegensteht.

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Für einen Überblick s. Lehner (Fn. 11), Rz. 253. Allgemein zur Kompetenzübertragung auf steuerlichem Gebiet s. Hans-Georg Kamann, in: Rudolf Streinz (Hg.), EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, vor Art. 110 AEUV. 51 Dazu u. II. 2. b). 52 Kube (Fn. 14), Rz. A 1 ff.; Thomas Stapperfend, in: Carl Herrmann/Gerhard Heuer/ Arndt Raupach (Hg.), EStG, § 1 Rn. 336; Lehner/Waldhoff (Fn. 23), Rn. A 543 ff.; Harald Schaumburg, Das Leistungsfähigkeitsprinzip im internationalen Steuerrecht, in: FS Tipke, 1995, S. 125 (134 ff.). 53 Ottmar Bühler, Prinzipien des Internationalen Steuerrechts, 1964, S. 132. 54 Vgl. nur EuGH v. 21. 9. 1999, Rs. C-307/97, Slg. 1999, I-6161 – Saint-Gobain, Tz. 58; v. 12. 12. 2002, Rs. C-385/00, Slg. 2002, I-11 819 – de Groot, Tz. 75, 93 f., 101 ff.; v. 20. 5. 2008, Rs. C-194/06, Slg. 2008, I-3747 – Orange European Smallcap Fund, Tz. 47 f.; v. 28. 2. 2013, Rs. C-168/11, IStR 2013, 275 – Beker, Tz. 32 ff. m. w. N. 55 Vgl. den Überblick bei Moris Lehner, in: Wolfgang Kessler/Michael Kröner/Stefan Köhler, Konzernsteuerrecht, 2. Aufl. 2008, § 6, Rn. 65 ff. 56 Vgl. EuGH v. 12. 5. 1998, Rs. C-336/96, Slg. 1998, I-2793 – Gilly, Tz. 24, 30; v. 8. 12. 2011, Rs. C-157/10, IStR 2012, 152 – Banco Bilbao, Tz. 31; v. 12. 7. 2012, Rs. C-269/09, HFR 2012, 1025 – Kommission gg. Spanien, Tz. 77; v. 4. 7. 2013, Rs. C-350/11 – Argenta Spaarbank, Tz. 50; dazu Georg Kofler, Doppelbesteuerungsabkommen und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 2007, S. 530 ff. 57 S. dazu auch u. II. 1. b) bb) und zur Unterscheidung zwischen juristischer und wirtschaftlicher Doppelbesteuerung Fn. 20. 58 Vgl. EuGH v. 15. 5. 1997, Rs. C-250/95, Slg. 1997, I-2471 – Futura Participations, Tz. 22; v. 15. 2. 2007, Rs. C-345/04, Slg. 2007, I-1425 – Centro Equestre, Tz. 22; v. 1. 12. 2011, Rs. C-250/08, IStR 2012, 67 – Kommission gg. Belgien, Tz. 48; dazu Moris Lehner, Das Territorialitätsprinzip im Licht des Europarechts, in: FS Wassermeyer, 2005, S. 241 ff. 50

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II. Internationale Steuergerechtigkeit im engeren Sinn Unter der problematischen Prämisse einer dem Grunde nach äquivalenztheoretisch gerechtfertigten Besteuerung des Welteinkommens59 stellt sich die Frage nach internationaler Steuergerechtigkeit im engeren Sinn erst als Anschlussfrage an die Rechtfertigungsfrage60. Aus der Perspektive des innerstaatlichen Rechts ist dies primär die Frage nach den Anwendungsvoraussetzungen und nach der Wirkung des Leistungsfähigkeitsprinzips bei der Besteuerung von grenzüberschreitenden Sachverhalten. Dabei geht es im Wesentlichen um zwei Problembereiche, die aus dem Nebeneinander von unbeschränkter Steuerpflicht im Ansässigkeitsstaat und beschränkter Steuerpflicht im Quellenstaat resultieren: das Problem der Doppelbesteuerung61 und das Problem der Nachteile, die für beschränkt Steuerpflichtige im Quellenstaat ihrer Einkünfte im Vergleich zu unbeschränkt Steuerpflichtigen bestehen62. Besondere Schwierigkeiten resultieren aus den Zielsetzungen effektiver Missbrauchsabwehr63. 1. Vermeidung bzw. Beseitigung der Doppelbesteuerung a) Vorgaben des innerstaatlichen Rechts Als grundrechtsbasiertes Besteuerungsprinzip gilt für die Anwendung des Leistungsfähigkeitsprinzips auf grenzüberschreitende Sachverhalte die Einschränkung, dass die Grundrechtsbindung der öffentlichen Gewalt begrenzt ist, soweit Wirkungen ihrer Betätigung im Ausland eintreten64. Da leistungsfähigkeitsgerechte Besteuerung grundsätzlich nur im Zusammenwirken zwischen dem Wohnsitzstaat des Steuerpflichtigen und dem Quellenstaat der Einkünfte gewährleistet werden kann, folgt aus der abgeschwächten Grundrechtsbindung zumindest eine Verpflichtung deutscher Staatsgewalt, auf andere Staaten mit der Zielsetzung einzuwirken, abgestimmte Maßnahmen zur Verwirklichung einer leistungsfähigkeitsgerechten Besteuerung zu ermöglichen65. Mit dem Abschluss von Doppelbesteuerungsabkommen und mit 59

S. o. I. 1. S. o. I. bei Fn. 8 f. 61 S. u. 1. 62 S. u. 2. 63 S. u. 1. a), aa) bei Fn. 69. 64 BVerfGE 6, 290 (295); 31, 58 (72 f., 77); 57, 9 (23); 92, 26 (49); 100, 313 (362 f.); dazu allgemein Florian Becker, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. XI, 3. Aufl. 2013, § 240; speziell im Hinblick auf das Leistungsfähigkeitsprinzip: Schaumburg (Fn. 52); Waldhoff (Fn. 10); Lehner/Waldhoff (Fn. 23), Rn. A 183 ff.; Lehner (Fn. 18), Rn. 15 ff. 65 Lehner/Waldhoff (Fn. 23), Rn. 185 ff.; Waldhoff (Fn. 10), Rn. 160, der insoweit mit Bezug auf Gunther Ebling, Zur Anwendung der Grundrechte bei Fällen mit Auslandsbezug, 1992, S. 103 f. von einer Schutzpflicht des Staates zugunsten des Steuerpflichtigen gegenüber ausländischen Hoheitsträgern spricht; zur Bedeutung des Leistungsfähigkeitsprinzips im Unionsrecht s. u. 2. b). 60

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dem Bemühen um internationale Koordination im Rahmen der OECD-Mitgliedschaft wird die Bundesrepublik Deutschland diesem Auftrag gerecht. aa) Unilaterale und abkommensrechtliche Maßnahmen Doppelbesteuerung verstößt gegen leistungsfähigkeitsgerechte Besteuerung, weil allein die Erzielung ausländischer Einkünfte nicht zu einer Erhöhung der steuerlichen Leistungsfähigkeit führt. Zu den Maßnahmen gegen Doppelbesteuerung gehört die im innerstaatlichen Steuerrecht vorgesehene Anrechnung der ausländischen Steuer, die nach Maßgabe von Doppelbesteuerungsabkommen modifiziert und durch die abkommensrechtliche Freistellungsmethode ergänzt wird66. Doppelbesteuerungsabkommen beruhen auf einvernehmlicher völkervertraglicher Abgrenzung der Besteuerungszuständigkeit im Verhältnis der Vertragsstaaten zueinander. Diese Abgrenzung erfolgt durch Verteilungsnormen, die auf unterschiedliche Einkünfte abgestimmt sind67. Schwierigkeiten bei der Auslegung und Anwendung dieser Normen resultieren daraus, dass Doppelbesteuerungsabkommen an die steuerpflichtbegründenden Tatbestände des jeweils unterschiedlichen innerstaatlichen Steuerrechts der Vertragsstaaten anknüpfen müssen, um die Doppelbesteuerung zu vermeiden bzw. zu beseitigen68. Hinzu kommt innerstaatliche Gesetzgebung gegen Missbrauchsbekämpfung im Internationalen Steuerrecht69, die von den Vertragsstaaten zunehmend auch um den Preis des Verstoßes gegen die von ihnen abgeschlossenen Doppelbesteuerungsabkommen eingesetzt wird70. All diesen Schwierigkeiten ist das hier bereits im Zusammenhang mit der Eingriffsrechtfertigung beschriebene Problem sachgerechter Quellenbestimmung nach Maßgabe äquivalenztheoretischer Zuordnung vorgelagert71. Dies bestätigt, dass Steuergerechtigkeit im Internationalen Steuerrecht nicht losgelöst von sachgerechten Quellenregeln verwirklicht werden kann.

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Dazu bereits o. I. 1. b). Grundlegend Klaus Vogel (Fn. 20), Rz. 24. 68 Vgl. Lehner (Fn. 11), Rz. 95 ff. mit umfangreichen Nachw. 69 Johanna Hey, Spezialgesetzliche Missbrauchsgesetzgebung aus steuersystematischer, verfassungs- und europarechtlicher Sicht, StuW 2008, S. 167 (171 ff., 178 ff.); Wolfgang Schön, Rechtsmissbrauch und Europäisches Steuerrecht, in: FS Reiß, 2008, S. 571 ff.; ders., Deutsche Hinzurechnungsbesteuerung und Europäische Grundfreiheiten, IStR-Beihefter 2013, S. 3 (9 ff.); Markus Albert, Zur Abwehr von Steuerumgehungen aus deutscher und europäischer Sicht, 2009, S. 55 ff. 70 Gerrit Frotscher, Zur Zulässigkeit des „Treaty Override“, in: FS Schaumburg, 2009, S. 687 ff.; Dietmar Gosch, Über das Treaty Overriding: Bestandsaufnahme – Verfassungsrecht – Europarecht, IStR 2008, S. 413 ff.; Roland Ismer/Stefanie Baur, Verfassungsmäßigkeit von Treaty Overrides, IStR 2014, S. 421 ff.; Moris Lehner, Treaty Override im Anwendungsbereich des § 50d EStG, IStR 2012, S. 389 ff.; ders., Zum Vorlagebeschluss des BFH vom 11. 12. 2013, I R 4/13 zu § 50d Abs. 10 EStG, IStR 2014, S. 189 ff.; ders. (Fn. 11), Rz. 193 ff. 71 S. o. I. 1. b). 67

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bb) Primäre Verantwortung des Ansässigkeitsstaats? Ein Lösungsansatz könnte sich aus einer im Verhältnis zwischen dem Quellenstaat und dem Ansässigkeitsstaat primären Verantwortung des Ansässigkeitsstaats für die Vermeidung der Doppelbesteuerung in den Fällen ergeben, in denen eine eindeutige bzw. eine im Verhältnis der Vertragsstaaten einvernehmliche Zuordnung der Einkommensquelle nicht gelingt. Obwohl auch die Bestimmung der Ansässigkeit des Steuerpflichtigen im Verhältnis der Abkommenspartner zueinander Schwierigkeiten bereiten kann, mag sie in bestimmten Konstellationen einfacher sein72 als die territoriale Zuordnung der Einkommensquelle. Im Ansatz kann eine solche Primärverantwortung des Ansässigkeitsstaats darauf gestützt werden, dass die unbeschränkte Steuerpflicht mit dem Auslands- bzw. Welteinkommen äquivalenztheoretisch sehr viel weniger gerechtfertigt ist als die Besteuerung dieser Einkünfte in dem (Quellen-) Staat, dessen Rechts- und Infrastruktur für die Erzielung dieser Einkünfte primär in Anspruch genommen wird73. Beansprucht der Ansässigkeitsstaat trotzdem die Besteuerung des Welteinkommens, um für den Fall der Nichtbesteuerung im Quellenstaat eine vollständige, der Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen entsprechende Besteuerung zu gewährleisten74, so liegt es in der Konsequenz dieses Ansatzes, dass der Ansässigkeitsstaat auch die Verantwortung für ein Scheitern der auf diese Weise angestrebten leistungsfähigkeitsgerechten Besteuerung trägt. Dieser Verantwortung entspricht nicht nur die unilaterale Anrechnung der Quellenstaatssteuer, sondern auch die in der Tradition der Doppelbesteuerungsabkommen begründete Verpflichtung des Ansässigkeitsstaats zur Vermeidung bzw. Beseitigung der Doppelbesteuerung auch in den Fällen, in denen sich die Vermeidung der Doppelbesteuerung nicht bereits aus abschließenden Zuweisungen in Verteilungsnormen ergibt75. Damit, dies sei ausdrücklich betont, wird keine generelle und umfassende Verantwortung des Ansässigkeitsstaats für die Vermeidung der Doppelbesteuerung favorisiert, sondern nur für die Fälle, in denen eine eindeutige Quellenbestimmung scheitert76. Ist eine eindeutige Quellenbestimmung dagegen möglich, so liegt es in der Verantwortung beider Staaten, auf die abkommensrechtlich einvernehmliche Abgrenzung ihrer Besteuerungszuständigkeit zu rekurrieren. Unabhängig davon haben die Vertragsstaaten die Möglichkeit, pragmatische Gesichtspunkte, etwa solche des

72 Vgl. Art. 4 Abs. 2 und 3 OECD-MA, dazu Lehner (Fn. 11), Art. 4 Rz. 160 ff.; 240 ff.; kritisch: F. Alfredo Garcia Prats, Revisiting „Schumacker“, in: Richelle/Schön/Traversa, Allocating Taxing Powers within the European Union, 2012, S. 1 (5 ff., 61 f.). 73 Dazu bereits o. I. 1. b). 74 Kritisch dazu Klaus Vogel, Über „Besteuerungsrechte“ und über das Leistungsfähigkeitsprinzip im Internationalen Steuerrecht, in: FS Klein, 1994, S. 361, 364 ff., 371 ff. 75 Grundlegend zu der Unterscheidung zwischen abkommensrechtlichen Verteilungsnormen mit offener und mit abschließender Rechtsfolge Vogel (Fn. 20), vor Art. 6 – 22, Rz. 3 f. 76 Besonderheiten gelten auch in den Fällen, in denen der EuGH eine primäre Verantwortung des Quellenstaats für die Berücksichtigung erwerbs- und existenzsichernder Aufwendungen annimmt; dazu Prats, (Fn. 72), S. 1 (5, 40 ff.).

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do ut des bei der Abgrenzung ihrer Besteuerungszuständigkeit zur Geltung zu bringen. b) Vorgaben des Völkerrechts und des Unionsrechts für die Beseitigung der Doppelbesteuerung aa) Folgerungen aus dem „genuine link“-Erfordernis Wie bereits ausgeführt, enthält das allgemeine Völkerrecht über das „genuine link“-Erfordernis hinaus keine weiteren Bedingungen für die Erstreckung des Anwendungsbereichs innerstaatlicher Normen auf Sachverhalte mit Auslandsbezug77. Mittelbar folgt daraus aber auch, dass bei Fehlen eines solchen Bezugs eine Besteuerung von Auslandseinkünften grds. unzulässig ist, sodass Doppelbesteuerung in diesen Fällen auch nicht eintreten kann. Angesichts der schwierigen Konkretisierbarkeit des „genuine link“-Erfordernisses ist diese Voraussetzung allerdings nur schwer überprüfbar. Andererseits muss aber auch im Zusammenhang mit den Kriterien, nach denen das innerstaatliche Steuerrecht die Fallgruppen der beschränkten Steuerpflicht bestimmt und das Vorliegen eines „genuine link“ auf diese Weise zumindest mittelbar bejaht, Systemgerechtigkeit und Folgerichtigkeit verlangt werden. Diesem Anspruch werden die Fälle des § 49 Abs. 1 EStG allerdings nicht vollständig gerecht. So setzt etwa § 49 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a) für die beschränkte Steuerpflicht von Einkünften aus Gewerbebetrieb allgemein voraus, dass im Inland eine feste Einrichtung in Gestalt einer Betriebstätte unterhalten wird, während § 49 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. d) eine beschränkte Steuerpflicht für Einkünfte aus Gewerbebetrieb von Künstlern und Sportlern bereits unter der Voraussetzung begründet, dass die Tätigkeit im Inland ausgeübt oder verwertet wird78. bb) Zurückhaltung des Unionsrechts Wie bereits an anderer Stelle ausführlich dargelegt79, verzichtet der AEUV im Unterschied zu Art. 220 EWGV und zu Art. 293 EG auf die Normierung einer ausdrücklichen Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Beseitigung der juristischen Doppelbesteuerung80. Dies ist erstaunlich, weil Doppelbesteuerung im Binnenmarkt ein starkes Wettbewerbshindernis bildet81. Obwohl auch der EuGH feststellt, dass die Beseitigung der Doppelbesteuerung zu den Zielen der Verträge gehört82, bekräftigt 77

S. o. I. 3. Zu den weiteren Fällen beschränkter Steuerpflicht s. Jürgen W. Hidien, in: Paul Kirchhof/Hartmut Söhn/Rudolf Mellinghoff (Hg.), EStG, Kommentar, § 49 Teile B-M. 79 Lehner (Fn. 11), Rz. 264 ff.; ders. (Fn. 18), Rn. 33 ff. 80 Zum Begriff der juristischen Doppelbesteuerung s. Fn. 20; sowie zur Problematik bereits o. I. 4.; s. auch Daniel Dürrschmidt, „Europäisches Steuerrecht“ nach Lissabon, NJW 2010, 2086 ff. 81 Vgl. nur Prats (Fn. 72), S. 22 f. 82 EuGH v. 12. 5. 1998, Rs. C-336/96, Slg. 1998, I-2793 – Gilly, Tz. 16, 23; EuGH v. 16. 7. 2009, Rs. C-128/08, Slg. 2009, I-6823 – Damseaux, Tz. 28. 78

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er in ständiger Rechtsprechung, dass die Mitgliedstaaten für die Beseitigung der Doppelbesteuerung zuständig bleiben83; sie seien zwar auch in diesem Bereich an die Grundfreiheiten gebunden84, doch folge aus den Grundfreiheiten keine Verpflichtung zur Beseitigung der juristischen Doppelbesteuerung85. 2. Ausgestaltung der Besteuerung Unter dem Gesichtspunkt internationaler Steuergerechtigkeit im engeren Sinn86 sind auch die Nachteile bedeutsam, die beschränkt Steuerpflichtige im Vergleich zu unbeschränkt Steuerpflichtigen im Hinblick auf eine den Anforderungen des Leistungsfähigkeitsprinzips entsprechende Ausgestaltung der Besteuerung hinnehmen müssen. Diese Nachteile wurden allerdings für Steuerpflichtige, die in der Europäischen Union oder in einem EWR-Mitgliedstaat ansässig sind, mittlerweile weitgehend beseitigt87. Bedeutsam sind sie noch für Personen, die in Drittstaaten ansässig sind. Konkret bestehen diese Nachteile u. a. darin, dass beschränkt Steuerpflichtige Betriebsausgaben und Werbungskosten nur geltend machen können, soweit diese im Zusammenhang mit inländischen Einkünften stehen88. Besonders gravierend ist, dass die persönlichen Verhältnisse des beschränkt Steuerpflichtigen und seiner unterhaltsberechtigten Angehörigen (das betrifft vornehmlich die existenzsichernden Aufwendungen) im Quellenstaat steuerlich nicht oder nur in einem sehr beschränkten Umfang berücksichtigt werden können89. Diese Einschränkungen sind sachgerecht, soweit beschränkt Steuerpflichtige ihre erwerbs- und existenzsichernden Aufwendungen in ihrem Wohnsitzstaat geltend machen können; sie sind allerdings sehr problematisch, soweit Einkünfte allein oder überwiegend außerhalb des Wohnsitzstaats erzielt werden. a) Anforderungen des innerstaatlichen Rechts Aus dem im allgemeinen Gleichheitssatz verankerten Leistungsfähigkeitsprinzip90 folgt das Gebot, beschränkt und unbeschränkt Steuerpflichtige gleich zu behan83 EuGH v. 12. 5. 1998, Rs. C-336/96, Slg. 1998, I-2793 – Gilly, Tz. 23 f., 30; v. 21. 9. 1999, Rs. C-307/97, Slg. 1999, I-6161 – Saint-Gobain, Tz. 57; v. 28. 2. 2013, Rs. C-168/11, IStR 2013, 275 – Beker, Tz. 32. 84 EuGH v. 21. 9. 1999, Rs. C-307/97, Slg. 1999, I-6161 – Saint-Gobain, Tz. 58; v. 12. 12. 2002, Rs. C-385/00, Slg. 2002, I-11819 – de Groot, Tz. 75, 93 f., 101 ff.; v. 20. 5. 2008, Rs. C194/06, Slg. 2008, I-3747 – Orange European Smallcap Fund, Tz. 47 f.; v. 28. 2. 2013, Rs. C168/11, IStR 2013, 275 – Beker, Tz. 32 ff. m. w. N. 85 EuGH v. 15. 4. 2010, Rs. C-96/08, Slg. 2010, I-28911, 1 – CIBA, Tz. 28; anders dagegen zur Beseitigung der wirtschaftlichen Doppelbesteuerung; s. dazu die Nachw. und die Erläuterungen bei Lehner (Fn. 11), Rz. 264 f.; ders. (Fn. 18), Rn. 36 ff. 86 Dazu o. I. bei Fn. 8 f. 87 S. dazu bereits o. I. bei Fn. 13 f. sowie u. b). 88 § 50 Abs. 1 Satz 1 EStG. 89 § 50 Abs. 1 Satz 2 ff. 90 Nachw. in Fn. 35.

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deln, soweit nicht, wie stets bei der Anwendung des allgemeinen Gleichheitssatzes, eine unterschiedliche Behandlung gerechtfertigt oder gar geboten ist. Da es bei den Nachteilen, die beschränkt Steuerpflichtige im Vergleich zu unbeschränkt Steuerpflichtigen hinnehmen müssen, überwiegend um personenbezogene Differenzierungen im Hinblick auf die steuerliche Berücksichtigung des für die Existenz des Steuerpflichtigen und seiner unterhaltberechtigten Angehörigen notwendigen Bedarfs geht, gelten für die gleichheitsrechtlichen Anforderungen an zulässige Differenzierungen hohe Anforderungen91. Aus diesem Grund ist eine Ungleichbehandlung allein aus Gründen eines ausländischen Wohnsitzes als bloß sachlicher Rechtfertigungsgrund nicht ausreichend, um Nachteile des beschränkt Steuerpflichtigen gegenüber unbeschränkt Steuerpflichtigen zu rechtfertigen. Vielmehr hat der beschränkt Steuerpflichtige aus Gründen, die in seinen unmittelbar persönlichen Lebensumständen der Existenzsicherung liegen, Anspruch auf Gleichbehandlung mit dem unbeschränkt Steuerpflichtigen nach Maßgabe der entsprechenden Vorgaben des Leistungsfähigkeitsprinzips. Dieses Ergebnis findet Bestätigung in § 1 Abs. 3 i.V.m. § 1a EStG, der unabhängig von der Ansässigkeit des Steuerpflichtigen in einem EU- oder EWR-Mitgliedstaat anordnet, dass beschränkt Steuerpflichtige, die den Großteil ihrer Einkünfte im Inland erzielen, mit diesen Einkünften auf Antrag so zu besteuern sind, wie unbeschränkt Steuerpflichtige. b) Anforderungen der EU-Grundfreiheiten und der Grundrechte-Charta Es ist umfassend bekannt und bedarf deshalb hier keiner erneuten Darstellung, dass wesentliche Anforderungen des Gebots leistungsfähigkeitsgerechter Besteuerung durch die Rechtsprechung des EuGH zu den Grundfreiheiten seit dem Beginn der 90er Jahre besondere Bedeutung für die Besteuerung grenzüberschreitender Sachverhalte durch die Mitgliedstaaten gewonnen haben92. aa) Anwendungsvoraussetzungen der Charta Neu ist allerdings die Überlegung, auch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union93, insbesondere den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 20 GRCh94, 91

Grundlegend zu den Anforderungen des Gleichheitssatzes in seiner Ausprägung der Gruppenvergleichsformel BVerfGE 55, 72 (88); seither ständige Rspr. vgl. nur BVerfGE 120, 125 (144); BVerfGE 124, 199 (219 f.); Lerke Osterloh, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 3 Rn. 13 ff.; Christian Starck, in: Hermann v. Mangoldt/Friedrich Klein/Christian Starck (Hg.), GG, Band I, 6. Aufl. 2010, Art. 3 Rn. 10 ff.; Paul Kirchhof, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. VIII, 3. Aufl. 2010, § 181 Rn. 162. 92 Grundlegend dazu Axel Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002 sowie die einführenden Nachw. in Fn. 52. 93 Grundlegend dazu Rudolf Streinz, in: Detlef Merten/Hans-Jürgen Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. VI/1, 2010, Rn. 4 ff. 94 Art. 20 der Charta lautet: „Alle Personen sind vor dem Gesetz gleich“.

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für das Recht der direkten Steuern heranzuziehen95. Aktueller steuerrechtlicher Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Akerberg Fransson vom Februar 201396. Die Entscheidung betrifft ein Strafverfahren wegen Steuerhinterziehung im Bereich des Umsatzsteuerrechts. Sie erörtert die Bedingungen, unter denen der in Art. 50 GRCh niedergelegte Grundsatz des ne bis in idem97 zur Anwendung kommt. Voraussetzung hierfür sei, so der EuGH98, dass die erste Sanktion einen strafrechtlichen Charakter habe, was vom nationalen Gericht geprüft werden müsse. Für die Frage nach der Anwendbarkeit der Charta im Steuerrecht der Mitgliedstaaten ist aber für den vorliegenden Zusammenhang sehr viel bedeutender, was der EuGH zu den in Art. 51 Abs. 1 geregelten Anwendungsvoraussetzungen der Charta ausführt. Danach, so der EuGH, gilt die Charta für die Mitgliedstaaten „ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“99, sobald eine nationale Rechtsvorschrift „in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt“. In diesen Fällen habe der im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens angerufene Gerichtshof dem vorlegenden Gericht „alle Auslegungshinweise zu geben, die es benötigt, um die Vereinbarkeit dieser Regelung mit den Grundrechten beurteilen zu können“100. Diesen Bezug bejaht der EuGH im Fall Akerberg Fransson, zum einen wegen des unionsrechtlichen Bezugs des Mehrwertsteuerrechts einschließlich der mitgliedstaatlichen Verpflichtung zur Sicherung des Umsatzsteueraufkommens, zum anderen aber auch deshalb, weil das Aufkommen aus der Umsatzsteuer einen Teil des Eigenmittelanspruchs der Union bildet101. Die Begründung kann angesichts des Wortlauts und der durch das Subsidiaritätsprinzip zusätzlich eingeschränkten Wirkung des Art. 51 Abs. 1 der Charta nur mit Bedenken hingenommen werden. Denkbar, so die Generalanwältin Juliane Kokott102, sei es aber auch, dass der 95

Allgemein zur Bedeutung der Charta für das Steuerrecht der Mitgliedstaaten Dürrschmidt (Fn. 80), S. 2089 f., dort auch m. Nachw. zur Bedeutung der EMRK; speziell zur Bedeutung des Art. 20 GRCh Michael Elicker, Die Unionsgrundrechte nach Lissabon: Ein starker Hebel im Finanzprozess, DStZ 2011, S. 162 (164, 167 ff.). 96 EuGH v. 26. 2. 2013, Rs. C-617/10, UR 2014, S. 27 ff.; dazu Robin Geiß, Europäischer Grundrechtsschutz ohne Grenzen?, DÖV 2014, S. 265 ff.; Friederike Lange, Verschiebungen im europäischen Grundrechtssystem?, NVwZ 2014, S. 169 ff.; Rüdiger Stotz, Die Beachtung der Grundrechte bei der Durchführung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten, in: FS Dauses, 2014, S. 409 (421 ff.); Werner Widmann, Geltung der EU-Grundrechte-Charta bei der Sanktion mehrwertsteuerlicher Verfehlungen, UR 2014, S. 5 ff. 97 Art. 50 der Charta lautet: „Niemand darf wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden“. 98 EuGH (Fn. 96), Leitsatz 1. 99 Dazu Peter M. Huber, Auslegung und Anwendung der Charta der Grundrechte, NJW 2011, S. 2385 (2387 f.) sowie die Nachw. in Fn. 107. 100 EuGH (Fn. 96), Rn. 19. 101 EuGH (Fn. 96), Rn. 24 ff. 102 Juliane Kokott, Europäisches Steuerrecht – Wird der Gleichheitssatz den Grundrechten den Rang ablaufen?, Vortrag im Max-Planck-Institut für Steuerrecht und öffentliche Finanzen am 3. April 2014.

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EuGH den Anwendungsbereich der Charta auch für das Recht der direkten Steuern bejahen könnte. Dem ist entgegenzutreten: Die besondere Bedeutung der Grundfreiheiten für das Recht der direkten Steuern103 rechtfertigt nicht die generelle Annahme, dass die Anwendung von originär innerstaatlichem Recht durch die Mitgliedstaaten bereits104 „Durchführung des Rechts der Union“ i.S. des Art. 51 Abs. 1 GRCh ist105. Versteht man unter „Durchführung“ des Unionsrechts auch dessen bloße Beachtung106, dann hätte das ausdrückliche Gebot zur „Wahrung des Subsidiaritätsprinzips“ in Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh keine substanzielle Bedeutung107. bb) Gleichheitsrechtliche Fragestellungen im Anwendungsbereich des Art. 20 GRCh Neben diesen Grundfragen, die noch intensiver Beschäftigung und differenzierter Beantwortung bedürfen108, stellen sich für das Recht der direkten Steuern schwierige Probleme bei der Anwendung des allgemeinen Gleichheitssatzes der Charta109. Zwar kann kein Zweifel daran bestehen, dass das Leistungsfähigkeitsprinzip als grundlegendes Besteuerungsprinzip auch im Anwendungsbereich des Unionsrechts beachtet werden muss110. Dies gilt entsprechend für das Gebot der Folgerichtigkeit. Aus den unionsrechtlichen Grundfreiheiten folgt dies allerdings nur mittelbar. Sie bieten keine eigenständigen Kriterien materieller Steuergerechtigkeit. Aus diesem Grund knüpft der EuGH grds. an die für seine jeweilige Entscheidung relevanten Vorgaben des streitgegenständlichen mitgliedstaatlichen Rechts an und prüft „lediglich“, ob 103

Vgl. die Nachw. in Fn. 50 ff.; 84 ff.; 92. Zum Verhältnis zwischen den Grundrechten der Charta und den Grundfreiheiten des AEUV s. Streinz (Fn. 93), Rn. 11 ff., 23 ff. 105 So wohl Hans D. Jarass, Die Bindung der Mitgliedstaaten an die EU-Grundrechte, NVwZ 2012, S. 457 (460); vgl. zur steuerrechtlichen Diskussion u. a. Lars Dobratz, EUGrundrechte und Umsatzsteuerrecht, UR 2014, S. 425 ff. 106 Vgl. Jarass (Fn. 105), S. 459; ablehnend BFH v. 19. 6. 2013, II R 10/12, IStR 2013, S. 667 (670); dazu Hartmut Hahn, Deutscher und europäischer Grundrechtsschutz in grenzüberschreitenden Fällen, BB 2014, S. 23 ff. 107 Kritisch zu einer weiten Auslegung der Tatbestandsmerkmale „ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“ Huber (Fn. 99), S. 2387 ff.; Ferdinand Kirchhof, Das Steuerrecht zwischen europäischer Integration und nationaler Souveränität, in: Jürgen Brandt (Hg.), Europäische Perspektiven im Steuerrecht – Steuergerechtigkeit und Steuervereinfachung, 2013, S. 23 (35); für eine nach Maßgabe unionsrechtlicher Determinierung mitgliedstaatlichen Handelns abgestufte Sicht: Christoph Ohler, Grundrechtliche Bindungen der Mitgliedstaaten nach Artikel 51 GRCh, NVwZ 2013, S. 1433 (1437); Präzisierung einfordernd: Stotz (Fn. 96), S. 423 ff.; unter Berücksichtigung des Verhältnisses zwischen dem BVerfG und dem EuGH s. Rudolf Streinz, Streit um den Grundrechtsschutz, in: FS Dauses, 2014, S. 429 (432 ff.); vgl. auch Walther Michl, in: Rudolf Streinz (Hg.), EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 51 GRCh Anm. 22, der im Zusammenhang mit der Kompetenzschutzklausel auch auf das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigungen hinweist. 108 Vgl. die Nachw. in Fn. 106 f. 109 Zum Wortlaut des Art. 20 GRCh s. o. Fn. 94. 110 Zutreffend Elicker (Fn. 95), S. 168 f.; Prats (Fn. 72), S. 6 (17, 25 f.). 104

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die Grundfreiheiten, sei es in ihrer Ausprägung als Diskriminierungs- oder als Beschränkungsverbote, eine ergänzende Anwendung der innerstaatlichen Normen auf grenzüberschreitende Sachverhalte gebieten111. Grundlage ist insoweit zwar eine klassische gleichheitsrechtliche Prüfung, die für den EuGH bereits in seinem berühmten Schumacker-Urteil112 eine der wichtigsten Vorgaben für seine Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten wurde. Diese gleichheitsrechtliche Vorprüfung bezieht sich aber stets nur auf die Besteuerung in dem Staat, dessen innerstaatliche Norm zur europa- bzw. unionsrechtlichen Beurteilung steht. Mehr als „Kästchengleichheit“113 kann durch die Grundfreiheiten nicht verwirklicht werden. Dem entspricht auch die Ablehnung eines Anspruchs auf abkommensrechtliche Meistbegünstigung durch den EuGH114. Dies führt zu der Frage, wie die gleichheitsrechtlichen Vorgaben des Art. 20 GRCh wirken. Sind es, was nahe liegt, „nur“ die rechtlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen der jeweiligen, durch die unionsrechtlichen Grundfreiheiten und Rechtsakte vorgeprägten einzelnen und einzeln zu bewertenden mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen115, an denen sich der EuGH bei seiner gleichheitsrechtlichen Prüfung orientieren wird? Keinesfalls ausgeschlossen ist aber auch eine auf den Gleichheitssatz der Charta gestützte Entfaltung eines eigenständigen paneuropäischen Leistungsfähigkeitsprinzips unionsrechtlicher Prägung durch den EuGH. Diese beispielhaften Fragen können hier nur aufgeworfen werden. Sie verdeutlichen aber eine Grundprämisse gleichheitsrechtlicher Dogmatik und Praxis, nämlich die, dass der Gleichheitssatz ohne Bezüge zu einer bestimmten Rechtsordnung nicht anwendbar ist. Dies mag eine harmonisierte Unionsrechtsordnung für alle Mitgliedstaaten sein, die allerdings für das Recht der direkten Steuern noch in sehr weiter Ferne liegt.

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Vgl. Lehner (Fn. 18), Rn. 66. EuGH v. 14. 2. 1995, Rs. C-279/93, Slg. 1995, I-225. 113 Dieter Birk, Besteuerungsgleichheit in der Europäischen Union, in: VDStjG 19 (1996), S. 61 (77), der anschaulich von Gleichbehandlung innerhalb der „nationalen „Kästchen“ auf der Unionslandkarte“ spricht. 114 EuGH v. 5. 7. 2005, Rs. C-376/03, Slg. 2005 – D; v. v. 12. 12. 2006, Rs. C-374/04, Slg. 2006, I-11673 – Test Claimants in Class IV of the ACT Group Litigation; dazu m. w. Nachw. Lehner (Fn. 11), Rz. 271 ff. 115 Ohne Bezug zum Leistungsfähigkeitsprinzip allerdings zu der Frage, ob nur die Gesetze der Mitgliedstaaten je für sich und die Rechtsakte der Union gemeint sind Sven Hölscheidt, in: Jürgen Meyer (Hg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 4. Aufl. 2014, Art. 20 Rn. 16 ff., 21; Hans D. Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Aufl. 2013, Art. 20 Rn. 9. 112

Gewinnrealisierung beim Aktientausch Von Jörg Manfred Mössner, Osnabrück/Paris I. Vorüberlegungen „Bewertungsfragen beim Tausch … wären sicherlich für sich genommen ein lohnendes Thema für eine Jahrestagung der Deutschen Steuerrechtlichen Gesellschaft.“ Mit dieser Feststellung leitete Wassermeyer1 sein Referat über Bewertungsfragen beim Tausch und bei tauschähnlichen Vorgängen auf der Salzburger Tagung 1983 der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft ein. In der Tat ist das Thema ein weites Feld. Im Folgenden steht der Aktientausch im Vordergrund der Betrachtung, der in zwei Konstellationen vorkommt. Bei der einen Fallgruppe gibt es zwei Unternehmen oder Einzelpersonen, die jeweils Anteile an zwei anderen Unternehmen halten. Diese beschließen – aus welchen Gründen auch immer – die Beteiligungen zu tauschen. Die andere Fallgruppe betrifft die Situation, dass ein Unternehmen oder eine Privatperson Anteile an einer Kapitalgesellschaft hält und diese in eine andere Kapitalgesellschaft gegen Anteile an der anderen Kapitalgesellschaft so einbringt, dass es/sie danach an der anderen Gesellschaft beteiligt ist und diese andere Gesellschaft wiederum Anteilseigner der Kapitalgesellschaft wird. Die erste Gruppe ist ein eindeutiger Tausch, die zweite wird als tauschähnlicher Vorgang2 gedeutet. In der Diskussion wird jedoch nicht immer scharf zwischen beiden Vorgängen unterschieden. Bis zur Einführung von § 6 Abs. 6 EStG durch das StEntlG 1999/2000/20023 beruhte die Behandlung eines Tausches von Wirtschaftsgütern im betrieblichen Vermögen auf der Rechtsprechung. Diese hat allerdings, was im Folgenden nachgezeichnet wird, eine lange Entwicklung durchgemacht. Überraschend ist dabei, dass methodisch nicht so vorgegangen wird, dass ausgehend von § 5 Abs. 1 EStG die handelsrechtliche Regelung zum Ausgangspunkt genommen und die Frage untersucht wird, ob es sich bei dieser um einen Grundsatz ordnungsmäßiger Buchführung handelt. Handelsrechtlich wird überwiegend4 ein Wahlrecht dahingehend befürwortet, den erworbenen Gegenstand mit dem Buchwert des hingegebenen Gegenstandes oder dessen Zeitwert, höchsten jedoch mit dem vorsichtig geschätzten Zeitwert des erhalte1

In: Raupach, Werte und Wertermittlung im Steuerrecht, Köln, 1984, S. 170. Z. B. BFH 27. 3. 2007 – VIII R 28/04, BStBl II 2007, 699; BMF 25. 3. 1998, BStBl I 1998, 268; Heß/Schnitger, in: PwC, Reform des Umwandlungssteuerrechts, Stuttgart 2007, Rn. 1535. 3 BGBl I 1999, 402. 4 ADS, 6. Aufl., § 55 HGB Rn. 89 ff.; Ellrott/Brendt, in: Beck BilKomm, § 255 Rn. 131; Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht, 9. Aufl. Köln 1993,S. 167 u. a. mehr. 2

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nen Gegenstandes anzusetzen. Groh5 hat dafür plädiert, den Zeitwert des erworbenen Gegenstandes immer anzusetzen, damit aber keine Gefolgschaft gefunden. Wohlgemuth6 hingegen nimmt immer eine Gewinnrealisation an, indem der Zeitwert des hingegebenen Gegenstandes maßgebend sei. Hierfür zerlegt er den Tauschvorgang in einen Verkaufs- und einen Erwerbsvorgang. Aber auch dies ist eine vereinzelt gebliebene abweichende Auffassung, die zunehmend vertreten wird, worin man den Einfluss steuerrechtlicher Argumente auf die Handelsbilanz sehen kann. Es verwundert, dass sich die Rechtsprechung nicht auf die grundlegende Entscheidung7 berufen hat, nach der handelsrechtliche Aktivierungswahlrechte zu steuerlichen Ansatzgeboten führen. Diese Begründung, die überzeugender Kritik ausgesetzt ist8, wird aber nicht herangezogen, sondern grundsätzlich mit dem Realisationsprinzip argumentiert.9 Dies verweist auf Grundfragen des Einkommensteuerrechts. II. Einkommensbegriff Das Realisationsprinzip als tragender Grundsatz10 des Einkommensteuerrechts ist geprägt vom Begriff des Einkommens. Eine allgemein anerkannte Definition des Einkommens ist dem deutschen Einkommensteuerrecht jedoch fremd. Bekannt11 ist, dass die Einkommensteuergesetze von 1920, 1925 und 1934 unterschiedlichen Konzeptionen folgten, um dann schließlich eine Art praktischen Kompromiss in Gestalt des Dualismus12 der Einkunftsarten dem Gesetz zugrunde zu legen. Die konzeptionelle Unentschiedenheit zwischen Quellentheorie und Reinvermögenszuwachstheorie, die zunehmenden Vermischungen13 der Konzeptionen bereiten immer wieder Schwierigkeiten, wenn gesetzlich nicht ausdrücklich geregelte Fragen entschieden werden müssen. Fehlende Prinzipien des Gesetzes erschweren die Füllung von Gesetzeslücken und die Weiterentwicklung des Rechts. Ein treffendes Beispiel hierfür ist gerade auch die Behandlung des Tausches. Wo liegen die Probleme des Tausches im Hinblick auf den Einkommensbegriff? Hat der Unternehmer – nur diese sollen hier betrachtet werden – ein Wirtschaftsgut in seinem Betriebsvermögen und tauscht er dieses gegen ein anderes aus dem Betriebsvermögen eines anderen, so hat sowohl das hingegebene Wirtschaftsgut wie das empfangene einen Buchwert und einen gemeinen Wert. Die Vermutung liegt allerdings 5

Festschrift Döllerer, S. 157 ff. HdJ I/9 Rn. 62 ff. 7 BFH 3. 2. 1969 GrS 2/68, BStBl II 1969, 291. 8 Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht, S. 23 m.w.N. 9 Z. B. Wassermeyer, a. a. O. S. 172 ff. 10 Kirchhof, K/S/M § 2 A 98 ff.; A 139. 11 Eingehend Clausen, HHR Dok. Rn. 10 ff. 12 Vgl. Tipke, Die Steuerrechtsordnung, 2. Aufl., Köln 2003, S. 716 ff. 13 Eingehende Darstellung der unterschiedlichen Einkommenstheorie s. Kirchhof, K/S/M § 2 A 285 ff.; Ruppe, HHR Einf. ESt Rn. 10 ff.; Tipke, Steuerrechtsordnung, S. 624 ff. 6

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nahe, dass das empfangene Gut für den Unternehmer den gleichen Wert besitzt wie das hingegebene. Ist es nicht so, so dürfte es zu Ausgleichzahlungen kommen. Dazu dann später mehr. Ist durch diesen Vorgang seine Leistungsfähigkeit im Sinne seiner Fähigkeit, Steuern zu zahlen14, vermehrt worden? Versteht man Einkommen als „den … verfügbaren Vermögenszuwachs“15, so führt ein Tausch nicht zu einem Vermögenszuwachs. Dem Wortsinn nach ist Einkommen, was von außen in den Haushalt einer Person „einkommt“.16 Aber diese Aussage hilft nicht viel weiter. In diesem Sinne kommt auch eine Erbschaft „ein“, ist aber kein Einkommen. Man könnte Einkommen mit dem Geldeinkommen gleichsetzen. Dies wäre eine einfache Betrachtungsweise. Für sie spräche, dass die Steuer, wie § 3 AO sagt, eine Geldleistung ist. Wenn man die Steuer in Geld zahlen muss, dann muss man das Geld vorher erhalten haben, um die Steuer zahlen zu können. Aber schon sehr bald ist erkannt worden, dass auch ersparte Aufwendungen und erhaltene Sachwerte zu Einkommen führen können. Auch wenn Kleinwächter17 mit seinem Flügeladjudantenproblem dies kritisiert, ja geradezu ironisiert hatte, ist die Zuwendung geldwerter Vorteile18 als Einkommen heute unangefochten. Worauf kommt es also an? Die heute wohl anerkannteste Annäherung würde als Einkommen wohl die Mehrung der individuellen Konsumfähigkeit19 anerkennen. Darin wird die Leistungsfähigkeit in dem Sinne gesehen, dass „man sich etwas leisten“ kann. Ob man sich es dann tatsächlich auch leistet, worauf die sog. Expenditure tax20 abstellt, ist demgegenüber unerheblich. Einkommen wird dann zu einer in gewissem Sinn virtuellen Größe. Man kann das heutige Steuersystem so deuten, dass es die Besteuerung der Einkommenserzielung (Konsumfähigkeit) mit derjenigen der Einkommensverwendung (Konsum) verbindet. Ganz vermag ich Wagner21 nicht darin zuzustimmen, dass zwischen beiden Formen kein Wesensunterschied, sondern nur ein Unterschied in der Erhebungstechnik besteht. Theoretisch ist es sicher richtig, dass dann, wenn das gesamte Einkommen konsumiert würde, man auf eine der Belastungsstufen verzichten könnte. Vorausgesetzt wäre dann jedoch ein proportionaler Einkommensteuertarif. Aufgrund des progressiven Steuersatzes erhöht sich die tatsächliche Konsumfähigkeit nach Steuer prozentual, je niedriger das Einkommen ist. Darin kann man eine sozialstaatlich motivierte Angleichung sehen oder dies als Aus14

Kirchhof, K/S/M § 2 A 92. Kirchhof, K/S/M § 2 30. 16 So Kleinwächter, Das Einkommen und seine Verteilung, Leipzig 1896, S. 3, ein im Übrigen in seiner kritischen Grundhaltung unterschätzter Autor. 17 Kleinwächter, a. a. O. S. 7 ff., anschließend stellt er weiter „Monstrositäten und Absurditäten“ diverser Einkommensbegriffe dar. 18 § 8 EStG. 19 Tipke, Die Steuerrechtsordnung, S. 638 ff. m.w.N.; Joachim Lang, Prinzipien und Systeme der Besteuerung von Einkommen, DStJG 24, 49 ff. 20 Grundlegend Stanley S. Surrey/Paul McDaniel, Expenditure Tax, Harvard 1985. 21 Der homo Oeconomicus als Menschenbild des Steuerrechts, DStR 2014, 1133 (1138). 15

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druck der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit22 würdigen, nach der jeder nach seinen wirtschaftlichen Möglichkeiten zum Staatshaushalt beitragen soll. Wenn man konsequent auf diese Gedanken abstellt, dann ist eine modifizierte Überschussrechnung die geeignetste Methode zur Feststellung der Leistungsfähigkeit.23 Ausgeben kann jemand nur das Geld, welches ihm als Überschuss seiner Einnahmen über die (steuerlich relevanten) Ausgaben verbleibt, wobei Einnahmen, die er nicht behalten darf, unberücksichtigt bleiben. Die bilanziellen Realisationsregeln sind bei dieser Betrachtungsweise eher problematisch. Sie mögen sich dazu eignen, die Rentabilität eines Unternehmens in einer Periode, meistens Kalenderjahr, festzustellen; sie sagen aber nichts darüber aus, ob der Betreffende auch so viel Überschuss „in der Kasse“ hat. Andererseits kann Geld vorhanden sein, was aber vorgehalten werden muss für künftige Belastungen. Hier muss das Steuerrecht eine Entscheidung treffen, welche künftigen Belastungen es berücksichtigt. III. Tausch als Einkommen? Der Mangel einer eindeutigen und allgemein anerkannten Einkommenskonzeption wird beim Tausch deutlich. Die Kernfrage lautet: Kommt es zur Realisation eines latenten Wertes im Vermögen, wenn ein Gegenstand gegen einen anderen getauscht wird? Gehen wir von folgender Situation aus: Jemand erwirbt einen Gegenstand zu 100. Nach ein paar Jahren würde er 200 kosten, wenn er ihn erwürbe. Ein anderer hat einen Gegenstand zu 100 erworben, der nun 150 kosten würde. Aus welchen Gründen auch immer wünscht jeder den Gegenstand des anderen und es kommt zum Tausch. Zunächst ist festzustellen, dass keiner der beiden sein Geldvermögen vergrößert hat. Müssen sie Steuern wegen des Tausches bezahlen, so benötigen sie Geld, das sie anderweitig erworben haben müssen. In dem Sinne hat sich ihre Fähigkeit zur Steuerzahlung nicht vergrößert, da Steuern eine Geldleistung sind (§ 3 AO). Betrachten wir zunächst den zuerst Genannten. Er hatte einen Gegenstand, der 200 kosten würde und nun einen zu 150. Hat er einen Verlust von 50 erlitten? Gemessen an der Substanz seines Vermögens im Sinne der Reinvermögenszugangstheorie muss man dies bejahen. § 6 Abs. 6 EStG ordnet aber an, dass die Anschaffungskosten des erworbenen Gegenstandes 200 betragen, er also einen Gewinn von 100 macht. Wie lässt sich dies begründen? Noch kurioser ist die Situation des anderen: Er macht demnach einen Gewinn von 50, obwohl er eigentlich um 100 reicher geworden ist bezogen auf seine ursprüng-

22

Vgl. J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, Köln, 1988, S. 122 (127); Tipke, Die Steuerrechtsordnung S. 398 ff. 23 Vgl. hierzu Dieter Schneider, Grundzüge der Unternehmensbesteuerung, 6. Aufl., 1994, S. 28 ff.

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lichen Anschaffungskosten und den erhaltenen Gegenstand. Bei ihm entstehen neue stille Reserven von 50. Dies ist die Folge von§ 6 Abs. 6 EStG, wenn er auf den gemeinen Wert des hingegebenen Gegenstandes abstellt. Die Vorschrift lässt folglich die tatsächlichen Wertverhältnisse des Vermögens vor und nach dem Tausch außer Betracht. Nur wenn beide unmittelbar nach dem Tausch die Gegenstände veräußern würden, käme es zur Berücksichtigung der tatsächlichen Vermögenssituation. Folglich kann man den Tausch nicht als Realisationstatbestand bezeichnen. Er stellt gerade nicht auf die Realisation ab. Man kann den Zwang zur Realisierung stiller Reserven im hingegebenen Gegenstand nicht damit rechtfertigen, dass eine Entnahme mit einer Einlage kombiniert werde, da für die Entnahme der Teilwert maßgebend ist. Bei Gegenständen des Umlaufvermögens24 würde dann der Buchwert anzusetzen sein. Auch die Vorschrift des § 515 BGB hilft nicht weiter. Zwar sind danach die Vorschriften über den Kauf auf den Tausch anwendbar, was dafür sprechen könnte, einen Veräußerungsvorgang25 anzunehmen. Zivilrecht betrifft aber Regeln über die Mängelhaftung u. ä. und enthält keine Aussage zur Frage einer steuerlichen Gewinnrealisierung. In Fällen, in denen eine Begründung nicht einfach zu finden ist, empfiehlt es sich, die Entstehungsgeschichte und Entwicklung zu betrachten, um die Logik der Vorschrift zu verstehen. 1. Frühe Gesetzesgrundlagen Interessant wäre es zu erfahren, wie während der Geltung des Einkommensteuergesetzes vom 29. 3. 192026 der Tausch behandelt wurde. Dieses Gesetz hat sich von der die zuvor geltenden Landeseinkommensteuergesetze prägenden Quellentheorie gelöst und folgte der Schanz’schen Reinvermögenszugangstheorie.27 Gem. § 4 EStG 1920 unterlag der Einkommensteuer der „Gesamtbetrag der in Geld oder Geldeswert bestehenden Einkünfte nach Abzug der in § 13 genannten Beträge (steuerbares Einkommen)“. § 13 enthielt eine Aufzählung von Werbungskosten und anderen abziehbaren Ausgaben.28 Mit diesem Einkommensbegriff wollte man sich vor allem insofern von der Quellentheorie absetzen, als es nun nicht mehr darauf ankam, dass Einkommen nur war, was als Reinertrag einer „dauernden Quelle der Gütererzeugung“29 verblieb. Damit sollte es gelingen, auch einmalige Zuflüsse als Einkommen zu erfas24

Z. B. Winkeljohann, HHR § 6 Rn. 586. So Werndl, K/S/M § 6 M3; Wohlgemuth, HdJ I/9 Rnr. 63. 26 29. 3. 1920 RGBl I 1920, 359. 27 Strutz, Handausgabe des Einkommensteuergesetzes 1920, 3. Aufl., Berlin 1921, S. 37/ 25

38.

28

Die Terminologie war noch nicht ausgeprägt; so kannte das Gesetz kannte den Begriff der Einnahmen und verwandte ihn gleichbedeutend mit dem der Einkünfte, vgl. Strutz, a. a. O. S. 42, 49. 29 So Strutz, a.a.O S. 38.

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sen, was übrigens in Einzelfällen auch zuvor in Durchbrechung der Quellentheorie der Fall war, z. B. bei nicht gewerbsmäßigen Veräußerungsgewinnen oder einmaligen Einkünften (§ 5 EStG 1920).30 Es hätte dem Begriff des Einkommens nach dieser Theorie entsprochen, beim Tausch auf die Vermögenssituation, d. h. den tatsächlichen Wert der Gegenstände im Augenblick des Tausches, abzustellen. Dann wäre die Reinvermögenssituation vor und nach dem Tausch zu vergleichen, so dass der gemeine Wert des erhaltenen Gegenstandes jeweils maßgebend gewesen wäre. Es ist nicht bekannt, dass es zur Gesetzesfassung von 1920 eine Entscheidung gegeben hat. Jedenfalls wurde bereits mit einer Änderung des Gesetzes 1921 § 33a EStG 1920 eingeführt. Diese Vorschrift verankerte für „Gegenstände des Betriebsvermögens“ das Anschaffungskostenprinzip. Dies bedeutete, dass darauf abzustellen war, was der Steuerpflichtige aufgewendet hat, um den Gegenstand zu erwerben. Für den Erwerb durch Tausch wurde dies so verstanden, dass als Preis und damit als Anschaffungskosten der gemeine Wert des hingegebenen Gegenstandes anzusetzen ist.31 Dieser Wert ist, was der Erwerber hingeben muss, um den im Tausch erhaltenen Gegenstand zu erwerben. Dies ist sein Erwerbsaufwand. Dies führt zu seinen Anschaffungskosten. Konsequent im Sinne der Reinvermögenszugangstheorie ist dies nicht. Bereits 1925 bedurfte es einer grundlegenden Reform des Einkommensteuerrechts, weil – wie es Enno Becker ausdrückte32 – die Erfahrung gelehrt hat, „daß es verkehrt ist, ein Einkommensteuergesetz auf den Ergebnissen einer bestimmten Lehrmeinung aufzubauen; entweder ist ein solcher Versuch, wie die Anknüpfung des Einkommensteuergesetzes von 1920 an die Schanz’sche Theorie des Reinvermögenszugangs von vorneherein undurchführbar, oder die Ergebnisse würden, wie es bei der Rückkehr zur Quellentheorie in Gestalt des früheren preußischen Einkommensteuergesetzes der Fall wäre, so lückenhaft und ungleichmäßig sein, dass sie mit unserer gegenwärtigen Notlage nicht mehr verträglich wären“. Deshalb sei das EStG 1925 „selbständig vorgegangen“. Diese selbstständige Vorgehensweise des EStG 1925 zeigt sich in den Grundlagenparagraphen der §§ 6 und 7 EStG 1925, die einerseits die Einkunftsarten aufzählen (§ 6) und andererseits den Dualismus der Gewinn und der Überschusseinkünfte einführen (§ 7). Der Gewinn wird in § 12 EStG 1925 definiert als der Überschuss der Einnahmen über die Ausgaben zuzüglich des Mehrwertes oder abzüglich des Minderwertes der Erzeugnisse, Waren und Vorräte des Betriebs, der dem Betrieb dienenden Gebäude nebst Zubehör sowie des beweglichen Anlagekapitals am Schluss des Steuerabschnitts gegenüber dem Stand am Schluss des vorangegangenen Steuerabschnitts. Es wird somit eine Einnahmen-Ausgaben-Überschussrechnung kombiniert 30

Davon enthielt § 12 Ausnahmen. So auch Strutz, a.a.O S. 227. 32 Becker, Das Einkommensteuergesetz 1925 (Handkommentar der Rechtssteuergesetze II), Stuttgart 1928, Bd. I, S. 3. 31

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mit einem Bestandsvergleich des Umlaufvermögens und des nicht in Immobilien bestehenden Anlagevermögens; letzteres wird ausgenommen, um unrealisierte Wertsteigerungen bei Immobilien nicht als Einkommen zu erfassen. § 13 EStG 1925 schreibt dann den Betriebsvermögensvergleich nach den GoB als für Kaufleute maßgebliche Methode zur Gewinnermittlung vor. Für den Tausch lässt sich aus dieser Gesetzeslage nicht zwingend der Bewertungsmaßstab ableiten. Einerseits könnte man im erhaltenen Gegenstand eine Einnahme sehen, so dass dessen gemeiner Wert entschiede. Auch käme es dann darauf an, was eingetauscht wurde. War es Umlaufvermögen oder Anlagevermögen? War es Grundvermögen? Andererseits wird durch § 13 EStG 1925 das Anschaffungskostenprinzip vorgeschrieben. Die Kommentatoren jener Zeit sehen33 im Tausch einen Realisationsvorgang, der zur Aufdeckung der stillen Reserven im hingegebenen Gegenstand führe. Daher sei nicht nur der Buchwert hingegeben. Das eingetauschte Gut sei daher mit dem gemeinen Wert des hingegebenen Gutes zur Zeit der Hingabe zu aktivieren, es sei denn, dass der gemeine Wert des erworbenen Gutes geringer sei. Dass Grundbesitz beim Bestandsvergleich ausgenommen ist, führte zu dem Problem, wie zu verfahren sei, wenn solcher gegen ein in den Bestandsvergleich aufzunehmendes Gut getauscht wird.34 Strutz behandelt den Tausch durchaus widersprüchlich. § 14 EStG 1925 definiert als Einnahme die dem Steuerpflichtigen zufließenden Güter in Geld oder Geldeswert. Daraus leitet Strutz ab, dass dann, wenn die Einnahme aus einem Tausch herrühre, der Geldeswert des in Tausch empfangenen Gutes anzusetzen sei.35 Als Beispiel diskutiert er dann, dass Wertpapiere empfangen werden. Bei der Kommentierung des § 16 EStG 1925, der die Definition der abziehbaren Kosten enthält, bemerkt er, dass der Anschaffungspreis für im Tauschwege angeschaffte Gegenstände „der gemeine Wert des in Tausch gegebenen Gegenstandes“ sei. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der gemeine Wert und nicht der Buchwert als maßgebend angesehen wurde. Der Tausch war ein Realisationstatbestand, wobei eine gewisse Unsicherheit dahingehend bestand, ob der gemeine Wert des hingegebenen oder des empfangenen Gegenstandes maßgebend war, was auch davon abhängen sollte, welcher der niedrigere war. War dies der empfangene Gegenstand, so sollte dieser angesetzt werden; war es der hingegebene Gegenstand, so sollte dieser maßgebend sein. 2. Entwicklung der Rechtsprechung Es scheint, dass bereits das preußische OVG zur Behandlung eines Tausches von Gegenständen bei der steuerlichen Gewinnermittlung judiziert hat. Jedenfalls er-

33

Enno Becker, § 13 Anm. 51 S. 372, Anm. 67 Anhang S. 388. Strutz, Kommentar zum Einkommensteuergesetz 1925, Berlin 1927, Bd. I, S. 704; Evers, Körperschaftsteuergesetz § 12 Anm. 4. 35 § 14 Anm. 15 (S. 828). 34

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wähnt Strutz36 eine Entscheidung dieses Gerichts37, die sich mit der Frage befasst, welche Bedeutung es hat, wenn die Vertragsparteien eines Tausches den Wert der getauschten Gegenstände vereinbaren. Das Gericht hat derartigen Absprachen eine nur beschränkte Bedeutung beigemessen, da sie beliebig sein können. Daraus lässt sich allerdings nur entnehmen, dass objektive Wertmaßstäbe maßgebend sind. Aber welche? Somit war zur Aufgabe der späteren Rechtsprechung geworden, hier Klarheit zu schaffen. Der RFH fällte wenige Entscheidungen zunächst38 noch zum EStG 1920 und dessen § 33a. Überwiegend betreffen seine Entscheidungen das EStG 1925. Insgesamt gibt es bis zum Jahre 1945 dreizehn veröffentlichte Entscheidungen, von denen sieben eigentliche Tauschfälle und sechs Einbringungsfälle sind. Am Anfang steht die Entscheidung vom 14. 7. 1925.39 Darin führt er aus, dass ein eingetauschter Gegenstand keinen Anschaffungspreis, sondern nur einen Wert habe. Das Gesetz unterscheide deutlich zwischen Preis und Wert. Gebe es keinen „Preis“ wie beim Tausch, so sei fiktiv ein Betrag anzusetzen, „der für den Erwerb des Gegenstandes … unter gemeingewöhnlichen Verhältnissen hätte aufgewendet werden müssen (Satz 2 des § 33a Abs. 1)“. Dies bedeutet, dass beim Tausch nicht der Wert des erhaltenen Gegenstandes (im Streitfall: Aktien), sondern der gemeine Wert des Hingegebenen als Preis des empfangenen Gegenstandes anzusetzen sei.40 Lediglich für den Fall, dass der Anschaffungspreis den gemeinen Wert des erhaltenen Gegenstandes übersteigt, erlaubt das Gesetz den Ansatz des letzteren. In den Entscheidungen vom 20. 1. 192641 und 13. 2. 192942 bestätigt er dies und gibt als Begründung an, dass Realisation deshalb eintrete, weil „die Sache nicht anders liegt, als wenn der hingegebene Gegenstand veräußert und der Erlös zum Erwerb des eingetauschten Gegenstandes verwandt wäre“. Andernfalls könnten Unternehmen Tauschverträge schließen und es entstünde kein Gewinn. Diese Argumentation überzeugt wenig. Die Umdeutung des Tausches in einen Verkauf mit anschließendem Kauf lässt außer Acht, dass beim Tausch keine Mehrung der Liquidität des Unternehmens eintritt. Außerdem ist es im Wirtschaftsverkehr abwegig, davon auszugehen, dass ein Unternehmen regelmäßig die zu erwerbenden Wirtschaftsgüter des Betriebsvermögens nicht entgeltlich anschafft, sondern im Tauschwege – etwa durch Tausch der von ihm hergestellten Produkte – erwirbt.

36

Strutz, Kommentar zum Einkommensteuergesetz 1925, Berlin 1927, S. 828. V. 26. 1. 1915 VII C 653; Fundstelle bei Strutz nicht nachvollziehbar. 38 RFH 14. 7. 1925 I A 61/25, RFHE 17, 105 (107); Leitsatz RStBl 1925, S. 169. 39 I A 61/25, RFHE 17, 105. 40 So auch Strutz, Handausgabe des EStG 1925, 3. Aufl., Berlin 1921, § 33a Anm. 4 unter Berufung auf das preuß. OVG 26. 1. 1915 – VII C 653. 41 VI A 1100/25, StW 1926 Nr. 161. 42 VI A 164/29, StW 1929, 345, betrifft die Inzahlungsgabe eines KFZ beim Erwerb eines neuen, wobei die Parteien einen Betrag oberhalb des „wahren Wertes“ des KFZ vereinbaren. 37

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Zum EStG 1925 ergeht die RFH-Entscheidung vom 2. 4. 193043. In dieser setzt sich das Gericht von den früheren Entscheidungen ab und meint nunmehr, dass der erhaltene Gegenstand einen Anschaffungspreis habe: der gemeine Wert des hingegebenen Gegenstandes. Doch dann lässt das Gericht erkennen, dass diese Auffassung in bestimmten Fällen problematisch sein könnte, wenn ein im „Betriebe brauchbarer Gegenstand gegen einen anderen Betriebsgegenstand eingetauscht werde, der im Betrieb die gleiche Funktion zu erfüllen hat.“ In diesen Fällen könne die Ansicht vertreten werden, dass es dann nicht zur Realisation der stillen Reserven komme, sondern der erhaltene Gegenstand mit dem Buchwert des hingegebenen zu bewerten sei. Undiskutiert bleibt, aus welchem Rechtsgrund eine Funktionsgleichheit die Realisation ausschließe. Es gab noch zwei Urteile, die einen Tausch zum Gegenstand hatten. In der Entscheidung vom 10. 4. 194044 veräußerte eine KG Wertpapiere über ihrem Buchwert und erwarb gleichzeitig andere nach ihrem Wert und ihrer Bedeutung wirtschaftlich gleichartige. Das Gericht sah darin „wirtschaftlich“ einen Umtausch ohne Gewinnverwirklichung, da die getauschten Aktien artgleich, gleichwertig und funktionsgleich sind. Im Urteil vom 29. 3. 194445 hingegen bewertete das Gericht einen Aktientausch innerhalb einer Familiengruppe als Veräußerung i.S. von § 17 EStG. Eine konsistente, überzeugend begründete Rechtsprechung ist darin schwerlich zu erkennen. Bei den Fällen der Einbringung von Aktien nimmt der RFH46 folgende Unterscheidung vor: - Echte Fusion: Einbringung des Betriebes einer Kapitalgesellschaft gegen Ausgabe neuer Anteile an der aufnehmenden Gesellschaft an die Gesellschafter der einbringenden Gesellschaft (heute § 20 UmwStG) - Unechte Fusion: Einbringung von Anteilen an einer Kapitalgesellschaft gegen Anteile an der aufnehmenden Gesellschaft, die danach die eine Mehrheitsbeteiligung besitzt (heute § 21 UmwStG) - Gründung einer neuen Kapitalgesellschaft, in die mehrere Kapitalgesellschaften gegen Anteile ihre Betriebe einbringen (heute § 11 UmwStG) In derartigen Fällen wird eine Tendenz erkennbar, den Anteilstausch zu Buchwerten zuzulassen. In der Entscheidung vom 13. 6. 192847 deutet sich diese Tendenz an, obwohl es im eigentlichen Sinne keinen Tausch oder Einbringung betraf. Eine Bank hielt Anteile, um Einfluss auf die Gesellschaft auszuüben. Einen Teil dieser Anteile veräußerte sie an einen Kunden deutlich über dem Buchwert und deckte sich wenig

43

VI A 1361/29, RStBl 1930, 363. VI 754/39, RStBl 1940, 595. 45 VI 306/42, RStBl 1945, 18. 46 So 3. 2. 1932 VI A 805/31, RStBl 1932, 464. 47 VI A 292/28, RStBl 1928, 378. 44

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später mit denselben Anteilen wieder ein. Wegen der „wirtschaftlichen Identität“ der Anteile ließ das Gericht eine Übertragung des Buchwertes auf die neu erworbenen Anteile zu.48

In der Entscheidung vom 20. 12. 192849 ging es um die Verschmelzung zweier Gesellschaften auf eine neugegründete Gesellschaft. Das Gericht argumentiert damit, dass wirtschaftlich die Gesellschafter der verschmolzenen Gesellschaften nach wirtschaftlicher Betrachtung ihre Unternehmen „in eine andere Gesellschaftsform“ überführt hätten. Dies rechtfertige keine Gewinnrealisation. Der Gedanke der Funktionsgleichheit wird in der Entscheidung vom 1. 3. 193350 vertieft. Der Sachverhalt betraf die A Holdinggesellschaft, die Anteile an verschiedenen Elektrizitätsunternehmen hielt, unter anderem auch ca. 22 Prozent an einer anderen Holdinggesellschaft. Letztere erhöhte ihr Kapital. A übernahm die neuen Anteile und beglich die erforderliche Summe durch Hingabe von Aktien aus ihrem Besitz. Streitig wurde, ob der Buchwert der hingegebenen Aktien oder deren Zeitwert anzusetzen war, wobei der Zeitwert der hingegebenen und der erhaltenen Aktien identisch war. Der Senat beruft sich in dieser Entscheidung auf Enno Becker.51 Dieser führt aus, dass beim Tausch grundsätzlich eine Gewinnrealisation erfolge. Auch wenn die h. M. im Handelsrecht den Buchwert des hingegebenen Gegenstandes ansetze, sei steuerrechtlich entscheidend, dass die Buchwerte aus der jeweils anderen Bilanz stammten. Der Tausch des alten gegen den neuen Gegenstand müsse daher als Erwerbsvorgang betrachtet und zum gemeinen Wert des alten Gegenstandes erfolgen. Davon will er eine Ausnahme machen, wenn nicht „wirklich eine Realisation vorliegt“. Er erwähnt als Beispiele, dass Unternehmen sich gegenseitig beteiligen oder dass in Gesellschaften gegen Anteilsgewährung Gegenstände eingebracht werden. Becker lässt durchblicken, dass eine mittelbare Beteiligung bei der Einbringung fortbestehe oder dass nur identische Gegenstände getauscht werden. So denn auch die Entscheidung vom 1. 3. 1933. Durch den Aktientausch erwarb die A die Mehrheit an der anderen Holdinggesellschaft, so dass sie sich weiterhin „als Herrin … ihrer früheren Aktien fühlen“ konnte. Das Gericht fügt noch an, dass die aufnehmende Gesellschaft, die nun von der anderen beherrscht werde, ihrerseits ihre Anteile an der erworbenen Gesellschaft aufgestockt habe, an der sie schon zuvor Aktien hielt. Im Ergebnis meint das Gericht dann aber noch hinzufügen zu müssen, dass sich „eine feste Regel für die Beantwortung der Frage, wann ein Gewinn als realisiert anzusehen ist“, nicht aufstellen lasse, jedenfalls liege eine solche nicht nur im Verkauf gegen Geld. Damit entschied die Würdigung des Einzelfalles.52 In dem der Entscheidung vom 9. 5. 193353 zugrunde liegenden Sachverhalt brachte ein Einzelunternehmer den wesentlichen Teil seines Betriebes in eine AG gegen 48

Der Gedanke taucht in der Entscheidung vom 10. 4. 1940 wieder auf. I A 417/28, RStBl 1929, 66. 50 I A 384/32, RStBl 1933, 427. 51 Kommentar EStG 1925 vor §§ 19 – 21 Anm. 139 (Bd. II S. 915 f.). 52 RFH 16. 8. 1934 VI A 387/33, RStBl 1935, 155. 53 VI A 434/30, RStBl 1933, 999. 49

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Gewährung von Aktien ein.54 Streitig war, ob dadurch eine Betriebsveräußerung gem. § 30 EStG 192555 erfolgte. Das Gericht bestätigt einleitend seine Rechtsprechung, dass beim Tausch eine Gewinnrealisierung erfolge, um sogleich die Ausnahme anzufügen, dass dies nicht gelte, wenn ein Betrieb in einer anderen „juristischen Form“ fortgeführt werde. Bei der Übernahme eines Einzelunternehmens durch eine Kapitalgesellschaft gegen Gewährung von Aktien bleibt „der bisherige Betriebsinhaber … mit der weiteren Fortentwicklung des nunmehr durch die Kapitalgesellschaft betriebenen Unternehmens … verknüpft“.56 Es bleibt als Ergebnis festzustellen, dass die Entscheidungen des RFH einerseits als Regel beim Tausch vom Ansatz des gemeinen Wertes des hingegebenen Wirtschaftsgutes ausgehen, auch wenn eine zwingende Begründung nicht gegeben wird. Andererseits hält er bei wirtschaftlicher Identität57 oder Fortführung des wirtschaftlichen Engagements in anderer Rechtsform im Einzelfall eine Buchwertübertragung für geboten. Ob eine solche Ausnahme vorliege, sei nach den Umständen des Einzelfalls zu beurteilen. 3. Tauschgutachten Es liegt auf der Hand, dass mit dieser Rechtsprechung wenig Rechtssicherheit gewonnen war. Diese sollte das sog. Tauschgutachten des I. Senates des BFH58 bringen. Dieser setzt sich eingehend mit der dargestellten RFH-Rechtsprechung auseinander und baut auf dieser auf. Sein Gegenstand ist der Tausch von Anteilen an Kapitalgesellschaften in verschiedenen Konstellationen. Einleitend (IV. des Gutachtens) führt der Senat als seine Ansicht aus: „Anteilsrechte an Kapitalgesellschaften sind unabhängig davon, ob sie zum Anlage- oder zum Umlaufvermögen gehören, mit den Anschaffungs- oder Herstellungskosten anzusetzen.“ Als Anschaffungskosten bezeichnet er dasjenige, „was der Kaufmann aus seinem Betriebsvermögen zum Erwerb aufwendet“. Handle es sich um einen Tausch von Wirtschaftsgütern, „so fehlt es an einer wirtschaftlich vernünftigen Begründung“, die Anschaffungskosten nicht mit dem „tatsächlichen Wert, sondern nach dem mehr oder minder zufälligen Buchwert des hingegebenen Wirtschaftsgutes“ zu bemessen. Hierfür beruft er sich auf eine ständige Rechtsprechung des RFH59 und des BFH.60 Diese Rechtsprechung bestätigt der Senat ausdrücklich. Dass es 54

Weiteres Thema war, ob eine vereinbarte Rückwirkung steuerlich beachtlich ist. Entspricht weitgehend § 16 EStG. 56 Weitere Entscheidungen in diesem Sinne 16. 8. 1934 VI A 434/30, RStBl 1935, 155; 27. 10. 1943 VI 353/42, RStBl 1944, 194; auf eine Mehrheitsbeteiligung des Einbringenden kommt es danach nicht an. 57 Auf die ebenfalls anerkannte Ersatzbeschaffung bei hoheitlichen Eingriffen und anderen zwingenden Gründen wird hier nicht eingegangen. 58 16. 12. 1958 – I D 1/57 S, BStBl III 1959, 30. 59 2. 4. 1930 VI A 1361/29, RStBl 1930, 363. 60 13. 9. 1955 – I 246/54, BStBl III 1955, 320; 4. 4. 1957. 55

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im Handelsrecht anders sei und die stillen Reserven vom hingegebenen auf das erhaltene Wirtschaftsgut übertragen werden könnten, sei eine rein handelsrechtliche Möglichkeit. Von dieser im Grunde, wie das Gericht darlegt, zwingenden Rechtslage soll allerdings die „im Steuerrecht gebotene wirtschaftliche Betrachtung“ Ausnahmen zulassen. Eine solche Ausnahme sei beim Tausch von Anteilen an Kapitalgesellschaften zu machen. Nur zu diesen äußere sich der Senat, so dass seine Ausführungen „nicht auf andere Tauschvorgänge übertragen werden“ dürften. Die Ausnahme vom Ansatz des gemeinen Werts ist nach Ansicht des Gerichts dann zu machen, wenn die hingegebenen und die eingetauschten Anteile „nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten“ identisch, „nämlich“ seien. Nämlichkeit liege vor, wenn die Anteile einander gleichartig, gleichwertig und funktionsgleich seien. Allerdings seien diese Merkmale, was das Gericht hinzufügt, nicht derart, dass sie in einer allgemeinen Formel zusammengefasst werden könnten.61 Vielmehr sei eine Berücksichtigung und Würdigung aller Umstände des Einzelfalles erforderlich. Die Begriffe der Gleichwertigkeit, Gleichartigkeit und Funktionsgleichheit seien nur als Anhalt zu verstehen. Unter diesem Vorbehalt erläutert der Senat dann die drei Kriterien. Offensichtlich hat das Gericht jedoch den Eindruck, dass seine Ausführungen noch nicht die hinreichende Präzision besitzen. Es schließt daher die Erläuterung von vier Beispielen an, ohne dass – wie man bemerken muss – die Dinge danach klar wären. Beispiel eins: An der Aktiengesellschaft X – einem Versorgungunternehmen – sind zu 80 v.H. das Bundesland A und zu 20 v.H. die Aktiengesellschaft B beteiligt. A möchte den Einfluss von B auf X ausschalten und erwirbt von dritter Seite eine Beteiligung an dem Versorgungsunternehmen Y. Es kommt zum Tausch der Beteiligungen von B an X gegen die Beteiligung von A an Y. B hatte die Beteiligung unterhalb des „Teilwertes“ in seinen Büchern. Kann B den Buchwert hinsichtlich der erworbenen Beteiligung an Y fortführen? Der Senat sieht keine Probleme hinsichtlich der Gleichwertigkeit und Gleichartigkeit der Beteiligungen an X und Y, verneint jedoch die Funktionsgleichheit, weil zwischen B und X keine betrieblichen Beziehungen bestünden, die auf Y übergingen. Nicht immer sei die Funktionsgleichheit zu verneinen, wenn die Beteiligung der B an X lediglich eine günstige Kapitalanlage sei, die sich mit der Beteiligung an Y fortsetze. Ob dies heißt, dass dann die Funktionsgleichheit zu bejahen sei, bleibt offen. Das Beispiel zwei ist eine Abwandlung des Beispiels eins, indem B die Beteiligung an X zum dem Marktwert entsprechenden Preis an A veräußert und dann nach einiger Zeit die Beteiligung an Y unmittelbar von dem Dritten erwirbt. Da die stillen Reserven durch den Verkauf realisiert worden sind, sei die Absicht, gleichartige, gleichwertige und funktionsgleiche Anteile anderwärts zu erwerben, unbeachtlich.62 Die Ausdehnung der Grundsätze bei Zwangsverkauf (Rücklage für Ersatzbeschaffung) lehnt der Senat ab. Im dritten Beispiel ist die A AG an zwei AGs beteiligt, und zwar an der X zu 40 v.H. (Grundkapital 100 Mio.) und zu 4 v.H. an der Y (Grundkapital 250 Mio.). X erhöht ihr Kapital um 50 61 62

Diese Aussage sollte stutzig machen! So auch RFH 13. 6. 1928 VI A 292/28, RStBl 1928, 378.

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Mio., wobei die Ausgabe der jungen Aktien zu pari erfolgt. A erwirbt die auf sie entfallenden jungen Aktien durch Hingabe der Aktien an Y. X bewertet die erworbenen Aktien an Y – nominal 10 Mio. – zu einem Kurs von 200 v.H. Bei A stand die Beteiligung an Y mit 10 Mio. zu Buche. Kann A die neuen Aktien mit dem Buchwert der Aktien an Y (10 Mio.) bewerten? Der Senat verneint die Funktionsgleichheit, weil A die Beteiligung an Y als Kapitalanlage hielt, die neuen Aktien an X aber erworben habe, um ihren 40 v.H. Anteil an dieser Gesellschaft zu erhalten. Dies seien unterschiedliche Funktionen. Unter Bezugnahme auf den RFH63 macht er deutlich, dass eine Übertragung der stillen Reserven auf den erworbenen Gegenstand nur dann gerechtfertigt sei, wenn „sich nämlich die wirtschaftliche durch den Tausch nicht verändert und die betriebliche Bedeutung der eingetauschten Beteiligung die gleiche geblieben ist“.

Das vierte Beispiel behandelt den Fall, dass die AG X, die 75 v.H. der Aktien an der AG Y besitzt, den Minderheitsaktionären ein Tauschangebot der Y gegen X Aktien macht. Die Frage wird gestellt, ob die einzelnen Minderheitsaktionäre die Buchwerte fortführen können. Dies wird verneint. Einmal wird darauf verwiesen, dass diese geringfügigen Beteiligungen lediglich der Anlage nicht benötigter Betriebsmittel dienten und auf die Möglichkeit kurzfristiger Verwertung angelegt seien, so dass der Tausch einer Veräußerung gleichstehe. Zum anderen soll es darauf ankommen, dass „der eingetauschte Anteil ein völlig anderes Betriebsvermögen repräsentiert als der hingegebene Anteil“. Dies ist jedoch bei jedem Tauch von Anteilen der Fall. Auch wenn in der Folge das Tauschgutachten über einen langen Zeitraum in der Praxis angewendet wurde, sind die Schwächen der Begründung nicht zu übersehen. Alle Beispiele drehen sich um den Begriff der Funktionsgleichheit64. Einzig das Beispiel eins betrifft einen Tausch, die anderen Beispiele behandeln Einbringungsvorgänge. Bei diesen hatte bereits die Rechtsprechung des RFH darauf beruht, ob nach dem Tausch weiterhin Einfluss auf die hingegebene Beteiligung besteht. Bei einer Beteiligung über 75 v.H. sowohl an der Gesellschaft, deren Aktien hingegeben, als auch an der Gesellschaft, deren Aktien im Tausch erhalten werden, kann dies bejaht werden. Im Grunde wird dann die unmittelbare Beherrschung in eine mittelbare eingetauscht. Unter dieser Voraussetzung verneint der BFH ein Anschaffungsgeschäft, was er mit der wirtschaftlichen Identität umschreibt.65 Diese Voraussetzung kann dann nicht erfüllt sein, wenn es sich um einen reinen Tausch (Beispiel eins) oder um eine bloße Kapitalanlage ohne betriebliche Funktion handelt.

63

20. 12. 1928 I A 417/28, RStBl 1929, 66; 1. 3. 1933 I A 384/31, RStBl 1933, 427; 29. 3. 1944 VI 306/42, RStBl 1945, 18. 64 Der aber keinesfalls eindeutig ist, so auch Wenz, Societas Europeae, Berlin 1993, S. 122 m.w.N. 65 Eckstein, HHR § 6 Rn. 1483.

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4. Tausch in der Gesetzgebung nach dem Tauschgutachten Dass das Tauschgutachten – auch wegen seines sehr speziellen Gegenstandes – keine abschließende Regelung der steuerlichen Behandlung des Tausches brachte, wird alleine schon dadurch belegt, dass der Gesetzgeber über die Jahre ständig tätig gewesen ist. Schließlich wollte der Gesetzgeber mit der Einführung von § 6 Abs. 6 EStG (im Gesetzentwurf Abs. 5) im StEntlG66 1999 das Tauschgutachten ablösen.67 Bereits im Jahre 1964 hat der Gesetzgeber die Übertragung von stillen Reserven von einem Wirtschaftsgut auf ein neues durch Einfügung von § 6b EStG68 ermöglicht, allerdings nicht für den Fall des Tausches, sondern der Veräußerung eines Wirtschaftsgutes und des anschließenden entgeltlichen Erwerbs eines neuen. Dass danach „erst-recht“ der Tausch begünstigt sein muss, hat der BFH 197169 entschieden. Im Laufe der Jahre70 hat der Gesetzgeber zwar durch Verschärfung der Voraussetzungen von § 6b EStG dessen Anwendungsbereich eingeschränkt, aber in bestimmten Fällen die Übertragung stiller Reserven ermöglicht. Andererseits lässt sich aus § 6b EStG und der gewohnheitsrechtlich geltenden Rücklage wegen Ersatzbeschaffung erkennen, dass der Gesetzgeber nur in bestimmten Fällen die als Begünstigung ausgestaltete Buchwertübertragung zulassen wollte, so dass es folgerichtig war, 1999 mit § 6 Abs. 6 EStG die Grundregel der Gewinnrealisierung beim Tausch gesetzlich zu verankern. Ob dies das Tauschgutachten vollständig abgelöst hat, ist fraglich.71 § 6b EStG hat vor allem, was den Tausch von Anteilen an Kapitalgesellschaften, dem Gegenstand des Tauschgutachtens, angeht, eine wechselvolle Entwicklung bis zum heutigen § 6b Abs. 10 EStG durchgemacht. Darauf soll hier nicht weiter eingegangen werden. Festzuhalten ist lediglich, dass nunmehr jeder Tausch nach § 6 Abs. 6 EStG zur Aufdeckung der stillen Reserven im hingegebenen Wirtschaftsgut führt, sofern nicht § 6b EStG eine Übertragung auf ein neu angeschafftes bzw. eingetauschtes Wirtschaftsgut zulässt. IV. Versuch einer Begründung Doch dies beantwortet nicht die Frage nach der inneren Rechtfertigung der Regel. Ein rechtspositivistisches Denken würde sich damit zufrieden geben, dass dies gesetzlich so geregelt ist. Die Wissenschaft entbindet dies jedoch nicht von der Suche nach dem rechtfertigenden Grund. Diese Suche ist eine doppelte: einmal 66

BGBl I 1999, 402. BT-Drs. 14, 23 S. 173, wobei als Begründung zutreffend das Merkmal der Funktionsgleichheit als „nicht genügend konkretisiert … und kaum überprüfbar“ kritisiert wird. 68 StÄndG 1964 16. 11. 1964, BGBl I 1964, 885. 69 13. 7. 1971 – VIII 15/65, BStBl II 1971, 731. 70 Vgl. Marchal, HHR § 6b Rn. 2 über die Entstehungsgeschichte. 71 Eckstein, HHR § 6 Rn. 1483. 67

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gilt sie einem Rechtssatz, der besagt, dass dann, wenn ein Wirtschaftsgut das Betriebsvermögen verlässt, dies Gewinnauswirkungen nach sich zieht. Zum anderen stellt sich bei Bejahung der ersten Frage die weitere nach der Bewertung. Verlässt ein Wirtschaftsgut das Betriebsvermögen, so kann dies verschiedene Ursachen haben: - Es wird verkauft. Dann wird es mit dem Buchwert angesetzt und in Höhe des hierfür erhaltenen Entgeltes, das in der Bilanz berücksichtigt72 wird, kommt es zu einem Gewinn oder einem Verlust. - Es wird zerstört, z. B. durch einen Brand. Sein Buchwert wird ausgebucht und insoweit ein Verlust realisiert. - Im Rahmen einer Betriebsaufgabe – § 16 Abs. 3 EStG – wird es entnommen. Es wird der gemeine Wert angesetzt (§ 16 Abs. 3 S. 7 EStG) - Es wird entnommen (§ 4 Abs. 1 EStG). Sein Teilwert wird außerhalb der Bilanz (Betriebsvermögensvergleich) angesetzt (§ 6 Abs. 1 Nr. 4 EStG). Aus diesen Vorschriften lässt sich der Rechtsgedanke ableiten, dass das Verlassen des Betriebsvermögens Folgen nach sich zieht. Aber welche? Die aufgezeigten gesetzlichen Bestimmungen lassen jedenfalls keinen einheitlichen Wertmaßstab erkennen. Beim Tausch besteht, ähnlich wie bei der Veräußerung, eine Beziehung zur Gegenleistung, die bei der Betriebsaufgabe, Entnahme und Zerstörung fehlt. Der Erfolg eines Unternehmens lässt sich nur als Totalerfolg während der gesamten Zeit seiner Existenz korrekt ermitteln, „wenn alle geldlichen Aufwendungen wieder zu Gelderträgen geworden sind. Die Differenz aus Geldendbestand und Einsatz in Geld, korrigiert um Einlagen und Entnahmen, kann mit Recht als der echte nicht bezweifelbare Gewinn oder Verlust der Unternehmung bezeichnet werden.“73 Wird z. B. ein Wirtschaftsgut durch Zufall zerstört, so entsteht ein Verlust nur in Höhe des Buchwertes. Findet vorher ein Tausch statt und wird das eingetauschte Wirtschaftsgut dann per Zufall zerstört, so beläuft sich der Verlust auf den gemeinen Wert des hingegebenen Wirtschaftsgutes. Für den Totalerfolg eines Unternehmens spielt der Unterschied keine Rolle; in einer Betrachtung der einzelnen Perioden ist dies aber der Fall. Betrachtet man den Vorgang des Tausches bilanziell, so spielt er sich so ab, dass das eingetauschte Wirtschaftsgut das Betriebsvermögen und somit die konkrete Bilanz verlässt. Es könnte nun einen allgemeinen Rechtssatz geben, der besagt, dass die Differenz zum gemeinen Wert – ja wohl nur – außerhalb der Bilanz, wie bei der Entnahme hinzuzurechnen wäre. Diesen gibt es nicht. Zugleich wird der erworbene Gegenstand in der Bilanz aktiviert. Für dessen Bewertung kommen in Betracht - Buchwert des hingegebenen Gegenstandes - Buchwert des erhaltenen Gegenstandes 72

Sei es als Zugang zum Geldbestand oder als Forderung. Euler, Gemeiner Wert und Teilwert, in: Raupach, Werte und Wertermittlung (DStJG), Köln 1984, S. 156. 73

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- Teilwert des erhaltenen Gegenstandes - Teilwert des hingegebenen Gegenstandes - Gemeiner Wert des erhaltenen Gegenstandes - Gemeiner Wert des hingegebenen Gegenstandes. Der Buchwert des erhaltenen Gegenstandes scheidet von vorneherein aus, da dieser durch Zufälligkeiten im anderen Betriebsvermögen bestimmt ist. Joachim Lang74 hat sich für den Ansatz des Teilwerts des erhaltenen Gegenstandes ausgesprochen. Er begründet dies damit, dass dann der Gewinn oder Verlust aus dem Tauschgeschäft ausgewiesen würde, was dem Leistungsfähigkeitsprinzip entspräche. Er stellt demnach systematisch auf den Vermögenszuwachs ab. Warum dies allerdings zum Teilwertansatz führe, ist nicht überzeugend. Teilwert ist der Wert, der für ein einzelnes Wirtschaftsgut im Rahmen einer Veräußerung des gesamten Betriebes anzusetzen wäre.75 Gegenstand des Tausches ist jedoch ein einzelnes Wirtschaftsgut. Folglich wäre der gemeine Wert des erhaltenen Wirtschaftsgutes zu aktivieren. Dann wird die Änderung des Reinvermögens durch den Tausch korrekt wiedergegeben. Knobbe-Keuk76 hält dem entgegen, dass in der Bilanz der hingegebene Gegenstand zu bewerten sei. Es wurde gezeigt, dass es um die Bewertung des erhaltenen Wirtschaftsgutes geht. Folgt man mit dieser Änderung Lang, dann wäre, wenn der gemeine Wert des erhaltenen noch über demjenigen des hingegebenen Wirtschaftsgutes liegt, dieser höhere Wert anzusetzen. Dies führt aber zu Problemen, wenn in einem solchen Fall neben dem Wirtschaftsgut, das hingegeben wird, eine Zahlung erfolgt, um die Wertunterschiede auszugleichen. Wie wäre diese bilanziell zu erfassen? Auch im umgekehrten Fall könnte eine erhaltene Zuzahlung schwerlich zutreffend erfasst werden. Es verbleiben somit nur zwei Werte für die Bewertung des Erhaltenen: Buchwert oder gemeiner Wert des hingegebenen Wirtschaftsgutes. Für den gemeinen Wert wird angeführt, dass es sich um einen Anschaffungsvorgang handle und somit der Betrag anzusetzen sei, den der Anschaffende aufwendet. Aufgewendet hat dieser den Betrag für die Anschaffung oder Herstellung des Gegenstandes. Z. B.: A hat ein Grundstück für den Betrieb zu 100 erworben. Nach ein paar Jahren genügt ihm das Grundstück nicht mehr. Er kann es gegen ein anderes, ihm besser passendes Grundstück tauschen. Der gemeine Wert des Grundstücks soll 200 betragen, der des erhaltenen ebenfalls. Was hat er aufgewendet?

Aufgewendet – in Geld – hat er den ursprünglichen Betrag von 100. Aus seinem Vermögen gibt er aber einen Wert hin. Wie wird dieser Wert zu Aufwand? 74

Gewinnrealisierung – Rechtsgrundlagen, Grundtatbestände und Prinzipien im Rahmen des Betriebsvermögensvergleichs nach § 1 Abs. 1 EStG, in: Ruppe, Gewinnrealisierung im Steuerrecht, (DStJG), Köln 1981, S. 88 f. 75 § 6 Abs. 1 Nr. 1 S. 3 EStG, Winkeljohann, HHR § 6 Rn. 580. 76 Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht, S. 262.

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Nun wird die Argumentation sehr feinsinnig. Knobbe-Keuk meint, beim Anschaffungsgeschäft sei der Anschaffungsaufwand anzusetzen. Sei dieser niedriger als der gemeine Wert des erhaltenen Wirtschaftsgutes, so handle es sich um einen „lucky buy“. Dieser „Mehrwert“ sei allerdings erst bei einer Realisation zu erfassen. Dies begründet jedoch nicht, dass der „Aufwand“ gleich dem „gemeinen Wert“ sei. Weiter weist sie darauf hin, dass bei einem Kauf auch keine „Bewertung des Vermögenszuwachses veranstaltet“ würde. Dies begründet aber ebenfalls nicht die Gleichsetzung von Aufwand und gemeinem Wert. Bei einem Kauf gibt es einen Preis als Geldbetrag. Dieser bestimmt die Anschaffungskosten, so dass der Anschaffungsvorgang ergebnisneutral ist. Beim Tausch soll die Anschaffung eben nicht ergebnisneutral sein. Die Zerlegung des Tauschs in mehrere Rechtsgeschäfte – Verkauf gegen Geld, Kauf gegen Geld und anschließender Aufrechnung – entspricht nicht der Realität. Wassermeyer77 löst dieses Problem dadurch, dass er § 8 EStG analog anwendet und den allgemeinen Rechtssatz daraus herleitet, dass Aufwand alle Güter seien, die in Geld oder Geldeswert bestehen, wobei nach § 8 Abs. 2 EStG der Geldeswert sich nach dem gemeinen Wert richte. Abgesehen davon, dass die Anwendung von § 8 im Rahmen der Gewinneinkünfte mehr als zweifelhaft ist,78 ist eine Übertragung auf den Aufwandsbegriff kaum möglich. Man könnte eine Lösung darin suchen, ob es bei einer Bewertung mit Buchwert oder gemeinem Wert des hingegebenen Gegenstandes, ggf. bei Zuzahlungen, eine Gefährdung der steuerlichen Erfassung der stillen Reserve geben würde. Dann wäre der Tausch wie die Entnahme als ultima ratio für deren Erfassung zu deuten. Spielt man alle denkbaren Fälle durch, so ergibt sich, dass es sowohl bei Ansatz des Buchwertes als auch des gemeinen Wertes des hingegebenen Gegenstandes keine untergehenden stillen Reserven gibt. Damit lässt sich aus dem System der Einkünfteermittlung durch Betriebsvermögensvergleich keine zwingende Lösung ableiten. Somit ist die gesetzliche Lösung des § 6 Abs. 6 EStG nicht systematisch gefordert. Sie ist wohl nur mit der „vorgezogenen“ Realisierung fiskalisch verständlich. V. Tausch von Anteilen in der Gesetzgebung Bereits in den Entscheidungen des RFH bildeten die Einbringungsfälle eine Ausnahme. Im Folgenden werden nur die Fälle des sog. Anteilstausches betrachtet, bei dem Anteile an einer Kapitalgesellschaft gegen solche an einer anderen Kapitalgesellschaft getauscht werden. Die Umwandlungssteuergesetze von 193479 und von 195780 hatten nur sehr eingeschränkte Anwendungsbereiche und enthielten keine Vorschriften den Anteils77

DStJG 1984, S. 173 f. Vgl. Kister, HHR § 8 EStG Rn. 5, a.A. Wassermeyer, ebenda. 79 RGBl I 1934, 572. 80 Gesetz über Steuererleichterungen bei der Umwandlung von Kapitalgesellschaften und bergrechtlichen Gewerkschaften v. 11. 10. 1957, BGBl I 1957, 1713. 78

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tausch betreffend. Das UmwStG 196981 enthielt in § 17 erstmals eine Regelung, die ins UmwStG 197782 als § 20 Abs. 6 ohne Änderung übernommen wurde. Danach fanden die Regelungen über die Einbringung von Betrieben, Teilbetrieben und Mitunternehmeranteilen in eine Kapitalgesellschaft (§ 20 Abs. 1 – 5 UmwStG 1977) entsprechende Anwendung für die Einbringung der Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft in eine andere Kapitalgesellschaft, „wenn die Beteiligung das gesamte Nennkapital der Gesellschaft … umfasst“. Hintergrund war, dass durch das StÄndG 196583 in § 16 EStG die Veräußerung einer hundertprozentigen Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft der Veräußerung eines Teilbetriebes gleichgestellt wurde. Folgerichtig stellte das UmwStG 1969 die Einbringung einer 100 % Beteiligung an der Kapitalgesellschaft A gegen neue Anteile in die Kapitalgesellschaft B der Teilbetriebseinbringung gleich. Im Ergebnis wird B alleinige Gesellschafterin von A und der vormalige alleinige Gesellschafter von A nunmehr an B beteiligt, wobei er keine 100 %Beteiligung mehr besitzt, es sei denn, er war bereits Alleingesellschafter von B. Geschah dies zu Werten unterhalb des Teilwertes, so blieben diese Anteile als einbringungsgeborene Anteile weiterhin steuerverhaftet. Zugleich erlaubte der Gesetzgeber84, dass neben „neuen“ Anteilen dem Einbringenden andere Wirtschaftsgüter, dazu gehören auch „alte“ Anteile, gewährt werden. Begründet wurde dies mit der Bezugnahme auf ein Urteil des BFH85. Der BFH hatte die Einbringung einer Personengesellschaft in eine Kapitalgesellschaft zu Buchwerten ermöglicht, obwohl nur ein Teil des Eigenkapitals der Personengesellschaft zu Stammkapital der Kapitalgesellschaft wurde und im Übrigen zugunsten der einbringenden Gesellschafter Darlehen begründet wurden. Ein Ausschluss der Gewährung anderer Wirtschaftsgüter würde bei Einbringungen „wirtschaftlich nicht gerechtfertigte Einengungen der Bewegungsfreiheit“ bedeuten. Dem hat sich der Gesetzgeber angeschlossen. Diesem Ziel entspricht es, wenn das UmwStG 199486 in § 20 Abs. 1 S. 2 auf eine Einbringung einer 100 % Beteiligung verzichtet und erlaubt, dass nach der Einbringung die Kapitalgesellschaft, in die die Anteile eingebracht werden, lediglich die Mehrheit der Stimmrechte an der eingebrachten Gesellschaft besitzt. Ebenfalls galt die Regelung hinsichtlich der einbringungsgeborenen Anteile fort (§ 21 UmwStG 1994). Wie zuvor konnten neben neuen Anteilen auch sonstige Wirtschaftsgüter als Gegenleistung gewährt werden. Dies galt sogar für „Extremfälle“, in denen nur eine Aktie eingebracht wurde und daneben eine zusätzliche Auszahlung in Höhe des

81 Gesetz über steuerliche Maßnahmen bei Änderung der Unternehmensform v. 14. 8. 1969, BGBl I 1969, 1163. 82 6. 9. 1976, BGBl I 1976, 2641. 83 14. 5. 1965, BGBl I 1965, 217. 84 BT-Drs. V/3186 S. 15. 85 13. 7. 1965 – I 167/59 U, BStBl III 1965, 640; welches sich übrigens auf das Tauschgutachten beruft. 86 BGBl I 1994, 3267.

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gemeinen Wertes erfolgte.87 Übersteigt der Wert der zusätzlichen Wirtschaftsgüter, zu denen vor allem auch die Übernahme von Verbindlichkeiten gehören, den Buchwert der eingebrachten Anteile, so muss der gemeine Wert der zusätzlichen Leistung angesetzt werden. Wurde durch den Anteilstausch nicht eine Mehrheit an den Stimmrechten begründet, so konnte eine Buchwerteinbringung dennoch erfolgen, wenn die Voraussetzungen des Tauschgutachtens erfüllt waren.88 Während des Gesetzgebungsverfahrens war allerdings vorgeschlagen worden, die Zuzahlungen auf 10 v.H. zu begrenzen.89 Verwirklicht wurde – vermutlich mit Blick auf Art. 2 Fusionsrichtlinie – dies jedoch nur in § 23 Abs. 4 S. 3 UmwStG 1995. Auch die Neuregelung in § 21 UmwStG 2006 folgt der bisherigen Rechtslage im Prinzip. Weiterhin ist eine mehrheitsvermittelnde Einbringung erforderlich. Allerdings ist der Aufbau des Gesetzes ein anderer. Zunächst enthält § 21 Abs. 1 S. 1 UmwStG 2006 die grundsätzliche, § 6 Abs. 6 EStG entsprechende Regelung, dass die Einbringung zum gemeinen Wert zu erfolgen hat. § 21 Abs. 1 S. 2 UmwStG 2006 lässt dann als Ausnahme die Buchwert- oder Zwischenwerteinbringung bei sog. qualifiziertem Anteilstausch zu. Auf die internationalen und europarechtlichen Implikationen kommt es hier nur insofern an, dass als weitere Voraussetzung eine Besteuerung der stillen Reserven sichergestellt wird. Bemerkenswert ist jedoch, dass der Regierungsentwurf90 den Anteilstausch unter dem Teilwert nur zulassen wollte, „soweit keine andere (als neue Gesellschaftsanteile) Gegenleistung gewährt wird“. Aufgrund des Berichtes des Finanzausschusses91 wurde die Möglichkeit der Gewährung anderer Wirtschaftsgüter eingefügt. Als Begründung92 wurde nur vorgebracht, dass damit die vorherige Rechtslage beibehalten werden sollte. VI. Fazit Als Ergebnis kann man nur der eingangs zitierten Feststellung Wassermeyers zustimmen. Zwar hat der Gesetzgeber den Tausch inzwischen in mehreren Paragraphen geregelt. Aber weder für § 6 Abs. 6 EStG, noch für § 6b EStG oder § 21 UmwStG lassen sich rechtssystematisch überzeugende Begründungen erkennen. Einerseits wird eine strenge, nicht notwendige Grundregel aufgestellt, die sogleich durch weitgehende Ausnahmen durchlöchert wird. Wäre es nicht ein Beitrag zur Vereinfachung, wenn die Buchwertübertragung die Regel wäre und missbräuchliche Gestaltungen, sofern es solche geben sollte, als Ausnahme behandelt werden, solange die spätere Besteuerung der stillen Reserven sichergestellt ist? Außerdem sollte darüber 87 Haritz/Benkert, UmwStG, 3. Aufl, § 20 Rn. 146; s. auch Widmann, in: Widmann/Mayer, § 20 Rn. 471. 88 Sagasser/Bula, Umwandlungen D 10, jedenfalls bis zum StEntLG 1999/2000/2002. 89 BT-Drs. 12/7263, Anlage 2 Rn. 8. 90 BT-Drs. 16/2710 S. 17, 43. 91 BT-Drs. 16/3315 S. 40, 16/3369 S. 11. 92 BT-Drs. 16/3369 S. 11.

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nachgedacht werden, die Zuzahlungen zu begrenzen, um die Abgrenzung eines Verkaufs von einem Tausch zu ermöglichen.

Die Selbstanzeige im Steuerstrafrecht – Eine Problemskizze Von Anke Morsch, Saarbrücken I. Einführung Wir haben uns zwischenzeitlich daran gewöhnt, dass das Thema „Selbstanzeige im Steuerstrafrecht“ Schlagzeilen in der Tagespresse macht. Ganz offensichtlich ist das Steuerstrafrecht endgültig im „richtigen“ Strafrecht angekommen.1 Dazu beigetragen haben sicher eine Welle von Selbstanzeigen und die zum Teil horrenden Beträge, um die es dabei geht. Die Welle wurde ausgelöst durch die Diskussion um Schwarzgeldkonten im Ausland und den – seinerseits durchaus kontrovers diskutierten – staatlichen Ankauf gestohlener Bankdaten.2 Die Welle scheint unaufhaltsam anzusteigen. In Nordrhein-Westfalen hat sich die Zahl der Selbstanzeigen mit Bezug zur Schweiz von 562 zu Beginn des Jahres 2010 auf 19.037 im Dezember 2014 erhöht.3 Und der Wellenkamm scheint immer noch nicht erreicht zu sein: Allein im ersten Quartal 2014 sind dreimal so viele Selbstanzeigen bei den Finanzämtern eingegangen wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres.4 Spätestens seit bekannt geworden ist, dass sich unter den Anzeigern Prominente wie Alice Schwarzer oder Uli Hoeneß befunden haben, erleben wir eine breite öffentliche Debatte über Steuerehrlichkeit. Sicher: Wogen öffentlicher Empörung über fehlende Steuermoral gab es schon immer. Hinter dieser Empörung verbirgt sich freilich ein sehr ambivalentes Verhältnis zur Steuerehrlichkeit. (Bereits) 1960 wird von einer Umfrage berichtet, nach der hierzulande immerhin 43 Prozent der Befragten Steuerhinterziehung eher als raffiniertes Geschäftsgebaren begriffen haben.5 Zu der These, Steuerhinterziehung gehöre zu der „normalen“ Klaviatur des „homo oeco1

Vgl. auch Prantl, Heribert, Preiserhöhung in der Waschanlage, Süddeutsche Zeitung vom 29./30. 5. 2010, S. 4. 2 Dazu Wendt, Rudolf, Die rechtliche Problematik der Beschaffung steuerlich relevanter Informationen gegen Bezahlung, DStZ 1998, S. 145; Kühne, Hans-Heiner, Strafrechtliche und moralische Fragen beim staatlichen Ankauf von illegal erlangten Bankdaten, GA 2010, S. 275. Vgl. auch VGH Rheinland-Pfalz, NJW 2014, 1434. 3 http://www.fm.nrw.de/presse/anlagen/Selbstanz_Aug2014_tab.pdf. 4 http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/steuersuender-regeln-fuer-selbstan zeige-sollen-verschaerft-werden-12734163.html. 5 Schmölders, Franz Hermann Günter, Das Irrationale in der öffentlichen Finanzwirtschaft, 1960, S. 106, zitiert nach: Tipke, Klaus, Die Steuerrechtsordnung, Band III, Köln 1993, S. 1410.

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nomicus“6, passen Schätzungen, wonach (möglicherweise) 90 Prozent der Bundesbürger „Steuerhinterzieher“ seien.7 Als Ursachen werden die Kompliziertheit und die Komplexität des Steuerrechts, zu hohe Steuersätze, eine zu geringe Kontrolldichte und ein verschwenderischer Umgang des Staates mit Steuergeldern ausgemacht.8 Angesichts dieser Analyse kann es nicht verwundern, dass – bis dato – der mit einer bekanntgewordenen Steuerhinterziehung verbundene soziale Makel eher gering war. Die jüngsten Reaktionen auf öffentlich bekannt gewordene Fälle von Auslandskonten fallen allerdings, wenn man die Presse verfolgt,9 deutlich „moralisierender“ aus. Dies zeigt auch der Umstand, dass sich anlässlich der Causa „Hoeneß“ sogar der Bundespräsident zu Wort gemeldet hat und in ungewöhnlich scharfer Form Steuerhinterzieher als „verantwortungslos oder gar asozial“ handelnd getadelt hat.10 Die öffentliche Meinung scheint im Wandel begriffen zu sein. Zumindest jenseits bestimmter Grenzen reagiert die Bevölkerung zwischenzeitlich mit einer gewissen Fassungslosigkeit.11 Gerichte und Gesetzgeber haben hierauf prompt reagiert: Der 1. Strafsenat des BGH hat sich dabei mit seiner Entscheidung vom 20. 5. 201012 rechtspolitisch zum Taktgeber aufgeschwungen. Er hat eine Neugewichtung des Zwecks der Regelung vorgenommen, indem er den Anwendungsbereich des § 371 AO zurückgeschnitten und die Möglichkeit der teilweisen (strafbefreienden) Selbstanzeige13 verworfen hat. Der Täter müsse „reinen Tisch machen“, so lautete die plakative Forderung des BGH.14 Die Feinabstimmung überließ der Senat dem Gesetzgeber: Mit dem Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung von Geldwäsche und Steuerhinterziehung (Schwarzgeldbekämpfungsgesetz)15 wurde die Linie des 1. Strafsenats gesetzlich 6

So Tipke, Klaus, a. a. O., S. 1406. Schmoeckel, Mathias, Die strafbefreiende Selbstanzeige: Missverständnisse aus der historischen Perspektive, StuW 2014, S. 67. 8 Vgl. Tipke, Klaus, a. a. O., S. 1405 ff. 9 Der Spiegel, Nr. 12/2014, S. 106; http://www.bild.de/sport/fussball/uli-hoeness/serie-so-zock te-er-sich-in-den-knast-35109640.bild.html; http://www.welt.de/vermischtes/article128742995/ Wofuer-es-gut-ist-dass-Hoeness-im-Gefaengnis-sitzt.html. 10 http://www.spiegel.de/politik/deutschland/gauck-bezeichnet-steuerhinterzieher-als-asozi al-a-897558.html. 11 Vgl. etwa Jahn, Joachim, http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/recht-steuern/steuerhinter ziehung-volkssport-mogeln-12793123.html. 12 BGHSt 55, 180. 13 Die bisherige Rechtsprechung ließ ganz überwiegend eine beschränkte Selbstanzeige zu (vgl. z. B. BGH NStZ 1999, 38). 14 Zur Kritik an der Entscheidung Schünemann, Bernd, Rechtsstaatsschwindsucht im Steuerstrafrecht und Steuerstrafverfahren, in: Livonius, Barbara u.a (Hrsg.), Strafverteidigung im Wirtschaftsleben, Festgabe für Hanns W. Feigen, Köln 2014, S. 263, 277. 15 Gesetz vom 28. 4. 2011, BGBl. I, 676, in Kraft getreten am 3. 5. 2011. Begleitet wird diese Neuregelung durch eine komplizierte Übergangsregelung in § 24 EGAO. Dazu Rüping, 7

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nachgezeichnet und zusätzlich der Umfang der nachzuerklärenden Taten auf die vollständige Berichtigung sämtlicher unverjährter Steuerstraftaten einer Steuerart ausgedehnt.16 Mit der Bekanntgabe der Prüfungsanordnung (§ 371 Abs. 2 Nr. 1 AO) sowie der Einführung des Grenzwerts von 50.000 Euro (§ 371 Abs. 2 Nr. 3 AO)17 hatte der Gesetzgeber weitere Sperrgründe normiert. Der Sperrgrund des § 371 Abs. 2 Nr. 3 AO wurde flankiert durch die neue Bestimmung des § 398a AO, die oberhalb des Grenzwerts von 50.000 Euro ein Absehen von Verfolgung vorsah, wenn zusätzlich zu den hinterzogenen Steuern ein „Strafzuschlag“ in Höhe von 5 Prozent der hinterzogenen Steuern entrichtet wird. Die Diskussion war und ist mit dieser Neuregelung aus den Jahr 2011 freilich nicht zur Ruhe gekommen.18 Und während die einen eine Rückkehr zu der früheren Regelung forder(te)n19 oder eine Ausdehnung der Regelung des § 371 AO auf weitere Vermögenstraftaten bei vergleichbaren Umkehrhandlungen20, beklag(t)en die anderen, dass der Gesetzgeber auf halbem Wege stehen geblieben sei.21 Die Palette reichte von Plänen, § 371 AO betragsmäßig (weiter) zu begrenzen, mit (weiteren) zusätzlichen Strafzuschlägen zu belegen oder die „Moralisierung“ der Vorschrift dahingehend fortzusetzen, dass mit § 371 AO eine umfassende oder möglichst weitgehende Rückkehr zur Steuerehrlichkeit ermöglicht und erwartetet wird bis hin zu der Forderung, die strafbefreiende Selbstanzeige kurzerhand abzuschaffen. Auch die jüngste Reform durch das Gesetz zur Änderung der AO und des Einführungsgesetzes zur AO vom 22. 12. 201421a hat die Debatte nicht verstummen lassen. Im Gegenteil: Das Thema der strafbefreienden Selbstanzeige ist so „lebendig“ wie nie zuvor. Die Fülle der damit zusammenhängenden Fragestellungen verlangt eigentlich nach einer umfassenderen Stellungnahme. Ich werde mich hier jedoch auf einige Schlaglichter beschränken. Mein Plädoyer, den Diskurs um die strafbefreiende Hinrich, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, Komm., Köln, § 371 AO, Rz. 14 (Stand: 3/ 2012). 16 Zur Frage der Vollständigkeit bei geringer Abweichung vgl. BGHSt 56, 298. Allerdings können auch Abweichungen unterhalb der vom BGH genannten 5-Prozent-Grenze die Versagung der Strafbefreiung rechtfertigen (dazu Oberfinanzdirektion Magdeburg vom 8. 8. 2012, S 0702 – 1-St 266, juris). 17 Zur 50.000 Euro-Grenze Jäger, Markus, in: Klein, AO, 12. Aufl., München 2014, Rz. 16, 75. 18 Zur Kritik vgl. etwa Wulf, Martin, Strafbefreiende Selbstanzeige – nach der Reform ist vor der Reform, Stbg 2014, 271. 19 In diese Richtung Kemper, Martin, Wohin mit der Selbstanzeige nach § 371 AO?, DStZ 2013, 538; s.a. Jahn, Joachim: http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspoli tik/auf-jahrestagung-steuerberater-gegen-hoehere-huerden-fuer-selbstanzeige-12627635b1.html, unter Berufung auf den Präsidenten des BFH Rudolf Mellinghoff. 20 Kaspar, Johannes, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventivstrafrecht, Baden-Baden 2014, S. 772. 21 Das politische Spektrum geben die Beschlussempfehlung und der Bericht des Finanzausschusses vom 16. 3. 2011, BT-Drucksache 17/5067, wieder. 21a BGBl. I, 2415.

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Selbstanzeige nicht auf eine isolierte Betrachtung des Steuerstrafrechts zu beschränken, sondern die Stimmigkeit des Strafrechtssystems als Ganzes im Auge zu behalten, verbinde ich mit meinen Glückwünschen für den Jubilar, dem ich mich seit Langem fachlich und persönlich verbunden fühle. II. Zum Zweck der Regelung In der bereits erwähnten Entscheidung vom 20. 5. 201022 hat der 1. Strafsenat des BGH – durchaus in Kontinuität zur früheren Rechtsprechung – auf einen doppelten Zweck der Selbstanzeige abgestellt: „Aus fiskalischen Gründen soll für den Steuerhinterzieher ein Anreiz geschaffen werden, von sich aus den Finanzbehörden bisher verheimlichte Steuerquellen durch wahrheitsgemäße Angaben zu erschließen. (…) Allein fiskalische Interessen an der Entrichtung hinterzogener Steuern können diese Privilegierung (des Steuerstraftäters gegenüber anderen Straftätern) aber schwerlich rechtfertigen. Hinzukommen muss die Rückkehr zur Steuerehrlichkeit; diese soll honoriert werden. (…).“ In eine neue Richtung bewegt er sich freilich mit seinen weiteren Ausführungen: „Im Hinblick darauf, dass der fiskalische Zweck, noch unbekannte Steuerquellen zu erschließen, angesichts der heute bestehenden Ermittlungsmöglichkeiten und der verbesserten internationalen Zusammenarbeit zunehmend an Bedeutung verloren hat, erlangt der weitere Zweck, Rückkehr zur Steuerehrlichkeit, zusätzliches Gewicht.“ § 371 AO nimmt fraglos eine Sonderstellung im Strafrechtssystem ein.23 Er gewährt als persönlicher Strafaufhebungsgrund auch dann noch Straffreiheit, wenn die Tat bereits rechtlich vollendet oder beendet ist und die finanziellen Vorteile aus ihr dem Täter in vollem Umfang zugeflossen sind. Freiwilligkeit (oder gar Reue) ist nicht erforderlich.24 Zwar stellen die Sperrgründe in § 371 Abs. 2 Nr. 1 und 2 AO „Fälle typisierter Unfreiwilligkeit“25 dar. Sie knüpfen aber überwiegend an objektive Umstände an.26 Umgekehrt verlangt die Dogmatik des Rücktritts nicht, dass der Täter von jeglichem strafbaren Vorhaben Abstand nehmen muss, son22

BGHSt 55, 180. Inzwischen gibt es allerdings mit § 266a Abs. 6 StGB und § 261 Abs. 9 StGB bei der Geldwäsche vergleichbare Regelungen. Eine strafbefreiende Selbstanzeige sieht auch § 31d Abs. 1 Satz 2 PartG vor. 24 Statt vieler: Jäger, Markus, a. a. O., Rz. 4; Rüping, Hinrich, a. a. O., Rz. 24. Hierfür spricht auch die Entstehungsgeschichte: Mit der bundeseinheitlichen Neufassung des § 410 Reichsabgabenordnung verzichtete der Gesetzgeber bewusst auf die Freiwilligkeit des Handelns, wie sie in den Vorgängerregelungen durch die Formulierung „ohne dazu durch eine unmittelbare Gefahr der Entdeckung veranlaßt zu sein“ zum Ausdruck kam. 25 Seer, Roman, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 21. Auflage, Köln 2013, S. 1277. Seer kommt daher zu dem Schluss, der sich selbst anzeigende Täter handele außerhalb des in § 371 Abs. 2 AO aufgeführten Katalogs „freiwillig“. 26 Lediglich, wenn jenseits der „verobjektivierten“ Entdeckungsgründe des § 371 Abs. 2 Nr. 1 AO die Tat bereits ganz entdeckt war, verlangt der Sperrgrund des § 371 Abs. 2 Nr. 2 AO als subjektives Element die Kenntnis oder fahrlässige Unkenntnis der Entdeckung. 23

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dern (nur) von einer ganz bestimmten Tat,27 während eine Selbstanzeige nach § 371 Abs. 1 AO nur dann strafbefreiend wirken kann, wenn sie alle unverjährten Steuerhinterziehungen einer Steuerart – also mehrere Taten – umfasst.28 Parallelen zum strafbefreienden Rücktritt oder zur tätigen Reue (§§ 24, 31, 83a, 87 Abs. 3, 98 Abs. 2, 129 Abs. 6, 139 Abs. 4, 158, 264 Abs. 5, 306e, 314a, 320, 330b StGB) lassen sich daher nicht ohne Weiteres ziehen.29 Mit ihnen kann die in § 371 vorgesehene Rechtsfolge der Straffreiheit daher nicht begründet werden.30 Machen wir uns nichts vor: Die fiskalischen Interessen sind das entscheidende Motiv der Regelung der strafbefreienden Selbstanzeige.31 Der Gesetzgeber will einen Anreiz für Erklärungen schaffen und den Steuerpflichtigen durch die Ankündigung von Straffreiheit motivieren, nachträglich seine steuerlichen Pflichten zu erfüllen und auf diese Weise dem Fiskus bisher unbekannte Steuerquellen zu erschließen.32 Dies verknüpft er mit der sicheren Gewähr der Strafbefreiung für den Fall, dass der Steuerpflichtige die gesetzlichen Voraussetzungen der Selbstanzeige erfüllt.33 Die Vorschrift sei „von dem Bestreben des Staates bestimmt (…), tunlichst in den Besitz aller ihm geschuldeten Steuern zu kommen, deren er bedarf, um seine Aufgaben zu erfüllen“.34 Die Norm trägt mithin dem Umstand Rechnung, dass Steuerstraftaten in der Regel nicht einmal für das Opfer – den Staat – ohne Weiteres erkennbar

27 Zur Problematik des Teilrücktritts z. B. Zaczyk, Rainer, in: NK-StGB, 3. Aufl., BadenBaden 2010, § 24 Rdnr. 79; vgl. auch Fischer, Thomas, Strafgesetzbuch, Kommentar, 58. Aufl. München 2011, § 24 Rz. 19b. 28 Jäger, Markus, a. a. O., Rz. 19. Verkürzt der Täter mit derselben Handlung Steuern zweier unterschiedlicher Steuerarten, soll dies laut BGH wistra 12, 191 zur Folge haben, dass die Selbstanzeige sämtliche unverjährten Steuerhinterziehungen beider Steuerarten umfasst. 29 A.A. Löffler, Christian, Grund und Grenzen der steuerstrafrechtlichen Selbstanzeige, Baden-Baden 1992, S. 104 ff. unter Rückgriff auf das Reichsgericht (etwa RGSt 57, 313; RGSt 59, 115, RGSt 61, 115) und Teile der Literatur (Schröder, Horst, Die Koordinierung der Rücktrittsvorschriften, in: Festschrift für Hellmuth Meyer, Berlin 1965, Fn 1; Becker, Enno, RAO, 5. Aufl., Berlin 1926, § 374 Anm. 2; Wagelaar, Hermann, RAO, Berlin 1949, § 410 Fn. 1; Bauerle, Gerhard, Die tätige Reue nach § 46 des Strafgesetzbuchs im Steuerstrafrecht, BB 1953, 28) gehen davon aus, die Selbstanzeige könne ohne Weiteres in die Rücktrittssystematik eingeordnet werden. 30 Dazu Löffler a. a. O., S. 103 ff. 31 So die weit überwiegende Auffassung, vgl. statt vieler: Firnhaber, Burkhard, Die strafbefreiende Selbstanzeige im Steuerrecht (§§ 410, 411 AO), Köln 1962, S. 22. Zur Fiskaltheorie auch BayObLG wistra 1985, 117; OLG Celle wistra 2000, 277; zu einer folglich restriktiven Handhabung der Sperren BGHSt 35, 36; OLG Hamburg NJW 1970, 1385 (1386), Lenckner, Theodor/Schumann, Heribert/Winkelbauer, Wolfgang, Grund und Grenzen der strafrechtlichen Selbstanzeige im Steuerrecht und das Wiederaufleben der Berichtigungsmöglichkeit im Fall der Außenprüfung, wistra 1983, S. 123; Westpfahl, Marion, Die strafbefreiende Selbstanzeige im Steuerrecht, Zum persönlichen Umfang der Sperrwirkung des § 371 Abs. 2 Nr. 1 lit. a) AO beim Erscheinen im Betrieb, München 1987, S. 39 ff. 32 Rüping, Hinrich, a. a. O., Rz. 20. 33 Kohlmann, Günter, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 371 AO (Stand: 7/2012), Rz. 12. 34 BGHSt 12, 100.

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sind und sich auch nur schwer ermitteln lassen35. Ist der Fiskus nicht (mehr) auf Informationen des Steuerpflichtigen angewiesen – bei Bekanntgabe einer Prüfungsanordnung nach § 196 AO, bei Erscheinen eines Prüfers oder bei Bekanntgabe der Einleitung eines Straf- oder Bußgeldverfahrens – , sprich: ist die Tat und der ihr zugrunde liegende steuerliche Sachverhalt entdeckt oder steht die Entdeckung (unmittelbar) bevor, ist der Weg zu einer strafbefreienden Selbstanzeige versperrt. Diesem Zweck steht nicht entgegen, dass eine drohende Entdeckung, wie gerade die jüngsten Entwicklungen im Zusammenhang mit dem Ankauf von Bankdaten belegen, die Motivation zur Erstattung einer Selbstanzeige deutlich erhöht. Auch in diesen Fällen befindet sich die Finanzverwaltung in einem Ermittlungsnotstand, der auch in der Menge der auszuwertenden Daten begründet liegt. Selbst der Umstand, dass es in Einzelfällen – etwa der Selbstanzeige des nicht an der Gesellschaft beteiligten Geschäftsführers einer GmbH36 – auch ohne Nachentrichtung einer hinterzogenen Steuer zur Straffreiheit kommen kann, widerlegt die Absicht des Gesetzgebers, mit dem Instrument der Selbstanzeige Steuerquellen zu erschließen, nicht.37 Ausdruck des Fiskalzwecks ist auch der mit dem Schwarzgeldbekämpfungsgesetz38 neu geschaffene § 398a AO. § 371 Abs. 2 Nr. 3 AO beschränkt zwar zwischenzeitlich die Möglichkeit der strafbefreiende Selbstanzeige auf Hinterziehungsbeträge bis zu 25.000 Euro. Da der Fiskus (selbstverständlich) auch in den Fällen, in denen dieser Betrag überschritten wird, an der Aufdeckung verborgener Steuerquellen interessiert und dabei nicht weniger auf die Mitwirkung des Steuerpflichtigen angewiesen ist, „rettet“ § 398a AO den Anreiz zu Selbstanzeigen, deren Hinterziehungsbeträge die Sperrgrenze des § 371 Abs. 2 Nr. 3 AO übersteigen. Ist der Steuerpflichtige bereit und in der Lage, zusätzlich zu der Nachentrichtung der zu seinen Gunsten hinterzogenen Steuern einen „Strafzuschlag“ zu zahlen, wird nach § 398a AO von der Verfolgung der Steuerstraftat abgesehen. Indem es – wenngleich auf strafprozessualem Weg – bei einer Straffreiheit geblieben ist, die aber jenseits bestimmter Grenzen „teurer“ geworden ist, hat der Gesetzgeber einen klassischen Kompromiss in der rechtspolitischen Diskussion gewählt und dabei den fiskalischen Zweck der Selbstanzeige erneut unterstrichen. Die These des 1. Strafsenats des BGH39, der fiskalische Zweck der Norm habe zwischenzeitlich an Bedeutung verloren, überzeugt daher nicht. Auch die dieser These zugrunde liegenden tatsächlichen Annahmen sind zweifelhaft: An dem Umstand, dass der Fiskus nicht einmal durch eine – verfassungsrechtlich bedenkliche 35 Kohlmann, Günter, a. a. O., Rz. 18; Franzen, Klaus, in: Franzen/Gast/Samson, Steuerstrafrecht, 3. Aufl., München 1985, § 371 Rz. 13. 36 Dazu etwa Bilsdorfer, Peter, Der Nachzahlungspflichtige bei Steuerverkürzungen, BB 1981, S. 490. 37 A.A. Helml, Sarah Regina, Die Reform der Selbstanzeige im Steuerstrafrecht, München 2013, S. 33. 38 BGBl. I 2011, 676. Vgl. zusätzlich die Korrekturen durch das Gesetz zur Änderung der AO und des Einführungsgesetzes zur AO vom 22. 12. 2014, BGBl. I, 2415. 39 BGHSt 55, 180.

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und faktisch nicht zu leistende – permanente Kontrolle aller Steuerpflichtigen in der Lage wäre, Steuerverkürzungen umfassend zu entdecken und zu verfolgen, hat sich nichts geändert. Was mit den „heute bestehenden“ – besseren? – Ermittlungsmöglichkeiten, die das Gericht anspricht, gemeint ist, bleibt ohnehin im Dunkeln. Sicher: In puncto internationaler Zusammenarbeit hat es zwischenzeitlich einige Fortschritte gegeben. Im März 2014 wurde eine erweiterte EU-Zinsrichtlinie verabschiedet und die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) plant globale Standards zum automatischen Informationsaustausch in Steuersachen; 2017 soll mit dem Austausch der Daten begonnen werden. Derzeit – und erst recht zum Zeitpunkt der Entscheidung des 1. Strafsenats des BGH – sind wir freilich noch weit von einem umfassenden internationalen Informationsaustausch entfernt, zumal dessen praktischer Nutzen weit mehr – namentlich die Schaffung von Organisationsund entsprechender technischer Strukturen – voraussetzt als die politische Vereinbarung. Man merkt der Rechtsprechung das auch ansonsten40 weit verbreitete Bemühen an, den fiskalpolitischen Zweck der Selbstanzeige mit kriminalpolitischen Erwägungen „aufzuhübschen“, vielleicht gar zu kaschieren. Dabei ist das Interesse des Staates an der Aufdeckung verborgener Steuerquellen (auch) als alleiniger Zweck einer strafbefreienden Selbstanzeige verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Es ist dem Gesetzgeber in den Grenzen des Gleichheitsgrundsatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) nicht verwehrt, Straffreiheit für bestimmte Handlungen zu gewähren, einzelne Deliktsgruppen von einer generellen Regelung auszunehmen oder für bestimmte Tatbestände eine Sonderregelung zu treffen.41 Ein Gleichheitsverstoß käme nach Ansicht des BVerfG allenfalls in Betracht, wenn ein Täter, der eine Steuerhinterziehung bereits vollendet hat, bei Selbstanzeige von Gesetzes wegen völlig sanktionsfrei bliebe, während derjenige, der bei ansonsten völlig gleichgelagertem Sachverhalt das Vorbereitungsstadium zur Zeit der Selbstanzeige nicht überschritten hat, ein Bußgeld zu gewärtigen hätte.42 Verfassungsrechtliche Bedenken hinsichtlich der fiskalisch motivierten „Sonderstellung“ der Selbstanzeige im Steuerstrafrecht hat das BVerfG nicht geäußert.43 Einer zusätzlichen kriminalpolitischen Legitimation – namentlich die vom BGH in seiner Entscheidung vom 20. 5. 201044 geforderte „Rückkehr zur Steuerehrlichkeit“ – bedarf es nicht – zumal man den Verdacht nicht los wird, dass sich hinter dem Postulat der vollständigen Steuerehrlichkeit letztlich wieder das fiskalische Interesse verbirgt.

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BGHSt 55, 180. BVerfG, 2 BvR 997/92, juris. 42 BVerfG, 2 BvR 997/92, juris. 43 Vgl. insbesondere BVerfG, Urteil vom 28. 6. 1983, 1 BvL 31/82, BVerfGE 64, 251: „Die Entscheidung des Gesetzgebers, bei anderen Vorschriften keine Möglichkeit einer Selbstanzeige zu normieren, berührt nicht die Gültigkeit einer solchen Norm im Steuerstrafrecht.“ 44 BGHSt 55, 180. 41

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III. Reformüberlegungen Gemessen an ihrem fiskalpolitischen Zweck war die strafbefreiende Selbstanzeige noch nie so „erfolgreich“ wie in jüngster Zeit.45 Im rechts- und gesellschaftspolitischen Diskurs wird dieser „Erfolg“ freilich zunehmend kritisch begleitet: Die „beispiellose rechtliche Privilegierung für Steuerbetrüger“ sei „ein Anachronismus“ und gehöre „sofort abgeschafft“,46 so lautet die weitreichendste Forderung. Eine Abschaffung – sofort oder nach einer Übergangsfrist47 – scheint einem verbreiteten Gerechtigkeitsempfinden am konsequentesten Rechnung tragen. Immerhin zeigt das beinahe durchgängige Bemühen nach einer weiteren (kriminalpolitischen) Legitimation der Selbstanzeige, dass man sich mit einer (rein) fiskalpolitischen Ausrichtung seit jeher schwer tut. Die Norm steht in gewisser Weise für eine – zumindest jenseits bestimmter Grenzen – als ungerecht empfundene Banalisierung des Steuerstrafrechts. Hier wird vor allem auf den binnensystematischen Vergleich mit dem Betrugstatbestand Bezug genommen, bei dem es bekanntlich trotz identischer Strafandrohung und weiterer Parallelen keine Möglichkeit der strafbefreienden Selbstanzeige gibt.48 In diesen Kontext ist auch die Rechtsprechung des BGH zu dem Begriff „in großem Ausmaß“ in § 370 Abs. 3 Satz 2 AO49 einzuordnen, die den Auftakt zu einem „Kriminalisierungsprozess“ durch den 1. Strafsenat im Bereich des Steuerstrafrechts bildete.50 Nun lassen sich freilich auch Unterschiede zwischen Steuerhinterziehung und Betrug ausmachen, die zumindest die „deliktsübergreifende Schadensarithmetik“51 des BGH zweifelhaft erscheinen lassen. Dennoch: Wer die Stimmigkeit des Strafrechtssystems im Ganzen in den Blick nimmt, wird unter strafrechtssystematischen Aspekten Sympathie für den Vorschlag hegen, die Selbstanzeige im Steuerstrafrecht komplett abzuschaffen.52 Dabei könnte einiges dafür sprechen, die Regelung(en) zeitlich – dies in Anlehnung an den Amnestiegedanken53 – bis zum Inkrafttreten der erweiterten EU-Zinsrichtlinie zu befristen, in der Erwartung, dass durch globale Standards zum automatischen Informationsaustausch in Steuersachen auch der Ermittlungsnot45

Vgl. DER SPIEGEL 29/2014, S. 65: „Boom bei Selbstanzeigen“. So der Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE, Gregor Gysi; vgl. http://www.linksfraktion. de/pressemitteilungen/strafbefreiende-selbstanzeige-steuerbetrueger-sofort-abschaffen/. 47 So ursprünglich ein Vorhaben der SPD; vgl. http://www.zeit.de/politik/deutschland/ 2013 – 04/wahlkampf-steuern-selbstanzeige. 48 Gegen eine Vergleichbarkeit Schünemann, Bernd, a. a. O., S. 263. 49 BGHSt 53, 71. 50 Dazu Jung, Heike, Zur Strafzumessung in Steuerstrafsachen, in: Joecks Wolfgang u. a. (Hrsg.), Recht-Wirtschaft-Strafe, Festschrift für Erich Samson zum 70. Geburtstag, Karlsruhe 2011, S. 55. 51 Jung, Heike, a. a. O., S. 55, 62. 52 Als „grotesk unsinnig“ wird dieser Vorschlag dagegen von Wulf bezeichnet. Vgl. Wulf, Martin, a. a. O., S. 271. 53 Zu den Parallelen zwischen Selbstanzeige und Steueramnestien Tipke, Klaus, a. a. O., S. 1439. 46

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stand des Staates in einer Vielzahl von Fällen merklich reduziert wird und damit dem fiskalischen Zweck nicht mehr die bisherige Bedeutung zukommt. Im Vergleich zu einem sofortigen Wegfall könnte hierfür auch der Aspekt des rechtsstaatlichen Vertrauensschutzes streiten. Sonstige verfassungsrechtliche Vorgaben stehen einem Wegfall der Norm(en) des § 371 AO (und § 398a AO) nicht entgegen. Aus der mit der Komplexität des Steuerrechts einhergehenden Gefahr der (vorsatzlosen) Verwirklichung des objektiven Tatbestands der Steuerhinterziehung abzuleiten, die Selbstanzeige sei als Korrektiv aus rechtsstaatlichen Gründen erforderlich,54 geht sicher zu weit. Das Institut der strafbefreienden Selbstanzeige ist auch nicht im Hinblick auf das Selbstbelastungsverbot (nemo tenetur se ipsum accusare) verfassungsrechtlich geboten.55 Zwar kann sich aufgrund der pönalisierten Erklärungs- und Berichtigungspflichten ein Steuerpflichtiger, der in einer früheren Erklärung falsche oder unvollständige Angaben gemacht hat, in einer Zwangslage befinden. Erklärt oder berichtigt er die Angaben, läuft er Gefahr, eine vorangegangene Steuerhinterziehung aufzudecken. Aus dieser Zwangslage muss der Betroffene befreit werden.56 Liegen die Voraussetzungen des § 371 AO vor, wird nach allgemeiner Meinung bereits das Vorliegen einer Zwangslage verneint.57 In allen anderen Fällen, etwa wenn der Steuerpflichtige nicht in der Lage ist, die verkürzte Steuer zu entrichten oder wenn einer der Sperrgründe in § 371 Abs. 2 AO eingreift, besteht sie fort.58 Ob im Hinblick auf den Sperrgrund des § 371 Abs. 2 Nr. 3 AO die Regelung des § 398a AO geeignet ist, die Zwangslage aufzulösen, erscheint zumindest zweifelhaft.59 Geht man vom Fortbestehen strafbewehrter Erklärungspflichten aus, kann und muss60 der Schutz vor Selbstbelastung insoweit ohnehin – auch de lege lata – über ein strafrechtliches Verwertungsverbot erfolgen.61 Einer Abschaffung der strafbefreienden Selbstanzeige stehen damit keine rechtlichen, sondern ausschließlich fiskalische und verwaltungsökonomische Erwägungen entgegen. In der Tat wäre die Finanzverwaltung voraussichtlich auch in den Fäl54

Wulf, Martin, a. a. O., S. 271, 274. So aber die plakative Behauptung von Wissing, Volker, Die Selbstanzeige abschaffen? Pro & Contra, DRiZ 2013, S. 206 f. Vgl. zu dieser Frage auch Stahl, Rudolf, Zum Verfassungsrang der Selbstanzeige, in: Carlé, Dieter u. a. (Hrsg.), Gestaltung und Abwehr im Steuerrecht, Festschrift für Klaus Korn zum 65. Geburtstag, Bonn/Berlin 2005, S. 757 ff. 56 Streit besteht allerdings über die zutreffende Lösung, vgl. Hellmann, Uwe, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 393 AO (Stand: 9/2014), Rz. 29. 57 Hellmann, Uwe, a. a. O., Rz. 27 unter Verweis auf BVerfG wistra 1988, 302 f.; einschränkend Joecks, Wolfgang, a. a. O., § 393 AO, Rz. 39. 58 Zur Geltung des nemo-tenetur-Grundsatzes in diesen Fällen Hellmann, Uwe, a. a. O., Rz. 28. 59 Näher zu § 398a AO unten. 60 BVerfG wistra 1988, 302. 61 Hellmann, Uwe, a. a. O., Rz. 30, Hilgers-Klautzsch, Brigitte, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 393 AO, Rz. 109; Joecks, Wolfgang, Der nemo-tenetur-Grundsatz und das Steuerstrafrecht, in: Hirsch, Hans Joachim u. a. (Hrsg.), Festschrift für Günter Kohlmann, Köln, 2003, S. 451, 462. 55

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len, in denen sie die Steuerquellen kennt oder ermitteln kann, ohne die „Mithilfe“ des Steuerpflichtigen mit beträchtlicher Mehrarbeit belastet. Selbstanzeigen, bei denen die Einkünfteermittlung nebst Dokumentation mehrere Aktenordner füllen, sind keine Seltenheit. Die Kehrseite gilt es freilich auch zu bedenken: Die Hürden für eine wirksame Selbstanzeige sind zwischenzeitlich so hoch, dass sie von den Betroffenen im Regelfall nicht ohne (teure) professionelle Hilfe überwunden werden können. Hängt aber die Straffreiheit im Ergebnis davon ab, ob man den richtigen Berater gewählt hat oder etwaige Fehler auch von der Finanzverwaltung nicht bemerkt werden (können), tut dies der Gerechtigkeit nicht gut. Dennoch: Die Argumente gegen die Abschaffung der Selbstanzeige haben Wirkung gezeigt. Als politischer Kompromiss wurde die Möglichkeit der strafbefreienden Selbstanzeige zwar beibehalten, zugleich aber auf dem mit dem Schwarzgeldbekämpfungsgesetz eingeschlagenen Weg fortgefahren und die Regelungen der §§ 371, 398a AO62 weiter zurückgeschnitten. Konkret: Der Berichtigungszeitraum wurde auf zehn Jahre ausgeweitet (§ 371 Abs. 1 Satz 2 AO). Zusätzliche Voraussetzung für den Eintritt der Straffreiheit ist neben der Entrichtung der hinterzogenen Steuern auch die Zahlung der Hinterziehungszinsen (§ 371 Abs. 3 AO). Zudem wurden die Sperrgründe für die Wirksamkeit einer Selbstanzeige durch eine Halbierung des Betrags, bis zu dem eine strafbefreiende Selbstanzeige möglich ist, verschärft (§ 371 Abs. 2 Nr. 3 AO). Gleichzeitig hat der Gesetzgeber den „Strafzuschlag“ in § 398a AO drastisch erhöht – für Beträge bis 100.000 Euro auf 10 Prozent des hinterzogenen Betrags, über 100.000 Euro bis 1.000.000 Euro auf 15 Prozent und darüber sogar auf 20 Prozent. Flankiert werden die Verschärfungen unter anderem mit einer Anlaufhemmung bei ausländischen Kapitalerträgen. Eine derartige Lösung mag den gesellschaftspolitischen Diskurs – der sich ohnehin weitgehend auf Kapitalanlagen im Ausland zu reduzieren scheint – vielleicht am ehesten widerspiegeln: Der Grad der öffentlichen Empörung über Steuerhinterziehung hängt nämlich ganz entscheidend von den Summen ab, um die es geht. Wobei man bisweilen den Eindruck gewinnt, entscheidender als die hinterzogenen Steuern sei hierfür die Höhe des dort angelegten Vermögens. Freilich: Eine „echte“ Bagatellgrenze hat der Gesetzgeber nicht geschaffen, daran ändern auch die Regelungsvorschläge aus dem Bundesfinanzministerium nichts. Denn auch in gravierenderen Fällen verbleibt durch den als Auffanglösung geschaffenen § 398a AO die Möglichkeit der Straffreiheit durch ein zwingendes „Absehen von Strafe“. Allerdings, und darum schien und scheint es dem Gesetzgeber vorrangig zu gehen, der „Preis“ für die Straffreiheit ist beachtlich gestiegen.63 62 Vgl. das Gesetz zur Änderung der AO und des Einführungsgesetzes zur AO vom 22. 12. 2014, BGBl. I, 2415. Zu den zahlreichen Problemen, die bereits jetzt mit den Vorschriften verbunden sind, siehe exemplarisch Mack, Alexandra, Kritische Stellungnahme zu den geplanten Einschränkungen der Selbstanzeige im Schwarzgeldbekämpfungsgesetz, Stbg 11, S. 162 ff.; Spatscheck, Rainer, Fallstricke der Selbstanzeige, DB 2013, S. 1073 ff.; Wulf, Martin, a. a. O., S. 271. 63 Schünemann, Bernd, a. a. O., S. 269 spricht deshalb von einer „Mogelpackung“.

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§ 398a AO ist und bleibt damit der neuralgische Punkt auch der neuerlichen Reform. Die Vorschrift korrespondiert mit dem Sperrgrund des § 371 Abs. 2 Nr. 3 AO und sieht ein zwingendes strafprozessuales Verfolgungsverbot zugunsten desjenigen vor, der sich wegen einer Steuerhinterziehung selbst angezeigt und die zu seinen Gunsten hinterzogenen Steuern nebst Hinterziehungszinsen zuzüglich des in der Höhe gestaffelten Zuschlags nachentrichtet hat. Anders als § 153a StPO, der § 398a AO ausweislich der Gesetzesbegründung64 nachempfunden ist, ist das Ermittlungsverfahren für die unter § 371 Abs. 2 Nr. 3 AO fallenden materiell-rechtlichen Taten bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 398a AO zwingend einzustellen. Eine Zustimmung des Gerichts ist nicht erforderlich. Interessant ist die Frage nach der Rechtsnatur der Zuschläge, die § 398a AO vorsieht: Auch wenn unser nationaler Gesetzgeber die Zuschläge nicht als „Strafen“, sondern als reine Verwaltungszuschläge ausgestaltet hat, spricht viel dafür, dass sie dem Anwendungsbereich des Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) unterfallen.65 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte folgt bei der Kategorisierung von Sanktionen anhand der Begriffe „criminal charge“ oder „accusation en matière pénale“ bekanntermaßen einer eher „wirkungsorientierten Betrachtung“66, die sich von den Begrifflichkeiten der nationalen Rechtssysteme bewusst löst. Unterfällt eine Sanktion nicht bereits nach nationalem Recht dem Kriminalstrafrecht, ist Art. 6 EMRK dennoch anwendbar, wenn sich der Strafcharakter aus der Natur des Vergehens oder dem Schweregrad und Natur der Sanktion ergibt.67 Geht von einer abstrakt-generellen Sanktionsnorm eine repressive und punitive Wirkung aus oder ergibt sich der punitive Charakter einer Sanktion aus ihrer möglichen Höhe, ist Art. 6 EMRK anwendbar.68 Danach können Steuerzuschläge – jedenfalls ab einer gewissen Höhe – durchaus Art. 6 EMRK unterfallen. Während der EGMR in früheren Entscheidungen den Strafcharakter zumindest dann bejahte, wenn die Zuschläge an ein schuldhaftes Verhalten anknüpfen und ihr Zweck sowohl Bestrafung als auch Abschreckung sei,69 bejaht er in der Entscheidung Västberga Taxi Aktiebolag and Vulvic v. Schweden – es ging um Steuerzuschläge in Höhe von 10, 20 und 40 Prozent des Steuerbetrages – den Geltungsbereich von Art. 6 EMRK, obwohl die Zuschläge ausschließlich an einen 64

BT-Drs. 17/5067, S. 20. Allgemein zu den Kriterien Morsch, Anke, Die Verfahrensgarantien des Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention und das deutsche Steuerrecht, in: Müller-Dietz, Heinz u.a (Hrsg.), Festschrift für Heike Jung, Baden-Baden 2007, S. 601, 606 ff. 66 Vgl. Jung, Heike, Was ist Strafe?, Baden-Baden 2002, S. 15. 67 Grundlegend: EGMR, 8. 6. 1976, Nr. 5100/71 (Engel and others v. The Netherlands), Rz. 80 ff.; aus jüngerer Zeit EGMR, 23. 11. 2006 (GK), Nr. 73053/01 (Jussila v. Finnland), Rz. 30 f. 68 EGMR, 28. 6. 1984, Nr. 7819/77 (Campell and Fell v. United Kingdom), Rz. 72; EGMR, 21. 2. 1984, Nr. 8544/79 (Öztürk v. Germany), Rz. 50. 69 Frowein, Wolfgang, in: Frowein, Wolfgang/Peukert, Jochen Abraham, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK-Kommentar, 3. Aufl., Kehl u. a. 2009, Art. 6 Rn. 34. 65

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objektiven Verstoß anknüpfen.70 Entscheidend sei, so der Gerichtshof, dass die Strafaufschläge nicht (ausschließlich) dem Schadensausgleich dienen, mithin abschreckend und punitiv wirken, eine beträchtliche, nach oben hin nicht begrenzte Höhe erreichen können und sich damit für den Betroffenen in gleicher Weise auswirken wie eine strafrechtliche Verurteilung. Es spricht danach viel dafür, dass jedenfalls mit der Anhebung der Zuschläge § 398a AO in den Anwendungsbereich von Art. 6 EMRK „hineingewachsen“ ist.71 Der Umstand, dass der Steuerpflichtige „selbst“ entscheiden kann, ob er die Möglichkeit der Straffreiheit nach § 398a AO durch Zahlung des jeweiligen Zuschlags zum Hinterziehungsbetrag nutzt, steht nach der Rechtsprechung des EGMR dem Strafcharakter nicht entgegen.72 Unterfallen die in § 398a AO vorgesehenen Zuschläge mithin dem Anwendungsbereich von Art. 6 EMRK, sind die dort genannten Verfahrensgarantien zu beachten. Hierzu gehört auch die Möglichkeit einer vollständigen gerichtlichen Kontrolle.73 De lege lata fehlt eine solche: § 398a AO sieht ein reines Verwaltungsverfahren vor, eine Rechtsschutzmöglichkeit ist nicht ausdrücklich normiert. Im Schrifttum wird deshalb teilweise auf § 23 EGGVG verwiesen74, überwiegend aber auf eine Analogie zu § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO rekurriert75. Beides vermag allerdings nicht restlos zu überzeugen: Es handelt sich bei dem Strafzuschlag nicht um einen Justizverwaltungsakt im Sinne von § 23 EGGVG.76 Ob eine Analogie zu § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO trägt, erscheint – trotz des weiten Anwendungsbereichs von § 98 Abs. 2

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EGMR, 23. 7. 2002, Nr. 36985/97 (Västberga Taxi Aktiebolag and Vulvic v. Schweden). Wenig überzeugend erscheint die Argumentation von Rüping, Hinrich, a. a. O., § 398a AO (Stand: 9/2014), Rz. 13, wonach der Zuschlag trotz seiner generalpräventiven Wirkungen keine Strafsanktion sein könne, da er sonst vom Richter verhängt werden müsste. 72 EGMR, 27. 2. 1980, Nr. 6903/75 (Deweer v. Belgium). Man wird ohnehin im Schlagschatten einer konkret drohenden Strafverfolgung nicht von echter „Freiwilligkeit“ im Sinne einer freien Willensentscheidung sprechen können; vgl. dazu Morsch, Anke, Mediation statt Strafe, Köln u. a. 2003, S. 148 ff. Anders aber im Hinblick auf § 398a AO Schauf, Jörg, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 398a AO (Stand: 8/2014), Rz. 9, der den Strafcharakter unter Hinweis auf die „Freiwilligkeit“ der Zahlung ablehnt; ferner Jäger, Markus, a. a. O., Rz. 2. Zu der vergleichbaren Situation des § 153a StPO Britz, Guido/Jung, Heike, Anmerkungen zur „Flexibilisierung“ des Katalogs von § 153a Abs. 1 StPO, in: Eser, Albin u. a. (Hrsg.), Strafverfahrensrecht in Theorie und Praxis. Festschrift für Lutz Meyer-Goßner, München 2001, S. 313, 316. 73 EGMR, 23. 7. 2002, Nr. 36985/97 (Västberga Taxi Aktiebolag and Vulvic v. Schweden), Rz. 93, 23. 7. 2002, Nr. 34619/97 (Janosevic v. Schweden), Rz. 81; 17. 4. 2012, Nr. 21539/07 (Steininger v. Austria), Rz. 55. 74 Wulf, Martin/Kamps, Heinz-Willi, Berichtigung von Steuererklärungen und strafbefreiende Selbstanzeige im Unternehmen nach der Reform des § 371 AO, DB 2011, S. 1711, 1716. 75 Rüping, Hinrich, a. a. O., § 398a AO, Rz. 16; Hunsmann, Daniel, NZWiSt 2012, 102, 103 f.; Schauf, Jörg, a. a. O., Rz. 16; Jäger, Markus, a. a. O., Rz. 32. 76 Ebenso Schauf, Jörg, a. a. O., Rz. 17. 71

Die Selbstanzeige im Steuerstrafrecht – Eine Problemskizze

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Satz 2 StPO77 – im Hinblick auf die mit § 98 StPO nicht vergleichbare Ausgangskonstellation zumindest zweifelhaft. Ob die Rechtsprechung sich dennoch mit diesem Weg „behelfen“ wird, bleibt abzuwarten. Im Grunde ist die Frage nach der Rechtsgrundlage einer gerichtlichen Überprüfbarkeit freilich allgemeinerer Natur und stellt sich auch in anderen – vergleichbaren – Konstellationen.78 Handelt es sich bei den Zuschlägen um „Strafen“ (im Sinne der EMRK), darf sich ihre Höhe zudem nicht – wie § 398a AO dies vorsieht – ausschließlich an dem Hinterziehungsbetrag orientieren. Gleich, ob man dazu das Schuldprinzip oder den Gedanken der Verhältnismäßigkeit bemüht: Die Höhe des Strafzuschlags muss in Relation zu dem individuellen Tatbeitrag stehen. Die Neuregelung enthält zwar (immerhin) eine Beschränkung auf die aus der Tat zu Gunsten des jeweiligen Tatbeteiligten hinterzogenen Steuern. Ob bereits auf diese Weise eine hinreichende Individualisierung des Strafzuschlags gewährleistet wird, erscheint freilich dennoch fraglich. IV. Schlussbemerkung Der Gesetzgeber hat den vom BGH einleiteten Weg, die strafbefreiende Selbstanzeige deutlich zurückzuschneiden, willig aufgenommen. Er wird dabei getragen von einer breiten öffentlichen Empörung über Steuerhinterziehung, oder besser: berühmte Steuerhinterzieher. Schon dieser kurze Problemaufriss hat freilich gezeigt, dass der Gesetzgeber sich in dem Bemühen, diese Kriminalisierungsbestrebungen aufzugreifen, ohne den mit der strafbefreienden Selbstanzeige verbundenen fiskalischen Nutzen aufgeben zu wollen, in gewisser Weise „verheddert“ hat. Bedauerlicherweise ist eine Besserung nicht in Sicht. Umgekehrt: Die jüngste Reform78a hat zwar einen Teil der – insbesondere handwerklichen – Schwächen behoben, die zentralen Probleme wurden freilich verschärft. Es scheint, als ließe sich der Geist nicht mehr in die Flasche zurückdrängen. Ich will dennoch ein entgegengesetztes Plädoyer wagen und dabei die Stimmigkeit des Strafrechtssystems als Ganzes in den Blick nehmen. Dies ist kein neuer Aspekt. Schließlich zeugen alle Versuche, die dogmatische Sonderstellung der strafbefreienden Selbstanzeige mit kriminalpolitischen Erwägungen zu rechtfertigen, von einem gewissen Unbehagen hinsichtlich der „Privilegierung“ des Steuerstrafrechts gegenüber vergleichbaren Vermögensdelikten des allgemeinen Strafrechts. Nicht von ungefähr war das Bestreben der jüngsten rechtspolitischen Reform(en), angestoßen durch entsprechende Überlegungen des 1. Strafsenats des BGH, auf eine weitgehende Beschränkung der Selbstanzeige auf Bagatellfälle gerichtet. Es hätte nahegelegen, diesen Weg konsequent zu verfolgen, heißt: es bei den von der Rechtsprechung vorgezeichneten erhöhten Anforderungen an eine strafbefreiende Selbstanzeige und 77 Meyer-Goßner, Lutz, Strafprozessordnung, Kommentar, 56. Aufl. München 2013, § 98 StPO Rz. 23. 78 Grundlegend EGMR, 27. 2. 1980, Nr. 6903/75 (Deweer v. Belgium). 78a Vom 22. 12. 2014, BGBl. I, 2415.

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deren betragsmäßige Begrenzung zu belassen. Vielleicht wäre es – nicht zuletzt angesichts der mit der „Abschaffung der Teilselbstanzeige“ verbundenen praktischen Schwierigkeiten – noch naheliegender gewesen, von der Möglichkeit der Selbstanzeige im Steuerstrafrecht ganz abzusehen. Beide Wege waren freilich durch die fiskalischen Interessen des Staates versperrt. Mit § 398a AO wurde ein in jeder Hinsicht unbefriedigender politischer Kompromiss gefunden, der letztlich bedeutet, dass jenseits eines Bagatellbereichs die Möglichkeit, straffrei zu bleiben, nur für jene beschnitten wurde, die nicht genügend Geld haben, um sich mittels Strafzuschlägen „freizukaufen“. Mit dieser ernüchternden rechtspolitischen Bilanz will ich es aber nicht bewenden lassen, sondern dafür werben, den Weg in die umgekehrte Richtung auszuloten und das Augenmerk auf einen eher antizyklischen Aspekt in der reformpolitischen Debatte lenken: Kaspar hat jüngst – nicht in erster Linie aus Gleichheits-, sondern aus Gründen der Verhältnismäßigkeit – dafür plädiert, im Bereich der Vermögensstraftaten (namentlich Betrug und Untreue) über die bereits de lege lata anerkannten Fälle des Rücktritts und der tätigen Reue hinaus „Umkehrhandlungen“ des Täters zu honorieren, konkret: den Gedanken der strafbefreienden Selbstanzeige in entsprechender Weise auszuweiten.79 Er lohnt sich (auch) darüber verstärkt nachzudenken. Schließlich sind Akzente in Richtung einer Entkriminalisierung bekanntlich eher selten!

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Kaspar, Johannes, a. a. O., S. 771 f.

Welteinkommen, Leistungsfähigkeit und Äquivalenz Zur Legitimation der Besteuerung ausländischer Einkünfte Von Sebastian Müller-Franken, Marburg I. Problemstellung Die Entscheidung des deutschen Einkommensteuerrechts für eine Belastung ausländischer Einkünfte wird im Schrifttum zunehmend kritisiert.1 In der allgemeinen Öffentlichkeit steht die Legitimität einer solchen Praxis dagegen außer Zweifel, was stets sichtbar wird bei Bekanntwerden des Verschweigens im Ausland erzielter Einkünfte: die Hinterziehung von Steuern auf ausländische Einkünfte wiegt nicht minder schwer als die Hinterziehung von Steuern auf inländische Einkünfte: es gehe um Straftaten, welche „die Gemeinschaft direkt schädigen“.2 Rudolf Wendt hat mehrfach zur Rechtfertigung der Einkommensteuer wissenschaftlich Stellung genommen und hierbei das Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit und sein Verhältnis zum Markteinkommensprinzip in den Mittelpunkt seiner Überlegungen gestellt.3 Beide Prinzipien spielen bei der Rechtfertigung der Besteuerung ausländischer Einkünfte eine wesentliche Rolle, so dass es reizt, die Frage nach der Rechtfertigung der Besteuerung ausländischer Einkünfte in einem Beitrag zu seinen Ehren an diesen Parametern zu messen.

1 Darstellung: Moris Lehner/Ekkehard Reimer, Generalthema I: Quelle versus Ansässigkeit – Wie sind die grundlegenden Verteilungsprinzipien des Internationalen Steuerrechts austariert?, IStR 2005, 542, m.N. in den Fußnoten 8 – 11; zuletzt Harald Schaumburg, Internationales Steuerrecht, 3. Aufl., 2011, Kap. 5, Rz. 58 m.w.N. Die Entscheidung selbst ergibt sich aus einer Zusammenschau von § 1 Abs. 1, Abs. 4 und § 49 EStG; näher Schaumburg a.a.O, Kap. 5, Rz. 53. 2 Reinhard Müller, FAZ Nr. 30 v. 05. 02. 2014, S. 1 (zu den Fällen André Schmitz und Alice Schwarzer, jeweils Vorwurf des Nichtdeklarierens von Kapitalerträgen aus der Schweiz). 3 Empfiehlt es sich, das Einkommensteuerrecht zur Beseitigung von Ungleichbehandlungen und zur Vereinfachung neu zu ordnen?, DÖV 1988, 710, 712 ff.; Zur Vereinbarkeit der Gewerbesteuer mit dem Gleichheitssatz und dem Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, BB 1987, 1257, 1259 ff.; Familienbesteuerung und Grundgesetz, in: Lang (Hrsg.), Festschrift für Klaus Tipke zum 70. Geburtstag, 1995, S. 47, 50 ff.

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II. Ebenen der Rechtfertigung Rechtfertigen meint allgemein, eine Handlung als berechtigt erweisen.4 Die Frage nach der Rechtfertigung der Entscheidung des Gesetzgebers, die Besteuerung der auf seinem Gebiet Ansässigen mit ihrem Welteinkommen (Welteinkommensprinzip, Universalitätsprinzip) neben dem Zugriff auf die inländischen Einkünfte der Nichtansässigen (Ursprungsprinzip, Quellenprinzip) zum Ausgangspunkt seines Außensteuerrechts zu erheben,5 kann im vorliegenden Zusammenhang aus mehreren Perspektiven gestellt werden: Einmal aus der des Rechts, und zwar des Völker- und Unions- wie des nationalen Verfassungsrechts. Gerechtfertigt ist die Entscheidung hier, wenn sie mit den Vorgaben des Rechts in Einklang steht.6 Die Frage nach der Rechtfertigung kann aber auch aus einer dem Recht übergeordneten Warte betrachtet werden.7 Hier geht es um das Thema, warum der Staat überhaupt eine solche Entscheidung soll treffen dürfen. Da eine Verständigung über die Legitimation staatlicher Herrschaft, die das Recht transzendiert, voraussetzungsvoller ist als eine Verständigung über deren rechtliche Legitimation, soll diese am Anfang stehen: Nur wenn das Recht die Besteuerung ausländsicher Einkünfte erlaubt, sind übergeordnete Fragen von Relevanz. III. Rechtfertigung einer Welteinkommensbesteuerung vor dem Forum des Rechts 1. Völkerrecht Der Zugriff eines Staates auf Einkommen, das eine auf ihrem Gebiet ansässige Person auf dem Gebiet eines anderen Staates erwirtschaftet hat, ist völkerrechtlich nicht unzulässig. Das Völkerrecht verbietet allein die Vornahme von Hoheitsakten auf fremdem Staatsgebiet (Grundsatz der formellen Territorialität).8 Es enthält dage-

4

Gerhard Wahrig, Deutsches Wörterbuch, Stichwort „rechtfertigen“, 1986, S. 1045. Begriff „Außensteuerrecht“: Ottmar Bühler, Prinzipien des Internationalen Steuerrechts, 1964, S. 1, 3, 44 ff.; Synonyma zu den Begriffen Welteinkommens- und Ursprungsprinzip: Klaus Vogel, Grundfragen des Deutschen Außensteuerrechts – Die Besteuerung von Auslandseinkünften, in: ders. (Hrsg.), Grundfragen des Internationalen Steuerrechts, DStJG 8 (1985), S. 3, 4; ders., in: ders./Lehner (Hrsg.), DBA, 5. Aufl., 2008, Einl., Rz. 2. Der Begriff Territorialitätsprinzip sollte aufgrund seiner Mehrdeutigkeit nicht anstelle des Begriffs Ursprungsprinzip verwandt werden, Klaus Vogel, Der räumliche Anwendungsbereich der Verwaltungsrechtsnorm, 1965, S. 13 f.; dazu, dass trotz zahlreicher Durchbrechungen im deutschen Einkommensteuerrecht das Welteinkommensprinzip nach wie vor die Regel ist, von der Ausnahmen zu statuieren sind, Schaumburg (Fn. 1), Kap. 5, Rz. 53 ff, 61. 6 Michael Rodi, Die Rechtfertigung von Steuern als Verfassungsproblem, S. 7. 7 Klaus Vogel, Rechtfertigung der Steuern, Der Staat 25 (1986), 481, 484. 8 StIGH, Series A, Nr. 10 (1927), S. 18 f. – Lotus-Fall; BGH v. 20. 5. 1969 – III ZB 3/67, NJW 1969, 1428, 1429; Rüdiger Wolfrum, in: Dahm/Delbrück (Hrsg.), Völkerrecht, Bd. I/1, 2. Aufl., 1988, S. 326; Volker Epping, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, 6. Aufl., 2014, § 5, Rz. 60; Marten Breuer, Gebietshoheit, in: Schöbener (Hrsg.), Völkerrecht – Lexikon zentraler Be5

Welteinkommen, Leistungsfähigkeit und Äquivalenz

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gen keine allgemeine Regel, die der Erstreckung des sachlichen Geltungsbereichs einer Norm auf das Gebiet eines anderen Staates entgegenstehen würde (kein Grundsatz der materiellen Territorialität).9 Auch für die Besteuerung von ausländischen Einkünften gilt hier nichts anderes.10 Zwar haben vor allem Entwicklungsländer lange Zeit gefordert, die Besteuerung des Welteinkommens wegen seiner Verteilungswirkungen für völkerrechtswidrig zu erklären:11 Die Welteinkommensbesteuerung wirke protektionistisch, da sie Staaten benachteilige, die aufgrund ihrer geringeren staatlichen Leistungen vergleichsweise ungünstige Investitionsbedingungen böten und deshalb darauf angewiesen seien, durch andere Anreize, wie insbesondere niedrige Steuern, Investitionen in ihr Land zu ziehen. Einkommen, das im Ausland erzielt und dort gegebenenfalls niedriger besteuert worden sei, werde im Falle der Anrechnung ausländischer Steuern auf das Steuerniveau des Wohnsitzstaates „heraufgeschleust“12, so dass auf diese Weise der steuerliche Vorteil des Quellenstaates verloren gehe.13 Mit diesen Einwänden haben sich die Entwicklungsländer, die in erster Linie von diesen Effekten des Welteinkommensprinzips betroffen sind, international nicht durchsetzen können.14 Das Völkerrecht macht die Rechtfertigung einer staatlichen Norm, die steuerliche Rechtsfolgen für Personen oder Vermögen auf einem fremden Staatsgebiet erzeugt, lediglich davon abhängig, dass ein hinreichend sachgerechter Anknüpfungspunkt besteht („genuine link“).15 Ein solcher Anknüpfungspunkt liegt in der Ansässigkeit einer Person auf dem eigenen Staatsgebiet. Ein hierauf gestütztes Welteinkommensprinzip ist damit völkerrechtlich unbedenklich.16 Auch das nicht nur von Entwicklungsländern, sondern auch von Staaten der sogenannten ersten und zweiten Welt vorgebrachte Argument, das Welteinkommensgriffe und Themen, 2014, S. 116; Begriff formelle Territorialität: Vogel, in: ders./Lehner (Fn. 5), Einl., Rz. 16. 9 Begriff materielle Territorialität: Vogel, in: ders./Lehner (Fn. 5), Einl., Rz. 11. 10 BFH, BStBl. II 1975, 497, 498; Vogel (Fn. 5), S. 351 f.; Jörg Manfred Mössner, Der Begriff des Internationalen Steuerrechts in der neueren Literatur, ÖZöffR 25 (1974), 255, 264 ff., 281 ff. 11 Zur klassischen Position der Staaten Lateinamerikas Ramón Valdés Costa, in: Engelschalk/Flick u. a. (Hrsg.), Steuern auf ausländische Einkünfte, 1985, S. 43 ff., mit weiteren Nachweisen; inzwischen haben viele der ursprünglich gegen das Welteinkommensprinzip eingestellten Staaten ihre Position aufgegeben, siehe die Nachweise bei Ekkehard Reimer, Der Ort des Unterlassens, 2004, S. 323. 12 Jörg Manfred Mössner, Die Methoden zur Vermeidung der Doppelbesteuerung – Vorzüge, Nachteile und aktuelle Probleme, in: Vogel (Fn. 5), S. 135, 161. 13 Klaus Vogel, Perfektionismus im Steuerrecht, StuW 1980, 206, 211. 14 Das Gleiche gilt für die These von der Entstehung eines das Ursprungsprinzip (Territorialitätsprinzip) fordernden Völkergewohnheitsrechts, vorgetragen von Arno Schulze-Brachmann, Totalitäts- oder Territorialitätsprinzip, StuW 1964, 589, 610 f. 15 BVerfGE 63, 343, 369; zuletzt näher Joachim Englisch, Zur Völkerrechtswidrigkeit extraterritorialer Effekte der französischen Finanztransaktionssteuer, IStR 2013, 513, 514 ff. 16 Gerd Morgenthaler, Die Lizenzgebühren im System des internationalen Einkommensteuerrechts, 1992, S. 12.

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prinzip sei ursächlich für das Problem der internationalen Doppelbesteuerung, vermag dieses nicht in Frage zu stellen. Das Phänomen der Doppelbesteuerung ist zwar unerwünscht;17 es belaste den Steuerpflichtigen übermäßig18 und störe die freie Betätigung der Wirtschaftsteilnehmer, da es Auslandstätigkeiten diskriminiere und zu Wettbewerbsverzerrungen führe.19 Gleichwohl besteht zwischen der Mehrzahl der Staaten ein Konsens darüber, dass deshalb das Welteinkommensprinzip als seine Ursache nicht unzulässig sei.20 Vielmehr gelte es, die sich aus dem Nebeneinander von Welteinkommensprinzip und Quellenprinzip ergebende internationale Doppelbesteuerung durch Abkommen zwischen den Staaten möglichst zu vermeiden. Aufgegeben werden soll das Welteinkommensprinzip, welches das Problem überhaupt erst auslöst, dagegen nicht. 2. Unionsrecht Eine Besteuerung nach dem Welteinkommensprinzip ist auch nicht unvereinbar mit dem Recht der Europäischen Union. Doppelbesteuerung widerspricht zwar den Zielen eines Gemeinsamen Marktes.21 Das Unionsrecht selbst enthält indes keine Norm, die den Staaten die Statuierung des hierfür ursächlichen Welteinkommensprinzips unmittelbar verbieten würde. Anders als bei den indirekten Steuern haben die Mitgliedstaaten der Union in den Verträgen auch keine besondere Kompetenz verliehen, welche diese zu einer Harmonisierung ihrer direkten Steuern oder auch nur ihres Außensteuerrechts ermächtigen würde.22 Einer Harmonisierung der direkten Steuern auf der Grundlage der allgemeinen Rechtsetzungsermächtigungen (Art. 114 Abs. 1, 2, Art. 115 AEUV) haben die Staaten, von wenigen Ausnahmen abgesehen, bislang nicht ihre Zustimmung erteilt. Eine Regelung der direkten Steuern durch die Mitgliedstaaten, ohne sich aufeinander abzustimmen, ist damit im Unionsrecht angelegt. Die Mitgliedstaaten trifft keine Pflicht, ihr Steuersystem den Steuersystemen anderer Staaten anzupassen, um die sich aus der parallelen Ausübung ihrer Besteuerungsbefugnisse ergebende

17 Gerrit Frotscher, Internationales Steuerrecht, 3. Aufl., 2009, § 1, Rz. 1 f.; Roman Seer, in: Tipke/Lang (Hrsg.), Steuerrecht, 21. Aufl., 2014, § 1, Rz. 93 ff. 18 Frotscher (Fn. 17), § 1, Rz. 1 f. 19 Joachim Englisch, in: Tipke/Lang (Fn. 17), § 4, Rz. 92; Dieter Birk/Marc Desens/Henning Tappe, Steuerrecht, 17. Aufl., 2014, Rz. 1450; Herbert Dorn, Das Recht der internationalen Doppelbesteuerung, VJSchrStFR 1 (1927), 189, 196 f., auch Darstellung der Gegenansicht auf S. 210 f. 20 BFH, BStBl. II 1975, 497, 498; BFH, BStBl. II 2013, 746, 750; Vogel, in: ders./Lehner (Fn. 5), Einl., Rz. 14. 21 Moris Lehner/Christian Waldhoff, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, Stand: 137. Lfg., Nov. 2003, § 1, Rz. A 499. 22 Zu Letzterem: Klaus Vogel, Harmonisierung des Internationalen Steuerrechts in Europa als Alternative zur Harmonisierung des (materiellen) Körperschaftsteuerrechts, StuW 1993, 380, 383 ff., 388.

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Doppelbesteuerung im Bereich der direkten Steuern zu beseitigen.23 Mitgliedstaatliche Normen, die zur Doppelbesteuerung führen, können damit nicht allein schon wegen eines Verstoßes gegen Unionsrecht unanwendbar sein. Auch mittelbar kann das Unionsrecht nicht gegen die Entscheidung Deutschlands für das Welteinkommensprinzip in Stellung gebracht werden. Zwar hat der Europäische Gerichtshof die Grundfreiheiten des AEUV gegenüber der Steuergewalt der Mitgliedstaaten aktiviert und auf dieser Grundlage eine Vielzahl von Regelungen der nationalstaatlichen Steuerrechtsordnungen als für mit dem Unionsrecht unvereinbar erklärt.24 Indes hat er in diesen Entscheidungen stets betont, dass die Entscheidung eines Mitgliedstaates für eine Besteuerung des Welteinkommens im Rahmen der unbeschränkten Steuerpflicht als solche nicht gegen die Verträge verstößt.25 3. Verfassungsrecht a) Der Allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) aa) Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit Das Grundgesetz lässt es zu, dass Normen des von ihm verfassten Staates auf Sachverhalte außerhalb seines Staatsgebiets angewendet werden.26 Unter dem Blickwinkel der über die Grenzen Deutschlands hinausgreifenden Ausdehnung des „räumlichen Anwendungsbereichs der Verwaltungsrechtsnorm“ (Vogel) ist verfassungsrechtlich damit nichts gegen das Welteinkommensprinzip zu erinnern.27 Uneinigkeit besteht dagegen in der Frage, wie sich die Besteuerung des Welteinkommens 23

EuGH, Urt. v. 14. 11. 2006 – Rs. C-513/04, Slg. 2006, I-10967, Rz. 22 ff. – Kerckhaert und Morres; v. 6. 12. 2007 – Rs. C-298/05, Slg. 2007, I-10451, Rz. 43 – Columbus Container Service; Urt. v. 12. 02. 2009 – Rs. C-67/08, Slg. 2009, I-883, Rz. 31 – Block; Urt. v. 16. 07. 2009 – Rs. C-128/08, Slg. 2009, I-6823, Rz. 26 f. – Damseaux; zustimmend BFH, BStBl. II 2009, 857, 859; Hanno Kube, EuGH-Rechtsprechung zum direkten Steuerrecht – Stand und Perspektiven, S. 30 ff. m.w.N.; Alexander Rust, Anforderungen an eine EG-rechtskonforme Dividendenbesteuerung, DStR 2009, 2568, 2576 f; Christian Seiler, Steuerstaat und Binnenmarkt, in: Depenheuer/Heintzen u. a. (Hrsg.), Festschrift für Josef Isensee zum 70. Geburtstag, 2007, S. 875, 893. 24 Vgl. den Überblick über die Rechtsprechung des EuGH bei Andreas Musil, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, Stand: September 2012, § 2 AO, Rz. 225 ff. 25 EuGH, Urt. v. 14. 02. 1995 – Rs. C-279/93, Slg. 1995, I-225, Rz. 31 ff. – Schumacker; Urt. v. 14. 11. 2006 – Rs. C-513/04, Slg. 2006, I-10967, Rz. 20 ff. – Kerckhaert und Morres; Urt. v. 12. 02. 2009 – Rs. C-67/08, Slg. 2009, I-883, Rz. 27 ff. – Block; Urt. v. 16. 07. 2009 – Rs. C-128/08, Slg. 2009, I-6823, Rz. 20 ff. – Damseaux; Urt. v. 15. 04. 2010 – Rs. C-96/08, Slg. 2010, I-2911, Rz. 25 ff. – CIBA; Urt. v. 03. 06. 2010 – Rs. C-487/08, Slg. 2010, I-4843; Rz. 56 ff. – Kommission/Spanien; Urt. v. 08. 12. 2011 – Rs. C-157/10, Slg. 2011, I-13023, Rz. 38 ff. – Banco Bilbao Vizcaya Argentaria; Urt. v. 11. 09. 2014 – Rs. C-47/12, Rz. 68 f. – Kronos International, IStR 2014, 724, 729. 26 Hans Schneider, Gesetzgebung, 3. Aufl., 2002, Rz. 587 ff. 27 Lehner/ Waldhoff, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff (Fn. 21), § 1, Rz. A 436; Begriff und Sache siehe die gleichnamige Schrift von Vogel (Fn. 5).

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zum allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) verhält, der für das Steuerrecht die zentrale verfassungsrechtliche Vorgabe enthält.28 Für die Anwendung des allgemeinen Gleichheitssatzes gilt, dass nur ein sachlich einleuchtender Grund hinreichend ist, um eine gesetzgeberische Unterscheidung zu rechtfertigen.29 Für die Beurteilung einer Differenzierung als sachgerecht bedarf es eines Maßstabs,30 und dieser kann immer nur aus der Eigenart des zu regelnden Sachbereichs gewonnen werden; der Gleichheitssatz ist „bereichsspezifisch“31 bzw. „sachbereichsbezogen“32 zu konkretisieren. Der Sachbereich der Besteuerung ist geprägt durch die Merkmale, die diesen Abgabentyp kennzeichnen: Die Steuer ist Gemeinlast, d. h. eine Abgabe, die grundsätzlich alle Inländer zur Finanzierung der allgemeinen Staatsaufgaben heranziehen soll.33 Die durch die Steuer finanzierten staatlichen Leistungen lassen sich nicht einem einzelnen zurechnen, sondern kommen allen Mitgliedern der staatlichen Gemeinschaft zugute.34 Fehlt es aber an einem besonderen Zurechnungsgrund gegenüber den Betroffenen, kann nur ein Kriterium für Unterscheidungen bei der Zuteilung steuerlicher Lasten sachgerecht sein: die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Einzelnen, Steuern zu zahlen.35 Eine Steuer ist folglich mit dem allgemeinen Gleichheitssatz vereinbar, wenn sie das Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit verwirklicht36 bzw., falls sie von diesem Prinzip abweichen will, diese Abweichung ihrerseits gerechtfertigt ist.

28 Zu dieser Bedeutung des allgemeinen Gleichheitssatzes: Karl Heinrich Friauf, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Gesetzgebung über die Steuern vom Einkommen und vom Ertrag, in: ders. (Hrsg.), Steuerrecht und Verfassungsrecht, DStJG 12 (1989), S. 3, 27; Josef Isensee, Vom Beruf unserer Zeit für Steuervereinfachung, StuW 1996, 3, 7; Werner Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. I, 3. Aufl., 2013, Art. 3, Rz. 74. 29 Erstmalige Erwähnung: BVerwGE 2, 151, 153; Hans D. Jarass, in: ders./Pieroth, GG, 13. Aufl., 2014, Art. 3, Rz. 15 m.w.N. 30 Heun (Fn. 28), Art. 3, Rz. 35; Lerke Osterloh, in: Sachs (Hrsg.), GG, 6. Aufl., 2011, Art. 3, Rz. 3. 31 BVerfGE 84, 239, 268. 32 BVerfGE 17, 122, 130; 75, 108, 157; 93, 121, 134; 103, 310, 318 – st. Rspr. 33 Josef Isensee, Steuerstaat als Staatsform, in: Stödter/Thieme (Hrsg.), Festschrift für Hans Peter Ipsen zum 70. Geburtstag, 1977, S. 409, 430; Wendt (Fn. 3), DÖV 1988, 710, 712. Zu den Inländern als den Mitgliedern der staatlichen Gemeinschaft treten die Nichtansässigen mit ihren inländischen Einkünften hinzu. 34 Paul Kirchhof, Die Steuern, in: Isensee/ders. (Hrsg.), HStR, Bd. V, 3. Aufl., 2007, § 118, Rz. 6 m. w. N.; Klaus Vogel, Das ungeschriebene Finanzrecht des Grundgesetzes, in: Selmer (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Wolfgang Martens, 1987, S. 265, 267. 35 Wendt (Fn. 3), DÖV 1988, 710, 712; ders. (Fn. 3), NVwZ 1988, 778, 783; Dieter Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen – Ein Beitrag zu den Grundfragen des Verhältnisses Steuerrecht und Verfassungsrecht, 1983, S. 21 ff. 36 Hartmut Söhn, Besteuerung von Schadensersatzrenten und Verfassungsrecht, in: Wendt/ Höfling u. a. (Hrsg.), Festschrift für Karl Heinrich Friauf zum 65. Geburtstag, 1996, S. 807, 819 f.; ders. (Fn. 49), S. 343, 346 ff.

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bb) Anwendbarkeit des Leistungsfähigkeitsprinzips in Fällen mit Auslandsberührung Der Anwendbarkeit des Leistungsfähigkeitsprinzips für den vorliegenden Zusammenhang steht nicht entgegen, dass die maßgebenden Fälle eine Auslandsberührung haben. Das Leistungsfähigkeitsprinzip findet seine normative Grundlage in den Grundrechten, insbesondere im allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG). Die Grundrechtsbindung deutscher Staatsgewalt ist indes nicht nur in sachlicher (Art. 1 Abs. 3 GG), sondern auch in territorialer Hinsicht umfassend.37 Sie besteht unabhängig davon, wo deutsche Staatsgewalt ausgeübt wird und wo ihre Wirkungen eintreten.38 Dies schließt Modifikationen und Differenzierungen bei Auslandssachverhalten zwar nicht aus,39 diese müssen sich jedoch immer ergeben aus der Einbindung Deutschlands in die internationale Staatengemeinschaften und dem Gebot der Rücksichtnahme der Entscheidungen anderer Staaten.40 Aus dem Welteinkommensprinzip ergeben sich jedoch nur Rechtsfolgen für das Inland, nicht entfaltet es Wirkungen für die Zusammenarbeit mit anderen Staaten. Auch fordert seine Verwirklichung keine Durchsetzung deutschen Rechts auf fremdem Staatsgebiet, so dass seiner Anwendbarkeit der hier bestehende Auslandsbezug nicht im Wege steht.41 cc) Zugehörigkeit ausländischer Einkünfte zur Gesamtleistungsfähigkeit Das Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ist ein abstraktes, offenes Prinzip. Es enthält nicht bereits selbst subsumtionsfähige Aussagen über die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, sondern bedarf seinerseits der Konkretisierung.42 An dieser Stelle setzt die Kritik an der Rechtfertigung des Welteinkommensprinzips aus dem Leistungsfähigkeitsprinzip an. Das Leistungsfähigkeitsprinzip sage nichts darüber aus, ob auch in einem anderen Staat erzielte Einkünfte in die Bemes37 Sebastian Müller-Franken, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke (Hrsg.), GG, 13. Aufl., 2014, Vorbem. vor Art. 1, Rz. 40 ff. m.w.N. 38 BVerfGE 6, 290, 295; 57, 9, 23 f.; Peter-Michael Huber, Natürliche Personen als Grundrechtsträger, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGrR, Bd. II, 2006, § 49, Rz. 31; Peter Badura, Der räumliche Geltungsbereich der Grundrechte, a.gl.O., § 47, Rz. 4, 13. 39 BVerfGE 92, 26, 41 f.; 100, 313, 362 f. 40 BVerfGE 92, 26, 41 f.; Gunther Elbing, Anwendbarkeit der Grundrechte bei Sachverhalten mit Auslandsbezug, 1992, S. 168 ff.; Herbert Kronke, Die Wirkungskraft der Grundrechte bei Fällen mit Auslandsbezug, in: Coester-Waltjen/Kronke u. a. (Hrsg.), Die Wirkungskraft der Grundrechte bei Fällen mit Auslandsbezug, 1998, S. 33, 38 f. 41 Christian Waldhoff, Verfassungsrechtlich relevante Vollzugsdefizite bei Steuerfällen mit Auslandsbezug am Beispiel der §§ 7 ff. AStG, StuW 2013, 121, 134. 42 Birk (Fn. 35), S. 155 ff.; Seer (Fn. 17), § 3, Rz. 41; insoweit zutreffend auch Hans Wolfgang Arndt, Gleichheit im Steuerrecht, NVwZ 1988, 787, 791 ff.; ders., Steuerliche Leistungsfähigkeit und Verfassungsrecht, in: Damrau/Kraft u. a. (Hrsg.), Festschrift für Mühl zum 70. Geburtstag, 1981, S. 17, 20 ff., 29 ff.; siehe auch Fritz Neumark, Grundsätze gerechter und ökonomisch rationaler Steuerpolitik, 1970, S. 125 ff.

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sungsgrundlage der Einkommensteuer einbezogen werden müssen.43 Ausländische Einkünfte würden typischerweise unter wesentlich anderen Bedingungen erworben als die inländischen.44 Der im Ausland tätige Steuerpflichtige sei den dortigen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und rechtspolitischen Bedingungen ausgesetzt, er erwirtschafte das Einkommen unter höheren Risiken und größerem Einsatz.45 Es seien daher eine innerstaatliche und eine ausländische Leistungsfähigkeit zu unterscheiden und die steuerlichen Belastungswirkungen des Ortes der Einkünfteerzielung zum alleinigen Maßstab für die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit zu erheben.46 Das Welteinkommensprinzip sei damit keineswegs ein Gebot des Leistungsfähigkeitsprinzips, sondern mit dem Territorialitätsprinzip eine von zwei denkbaren Möglichkeiten, jenes zu konkretisieren.47 Hier gilt: Die Einkommensteuer soll nicht Einkommen als solches, sondern den Einkommensbezieher belasten und sich dabei nach dessen Leistungsfähigkeit richten.48 Damit hat das Leistungsfähigkeitsprinzip seinen Bezugspunkt nicht in Steuerquellen, sondern in der Person.49 Es geht im vorliegenden Zusammengang damit um die Frage, ob zur Messung der Leistungsfähigkeit einer Person auch Einkünfte zu berücksichtigen sind, die diese im Ausland erzielt hat.50 Wird die Frage so gestellt, kann kein Zweifel bestehen, dass ausländische Einkünfte zu erfassen sind, denn auch sie verleihen einer Person wirtschaftliche Leistungsfähigkeit.51 Zur wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und damit zur Fähigkeit 43 Klaus Vogel, Über „Besteuerungsrechte“ und über das Leistungsfähigkeitsprinzip im Internationalen Steuerrecht, in: Festschrift für Franz Klein zum 70. Geburtstag, 1994, S. 361, 368; ebenso Wolfgang Schön, Die beschränkte Steuerpflicht zwischen europäischem Gemeinschaftsrecht und deutschem Verfassungsrecht, IStR 1995, 119, 123; Harald Schaumburg, Das Leistungsfähigkeitsprinzip im internationalen Steuerrecht, in: Lang (Fn. 3), S. 125, 130. 44 Vogel (Fn. 43), S. 361, 368 f. 45 Vogel (Fn. 5), S. 3, 26. 46 Schaumburg (Fn. 43), S. 125, 130; Gabriele Burmester, Regelungskumulation und -kollision, 1993, S. 241 f.; Barbara Zuber, Anknüpfungsmerkmale und Reichweite der internationalen Besteuerung, 1991, S. 91. 47 Vogel (Fn. 45), S. 3, 26; ebenso Schaumburg (Fn. 1), Kap. 5, Rz. 58 m. w. N. 48 Helmut Debatin, Konzeptionen zur Steuerpflicht, FR 1969, 277, 278. 49 Birk/Desens/Tappe (Fn. 19), Rz. 600; Hartmut Söhn, Erwerbsbezüge, Markteinkommenstheorie und Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, in: Lang (Fn. 3), S. 343, 353; Johanna Hey, in: Tipke/Lang (Fn. 17), § 3, Rz. 50 f., § 8, Rz. 20; Weber-Grellet, Steuern im modernen Verfassungsstaat, 2001, S. 178; Sebastian Müller-Franken, Gesamtrechtsnachfolge durch Erbfall und einkommensteuerliche Verluste, StuW 2004, 109, 115 f. 50 Insoweit zutreffend Manfred Mössner, Das Welteinkommensprinzip, in: Tipke/Bozza (Hrsg.), Besteuerung von Einkommen, 2000, S. 253, 264. 51 Bühler (Fn. 5), S. 148; Helmut Debatin, Konzeptionen zur Steuerpflicht, FR 1969, 277, 278; Thomas Menck, Welteinkommen und Territorialität nach deutschem Recht und nach deutscher Sicht, in: Engelschalk/Flick u. a. (Hrsg.), Steuern auf ausländische Einkünfte, 1985, S. 28, 33 f.; Joachim Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer: Rechtssystematische Grundlagen steuerlicher Leistungsfähigkeit im deutschen Einkommensteuerrecht,

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einer Person, Steuern zu zahlen, tragen alle erzielten Einkünfte bei, ohne Rücksicht darauf, an welchem Ort sie entstanden sind. Es kann keine Rolle spielen, ob Einkünfte im Inland oder im Ausland erzielt worden sind. Die Bedingungen, unter denen eine Person ihr Einkommen erzielt, sind für seine Leistungsfähigkeit ebenfalls ohne Belang. Für Inlandssachverhalte steht außer Zweifel, dass es keine Rolle spielt, ob der Steuerpflichtige sein Einkommen mit Leichtigkeit oder nur unter Mühen erworben hat;52 auf seine Leistungsfähigkeit wirkt sich dies nicht aus. Es ist kein Grund ersichtlich, warum bei Auslandseinkünften von diesem Prinzip abgewichen werden sollte: Für den Aspekt der Risikobehaftetheit ausländischer Einkünfte gilt, dass es zunächst eine Frage der richtigen Einkünfteermittlung ist, Unwägbarkeiten des Erwerbshandelns im Ausland angemessen Rechnung zu tragen.53 Sofern sich auf diesem Wege keine Vorsorge treffen lässt und sich ein Auslandsrisiko verwirklicht, enthalten das Einkommensteuerrecht54 wie auch das Verfahrensrecht55 Möglichkeiten, auf eine solche Änderung nachträglich zu reagieren. Die Belastung der ausländischen Einkünfte mit ausländischer Einkommensteuer stellt das besagte Prinzip ebenfalls nicht in Frage.56 Die ausländische Steuer kann erst zu einem Zeitpunkt greifen, in dem der Steuerpflichtige die ausländischen Einkünfte bereits erzielt hat. Ist dies der Fall, muss die steuerliche Belastung im Ausland zur Vermeidung einer Doppelbesteuerung im Inland berücksichtigt werden. Eine leistungsfähigkeitsgerechte Besteuerung der ausländischen Einkünfte bewirken lässt

1981/88, S. 167 f.; Waldhoff (Fn. 41), StuW 2013, 121, 134; insoweit auch Mössner (Fn. 50), S. 253, 259 f. 52 Hans Georg Ruppe, Die Ausnahmebestimmungen des Einkommensteuergesetzes – Probleme der Rechtsanwendung und Rechtsfortbildung bei den Steuerbegünstigungen der österreichischen Einkommensteuer, 1971, S. 111 ff.; Lang (Fn. 51), S. 218 Fn. 24, 229 f.; Klaus Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. II, 2. Aufl., 2003, S. 634. 53 Zur Bildung von Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten: Joachim Hennrichs, in: Tipke/Lang (Fn. 17), § 9, Rz. 170 ff. 54 Der Bundesfinanzhof berücksichtigt später zurückgezahlte Betriebseinnahmen nicht als Betriebsausgaben, sondern als negative Einnahmen BFH, BStBl. III 1964, 184, 184 f.; BStBl. II 1988, 342, 343 f.; BStBl. II 1999, 769, 769 f.; ebenso das Schrifttum: Heinrich Glenk, in: Blümich, EStG, KStG, GewStG, Stand: 124. Aufl., 2014, § 8, EStG, Rz. 56; Wolfgang Heinicke, in: Schmidt, EStG, 33. Aufl., 2014, § 4, Rz. 475. 55 So kann etwa nach § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO ein Steuerbescheid geändert werden, soweit ein Ereignis – wie beispielsweise die Uneinbringlichkeit einer Kaufpreisforderung aus einem Veräußerungsgeschäft i. S. d. §§ 16, 17 EStG – eintritt, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat, BFH, BStBl. II 1993, 894, 896, BStBl. II 1993, 897, 900 ff.; dazu: Reinhart Rüsken, in: Klein (Hrsg.), AO, 12. Aufl., 2014, § 175, Rz. 59; Ulrich Koenig, in: Pahlke/ Koenig (Hrsg.), AO, 2. Aufl., 2009, § 175, Rz. 54. 56 So aber Schaumburg (Fn. 1), Kap. 14, Rz. 11; Johannes Peter Beil, Der Belastungsgrund des steuerstaatlichen Synallagmas, 2001, S. 76.

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sich hier indes bereits durch eine Anrechnung der im Ausland gezahlten Steuern;57 ihrer Freistellung von der inländischen Steuer bedarf es hierfür nicht. Das Gebot der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit schließt es also aus, inländisches und ausländisches Einkommen ungleich zu behandeln.58 b) Irrelevanz der Marktabhängigkeit der Einkommenserzielung Verfassungsrechtlich ist es unerheblich, ob der Bezieher von Auslandseinkünften hierfür den inländischen Markt in Anspruch genommen hat.59 Die rechtliche Trennung von Steuergewalt auf der einen und Haushaltsgewalt auf der anderen Seite verbietet es, die Rechtmäßigkeit der Besteuerung von einem Zusammenhang mit den dem einzelnen zukommenden staatlichen Leistungen abhängig zu machen. Verfassungsrechtlich ist die Einkommensteuer dem Grunde nach allein dadurch gerechtfertigt, dass ihr Aufkommen dem Finanzbedarf des Staates dient und dieser Bedarf als legitim anzusehen ist.60 Auf dieser Ebene der Rechtfertigung des Welteinkommensprinzips spielt es keine Rolle, ob dem Staat eine Mitursächlichkeit für die Entstehung des Einkommens zugesprochen werden kann. Der in der Besteuerung liegende Eingriff in die Vermögens- und Rechtssphäre des Pflichtigen gewinnt verfassungsrechtlich seine Rechtfertigung unabhängig hiervon „gerade aus der Gleichheit der Lastenzuteilung“.61 c) Folgen Aus dem Gesichtspunkt des Leistungsfähigkeitsprinzips und des dahinterstehenden allgemeinen Gleichheitssatzes ist das Welteinkommensprinzip nicht nur eine Option, die der Staat frei wählen kann, sondern für die er sich entscheiden muss. 57

Joachim Lang, Unternehmensbesteuerung im internationalen Wettbewerb, StuW 2011, 144, 147 f.; was aus Gründen einer leistungsfähigkeitsgerechten Besteuerung auch geschehen muss, Reimer (Fn. 11), S. 340 f. 58 Otto Gandenberger, Diskussionsbeitrag, DStJG 8 (1985), S. 133. 59 Die Verfechter der Markteinkommenstheorie sind in der Frage des verfassungsrechtlichen Gebotenseins einer Besteuerung des Welteinkommens nicht eindeutig. Paul Kirchhof sieht in der Marktnutzung den in der Verfassung (Art. 14 Abs. 2 GG) vorgezeichneten Belastungsgrund der Einkommensteuer, hält das Welteinkommensprinzip, bei dem es an einer Marktnutzung fehlt, indes gleichwohl für zulässig, ders., Bundessteuergesetzbuch, 2011, § 61, Begründung, S. 529 f., 532; zu einem anderen Ergebnis käme Wendt (Fn. 3), DÖV 1988, 710, 715 f. 60 Josef Isensee, Nichtfiskalische Abgaben – ein weißer Fleck in der Finanzverfassung, in: K.-H. Hansmeyer (Hrsg.), Staatsfinanzierung im Wandel, Schriften des Vereins für Socialpolitik N.F. 1983, S. 435, 441; ders., Vom Beruf unserer Zeit für Steuervereinfachung, StuW 1996, 1, 7; abstellend auf den Staat: Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 1092; Birk/Desens/Tappe (Fn.19), Rz. 1. 61 BVerfGE 84, 239, 269; BFH, BStBl. II 1995, 121, 124; Söhn (Fn. 49), S. 343, 351; siehe zuvor Josef Isensee, Das Billigkeitskorrektiv des Steuergesetzes. Rechtfertigung und Reichweite des Steuererlasses im Rechtssystem des Grundgesetzes, in: Jakobs/Knobbe-Keuk u. a. (Hrsg.), Festschrift für Werner Flume zum 70. Geburtstag, Bd. II, 1978, S. 129, 132.

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Denn das Leistungsfähigkeitsprinzip hat eine doppelte Stoßrichtung: Fehlt es an wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit, darf der Staat nicht besteuern. Aus dem Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit folgt dann grundsätzlich ein Zugriffs-(Besteuerungs-)Verbot. Doch auf diese negative, ausgrenzende Aussage ist das Leistungsfähigkeitsprinzip nicht beschränkt. Vielmehr enthält es auch eine positive Aussage: Liegt wirtschaftliche Leistungsfähigkeit vor, darf diese aus Gründen der Gleichbehandlung grundsätzlich nicht von der Besteuerung ausgenommen werden. Es enthält mithin auch ein prinzipielles Zugriffs-(Besteuerungs-)Gebot:62 Die Fähigkeit einer Person, Steuern zu zahlen, darf aus Gründen der Lastengleichheit von der Besteuerung nicht ausgenommen werden.63 Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer hat das für die Besteuerung verfügbare Gesamteinkommen einer Person zu sein.64 IV. Verfassungstheoretische und staatsethische Rechtfertigung einer Welteinkommensbesteuerung 1. Gehalt und Notwendigkeit Ist die Besteuerung nach dem Welteinkommen vereinbar mit Völker- und Unionsrecht und aus der Perspektive des Verfassungsrechts nicht nur gerechtfertigt, sondern sogar geboten, so heißt das nicht, dass sie damit auch verfassungstheoretisch und staatsethisch als legitim angesehen werden muss.65 Das Leistungsfähigkeitsprinzip 62

Wolfgang Jakob, Einkommensteuerrecht, 4. Aufl, 2008, Rz. 9 ff.; Lehner/Waldhoff, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff (Fn. 21), § 1, Rz. A 142; Joachim Lang, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl., 2010, § 4, Rz. 84. 63 Jakob (Fn. 62), Rz. 9 ff.; Lehner/ Waldhoff, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff (Fn. 21), § 1, Rz. A 142; Hey, in: Tipke/Lang (Fn. 17), § 3, Rz. 42. 64 Lang (Fn. 51), S. 167 ff.; Pietro Adonnino, Das Welteinkommensprinzip, in: Tipke/ Bozza (Fn. 50), S. 271, 278 f.; Wolfgang Schön, Zur Zukunft des Internationalen Steuerrechts, StuW 2012, 213, 214, mit umfassenden Nachweisen aus dem nordamerikanischen Schrifttum in der Fußn. 12; die Kategorie des Gesamteinkommens steht in der Finanzwissenschaft außer Streit: Rolf Peffekoven, Probleme der internationalen Finanzordnung, in: Gerloff/Neumark (Hrsg.), Handbuch der Finanzwissenschaft, Bd. IV, 3. Aufl., 1983, S. 219, 247; zur Geschichte des Begriffs: Bühler (Fn. 5), S. 165 f.; zuvor schon Helmut Debatin, Die Vermeidung der internationalen Doppelbesteuerung durch zwischenstaatliche Abkommen unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Vertragspraxis, DStZ/A 1962, 5, 11. 65 Kategorien: Josef Isensee (Fn. 28), StuW 1996, 3, 7; die Rechtfertigung auf einer mit den hier verwandten Attributen bezeichneten Metaebene ist auch gemeint, wenn von staatsphilosophischer, Lehner/ Waldhoff, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff (Fn. 21), § 1, Rz. A 163, moralischer, Vogel (Fn.7), Der Staat 25 (1986), 481 (483 f.), staatstheoretischer, ebenfalls Klaus Vogel/Christian Waldhoff, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum GG, Stand: 81. Lfg., Nov. 1997, Vorbem. z. Art. 104a-115 Rz. 398 ff., ethischer, Klaus Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. II, 2. Aufl., 2003, S. 577, oder abstrakten Steuerrechtfertigung, Ekkehart Reimer, Die sieben Stufen der Steuerrechtfertigung, in: Gehlen/Schorkopf (Hrsg.), Demokratie und Wirtschaft – Eine interdisziplinäre Herausforderung, 2013, S. 113, 114, oder einer Rechtfertigung aus dem Staatsverständnis, Paul Kirchhof, Steuergleichheit, StuW 1984, 297, 297; Gabriele Burmester, Zur Jurisdiktionshoheit der Staaten im Steuerrecht, JZ 1993, 698, 699, die Rede ist.

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kann eine solche Rechtfertigung nicht bieten, da es nur etwas aussagt über das Maß der Besteuerung, nicht aber über dessen Grund.66 Es erklärt, wie besteuert werden muss, wenn besteuert werden darf; die vorgelagerte Frage nach der Legitimität, dies zu tun, beantwortet es nicht. Die verfassungstheoretische und staatsethische Rechtfertigung der Besteuerung des Welteinkommens liegt auf einer anderen Ebene als die gerade behandelte Frage einer Rechtfertigung an den Maßstäben des Rechts. Es geht bei ihr nicht darum, ob ein Rechtsprinzip gegen zwingende Vorgaben des höherrangigen Rechts verstößt oder, umgekehrt, seine Geltung aus Gründen höherrangigen Rechts zwingend geboten ist. Sie will vielmehr die Frage beantworten, ob sich ein Prinzip des geltenden Rechts auf vernünftige, die Rechtsgemeinschaft überzeugende Gründe stützen kann. Es geht um eine sachgemäße Begründung dafür, warum der Staat sich im Einkommensteuerrecht für die Besteuerung des Welteinkommens entscheiden kann.67 Der Aufweis einer verfassungstheoretischen und staatsethischen Rechtfertigung einer Besteuerung des Welteinkommens ist nicht allein von abstrakt-wissenschaftlichem Interesse. Er erweist sich vielmehr aus mehreren Gründen auch für die praktische Rechtsanwendung als notwendig. So zunächst aus einem methodischen Grund: jedes Rechtsgebiet ist angewiesen auf systematische Leitgedanken, auf deren Grundlage der Rechtsanwender seine Rechtsnormen interpretieren und mögliche Lücken schließen kann.68 Diese Funktion ist im Steuerrecht zwar schon durch das Leistungsfähigkeitsprinzip besetzt; wo dieses aber verschiedenen Deutungen zugänglich ist, können verfassungstheoretische und staatsethische Überlegungen helfen. Sodann aus einem Gesichtspunkt, der in der Bedeutung des Rechtsstaatsprinzips als einer Idee begründet liegt:69 der vom Grundgesetz verfasste Staat muss sich und seine Herrschaft als legitim erweisen und damit auch eine Entscheidung wie die für eine Welteinkommensbesteuerung auf sachliche, die staatliche Gemeinschaft überzeugende Gründe stützen können. Er darf seine Besteuerungsgewalt nicht beliebig,

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Morgenthaler (Fn. 16), S. 72. Morgenthaler (Fn. 16), S. 61. 68 Morgenthaler (Fn. 16), S. 5 ff.; Eberhard Schmidt-Aßmann, Das Allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl., 2006, Rz. 5 f.; Claus Wilhelm Canaris, Theorienrezeption und Theorienstruktur, in: Leser/Isomura (Hrsg.), Festschrift für Zentaro Kitagawa, 1992, S. 59, 60 ff. Aufgrund der notwendigen Ausgleichs- und Kompromissfunktion parlamentarischer Willensbildung unterliegt der Anspruch auf rechtswissenschaftliche Systembildung in einer demokratischen Staatsordnung allerdings immanenten Einschränkungen, Oliver Lepsius, Rechtswissenschaft in der Demokratie, Der Staat 52 (2013), 157, 184 f. 69 Zur Abschichtung der Wirkungsstufen verfassungsgestaltender Grundentscheidungen als konkrete Dogmen, Prinzipien und Ideen Eberhard Schmidt-Aßmann, Verwaltungslegitimation als Rechtsbegriff, AöR 116 (1991), 329, 334 f. 67

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sondern nur mit dem Anspruch einsetzen, Gerechtigkeit zu wahren.70 Das Gebot materieller Gerechtigkeit ist als Element des Rechtsstaatsprinzips wie auch der umfassenden Verpflichtung des Staates auf das Gemeinwohl71 die Leitidee staatlichen Handelns.72 Ein dem Gebot materieller Gerechtigkeit widerstreitendes staatliches Handeln löst zwar nicht das Verdikt der Verfassungswidrigkeit aus,73 die ideelle Schicht des Rechtsstaatprinzips bleibt jedoch bedeutsam, um normative Aussagen zu akzentuieren und Ansätze der Ideengeschichte und anderer wissenschaftlicher Disziplinen zu rezipieren.74 Schließlich aufgrund einer praktischen Einsicht der Rechtstheorie: Als ein Institut des positiven Rechts ist das Einkommensteuergesetz wie alles Recht um seiner Wirksamkeit willen angewiesen auf Akzeptanz.75 Weder Verfassung noch einfaches Recht haben aus sich heraus die Kraft, die in einer Akzeptanzkrise nötige Zustimmung der Rechtsgemeinschaft für eine rechtliche Regel zu gewährleisten.76 Die Geltung des Rechts als sein Befolgungsanspruch ist zwar zu unterscheiden von seiner Wirksamkeit, der Einlösung dieses Anspruchs in der Wirklichkeit;77 Defizite im Vollzug, wie sie immer wieder vorkommen, können die Normgeltung nicht in Frage stellen. Eine Norm, der jede Wirksamkeit fehlt, kann jedoch nicht als gültige Norm angesehen werden.78 Je größer nun die Bereitschaft der Pflichtigen ausgeprägt ist, die Norm zu befolgen, umso leichter lässt sie sich administrieren und so ihre Wirksamkeit si-

70 Klaus Vogel, Wie geht es weiter? Die Zukunft des Oasenproblems, in: Baconnier/Diehl u. a., Steueroasen und Außensteuergesetze – Die Bedeutung der Steueroasen heute und die gesetzlichen Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung, 1981, S. 125, 127. 71 Klaus Vogel, Der Finanz- und Steuerstaat, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. II, 3. Aufl., 2004, § 30, Rz. 59. 72 BVerfGE 7, 89, 92; 49, 148, 164; 74, 129, 152; 95, 96, 130; Josef Isensee, Rechtsstaat – Vorgabe und Aufgabe der Einung Deutschlands, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR IX, 1997, § 202, Rz. 23. 73 So aber tendenziell Vogel (Fn. 7), Der Staat 25 (1986), 481, 485; zum gleichen Ergebnis kommen Lehner/Waldhoff (Fn. 21), § 1, Rz. A 204, die ein Besteuerungsverbot zwar nicht mit einem Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip begründen, wohl aber im Falle des Fehlens einer territorialen Anbindung des Leistungsfähigkeitsprinzips einen staatsethischen Gedanken unmittelbar zur Voraussetzung der Anwendbarkeit des Gleichheitssatzes erheben. 74 Schmidt-Aßmann (Fn. 69), AöR 116 (1991), 329, 334 f. 75 Dazu allgemein: Josef Isensee, Die Zukunftsfähigkeit des deutschen Staatskirchenrechts – Gegenwärtige Legitimationsprobleme, in: Isensee/Rees u. a. (Hrsg.), Festschrift für Joseph Listl zum 70. Geburtstag, 1999, S. 67, 67 f. 76 Josef Isensee, Rechtsstaat – Vorgabe und Aufgabe der Einung Deutschlands, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), HStR IX, 1997, § 202, Rz. 74. 77 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., 1960, S. 9 ff.; ders., Allgemeine Theorie der Normen, 1979, S. 112; Josef Isensee, Das Volk als Grund der Verfassung, 1995, S. 13 f., 80 ff., 95 ff. 78 Kelsen (Fn. 77), Reine Rechtslehre, S. 9; im Steuerrecht wird die fehlende Wirksamkeit einer Norm im Falle eines strukturellen Vollzugsdefizits zu einer Frage des allgemeinen Gleichheitssatzes, BVerfGE 84, 239, 271 ff.

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chern.79 Die hierfür notwendige Akzeptanz gewinnt eine Norm zum einen durch ihre Entstehung, die Zustimmung des demokratisch gewählten Parlaments („Inputlegitimation“); sie gewinnt sie zum anderen aber auch durch die Einsicht der Pflichtigen in die Rechtfertigung einer Steuer in ihrem Grund wie in ihrer Höhe („Outputlegitimation“).80 Die verfassungstheoretische und staatsethische Rechtfertigung der Besteuerung hat in erster Linie eine binnenstaatliche Perspektive; sie fragt, wie sich die Besteuerung gegenüber dem Einzelnen rechtfertigen lässt (iustitia distributiva). Daneben hat sie aber auch eine Perspektive nach außen; die Legitimität staatlicher Herrschaft hängt, freilich nur abgeschwächt, auch ab von der Einhaltung der Regeln zwischenstaatlicher Gerechtigkeit (iustitia commutativa);81 nur abgeschwächt deshalb, weil im Konfliktsfalle der auf den Einzelnen bezogenen Sichtweise der Vorrang gebührt: im Verfassungsstaat haben Staat und Recht ihren Bezugspunkt grundsätzlich im Individuum, nicht in der übergeordneten Größe Staat.82 Das Gebot einer Legitimation der Besteuerung gilt für die Kategorie der Steuer an sich wie auch für einzelne Steuern.83 Denn auch wenn Steuern als solche gerechtfertigt sind, bedeutet dies nicht automatisch, dass auch jede einzelne Steuer sich auf die Rechtsgemeinschaft überzeugende Gründe stützen kann.84 Auch die einzelne Steuer hat sich als legitim zu erweisen. Die für die Akzeptanz einer Regelung nötigen Gründe aufzuzeigen, ist dabei nicht allein Sache der Juristen. An einem solchen Diskurs nehmen vielmehr auch Vertreter anderer Disziplinen, ja die allgemeine Öffentlichkeit teil. Juristen mögen indes lediglich aufgrund ihrer Befassung mit Fragen der Legitimation in besonderer Weise dazu berufen sein, Argumente dieser Diskussion beizusteuern. Ein Monopol besitzen sie in diesen Fragen indessen nicht. 2. Rückblick: Opfertheorie Das Leistungsfähigkeitsprinzip, das auf eine Besteuerung des Welteinkommens drängt, hat seine ideengeschichtlichen Wurzeln in der Staatslehre des 19. Jahrhun-

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Reimer (Fn. 65), S. 113, 126 f. Reimer (Fn. 65), S. 113, 125 ff. 81 Vogel (Fn. 5), S. 3, 21 f.; Lehner/Waldhoff (Fn. 21), § 1, Rz. A 178; Reimer (Fn. 65), S. 113, 135. 82 Zur Verfassung: Josef Isensee, Würde des Menschen, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. IV, 2011, § 87 Rz. 96; zur Einkommensteuer: Lehner/Waldhoff (Fn. 21), § 1, Rd. A 179. 83 Friauf (Fn. 28), S. 3, 5 f.; Rodi (Fn. 6), S. 11 f., und passim. 84 Klaus Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, 2. Aufl., 2000, S. 228, 232, Bd. II, 2. Aufl., 2003, S. 569. 80

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derts.85 Die organische Staatslehre dieser Zeit sah in der Steuer ein Opfer, das seine Rechtfertigung finden sollte in der Vorstellung vom Staat als eines höheren Wesens.86 Der Staat sei, so wurde gedacht, als ein höheres Wesen berechtigt, von seinen Bürgern Opfer zu fordern, in der Besteuerung diese nach ihrer Leistungsfähigkeit zu belasten. Die Leistungsfähigkeit sei umfassend zu verstehen, so dass der Wohnsitzstaat seine Besteuerung auf das Welteinkommen erstrecken dürfe.87 Die Grundlagen der Opfertheorie sind mit der Überwindung der organischen Staatslehre im Verfassungsstaat entfallen. Der Staat besitzt hier Legitimität nicht mehr um seiner selbst willen, sondern nur, wenn und weil er sich und sein Handeln dem Menschen gegenüber als gerecht zu erweisen vermag.88 Im Übrigen lässt sich die organische Staatstheorie nur gegenüber den eigenen Staatsangehörigen in Stellung bringen, nicht gegenüber den im Inland ansässigen Ausländern.89 Die Pflicht zum Opfer eines um seiner selbst willen anzuerkennenden Staates kann nur von denen gefordert werden, die in einem Zugehörigkeitsverhältnis zu diesem Staat stehen. Dies sind nur die Staatsangehörigen, nicht aber Personen, die sich zwar auf dem Gebiet dieses Staates aufhalten, ihm jedoch nicht staatsbürgerlich verbunden sind. 3. Äquivalenztheorie a) Die These Heute wird das Welteinkommensprinzip damit gerechtfertigt, dass der Steuerinländer in Deutschland lebe. Es könne deshalb vermutet werden, dass er Leistungen des Staates in Anspruch nehme.90 Die Erbringung von staatlichen Leistungen an den Ansässigen sei der tiefere Grund dafür, weshalb dieser zu den Kosten des Staates umfassend beizutragen habe.91 Beim Nichtansässigen besteht dieser Grund nicht. Dieser 85 Birk (Fn. 35), S. 23 ff.; ders., Die verteilungsgerechte Einkommensteuer – Ideal oder Utopie, JZ 1988, 820, 821. 86 Karl Heinrich Rau, Grundsätze der Finanzwissenschaft, Zweite Abtheilung, 1837, hier zit. nach dem von Schefold herausgegebenen Nachdruck 1997, S. 8, 10; Adolph Wagner, Finanzwissenschaft – Zweiter Theil: Gebühren und allgemeine Steuerlehre, 2. Aufl., 1890, S. 216 ff., 433; 443; ders. auch zum Folgenden. 87 Wagner (Fn. 86), S. 406 f. 88 Josef Isensee, Würde des Menschen, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. IV, 2011, § 87, Rz. 96; Christoph Enders, in: Friauf/Höfling, Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Stand: 13. Lfg., Juli 2005, Art. 1, Rn. 31 f. 89 Vogel (Fn. 43), S. 363, 372 f.; Lehner/Waldhoff (Fn. 21), § 1, Rz. A 164, 224. 90 BVerfG, HFR 1992, 424, 425; BFH, BStBl. II 1994, 27; Helmut Debatin, Die beschränkte Steuerpflicht bei der Einkommen- und Körperschaftsteuer, BB 1960, 1015, 1015; ders., Konzeptionen zur Steuerpflicht, FR 1969, 277, 278 f.; Armin Spitaler, Das Doppelbesteuerungsproblem bei den direkten Steuern, 1936, 2., unveränderte Aufl., 1967, S. 435 ff.; heute etwa Thomas Stapperfend, in: Hermann/Heuer/Raupach (Hrsg.), EStG/KStG, Stand: 247. Lfg., August 2011, Vor §§ 1, 1a EStG, Rz. 31. 91 Stapperfend, in: Hermann/Heuer/Raupach (Fn. 90), a. a. O.

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sei dagegen mit seinen im Inland bezogenen Einkünften zu besteuern, weil diese Einkünfte so eng mit der inländischen Volkswirtschaft verknüpft seien, dass Deutschland als Staat der Quelle unter dem Gesichtspunkt einer gerechten Verteilung der Steuerlast auf deren Besteuerung nicht verzichten könne.92 Hier kommt es damit zur Anwendung des Ursprungsprinzips (Quellenprinzips). b) Gehalt und Funktion Das Argument einer vermuteten Inanspruchnahme staatlicher Leistungen stammt aus dem Arsenal der Äquivalenztheorie. Die Äquivalenztheorie sucht Grund und Maß der Abgabenbelastung der Bürger zu rechtfertigen nach dem Prinzip „Leistung und Gegenleistung“.93 Die Steuerleistung des Bürgers wird in ein Verhältnis gesetzt zum Nutzen, den er aus den staatlichen Leistungen bezieht bzw. zu den Kosten, die er dem Gemeinwesen versursacht.94 Die Schwierigkeiten, die mit der praktischen Handhabung der Äquivalenztheorie verbunden sind, waren von Anfang an bekannt. Die Frage blieb unbeantwortet, wie die spezifischen Vorteile der Staatsleistungen, wie die durch den Bürger verursachten Kosten ermittelt werden sollten.95 Bis heute fehlt es an einer befriedigenden Methode, um im Sinne einer Individualäquivalenz Leistung und Gegenleistung in ein Verhältnis zueinander zu setzen und den Nutzen staatlicher Leistungen für den Einzelnen bzw. die von diesem verursachten Kosten zu berechnen. Für das Maß der Besteuerung hat sich die Äquivalenztheorie denn auch nicht durchsetzen können.96 Anders liegt es mit der Rechtfertigung der Besteuerung dem Grunde nach. Hier findet die Vorstellung vermehrt Anklang, dass sich die Steuerzahlung des Bürgers als Gegenleistung für die Leistungen des Staates deuten lässt.97 Dies nun jedoch nicht im 92 Helmut Debatin, Die beschränkte Steuerpflicht bei der Einkommen- und Körperschaftsteuer, BB 1960, 1015, 1015; ders., Die Bestimmung der Einkunftsart bei der beschränkten Steuerpflicht, DB 1961, 785, 785. 93 Fritz Karl Mann, Steuerpolitische Ideale, 1937, S. 105; bezogen nur auf die Höhe der Abgabenlast Arnd Schmehl, Das Äquivalenzprinzip im Recht der Staatsfinanzierung, 2004, S. 8, 14, 70 und passim. 94 Berns Hansjürgens, Äquivalenzprinzip und Staatsfinanzierung, 2001, S. 17. 95 Mann (Fn. 93), S. 106; Heinz Haller, Die Steuern, 1981, S. 16 ff.; Klaus Vogel, Wie geht es weiter? Die Zukunft des Oasenproblems, in: Baconnier/Diehl u. a., Steueroasen und Außensteuergesetze – Die Bedeutung der Steueroasen heute und die gesetzlichen Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung, 1981, S. 125, 129; jüngerer Konkretisierungsversuch: Hansjürgens (Fn. 94), 207 ff. 96 Josef Isensee, Referat auf dem 57. Deutschen Juristentag, Bd. II, Sitzungsberichte, 1988, S. N 32, 36; Vogel, in: Isensee/Kirchhof (Fn. 71), § 30, Rz. 68; Rainer Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, 2005, S. 279 ff.; Wolfgang Schön, Zur Zukunft des Internationalen Steuerrechts, StuW 2012, 213, 215. 97 Hey, in: Tipke/Lang (Fn. 17), § 3, Rz. 40 ff.; dies., Vom Nutzen des Nutzenprinzips für die Gestaltung der Steuerrechtsordnung, in: Tipke/Seer u. a. (Hrsg.), Festschrift für Joachim Lang zum 70. Geburtstag, 2010, S. 133, 142 ff.; Seer (Fn. 17), § 3, Rz. 44; klassisch: Ernst

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Sinne einer Individual-, sondern lediglich einer Globaläquivalenz, bei welcher der Steuerzahlung des Bürgers die Leistungen des Staates in einem umfassenden Sinne gegenüberstehen.98 Die Rechtfertigung der Abgabenart Steuer aus dem Gedanken der Globaläquivalenz ist vereinbar mit dem Steuerbegriff, da dieser nur die Abwesenheit einer „besonderen Gegenleistung“ voraussetzt (§ 3 Abs. 1 S. 1 AO), nicht aber den Blick auf die allgemeinen Leistungen des Staates verstellt.99 Besteht nicht nur im Bezug auf die Kategorie der Steuer an sich, sondern auch für jede einzelne Steuerart das Bedürfnis nach einer Legitimation dem Grunde nach,100 lässt sich diese auf der Basis der Äquivalenztheorie entwickeln, wenn die jeweilige Steuer hieran anknüpfen kann.101 c) Bezug der Leistungen des Staates zur Entstehung von Einkünften Mit dem Argument der schlichten Ansässigkeit des Steuerpflichtigen im Inland fällt dies im Blick auf die Einkommensteuer auf Auslandseinkünfte schwer. Um die Inanspruchnahme staatlicher Leistungen oder die Verursachung von Kosten durch den Einzelnen legitimerweise mit einer Steuer abzugelten, liegt es vielmehr nahe, diese Abgeltung als durch die indirekten Steuern, insbesondere die Umsatzsteuer als der allgemeinen Steuer auf den Verbrauch, bewirkt zu betrachten.102 Denn dass der einzelne die Leistungen der staatlichen Gemeinschaft in Anspruch nimmt oder dieser Kosten verursacht, ist für sich gesehen kein Grund, gerade eine Einkommensteuer zu erheben und sich mit deren Hilfe „im Inland an im Ausland erzielten Einkünften schadlos“ zu halten.103 Nach der Logik der Äquivalenztheorie lässt sich eine Einkommensteuer dem Grund nach vielmehr nur dann als legitim er-

Isay, Internationales Finanzrecht, 1934, S. 41; a.A. etwa Ferdinand Kirchhof, in: Achterberg/ Püttner u. a. (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, Bd. II, 2. Aufl., 2000, Abgabenrecht, Rz. 28. 98 Christian Waldhoff, Finanzautonomie und Finanzverflechtung in gestuften Rechtsordnungen, VVDStRL 66 (2006), S. 216, 241 f. 99 Morgenthaler (Fn. 16), S. 104. 100 Siehe unter IV. 1. 101 Wendt (Fn. 3), DÖV 1988, 710, 715; Aufschlüsselung für alle Steuerarten: Reimer (Fn. 65), S. 113, 123. 102 Mössner (Fn. 50), S. 253, 264; Vogel (Fn. 5), S. 3, 27. Dies gilt auch für den Gedanken von Karl Heinrich Friauf, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Gesetzgebung über die Steuern vom Einkommen und vom Ertrag, in: Friauf (Hrsg.), Steuerrecht und Verfassungsrecht, DStJG 12 (1989), S. 3, 7, wonach die Welteinkommensbesteuerung deshalb gerechtfertigt sei, weil der im Inland Ansässige für den Genuss des Erworbenen den Schutz der deutschen Rechts- und Sozialordnung in Anspruch nehme. Auch der Genuss des Erworbenen bedeutet Verbrauch und die Sozialpflichtigkeit dieses Verbrauchs wird durch die Verbrauchsteuern abgegolten. Hier zusätzlich die Einkommensteuer heranzuziehen ist wenig überzeugend. 103 Horst Walter Endriss, Ist die Unterscheidung zwischen beschränkter und unbeschränkter Steuerpflicht noch zeitgemäß?, FR 1968, 338, 340; a.A. Hey (Fn. 97), S. 133, 160.

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weisen, wenn die Leistungen des Staates etwas mit der Entstehung und nicht nur der Verwendung des Einkommens zu tun haben.104 Einen Bezug der Leistungen des Staates zur Einkommensentstehung und damit zur Rechtfertigung der Einkommensteuer dem Grunde nach sieht die Markteinkommenstheorie im Gedanken der Partizipation des Staates am Markterfolg des Bürgers.105 Der Staat des Grundgesetzes, der die Freiheit des Berufs und des Eigentums als Grundrecht gewährleistet (Art. 12 Abs. 1 S. 1, Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG), kann seinen Finanzbedarf nicht decken durch eigenes Unternehmertum, sondern grundsätzlich nur durch die Partizipation am Erfolg privaten Wirtschaftens. Der Staat des Grundgesetzes ist „Steuerstaat“,106 die Steuer der „Preis der Freiheit“.107 Die Rechtfertigung der Steuer als Abgabenart an sich ist hierbei jedoch nicht zu verstehen als Gegenleistung für die Nutzung des Marktes im Sinne einer vom Staat bereitgestellten Infrastruktur;108 der Markt ist ein nicht vom Staat, sondern ein dezentral von der Gesellschaft geschaffenes Feld der Begegnung von Anbietern und Nachfragern.109 Die Rechtfertigung der Steuer liegt vielmehr darin, dass sie „notwendiges Pendant unserer privatnützigen Eigentums- und Wirtschaftsordnung und letztlich unserer freiheitlichen rechts- und sozialstaatlichen Ordnung überhaupt“ ist.110 Der Begriff „Markt“ muss daher interpretiert werden als eine Chiffre für „Schutz, Ordnung und Leistungen der staatlichen Gemeinschaft“, die jedem zugute kommt, der am staatlichen Leben teilnimmt.111 Aus diesen Zusammenhängen ergibt sich die allgemeine, verfassungstheoretische und staatsethische Rechtfertigung der Besteuerung an sich.112 Die verfassungstheoretische und staatsethische Rechtfertigung der Einkommensteuer dem Grunde nach wie auch in ihrer gegenständlichen und außensteuerlichen Reichweite haben hieran

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Mössner (Fn. 50), S. 253, 264. So Paul Kirchhof, in: ders. (Hrsg.), EStG, 12. Aufl., 2013, § 1, Rz. 1, 5; ders., Bundessteuergesetzbuch, 2011, § 43, Rz. 8, und öfter; insoweit auch Wendt (Fn. 3), DÖV 1988, 710, 715. 106 Josef Isensee (Fn. 33), S. 409 ff.; Vogel, in: Isensee/Kirchhof (Fn. 71), § 30, Rz. 69 ff.; Sebastian Müller-Franken, in: Höfling/Friauf (Fn. 88), Stand: 24. Lfg., August 2008, Art. 105, Rz. 53 ff.; Heinrich Weber-Grellet (Fn. 49), S. 4 ff. 107 Josef Isensee, Referat auf dem 57. Deutschen Juristentag, Bd. II, Sitzungsberichte, 1988, S. N 32, 36; bereits ders. (Fn. 33), S. 409, 424. 108 So Paul Kirchhof, in: ders. (Hrsg.), EStG, 12. Aufl., 2013, § 1, Rz. 1, 5; ders., Bundessteuergesetzbuch, 2011, § 43, Rz. 8, und öfter. 109 Wendt (Fn. 3), DÖV 1988, 710, 715; Josef Isensee, Referat auf dem 57. Deutschen Juristentag, Bd. II, Sitzungsberichte, 1988, S. N 32, 36 f. 110 So Rudolf Wendt, Empfiehlt es sich, das Einkommensteuerrecht zur Beseitigung von Ungleichbehandlungen und zur Vereinfachung neu zu ordnen?, DÖV 1988, 710, 715 f. 111 BVerfGE 67, 100, 143; Markt als „Chiffre“ für eine durchsetzungsfähige Rechtsordnung: Lehner/Waldhoff (Fn. 21), § 1, Rz. 211. 112 Vgl. dazu Vogel (Fn. 7), Der Staat 25 (1986), 481, 516 f. 105

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anzuknüpfen.113 Es geht um die staatliche Teilhabe an Einkünften, welche die Rechts- und Wirtschaftsordnung ermöglicht und in dem diese sich bestätigt. Ist die Steuerpflichtigkeit des Bürgers „unverzichtbare, staatbürgerschaftliche Pflicht, in der sich die qualitativ gleiche Verantwortung aller Staatsbürger für das Gemeinwohl widerspiegelt“,114 sind hiervon notwendig auch solche Zuflüsse erfasst, die abseits des Marktes, aber unter dem Schutz der staatlichen Ordnung erworben werden.115 Die Einkommensteuer rechtfertigt sich gegenüber Ansässigen wie Nichtansässigen damit einheitlich als Teilhabe des Staates an der durch seine staatliche Ordnung ermöglichten Wertschöpfung.116 Zwischenstaatlich sind aus dem Gesichtspunkt der Äquivalenz Einkünfte den Staaten zuzuordnen, unter deren „Schutz und Ordnung“ und mit deren „Leistungen“ sie erwirtschaftet worden sind.117 d) Der Beitrag des Ansässigkeitsstaats an der Entstehung ausländischer Einkünfte Das Einkommen, das eine Person im Ausland erzielt, entsteht in erster Linie durch den Schutz der Rechts- und Wirtschaftsordnung des ausländischen Staates, nicht durch den Schutz der staatlichen Ordnung seines Wohnsitzstaates:118 Der deutsche Staat kann eine Garantie für den Schutz seiner Bürger nur übernehmen auf seinem Gebiet. Ausländische Staaten stehen zur deutschen Staatsgewalt nicht in einem Verhältnis der Subordination, sondern einem solchen der Koordination.119 Die Bundesrepublik kann hier nur verpflichtet sein, sich um den Schutz der Rechtsgüter ihrer Bürger zu bemühen; eine Einstandspflicht, vergleichbar ihrer Pflicht zum Schutz der inneren Sicherheit, trifft sie hier nicht. Die Pflicht der Staaten, ihren Staatsbürgern diplomatischen Schutz im Ausland zu gewähren,120 und eine darin liegende Mit113 Wendt (Fn. 3) DÖV 1988, 710, 715 (nur zur gegenständlichen Reichweite, aufgrund des binnenstaatlich verengten Themas nicht auch zur außensteuerlichen). 114 Wendt (Fn. 3), DÖV 1988, 710, 715. 115 Friauf (Fn. 28), DStJG 12 (1989), S. 3, 7; Söhn (Fn. 49), S. 343, 350; zur Zulässigkeit der Besteuerung von nicht am Markt erzielten Vermögenszugängen siehe auch BVerfG, BStBl. I, 1959, 68, 69 f. (Nutzungswertbesteuerung); BVerfG, BStBl. II 1995, 758, 759 (Progressionsvorbehalt und Lohnersatzleistungen); BVerfGE 105, 73, 131 (Alterseinkünften auch „insoweit, als es sich bei den Rentenbezügen um staatliche Transferzahlungen handelt“); zum Schutz durch den Staat als Argument für die Steuerrechtfertigung klassisch: Adam Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, 1789, Book V, Chapter II, Part 2, hier zit. nach Recktenwald (Hrsg.), Der Wohlstand der Nationen, 9. Aufl., 2001, S. 703. 116 Gerd Morgenthaler, Beschränkte Steuerpflicht und Gleichheitssatz, IStR 1993, 258, 260. 117 Vogel (Fn. 13), StuW 1980, 206, 211; zuvor Dorn (Fn. 19), VJSchrStFR 1 (1927), 189, 213; heute etwa Beil (Fn. 56), S. 126 ff. 118 Dietmar Gosch, in: Kirchhof (Hrsg.), in: Kirchhof, EStG-Kommentar, 12. Aufl., 2013, § 1, Rz. 2; Mössner (Fn. 10), S. 253, 267. 119 Josef Isensee, Abwehrrecht und Schutzpflicht, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. IX, 3. Aufl., 2011, § 191, Rz. 208. 120 Vogel (Fn. 13), StuW 1980, 206, 211.

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wirkung an der Entstehung von Einkommen – zwar kein Versprechen eines Erfolgs, wohl aber eines Bemühens121 – kann das Welteinkommensprinzip nicht rechtfertigen. Das Welteinkommensprinzip ist nicht auf die Staatsangehörigen beschränkt, sondern knüpft an einen Wohnsitz oder den gewöhnlichen Aufenthalt an, gilt damit auch für Nichtsstaatsangehörige.122 Diesen gegenüber ist der deutsche Staat im Ausland jedoch nicht als Schutzmacht verpflichtet.123 Das von einem Inländer im Ausland investierte Kapital ist regelmäßig bereits im Inland versteuertes Einkommen.124 Zu sagen, der Staat dürfe auf dessen im Ausland gezogenen Früchte zugreifen, da er die Voraussetzungen dafür geschaffen habe, dass eine grenzüberschreitende Investition getätigt werden konnte,125 impliziert, dass der Staat ein dauerhaftes Recht auf Partizipation an den Früchten des Vermögens seiner Bürger hat. Eine solche Vorstellung ist einem Staat, dessen Verfassung sich für die internationale Zusammenarbeit entschieden hat, indes fremd.126 In jüngerer Zeit ist das Welteinkommensprinzip mit dem Argument äquivalenztheoretisch gerechtfertigt worden, dass die vielfältige, letztlich unbegrenzte Inanspruchnahme staatlicher Leistungen durch den im Inland Ansässigen sich, zumindest zu einem Teil, auch auf die im Ausland erzielten Einkünfte beziehe.127 Denn, und dies ist der entscheidende Gedanke, ohne Domizil sei ein geordnetes Wirtschaften nicht denkbar. Ein Zusammenhang zwischen Domizil und geordnetem Wirtschaften dürfe im Rahmen einer typisierenden und pauschalierenden Betrachtungsweise zumindest vermutet werden, sofern der Inlandsbezug eine gewisse Dauerhaftigkeit aufweise. Die Rechtfertigung des Steuerzugriffs hinsichtlich der nicht im Inland erzielten Einkünfte mag zwar abgeschwächt sein, falle jedoch nicht fort. In der Tat ist ein geordnetes Wirtschaften ohne ein Domizil nicht möglich, so dass ein Anteil des Staates, der dieses Domizil gewährt, an der Entstehung von im Ausland erzielten Einkommen nicht bestritten werden kann. Ob dies reicht, um das Steuersubstrat nicht nur teilweise, sondern im Ausgangspunkt, wie im deutschen Recht, ganz für sich in Anspruch zu nehmen, ist jedoch zweifelhaft.128 Denn die Legitimationsbasis ist schwach, wie deren Vertreter selbst einräumen: 121

Isensee, in: ders./Kirchhof (Fn. 119), § 191, Rz. 208. Mössner (Fn. 50), S. 253, 264. 123 Vogel (Fn. 13), StuW 1980, 206, 211. 124 Vogel (Fn. 13), StuW 1980, 206, 211. 125 Mössner (Fn. 50), S. 253, 264. 126 Vogel (Fn. 5), S. 3, 29, unter Bezugnahme auf die Schrift des Verf., Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit, 1964, S. 35 ff., 42. 127 Lehner/Waldhoff, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff (Fn. 21), § 1, Rz. A 177; dies. auch zum Folgenden. 128 Klassisch zur Verteilung der Steuern nach deren „wirtschaftlichen Zugehörigkeit“ zu einem Viertel an den Wohnsitzstaat, zu drei Vierteln an den Quellenstaat Georg v. Schanz, Zur Frage der Steuerpflicht, FinArch. 9 (1892), S. 1, 4; ders., Die Doppelbesteuerung und der Völkerbund, FinArch. Bd. 40 (1923), S. 353, 366 ff.; Prinzip der quellenanteiligen Zuordnung 122

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Das Argument des Domizils bezieht sich zunächst einmal auf das Leben und Verbundensein mit der staatlichen Gemeinschaft, in der dieses Domizil liegt. Legitimatorisch läge es daher auch hier nahe, dieses verstetigte „Leben in einem Land“129 als durch die indirekten Steuern sowie, bei konkreten Gegenleistungen, durch Gebühren und Beiträge abgegolten anzusehen. Vor allem aber gibt das deutsche Recht selbst an mehreren Stellen zu erkennen, dass nach seinen eigenen Wertungen die Zuordnung von Einkommen dem Staat gebührt, der etwas zu dessen Entstehung beigetragen hat: Das Einkommensteuergesetz statuiert das Quellenprinzip für die Steuerpflichtigen, die auf deutschem Staatsgebiet Einkommen erwirtschaftet haben, aber dort nicht ansässig sind;130 für eine Besteuerung des Welteinkommens hält es sich bei den Nichtansässigen nicht für befugt.131 In seiner Abkommenspolitik132 wie auch unilateral133 strebt Deutschland eine Ordnung an, welche die Besteuerung134 dem Ursprungsland belässt.135 In der weitaus überwiegenden Zahl der Fälle hält es an seiner Entscheidung für das Prinzip der Welteinkommensbesteuerung im Falle der Anwendung von Doppelbesteuerungsabkommen mithin nicht fest.136 wieder aufgegriffen von Gabriele Burmester, Zur Jurisdiktionshoheit der Staaten im Steuerrecht, JZ 1993, 698, 702; siehe auch Vogel (Fn. 5), S. 3, 27. 129 Dies als Argument für die Welteinkommensbesteuerung hervorhebend Schön (Fn. 43), IStR 1995, 119, 124; ähnlich Adonnino (Fn. 64), S. 271, 280. 130 Klaus Tipke, Die Steuerflucht bei internationalen Beziehungen, in: Bernhardt/Beyerlin (Hrsg.), Deutsche Landesberichte zum Öffentlichen Recht und Völkerrecht, XI. Internationaler Kongreß für Rechtsvergleichung, 1982, S. 211, 219. 131 Kritik an dieser Beschränkung: Christoph Trzaskalik, Marginalien zur Einkommensteuer der beschränkt steuerpflichtigen Arbeitnehmer, StuW 1990, 380, 381 f. Dass es für eine Welteinkommensbesteuerung beim Nichtansässigen an einem „genuine link“ fehle, so Frotscher (Fn. 17), § 1, Rz. 26, überzeugt nicht, siehe Lehner/Waldhoff (Fn. 21), § 1, Rz. A 452 (andere Modelle rechtspolitisch möglich) sowie die Norm des § 1a EStG, in der ausländische Tatbestandselemente geregelt sind, dazu Ekkehard Reimer/Tanja Weimar, in: Kirchhof/Söhn/ Mellinghoff (Fn. 21), Stand: 242 Lfg. August 2013, § 1a, Rz. 6. 132 Die Bundesrepublik Deutschland wendet als Vertragsstaat beim Abschluss von Doppelbesteuerungsabkommen zumeist die Freistellungsmethode an, wobei es in jüngster Zeit in der Abkommenspraxis zu einer Ausweitung der Anrechnungsmethode gekommen ist, Jens Schönfeld/Nils Häck, in: Schönfeld/Ditz (Hrsg.), DBA, 2013, Art. 23, Rz. 3 u. 62. 133 Die Anrechnung nach § 34c Abs. 1 und Abs. 5 EStG kann im Ergebnis einer Steuerfreistellung gleichkommen, Lehner/Reimer (Fn. 1), IStR 2005, 542, 543; über § 50 Abs. 3 EStG ist § 34c Abs. 1 – 3 EStG bei bestimmten Einkunftsarten ebenfalls auf beschränkt Steuerpflichtige anzuwenden, dazu: Klaus J. Wagner, in: Blümich (Fn. 54), § 34c EStG Rz. 10. Für das Körperschaftsteuerrecht verweist § 26 KStG auf § 34c EStG. 134 Der an dieser Stelle ebenso verwandte Begriff „Besteuerungsrecht“ ist gebräuchlich, aber staatstheoretisch unzutreffend. Er lässt die Deutung zu, die Gewalt des Staates wäre nicht als etwas Umfassendes, sondern als Bündelung einzelner Hoheitsrechte zu begreifen, und den Staaten stünde das Recht, Steuern zu erheben, nicht a priori zu, sondern müsste diesen erst zugewiesen werden, Vogel (Fn. 43), S. 361, 362 ff. 135 Morgenthaler (Fn. 116), IStR 1993, 258, 260. 136 So bereits Vogel (Fn. 45), DStJG 8 (1985), S. 3, 4 f.

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V. Die Position Deutschlands bei der Verhandlung von Doppelbesteuerungsabkommen Allerdings gibt es noch einen anderen Grund für die Beibehaltung des Welteinkommensprinzips, der nur selten offen benannt wird: Die Position Deutschlands in den Verhandlungen von Doppelbesteuerungsabkommen dürfe nicht geschwächt werden.137 Dieses Argument ist legitim. Deutschland behält gegenüber seinen Partnern die notwendige Verhandlungsmasse, wenn es das Welteinkommensprinzip zum Ausgangspunkt seines Außensteuerrechts nimmt.138 Zudem wird es in die Lage versetzt, unter Anrechnung der ausländischen Steuern das Gesamteinkommen aller Inländer gleichmäßig zu besteuern.139 In einer Ordnung, die verfassungstheoretisch nicht den Staat, sondern das Individuum zu ihrem Ausgangspunkt hat,140 ist die Vorstellung einer hierfür notwendigen Indienstnahme der Zensiten als „Faustpfand“ für Verhandlungen mit anderen Staaten für diese zwar nur ein „schwacher Trost“;141 dies ändert jedoch nichts daran, dass sich das Parlament hierfür entscheiden kann. Die abträglichen Wirkungen für die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit anderen Staaten, speziell für die auf Investitionen angewiesenen Entwicklungsländer, nimmt es dabei freilich in Kauf; es widerspricht so dem Bemühen eines fairen Umgangs mit anderen Staaten und damit der viel zitierten „Entscheidung für die internationale Zusammenarbeit“142 wie auch dem Ziel der „Gerechtigkeit in der Welt“ (Art. 1 Abs. 2 GG),143 von denen das Grundgesetz getragen ist.144 Nach den verfassungstheoretischen und staatsethischen Wertungen, die, wie gesehen, dem deutschen internationalen Steuerrecht zugrunde liegen, gebührt das Steuersubstrat legitimatorisch überdies in erster Linie dem Quellenstaat und erst an zweiter Stelle dem Ansässigkeitsstaat.145 Der eingangs erwähnte und in der Öffentlichkeit verbreitete moralische Vorwurf der „direkten Schädigung der Gemeinschaft“, der gegenüber dem Hinterzieher ausländischer Einkünfte erhoben wird, bedarf daher noch einer Klarstellung: geschädigt wird aus Sicht der Wertungen, die das Recht bestim-

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So etwa Paul Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011, § 61, S. 531 f. Dazu Schaumburg (Fn. 5). 139 Lang (Fn. 57); Schaumburg (Fn. 1), Kap. 14, Rz. 10; hierbei handelt es sich um die „horizontale“ im Unterschied zur „vertikalen“ Steuergleichheit, BVerfGE 82, 60, 89. 140 Siehe die Nachweise in Fn. 88. 141 Vogel (Fn. 5), S. 3, 7. 142 Klaus Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit, 1964, S. 41 f. 143 Zur Verwirklichung zwischenstaatlicher Gerechtigkeit durch das Nutzenprinzip: Joachim Lang, in: Tipke/Lang (Fn. 17), § 4, Rz. 86; Seer (Fn. 17), § 3, Rz. 45. 144 Morgenthaler (Fn. 16), S. 106. 145 Vogel (Fn. 22), StuW 1993, 380, 386. 138

Welteinkommen, Leistungsfähigkeit und Äquivalenz

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men, in erster Linie nicht die Gemeinschaft des Staates, in dem der Pflichtige lebt, sondern die Gemeinschaft des Staates, aus dem die Einkünfte stammen.146

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Der Vorwurf eines Verstoßes gegen geltendes Recht und die Legitimität der strafrechtlichen Sanktion des Steuerungehorsams stehen hingegen außer Frage; zum Charakter der Steuerhinterziehung als Ungehorsamssanktion: Josef Isensee, Aussetzung des Steuerstrafverfahrens – rechtsstaatliche Ermessensdirektiven, NJW 1985, 1007, 1009; weitergehend Uwe Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 370 AO, Rz. 39 ff., der den Einsatz des Strafrechts nur für den Rechtsgüterschutz für zulässig hält; für die Entbehrlichkeit der Rechtgutslehre wie hier BVerfGE 120, 224, 241; dazu Ferdinand Gärditz, Strafbegründung und Demokratieprinzip, Der Staat 49 (2010), S. 331, 351 ff.

Quo vadis Bettensteuer? Von Friedrich Petry, Jena I. Die Rechtsentwicklung nach den Urteilen des BVerwG vom 11. 07. 2012 Die Bettensteuer1 beschäftigt nunmehr seit einigen Jahren die Verwaltungsgerichte. Der 9. Senat des BVerwG hat in seinen beiden Urteilen vom 11. 07. 20122 erste, für die Praxis richtungsweisende Feststellungen zur Verfassungsmäßigkeit dieser Steuer dem Grunde nach getroffen: Private Übernachtungen dürfen besteuert werden, berufliche nicht. Die beiden streitgegenständlichen Satzungen der Städte Trier und Bingen am Rhein, die nicht nach dem Übernachtungsgrund unterschieden, wurden für unwirksam erklärt3 In Städten mit überwiegend beruflichen Übernachtungen wurde die Steuer wieder abgeschafft.4 Der Kampf der Hoteliers gegen die Steuer geht nach dem errungenen Teilsieg weiter5. Es gibt nach wie vor ungeklärte Fragen. Zum Beispiel hat das OVG Nordrhein-Westfalen die Dortmunder Kulturförderabgabesatzung rechtskräftig6 daran scheitern lassen, dass der Inhaber des Beherbergungs1 Die Phantasie bei der Bezeichnung der Aufwandsteuer auf Übernachtungen ist grenzenlos: Es werden – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – die Begriffe Übernachtungssteuer, Übernachtungsabgabe, City-Tax, Kulturförderabgabe, Beherbergungssteuer und Tourismusabgabe verwendet. Daniel Dürrschmidt, „Bettensteuern“ und ermäßigte Umsatzsteuer in verfassungsrechtlich relevantem Widerspruch? KStZ 2013, 1 f. weist zu Recht darauf hin, dass es „die“ Bettensteuer nicht gibt, da sie von Gemeinde zu Gemeinde unterschiedlich ausgestaltet ist. 2 BVerwG, Urteil v. 11. 07. 2012 – 9 CN 1.11 (Trier), NVwZ 2012, 1407 ff. m. Anm. von Tobias Ory, NVwZ 2012, 1412 f., = BVerwGE 143, 301 ff; = SächsVBl. 2012, 305 ff. m. Anm. Dirk Tolkmitt, sowie BVerwG, Urteil v. 11. 07. 2012 – 9 CN 2.11 (Bingen am Rhein), n.v. 3 Zur Begründung diese Nichtigerklärung siehe auch OVG NRW, Urteil vom 23. Januar 2013, 14 A 1860/11, rkr. Das BVerwG hat die Nichtzulassungsbeschwerde der Stadt Dortmund zurückgewiesen, Beschluss v. 18. Juli 2013, B 16.13. Siehe auch Mike Wienbracke, Tropfen auf heiße Steine: Örtliche Verbrauch- und Aufwandsteuern (Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG) in Zeiten knapper kommunaler Kassen, KStZ 2013, 41, 45 f. 4 Dies gilt z. B. für die Stadt Jena. 5 „Kampf gegen die Bettensteuer geht weiter: Westin Grand Berlin reicht Klage gegen die City Tax ein“, hottellingstaffwriter vom 20. Juni 2014. Unter Dehoga-Bundesverband, http:// www.dehoga-bundesverband.de/branchenthemen/bettensteuer/ befindet sich eine instruktive Übersichtskarte zum Stand der Diskussionen in den Gemeinden mit einer Aufstellung der in den Gemeinden erhobenen Steuersätze. 6 OVG NRW, Urteil v. 23. Januar 2013 – 14 A 1860/11, rkr. Das BVerwG hat die Nichtzulassungsbeschwerde der Stadt Dortmund zurückgewiesen, da sie nicht revisibles Landesrecht betrifft, Beschluss v. 18. Juli 2013 – 9 B 16.13.

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betriebes nur Steuerentrichtungspflichtiger, nicht aber Steuerschuldner sein könne. Er stünde nur zu einem Teil des steuerbegründenden Tatbestandes in der nach § 12 Abs. 1 Nr. 2 a) und b) KAG NRW i. V. m. §§ 37 – 49 AO geforderten besonderen rechtlichen und wirtschaftlichen Beziehung. Dafür, ob die Übernachtung privat oder beruflich motiviert sei, gelte dies nicht. Entsprechende Verweise finden sich auch in den Kommunalabgabengesetzen anderer Bundesländer.7 Trotz dieser Entscheidung sehen die Gemeinden bei allen Unterschieden der Bettensteuersatzungen im Detail den Beherbergungsbetreiber zumeist als alleinigen Steuerschuldner vor.8 Die Auffassung des OVG NRW stellt bislang eine Einzelmeinung dar. In diesem Beitrag wird zunächst auf diese und weitere, noch nicht abschließend geklärte Streitfragen der Besteuerung dem Grunde nach eingegangen. Dies gilt auch für die von der Rechtsprechung unisono verneinte Gleichartigkeit der Bettensteuer mit der Umsatzsteuer. Die nach wie vor gegenteilige Überzeugung des Autors9 gründet im Ansatz nicht zuletzt auf der Auffassung des Jubilars zum Gleichartigkeitsbegriff bei der konkurrierenden Gesetzgebung, nach der es dem Landesgesetzgeber verwehrt sein muss, aus einem der Bundessteuer unterliegenden Gegenstand oder Sachverhalt einen engeren Bereich herauszuschneiden.10 Für die Gleichartigkeit von örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuer mit bundesgesetzlich geregelten Steuern nach Art. 105 Abs. 2 a GG sollte nichts anderes gelten. Im eigentlichen Schwerpunkt des Beitrags werden die verschiedenen Ausgestaltungen des Steuersatzes der Bettensteuer untersucht, ein Thema, das bislang relativ stiefmütterlich behandelt wurde.11 Dazu liegen erste Gerichtsentscheidungen vor, die noch nicht die gebotene Gedankentiefe aufweisen. Das BVerwG befasste sich mit der Steuersatzproblematik in seinen Urteilen vom 11. 07. 2012 nur am Rande: Der 9. Senat hat die Stadt Trier, deren Satzung einen vom tatsächlichen Übernachtungsentgelt unabhängigen Pauschalsteuersatz von EUR 1,00 pro Übernachtung vorsah, in einem obiter dictum zur Prüfung aufgefordert, ob der in der Satzung enthaltene Pauschalbetrag dem Grundsatz der Belastungsgleichheit nach Art. 3 Abs. 1 GG genügen kann, weil mit einem pauschalen Steuerbetrag Übernachtungen mit einem geringeren Entgelt

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Siehe z. B. § 15 Abs. 1 Nr. 2 b) ThürKAG. Der Übernachtungsgast ist in diesen Fällen nicht gemäß § 47 Abs. 2 VwGO antragsbefugt, BVerwG, Beschluss v. 30. August 2014 – 9 BN 2.13. 9 Friedrich Petry, Die „Weimarer Bettensteuer“, Thüringer Exportschlager für leere Stadtkassen oder Irrweg?, BB 2010, 2860, 2863 – 2864. Ebenso z. B. Joachim Englisch, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 21. Aufl. 2013, § 18 Rz. 126, Fn. 1 („soweit die Steuer nach den Aufwendungen des Gastes bemessen wird“); Florian Becker, Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa, Festschrift für Edzard Schmidt-Jortzig, S. 251, 257 – 260. 10 In: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band IV, 2. Aufl. 1999 § 104 Rz. 35. 11 So bejaht z. B. Norbert Maier, Mustersatzung zur Erhebung einer Kulturförderabgabe für Beherbergungen, KStZ 2010, 192, Fn. 4, unkritisch die Zulässigkeit eines pauschalen Betrages in Höhe von EUR 3,00 – 5,00 pro Übernachtung oder eine Orientierung des Pauschbetrages an der Zimmeranzahl des Hotels oder seiner Klassifikation. 8

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wesentlich stärker belastet werden als teurere Übernachtungen.12 Trotz der aus Respekt vor dem Satzungsgeber zum Ausdruck kommenden richterlichen Zurückhaltung ist der Fingerzeig eindeutig so zu verstehen, dass die Prüfung negativ auszufallen habe.13 Der 9. Senat bescheinigte nämlich zugleich dem Staffeltarif der Stadt Bingen am Rhein (gem. § 5 der Satzung pro Übernachtung bei Nettoübernachtungspreisen bis EUR 30,00 EUR 1,00, bis EUR 100,00 EUR 2,00 und über EUR 100,00 EUR 3,00), dem Grundsatz der Besteuerungsgleichheit nach Art. 3 Abs. 1 GG (noch) zu genügen.14 Einige Urteile haben explizit oder inzidenter einen proportionalen Steuersatz gebilligt.15 Das VG München sah bei einem einheitlichen Pauschalsteuerbetrag von EUR 2,50 pro Übernachtung wegen der großen Spannbreite der Übernachtungspreise in München einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG.16 Das OVG Schleswig hingegen hat die in der Beherbergungsabgabesatzung der Stadt Flensburg enthaltene, an der Hotelklassifikation des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes orientierte, dreistufige Pauschale (ohne und bis einschließlich zwei Sternen EUR 1,50, mit drei Sternen EUR 3,00 und ab vier Sternen EUR 4,00 pro Übernachtung) – im Ergebnis zu Unrecht – als rechtmäßig angesehen.17 Die Weimarer Bettensteuersatzung, der Prototyp der Bettensteuer, die einen an der Zimmeranzahl des Beherbergungsbetriebs ausgerichteten Pauschalbetrag pro Übernachtung vorsieht, ist derzeit Gegenstand eines Normenkontrollverfahrens vor dem Thüringer Oberverwaltungsgericht18. Bei der Prüfung der Ausgestaltung der Höhe der Bettensteuer verdient der Beschluss des BVerfG vom 15. Januar 2014 zur Konstanzer Zweitwohnungssteuer Beachtung. Die darin enthaltenen Grundsätze für die Aufwandsbesteuerung der Höhe nach werden – wie z. B. das Urteil des OVG Schleswig-Holstein belegt – in der Praxis häufig ignoriert. Abschließend wird noch über den gescheiterten Versuch der Einführung einer Bettensteuer im Rechtskleid einer Kurtaxe durch die sächsische Landeshauptstadt Dresden berichtet, bevor ein Ausblick über die zukünftige Entwicklung der Bettensteuer gewagt wird.

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BVerwG, Urteil v. 11. 07. 2012 – 9 CN 1.11, NVwZ 2012, 1407 ff. (Fn. 2). Hingegen würdigt Mike Wienbracke, KStZ 2013, 41, 46 den Fingerzeig als sybillinisch und sirenisch zugleich. 14 BVerwG, Urteil v. 11. 07. 2012 – 9 CN 1.11, NVwZ 2012, 1407 ff. (Fn.2). 15 Siehe z. B. VG Düsseldorf, Urteil v. 02. 12. 2011 – 25 K 187/11, ZKF 2012, 45, 47 (5 % proportional vom Bruttoübernachtungspreis). 16 VG München, Urteil v. 30. 06. 2011 – M 10 K 10.5725, ZKF 2011, 261; vgl. dazu Dieter Ddziadkowski, Bettensteuer eine neue Umsatzsteuer?, UR 2012, 821, 825 ff. Ebenfalls zweifelnd Michael Betzinger/Sebastian Müller, DVBl. 2012, 769, 772, Anm. zu BayVGH, Urteil v. 22. 3. 2012 – 4 BV 11.1909, DVBl. 2012, 767 ff. 17 NVwZ 2013, 10. Ebenso bereits zuvor im Eilantragsverfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO, NVwZ 2012, 771. 18 Az.: 3 N 393/12. 13

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II. Für die Besteuerungspraxis noch nicht abschließend entschiedene Fragestellungen 1. Verstoß gegen Gebot der Normenwahrheit? Der häufig von den Satzungsgebern betriebene Etikettenschwindel durch die Bezeichnung als Kulturförder- oder Tourismusabgabe bleibt nach ganz herrschender Meinung rechtlich folgenlos, obwohl das Aufkommen dem Wesen einer Steuer entsprechend nicht zweckgebunden für die Kultur- oder Tourismusförderung verwendet wird.19 Hierbei wird es bleiben, auch wenn man dieses Ergebnis im Hinblick auf die Wahrhaftigkeit der Rechtsordnung bedauern mag. 2. Verstoß gegen die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung? Die Bettensteuer verstößt nach Auffassung des BVerwG auch nicht gegen die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung. Sie konterkariert nicht das Ziel des Bundesgesetzgebers, durch die Reduzierung der Umsatzsteuer für Beherbergungsbetriebe von 19 % auf 7 %, die Wirtschaft zu fördern.20 Allerdings könnte diese Frage wieder an Bedeutung gewinnen, sollte die gleiche Tendenz wie z. B. bei der Spielautomatensteuer eintreten. Hier wurde der Steuersatz laufend erhöht. Je mehr die Bettensteuer die Lücke zwischen 7 % und 19 % Umsatzsteuersatz füllt, umso stärker geht den Hotelbetreibern der ihnen aus der Umsatzsteuersenkung zugedachte Vorteil verloren.21 Der Verweis des BVerwG auf den geringeren Umfang der Bettensteuer – wobei offen bleibt, was damit genau gemeint ist – würde dann als Argument gegen einen Verstoß gegen die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung entfallen.22 3. Verstoß gegen Gleichartigkeitsverbot mit der Umsatzsteuer? Die Ungleichartigkeit der (unterschiedlich) ausgestalteten Bettensteuer mit der Umsatzsteuer wird von der Rechtsprechung ausnahmslos bestätigt. Auch die Literatur stimmt dem überwiegend zu.23 Das BVerwG hat dies in seinen beiden Urteilen 19 Christian Thiemann, Der Begriff der Aufwandsteuer und die kommunale Übernachtungsabgabe, ZG 2013, 75, 79 (Fn. 18). 20 Art. 5. Nr. 1 des Gesetzes zur Beschleunigung des Wirtschaftswachstums vom 22. 12. 2009, BGBl. I 2009, 3950. Ebenso Mike Wienbracke, KStZ 2013, 41, 45. Siehe dazu auch BVerwG, oben Fn. 2; ebenso OVG Weimar, LKV 2011, 472, 475 f.; a. A. BayVGH, DVBl. 2012, 767. 21 Neben den beiden Urteilen des BVerwG, vgl. Fn. 2, stellt hierauf z. B. auch Christian Thiemann, Der Begriff der Aufwandsteuer, ZG 2013, 75, 82 ab. 22 Siehe dazu BVerwG Fn. 2, NVwZ 2012, 1407, 1411. 23 Siehe z. B. Michael Rutemöller, Beherbergungssteuern und Kulturförderabgaben – Rechtliche zulässige örtliche Aufwandsteuern der Kommunen?, DStZ 2011, 246, 248; Dirk Tolkmitt/Uwe Berlit, Not macht erfinderisch – Möglichkeiten und Grenzen einer Kultur(förder)abgabe der Gemeinden, LKV 2010, 385, 390 (für private Übernachtungen) (noch unent-

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vom 11. 7. 201424 im Wesentlichen wie folgt begründet: Zwar griffen beide Steuern auf die Leistungsfähigkeit des Übernachtungsgastes zu. Sie knüpften auch beide an den einheitlichen Vorgang des Leistungsaustauschs an. Beide erhöhten den Übernachtungspreis, da sie auf Überwälzung angelegt seien. Dennoch bestünden an dem gemessen an Art. 105 GG i. V. m. Art 72 Abs. 1 GG weniger strengen Gleichartigkeitsverbots des Art. 105 Abs. 2a GG folgende erhebliche Unterschiede, die eine Gleichartigkeit ausschließen würden: Pauschalbetrag statt Prozentsatz, bis zu sieben zusammenhängende Übernachtungen statt zeitlich unbefristet, nur Übernachtungen volljähriger Gäste statt Übernachtungen aller, Erhebungstechnik (einphasige Aufwandsteuer statt Allphasen-Netto-Umsatzsteuer mit Vorsteuerabzug), geringe Höhe der Abgabe statt theoretisch unbegrenzte Höhe, die schon durch die Aufwandsteuer strukturell geforderte Beschränkung auf eine einzelne Dienstleistung statt Erfassung sämtlicher (Dienst-)Leistungen, Bettensteueraufkommen reicht an Aufkommen der Umsatzsteuer nicht heran. Das kann im Ergebnis indes nicht überzeugen:25 An dieser Stelle können allein aus Platzgründen nicht sämtliche gegen die herrschende Meinung sprechenden Argumente ausgeführt werden. Naturgemäß kann eine von einer einzelnen Gemeinde erhobene örtliche Steuer nicht auch nur annähernd an das Aufkommen einer bundesweit erhobenen Steuer heranreichen. Ein merklicher Effekt könnte allenfalls dann eintreten, wenn bundesweit sämtliche Gemeinden eine Bettensteuer erheben. Die ursprüngliche Rechtmäßigkeit einer Gemeindesteuer kann indes nicht davon abhängen, ob sie Nachahmer findet. Eine Aufwandsteuer ist auch nicht allein aufgrund ihrer örtlichen Raduzierung ungleich.26 Das folgt bereits aus dem Wortlaut des Art. 105 Abs. 2a GG und der Rechtsprechung des BVerfG, nach der unwesentliche Abweichungen bei einzelnen Merkmalen der Steuer, wie z. B. beim besonders einfach zu verändernden Steuersatz, nicht zur Ungleichheit führen können.27 Dies gilt in besonderem Maße dann, wenn diese Abweichungen für das Aufkommen der Steuer zu vernachlässigen sind, wie es z. B. bei der Beschränkung der Bettensteuer auf eine bestimmte Anzahl von Hotelübernachtungen der Fall ist. Hotelaufenthalte von mehr als sieben Tagen Dauer bilden die seltene Ausnahme. Auch das bleibt von der Rechtsprechung ungewürdigt, genauso wie die teilweise vorgesehene Befreiung von Kindern, die ebenfalls kaum ins Gewicht fällt. Im Ergebnis sprechen die besseren Gründe für die Gleichartigkeit der Bettensteuer mit der Umsatzsteuer.

schieden bei einem proportionalen Steuersatz); Mike Wienbracke, KStZ 2013, 41, 44 f.; Christian Waldhoff, JZ 2013, 49, 51. 24 BVerwG, vgl. Fn. 2. 25 Siehe dazu ausführlich Friedrich Petry, a. a. O. (Fn.10), BB 2010, 2860 ff. Siehe auch Matthias Wegner, Zulässigkeit einer „Kulturförderabgabe“ als kommunale Steuer im Freistaat Bayern, BayVBl. 2011, 261, 264 f. 26 BVerfG, Beschluss v. 06. 12. 1983 – 2 BvR 1275/79, BVerfGE 65, 325 ff. 27 BVerfG, Beschluss v. 06. 12. 1983 – 2 BvR 1275/79, BVerfGE 65, 325 ff.

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4. Verfassungswidrigkeit infolge der Beschränkung auf private Übernachtungen? Infolge der beiden Urteile des BVerwG erfassen die Bettensteuersatzungen nur noch private Übernachtungen. Vereinzelte Literaturstimmen28 gehen nach wie vor davon aus, dass auch berufliche Übernachtungen besteuert werden dürfen. Nicht klar wird, ob diese Stimmen analog der Rechtsprechung des BVerfG zur Zweitwohnungssteuer, nach der aus beruflichen Gründen unterhaltende Zweitwohnungen jedenfalls nicht ohne sachlichen Grund von der Besteuerung ausgenommen werden können,29 auf die Verfassungswidrigkeit der auf private Übernachtungen beschränkten Bettensteuersatzungen schließen. Ob diese Frage zukünftig dem Lackmustest vor dem BVerfG unterzogen wird, ist indes fraglich. Den Gemeinden ist der Weg zum BVerfG versperrt.30 Vor das BVerfG könnte sie nur inzidenter im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde eines Steuerpflichtigen gelangen, der sich z. B. gegen die Ausgestaltung der Besteuerung wendet. Gegen die Besteuerung beruflicher Übernachtungen und damit beruflich bedingter Aufwendungen mit einer Aufwandsteuer spricht aber, dass damit die Büchse der Pandora geöffnet würde, wie folgendes Beispiel zeigt: Die gemeindliche Bettensteuersatzung sieht eine Steuer in Höhe von pauschal 10 % des vom Beherbergungsunternehmer an seine Mitarbeiter gezahlten Lohnaufwands vor, soweit dieser EUR 500,00 brutto pro Monat übersteigt. Ausgenommen von der Besteuerung wird der Teil des Lohns, der auf von den Mitarbeitern außerhalb des Gemeindegebiets geleistete Tätigkeiten entfällt. Bei Anlegung der Maßstäbe des BVerwG wäre auch diese Steuer nicht gleichartig mit der bundesgesetzlich geregelten Einkommensteuer: Örtlich verwurzelt wäre diese Steuer im Hinblick auf das Erfordernis des physischen Tätigwerdens im Gemeindegebiet zweifelsfrei. Die Beschränkung auf eine einzelne Tätigkeit oder Dienstleistung wird bei örtlichen Steuern auch ansonsten nicht kritisiert. Dem pauschalen Steuersatz auf Lohnaufwand für Hotelangestellte stünde ein progressiver, sämtlichen Lohnaufwand erfassender Steuertarif als Bestanteil einer umfassenden Einkommensbesteuerung mit Welteinkommensprinzip und Besteuerung ausländischen Einkünfte gegenüber. Auch das Steuererhebungsverfahren wäre hinsichtlich Steuerschuldner und Erhebungsverfahren unterschiedlich. Das Steueraufkommen bliebe naturgemäß weit hinter dem gesamten Einkommensteueraufkommen zurück. Gleichwohl erscheint es dem Autor als nahezu sicher, dass eine solche Aufwandsteuer von den Gerichten als mit der Einkommensteuer gleichartig „kassiert“ würde. Dann kann aber für andere Aufwandsteuern auf beruflichen Aufwand nichts anderes gelten.

28 So z. B. Christian Thiemann, Der Begriff der Aufwandsteuer und die kommunalen Übernachtungssteuern, ZG 2013, 75, 85 f. und Michael Rutemöller, Besteuerung beruflich veranlasster Übernachtungen durch Beherbergungssteuern, ZKF 2012, 217, 222. 29 BVerfG, Beschluss v. 06. 12. 1983 – 2 BvR 1275/79, BVerfGE 65, 325 ff. 30 So auch Michael Rutemöller, Besteuerung beruflich veranlasster Übernachtungen durch Beherbergungssteuern, ZKF 2012, 217, 222.

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5. Rechtswidrigkeit bei Steuerschuldnerschaft des Hotelbetreibers? Das OVG NRW31 hat in mehreren Urteilen die Bettensteuersatzung der Stadt Dortmund für unwirksam erklärt, weil die grundsätzlich zulässige Erhebung einer Beherbergungsabgabe für entgeltliche private Übernachtungen nicht als Steuerschuld des Hoteliers festgesetzt werden könnte. Zwar dürfe nach dem einschlägigen nordrhein-westfälischen Landesrecht die Gemeinde durch Satzung bestimmen, wer Steuerschuldner sei. Sie müsse sich aber an die Grundentscheidungen des Kommunalabgabengesetzes halten, das nur erlaube, einen Steuerschuldner zu bestimmen, der in einer besonderen rechtlichen oder wirtschaftlichen Beziehung zum Steuergegenstand stehe oder einen maßgeblichen Beitrag zur Verwirklichung des Steuertatbestandes leiste. Das sei zwar beim Unternehmer für das Merkmal der Beherbergung der Fall, nicht aber für das steuerbegründende Merkmal, dass ein privater Zweck der Übernachtung vorliegen müsse, über den allein der Übernachtungsgast entscheide und von dem er allein Kenntnis habe. Für die so nur beschränkt gegebene Beziehung des Unternehmers zum Steuergegenstand erlaube das Kommunalabgabengesetz alleine, den Unternehmer zu verpflichten, die Steuer – wie dies auch beim Kurbeitrag geschehe – beim Gast als Steuerschuldner einzuziehen und an die Gemeinde abzuführen. Das BVerwG hat die Nichtzulassungsbeschwerde der Stadt Dortmund als unzulässig verworfen, da sie nicht revisibles Landesrecht betrifft.32 Das OVG NRW hat aber zu Recht keine Gefolgschaft gefunden. Die Satzung kann den Hotelier rechtmäßig als Steuerschuldner vorsehen. Die von § 12 Abs. 1 Nr. 2 a) und b) KAG NRW in Bezug genommene Vorschriften der §§ 33, 43 AO haben nur deklaratorischen Charakter.33 Nach § 43 Satz 1 AO bestimmen die Steuergesetze, wer Steuerschuldner ist. Der durch das Betreiben des Übernachtungsbetriebes geforderte Zusammenhang reicht für die Steuerschuldnerschaft aus. Eine andere Frage ist, welcher Aufwand dem Betreiber zugemutet werden kann, um private und berufliche Übernachtungen zu unterscheiden. Das ist ein Fragenbereich, der dem Regelungsbereich des strukturellen Vollzugs- oder Erhebungsdefizit und nicht der Steuerschuldnerschaft zuzuordnen ist. 6. Rechtswidrigkeit wegen eines strukturellen Vollzugsdefizits? Art. 3 Abs. 1 GG verlangt bekanntlich, dass die Steuerpflichtigen (auch) durch die Bettensteuer rechtlich und tatsächlich gleich belastet werden.34 Es darf kein strukturelles Erhebungsdefizit bestehen, die Gleichmäßigkeit der Belastung darf nicht allein von der Steuerehrlichkeit der Übernachtungsäste abhängt. In der Besteuerungspraxis läuft es jedenfalls bei Alleinreisenden genau darauf hinaus: Im Hinblick auf die re31

OVG NRW, Urteile v. 23. 10. 2013, Az. 14 A 314 bis 317/13. BVerwG, Beschluss v. 18. Juli 2013, Az. 9 B 16.13. 33 Vgl. Eckart Ratschow, in: Klein, AO, 12. Aufl. 2014, § 43 Rz.1. 34 Vgl. z. B. BVerfG, Urteil v. 27. 06. 1991 – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239, 268.

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lativ geringe Höhe der Bettensteuer muss sich die Mitwirkung des Übernachtungsgastes auf seine Erklärung beschränken, die Übernachtung erfolge aus beruflichem Anlass. Mehr ist ihm nicht zumutbar. Das Argument, im Hinblick auf die geringe Höhe der Steuer bestünde kein Anlass für Steuerunehrlichkeit, überzeugt demgegenüber nicht. Dem Übernachtungsgast ist nur zu gut bewusst, dass das Entdeckungsrisiko bei Falscherklärungen nur theoretischer Natur ist, da die Gemeinde bereits aus Kostengründen keinen Ermittlungsaufwand betreiben wird. Auch der Hotelier wird sich zurückhalten, da er den Gast nicht verlieren will. Es bleibt daher abzuwarten, wie die Gerichte entscheiden, sollte sich ein Hotelier auf ein strukturelles Erhebungsdefizit berufen, die Gemeinde, vom Gericht zum Nachweis ihrer Kontrolltätigkeit auffordert, aber nicht liefern kann. III. Zur Ausgestaltung der Höhe der Bettensteuer Den Schwerpunkt des Beitrags bildet die Ausgestaltung der Höhe der Bettensteuer im Zusammenspiel von Bemessungsgrundlage und Steuersatz. In der Lebenswirklichkeit sind fünf Satzungsmodelle zur Ausgestaltung der Höhe der Bettensteuer gebräuchlich: ein Prozentsatz des Übernachtungsentgelts analog der Umsatzsteuer (so z. B. Erfurt35), ein von der Höhe des Übernachtungsentgelts unabhängiger, einheitlicher Pauschalbetrag (wie in Trier36 oder München37), ein nach der Höhe des Übernachtungsentgelts gestaffelter Steuerbetrag (Bingen am Rhein38, Suhl39), ein an der Zimmeranzahl des Beherbergungsbetriebs ausgerichteter Pauschalbetrag (bis 49 Zimmer und über 50 Zimmer, Weimar40) und ein an der Klassifikation des Beherbergungsbetriebs ausgerichteter mehrstufiger Steuerbetrag (z. B. Lüneburg)41. Bevor auf diese Modelle im Detail eingegangen wird, werden die nach der Rechtsprechung an die Ausgestaltung des Steuermaßstabs und Steuersatzes, aus deren Zusammenspiel sich der Steuerbetrag und damit die Steuerhöhe ergibt42, zu stellenden Anforderungen anhand des Beschlusses des BVerfG zur Konstanzer Zweitwohnungssteuer dargelegt.

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Satzung zur Erhebung einer Kulturförderabgabe für Übernachtungen in der Landeshauptstadt Erfurt (KASErf) vom 7. Dezember 2012. 36 Siehe dazu BVerwG, Fn. 2. 37 VG München, Urteil v. 30. 06. 2011 – M 10 K 10.5725, ZKF 2011, 261. 38 Siehe dazu BVerwG, Fn. 2. 39 Satzung der Stadt Suhl über die Erhebung einer Tourismusabgabe vom 27. 06. 2011. 40 Satzung zur Erhebung einer Kulturförderabgabe für Übernachtungen in Weimar in der Fassung der 1. Änderung. 41 Satzung der Hansestadt Lüneburg über die Erhebung einer Steuer auf Übernachtungen in Beherbergungsbetrieben (Beherbergungssteuer) vom 03. 09. 2013. 42 Vgl. statt aller Roman Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 21. Aufl. 2013, § 6 Rz. 46.

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1. Die allgemeinen Anforderungen an den Steuermaßstab einer Aufwandsteuer Das BVerfG bewegt sich in seinem Beschluss vom 15. Januar 2014 zur Konstanzer Zweitwohnungssteuer43 auf bekanntem Terrain: Der Steuertarif einer Aufwandsteuer muss dem aus dem allgemeinen Gleichheitssatz abgeleiteten Gebot der Besteuerung nach der finanziellen Leistungsfähigkeit genügen. Das wesentliche Merkmal einer Aufwandsteuer besteht dabei darin, die in der Einkommensverwendung zum Ausdruck kommende wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu erfassen.44 Die Mietzahlung für die Zweitwohnung spiegelt die in der Einkommensverwendung zum Ausdruck kommende Leistungsfähigkeit ebenso wieder wie die Entrichtung des Übernachtungspreises bei der Bettensteuer. Das BVerfG betont, dass die Orientierung an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit vom Sozialstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG unterstützt wird.45 Bei horizontaler Betrachtung müssen Steuerpflichtige bei gleicher Leistungsfähigkeit auch gleich hoch besteuert werden.46 Bei vertikaler Betrachtung muss die Besteuerung der wirtschaftlich Leistungsfähigeren im Vergleich mit der Steuerbelastung wirtschaftlich weniger Leistungsstarker angemessen ausgestaltet sein.47 Diese Grundsätze gelten auch bei der Bettensteuer: Der Versuch mancher Gerichte, im Hinblick auf die absolut gesehen geringe Höhe des Steuerbetrages bei der Bettensteuer großzügigere Maßstäbe anzulegen,48 sind daher unzulässig. Es existiert keine „kleine Münze“ bei der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit. Der Satzungsgeber hat nach der bekannten althergebrachten Formel bei der Auswahl des Steuergegenstandes und der Bestimmung des Steuersatzes einen weitreichenden Entscheidungsspielraum.49 Das Leistungsfähigkeitsprinzip fordert naturge43

BVerfG, Beschluss v. 14. 01. 2014 – 1 BvR 1656/09, NVwZ 2014, 1084 ff. Vgl. BVerfGE 65, 325, 346; 123, 1, 15 m. w. N. Vgl. zum Einkommen- und Körperschaftsteuerrecht BVerfGE 6, 55, 67; 127, 224, 247 f. Es widerspricht dem Gebot der Steuergleichheit, wenn bei Ertragsteuern wirtschaftlich Leistungsfähigere einen geringeren Prozentsatz ihres Einkommens als Steuer zu entrichten haben als wirtschaftlich Schwächere, so BVerfGE 127, 224, 247. Vgl. auch Klaus Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. 1, 2. Aufl. 2000, S. 403, es sei denn, dies ist durch einen besonderen Sachgrund gerechtfertigt. 45 Bei Steuern, die an die Leistungsfähigkeit des Pflichtigen anknüpfen, ist die Berücksichtigung sozialer Gesichtspunkte nicht nur zulässig, sondern geboten, vgl. BVerfGE 29, 402, 412; 32, 333, 339. Aus dem Sozialstaatsprinzip ist abzuleiten, dass die Steuerpolitik auf die Belange der wirtschaftlich schwächeren Schichten der Bevölkerung Rücksicht zu nehmen hat, vgl. BVerfGE 13, 331, 346 f.; 29, 402, 412; 43, 108, 119; 61, 319, 343 f. Der Grundsatz der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit verlangt, „jeden Bürger nach Maßgabe seiner finanziellen und wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit mit Steuern zu belasten“, BVerfGE 61, 319, 344; 66, 214, 223. 46 Vgl. BVerfGE 82, 60, 89; 116, 164, 180. 47 Vgl. BVerfGE 107, 27,47; 115, 97,116 f. 48 So z. B. OVG Schleswig, NVwZ 2013, 10. 49 Vgl. BVerfGE 117, 1,30; 120, 1,29; 123, 1, 19; 127, 224, 245. 44

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mäß auch keinen konkreten Steuertarif. Es ist auch nicht zu untersuchen, ob der Gesetzgeber die zweckmäßigste oder gerechteste Lösung gefunden, sondern nur, ob er die verfassungsrechtlichen Grenzen seiner Gestaltungsfreiheit überschritten hat.50 Der Satzungsgeber darf auch typisierende Regelungen treffen. Hiermit wird ihm indes keine „Narrenfreiheit“ eingeräumt. Tatsächlich ist sein Spielraum wesentlich enger als die hergebrachten Formulierungen, insbesondere der weite Ermessensspielraum, dies vermuten lässt.51 So darf die wirtschaftlich ungleiche Wirkung auf die Steuerzahler ein gewisses Maß nicht übersteigen und die steuerlichen Vorteile der Typisierung müssen im rechten Verhältnis zu der mit der Typisierung notwendig verbundenen Ungleichheit der steuerlichen Belastung stehen. Der Steuermaßstab muss so ausgestaltet sein, dass der Steuergegenstand in den Blick genommen und mit Rücksicht darauf eine gleichheitsgerechte Besteuerung des Steuerschuldners sichergestellt wird. Damit wird der Satzungsgeber zwar nicht auf einen Wirklichkeitsmaßstab, also im vorliegenden Fall einen Prozentsatz des tatsächlichen Übernachtungspreises, festgelegt. Wählt er aber statt des Wirklichkeitsmaßstabs einen (Ersatz-)Maßstab, so wird die Grenze der Zulässigkeit dort überschritten, wo eine gleiche oder ungleiche Behandlung von Sachverhalten nicht mehr mit einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise vereinbar ist, wo also ein einleuchtender Grund für die Gleichbehandlung oder Ungleichbehandlung fehlt.52 Der Rechtfertigungsbedarf für die Wahl eines Ersatzmaßstabs wird dabei umso höher, je weiter sich der im Einzelfall gewählte Maßstab von dem eigentlichen Belastungsgrund entfernt. Denn der Ersatzmaßstab nutzt den gesetzgeberischen Spielraum in Bezug auf die Realitätsnähe der Steuerbemessung, dieser Spielraum entbindet aber nicht von der notwendigen inhaltlichen Ausrichtung der Steuer am Belastungsgrund, vorliegend dem individuellen Übernachtungsaufwand. Ein degressiver Tarif wie z. B. bei einem einheitlichen Pauschalsteuersatz pro Übernachtung oder einem Stufentarif, bei dem sich eine Degressionswirkung auf jeder Stufe und im Vergleich der Stufen untereinander ergeben kann, ist damit zwar nicht per se ausgeschlossen. Die damit verbundene Besteuerung weniger leistungsfähiger Steuerschuldner mit einem höheren Steuersatz stellt jedoch eine rechtfertigungsbedürftige Ungleichbehandlung im Sinne des Art. 3 Abs. 1 GG ungeachtet dessen dar, ob leistungsfähigere Steuerschuldner absolut einen höheren Steuerbetrag zu zahlen haben als leistungsschwächere Steuerschuldner. Denn weniger Leistungsfähige müssen in diesem Fall einen höheren Anteil ihres Einkommens oder Vermögens als Steuer abgeben als wirtschaftlich Leistungsfähigere. Nicht angesprochen wird in dem Beschluss des BVerfG die Fallgestaltung, dass weniger leistungsfähige Steuerpflichtige nicht nur bezüglich des Steuersatzes, sondern im absolut zu entrichtenden Steuerbetrag höher besteuert werden als leistungsfähigere Steuerpflichtige. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Das ist in jedem Falle unzulässig und führt 50

Vgl. BVerfGE 110, 274, 292; 117, 1, 31; 120, 1, 30. In diesem Sinne auch Dirk Tolkmitt, Telefonieren für einen guten Zweck – Zur Zulässigkeit einer gemeindlichen Mobilfunkmastensteuer, SächsVBl. 2011, 204, 207. 52 Vgl. z. B. BVerfG, Beschluss v. 23. 03. 1994 – 1 BvL 8/85, BVerfGE 90, 226, 239. 51

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zur Unwirksamkeit der Satzung. Auch mit dieser Fallgestaltung wird sich der Beitrag befassen (müssen). Bei der Rechtfertigung des degressiven Tarifs unterliegt der Normgeber jedoch über das bloße Willkürverbot hinausgehenden Bindungen, wobei ein strenger Maßstab anzulegen ist. Bei einer Aufwandsteuer könne Vereinfachungserfordernisse oder die Verfolgung zulässiger Lenkungszwecke rechtfertigend wirken. Hingegen kann ein degressiver Tarif nicht mit der Absicht gerechtfertigt werden, höhere Steuereinnahmen zu erzielen, da ein degressiver Steuertarif per definitionem nicht der Erzielung höherer Einnahmen dient. Ungleiche Belastungen durch konkretisierende Ausgestaltung der steuerrechtlichen Grundentscheidungen können nicht schon allein mit dem Finanzbedarf des Staates oder einer knappen Haushaltslage gerechtfertigt werden.53 Schließlich scheidet auch die Aufwands- und Nutzenproportionalität als Ausprägung des Äquivalenzprinzips54 bei einer Aufwandsteuer aus, da die Bettensteuer ebenso wie die Zweitwohnungsteuer keine wie auch immer geartete Gegenleistung für einen Sonderaufwand des Staates darstellt. Sie kann nicht auf eine staatliche Leistung gestützt werden, die einem bestimmten kostenverursachenden Tun des Steuerpflichtigen zurechenbar ist. Da die Bettensteuer keine Lenkungszwecke verfolgt, kommt somit allein der Vereinfachungseffekt als Rechtfertigungsgrund in Betracht. Bei Anlegung dieses streng zu handhabenden Maßstabs sah das BVerfG den degressiv ausgestatteten Steuertarif der Konstanzer Zweitwohnungssteuer im Ergebnis als eindeutig nicht mehr gerechtfertigt an.55 Für einige der nachfolgend beschriebenen Ausgestaltungen des Steuertarifs der Bettensteuer, dieses Ergebnis sei vorweggenommen, gilt dies ebenfalls. 2. Die einzelnen Modelle zur Ausgestaltung der Steuerhöhe a) Prozentsatz des tatsächlichen Übernachtungspreises (Wirklichkeitsmaßstab) Der Wirklichkeitsmaßstab, also die Anwendung eines Prozentsatzes auf den tatsächlichen (Netto-)Übernachtungspreis als Bemessungsgrundlage, entspricht dem Leistungsfähigkeitsgrundsatz naturgemäß am Besten. Das BVerwG zögerte dennoch 53

BVerfG, Beschluss v. 21. 06. 2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164, 182 m.w.N. Vgl. BVerfG, Beschluss v. 15. 01. 2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1, 37 ff. 55 Das BVerfG verglich bei der Konstanzer Zweitwohnungssteuer die jeweiligen mittleren Steuersätze in den jeweiligen Steuerstufen, die sich durch die typisierende Stufenbildung und durch die Normierung von Mindest- und Höchstbetragsstufen ergebenden Effekte. Insbesondere addieren sich die Effekte des degressiven Steuertarifs und der Stufenbildung. So kam es im Ergebnis bei der Konstanzer Zweitwohnungssteuersatzung 1989 über alle Stufen hinweg zu einer Differenz von 29 Prozentpunkten bei einem Mietaufwand von 1.200 E (Steuerbelastung von 34 %) und einem Mietaufwand von 24.000 E (Steuerbelastung von 5 %) und bei der Zweitwohnungssteuersatzung 2002/2006 zu einer Differenz von 27 Prozentpunkten bei einem Mietaufwand von 1.200 E (Steuerbelastung von 33 %) und einem Mietaufwand von 24.000 E (Steuerbelastung von 6 %). U.a. diese Spreizung war dem BVerfG eindeutig zu hoch. 54

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in seinen beiden Urteilen vom 11. 07. 2012 aus zwei Gründen damit, den Kommunen diesen Steuersatz ans Herz zu legen: Zum einen böte ein ggf. gestaffelter Pauschalbetrag „auf der Hand liegende“ Praktikabilitätsvorteile, zum anderen – und wichtiger – steige bei Anwendung eines Prozentsatzes die Wahrscheinlichkeit, dem Gleichartigkeitsverbot des Art. 105 Abs. 2 a GG zum Opfer zu fallen56. Nach zutreffender Auffassung verletzt die Übernachtungsabgabe das Gleichartigkeitsverbot des Art 105 Abs. 2a GG allerdings ohnehin, also auch bereits bei einem – ggf. gestaffelten – Pauschalsteuerbetrag57. Erst recht liegt bei Anwendung eines Prozentsatzes ein Verstoß gegen das Gleichartigkeitsverbot vor.58 Der Verzicht auf den realitätsgerechten Wirklichkeitsmaßstab „Prozentsatz des Übernachtungsentgelts“ lässt sich nicht damit rechtfertigen, dass im Falle seiner Anwendung gegen das Gleichartigkeitsverbot verstoßen würde. Der Satzungsgeber soll es nach der Rechtsprechung des BVerfG gerade nicht in der Hand haben, durch die Formulierung der Steuertatbestände oder durch die Schaffung geringfügiger Unterschiede bei den einzelnen Merkmalen der Steuer die Gleichartigkeit der Steuer zu vermeiden59. Der Verstoß gegen das Gleichartigkeitsverbot würde ansonsten letztlich dadurch gerechtfertigt, dass dem Satzungsgeber die Kompetenz für eine derartige Steuer fehlt60. Anders als vom BVerwG angenommen ist mit einer prozentualen Ausgestaltung des Steuersatzes im Vergleich zu einem – ggf. gestaffelten – Pauschbetrag – kein nennenswert gesteigerter Verwaltungsaufwand verbunden.61 Die Beherbergungsbetriebe müssen das individuelle Übernachtungsentgelt für Umsatzsteuerzwecke ohnehin vorhalten. Übernachtungsrechnungen im Falle einer Kontrolle daraufhin zu untersuchen, ob ein Prozentsatz des Übernachtungspreises oder ob pro Übernachtung der entsprechende (gestaffelte) Steuerbetrag zutreffend abgeführt wurde, macht für die Gemeinden keinen Unterschied. Nicht ohne Grund setzt sich deshalb bei den bettensteuererhebenden Kommunen das Prozentsatzmodell mehr und mehr durch.62 Eine Verwaltungsvereinfachung kann ohnehin keine verfassungswidrige Steuererhebung rechtfertigen. So war der Stückzahlmaßstab bei der Spielgerätesteuer der bei Weitem einfachste Steuermaßstab, da für die Steuerberechnung nur der Einheitssteuerbetrag mit der Anzahl der Spielautomaten zu multiplizieren war. Dennoch hat das BVerfG ihn zu Recht als verfassungswidrig angesehen, da die Verwaltungsvereinfachung einen eindeutigen, im Hinblick auf die infolge technischen Fortschritts bekannten Einspielergebnisse nunmehr auf der Hand liegenden Gleichheitsverstoß 56 Ebenso Dirk Tolkmitt, Anm. zu BVerwG, Urt. v. 11. 07. 2012 – 9 CN 1.11, SächsVBl. 2012, 309, 310. 57 Siehe die Nachweise in Fn. 10. 58 VG München, Urteil v. 30. 06. 2011 – M 10 K 10.5725, ZKF 2011, 261 ff. 59 BVerfG, Beschluss v. 06. 12. 1983 – 2 BvR 1275/79, BVerfGE 65, 325 ff. 60 VG München, Urteil v. 30. 06. 2011 – M 10 K 10.5725, ZKF 2011, 261 ff. 61 VG München, Urteil v. 30. 06. 2011 – M 10 K 10.5725, ZKF 2011, 261 ff. 62 Hierauf stellt auch das VG München, Urteil v. 30. 06. 2011 – M 10 K 10.5725, ZKF 2011, 261 ff. im Hinblick auf die transparenten Zimmerpreise ab.

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nicht rechtfertigen kann.63 Sieht man – zu Unrecht – die Bettensteuer nicht als gleichartig mit der Umsatzsteuer an, so stellt die prozentuale Ausgestaltung des Steuertarifs den tauglichsten Maßstab dar. b) Pauschalbetrag ohne Staffelung Einem einheitlichen Steuerbetrag für alle Übernachtungen ohne Rücksicht auf die Höhe des Übernachtungspreises hat bereits das BVerwG am 11. 07. 2012 für den Regelfall eine eindeutige Absage erteilt, obwohl das Gericht erkennbar bemüht war, den Grundsatz der richterlichen Zurückhaltung vor dem Normgeber zu wahren. Das folgt aus der Gegenüberstellung des Prüfauftrags beim Einheitstarif der Stadt Trier einerseits und der Billigung des Staffeltarifs der Stadt Bingen am Rhein andererseits. Der Einheitstarif der Stadt Trier stellt nicht anderes als einen Stückzahlmaßstab dar, nämlich einen Pauschalsteuerbetrag pro Übernachtung. In Weimar resultieren daraus Belastungsunterschiede hinsichtlich des Steuersatzes bis fast zum 17-fachen. Diese Belastungsunterschiede sind größer als diejenigen, die das BVerwG bei der Hamburger Spielgerätesteuer zum Anlass nahm, den Stückzahlmaßstab als strukturell ungeeignet anzusehen. Das BVerfG betrachtet im Beschluss vom 15. Januar 2014 zur Konstanzer Zweitwohnungssteuer geringere Spreizungen der prozentualen Belastung als nicht mehr gerechtfertigt, da die damit verbundenen Ungleichbehandlung außer Verhältnis zu der erzielten Verwaltungsvereinfachung steht. Ein solcher Stückzahlmaßstab kann daher auch bei der Bettensteuer in aller Regel keinen Bestand haben, es sei denn, die Übernachtungspreise innerhalb einer Stadt weisen nur eine geringfügige Spannbreite auf, was nicht der Lebenswirklichkeit entspricht.64 c) Staffel- oder Stufentarif Das BVerwG hat in seinen beiden Urteilen vom 11. 07. 2012 eine am steigenden Übernachtungspreis orientierte Staffelung des Steuersatzes grundsätzlich akzeptiert. Bei der Ausgestaltung dieser Staffeln steht den Kommunen der bereits angesprochene weite Ermessungsspielraum zu. Dessen Grenzen zeigt der Beschluss des BVerfG vom 15. Januar 2014 auf: Zwar ist danach eine degressive Ausgestaltung des Steuertarifs grundsätzlich zulässig. Ein Stufentarif soll aber möglichst viele Stufen unterhalten und auch innerhalb der Stufen möglichst die gleiche Degressionswirkung aufweisen. Es empfiehlt sich daher, möglichst gleichmäßige Stufenverläufe zu wählen, wie z. B. bis EUR 25,00 EUR 0,50 Steuer, von EUR 26,00 bis EUR 49,00 EUR 1,00, von EUR 50,00 bis EUR 75,00 EUR 1,50 usw.

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BVerfG, Beschluss v. 04. 02. 2009 – 1 BvL 8/05, NVwZ 2009, 968 ff. Allein durch die Online-Buchungen, bestimmte Zimmerkontingente, „Hoch- und SaureGurkenzeiten“ ergeben sich schon für den einzelnen Hotelbetrieb große Preisschwankungen für ein- und dasselbe Zimmer. 64

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d) Staffelung anhand der Zimmeranzahl des Beherbergungsbetriebs („Weimarer Modell“) Die Stadt Weimar teilt die Beherbergungsbetriebe in § 4 ihrer Satzung nach der vom jeweiligen Beherbergungsbetrieb vorgehaltenen Zimmeranzahl in zwei Gruppen ein: Bei Betrieben bis 49 Zimmer beträgt der Steuersatz EUR 1,00 im Einzelzimmer, bei Betrieben ab 50 Zimmer EUR 2,00. Die absolute Spanne der Übernachtungspreise reicht nach einer Erhebung der Stadt Weimar bei Betrieben bis 49 Zimmer von EUR 8,00 bis zu EUR 150,00, bei den Betrieben ab 50 Zimmer von EUR 25,00 bis EUR 256,00, bei einer Gesamtbetrachtung somit von EUR 8,00 bis EUR 256,00. Die Übernachtungspreise der beiden Beherbergungsbetriebskategorien „überlappen“ sich somit im Bereich von EUR 25,00 bis EUR 150,00, also dem weitaus größten Teil der Gesamtspanne. Jeder der Beherbergungsbetriebe ab 50 Zimmer bietet dabei Zimmer an, deren Preis unterhalb von EUR 150,00 liegt. Schließlich reicht auch die betriebsinterne Zimmerpreisspanne zahlreicher Betriebe beider Größenkategorien sehr weit, z. B. von EUR 49,00 bis EUR 150,00 oder von EUR 27,00 bis EUR 120,00. Übernachtungen zu einem geringeren Entgelt werden also relativ wesentlich stärker belastet als teurere Übernachtungen. Das gilt (i) bei einem Vergleich innerhalb der jeweiligen Gruppen (bis 49 Zimmer und ab 50 Zimmer), (ii) bei einem Quervergleich der beiden Gruppen sowie (iii) beim betriebsinternen Vergleich bei zahlreichen Betrieben mit erheblichen Preisspannen: aa) In der Gruppe bis 49 Zimmer beträgt die prozentuale Belastung der preiswerteren Übernachtungen mit Bettensteuer zwischen 12,5 % (bei EUR 8,00) und 0,67 % (bei EUR 150,00), die Steuerbelastung beträgt also in der Spitze das 18,66-fache, in der Gruppe ab 50 Zimmer zwischen 8 % (bei EUR 25,00) und 0,78 % (bei EUR 256,00), mithin das 10,26-fache. bb) Beim Quervergleich der beiden Gruppen durch Gegenüberstellung der höchsten Belastung von 12,5 % bei der Gruppe bis 49 Zimmer und der geringsten Belastung bei der Gruppe ab 50 Zimmer von 0,78 % beträgt der Belastungsfaktor zwischen dem preiswertesten und dem teuersten Zimmer das 16,03-fache. cc) Beim betriebsinternen Vergleich beträgt die Belastungsspanne z. B. in einem Hotel von 8 % bis 1,7 %, also das 4,7-fache. Die Überschneidung der Zimmerpreise beider Gruppen im Bereich von EUR 25,00 bis EUR 150,00 führt dazu, dass innerhalb dieser Preisspanne bei gleichem finanziellem Aufwand der Gast des größeren Betriebs das Doppelte an Bettensteuer entrichtet wie der Gast des kleineren Betriebs. Des Weiteren zahlt derjenige, der im günstigsten Zimmer des günstigsten großen Hotels für EUR 25,00 absteigt, EUR 2,00 Übernachtungsabgabe, mithin 8 % des Zimmerpreises, wer hingegen im teuersten „kleinen“ Hotel für EUR 150,00 Logis nimmt, lediglich EUR 1,00, mithin 0,67 %, und im absolutem Betrag nur die Hälfte. Diese Spannbreite übersteigt die vom BVerfG in seinem Beschluss vom 15. Januar 2014 als nicht mehr gerechtfertigt angesehene Spreizung der Steuersätze bei der Konstanzer Zweitwohnungsteuer. Das

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Weimarer Modell kann somit vor der Rechtsprechung des BVerfG vom 15. Januar 2014 aus zwei Gründen keinen Bestand haben kann. Zum einen werden durch die Größenunterteilung (nur) zwei Gruppen von Beherbergungsbetrieben geschaffen, auf die sodann ein Pauschalbetrag ohne Staffelung, also ein Stückzahlmaßstab von EUR 1,00 bzw. EUR 2,00 pro Übernachtung zur Anwendung gelangt. Dieser Stückzahlmaßstab ist daher bereits aus den unter III. 2. b) aufgeführten Gründen verfassungswidrig. Zum anderen stellt die Zimmeranzahl des Beherbergungsbetriebs kein vor Art. 3 Abs. 1 GG sachgerechtes Unterscheidungskriterium dar. Es ist mit einer am Leistungsfähigkeitsgrundsatz orientierten Besteuerung offenkundig unvereinbar, dass Personen in der Preisspanne von EUR 25,00 bis EUR 150,00 EUR 1,00 oder EUR 2,00 pro Übernachtung schulden, je nachdem, ob sie in einem Betrieb von bis zu 49 Zimmern oder aber darüber absteigen. Geradezu paradox ist, das derjenige, der für EUR 25,00 in einem größeren Betrieb absteigt, hierfür EUR 2,00 an Bettensteuer schuldet, während derjenige, der für EUR 150,00 in einem kleineren Betrieb absteigt, nur EUR 1,00 an Bettensteuer entrichten muss. Hierdurch wird sowohl gegen die horizontale als auch gegen die vertikale Gleichheit bei der Besteuerung verstoßen. Der gewählte Größenmaßstab weist nicht den vom BVerfG und dem BVerwG in ständiger Rechtsprechung geforderten, zumindest lockeren Bezug zum Steuergegenstand, dem individuellen Übernachtungsentgelt auf. Es verstößt zudem in eindeutiger Weise gegen das Sozialstaatsprinzip, welches flankierend zum Leistungsfähigkeitsprinzip hinzutritt, wenn Gäste, die ein geringeres Übernachtungsentgelt zahlen, einer im absoluten Betrag höheren Steuer unterliegen. Die Kulturförderabgabesatzung der Stadt Weimar kann daher in der jetzigen Form keinen Bestand haben. e) Staffelung anhand der Hotelklassifikation Gem. § 4 der Beherbergungsabgabesatzung der Stadt Flensburg65 beträgt die Steuer pro Übernachtung in Hotels, denen nach dem System des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes e. V. bis zu zwei Sterne verliehen wurden, EUR 1,50, mit drei Sternen EUR 3,00 und ab vier Sternen EUR 4,00. Für die Rechtmäßigkeitsbetrachtung einer Bettensteuersatzung ist auf die örtlichen Verhältnisse der satzungsgebenden Gemeinde abzustellen. Deshalb ist es nicht überzeugend, wenn das Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein offenkundig ohne die nach dem Amtsermittlungsgrundsatz gebotene Aufklärung der örtlichen Verhältnisse einfach unterstellt, „dass der Aufwand für Übernachtungen in Hotels sich entsprechend ihrer Klassifizierung unterscheidet und der Aufwand für Übernachtungen in Beherbergungsbetrieben, die keiner Klassifikation unterliegen, geringer ist.“ Das OVG Schleswig-Holstein verkennt den Effekt, der mit einer solchen Methodik verbunden ist, wenn es unter Hinweis auf die Urteile des BVerwG vom 11. 07. 2012 davon ausgeht,

65 Satzung zur Erhebung einer Beherbergungsabgabe im Gebiet der Stadt Flensburg (Beherbergungsabgabesatzung) vom 8. November 2012.

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dass eine Staffelung des Steuersatzes zulässig sei.66 Durch die Hotelklassifikation werden verschiedene Gruppen von Beherbergungsbetrieben gebildet, bei denen die zuvor beschriebenen Grundsätze sowohl gruppenintern als auch im Vergleich der Gruppen untereinander einzuhalten sind. Bereits ein Blick in die einschlägigen Internet-Buchungsportale zum Hotelangebot der Stadt Flensburg lässt daran zweifeln, dass die sich aus der Anwendung der Hotelklassifikation ergebenden Gruppen die erforderliche Gruppenhomogenität aufweisen. Die Übertragung der Verhältnisse in Weimar auf die Flensburger Satzung bestätigt diese Zweifel: Bereits die gruppeninterne Preisspanne innerhalb der „Ab-Vier-Sterne-Hotels“ und der „Dreisterne-Hotels“ ist so groß, dass der aus dem Einheitssteuerbetrag pro Übernachtung resultierende degressive Effekt nach den Maßstäben des BVerfG und des BVerwG gleichheitswidrig ist. Auch bei einem Vergleich der beiden Gruppen bestehen Übernachtungspreisüberschneidungen, die zu den bereits zuvor geschilderten paradoxen Besteuerungsergebnissen führen: Ein Übernachtungsgast mit geringerem Übernachtungsaufwand zahlt aufgrund der gewählten Kategorie nicht nur prozentual, sondern im absoluten Betrag eine höhere Steuer als der leistungsfähigere Gast mit höheren Übernachtungskosten. Im Ergebnis kann somit auch dieser Maßstab keinen Bestand haben. Überraschenderweise geht das Urteil des OVG Schleswig-Holstein mit keinem Wort auf die Bedeutung des Sozialstaatsprinzips ein, obwohl das Normenkontrollverfahren vom Betreiber einer Jugendherberge angestrengt wurde. Der Hinweis darauf, dass die relativ geringe steuerliche Belastung zwischen EUR 1,50 und maximal EUR 4,00 eine differenziertere Ausgestaltung der Staffelung nicht erfordere und dass die gruppeninterne Gleichbehandlung trotz unterschiedlichem Aufwand die zwangsläufige Folge der angeblich zulässigen Wahl eines Staffelmaßstabs darstelle, kann nicht überzeugen: Das OVG beruft sich zu Unrecht zur Rechtfertigung des Staffeltarifs der Flensburger Satzung auf das Urteil des BVerwG zur Satzung der Stadt Bingen am Rhein. Deren Staffelung war am Übernachtungsaufwand und damit unmittelbar am Maßstab einer Aufwandsteuer ausgerichtet, während die Staffelung in Flensburg an einem Ersatzmaßstab wie der Hotelklassifizierung ansetzt. Hätte das OVG Schleswig-Holstein mit seiner Auffassung recht, so hätte das BVerwG der Stadt Trier keinen Prüfauftrag erteilt. Auch die vermeintlich geringe Höhe der Steuerbelastung rechtfertigt keine Narrenfreiheit für den Satzungsgeber. Die Existenz von Jugendherbergen belegt gerade, dass es Personen gibt, die bei Übernachtungen mit jedem Euro rechnen müssen (oder wollen). Auch bei Steuern vermeintlich kleiner Münze gelten die vom BVerfG hinsichtlich der Degressionswirkung gezogenen Grenzen. Diese sind bei einer Steuerbelastung von bis zu 11 % bei Übernachtungen in der Jugendherberge im Vergleich zu drei Prozent bei einer Übernachtung im drei Sterne-Hotel und vier Prozent im Vier-Sterne Hotel überschritten. 66 NVwz 2013, 10. Das OVG Niedersachsen hat in seinem nach Abschluss dieses Manuskripts ergangenen Urteil vom 2. 12. 2013 – 9KN85/13, noch unveröffentlicht, die auf die Hotelklassifikation abstellende Bettensteuersatzung der Stadt Goslar für unwirksam erklärt.

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Im Ergebnis stellt – verneint man zu Unrecht die Gleichartigkeit der Bettensteuer auf private Übernachtungen mit der Umsatzsteuer – ein hinreichend gestaffelter Pauschbetrag die rechtssicherste Lösung für die Städte dar. Ein einheitlicher Pauschalsteuerbetrag ist hingegen in aller Regel rechtswidrig: Die Übernachtungspreise innerhalb einer Gemeinde weisen in der Regel zu große Bandbreiten auf, so dass die davon ausgehende progressive Wirkung zu groß ausfällt. Die unter Leistungsfähigkeitsgesichtspunkten gerechteste Steuererhebung anhand eines Prozentsatzes des Übernachtungspreises scheitert nach der hier vertretenen Auffassung erst Recht an der Gleichartigkeit zur Umsatzsteuer. Auch wenn es stets auf die Verhältnisse in der betreffenden Gemeinden ankommt, sind auf die Zimmeranzahl der Beherbergungsbetriebe – wie in Weimar – oder auf die Hotelklassifikation abstellende – wie in der Hansestadt Lüneburg oder Flensburg – in aller Regel gleichheitswidrig: Zum einen weisen die daraus resultierenden Gruppen von Beherbergungsbetrieben in Bezug auf den Übernachtungspreis beim gruppeninternen Vergleich nicht die erforderliche Gruppenhomogenität auf. Zum anderen unterscheiden sich die Gruppen untereinander nicht so stark, dass den Grundsatz einer Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit und das flankierende Sozialstaatsprinzip auf den Kopf stellende Ergebnisse – wie das Beispiel Weimar belegt – ausbleiben würden. Von Experimenten dieser Art ist den Gemeinden in der Praxis dringend abzuraten. IV. Kur- oder Fremdenverkehrstaxe statt Bettensteuer Der eingangs beschriebene Versuch der Stadt Dresden, eine Abgabe auf private Übernachtungen im Rechtskleid einer Kurtaxe einzuführen, scheitert daran, dass das OVG Bautzen der sächsischen Metropole im Normenkontrollverfahren den Status einer sonstigen Fremdenverkehrsgemeinde gem. § 34 Abs. 1 Satz 1 SächsKAG versagte.67 Dresden sei nicht mit den staatlich anerkannten Kur- und Erholungsorten vergleichbar. Die Landeshauptstadt Dresden würde zwar vom Fremdenverkehr mitgeprägt, seine Wirtschaftskraft sei aber von anderen Faktoren wesentlich stärker abhängig als vom Fremdenverkehr. Der Ortscharakter Dresdens entspräche nicht dem von Kur- und Erholungsorten, die typischerweise zur Finanzierung ihrer vielfältigen Aufgaben im Bereich des Fremdenverkehrs auf eine Kurtaxe angewiesen seien. Dem kann man im Ergebnis nur zustimmen. Die Vorstellung, in einer Großstadt wie Dresden (oder Berlin, Hamburg) zu „kuren“, befremdet. Es ist daher nicht zu erwarten, dass viele Kommunen dem Beispiel Dresden folgen werden. Die Erhebung eines Kur-68 oder Fremdenverkehrsbeitrags69 ist an bestimmte Voraussetzungen geknüpft, die die Gemeinden erfüllen müssen. Der Fremdenverkehr muss mit seiner Wertschöpfung die örtliche Wirtschaft prägen.70 Diese Voraussetzungen sind in den aller67

Sächsisches OVG, Urteil v. 9. 10. 2014 – 5 C 1/14. Siehe z. B. § 9 ThürKAG. 69 Siehe z. B. § 8 ThürKAG. 70 Vgl. Dirk Tolkmitt/Uwe Berlit, LKV 2010, 385, 393.

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meisten Fällen nicht erfüllt. Außerdem sind die Einnahmen zweckgebunden zu verwenden. Gerade das wünschen die die Bettensteuer erhebenden Städte in aller Regel nicht. V. Ausblick Die Bettensteuer auf private Hotelübernachtungen wird aller Voraussicht nach als neue Bagatellsteuer Bestand haben. Sie stellt allerdings keine Bereicherung der Steuerlandschaft der Bundesrepublik Deutschland dar.71 Bei der Besteuerung dem Grunde nach wird es voraussichtlich zu keinen größeren Verwerfungen mehr kommen. Beim Steuersatz muss sich erst noch die Spreu vom Weizen trennen: Es werden sich aller Voraussicht nach in der Praxis zwei Modelle durchsetzen: ein bestimmter Prozentsatz des Übernachtungsgeldes oder ein nach der Höhe des Entgelts gestaffelter Pauschalbetrag. Bei der Ausgestaltung der Staffelung nach Zahl und Höhe des Pauschbetrages wird man den Städten ein gewisses, an den örtlichen Gegebenheiten auszurichtendes Ermessen einräumen müssen. Hingegen werden Satzungen, die auf die Hotelklassifikation oder die Bettenanzahl des Beherbergungsbetriebes abstellen, über kurz oder lang für unwirksam erklärt werden. Auch zukünftig wird nur vereinzelt – und jedenfalls nicht in Großstädten – mit Kulturförderabgaben im Rechtskleid einer „Bettentaxe“ zu rechnen sein. In einigen Jahren wird Ruhe um die Bettensteuer einkehren. Man wird indes nicht lange auf die nächste „Bagatellsteuer“ warten müssen. Dann beginnt der juristische Kampf der dann betroffenen Bevölkerungsgruppe aufs Neue. Eine Lösung der finanziellen Probleme der Gemeinden wird auch diese neue Aufwandsteuer nicht bringen. Denn sollte ihr Aufkommen entsprechend ausfallen, so wird sie (spätestens) am Gleichartigkeitsmerkmal des Art. 105 Abs. 2 a GG scheitern.

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Begeisterung kommt bei den kommunalen Bagatellsteuern allgemein nicht auf. Die Stimmungslage reicht von „lästig, aber notwendig“, so tendenziell Christian Waldhoff, JZ 2013, 49, 52, Anm. zu BVerwG Urteilen vom 11. 07. 2012, JZ 2013, 49, 52, über „einer modernen Industrienation unwürdig“, Mike Wienbracke, KStZ 2013, 41, 46, bis „Eintritt in die sonderumsatzsteuerliche Kleinstaaterei“, Friedrich Petry, BB 2010, 2860, 2866.

Der Arbeitgeberbeitrag in der Sozialversicherung – ein vorenthaltener Lohnbestandteil? Von Friedrich E. Schnapp, Bochum Der Rolle des Beitrags in der sozialen Sicherung war ein Tagungsband der Projektgruppe für Internationales und Vergleichendes Sozialrecht der Max-Planck-Gesellschaft im Jahre 1980 gewidmet.1 In seiner rechtswissenschaftlichen Analyse beklagte Josef Isensee das Fehlen einer juristischen Theorie des Sozialbeitrags.2 Die Situation heute ist nicht wesentlich besser. Zwar gibt es eine Reihe von Untersuchungen, die verschiedene Aspekte des Sozialversicherungsbeitrags ausgeleuchtet haben, aber sie belegen, dass man von einer communis opinio, was Charakter und Legitimation des Beitrags im Einzelnen anlangt, noch ein Stück weit entfernt ist. Zwar kann man nicht mehr – wie noch vor einiger Zeit – davon sprechen, die Finanzverfassung der Sozialversicherung stelle einen „weißen Fleck“3 des Abgabenrechts dar oder präsentiere sich dem Betrachter weitgehend als „Tohuwabohu“.4 Was jedoch bislang fehlt, ist eine flächig angelegte dogmatische Grundlegung zu einer kohärenten normativen Theorie des Beitrags.5 Dabei ist hinderlich, dass manche Autoren ihre Thesen aufgrund einer lediglich selektiven Wahrnehmung des normativen Grundgerüsts bilden und manche dieser Thesen gar – wie zu zeigen sein wird – schwerlich oder gar nicht mit dem geltenden Recht in Einklang zu bringen sind. Die nachfolgenden Ausführungen wollen dazu beitragen, die Überlegungen, die Rudolf Wendt an vielen Stellen seines Œuvres zu den Problemen der öffentlichen Abgaben angestellt hat, um einen sozialversicherungsrechtlichen Aspekt anzureichern und zu komplettieren. 1 Aus dieser Projektgruppe ist wenige Zeit später das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Sozialrecht (München) hervorgegangen, jetzt Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik. 2 Josef Isensee, Die Rolle des Beitrags bei der rechtlichen Einordnung und Gewährleistung der sozialen Sicherung, in: Hans F. Zacher (Hrsg.), Die Rolle des Beitrags in der sozialen Sicherung, 1980, 461 (462). 3 Josef Isensee, Nichtsteuerliche Abgaben – ein weißer Fleck in der Finanzverfassung, in: Hansmeyer (Hrsg.), Staatsfinanzierung im Wandel, 1983, 435. 4 Josef Isensee, „Bürgerversicherung“ im Koordinatensystem der Verfassung, NZS 2004, 393 (394). 5 Siehe auch Arndt Schmehl, Das Äquivalenzprinzip im Recht der Staatsfinanzierung, 2004, 214; Ferdinand Kirchhof, Sozialversicherungsbeitrag und Finanzverfassung in: Schnapp (Hrsg.), Finanzierungsfragen der Sozialversicherung, 2000, 11(13); Stephan Rixen, Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung: Grundlagen, in Sodan (Hrsg.), Handbuch des Krankenversicherungsrechts, 2010, § 36 Rdn. 13 ff., der selbst (a.a.O) eine knappe, konsistente Darstellung des Beitragswesens in der gesetzlichen Krankenversicherung liefert.

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I. Einleitung Leistungen der sozialen Sicherheit wollen finanziert sein. Während sich die Sicherungssysteme – jedenfalls in den entwickelten Staaten – im Hinblick auf die abgesicherten Risiken, den gesicherten Personenkreis und die Leistungen weitgehend ähneln, gibt es bei der Mittelaufbringung deutliche Unterschiede.6 In den Kernsytemen der sozialen Sicherung, nämlich Kranken-, Renten-, Pflege- und Unfallversicherung, hat sich Deutschland, im Unterschied zu anderen Staaten, für eine Beitragsfinanzierung im Umlageverfahren entschieden,7 das für die gesetzliche Rentenversicherung ausdrücklich normiert ist,8 der gesetzlichen Krankenversicherung aber ebenfalls – systematisch – zugrunde liegt.9 Dieses Verfahren lebt von den laufenden Einnahmen; gleichsam von der Hand in den Mund,10 besser: von der einen in die andere Hand oder – mit einem in die Mode gekommenen englischen Ausdruck – nach dem Motto „pay as you go“: Einnahmen werden umgehend zur Finanzierung der Ausgaben eingesetzt, also unmittelbar umgelegt. Die Beiträge machen nach wie vor den größten Teil der Finanzierung aus; allerdings ist der Anteil der Zuschüsse aus allgemeinen Steuermitteln stetig gestiegen.11 6 Hans F. Zacher, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Die Rolle des Beitrags in der sozialen Sicherung, 1980, 7 (11). Jüngst Wolfgang Buchholz/Wolfgang Wiegard, Wer finanziert den deutschen Sozialstaat in der Zukunft? Beiträge, Steuern und Privatisierung der Risiken, in: Masuch/Spellbrink/Becker/Leibfried (Hrsg.), Grundlagen und Herausforderungen des Sozialstaats, Denkschrift 60 Jahre Bundessozialgericht, Band 1, 2014, 751 (752 ff.). 7 Zur Beitragsfinanzierung grundlegend: Hermann Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, 2001, 109 ff., 256 ff., 320 ff.; Josef Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, 1973, 29 ff.; ders., (Fn. 2), 462 ff.; Ferdinand Kirchhof, Finanzierung der Sozialversicherung, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV, 1990, § 93 Rdn. 16 ff.; Christian Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, 2000, 232 ff.; Michael Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, 2008, 562 ff. Zum (auch) daraus folgenden Grundsatz des Kreditaufnahmeverbots siehe BSG, Urt. v. 3. 3. 2009 – B 1 A 1/08 R = BSGE 102, 281 = SozR 4 – 2500 § 222 Nr. 1; Stephan Rixen, Auf dem Marsch in den verschuldeten Krankenversicherungsstaat? Die Kreditaufnahme im System des Sozialfinanzsystems der gesetzlichen Krankenversicherung, VSSR 2004, 241 (248 ff.); Arndt Schmehl, Verwendung und Verwaltung der Mittel, in: Sodan (Hrsg.), Handbuch des Krankenversicherungsrechts, 2010, § 38 Rdn. 10 ff.; Friedrich E. Schnapp/Stephan Rixen, Die Unzulässigkeit der Aufnahme von Krediten durch die gesetzlichen Krankenkassen, BKR 2006, 360. Jetzt klargestellt durch § 220 Abs. 1 Satz 2 SGB V, angefügt durch Gesetz vom 22. 12. 2011 (BGBl I S. 2983) – GKV-Versorgungsstrukturgesetz. 8 § 153 Abs. 1 SGB VI: „In der Rentenversicherung werden die Ausgaben eines Kalenderjahres durch die Einnahmen des gleichen Kalenderjahres und, soweit erforderlich, durch Entnahmen aus der Nachhaltigkeitsrücklage gedeckt.“ Die Vorschrift trägt die amtliche Überschrift: „Umlageverfahren“. 9 Schnapp/Rixen (Fn. 7), BKR 2006, 360 (361). 10 Helge Sodan/Nils Schaks, Konvergenz der Versicherungssysteme, VSSR 2011, 289 (292). 11 Grundsätzlich dazu Nicolai Kranz, Die Bundeszuschüsse zur Sozialversicherung, 1998. Der BGH hat recht apodiktisch festgestellt, dass staatliche Zuschüsse den Begriff der Versicherung nicht ausschließen: BGHZ 44, 166 (169). Differenzierter BVerfGE 113, 167 (219):

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Mittlerweile betragen die Bundeszuschüsse allein aus allgemeinen Steuermitteln zur gesetzlichen Rentenversicherung über 60 Mrd. Euro.12 Das Bundesverfassungsgericht sieht es nach wie vor als wesentliches Strukturelement von „Versicherung“ an, dass deren Leistungen grundsätzlich durch Beiträge der „Beteiligten“ finanziert werden.13 Beteiligte in diesem Sinne sind in der Regel Arbeitgeber und Beschäftigte (§ 249 Abs. 1 SGB V; §§ 173 ff. SGB VI; § 1 Abs: 6, § 60 SGB XI, jeweils in Verbindung mit §§ 28d ff. SGB IV), die den Gesamtsozialversicherungsbeitrag aufbringen; dieses Grundmodell erfährt aber zahlreiche Modifikationen in den Vorschriften des jeweiligen Versicherungszweiges. Die gesetzliche Unfallversicherung bleibt im Folgenden außer Betracht, weil vor allem die Finanzierung, die bei dem Thema des Beitrags eine entscheidende Rolle spielt, von der bei den zuvor genannten Zweigen abweicht: Die Beiträge werden ausschließlich von den Unternehmern (wie die Arbeitgeber hier heißen) aufgebracht,14 die auch allein Mitglieder der Träger der gesetzlichen Unfallversicherungsträger (Berufsgenossenschaften) sind. Das ist ein Äquivalent dafür, dass die Unternehmer von der deliktsrechtlichen Haftung – außer bei Vorsatz – freigestellt sind.15 In den anderen Teilsystemen findet dagegen eine – mittlerweile „hinkende“16 – paritätische Finanzierung statt: Die Beiträge werden in der Regel je zur Hälfte von den Versicherten (Beschäftigten) und ihren Arbeitgebern auf-

„Die Verfassung enthält keine Bestimmung, wonach es geboten oder verboten wäre, die gesetzliche Sozialversicherung teilweise aus Steuermitteln zu finanzieren.“ Hervorhebung nur hier. Siehe auch Hans Schmitz, Wandlungen und Reformpläne im österreichischen Sozialversicherungsrecht, ZVersWiss 1965, 331 (351, 355); Butzer (Fn. 7), 307 ff.; Friedrich E. Schnapp, Sozialversicherung – Begriff ohne Kontur?, VSSR 1995, 101 (106 f.). Walter Leisner (Sozialversicherung und Privatversicherung, 1974, 75, 100 ff.) nimmt einen verfassungsrechtlichen Grundsatz an, wonach Staatszuschüsse zur Sozialversicherung – außer in Krisenzeiten – unter 50 % der Einnahmen bleiben müssten. 12 Deutsche Rentenversicherung. Rentenversicherung in Zahlen, 2013, 23. Diese Zuschüsse werden deklariert als Ausgleich für die Fremdleistungen, welche die gesetzliche Rentenversicherung zu erbringen hat. Was im Einzelnen zu den Fremdleistungen gehört, ist jedoch höchst umstritten. Siehe dazu den Überblick bei Butzer (Fn. 7), 31 ff.; Rolfs (Fn. 7), 193 ff.; kritisch Rixen (Fn. 5), § 36 Rdn. 10 ff. 13 BVerfGE 8, 274 (317); 18, 315 (328 f.); 37, 1 (16 f.); 75, 108 (147 f.). Zum Vorrang der Beitragsfinanzierung in der gesetzlichen Krankenversicherung siehe Schnapp/Rixen (Fn. 7), BKR 2006, 360 (360 f.). 14 § 150 Abs. 1 SGB VII. 15 § 104 SGB VII. Siehe aber auch §§ 110, 111 SGB VII, wonach der Rückgriff des Sozialversicherungsträgers nur bei leichter Fahrlässigkeit ausgeschlossen ist. 16 In der gesetzlichen Krankenversicherung tragen die Beschäftigten 0,9 Prozentpunkte allein; seit Einführung des Gesundheitsfonds gibt es außerdem die Möglichkeit der Erhebung von Zusatzbeiträgen. In der sozialen Pflegeversicherung ist (außer in Sachsen) ein Feiertag gestrichen; hinzu kommt ein Zusatzbeitrag für Kinderlose. Das Finanzierungs- und Qualitätsgesetz zur gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Finanzstruktur-und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz–GKV-FQWG, BR-Drucksache 265/14) bringt ab dem 01. Januar 2015 einen einkommensabhängigen Zusatzbeitrag mit sich, der allein von den Arbeitnehmern zu tragen ist.

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gebracht.17 Dieser Umstand wird vom Gesetz auch solidarische Finanzierung genannt.18 Die Höhe der Beiträge orientiert sich nicht – wie generell in der Privatversicherung – an den versicherten Risiken, sondern wird in einem Vomhundertsatz des beitragspflichtigen Einkommens (Beitragssatz) bemessen. Ausschlaggebend für die Finanzierung ist also – wie im Steuerrecht – die Leistungsfähigkeit, für den Bezug von Leistungen hingegen der Versicherungsfall, also ein Bedarf.19 Die nachfolgenden Überlegungen befassen sich allein mit der strukturellen Erfassung und Einordnung des Arbeitgeberanteils am Sozialversicherungsbeitrag. Problematisch war einige Zeit lang, wie der Sozialversicherungsbeitrag überhaupt von den sonstigen Formen der staatlichen Abgaben abzugrenzen ist, um die Frage beantworten zu können, ob und wenn ja, wie er sich in die bundesstaatliche Finanzverfassung einfügt. Die klassischen Formen staatlicher Abgabenerhebung sind bekanntlich Steuern, Gebühren und Beiträge.20 Zu ihnen gesellt sich der Komplex der Sonderabgaben, die offenbar als Finanzierungsquelle und als Lenkungsinstrument unentbehrlich erscheinen und deshalb vom Bundesverfassungsgericht im Grundsatz akzeptiert, wenngleich mit einer Reihe von speziellen Zulässigkeitsvoraussetzungen verknüpft worden sind.21 Die genaue Einordnung des Sozialversicherungsbeitrags ist u. a. deshalb erforderlich, weil die Finanzverfassung des Grundgesetzes die Auferlegung nichtsteuerlicher Abgaben insoweit begrenzt, als diese – im Gegensatz zur Steuer, der das Privileg zukommt, „dem Bürger ohne Nachweis der 17 Dieser Ausdruck lässt noch nicht erkennen, dass das Gesetz zwischen Zahlung und Tragung der Beiträge unterscheidet; dazu später im Text. 18 So die amtliche Überschrift von § 3 SGB V. 19 BVerfGE 79, 223 (237); 92, 53 (70); BSGE 50, 243 (244 f.); 62, 281 (291). Die einkommensbezogene Beitragsbemessung und die Leistungserbringung folgen einer Maxime, die von Karl Marx formuliert worden ist. Vgl. Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms (von ihm selbst „Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei“ genannt), in: Karl Marx/Friedrich Engels: MEW, Band 19, 4. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, 13 (21): „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“ Kritisch dazu etwa Friedhelm Hase, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die staatliche Gewährleistung sozialer Sicherheit, in: SDSRV 51 (2004), 7 (21 f.). 20 Zu den „anerkannten Finanzierungsformen“ siehe Helmut Siekmann, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 5. Aufl. 2009, vor Art. 104 a, Rdn. 74 ff. 21 Vgl. BVerfGE 55, 274 (305 ff.); 67, 256 (276 f.). Zusammenfassend: BVerfGE 93, 319 (342 ff.). Ferner Karl Heinrich Friauf, Öffentliche Sonderlasten und Gleichheit der Staatsbürger, Festschrift für Hermann Jahrreiß zum 80. Geburtstag, 1974, 45 ff.; Paul Kirchhof, Die Sonderabgaben, Festschrift für Karl Heinrich Friauf, 1996, 669 ff. Dem Bundesverfassungsgericht unterläuft gelegentlich eine Vermischung von Zulässigkeitskriterien mit Qualifikationsmerkmalen, so in BVerfGE 55, 274 (307). Dazu Markus Heintzen, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Band 3, 6. Aufl. 2012, Art. 105, Rdn. 25; Paul Henseler, Das Urteil zur Investitionshilfeabgabe in seiner Bedeutung für die Dogmatik des Abgabenrechts, NVwZ 1985, 398 (401); Werner Heun, Die Sonderabgaben als verfassungsrechtlicher Abgabetypus, DVBl. 1990, 666 (666 f.); Peter Lerche, Verfassungsfragen zum Solidarfonds Abfallrückführung, Der Betrieb 1995, Beilage Nr. 10/95, S. 5; Lerke Osterloh, Zur Zulässigkeit von Sonderabgaben, JuS 1982, 421 (424 f.); Helmut Siekmann, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 5. Aufl. 2009, vor Art. 104 a, Rdn. 152.

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Belastungsnotwendigkeit auferlegt werden zu können.“22 – einer besonderen Legitimation bedürfen.23 Um die Anforderungen an den Legitimationszusammenhang herausarbeiten zu können, bedarf es – auch angesichts dieser finanzverfassungsrechtlichen Vorgaben – zunächst einer eindeutigen Qualifikation und Zuordnung der Beiträge zur Sozialversicherung oder – wenn man so will – zu den Sozialversicherungen.24 Das Bundesverfassungsgericht hat dazu ausgeführt, der Kompetenztitel des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG sei bereits von sich aus auf die Erhebung von Sozialversicherungsbeiträgen gerichtet.25 Voraussetzung dabei ist allerdings, dass es sich dabei in der Sache um „Sozialversicherung“ handelt. Das erfordert u. a., dass die Sozialversicherungsträger „ihre Mittel durch Beiträge der ,Beteiligten‘ aufbringen.“26 Die Heranziehung nicht selbst Versicherter – wie der Arbeitgeber oder, in der Entscheidung zur Künstlersozialversicherung, der sog. Vermarkter – bedarf dabei eines „sachorientierten Anknüpfungspunktes in den Beziehungen zwischen Versicherten und Beitragspflichtigen“.27 Alles andere würde heißen, den Kompetenztitel des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zu einer Befugnis des Inhalts denaturieren zu lassen, dass die Sozialversicherung durch nichtsteuerliche Abgaben beliebiger Art finanziert wird, wobei sich der Gesetzgeber die ihm genehmen Konfigurationen zusammensuchen könnte.28 Ist die Zugehörigkeit einer Regelungsmaterie zum Kompetenztitel „Sozialversicherung“ also bejaht, so macht dies die Suche nach einer Rechtfertigung der Regelungen über die Beitragsbelastung aus den genannten Gründen noch nicht entbehrlich.29 Nach einem Diktum des Bundesverfassungsgerichts finden Sozialversicherungsbeiträge zwar „ihren Grund und ihre Grenze in der Finanzierung der Sozialversicherung“.30 Im Lichte seiner eigenen Rechtsprechung kann das Gericht je22

Paul Henseler, Begriffsmerkmale und Legitimation von Sonderabgaben, 1984, 36. BVerfGE 110, 370 (387). Zum Erfordernis einer eindeutigen Zuordnung siehe BVerfGE 55, 274 Leitsätze 1 und 2; Heun (Fn. 21), DVBl. 1990, 666 (667 l. Sp.); Osterloh (Fn. 21), JuS 1982, 421 (424); Friedrich E. Schnapp, Der Apothekenrabatt – eine Sonderabgabe sui generis? VSSR 2003, 343 (351). 24 So der Sprachgebrauch bei Susanne Held, Die Verfassungsmäßigkeit der Arbeitgeberbeiträge zu den Sozialversicherungen, 2011, die hinsichtlich der Legitimation der Beitragslast zwischen den verschiedenen Zweigen der Sozialversicherung unterscheidet. 25 BVerfGE 14, 312 (318); 75, 108 (148); s. a. BVerfGE 89, 132 (144). 26 BVerfGE 11, 105 (111 ff.); 63, 1 (35); 75, 108 (146). 27 BVerfGE 75, 108 (146). 28 BVerfGE 75, 108 (158); Schnapp (Fn. 23), VSSR 2003, 343 (347). 29 BVerfGE 75, 108 (149); Butzer (Fn. 7), 283; Hansgeorg Frohn, Der Arbeitgeberanteil zum Gesamtsozialversicherungsbeitrag – eine verfassungsrechtlich zulässige „fremdnützige Sonderabgabe“ oder …?, VSSR 2006, 263 (274 ff.); Rolfs (Fn. 7), 228 ff. A. A. offenbar KarlJürgen Bieback, Begriff und verfassungsrechtliche Legitimation von „Sozialversicherung“, VSSR 2003, 1 (22 f.). Man kann natürlich auch der Debatte – bildlich gesprochen – die verfassungsrechtliche Tür vor der Nase zuschlagen und ins Leere laufen lassen, wenn man – wie BSGE 81, 276 (284) = NZS 1998, 482 – im Ergebnis das, was immer der Gesetzgeber unter Berufung auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG in die Welt setzt, für gerechtfertigt ansieht. Zu der Entscheidung siehe auch Schnapp, Urteilanmerkung, JZ 1999, 621. 30 BVerfGE 75, 108 (148). 23

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doch nicht so verstanden werden, als seien diese Beiträge bereits dadurch legitimiert („Grund“), dass sie eben Sozialversicherungsbeiträge sind (was – nebenbei gesagt – auch auf einen legitimatorischen Zirkel hinausliefe). Mit der Bejahung der Frage, ob es einen „sachorientierten Anknüpfungspunkt“ gibt, „der nicht außerhalb der Vorstellungen liegt, von denen die Sozialversicherung in ihrem sachlichen Gehalt bestimmt wird“, ist nämlich noch nicht über die materiell-rechtliche Frage nach der Rechtmäßigkeit der Heranziehung, insbesondere also ihrer Grundrechtskonformität, entschieden.31 Alles andere hieße, einen bequemen Weg zu einer „finanzielle[n] Zwangspatenschaft[en]“32 oder – um zu einer anderen Formulierung zu greifen – zu einer „Staatssubvention aus nichtstaatlicher Tasche“33 zu eröffnen, was zugleich auf eine Kompetenzusurpation durch Wahl des kodifikatorischen Standortes hinausliefe. Der Versuch, die grundrechtsdogmatischen Anknüpfungspunkte zu finden, macht mithin eine vorgängige strukturelle und definitorische Erfassung des Arbeitgeberbeitrags erforderlich. Nachfolgend soll demgemäß versucht werden, den Arbeitgeberbeitrag in das Gefüge staatlicher Abgaben einzuordnen,34 ohne bereits oder überhaupt an dieser Stelle nach Legitimationszusammenhängen zu suchen.35 Das Schrifttum war nicht selten bestrebt, die Unvereinbarkeit der Erhebung bestimmter Sozialversicherungsbeiträge, genauer: -beitragsanteile, mit Grundsätzen der grundgesetzlichen Finanzverfassung darzutun, soweit die Herangezogenen

31 BVerfGE 75, 108 (149): „ungeachtet der noch zu erörternden Frage ihrer materiellrechtlichen Zulässigkeit“. Wie hier auch Butzer (Fn. 7), 283; Rolfs (Fn. 7), 228 ff. Siehe ferner Schnapp (Fn. 23), VSSR 2003, 343 (346 f.). 32 So die Metapher von Reinhard Mußgnug, Die zweckgebundene öffentliche Abgabe, in: Schnur (Hrsg.), Festschrift für Ernst Forsthoff, 1972, 259 (292). 33 Isensee, Umverteilung (Fn. 7), 9. 34 Man kann natürlich die Suche nach dem Charakter des Beitrags in die Leere laufen lassen, indem man eine Überprüfung der Leistungen auf ihre Rechtmäßigkeit und verfassungsrechtliche Zulässigkeit aufgrund einer Klage gegen die Beitragsfestsetzung für unzulässig erklärt; so BSGE 60, 248 für die Krankenversicherung, BSGE 81, 276 ( = NZS 1998, 482) für die Rentenversicherung. Der Weg zu dieser Judikatur wurde freigemacht durch BVerfGE 67, 26. Auch wiedergegeben in DÖV 1984, 716; DVBl 1984, 777; EuGRZ 1984, 433; FamRZ 1984, 863; JuS 1985, 652; JZ 1984, 938; NJW 1984, 1805. Kritische Anmerkungen dazu von Aretz, JZ 1984, 918; Geiger, EuGRZ 1984, 409; Krause, NVwZ 1985, 87; Ruland, JuS 1985, 652 ; Schultz, MDR 1984, 812. Die Verfassungsbeschwerde gegen BSGE 81, 276 wurde nicht zur Entscheidung angenommen: BVerfG, Beschluss vom 29. 12. 1999 – 1 BvR 679/98 = NJW 2000, 2496 = NZS 2000, 394. 35 Die letzte Arbeit, die sich diesem Problem widmet, ist die Monographie von Susanne Held (Fn. 24). Aus der vorangehenden Literatur siehe Butzer (Fn. 7), 580 f.; Frohn (Fn. 29), VSSR 2005, 263; Friedhelm Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, 2001, 603; Friedrich E. Schnapp, Die rechtliche Legitimation des Arbeitgeberanteils in der gesetzlichen Krankenversicherung, SGb 2005, 1. Ein Teil der Literatur meint, die Frage deshalb von vornherein nicht stellen zu brauchen, weil die Arbeitgeber durch die Erhebung ihres Beitragsanteils nicht belastet seien. Siehe die Nachweise bei Held (wie vorstehend), 16 mit Fn. 2.

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weder Arbeitgeber noch Beschäftigte waren.36 Im Zuge dieser Debatte hatte sich – worauf Hermann Butzer aufmerksam gemacht hat – ein „enger“ und ein „weiter“ Beitragsbegriff herausgebildet:37 Wer darlegen wollte, dass nichtversicherte Personen als „sonstige Beteiligte“ zu Unrecht zu den Lasten der Sozialversicherung herangezogen wurden, rechnete nur die sozialversicherten Beschäftigten selbst zu den Beteiligten und qualifizierte die Abgaben weiterer Beteiligter als (unzulässige) fremdnützige Sozialversicherungsabgaben. Diesem Konzept lag folglich ein enger Beitragsbegriff (und dementsprechend ein enger Beteiligtenbegriff) zugrunde. Die Gegenposition vertrat und vertritt den Standpunkt, dass außer den herkömmlich Beteiligten, d. h. Arbeitgebern und -nehmern, auch weitere Beteiligte rechtens zu (echten) Beiträgen herangezogen werden können, sofern nur ein „sachorientierter Anknüpfungspunkt“ vorliegt.38 Diese Position implizierte somit einen weiten Beitragsbegriff. Wer einen engen Beteiligten-Begriff vertrat, der Arbeitgeber und „sonstige Beteiligte” nicht umfasst, kam zu dem Ergebnis, dass die Beiträge der letzteren, weil ohne Gegenleistung, sich als verfassungswidrige verkappte Steuern oder sonstige Abgaben darstellten. Die weitere Folge war, dass sich die Erhebung jener Beiträge jedenfalls nicht auf den Kompetenztitel aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG stützen ließ, sondern nur dann, wenn sie den Zulässigkeitsvoraussetzungen für die Erhebung von Sonderabgaben entsprach. Die Begriffe des Beitrags und der Beteiligten waren in diesem Zusammenhang Manipulationsobjekte oder – milder ausgedrückt – Schlüsselbegriffe, mit deren Hilfe man je nach weiter oder enger Fassung die Kompetenzfrage im dogmatischen Vorfeld beantworten konnte. Das Bundesverfassungsgericht ist dem Ansatz der „kritischen“ Richtung bekanntlich nicht gefolgt, hat also ebenfalls einen weiten Beitragsbegriff zugrunde gelegt. Will man die dogmatische Blockbildung überwinden, die darin besteht, dass man Beiträge bzw. Beteiligte in toto in den Blick nimmt, so geht es darum, zunächst die einheitliche Betrachtung und Qualifizierung des Sozialversicherungsbeitrags insgesamt als Abgabe eigener Art39 aufzubrechen und den Blick darauf zu richten, wie die Beitragslast verteilt ist, d. h. wer den einzelnen Beitragsanteil zu tragen hat.40 Eine 36

Stichworte: Familienausgleichskasse, studentische Krankenversicherung, Künstlersozialversicherung, Pflegeversicherung etc. 37 Butzer (Fn. 7), 261 ff. 38 Diese Formulierung bei BVerfGE 75, 108 (147). 39 BVerfGE 14, 312 (317 f.); 75, 108 (148); BSG, SGb 1987, 171; Ferdinand Kirchhof (Fn. 7), Rdn. 16; Isensee (Fn. 2), 461 (487) mit weiteren Nachweisen in Fn. 76. 40 Das Gesetz unterscheidet zwischen dem Zahlungspflichtigen (der den Beitrag zu zahlen hat) und denjenigen, welche die Beitragslast tragen: § 252 SGB V in Verbindung mit § 28e Abs. 1 Satz 1 SGB IV; §§ 173 ff. SGB VI; § 60 SGB XI in Verbindung mit § 28e Abs. 1 Satz 1 SGB IV (Zahlung der Beiträge), §§ 249 ff. SGB V; §§ 168 ff. SGB VI, § 58 SGB XI (Tragung der Beiträge bzw. Verteilung der Beitragslast). Ungenau daher Axer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV, 1990, § 95 Rdn. 16, wonach die Beiträge grundsätzlich paritätisch von Arbeitgeber und Beschäftigtem gezahlt werden. Unzutreffend auch Isensee (Fn. 2), 461 (487), der von zwei Abgabenschuldverhältnissen mit gemeinsamem Gläubiger spricht. Zu weiteren Erscheinungsformen der

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weit verbreitete façon de parler versteht nämlich unter „Beitragszahlern“ lediglich die Arbeitnehmer, die in die „Sozialkassen“ einzahlen. Das hat mit der Rechtslage nichts zu tun. Deshalb tut hier Aufklärung not. Nur wenn man Zahlung und Tragung der Beiträge dem richtigen Personenkreis zuordnet, kann man die Frage nach der Legitimation richtig stellen. Unter dieser Prämisse gilt: Der versicherungspflichtig Beschäftigte, dem in der Regel der hälftige Beitrag (mit Ausnahmen) „zur Last bleibt“,41 bereitet insoweit relativ wenig Schwierigkeiten: für ihn bedeutet sein Beitrag eine Vorzugslast, welche die „Gegenleistung“42 für die Absicherung des bei ihm bestehenden sozialen Risikos darstellt, das allerdings – wegen der Elemente des sozialen Trennung von Zahlung und Tragung siehe Frohn (Fn. 29), VSSR 2006, 263 (264 f.); Rixen (Fn. 5), § 37 Abschnitt E. einerseits, F. andererseits. 41 Plastisch die Formulierung bei Ludwig Fuld, Das Reichsgesetz betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung, 1890, § 19 Anm. 5: „Die zu leistenden Beiträge werden halbirt [sic!], die hierdurch entstehende eine Hälfte bleibt dem Arbeitgeber zur Last, während die andere Hälfte das Verdienstkonto des Arbeiters beschwert und ihm seitens des ersteren bei Zahlung des Lohnes in Abzug gebracht wird.“ 42 In der Optik mancher Betrachter scheint ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen Beiträgen und Leistungen im Sinne einer Äquivalenz zu bestehen. Nach BVerfGE 115, 25 (43) – „Nikolaus-Beschluss“ „schützt das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG den beitragspflichtigen [?] Versicherten vor einer Unverhältnismäßigkeit von Beitrag und Leistung“ (Hervorhebung nur hier). Danach müssten Beiträge und Leistungen in einem Verhältnis der (ungefähren) Äquivalenz stehen. Sie haben aber miteinander nichts zu tun, wie schon die Kommentatoren der Erstlingsgesetzgebung wussten (siehe diese Fußnote weiter unten). Zu Recht kritisch („eine der gravierendsten Fehlentscheidungen des Verfassungsgerichts aus den letzten Jahren“) Heinig (Fn. 7), 421 m. w. N.; ders., Hüter der Wohltaten?, NVwZ 2006, 771 (772): „Rechtsschöpfung extra legem“; ferner Stefan Huster, Verfassungsunmittelbarer Leistungsanspruch gegen die gesetzliche Krankenversicherung?, JZ 2006, 466. Das Bundesverfassungsgericht offenbart hier ein weiteres Mal – wie für Kenner der Materie nicht näher ausgebreitet zu werden braucht – seine fehlende Einsicht in Grundmechanismen des Sozialversicherungsrechts. Siehe dagegen BSG SozR 2600 § 121 RKG Nr. 4 S. 13: „Grundlage der Leistungen aus der gesetzlichen Krankenversicherung [sind] nicht die Beiträge, sondern die Mitgliedschaft.“ So schon RGZ 56, 351 (353); RGSt 15, 414 (416); Arndt v. List, Das geltende deutsche Arbeiterversicherungsrecht und das Problem seiner künftigen Vereinheitlichung, 1906, 18 f.; Heinrich Rosin, Die Rechtsnatur der Arbeiterversicherung, Festgabe für Paul Laband zum fünfzigsten Jahrestage der Doktor-Promotion, 1908, Zweiter Band, 43 ff. (43 f.) mit weiteren Nachweisen in Fn. 4, der dort hinzufügt: „Ueber diese Grundsätze herrscht auch in der Literatur Uebereinstimmung.“ Richtigerweise erwirbt ein Krankenversicherter lediglich ein Recht auf materiellen Versicherungsschutz „in der Gegenwart“ mit einer Anwartschaft auf Leistungen beim Eintritt des Versicherungsfalls, dagegen keinen mit der Stärke von Privateigentum ausgestatteten Anspruch auf in alle Zukunft uneinschränkbaren und unentziehbaren Versicherungsschutz. Siehe Helmar Bley/Ralf Kreikebohm/Andreas Marschner, Sozialrecht, 8. Auflage 2001, Rdn. 67; Bertram Schulin/Gerhard Igl, Sozialrecht, 7. Auflage 2002, 69 (Rdn. 112). Ferner Bernhard Frieß, Die Steuerungsinstrumente der Selbstverwaltung im Sozialgesetzbuch – Fünftes Buch, 1992, 470 ff.; Peter Krause, Eigentum an subjektiven öffentlichen Rechten, 1982, 104 ff.; Hans-Jürgen Papier. in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Band II, Stand: April 2003, Art. 14 Rdn. 158; siehe auch die apodiktische Formulierung von Wolfgang Rüfner, Die Differenziertheit sozialrechtlicher Positionen und der Anspruch auf Eigentumsgarantie, in: Schriftenreihe des Deutschen Sozialrechtsverbandes, Band XXIII (Verfassungsrechtlicher Eigentumsschutz sozialer Rechtspositionen), 1982, 169 ff. (176): „Anwartschaften werden nicht aufgebaut“.

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Ausgleichs – mit Sonderlast-Merkmalen angereichert ist. Die Arbeitgeber wie sonstige Beitragspflichtige trifft der Beitrag als fremdnützige Sonderlast,43 weil diese durch ihre Beitragsleistungen keinen Versicherungsschutz erlangen und auch nicht – wie etwa der Arbeitgeber in der gesetzlichen Unfallversicherung44 – von anderweitigen Verpflichtungen freigestellt werden.45 Vor dem Hintergrund der staatsbürgerlichen Lastengleichheit bedarf diese Heranziehung des Arbeitgebers zur hälftigen Tragung des Beitrags einer Rechtfertigung,46 und zwar in abgabenkompetenz- wie in abgabengrundrechtlicher Hinsicht.47 Die Frage einer Rechtfertigung der Heranziehung zum Arbeitgeberanteil gegenüber dem Arbeitgeber würde sich allerdings nicht stellen, wenn man dessen Beitrag in ökonomischer Betrachtung als Lohnbestandteil („Soziallohn“) und damit als vom Arbeitnehmer „mitverdient“ ansehen könnte.48 Die Entscheidung des Bundesverfas43

BVerfGE 75, 108 (157 f.); BSGE 86, 262 (290); 92, 113 (134, Abs. 94); Isensee, Der Sozialversicherungsbeitrag des Arbeitgebers in der Finanzordnung des Grundgesetzes – Zur Verfassungsmäßigkeit eines „Maschinenbeitrages“, DRV 1980, 145 (150); Maximilian Wallerath, Gegenwärtiges System der Finanzierung der sozialen Sicherung, in: Die Finanzierung der Sozialleistungen in der Zukunft, SDSRV 45 (1999), 7 (14). 44 Siehe § 104 SGB VII. 45 Friedrich E. Schnapp, Die rechtliche Legitimation des Arbeitgeberanteils in der gesetzlichen Krankenversicherung, SGb 2005, 1 (1); siehe auch Butzer (Fn. 7), 584 f. 46 BVerfGE 75, 108 (157 ff.); 113, 167 (219); zuvor bereits BVerfGE 11, 105 (115); siehe ferner Friedrich E. Schnapp, Die arbeitsrechtliche Fürsorgepflicht – Legitimation für den Arbeitgeberanteil in der gesetzlichen Rentenversicherung?, Gedächtnisschrift für Meinhard Heinze, 2005, 815 (816). 47 Frohn (Fn. 29), VSSR 2006, 263 (264); Heinig (Fn. 7), 566 mit umfassenden Nachweisen. 48 So etwa Joachim Becker, Transfergerechtigkeit und Verfassung, 2001, 154 f.; Behrend Behrends/Johann Bruckhorst, Fremdlasten und Beitragssatzunterschiede in der gesetzlichen Krankenversicherung aus finanzverfassungsrechtlicher Sicht, SGb 1987, 226 (234); KarlJürgen Bieback, § 116 AFG n. F. im System des Sozial- und Arbeitslosenversicherungsrechts, SGb 1987, 177 (179); Helmar Bley, Der Beitrag zur Rentenversicherung in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, VSSR 1975, 289 (364); Stefan Huster, Die Beitragsbemessung in der gesetzlichen Krankenversicherung. Gesellschaftlicher Wandel als Herausforderung für das Sozialversicherungsrecht, JZ 2002, 371 (376); Isensee, Umverteilung (Fn. 7), 19 mit Fn. 6; ders., Der Sozialversicherungsbeitrag des Arbeitgebers in der Finanzordnung des Grundgesetzes – Zur Verfassungsmäßigkeit eines „Maschinenbeitrages“, DRV 1980, 145 (154); Ferdinand Kirchhof, Sozialversicherungsbeitrag und Finanzverfassung, NZS 1999, 161 (165); ders., in: Schulin (Hrsg.), Handbuch der Sozialversicherung, Band 1: Krankenversicherungsrecht, 1994, § 53 Rdn. 27; ders., Das Solidarprinzip im Sozialversicherungsbeitrag, SDSRV 35, 65 (74 f.); Detlef Merten, in: Gleitze/Krause/von Maydell/Merten (Hrsg.) Gemeinschaftskommentar zum Sozialgesetzbuch – Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung, 1992, § 14 Rdn. 19; Franz Ruland, in: von Maydell/Ruland (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, 3. Auflage 2003, 16 Rdn. 30; ders., in: Bieback (Hrsg.), Die Sozialversicherung und ihre Finanzierung, 1986, 141 ff. (147); Rainer Schlegel, Die Indienstnahme des Arbeitgebers in der Sozialversicherung, in: von Wulffen/Krasney (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre BSG, 2004, 265 (266); Helge Sodan, Zur Verfassungsmäßigkeit der Ausgliederung von Leistungsbereichen aus der gesetzlichen Krankenversicherung, NZS 2003, 393 (395). Weitere Nachweise – auch zur älteren Literatur – bei Butzer (Fn. 7), 586 sowie bei Tigran Dabag, Bei-

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sungsgerichts zur Krankenversicherung der Rentner (KVdR)49 legt eine solche Sichtweise nahe. Es ging dabei um die Frage, wie weit sich der verfassungsrechtliche Schutz des Art. 14 Abs. 1 GG erstreckt, der grundsätzlich Rentenansprüche und -anwartschaften erfasst. Eine der Voraussetzungen ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass die jeweilige Position auf „nicht unerhebliche Eigenleistungen“ des Versicherten zurückgeht. Nach der KVdR-Entscheidung „sind als eigene Leistungen des Versicherten nicht nur die von ihm selbst bezahlten [sic!] Beiträge zu berücksichtigen, sondern in aller Regel auch solche Beiträge, die von Dritten zu seinen Gunsten dem Träger der Sozialversicherung zugeflossen sind. Hierzu gehören etwa die Arbeitgeberanteile im Bereich der gesetzlichen Renten- und Krankenversicherung, die den eigentumsrelevanten Eigenleistungen des Arbeitnehmers zuzurechnen sind.“50 In einer Kammerentscheidung heißt es, dass die Beiträge „Berechnungs- und Bemessungsfaktoren für sozialversicherungsrechtliche Leistungen sind“.51 Und in einer neueren Entscheidung ist von Rentenansprüchen und -anwartschaften die Rede, die „durch Beitragszahlungen… erworben wurden“.52 Dass das Gericht den Beiträgen eine maßgebliche Rolle beim Erwerb von Rentenansprüchen und -anwartschaften zuerkennt, wird schließlich bestätigt durch eine Entscheidung aus dem Jahre 1981, welche die Berücksichtigung von Ausbildungszeiten betraf.53 In diesem Judikat hat es dem Gesetzgeber insofern größere Gestaltungsfreiheit zugebilligt, als diese Zeiten nicht auf Beiträgen der Versicherten beruhten, mit denen diese die Anrechnung und Bewertung von Ausbildungs-Ausfallzeiten „erkauft“ hätten, sondern auf einem allgemeinen fürsorgerischen Gedanken.54 Mit einem solchen Ansatz verkennt das Gericht aber die Rolle des Beitrags im Rentenversicherungsrecht, insbesondere seinen (fehlenden) Zusammenhang mit den Leistungen.55 tragsäquivalenz in der gesetzlichen Rentenversicherung?, 2009, 92; Hase (Fn. 35), 179; Held (Fn. 24), 16. Zusammenfassung der Thesen in BSGE 86, 262 (292 f.). Siehe auch BSGE 92, 113 (127) sowie BSG SozR 4 – 2600 § 71 Nr. 1. 49 BVerfGE 69, 272. 50 BVerfGE 69, 272 (302). An dieser Stelle werden zitiert: Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, I. Bd., 1965, 244; Isensee, DRV 1980, 145 (154). 51 BVerfG (2. Kammer des 1. Senats), SozR 2200 § 1303 Nr. 34 S. 96. 52 BVerfGE 100, 1 (35). 53 BVerfGE 58, 81. 54 BVerfGE 58, 81 (124 f.). Zum Problem selbst siehe Jens Blüggel, Verstößt die geplante Nichtanrechnung gegen das Eigentumsgrundrecht?, SozSich 2004, 61; Wolfgang Meyer/Jens Blüggel, Schulische Ausbildungszeiten: Eine „versicherungsfremde Leistung” in der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV)?, NZS 2005, 1. 55 Dabei gibt es in der Judikatur des Gerichts (und des Senats) Beispiele dafür, dass das Verhältnis von Beiträgen und Leistungen (nahezu) richtig gesehen wird. Siehe etwa BVerfGE 51, 1 (27): „Die Umlagefinanzierung im Rahmen des ,Generationenvertrags‘ bringt es mit sich, daß die Leistungen nicht in einem festen Verhältnis zur absoluten Höhe der aufgewendeten Beiträge stehen.“ Siehe auch die abw. Meinung des Richters Dr. Katzenstein (35): „Nicht die absolute Höhe des Beitrags und die Dauer seiner Verzinsung gehen in die Berechnung ein, sondern das dem Beitrag zugrunde liegende Entgelt in Relation zur allgemeinen

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II. Der Arbeitgeberbeitrag als „Soziallohn“? Die Begründungen, welche die offensichtlich herrschende Ansicht für die Annahme vorbringt, dass der Arbeitgeberanteil ein Teil des Arbeitslohns sei, können hier nicht in extenso dargestellt werden. Zu einem nicht geringen Teil werden dem Leser statt Begründungen allerdings nur Thesen geboten; insbesondere sucht man vergeblich nach Herleitungen aus dem Gesetz. Soweit sich die h. M. auf die soeben erwähnte Entscheidung zur Krankenversicherung der Rentner56 stützt, geht diese Bezugnahme ebenfalls fehl. Das Bundesverfassungsgericht hat in dieser Entscheidung den Arbeitgeberanteil – wie gesagt – zu den „eigentumsrelevanten Eigenleistungen“ des Arbeitnehmers gerechnet,57 hat also den Arbeitgeberanteil den vom Arbeitnehmer selbst getragenen Beitragsteilen sub specie Eigentum gleichgestellt. Diese Zuordnung gilt aber lediglich im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Eigentumsgarantie, präjudiziert jedoch nicht die einfach-rechtliche Qualifizierung etwa durch das Zivil-, Arbeits- oder Sozialrecht. Das lässt sich am besten an der Institution „Eigentum“ selbst demonstrieren: Dem Schutz des Art. 14 GG unterfallen nach der ganz herrschenden Meinung z. B. Ansprüche und Anwartschaften auf Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung, aber auch der Anspruch auf Erstattung zu viel gezahlter Steuern58 oder das Miet-Besitzrecht59 und anderes. Bürgerlich-rechtliches Eigentum besteht aber nur an Sachen, nicht an Forderungen. Hieran wird deutlich, dass das Grundgesetz den Eigentumsbegriff von sich aus und ohne Rücksicht auf eine bürgerlich-rechtliche Begrifflichkeit bestimmt.60 Allgemein gewendet: Einfach-gesetzlich geprägte Begriffe können „im Grundgesetz gleichwohl einen eigenständigen Inhalt entfalten“.61 Die Entscheidungen, auf die sich die Ansicht vom Arbeitgeberanteil als Lohnbestandteil stützt, betrafen dementsprechend – anders gewendet – den grundrechtlichen Schutz des Arbeitnehmers vor dem Gesetzgeber, welcher in dessen rentenrechtliche Positionen eingegriffen hatte. Die dogmatische Aussage, dass alles bürgerlich-rechtliche Eigentum dem Schutz des Art. 14 GG unterfällt, verträgt keinen Umkehrschluss: Nicht alles, was verfassungsrechtlich als Eigentum qualifiziert ist, kann auch als bürgerlich-rechtliche Eigentumsposition (oder als deren funktioBemessungsgrundlage des jeweiligen Entrichtungsjahres.“ Vgl. auch die abweichende Meinung der Richter Dr. Faller und Dr. Niemeyer, BVerfGE 51, 37 (42). 56 BVerfGE 69, 272. 57 BVerfGE 69, 272 (302); 100, 1 (35). 58 Nachweise bei Hans D. Jarass, in: Jarass/ Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 11. Aufl. 2011, Art. 14 Rdn. 12/13. 59 BVerfGE 89, 1 (6). Dazu Hans Heinrich Rupp, Bürgerrechte als staatliche Kompetenztitel? in: Festschrift für Herbert Bethge, 2009, 51 (60 ff.). Zum Problem selbst siehe Oliver Lepsius, Besitz und Sachherrschaft im öffentlichen Recht, 2002, bes. 41 ff. 60 Brun-Otto Bryde, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 6. Aufl. 2012, Art. 14, Rdn. 12. Ähnliches gilt für den Begriff der juristischen Person: BVerfGE 4, 7 (12) – KG, OHG; 24, 236 (243) – nicht rechtsfähiger Verein: 53, 366 (386) – GmbH, rechtsfähiger Verein; 70, 138 (160) – privatrechtliche Stiftung. 61 Reinhold Zippelius/Thomas Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 31. Aufl. 2005, 53.

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nales Äquivalent) gewertet werden.62 Die These der h. M. läuft überdies darauf hinaus, dass der Arbeitnehmer den Arbeitgeberanteil – entgegen der gesetzlichen Wertung – selbst erwirtschaftet und getragen hat. Das weist unübersehbare Anklänge an die Marx’sche Mehrwerttheorie auf63 – was die These allerdings nicht schon aus diesem Grunde falsch macht. Ein zentrales Kriterium für das Bundesverfassungsgericht sind, wie erwähnt, die „nicht unerheblichen Eigenleistungen“, die es vor allem in den Beiträgen der Versicherten und der Arbeitgeber erblickt. Damit hat es sich selbst – nebenbei bemerkt – beinahe eine Falle gestellt. Wenn dieser Ausgangspunkt nämlich zutrifft, dann ist § 210 SGB VI verfassungsrechtlichen Zweifeln ausgesetzt, weil dessen Absatz 3 Satz 1 vorsieht, dass Beiträge (nur) in der Höhe erstattet werden, in der die Versicherten selbst sie getragen haben. Das ist in der Tat auch von Beschwerdeführern in einer Urteilsverfassungsbeschwerde vorgetragen worden, die die 2. Kammer des 1. Senats freilich abgewiesen hat.64 Im vorliegenden Zusammenhang ist folgende Passage aufschlussreich, die gerade wegen ihrer Fehlerhaftigkeit eine Abweisung möglich machte: Die Kammer führt aus, verfassungsrechtliches Schutzgut seien nur der Anspruch oder die Anwartschaft auf Leistungen aus der Sozialversicherung, „nicht aber die hierfür entrichteten Beiträge, die Berechnungs- und Bemessungsfaktoren für sozialversicherungsrechtliche Leistungen sind.“ Diese Feststellung ist mit dem geltenden Rentenrecht (wie auch mit dem Recht der gesetzlichen Krankenversicherung) nicht vereinbar, lässt aber immerhin erkennen, dass das Gericht tatsächlich Beiträge als den maßgeblichen Faktor für sozialversicherungsrechtliche Leistungen ansieht. Das hat eigenartige Konsequenzen im Gefolge: Legt man die diese Rechtsprechung stützenden Annahmen zugrunde, so ist die rentenversicherungsrechtliche Position um so mehr dem Zugriff des Gesetzgebers entzogen, je mehr Beiträge geleistet worden sind; bei dieser Sicht hängt die Schutzwürdigkeit von Renten und Rentenanwartschaften unter eigentumsrechtlichen Gesichtspunkten von einem beitragsrechtlichen Kriterium ab. Machte man mit dieser Position Ernst, so müsste man unter der Herrschaft des Amtsermittlungsgrundsatzes eigentlich auch feststellen (können), wie viel an Beiträgen der jeweilige Versicherte tatsächlich – und jetzt bediene ich mich des Sprachgebrauchs der Bevölkerung – in die Rentenkasse „eingezahlt“ hat. Das dürfte allerdings schwerfallen, genau gesagt: es ist unmöglich. Mehr noch: Wenn es richtig ist, dass die Belastungen der Arbeitgeber und der Versicherten steigen, die einlösbaren Ansprüche dagegen sinken werden (wie es allgemeiner Ansicht entspricht), dann erscheint das Merkmal der „nicht unerheblichen Eigenleis62 Das widerspräche – in der Beleuchtung der Logik – der zweiten Regel für die Gewinnung unmittelbarer Schlüsse. Einfaches Beispiel: Die These „Alle Juristen sind Akademiker“ lässt nicht die Umkehrung (Konversion) zu „Alle Akademiker sind Juristen“. Siehe dazu Egon Schneider/Friedrich E. Schnapp, Logik für Juristen, 6. Aufl. 2006, 102 ff. (§ 19). Gleiches gilt (zum Glück für manche Zeitgenossen) für die Zentralthese von Descartes: cogito ergo sum. 63 Entwickelt von Karl Marx, in „Das Kapital“, Marx-Engels-Werke (MEW), 1963, Band 24, Bd. II, 2. Abschnitt. 64 BVerfG, SozR 2200 § 1303 Nr. 34.

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tung“, die das Bundesverfassungsgericht zu einem zentralen Kriterium gemacht hat, in einem eigenartigen Zwielicht. Höheren Eigenleistungen (= Beiträgen) stünden dann nämlich geringere Renten gegenüber. Und das Gericht hatte doch dargelegt, dass die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers sich in dem Maße verringert, in welchem Rentenansprüche oder -anwartschaften durch den personalen Bezug des Anteils eigener Leistung des Versicherten geprägt sind. Das bedeutet, dass bei steigenden Beiträgen die Rentenzahlungen nicht verringert werden dürften. Diese Konsequenz ist allerdings nur dann überraschend, wenn man – wie das Bundesverfassungsgericht – die eigene Leistung der Versicherten darin erblickt, dass sie Beiträge aufbringen. Der aus dem Gesetz gewonnene Ansatz des Bundessozialgerichts ist ein anderer: Dieses hebt maßgeblich darauf ab, welche Rangstelle der Versicherte aufgrund seiner Entgeltpunkte in der gesamten Versichertengemeinschaft einnimmt. Die Entgeltpunkte werden wie folgt ermittelt (siehe § 63 SGB VI): Erzielt ein Versicherter durch seine Arbeit das Durchschnittsentgelt aller Versicherten eines Kalenderjahres (Anlage 1 zum SGB VI), wird ihm dafür ein voller Entgeltpunkt (EP) gutgeschrieben, erzielt er – verglichen mit dem Durchschnittsentgelt – das Anderthalbfache, so ergibt das 1,5 Entgeltpunkte. Dies resultiert daraus, dass die Entgeltpunkte ermittelt werden, indem die Beitragsbemessungsgrundlage – das ist gem. §§ 161, 162 SGB VI bei Beschäftigten das Arbeitsentgelt – durch das Durchschnittsentgelt aller Versicherten desselben Kalenderjahres geteilt wird. Da die Rangstelle aber dadurch gesteuert wird, wie das Einkommen des Einzelnen sich zum Durchschnittseinkommen aller erwerbstätigen Versicherten verhalten hat, honoriert das Rentenrecht den Umstand, wie sehr der Einzelne zur Zeit seiner Erwerbstätigkeit zur Produktivität der Wirtschaft beigetragen und ermöglicht hat, dass damals Renten gezahlt werden konnten.65 Entgegen einem ersten, durch die Terminologie veranlassten Eindruck werden „Beitragszeiten” von Versicherten grundsätzlich nicht durch Beitragszahlung oder Beitragstragung erworben, sondern durch Verrichtung einer versicherten Erwerbsarbeit oder einer ihr durch Gesetz gleichgestellten Vorleistung.66 Eine solche Sicht lässt dann auch Ausbildungszeiten in einem anderen Licht erscheinen und befreit sie vom Ruch des „Akademikerprivilegs“.67 Wäre die These der h. M. zutreffend, dann läge auch – in beitragsrechtlicher Perspektive – die gesamte Abgabenlast auf dem Arbeitnehmer, müsste also auch nur diesem gegenüber legitimiert werden. Daran ist so viel richtig, dass alle Beiträge des Arbeitgebers zu den sozialen Sicherungssystemen Kosten des Faktors Arbeit darstellen und auf dem Unternehmensertrag lasten („Lohnnebenkosten“). Die weitere Darstellung wird jedoch deutlich machen, dass das Sozialversicherungsrecht und andere 65 BSG, 18. 10. 2005 – B 4 RA 43/03 R = SozR-2600 § 71 Nr. 1 Rdn. 42. Der Titel des Aufsatzes von Oswald von Nell-Breuning (Die Produktivitätsrente, ZSR 1956, 97 ff.) ist nicht ganz zufällig gewählt. Das entsprach der damaligen Sicht: siehe z. B. auch Heinz Müller, Ökonomische Probleme der Produktivitätsrente, ZSR 1956, 282. 66 Meyer/Blüggel (Fn. 54), NZS 2005, 1. 67 BSG, Urt. v. 18. 10. 2005 – B 4 RA 43/03 R = SozR-2600 § 71 Nr. 1 Rdn. 44.

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Teilrechtsordnungen den Arbeitgeberbeitrag jedenfalls rechtlich nicht als Bestandteil des Individualeinkommens behandeln. III. Die „Anatomie“ der Beitragsfinanzierung Die Annahme, der Arbeitgeberbeitrag sei zum Lohn des versicherten Arbeitnehmers zu rechnen (der Einfachheit halber nenne ich die These hier einmal Lohntheorie), ist mit dem geltenden Sozialversicherungsrecht unvereinbar. Das zeigt sich bei einem Blick auf die gesetzlichen Grundlagen, die das Beitragsgeschehen steuern. Relevante Anknüpfungspunkte für die Beurteilung sind 1. die Technik der Erhebung von Beträgen, sodann 2. die Regeln zur Bemessung der Beiträge, schließlich 3. deren Relevanz für die Ermittlung der Leistungen. Die Vorschriften dafür finden sich einmal im Vierten Buch des Sozialgesetzbuchs – Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung,68 sodann in den Besonderen Teilen (SGB V, VI usw.). Diese kodifikatorische Trennung macht deutlich, dass es Regelungen gibt, die für alle Sozialversicherungszweige gleich sind, vor allem diejenigen, welche die Zahlung des Gesamtsozialversicherungsbeitrags betreffen (§ 28e SGB IV); daneben existieren bereichsspezifische Vorschriften, die sich mit der Tragung der Beiträge befassen. Das leuchtet unmittelbar ein, weil die gesetzlichen Bestimmungen zur Tragung der Beitragslast in der sozialen Pflegeversicherung andere sein müssen als diejenigen in der gesetzlichen Rentenversicherung. Aus Raumgründen können hier nicht alle einschlägigen Zweige der Sozialversicherung mit der wünschenswerten Gründlichkeit dargestellt werden, auch bleiben Varianten, Spezialfälle, Modifikationen hier außer Betracht und steht der Regelfall im Zentrum; aber die Beschränkung auf (i. W.) Kranken- und Rentenversicherung wird ausreichen, um überprüfen zu können, was es mit der These vom Arbeitgeberbeitrag als Lohnbestandteil auf sich hat. Zunächst zur Beitragserhebung: Alle Sozialversicherungsbeiträge für einen versicherungspflichtig Beschäftigten werden als Gesamtsozialversicherungsbeitrag an die Krankenkasse als Einzugsstelle (§ 28 i SGB IV) gezahlt (§ 28 d Satz 1 SGB IV), die den Gesamtbetrag an die verschiedenen Sozialversicherungsträger weiterleitet. Zahlungspflichtiger ist allein der Arbeitgeber (§ 28 e Abs. 1 Satz 1 SGB IV), was die Regel „Beitragszahlung folgt Beitragstragung“ (§ 173 SGB VI) durchbricht. Den Arbeitgeber trifft die Zahlungsverpflichtung als originär eigene Schuld.69 Diese ist öffentlich-rechtlich ausgestaltet 68

Artikel I des Gesetzes vom 23. Dezember 1976, BGBl. I S. 3845. Ganz einhellige Meinung; siehe z. B. BSG SozR 3 – 2400 § 25 Nr. 6 S. 27; BSGE 64, 110 (113); 48, 195 (197); ferner BGHZ 133, 370 (375); BGH, NJW 2000, 2993 (2995); BFHE 172, 467 (470); Peter Axer, Kontinuität durch Konsequenz in der Sozialversicherung, in: Depenheuer/Heintzen/Jestaedt/Axer (Hrsg.), Staat im Wort, Festschrift für Josef Isensee, 2007, 965 (976); Tigran Dabag, Beitragsäquivalenz in der gesetzliche Rentenversicherung? Eine Untersuchung zum verfassungsrechtlichen Schutz von Renten und Rentenanwartschaften durch Art. 14 GG, 2009, 82 mit umfangreichen weiteren Nachweisen in Fn. 61 und 62; Wilfried Gleitze, in: Gleitze/Krause/von Maydell/Merten, Gemeinschaftskommentar zum Sozi69

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und keiner Disposition zugänglich, kann also nicht etwa – wie dies im Zivilrecht prinzipiell möglich ist – vertraglich abbedungen werden:70 ius publicum pactis privatorum mutari non potest (Dig. 2, 14, 38 – Papinian). Selbst für den Fall der Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers kann die Entrichtung des Beitrags nicht dem Versicherten (= Arbeitnehmer) abverlangt werden.71 Davon zu trennen ist die Frage der Verteilung der Beitragslast, wie schon das Gesetz zu erkennen gibt.72 Dieses unterscheidet nämlich zwischen der „Zahlung der Beiträge“ (§§ 252 ff. SGB V, §§ 173 ff. SGB VI) und der „Tragung der Beiträge“ (§§ 249 ff. SGB V) bzw. der „Verteilung der Beitragslast“ (§§ 168 ff. SGB VI).73 Im Regelfall zahlt der Arbeitgeber allein; den auf ihn entfallenden hälftigen Teil hat er zu tragen (§ 249 Abs. 1 SGB V, § 168 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI). Ein Einzelnachweis je Arbeitnehmer findet dabei nicht statt;74 damit aber lässt sich weder der Arbeitgeber- noch der Arbeitnehmeranteil ermitteln und einem einzelnen Versicherten zuordnen. Auch in den Renteninformationen, die den Versicherten von ihrem Versicherungsträger zugeleitet werden und sie über das „Rentenkonto“ unterrichten, tauchen lediglich bezifferte Entgelte auf, die Beitragszeiten werden mit der Bezeichnung „Pflichtbeiträge“ versehen, ohne dass die Beiträge der Höhe nach genannt würden. Womöglich hätte die Lohntheorie recht, wenn der Arbeitgeber als alleiniger Beitragsschuldner im Innenverhältnis zu den Beschäftigten rechtlich gezwungen wäre, über die von ihm zu tragende Beitragshälfte hinaus auch die andere Hälfte des aus dem versicherten Arbeitsentgelt bemessenen Beitrags wirtschaftlich allein aufzubringen. Das ist jedoch im „Normalfall“ nicht so. Vielmehr behielt er auch nach 1957 – kraft privatrechtsgestaltenden öffentlichen Rechts (siehe früher § 1397 Abs. 1 RVO = § 119 Abs. 1 AVG) – das arbeitsrechtliche Recht (nicht: die Pflicht), den vom versicherten Beschäftigten zu tragenden hälftigen Beitragsanteil durch Abzug vom arbeitsrechtlich geschuldeten Lohn einzubehalten. Der Arbeitgeber refinanziert sich also zur Hälfte. Das ist – rechtlich gesehen – der einzige Inhalt der algesetzbuch – Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung, 1992, § 28 e Rdn. 1; Schlegel (Fn. 48), Festschrift 50 Jahre BSG, 2004, 265 (266); Sehnert, in Hauck/Haines (Hrsg.), SGB IV (Loseblatt), Stand: XI/07, § 28e Rdn. 3; Norbert Minn, in: Schulin (Hrsg.), Handbuch der Sozialversicherung, Band 1: Krankenversicherungsrecht, 1994, § 51 Rdn. 181; Michael Schmalor, Der Gesamtsozialversicherungsbeitrag. Beitragspflicht, Beitragsabrechnung, Beitragszahlung, 8. Aufl. 2003, 410; Schnapp (Fn. 46), 815 (816); ders., Der Arbeitgeberbeitrag in der Sozialversicherung – eine rechtfertigungsbedürftige Sonderabgabe? Gesundheits- und Sozialpolitik 2007, 25 (26). 70 Gleitze (Fn. 69), § 28 e Rdn. 3; Sehnert (Fn. 69), § 28e Rdn. 3. 71 Minn (Fn. 69), § 51 Rdn. 181. 72 Siehe nochmals Fußnote 40. 73 Siehe auch BSGE 64, 110 (113). 74 BSGE 86, 262 (302 f.); Wolfgang Meyer, Die Armutsfestigkeit der gesetzlichen Renten aus verfassungsrechtlicher Sicht, SDSRV 56 (2007), 71 (84); Lutz Wehrhahn, in: Kasseler Kommentar, Stand: Juni 2012, § 28 f SGB IV, Rdn. 12. Vgl. außerdem den gemäß § 4 Abs. 1 der Beitragsüberwachungsverordnung erstellten bundeseinheitlichen Vordruck „Beitragsnachweis“, im Internet zugänglich unter: www.aok-business.de. Wie sollte auch bei Großunternehmen mit mehreren tausend Beschäftigten ein Einzelnachweis erstellt werden?

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„Beitragstragung“ durch die versicherten Beschäftigten.75 Das Recht zum Entgeltabzug bedeutet, dass der Arbeitgeber kraft öffentlichen Rechts dem sich aus dem Arbeitsverhältnis ergebenden Lohn- und Gehaltsanspruch des Arbeitnehmers den arbeitsrechtlichen Einwand entgegenhalten kann, dieser sei in Höhe des vom Beschäftigten zu tragenden, hälftigen Teils des Pflichtbeitrags durch Zahlung an die zuständige Einzugsstelle als Leistung an Erfüllungs statt erloschen (vgl. § 364 Abs. 1, § 362 Abs. 2 BGB).76 Anders als die Zahlungsverpflichtung, die ausschließlich den Arbeitgeber trifft, ist dessen Refinanzierungsbefugnis arbeitsrechtlich abdingbar, wie § 14 Abs. 2 SGB IV belegt. Diese Vorschrift betrifft die Vereinbarung eines Nettoarbeitsentgelts; hier trägt der Arbeitgeber die gesamte Beitragslast, der Arbeitnehmer zahlt nichts und trägt nichts. Solche Verträge finden sich durchweg bei den Profifußballern der Bundesliga, häufig auch bei Künstlern. Diejenigen Autoren, welche die Ansicht vertreten, die Beiträge oder gar die Höhe der Beiträge spiegelten sich in irgendeiner Weise in der Höhe der Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung wider, müssten erklären, warum diese Arbeitnehmer, deren Kontribution zu den Beitragslasten der Rentenversicherung gleich Null ist, gleichwohl im Versicherungsfall ungeschmälerte Leistungen erhalten. Das ist aber deshalb so, weil – wie noch zu zeigen ist – die Beiträge keinen Faktor bei der Leistungsbemessung darstellen. Dieser Refinanzierungsbefugnis kann der Arbeitgeber auch verlustig gehen. Ist sie 1. durch Vereinbarung eines Nettoarbeitsentgelts abbedungen, wird sie 2. nicht oder nicht wirksam (verspätet) ausgeübt oder verzichtet der Arbeitgeber auf die Ausübung des Entgeltabzugs, so hat dieser die gesamte Beitragslast wirtschaftlich allein zu tragen. Nach § 28 g Satz 2 SGB IV darf nämlich ein unterbliebener Abzug lediglich bei den drei nächsten Lohn- oder Gehaltszahlungen nachgeholt werden, danach nur, wenn der Abzug ohne Verschulden des Arbeitgebers unterblieben ist. Schon diese normative Ausgangslage lässt die These der Lohntheorie brüchig erscheinen. Die Zweifel werden verstärkt, wenn man sich die Behandlung des Gesamtsozialversicherungsbeitrags im Übrigen ansieht: Inhaber der Beitragsforderung ist der jeweilige Sozialleistungsträger.77 Werden keine Beiträge abgeführt, haftet dem Sozialversicherungsträger nicht – auch nicht subsidiär – der Arbeitnehmer; vielmehr ist und bleibt der Arbeitgeber alleiniger Schuldner des Versicherungsträgers,78 dem er mit seinem gesamten Vermögen haftet, soweit es der Zwangsvollstreckung unter-

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Vgl. Wolfgang Meyer, Probleme einer familienorientierten Reform der sozialen Sicherung, in: Althammer/Klammer (Hrsg.), Ehe und Familie in der Steuerrechts- und Sozialordnung, 2006, 123 (145). 76 BSG, Urteil vom 29. 6. 2000 – B 4 RA 57/98 R – BSGE 86, 262 (268). 77 BSGE 15, 118 (122 f.). 78 BSGE 15, 118 (122 f.).

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liegt.79 Die Verpflichtung des Arbeitgebers zur Beitragszahlung folgt – wie hieraus erhellt – nicht etwa aus dem Arbeitsverhältnis,80 sondern beruht auf einer gesetzlichen Bestimmung des öffentlichen Rechts. Sie gehört zu seinen Hauptpflichten gegenüber dem Sozialversicherungsträger.81 An diesem Rechtsverhältnis ist der Arbeitnehmer nur insofern (passiv) beteiligt, als der Arbeitgeber gegen ihn einen Anspruch auf den von diesem zu tragenden Teil des Gesamtsozialversicherungsbeitrags hat. Der Arbeitgeber refinanziert sich also, wie gesagt, beim Arbeitnehmer, der den Abzug vom Lohn kraft Gesetzes lediglich zu dulden (hinzunehmen) hat. Schuldner des Gesamtsozialversicherungsbeitrags ist der Arbeitgeber, Einzugsstelle des Gesamtsozialversicherungsbeitrags ist die Krankenkasse, Gläubiger des jeweiligen Beitragsanteils der entsprechende Sozialversicherungsträger. Auch mit den rechtlichen Regelungen zur Beitragsbemessung ist die Lohntheorie nicht vereinbar. Als Grundlage für die Beitragsbemessung deklariert das Gesetz in erster Linie das Arbeitsentgelt aus der versicherungspflichtigen Beschäftigung (§ 226 Abs. 1 Nr. 1 SGB V) bzw. die beitragspflichtigen Einnahmen (§ 161 Abs. 1 SGB VI), im Normalfall ebenfalls das Arbeitsentgelt (§ 162 Nr. 1 SGB VI). Arbeitsentgelt wiederum besteht aus allen laufenden oder einmaligen Einnahmen aus einer Beschäftigung, gleichgültig, ob ein Rechtsanspruch auf sie besteht, unter welcher Bezeichnung oder in welcher Form sie geleistet werden und ob sie unmittelbar aus der Beschäftigung oder im Zusammenhang mit ihr erzielt werden (§ 14 SGB IV). In diesem Bezugsrahmen ist allgemein anerkannt, dass der Arbeitgeberanteil nicht zum Arbeitsentgelt gehört, nach welchem die Beiträge bemessen werden.82 Wie sollte er dann rechtlich Lohnbestandteil sein? Was schließlich Art und Höhe der Leistungen angeht, so legt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts den Gedanken nahe, dass sich der Arbeitgeberanteil am Sozialversicherungsbeitrag, den das Gericht zu den eigentumsrelevanten Eigenleistungen“ des Arbeitnehmers rechnet,83 irgendwie in den Leistungen der Sozialversicherungsträger niederschlagen müsse. Was zunächst die gesetzliche Krankenversicherung angeht, so sind Beiträge und Leistungen vollständig voneinander entkoppelt: „Grundlage der Leistungen aus der gesetzlichen Krankenversicherung [sind] 79 Sehnert (Fn. 69), § 28 e Rdn. 5; Schmalor (Fn. 69), 411. Für die frühere Rechtslage in diesem Sinne schon Heinrich Rosin, Das Recht der Arbeiterversicherung, Bd. I, 1893, 598 ff., bes. 605. 80 Schnapp (Fn. 46), 815; W. Meyer (Fn. 74), SDSRV 56 (2007), 71 (81 mit Fn. 13). Siehe auch den Text unter IV. 81 BSGE 41, 297 (298); 48, 195 (196); 51, 31 (36); BSG SozR 3 – 2400 § 25 Nr. 6 S. 28 – ständige Rechtsprechung. 82 BSG SozR 4100 § 94 Nr. 2 S. 5; SozR 3 – 4100 § 94 Nr. 1 S. 6; Grüner/Dalichau, Sozialgesetzbuch, Kommentar, Bd. 2, SGB IV (Loseblatt), Stand: 1. August 1999, § 14 Anm. II 1; Detlef Merten, in: Gleitze/Krause/von Maydell/Merten (Fn. 48), § 14 Rdn. 19; Otfried Seewald, in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht (Loseblatt), Stand: August 2008, § 14 SGB IV Rdn. 63. Siehe auch nochmals Fußnote 41. 83 BVerfGE 69, 272 (302); 100, 1 (35).

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nicht die Beiträge, sondern die Mitgliedschaft.“84 Charakteristikum der gesetzlichen Krankenversicherung ist es, dass den einkommensbezogenen Beiträgen bei Eintritt des Versicherungsfalls bedarfsbezogene, durch Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses und den Einheitlichen Bewertungsmaßstab standardisierte Gesundheitsleistungen gegenüberstehen, modifiziert durch das Wirtschaftlichkeitsgebot (§ 12 SGB V): Einkommensstarke „zahlen“ für Versicherte mit niedrigerem Lohnniveau mit. Der Leistungsanspruch orientiert sich am Bedarf dessen, bei dem der Versicherungsfall eintritt. Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.85 Im Rentenrecht – ich beschränke mich der Einfachheit halber auf die reguläre Altersrente – steht der weit verbreiteten Annahme, die eingezahlten Beiträge müssten sich in der Höhe der späteren Rente niederschlagen, das Diktum des Bundessozialgerichts entgegen: „Seit der Rentenreform 1957 gibt es nach… unveränderter Gesetzeslage in der GRV keine ,beitragsbezogenen Leistungen‘ und – spiegelbildlich – auch keine ,leistungsbezogenen Beiträge.“86 Wer die Richtigkeit dieser Aussage bezweifelt, dem hilft vielleicht ein Blick in das Gesetz. Ausgangsnorm ist § 63 SGB VI. Danach richtet sich die Höhe einer Rente vor allem nach der Höhe der während des Versicherungslebens durch Beiträge versicherten Arbeitsentgelte und Arbeitseinkommen. Diese werden in Entgeltpunkten ausgedrückt. Erzielt ein Versicherter das Durchschnittsentgelt aller Versicherten eines Kalenderjahres (Anlage 1 zum SGB VI), wird ihm dafür ein voller Entgeltpunkt gutgeschrieben (§ 63 Abs. 2 SGB VI), erzielt er mehr oder weniger als das Durchschnittsentgelt, entsprechend mehr oder weniger. Dies ergibt sich daraus, dass die Entgeltpunkte ermittelt werden, indem die Beitragsbemessungsgrundlage – das ist bei Beschäftigten das Arbeitsentgelt – durch das Durchschnittsentgelt aller Versicherten desselben Kalenderjahres 84

BSG SozR 2600 § 121 RKG Nr. 4 S. 13. A. A. offenbar BVerfGE 115, 25 (43). Den dadurch hervorgerufenen Umverteilungseffekt sieht Schulin offenbar als so essentiell für die gesetzliche Krankenversicherung an, dass er ihm normativen, das gesamte „System“ zwingend prägenden Charakter beimisst. Die Folgerung: Die Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Krankenversicherung etwa stellt sich als gleichheitswidrige Verkürzung des Solidarausgleichs dar, ist also als Verfassungsverstoß zu werten (Schulin, in: ders. (Hrsg.), Handbuch der Sozialversicherung, Band 1: Krankenversicherungsrecht [nachfolgend: HSKV], 1994, § 6 Rdn. 186). Das bringt ihn zu der anschließenden Frage, „was es rechtfertigt, den Versicherungszwang auf bestimmte Personengruppen zu beschränken“ (a.a.O, § 6 Rdn. 74). Ähnlich Rolfs (Fn. 7), S. 263 f. Man muss es zweimal sagen: Das Absehen von staatlichem Zwang soll rechtfertigungsbedürftig sein. Der Verfassungsrechtler reibt sich die Augen: Hatte er doch bislang den Anfangssemestern in der Grundrechtsvorlesung stets eingeprägt, dass nicht die Ausübung von Freiheit begründungsbedürftig ist, sondern dass umgekehrt die staatliche Freiheitsbeschränkung, wie sie etwa in der zwangsweisen Einbeziehung in die Sozialversicherung liegt, der Rechtfertigung bedarf (allgemein dazu Martin Kriele, Freiheit und Gleichheit, in: Benda/Maihofer/Vogel [Hrsg.], Handbuch des Verfassungsrechts in der Bundesrepublik Deutschland, 1983, 129 ff. [139 f.]; Friedrich E. Schnapp, Staat, Gesellschaft und Individuum unter dem Grundgesetz, Jura 1986, 113 ff. [118]). Spezifisch für das Sozialversicherungsrecht: Detlef Merten, in: HS-KV, § 5 Rdn. 55 ff. 86 BSGE 92, 113 (127); siehe auch BSG, Urteil vom 18. 10. 2005 – B 4 RA 43/03 R = SozR 4 – 2600 § 71 Nr. 1, Rdn. 42 (S. 10). 85

Der Arbeitgeberbeitrag in der Sozialversicherung

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geteilt wird (§ 70 Abs. 1 Satz 1 SGB VI). Das sieht in einer Grafik wie folgt aus (die Zahlen sind „gegriffen“, aber realistisch): Jahr

Durchschnittsentgelt

1970 13.343,– DM 1990 41.946,– DM

individuelles Entgelt

Beitragssatz Beitragssumme Entgeltpunkte

13.343,– DM

17,0 %

2.268,31 DM

1,0

41.946,– DM

18,7 %

7.843,90 DM

1,0

Abb. 1: Berechnung der Entgeltpunkte

Jeder dieser Entgeltpunkte wird multipliziert mit dem aktuellen Rentenwert des jeweiligen Jahres (ab 01. 07. 2014: 26,39 E Ost; 28,61 E West). Dieser aktuelle Rentenwert, der – grob ausgedrückt – besagt, wieviel Monatsrente man bei nur einem Entgeltpunkt erhalten würde (§ 68 SGB VI), ist in der Rentenformel überhaupt der einzige Posten, der einen Geldwert repräsentiert, alles andere sind Faktoren, die Entgeltpunkte bringen dabei zudem eine Relation zum Ausdruck. Der aktuelle Rentenwert ist – wie Franz Ruland das einmal ausgedrückt hat – gewissermaßen der augenblickliche „Kurswert“ der Entgeltpunkte. Der Monatsbetrag einer Rente ergibt sich nun – so § 64 SGB VI, s. a. § 63 Abs. 6 SGB VI –, indem die unter Berücksichtigung des Zugangsfaktors (bei Altersrenten 1,0: § 77 Abs. 2 Nr. 1 SGB VI) ermittelten persönlichen Entgeltpunkte, der Rentenartfaktor (bei Renten wegen Alters ebenfalls 1,0: § 67 Nr. 1 SGB VI) und der aktuelle Rentenwert mit ihrem Wert bei Rentenbeginn miteinander vervielfältigt werden. Das ergibt die sog. Rentenformel (Abb. 1), genauer: die Formel für den Monatsbetrag der Rente:

Abb. 2: Rentenformel

Der Beitrag kommt hierbei nicht vor. Wie sollte er die Rentenhöhe bestimmen? Schlüsselbegriff sind vielmehr die Entgeltpunkte. Mit ihnen wird angezeigt und honoriert, in welchem Maße der damals Erwerbstätige zur Alimentierung der damaligen Rentnergeneration beigetragen hat und welche Rangstelle er im Vergleich mit anderen Versicherten einnimmt. Was die fehlende Leistungsbezogenheit der Beiträge angeht, so ist ergänzend darauf aufmerksam zu machen, dass es unterschiedliche Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung gibt, nämlich Rehabilitationsleistungen, Erwerbsminderungs-, Alters- und Hinterbliebenenrenten. Diesem „Versicherungspaket“ steht aber nur ein einziger Beitrag gegenüber, der nicht nach den verschiedenen Leistungen aufge-

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gliedert ist.87 „Die Beiträge werden nicht für bestimmte Rentenarten erhoben oder gar dem einzelnen Versicherten zugeordnet.“88 Wer Beiträge zahlt oder trägt, finanziert die gesamte Palette der Leistungen, welche die gesetzliche Rentenversicherung vorhält, ohne wissen zu können, ob sich bei ihm der jeweilige Leistungsfall realisiert. Das wird deutlich im Bereich der Hinterbliebenenrenten. Ansprüchen oder (vermeintlichen) Anwartschaften hat das Bundesverfassungsgericht nämlich den Schutz von Art. 14 Abs. 1 GG deshalb versagt, weil sie „ohne eigene Beitragsleistung des Rentenempfängers und ohne erhöhte Beitragsleistung des Versicherten gewährt [werden]“.89 Hier bleibt es ein Geheimnis des Bundesverfassungsgerichts, welchen Versicherten man eine erhöhte Beitragsleistung auferlegen sollte (mors certa, hora incerta) und wer die (mutmaßlichen) Hinterbliebenen sind, denen (oder zu deren Gunsten) man eine „eigene“ Beitragsleistung abverlangen könnte. Im Hinblick auf diese Entscheidung hat das Bundessozialgericht mit seinem Urteil vom 29. Januar 200490 dem Bundesverfassungsgericht „Nachhilfeunterricht“ in Sachen Rente erteilt.91 Es hat darauf aufmerksam gemacht, dass keine separaten Beitragsteile für die unterschiedlichen Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung erhoben werden (können); vielmehr wird der gesamte Beitrag (Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteile) nach Maßgabe des augenblicklichen Finanzierungsbedarfs der Rentenversicherungsträger erhoben.92 Hiermit wird ein „Versicherungspaket“ finanziert, das Versicherungsschutz im Hinblick auf Renten wegen Alters, wegen Erwerbsminderung, Hinterbliebenenrenten und Rehabilitationsleistungen (Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben) vorhält und bei Eintritt des Versicherungsfalls auskehrt. Als Zwischenfazit kann damit festgehalten werden: Den Versuchen, den Sozialversicherungsbeitrag insgesamt in das grundgesetzliche Finanzverfassungssystem einzupassen und die Belastung bestimmter Beteiligter als verfassungswidrige Sonderlast darzustellen, hat das Bundesverfassungsgericht sein Diktum entgegengesetzt, wonach „die Finanzverfassung der Sozialversicherung als ein eigenständiges System staatlicher Abgabenerhebung… neben dem in die Finanzverfassung eingebundenen Steuersystem steht.“93 Lenkt man den Blick weg von dieser gleichsam monolithi87 BSGE 92, 113 (128); W. Meyer (Fn. 74), SDSRV 56 (2007), 71 (97): „Kombinationsversicherung“. 88 Siehe nochmals Fn. 74 sowie Heinig (Fn. 7), 523. 89 BVerfGE 97, 271 (285). 90 BSGE 92, 113. 91 Hermann Butzer, Im Widerstreit: Der Eigentumsschutz von Hinterbliebenenrenten. Fremdlast oder integraler Bestandteil der Gesetzlichen Rentenversicherung?, in: Depenheuer/ Heintzen/Jestaedt/Axer (Hrsg.), Staat im Wort, Festschrift für Josef Isensee, 2007, 667 ( 676). 92 Eberhard Eichenhofer, Sozialrecht, 6. Aufl. 2007, Rdn. 318. Siehe § 153 Abs. 1 SGB VI: „In der Rentenversicherung werden die Ausgaben eines Kalenderjahres durch die Einnahmen des gleichen Kalenderjahres und, soweit erforderlich, durch Entnahmen aus der Nachhaltigkeitsrücklage gedeckt.“ 93 BVerfGE 113, 167 (202).

Der Arbeitgeberbeitrag in der Sozialversicherung

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schen Betrachtungsweise auf die einzelnen Belasteten, dann rücken die „Hauptbeteiligten“, nämlich Arbeitgeber und Arbeitnehmer, in den Focus. Von diesen ist im Regelfall allein der Arbeitgeber der gegenüber dem jeweiligen Sozialversicherungsträger Zahlungspflichtige; der Arbeitnehmer schuldet der Einzugsstelle und dem Rentenversicherungsträger nichts. Es besteht kein Beitragsschuldverhältnis zwischen Arbeitnehmer und Einzugsstelle bzw. Rentenversicherungsträger. Will man etwa zu Legitimationsproblemen vordringen, dann müssen Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteile strukturell erfasst werden, d. h. auf ihre Stellung im Finanzierungsstrom sowie auf die Wirkungen im Bereich der Leistungen gesondert untersucht werden („Beitragsanatomie“). Dabei kann man nochmals aufgliedern in Beitragserhebung, Beitragsbemessung und Auswirkungen auf Art und Höhe der Leistungen. Wer den Arbeitgeberanteil als vom Arbeitnehmer mitverdient ansieht (Lohntheorie), braucht den Gesamtsozialversicherungsbeitrag auch nur gegenüber dem Arbeitnehmer zu legitimieren. Dazu genügt allerdings nicht der Verweis darauf, der Kompetenztitel des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG sei bereits von sich aus auf die Erhebung von Sozialversicherungsbeiträgen gerichtet. Die Zuordnung zum Kompetenztitel erübrigt nicht die grundrechtliche Prüfung der Beitragslast dem Grunde und der Höhe nach.94 Wie dargestellt, beruft sich die Lohntheorie zu Unrecht auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Krankenversicherung der Rentner,95 sie ist auch mit den sozialversicherungsrechtlichen Gesetzesregeln nicht vereinbar, weil sie bereits die Eigengesetzlichkeiten des Umlageverfahrens (§ 153 SGB VI96) verkennt, in dessen Zug, vor allem in der gesetzlichen Rentenversicherung, Beiträge und Leistungen entkoppelt sind. Wer die These vom Arbeitgeberanteil als Lohnbestandteil vertritt, müsste darlegen, wie sich seine Konstruktion in das geschilderte gesetzliche Regelbild einfügt. Das wird nicht gelingen. Vor einem Schlussstrich soll noch ein Blick auf andere Teilrechtsordnungen geworfen werden; möglicherweise geben sie eine Antwort auf die Frage, ob sie die Lohntheorie bestätigen oder widerlegen. IV. Die Behandlung des Arbeitgeberanteils durch andere Teilrechtsordnungen 1. Arbeitsrecht Eine arbeitsvertragliche Fundierung des Arbeitgeberanteils ist schon deswegen problematisch, weil das Versicherungsverhältnis keinen Arbeitsvertrag voraussetzt. 94 Butzer (Fn. 7), 128 f.; 352 ff.; Heinig (Fn. 7), 575. A. A. Bieback (Fn. 29), VSSR 2003, 1 (22 f.); wohl auch Maximilian Fuchs, in: Schulin (Hrsg.), Handbuch der Sozialversicherung, Band 4: Pflegeversicherungsrecht, 1997, § 4 Rdn. 31, der Rechtstradition und -überzeugung bemüht; sog. Traditionsargument. Dem steht schon Art. 123 Abs. 1 GG entgegen. Zutreffend Butzer (wie vor), 128. 95 BVerfGE 69, 272. 96 Das ist in der gesetzlichen Krankenversicherung nicht an einer Stelle gesetzlich geregelt, es liegt dem Finanzierungssystem der gesetzlichen Krankenversicherung aber systematisch zugrunde. Siehe Fn. 9.

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Maßgeblich dafür ist vielmehr (lediglich) die Ausübung einer entgeltlichen, unselbstständigen Beschäftigung (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V, § 1 Nr. 1 SGB VI, jeweils in Verbindung mit § 7 Abs. 1 SGB IV). § 7 SGB IV ist eine Schlüsselnorm für alle Zweige der Sozialversicherung, weil in diesen die Versicherteneigenschaft an die abhängige Beschäftigung anknüpft.97 Nun wird zwar in aller Regel das arbeitsrechtliche Vertragsverhältnis mit dem sozialversicherungsrechtlichen Beschäftigungsverhältnis zusammenfallen;98 gleichwohl ist das eine vom rechtlichen Schicksal des anderen unabhängig.99 Das gilt ungeachtet des Umstandes, dass wegen der Figur des „faktischen“ Arbeitsverhältnisses sich beide Phänomene stark angenähert haben.100 Würde die Lehre vom faktischen Arbeitsverhältnis ausreichen, um Mängel des Arbeitsverhältnisses sozialrechtlich zu kompensieren, so hätte es der eigenständigen Figur des sozialversicherungsrechtlichen Beschäftigungsverhältnisses nicht bedurft.101 Es gibt jedoch – jenseits von Fragen der Wirksamkeit – Belege für die Verschiedenartigkeit beider Rechtsverhältnisse,102 die einer sozialrechtlichen Behandlung zugänglich sein müssen. Deshalb ist die Frage, ob ein Beschäftigungsverhältnis in diesem Sinne vorliegt, allein nach Vorschriften des Sozialversicherungsrechts zu beantworten.103 Anders als ein Arbeitsvertrag stehen etwa Beginn und Ende des Beschäftigungsverhältnisses nicht zur Disposition der Parteien des Arbeitsvertrages, weil damit zugleich Beginn und Ende der Versicherungspflicht markiert werden, die wiederum den Versicherungsschutz dirigieren, dessen Beginn und Beendigung von der Dauer des Arbeitsvertrags unabhängig sind. Die Versicherungspflicht aber 97

Überblick bei Raimund Waltermann, Sozialrecht, 6. Aufl. 2006, Rdn. 108 (S. 62). Zu methodischen Fragen bei der Bestimmung des Beschäftigungsverhältnisses, insbesondere zur Abgrenzung gegenüber der selbstständigen Tätigkeit, siehe jüngst Friedrich E. Schnapp, Methodenprobleme des § 7 Abs. 1 SGB IV – Unmöglichkeit der Rechtssicherheit?, NZS 2014, NZS 2014, 41. Siehe auch Katharina Uffmann, Vertragstypenzuordnung zwischen Rechtsformzwang und Privatautonomie im Bereich der „Neuen Selbstständigkeit“ – dargestellt am Beispiel der Honorarärzte, ZfA 2012, 1. 98 Dazu etwa BSG SozR 2200 § 165 Nr. 61 S. 82. 99 BSGE 1, 115 (117 ff.); 11, 86 (89 ff.). 100 Dazu Friedrich E. Schnapp, in: Achterberg/Püttner/Würtenberger (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, Band II, 2. Aufl. 2000, § 26 Rdn. 27. Ein Plädoyer für die Entbehrlichkeit des sozialversicherungsrechtlichen Beschäftigungsverhältnisses bei Wolfgang Gitter, Beschäftigungsverhältnis und Arbeitsverhältnis, in: Im Dienst des Sozialrechts, Festschrift für Georg Wannagat, 1981, 141 ff. Ähnlich Hugo Seiter, Sozialversicherungsrechtloches Beschäftigungsverhältnis und Arbeitsverhältnis, VSSR 1976, 179; Detlef Merten, in: Gleitze/ Krause/von Maydell/Merten, Gemeinschaftskommentar zum Sozialgesetzbuch – Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung, 1992, § 7 Rdn. 40 ff. („dogmatisch unrichtig“). Dagegen überzeugend Bertram Schulin/Gerhard Igl, Sozialrecht, 7. Aufl. 2002, 71 ff. 101 Schulin/Igl (Fn. 100), 72. 102 Beispiele bei Schulin/Igl (Fn. 100), 72 ff. 103 BSGE 15, 65 (68 f.); 19, 265 (267); 52, 76 (77). Siehe auch BVerfGE 14, 312 (318): „Die Auffassung, ihre [scil. der Arbeitgeber] Verpflichtung, Sozialversicherungsbeiträge zu leisten, lasse sich auf das einzelne Arbeitsverhältnis und eine ihm entspringende Vertragspflicht gegenüber dem Arbeitnehmer zurückführen, ist mit dem System des Sozialversicherungsrechts nicht zu vereinbaren.“ Zustimmend BSGE 21, 57 (62); 22, 288 (290).

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und damit der Eintritt des Versicherungsschutzes ist öffentlich-rechtlicher Natur und zwingend.104 Die Vorschriften über die Versicherungspflicht und das sozialversicherungsrechtliche Beschäftigungsverhältnis sind – anders als das Arbeitsverhältnis – dispositionsfeindlich. Das sozialrechtliche „Schutzprinzip“ fordert, dass die Parteien des Arbeitsvertrages sich nicht auf die Subjektivität gewillkürter Freiheit sollen berufen können.105 Die dogmatische Figur, an welcher die Lohntheorie ihre These im Arbeitsrecht festmacht, ist die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers für „seine“ Arbeitnehmer.106 Schon das erweist sich als eine idealistische Sicht, die in der Wirklichkeit keine Stütze findet; denn nicht nur der Wechsel des Arbeitsplatzes, sondern auch die Wahlmöglichkeiten der Versicherten in der gesetzlichen Krankenversicherung (§§ 173 ff. SGB V) machen es möglich, dass im Laufe der „sozialen Biographie“ des Arbeitnehmers das rechtliche Band zwischen den Parteien des Arbeitsvertrages mehrmals zerreißt. Wegen der Jährlichkeit des Haushaltsplans kann es ferner sein, dass ein Arbeitgeber in einer bestimmten Periode wesentlich mehr an Beitragsanteilen an das „System“ abführt, als „seine“ Arbeitnehmer an Leistungen aus diesem beziehen. Nicht nur das: Spätestens mit dem Risikostrukturausgleich nach § 266 SGB V, bei welchem zwischen Krankenkassen und Kassenarten Finanzströme bewegt werden, geht jede Möglichkeit verloren, zu ermitteln, welche Leistungsempfänger von welchen Beiträgen „profitieren“. Die Durchführung dieses Finanzausgleichs macht endgültig klar, dass die Arbeitgeberanteile in das System als Ganzes fließen, dass sie also systemnützig sind. Das kann bei einem Umlageverfahren nicht anders sein, weil mit der Gesamtumlage ein Gesamtbedarf zu decken ist und nicht mit einem bestimmten Beitrag ein individueller Bedarf. Dieser Umstand sollte auch ein Anlass sein, die Äußerungen zu Individual- und Globaläquivalenz noch einmal zu überdenken. Halten wir fest, dass auch der Beitragsanteil des Arbeitgebers weder individualnoch gruppennützig ist, sondern, besonders wenn man die Charakteristika des Umlageverfahrens mitbedenkt, der „Gemeinschaft“ der Leistungsbezieher zugute kommt, also nicht nur fremd-, sondern vor allem auch systemnützig ist.107 Was die 104 BSGE 52, 152 (165); Raimund Waltermann, Sozialrechtliche Konsequenzen arbeitsrechtlicher Aufhebungsverträge, NJW 1992, 1136 (1140). 105 Siehe auch Friedrich E. Schnapp, Sozialversicherungsrecht, in: Achterberg/Püttner/ Würtenberger (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, Band II, 2. Aufl. 2000, § 26 Rdn. 5. 106 Siehe die umfangreichen Nachweise bei Butzer (Fn. 7), 596 f.; Hase (Fn. 35), 179. 107 Zutreffend BVerfGE 105, 73, Abs. 118: „[i]n dem Umlageverfahren der gesetzlichen Rentenversicherung [finanziert] ein Beitragszahler nicht die eigene Rente, sondern [leistet] nur einen Beitrag zur Finanzierung der laufenden Renten. Somit wird aus den Beiträgen der Versicherten auch kein nennenswertes Vermögen, d. h. kein verzinslicher Kapitalstock angesammelt. Der Beitragszahler erwirbt durch seine Beiträge lediglich Anwartschaften auf zukünftige Rentenansprüche. Der Umfang dieser Anwartschaften wird nicht durch einen absoluten Wert bestimmt, sondern durch einen relativen Bemessungsfaktor, die so genannten Entgeltpunkte. Diese Entgeltpunkte werden als abstrakte Zahl aus dem Verhältnis des versicherungspflichtigen Arbeitseinkommens zum jeweiligen durchschnittlichen Arbeitseinkommen berechnet und bestimmen die relative Höhe der anteiligen Mitberechtigung des Mitglieds

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Rente angeht: Im Generationenvertrags-Modell zahlt eben die erwerbstätige und versicherte Generation immer fremde Renten, nie „für“ eigene Renten.108 Nun ließe sich einwenden, der Arbeitgeber nehme seine Fürsorge wahr, indem er den auf ihn entfallenden Teil des Gesamtsozialversicherungsbeitrags erbringt. Seine Verpflichtung dazu folgt gleichwohl nicht aus dem Arbeitsvertrag, sondern als gesetzliche Indienstnahme Privater aus einer gesetzlichen Bestimmung des öffentlichen Rechts.109 Diese Pflicht zur Beitragszahlung gehört zu seinen Hauptpflichten gegenüber dem Sozialversicherungsträger.110 An diesem Rechtsverhältnis ist der Arbeitnehmer in keiner Weise beteiligt. Die Haupteinwände gegen eine arbeitsvertragliche Fundierung und die Verankerung in der Fürsorgepflicht111 sind – abgesehen davon, dass der behauptete Inhalt stets nur thesenhaft „begründet“ wurde – folgende: Die Herleitung aus der Fürsorgepflicht ist mit der Lohntheorie deshalb schwer in Einklang zu bringen, weil sich dann einmal die Beitragsentrichtung als Emanation einer arbeitsrechtlichen Nebenpflicht darstellen würde, ein anderes Mal aber die Erfüllung einer Hauptpflicht aus dem Arbeitsvertrag wäre.112 Wer immer sich hierzu äußert, muss sich entscheiden: Man kann nicht beide Thesen gleichermaßen vertreten. Ferner: Die Annahme, von der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers würde eine „beitragslegitimierende“ Wirkung ausgehen, würde eine wundersame Verwandlung einer arbeitsrechtlichen Nebenpflicht in einen grundrechtlichen Eingriffstitel für den staatlichen Gesetzgeber bedeuten.113 Nun ist gerade die Dogmatik der allgemeinen Grundrechtslehren nicht gerade von einem Mangel an Phantasie geprägt, aber dass eine zivilrechtliche Nebenpflicht eine Ermächtigung zu Grundrechtseingriffen hergibt,114 ist – soweit ersichtder Versichertengemeinschaft innerhalb dieser Gemeinschaft. Der Wert eines Entgeltpunktes wird von der jeweiligen wirtschaftlichen Entwicklung, nämlich der Entwicklung der Nettolöhne, bestimmt. Deshalb erwirbt der Rentner innerhalb des Systems des Umlageverfahrens keinen Anspruch auf eine bestimmte Rentenhöhe oder auf ein bestimmtes Rentenniveau, sondern grundsätzlich nur einen Anspruch auf eine relative Beteiligung an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der jeweiligen Erwerbsgeneration.“ Siehe auch Schnapp (Fn. 46), 826. 108 BVerfGE 105, 73, Abs. 118; Hans Günter Hockerts, Die sozialstaatlichen Grundentscheidungen in der frühen Bundesrepublik, in: Masuch/Spellbrink/Becker/Leibfried (Hrsg.), Grundlagen und Herausforderungen des Sozialstaats, Eigenheiten und Zukunft von Sozialpolitik und Sozialrecht, Denkschrift 60 Jahre Bundessozialgericht, Band 1, 2014, 139 (153). 109 BSGE 41, 297 (298). Zur Bedenklichkeit einer Herleitung von Pflichten aus Rechtsverhältnissen siehe Adolf Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht, 1927, 132 f.; Friedrich E. Schnapp, Amtsrecht und Beamtenrecht, 1977, 56 ff. 110 BSGE 41, 297 (298); 48, 195 (197); 51, 31 (36); BSG SozR 3 – 2400 § 25 Nr. 6 S. 28 – ständige Rechtsprechung. 111 Eingehender als hier: Schnapp (Fn. 46), 815 ff. 112 Hase (Fn. 35), 179; W. Meyer (Fn. 74) SDSRV 56 (2007), 71 (81, Fn. 13). 113 Meyer (Fn. 74), SDSRV 56 (2007), 71 (81, Fn. 13). 114 Dass die Heranziehung des Arbeitgebers zur Zahlung des Gesamtsozialversicherungsbeitrags einen Grundrechtseingriff bedeutet, dürfte nicht zweifelhaft sein; siehe nur Schnapp (Fn. 46), 822.

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lich – als Gedanke bislang noch nicht aufgetaucht. Nähme man tatsächlich eine solche Rochade zwischen Zivil- und öffentlichem Recht vor, würde sich an der Rechtfertigungsproblematik im Übrigen nichts ändern. Die Auferlegung der Beitragslast wäre nichts anderes als staatlich abgenötigte Fürsorge, die ebenso wie staatlich aufgezwungene Solidarität legitimationsbedürftig ist.115 Joachim Becker hat schließlich auf eine naheliegende Konsequenz hingewiesen, der man sich ausgesetzt sähe, wollte man den legitimierenden Grund für den Arbeitgeberanteil in der arbeitsrechtlichen Fürsorgepflicht erblicken: Wenn der Grund für die Heranziehung des Arbeitgebers letztlich in dem Rechtsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu sehen sei, so müsste man daraus den Schluss ziehen, dass die entsprechenden gesetzlichen Regelungen nicht dem Kompetenztitel „Sozialversicherung“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 2. Alt. GG), sondern dem Arbeitsrecht (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 1. Alt. GG) zuzurechnen seien. Auch diese – in sich schlüssige – Konsequenz belegt, wie wenig tragfähig die Überlegungen in puncto Fürsorgepflicht sind.116 2. Steuerrecht Auch die steuerliche Behandlung des Arbeitgeberbeitrags spricht gegen die These vom Lohnbestandteil. Die ständige finanzgerichtliche Rechtsprechung117 wie auch die ganz herrschende Meinung im steuerrechtlichen Schrifttum118 behandeln ihn nicht als steuerpflichtige Einkünfte.119 Die vereinzelt geäußerte Ansicht, das Steuerrecht betrachte den Arbeitgeberanteil als persönliche Einkunft des Arbeitnehmers aus nicht-selbständiger Arbeit (§§ 2 Abs. 1 Nr. 4, 19 EStG) und stelle ihn erst durch § 3 Nr. 62 EStG frei,120 übergeht einmal, dass § 4 Abs. 4 EStG den Arbeitgeberanteil als gewinnmindernde Betriebsausgabe des Unternehmens behandelt.121 Sie vernachlässigt auch den Umstand, dass nach ganz überwiegender Ansicht dem § 3 Nr. 62 Satz 1 EStG lediglich deklaratorische Bedeutung zukommt.122 115 Zu diesem Problem eingehend Butzer (Fn. 7), 372 ff.; Kingreen, Das Sozialstaatsprinzip im europäischen Verfassungsverbund, 2003, 258; Meinhard Heinze, Grund und Missbrauch von Solidarität im System der sozialen Gerechtigkeit, in: Isensee (Hrsg.), Solidarität in Knappheit, 1998, 67 ff. (70 ff.). 116 Joachim Becker, Transfergerechtigkeit und Verfassung, 2001, 155. 117 BFHE 93, 304 (305 f.); FG München, EFG 1992, 116, 117; vgl. auch Sondervotum der Verfassungsrichter Dr. Faller und Dr. Niemeyer, BVerfGE 51, 37 (42). 118 Wolfgang Heinicke, in: Schmidt, Einkommensteuergesetze, 33. Aufl. 2014, § 10 Stichwort „Sozialversicherung“ (Rdn. 85); Rüdiger Linck, in: Schaub (Hrsg.), ArbeitsrechtsHandbuch, 15 Aufl. 2013, § 71 Rdn. 74 Buchst. d); Heinrich Bönnemann, Die Rechtsnatur der Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung, Diss. Köln 1967, 36 f. 119 Zu steuerrechtlichen Aspekten s. a. BSGE 64, 110. 120 Ferdinand Kirchhof, in: Schulin (Hrsg.), Handbuch der Sozialversicherung, Band 1: Krankenversicherungsrecht, 1994, § 53 Rdn. 27. 121 Siehe dazu Butzer (Fn. 7), 589. 122 RFHE 33, 299 (303 f.); BFHE 93, 304 (305 m. w. N.); BFHE 199, 524, BStBl II 2003, 34; BFHE 206, 158, BStBl II 2004, 1014; Butzer (Fn. 7), 589 ff.; Gerd Erhard, in: Blümich,

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3. Sonstiges Der Gesetzgeber hat mit Wirkung vom 1. 1. 2008 der Lohntheorie vielleicht noch ein Ass beschert, das sie zu guter Letzt aus dem Ärmel ziehen könnte. Mit dem Gesetz zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 28. 9. 2007 (BT-Drucks. 16/6540) ist nämlich in das SGB IV ein neuer Satz 2 in § 28e Abs. 1 SGB IV eingefügt worden. Die Vorschrift lautet: „Die Zahlung des vom Beschäftigten zu tragenden Teils des Sozialversicherungsgesamtbeitrags gilt als aus dem Vermögen des Beschäftigten erbracht.“

Ihr lag die (verschleierte) Regelungsabsicht des Gesetzgebers zugrunde,123 die Sozialversicherungsträger in der Insolvenz des Arbeitgebers vor dem Risiko der Beitragsrückgewähr zu bewahren. Diese Absicht lässt sich den Gesetzesmaterialien freilich – so der Bundesgerichtshof – nicht entnehmen. Sie stand auch mit dessen bisheriger Rechtsprechung124 nicht im Einklang. Danach kann die Zahlung der Arbeitnehmeranteile zu den Gesamtsozialversicherungsbeiträgen als Rechtshandlung des Arbeitgebers im Insolvenzverfahren über dessen Vermögen als mittelbare Zuwendung an die Einzugsstellen gemäß §§ 129 ff. InsO angefochten werden.125 Der Bundesgerichtshof hat mit der Fiktion in seinem Urteil vom 5. 11. 2009126 „kurzen Prozess“ gemacht. Die einschlägige Passage lautet: „Eine Fiktion, mit welcher sich der Gesetzgeber behilft, indem er für die Rechtsanwendung einen tatsächlich nicht bestehenden Sachverhalt schafft, kann nur in beschränktem Umfang nach dem verfolgten Ziel ausgelegt werden. Welche Rechtsfolgen der fingierte Tatbestand hat, bestimmt das sonstige Recht, an welches der Richter gebunden ist und welches der Bundesgerichtshof hier anderweitig ausgelegt hat. Ergibt sich danach aus einer gesetzlichen Fiktion nicht die Rechtsfolge, auf die es der Gesetzgeber abgesehen hat, so kann der Richter ihn vor seinem Rechtsirrtum nicht schützen.“

Die Beispiele mögen in diesem Rahmen genügen, um darzulegen, dass die Lohntheorie mit dem geltenden Sozialversicherungsrecht nicht zu vereinbaren ist, mag auch eine wirtschaftliche Betrachtungsweise eine andere Sicht nahelegen, wie der Verfasser dieses Beitrags sich von einem „Wirtschaftsweisen“ und „Rentenexperten“ EStG, KGSt, GewStG, Loseblatt, Stand: 123. Auflage 2014, § 3 Nr. 62 EStG Rdn. 1 unter Hinweis auf BFH VI R 16/03 v. 2. 10. 03, DStR 2006, 365.; Heinicke (Fn. 118), § 3, Stichwort „Zukunftssicherungsleistungen“ (127). Siehe aber auch BFHE 222, 442, BStBl II 2008, 894 zu Ausgaben des Arbeitgebers für die Zukunftssicherung aufgrund einer freiwillig begründeten Rechtspflicht. 123 Vgl. die Begründung des Entwurfs der Bundesregierung eines Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 28. 9. 2007, BT-Drucks. 16/ 6540, S. 24 f (zu Nummer 17 Buchst. a [§ 28e]). 124 BGH – Urteil vom 8. 12. 2005 – IX ZR 182/01 – NZS 2006, 416. 125 BGH – Urteil vom 5. 11. 2009 – IX ZR 233/08 – BGHZ 183, 86 Rdnr. 13; BGH – Urteil vom 30. 9. 2010 – IX ZR 237/0 – ZIP 2010, 2209 (anderer Ansicht: LG Köln [als Vorinstanz] – Urteil vom 9. 12. 2009 – 13 S 230/09 – ZIP 2010, 41). 126 BGH – Urteil vom 5. 11. 2009 – IX ZR 233/08 – BGHZ 183, 86 Rdn. 20.

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erklären lassen dufte, der die hier vorgetragene normorientierte Ansicht für einen „Witz“ hielt. Die Behandlung des Beitrags und seiner Anteile durch das Sozialversicherungsrecht ist kein sozialrechtliches Spezifikum; andere Teilrechtsordnungen schließen sich hier an, so dass man insoweit von einer partikulären „Einheit“ oder „Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung“ sprechen könnte. Das ließe sich durch eine Sichtung von zivil- und strafrechtlichen Regelungen komplettieren. Diese Arbeit hat aber das Bundessozialgericht in den Entscheidungen BSGE 86, 262, BSGE 92, 113 und in SozR 4 – 2600 § 71 Nr. 1 bereits geleistet – Judikate, deren Lektüre manchen Juristen (auch vom Fach) vor Irrgängen bewahrt hätte. V. Zusammenfassung Viele Äußerungen, die Strukturfragen des Sozialversicherungsrechts, insbesondere die Beitragsproblematik betreffen, gehen deshalb fehl, weil deren Urheber die Implikationen des Umlageverfahrens und die jeweiligen gesetzlichen Regelungen nicht oder doch nicht mit der erforderlichen Eindringtiefe ins Visier genommen haben. Was die Rente angeht, so ist schon früh konstatiert worden, dass in einem Umlageverfahren zwischen den Beiträgen eines Versicherten und seiner Rente kein rechtlicher, wirtschaftlicher oder zeitlicher Zusammenhang besteht. Das hat Dieter Schewe, einer der besten Kenner der Materie, in seinem Beitrag zu der Festschrift für Walter Bogs bereits im Jahre 1967 diagnostiziert, also zwei Jahre vor der Umstellung auf das uneingeschränkte Umlageverfahren.127 Was die übrigen Teile des sozialen Sicherungssystems anlangt (einschließlich der Arbeitslosenversicherung!),128 so mag jeder für sich die Konsequenzen gedanklich durchspielen. Es tritt hinzu, dass nicht wenige Betrachter der Szene sich ihr eigenes Bild von Sozialversicherungsrecht „malen“. Das gilt auch für die übrigen Gerichtsbarkeiten – mit manifesten Konsequenzen bis hin zu spürbaren strafrechtlichen Folgen,129 die erst kürzlich in einem Fall durch eine Entscheidung des Großen Senats beim Bundesgerichtshof in Strafsa-

127 Dieter Schewe, in: Sozialenquête und Sozialreform, Festschrift für Walter Bogs, 1967, 147 (149); ebenso Friedrich E. Schnapp, Sozialstaatlichkeit im Spannungsfeld von Eigenverantwortung und Fürsorge, DVBl. 2004, 1053 (1059). Zustimmend Hermann Butzer, Der Generationenvertrag. Zu Herkunft und Inhalt eines sozialstaatlichen Schlüsselbegriffs, in: Butzer/Kaltenborn/Meyer (Hrsg.), Organisation und Verfahren im sozialen Rechtsstaat, Festschrift für Friedrich E. Schnapp, 2008, 367, Fn. 1. Noch heute lesenswert: v. Nell-Breuning (Fn. 65), ZSR 1956, 97. 128 Auch diese ist entgegen der Optik mancher Zeitgenossen keine „Sparkasse“. Richtig Heinig (Fn. 7), 567, Fn. 80; W. Meyer (Fn. 74), SDSRV 56 (2007), 71 (101) für die gesetzliche Rentenversicherung. 129 Siehe etwa BGHSt 49, 17 und die Kritik von Klaus Ulsenheimer, Der Vertragsarzt als Sachwalter der Vermögensinteressen der gesetzlichen Krankenkassen?, MedR 2005, 622; Friedrich E. Schnapp, Der Vertragsarzt – Sachwalter der gesetzlichen Krankenkassen?, in: Strafrecht zwischen System und Telos, Festschrift für Rolf Dietrich Herzberg, 2008, 795.

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chen abgewendet werden konnten.130 Das Remedium liegt zum Greifen nahe und erinnert an den Ratschlag, den wir Anfangssemestern zu geben pflegen: Ein Blick ins Gesetz erleichtert die Rechtsfindung.

130 BGHSt 57, 202 = NJW 2012, 2530 = NStZ 2012, 505. Dazu Friedrich E. Schnapp, Die strafrechtliche Neujustierung der Stellung des Vertragsarztes – zugleich eine Anmerkung zum Beschluss des Großen Senats des Bundesgerichtshofs in Strafsachen vom 29. 3. 2012 – GSSt 2/ 11 – GesR 2012, 479, GesR 2012, 705.

Flexibilisierung der Sonderabgabendogmatik durch das Bundesverfassungsgericht Von Friedrich Schoch, Freiburg i. Br. I. Sonderabgaben als finanzverfassungsrechtliches Problem 1. Prämissen der Verfassungsrechtsprechung Das „Prinzip des Steuerstaates“ gehört in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Finanzverfassungsrecht zu den überkommenen Stereotypen.1 Dem liegt die Annahme zu Grunde, dass die Art. 104a bis Art. 108 GG einen „Eckpfeiler der bundesstaatlichen Ordnung“ darstellen.2 In der Sache bedeutet dies nach der Judikatur, dass Gemeinlasten aus Steuern finanziert werden sollen; das Grundgesetz untersage es dem Gesetzgeber, unter Inanspruchnahme von Sachkompetenzen (Art. 70 ff. GG) Sonderabgaben zur Erzielung von Einnahmen für den allgemeinen Finanzbedarf eines öffentlichen Gemeinwesens zu erheben und das entsprechende Aufkommen zur Finanzierung allgemeiner Staatsaufgaben zu verwenden.3 Diese Prämissen sind von der Überzeugung getragen, dass die grundgesetzliche Finanzverfassung ihren Sinn und ihre Funktion verlöre, wenn unter Rückgriff auf die Sachgesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern beliebig Abgaben – unter Umgehung der bundesstaatlichen Verteilung der Finanzen – erhoben werden könnten und damit zugleich ein weiterer Zugriff auf die Ressourcen der Bürger eröffnet würde.4 Das Bundesverfassungsgericht spricht in diesem Zusammenhang von den „Begrenzungs- und Schutzfunktionen der bundesstaatlichen Finanzverfassung“; eingeschlossen ist darin der Schutz der Bürger.5 Diese Perspektive gibt Anlass, der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Thema „Sonderabgaben“ unter Ausblendung grundrechtlicher Fragestellungen nachzuspüren und die dazu entwickelte, staatsorganisationsrechtlich fundierte Dogmatik zu überprüfen.

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Vgl. z. B. BVerfGE 78, 249 (266); 93, 319 (342). BVerfGE 55, 274 (300); 91, 186 (202); 108, 186 (214). 3 BVerfGE 82, 159 (178); 91, 186 (201). 4 BVerfGE 78, 249 (266); 108, 186 (215). 5 BVerfGE 113, 128 (146, 147); 122, 316 (333); 123, 132 (140 f.); BVerfG, NVwZ 2014, 646 Tz. 121. 2

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2. Zulässigkeit nichtsteuerlicher Abgaben Die angedeutete finanzverfassungsrechtliche Problematik setzt voraus, dass das Grundgesetz keinen abschließenden Kanon zulässiger Abgabentypen enthält. Dies entspricht – ungeachtet anhaltender wissenschaftlicher Kritik6 – ständiger verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung.7 Für die Vorzugslasten (Gebühr, Beitrag) entstehen damit keine grundsätzlichen Probleme.8 Das Finanzierungsmittel der Sonderabgabe weicht indessen nach der Judikatur von drei grundlegenden Prinzipien der Finanzverfassung ab:9 - Der Gesetzgeber beansprucht zur Auferlegung von Abgaben eine Gesetzgebungskompetenz außerhalb der Finanzverfassung; dadurch werde ein Eckpfeiler der bundesstaatlichen Ordnung in Frage gestellt.10 - Der Ertrag der Sonderabgabe muss nicht Eingang in den Staatshaushalt finden; damit werde das Budgetrecht des Parlaments beeinträchtigt. - Gesetzlich kreiert wird mit der Sonderabgabe die Finanzierungsverantwortlichkeit einer Gruppe für eine Sachaufgabe; infolgedessen könne die Belastungsgleichheit der Bürger verschoben werden, wenn eine Gemeinlast gruppenspezifisch zugeordnet werde. Die Reaktionen des Bundesverfassungsgerichts auf das (von ihm selbst herausgestellte) Gefährdungspotential sind bekannt: Nichtsteuerliche Abgaben bedürfen (zwecks Wahrung der Geltungskraft der Finanzverfassung) einer besonderen sachlichen Rechtfertigung und müssen sich von der Steuer deutlich unterscheiden; der Belastungsgleichheit der Abgabepflichtigen muss bei der Ausgestaltung der Sonderabgabe Rechnung getragen werden, und der Schutz des Haushaltsgesetzgebers ist verfahrensrechtlich sicherzustellen.11 Erste Zweifel an der praktischen Wirksamkeit der vom Bundesverfassungsgericht postulierten Topoi kommen auf, wenn das Gericht einerseits meint, Sonderabgaben müssten gegenüber den Steuern seltene Ausnahmen

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Siekmann, in: Sachs (Hrsg.), GG, 7. Aufl. 2014, Vor Art. 104a Rn. 147 ff. BVerfGE 108, 186 (215); 110, 370 (387); 113, 128 (146 f.); 122, 316 (333); 123, 132 (141); BVerfG-K, NVwZ 2012, 1535 (1537). – Demgegenüber besteht ein numerus clausus der zulässigen Steuern und Steuerarten, Wernsmann, NVwZ 2011, 1367. 8 BVerfGE 108, 186 (216): Die konkrete gesetzliche Ausgestaltung kann in Konflikt mit der Finanzverfassung geraten. – Vgl. zur „Gebühr“ z. B. BVerfGE 108, 1 (Rückmeldegebühr Studierender in Baden-Württemberg); BVerfGE 132, 334 (Rückmeldegebühr nach dem Berliner Hochschulgesetz). – Zum „Beitrag“ BVerfG, NVwZ 2014, 1448, m. Bespr. Praml, NVwZ 2014, 1427 (Wiederkehrende Straßenausbaubeiträge nach KAG RP); VerfGH RP, ZUM 2014, 687 (Rundfunkbeitrag). 9 BVerfGE 101, 141 (147); 124, 348 (365); erläuternd zu der Problematik Thiemann, AöR 138 (2013), 60 (64 ff.). 10 Näher dazu K. Fischer, FS Schenke, 2011, 147 (152 ff.). 11 BVerfGE 108, 186 (215 f., 218); 110, 370 (387 f., 393); 123, 132 (141); BVerfG-K, NVwZ 2012, 1535 (1537). 7

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bleiben,12 andererseits jedoch ein Fortschreiten der Sonderabgabengesetzgebung des Bundes und der Länder konstatiert.13 Damit könnte eine Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit angedeutet sein. 3. Unterscheidung zwischen Begriffsbestimmung und Rechtfertigung von Sonderabgaben Als besonders kritikwürdig an der Sonderabgaben-Judikatur gilt die – tatsächliche oder vermeintliche – Gleichsetzung der begrifflichen Erfassung einer Abgabe als „Sonderabgabe“ mit der rechtlichen Zulässigkeit einer solchen Abgabe.14 Auch im Schrifttum wird unverändert eine Vermischung von Elementen der Definition der Sonderabgabe mit Anforderungen an ihre Rechtfertigung propagiert.15 Rechtlich haltbar ist eine derartige Auffassung nicht; zwischen der Identifizierung einer Abgabe als „Sonderabgabe“ und der Ermittlung der Rechtmäßigkeit dieser Abgabe muss – selbstverständlich – unterschieden werden.16 Der Vorwurf mangelnder Differenzierung zwischen Begrifflichkeit und normativer Zulässigkeit einer Sonderabgabe wird der Entscheidungspraxis des Bundesverfassungsgerichts nicht (mehr) gerecht. Die jüngere Rechtsprechung zeigt, dass gleichsam im ersten Zugriff auf die Problematik geklärt wird, ob es sich bei einer Abgabe um eine Steuer handelt oder ob das nicht der Fall ist.17 Nicht selten findet sich auch die Abgrenzung zu den Vorzugslasten.18 Fragen zur Legitimation der Ab12

BVerfGE 82, 159 (181); 91, 186 (203); 101, 141 (147); 122, 316 (334); BVerfG-K, NVwZ 2012, 1535 (1537). 13 BVerfGE 108, 186 (218). 14 Siekmann, in: Sachs (Fn. 6), Vor Art. 104a Rn. 152. 15 Droege, Die Verwaltung 46 (2013), 313 (319). 16 Thiemann, AöR 138 (2013), 60 (75 f.); Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG, Band III, 2. Aufl. 2008, Art. 105 Rn. 24. 17 BVerfGE 93, 319 (345 f.): Wasserentnahmeentgelt wegen Gegenleistung keine Steuer; BVerfGE 101, 141 (148): Ausgleichsabgabe für Finanzierung von Sonderurlaub keine Steuer, weil Aufkommen in besonderem Fonds verwaltet wird; BVerfGE 108, 186 (212): Altenpflegeumlage keine Steuer, da nicht auf Einnahmeerzielung für allgemeinen Finanzbedarf gerichtet; BVerfGE 110, 370 (384): Abgabe zum Klärschlamm-Entschädigungsfonds keine Steuer, da fondsgebunden als Sonderlast ausgewiesen; BVerfGE 113, 128 (146): Abfallausfuhrabgabe keine Steuer, da dem speziellen Finanzbedarf „Solidarfonds Abfallrückführung“ dienend; BVerfGE 122, 316 (332 f.): Abgabe von Absatzförderung der deutschen Land- und Ernährungswirtschaft mangels Auferlegung als Gemeinlast keine Steuer; ebenso BVerfGE 123, 132 (140) zum Forstabsatzfonds; BVerfGE 124, 235 (243): Umlage zur Finanzierung der BaFin mangels Zuordnung zum allgemeinen Staatshaushalt keine Steuer; BVerfGE 124, 348 (364): Abgabe für Einlagensicherungsfonds wegen spezieller Zweckbindung keine Steuer. 18 BVerfGE 82, 159 (178): Absatzfonds Land-, Forst- und Ernährungswirtschaft; BVerfGE 92, 91 (114 f.): Feuerwehrabgabe; BVerfGE 101, 141 (148): Ausgleichsabgabe Sonderurlaub; BVerfGE 110, 370 (388): Klärschlamm-Entschädigungsfonds; BVerfGE 113, 128 (148): Solidarfonds Abfallrückführung; BVerfGE 122, 316 (333); Absatzfonds deutsche Land- und Ernährungswirtschaft; BVerfGE 124, 235 (243): Umlage zur Finanzierung BaFin; BVerfGE 124, 348 (364 f.): Einlagensicherungsfonds.

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gabe werden anschließend geklärt. In diesem Punkt hat die Judikatur ein Stück Rechtssicherheit gestiftet. II. Sonderabgabe als eigenständiger Abgabentyp 1. Abgrenzungen und Zuordnungen Das Spannungsverhältnis zur Steuer ist mit den begrifflichen Unterscheidungen keineswegs aufgelöst. Lediglich gegenüber den Vorzugslasten bestehen überschneidungsfreie Abgrenzungen und Zuordnungen, da sich Sonderabgaben mangels staatlicher Gegenleistung von Gebühren und Beiträgen eindeutig unterscheiden (lassen).19 Ambivalent ist demgegenüber die Beziehung zur Steuer. Auf der einen Seite werden Sonderabgaben (i. e. S.20) ebenso wie Steuern voraussetzungslos geschuldet und dienen der Erzielung von Einnahmen;21 auf der anderen Seite ist die Sonderabgabe durch eine Zweckbindung und Fondsverwaltung gekennzeichnet und findet insbesondere ihren gesetzgeberischen Belastungsgrund nicht in der individuellen Leistungsfähigkeit des Abgabenschuldners, sondern in der Gruppenverantwortlichkeit für einen speziellen Finanzierungszweck.22 Damit ist in keiner Weise vorentschieden, worin Sonderabgaben ihren verfassungsrechtlich rechtfertigenden Grund finden (können). Dazu gibt es keine konsistente Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts; das Gericht verändert seine Positionen, ohne dies immer hinreichend deutlich zu machen und zu begründen.23 Geklärt ist allerdings, dass Sonderabgaben (mit Finanzierungszweck) einer besonderen Rechtfertigung bedürfen, weil sie in Konkurrenz zur Steuer – dem vom Grundgesetz vorausgesetzten „normalen“ Instrument zur Finanzierung staatlicher Aufgaben – steht.24 2. Typologie der Sonderabgaben Der Begriff „Sonderabgaben“ findet keine Erläuterung im Grundgesetz. Auch das Bundesverfassungsgericht enthält sich, soweit ersichtlich, einer Definition. Das Ge19 Vgl. dazu K. Fischer, FS Schenke (Fn. 10), S. 148 f.; ferner Droege, Die Verwaltung 46 (2013), 313 (332 f.). 20 Näher dazu unten II. 2. 21 Hummel, DVBl 2009, 874; K. Fischer, FS Schenke (Fn. 10), S. 148; Heun, in: Dreier (Fn. 16), Art. 105 Rn. 28. 22 Waldhoff, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, 3. Aufl. 2007, § 116 Rn. 93. – Thiemann, AöR 138 (2013), 60 (76 ff.), betont mit Blick auf Zwecksteuern die Unergiebigkeit des verfassungsrechtlichen Steuerbegriffs als Unterscheidungskriterium und erklärt den gesetzgeberischen Regelungswillen für maßgebend; darin eingeschlossen sei eine besondere Finanzierungsverantwortung einer Gruppe von Abgabepflichtigen. – Zur „Gruppenverantwortlichkeit“ bereits BVerfGE 55, 274 (298). 23 Vgl. dazu unten III. 2. und 3. 24 Rodi, JZ 2009, 689.

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richt begnügt sich mit einer Umschreibung des Begriffs. Danach zeichnen sich Sonderabgaben „dadurch aus, dass der Gesetzgeber Kompetenzen außerhalb der Finanzverfassung in Anspruch nimmt, obwohl weder ein Gegenleistungsverhältnis noch ähnlich unterscheidungskräftige besondere Belastungsgründe eine Konkurrenz der Abgabe zur Steuer ausschließen, die nicht auf einem Gegenleistungsverhältnis beruht“.25 Viel gewonnen ist damit für die terminologische Erfassung dieses Aufgabentyps nicht. Weiterführend ist die Unterscheidung zwischen Sonderabgaben im engeren Sinne und Sonderabgaben im weiteren Sinne.26 Der erstgenannte Typus wird treffender als „Sonderabgaben mit Finanzierungsfunktion“ (bzw. „Finanzierungszweck“) umschrieben;27 das vorstehende Zitat bezieht sich bei genauer Betrachtung nur auf diese Art von Sonderabgaben, da insoweit die skizzierte Konkurrenz zu der ebenfalls voraussetzungslos erhobenen Steuer besteht.28 Folglich findet das mehrfach angedeutete besondere Rechtfertigungsbedürfnis für Sonderabgaben hier sein Hauptanwendungsfeld. Sonderabgaben im weiteren Sinne werden vom Gesetzgeber für unterschiedliche Zielsetzungen verwendet; die Erscheinungsformen lassen sich typologisch in Ausgleichs- und Lenkungsabgaben einerseits sowie Abschöpfungsabgaben andererseits unterteilen.29 Eine abschließende Aussage ist damit nicht getroffen; Sonderabgaben im weiteren Sinne markieren vielmehr eine Auffangkategorie im Abgabensystem.30 Nach dem mittlerweile erreichten Stand der Rechtsentwicklung sollte der Abgabentypus „Sonderabgabe“ dennoch nicht länger als bloße „Restgröße“ eingeordnet werden.31 Bei allen Unschärfen der Begriffsbestimmung und der notwendigen Abgrenzungen lassen sich typologisch jedenfalls drei Kategorien von Sonderabgaben erfassen: Sonderabgaben mit Finanzierungsfunktion, Sonderabgaben mit Ausgleichs- und Lenkungsfunktion, Sonderabgaben mit Abschöpfungsfunktion. Diese Strukturierung bietet mehr als die negativ konnotierte „Restmenge“ von öffentlichen Abgaben neben Steuern und Vorzugslasten.32

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So BVerfG-K, NVwZ 2012, 1535 (1537); ähnlich zuvor z. B. BVerfGE 78, 249 (267). – Die ältere Rechtsprechung sprach davon, trotz ihrer Ähnlichkeit seien Steuer und Sonderabgabe in ihrem rechtlichen Charakter „wesensverschieden“, sie unterschieden sich nach „Idee und Funktion“ grundlegend; BVerfGE 18, 315 (328); 55, 274 (298); 67, 256 (275). 26 Näher dazu H. Jochum, StuW 2006, 134 (136 f.). 27 Erstmals, soweit ersichtlich, BVerfGE 67, 256 (278); erläuternd dazu Hummel, DVBl 2009, 874 (877). 28 Vgl. BVerfGE 108, 186 (217); 122, 316 (334); 123, 132 (141); 124, 348 (365). 29 K. Fischer, FS Schenke (Fn. 10), S. 149 f.; Heun, in: Dreier (Fn. 16), Art. 105 Rn. 26, 27. 30 Thiemann, AöR 138 (2013), 60 (81); Jachmann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Band III, 6. Aufl. 2010, Art. 105 Rn. 15. 31 Näher zu dieser Debatte H. Jochum, StuW 2006, 134 (136). 32 Heintzen, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Band 2, 6. Aufl. 2012, Art. 105 Rn. 24.

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III. Zulässigkeit von Sonderabgaben mit Finanzierungsfunktion 1. Richterliche Entwicklung eines Kriterienkatalogs Die Entwicklung eines Kriterienkatalogs für die Rechtfertigung von Sonderabgaben mit Finanzierungsfunktion ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zögerlich und schrittweise erfolgt. Als Leitentscheidung gilt das Urteil zur Ausbildungsplatzförderungsabgabe; eher tastend entwickelte das Gericht Rechtmäßigkeitsanforderungen für Sonderabgaben.33 In der Sache werden für die Erhebung einer „parafiskalischen“ Sonderabgabe eine homogene Gruppe der Abgabepflichtigen, deren spezifische Beziehung („Sachnähe“) zu dem mit der Abgabenerhebung verfolgten Zweck und die gruppennützige Verwendung des Abgabenaufkommens verlangt; im Urteil zur Investitionshilfeabgabe wurde dieser Kriterienkatalog im Stile eines Abgabentatbestands benannt und sogar ziffernmäßig durchnummeriert.34 Der Beschluss zum Absatzfonds für die Land-, Forst- und Ernährungswirtschaft hat die materiellen Zulässigkeitsvoraussetzungen für Sonderabgaben mit Finanzierungsfunktion präzisiert und erweitert: (1) Als Finanzierungsinstrument müsse die Sonderabgabe einen Sachzweck verfolgen, der über die bloße Mittelbeschaffung hinausgehe; (2) nur eine vorgefundene homogene Gruppe mit einer spezifischen Sachnähe der Abgabepflichtigen zu der zu finanzierenden Aufgabe dürfe in die Finanzierungsverantwortung genommen werden; (3) das Abgabenaufkommen sei gruppennützig zu verwenden, „fremdnützige“ Sonderabgaben seien (grundsätzlich) unzulässig; (4) die Sonderabgabe sei grundsätzlich temporär, vom Gesetzgeber also in angemessenen Zeitabständen hinsichtlich ihres Fortbestands zu überprüfen; (5) die Rechtfertigungsgründe machten die Sonderabgabe zu einem speziellen gesetzgeberischen Instrument, das gegenüber der Steuer die seltene Ausnahme bleiben müsse.35 Kurze Zeit später meinte das Bundesverfassungsgericht feststellen zu können, es habe „in nunmehr gefestigter Rechtsprechung die Grenzen benannt, in denen Sonderabgaben allein zulässig sind“.36 Diese Annahme sollte sich als Irrtum erweisen. Angesichts „des Fortschreitens der Sonderabgabengesetzgebung des Bundes und der Länder“37 sah sich das Gericht veranlasst, die Prüfungs- und Anpassungspflichten des Gesetzgebers durch haushaltsrechtliche Informationspflichten zu ergänzen; auch außerhalb des Haushaltsplans müsse eine hinreichende Information des Parlaments und der Öffentlichkeit durch eine vollständige Dokumentation der Sonderab-

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BVerfGE 55, 274 (305 ff.); dazu Waldhoff, in: HStR V (Fn. 22), § 116 Rn. 91. BVerfGE 67, 256 (276). 35 BVerfGE 82, 159 (180 f.). 36 BVerfGE 91, 186 (203) unter Berufung auf BVerfGE 55, 274 (298 ff.); 67, 256 (275 ff.); 82, 159 (179 ff.). 37 Vgl. bereits oben Text zu Fn. 13. 34

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gaben im Interesse einer wirksamen parlamentarisch-demokratischen Legitimation und Kontrolle bezüglich der finanziellen Inanspruchnahme der Bürger erfolgen.38 Für einen gewissen Zeitraum schienen danach die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen einer Sonderabgabe festzustehen:39 (1) Sachzweck, (2) Gruppenhomogenität, (3) Sachnähe (als Grund der Finanzierungsverantwortung), (4) gruppennützige Verwendung des Abgabenaufkommens, (5) periodische Überprüfung, (6) Dokumentation der Sonderabgaben.40 Das – weitere – Merkmal „seltene Ausnahme“ geriet in Vergessenheit; in der Entscheidung zur Filmabgabe nach dem Filmförderungsgesetz ist es reaktiviert worden.41 2. Schwachstellen des Kriterienkatalogs In der wissenschaftlichen Analyse besteht keine Einigkeit darüber, wie jenes Richterrecht zu beurteilen ist. Auf der einen Seite steht die These, jedes einzelne der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Kriterien habe seine Daseinsberechtigung, sei sogar Ausdruck grundgesetzlicher Notwendigkeiten.42 Konträr dazu liegt die Einschätzung, bislang sei es nicht gelungen, die Sonderabgaben überzeugend in die Dogmatik der nichtsteuerlichen Abgaben zu integrieren; die herkömmliche verfassungsgerichtliche Konzeption trage den bestehenden finanzverfassungsrechtlichen Bedenken gegenüber Sonderabgaben nicht hinreichend Rechnung.43 Einer kritischen Analyse bedarf vor allem die Aufhebung fester Konturen im Kriterienkatalog durch das Bundesverfassungsgericht (s. u. III. 3.). Was die Kriterien selbst betrifft, wird seit einiger Zeit deren sukzessive Aufweichung beklagt.44 Dieser Kritik soll zunächst nachgegangen werden. a) Verfolgung eines Sachzwecks Dass sich der Gesetzgeber des Finanzierungsinstruments der Sonderabgabe nur zur Verfolgung eines Sachzwecks, der über die bloße Mittelbeschaffung hinausgeht, 38

BVerfGE 108, 186 (218, 219). BVerfGE 110, 370 (389 ff.); 122, 316 (334 f.); 123, 132 (142); 124, 235 (244); 124, 348 (366); BVerfG-K, NVwZ 2012, 1535 (1537). 40 Kempny/Reimer, Neuordnung der Finanzbeziehungen – Aufgabengerechte Finanzverteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen, Gutachten D zum 70. DJT, 2014, 83, listen fünf materielle Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen auf, weil – entgegen der Judikatur des BVerfG – zwischen „Sachnähe“ und „Finanzierungsverantwortung“ für den Sachzweck unterschieden wird. 41 BVerfG, NVwZ 2014, 646 Tz. 122; bekräftigend BVerfG, NVwZ 2014, 1306 („Weinabsatzfonds“) Rn. 117. 42 Hummel, DVBl 2012, 747. 43 Thiemann, AöR 138 (2013), 60 (64). 44 Waldhoff, in: HStR V (Fn. 22), § 116 Rn. 93. 39

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bedienen darf, ist dem „Abstandsgebot“ zur Steuer geschuldet. Diesem Erfordernis ist bereits Rechnung getragen, wenn das betreffende Gesetz neben der Belastung der Abgabepflichtigen mit der Abgabe und der Verwendung ihres Aufkommens auch die gestaltende Einflussnahme auf den geregelten Sachbereich zum Ausdruck bringt.45 In der Praxis sind mit dieser Anforderung kaum Schwierigkeiten verbunden: Die Altenpflegeumlage dient der Steigerung der Attraktivität der Altenpflegeausbildung zwecks Generierung einer ausreichenden Anzahl qualifiziert ausgebildeter Altenpfleger.46 Die Finanzierung des Klärschlamm-Entschädigungsfonds soll durch Schaffung eines günstigen Haftungsumfelds die Bereitschaft erhöhen, Klärschlamm als Sekundärrohstoffdünger einzusetzen.47 Die Umlage zur Finanzierung der BaFin wird im Dienste der Bewältigung derjenigen Risiken gesehen, die von einem unreglementierten Tätigwerden der beaufsichtigten Unternehmen ausgehen; das Vertrauen der Anleger in die Solidität und Lauterkeit dieser Unternehmen als Rahmenbedingung für einen funktionsfähigen Finanzmarkt soll gestärkt werden.48 Beim Einlagensicherungs- und Anlegerentschädigungsgesetz wird der mit der Abgabenerhebung verfolgte Sachzweck dem Gesamtsystem der Finanzmarktregulierung entnommen.49 Die Insolvenzsicherungsabgabe nach dem Betriebsrentengesetz dient der Finanzierung des Trägers der Insolvenzsicherung der betrieblichen Altersversorgung zwecks Wahrnehmung der dem Träger gesetzlich zugewiesenen Aufgaben der Sicherung von Versorgungsansprüchen und Versorgungsanwartschaften gegen eine durch Insolvenz des Arbeitgebers bedingte Nichterfüllung.50 Der Filmabgabe nach dem Filmförderungsgesetz wird als Sachzweck die Förderung der Struktur der deutschen Filmwirtschaft und der kreativ-künstlerischen Qualität des deutschen Films als Voraussetzung für dessen Erfolg im Inland und im Ausland attestiert.51 Mit den Mitteln aus dem Weinabsatzfonds sollen vor allem die Qualität und der Absatz des Weins gefördert werden.52 b) Gruppenhomogenität Schon in seiner Entscheidung zur Berufsbildungsabgabe hat das Bundesverfassungsgericht erklärt, eine gesellschaftliche Gruppe könne nur dann mit einer Sonderabgabe in Anspruch genommen werden, wenn sie durch eine gemeinsame, in der Rechtsordnung oder in der gesellschaftlichen Wirklichkeit vorgegebenen Interessenlage oder durch besondere gemeinsame Gegebenheiten von der Allgemeinheit und anderen Gruppen abgrenzbar sei, wenn es sich also um eine in diesem Sinne homo45

BVerfGE 82, 159 (179); 110, 370 (389). BVerfGE 108, 186 (221). 47 BVerfGE 110, 370 (389); erläuternd Jachmann (Fn. 30), Art. 105 Rn. 16. 48 BVerfGE 124, 235 (245). 49 BVerfGE 124, 348 (366 f.). 50 BVerfG-K, NVwZ 2012, 1535 (1537). 51 BVerfG, NVwZ 2014, 646 Tz. 130. 52 BVerfG, NVwZ 2014, 1306 Rn. 119. 46

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gene Gruppe handele.53 Diese Formel entspricht in einer Art „Kurzform“ mittlerweile ständiger Rechtsprechung: Abgrenzbarkeit der Abgabepflichtigen in einer vorgefundenen homogenen Gruppe bei Verbundenheit durch (annähernd) gemeinsame Gegebenheiten und Interessenlagen.54 Welche Substanz und Qualität die „gemeinsamen Gegebenheiten und Interessenlagen“ aufweisen müssen, lässt die Rechtsprechung offen. Wenn die „Gruppenhomogenität“ einen Sinn haben soll, kann damit nur ein gleichgerichtetes besonderes Interesse an der Erfüllung des Sachzwecks, dem die Abgabe dient, gemeint sein.55 Die Judikatur indes hantiert zum Erfordernis der Gruppenhomogenität weithin mit fragwürdigen Annahmen und Thesen. Mehrere Argumentationsstrategien sind zu beobachten: In einigen Entscheidungen werden die „Gegebenheiten“ und „Interessenlagen“ – losgelöst vom konkreten Sachzweck – so abstrakt gefasst, dass eine irgendwie geartete „Homogenität“ entsteht; nach dieser Logik bilden die mit der Berufsbildungsabgabe belasteten Arbeitgeber eine homogene Gruppe, weil sie in der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeber organisiert sind;56 Betriebe der Land- und Ernährungswirtschaft sollen (mit Blick auf den – damaligen – Absatzfonds) eine homogene Gruppe sein, weil sie den Regelungen des Gemeinsamen Marktes nach dem EWG-/EG-/EU-Vertrag unterliegen;57 in Bezug auf die Filmabgabe nach dem Filmförderungsgesetz werden Kinobetreiber, Programmanbieter, gleichgestellte Lizenzrechteinhaber der Videowirtschaft und Fernsehveranstalter zur homogenen Gruppe zusammengefasst auf Grund „der Gemeinsamkeit des Interesses an der durch die Abgabe geförderten gedeihlichen Struktur der deutschen Filmwirtschaft und am Erfolg des deutschen Films“.58 Nach manchen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts soll sich die Gruppenhomogenität aus der besonderen Finanzierungsverantwortung ableiten; dies betraf z. B. die Einbeziehung der Gartenbaubetriebe in den Kreis der Abgabenschuldner (neben Landwirtschaft und Ernährungswirtschaft) des Absatzfondsgesetzes59 und die Anbieter der Dienstleistung „Altenpflege“ bei der Altenpflegeumlage.60 Zur Abgabe für den Klärschlamm-Entschädigungsfonds hat das Bundesverfassungsgericht – ohne Begründung – die Klärschlammhersteller kurzerhand zu einer homo-

53

BVerfGE 55, 274 (305 f.). BVerfGE 82, 159 (180); 92, 91 (120); 124, 235 (245); BVerfG, NVwZ 2014, 646 Tz. 123. 55 Ossenbühl, DVBl 2005, 667 (671). 56 BVerfGE 55, 274 (311); krit. dazu Thiemann, AöR 138 (2013), 60 (92). 57 BVerfGE 82, 159 (183 f.); insoweit bestätigt durch BVerfGE 122, 316 (335). – Keine homogene Gruppe bildeten Landwirtschaft und Forstwirtschaft, BVerfGE 82, 159 (186 ff.). 58 So BVerfG, NVwZ 2014, 646 Tz. 131. 59 BVerfGE 82, 159 (184). 60 BVerfGE 108, 186 (223); krit. dazu Hummel, DVBl 2012, 747: Relativierung der Erfordernisse der Gruppenhomogenität. 54

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genen Gruppe erklärt.61 Neuerdings behauptet das Gericht (am Beispiel der Filmabgabe und des Weinabsatzfonds) sogar, die Homogenität werde durch Konkurrenz bzw. Interessengegensätze zwischen Gruppenangehörigen nicht in Frage gestellt, sofern zugleich ein gemeinsames Interesse im Hinblick auf den Abgabenzweck bestehe.62 Angesichts einer solchen Judikatur ist die „Gruppenhomogenität“ als Element der Sonderabgabendogmatik ohne rational nachvollziehbare Kontur. Das Merkmal erfreut sich eines beliebigen, mitunter offenbar auch ergebnisorientierten Einsatzes und kommt bisweilen einer Fiktion gleich. Sofern das Bundesverfassungsgericht überhaupt noch plausible Begründungen versucht, mangelt es nicht selten an Substanz. Wenn die Erhebung von Sonderabgaben wirklich an strenge Voraussetzungen gebunden sein soll, kann nicht auf irgendwelche Gemeinsamkeiten einer Gruppe verwiesen werden;63 daraus kann für die Rechtfertigung einer Sonderabgabe nichts hergeleitet werden.64 c) Finanzierungsverantwortung kraft Sachnähe Nach st. Rspr. begründet die spezifische Sachnähe der als homogene Gruppe Abgabepflichtigen zu der zu finanzierenden Aufgabe eine besondere Finanzierungsverantwortung dieser Gruppe.65 Das Bundesverfassungsgericht hat sogar betont, die Auferlegung einer Sonderabgabe rechtfertige sich letztlich aus einer spezifischen Sachnähe der Abgabepflichtigen zu einer zu finanzierenden Sachaufgabe.66 Die „spezifische Sachnähe“ soll vorliegen, wenn die mit der Abgabe belastete Gruppe dem mit der Abgabenerhebung verfolgten Zweck näher stehe als jede andere Gruppe oder die Allgemeinheit der Steuerzahler.67 In der Rechtsanwendung wurden jene Voraussetzungen z. B. bei der Altenpflegeumlage bejaht; Heime und Pflegeeinrichtungen bildeten homogene Gruppen, denen die besondere Verantwortung für die Qualität der Dienstleistungen in der Altenpflege gemeinsam sei, der die Vorteile einer weitgehend gesicherten Finanzierung durch die Träger der sozialen Pflegeversicherung und der Sozialhilfe korrespondierten.68 Beim 61 BVerfGE 110, 370 (389 f.); krit. Ossenbühl, DVBl 2005, 667 (670): schlichte Behauptung, zudem Ausblendung der Landwirte als mögliche Gruppenangehörige. 62 BVerfG, NVwZ 2014, 646 Tz. 134; BVerfG, NVwZ 2014, 1306 Rn. 123. 63 Ossenbühl, DVBl 2005, 667 (671). 64 Thiemann, AöR 138 (2013), 60 (104). 65 BVerfGE 67, 256 (276); 82, 159 (180); BVerfG-K, NVwZ 2012, 1535 (1538); BVerfG, NVwZ 2014, 646 Tz. 125. 66 BVerfGE 93, 319 (344); abl. Thiemann, AöR 138 (2013), 60 (89 ff.): bedenkliche Vermischung rechtlicher und außerrechtlicher Kategorien. 67 Zuletzt BVerfG, NVwZ 2014, 646 Tz. 124 (m. w. Nachw.). 68 BVerfGE 108, 186 (228); krit. Hummel, DVBl 2009, 874 (879): Verzahnung der Finanzierungsverantwortung mit der Gruppenhomogenität. – Im Gegensatz zum BVerfG zuvor HessVGH, DVBl 2000, 1700 (1703): pflegerische Versorgung der Bevölkerung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe, daher keine spezifische Sachnähe bestimmter Gruppen.

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Klärschlamm-Entschädigungsfonds wurde die Sachnähe der Abgabenpflichtigen (Klärschlammhersteller) mit der Entsorgungspflicht nach dem (damals geltenden) Abfallrecht begründet.69 Bei der Umlage zur Finanzierung der BaFin wurde die Finanzierungsverantwortung der in Anspruch genommenen Kredit- und Finanzdienstleistungsinstitute auf eine „Verantwortlichkeit für die Folgen gruppenspezifischer Zustände und Verhaltensweisen“ in einem vernetzten „Marktsystem wechselseitiger Abhängigkeiten“ gestützt.70 Zur Anlegerentschädigung und Einlagensicherung leitete das Bundesverfassungsgericht die Finanzierungsverantwortung der Wertpapierhandelsunternehmen insbesondere aus dem Europarecht und bestimmten Marktstrukturen ab.71 Für die Insolvenzsicherungsabgabe wurde die Finanzierungsverantwortung der erfassten Arbeitgeber auf die zugesagte betriebliche Altersversorgung gestützt.72 Die Judikatur kennt auch Gegenbeispiele. So wurde zur Verfassungswidrigkeit des „Kohlepfennigs“ erkannt, dass die Allgemeinheit der Stromverbraucher als solche keine besondere Finanzierungsverantwortlichkeit für die Sicherung des Steinkohleeinsatzes bei der Stromerzeugung hat.73 Die Sonderabgabe nach dem Hessischen Sonderurlaubsgesetz war verfassungswidrig, weil Arbeitgeber keine besondere Finanzierungsverantwortlichkeit für die Jugendarbeit haben.74 Beim Absatzfonds für die deutsche Land- und Ernährungswirtschaft hat das Bundesverfassungsgericht eine „spezifische Sachnähe“ der Abgabepflichtigen zunächst (stillschweigend) angenommen,75 später jedoch eine besondere Finanzierungsverantwortung der Landund Ernährungswirtschaft verneint, weil nicht die Unternehmen einen Bedarf verursachten, sondern der Gesetzgeber zwangsweise eine Fördermaßnahme zu Lasten einer bestimmten Gruppe eingeführt habe.76 Die Topoi „spezifische Sachnähe“ bzw. „besondere Finanzierungsverantwortung“ basieren auf richterlichen Zuschreibungen; diese münden in eine Zuordnung von Verantwortlichkeitssphären, die sich wertungsfrei kaum vornehmen lässt.77 Die „Sachnähe“ beruht vielfach auf einer Deskription, der Begriff „Verantwortung“ ist nicht definiert und auch nicht vorgegeben; „Verantwortlichkeit“ kann das Ergebnis 69 BVerfGE 110, 370 (390); krit. zu dem Schluss von der Entsorgungspflicht auf die Sachnähe Ossenbühl, DVBl 2005, 667 (671), der zudem die Nichtberücksichtigung der Landwirte rügt. 70 BVerfGE 124, 235 (246) unter Zurückweisung abl. Stimmen (247). 71 BVerfGE 124, 348 (368 ff.). 72 BVerfG-K, NVwZ 2012, 1535 (1538). 73 BVerfGE 91, 186 (203 ff.); dazu Bespr. Wilms, NVwZ 1995, 550. 74 BVerfGE 101, 141 (149). 75 Vgl. BVerfGE 82, 159 (183 ff.); krit. Hummel, DVBl 2009, 874 (877). 76 BVerfGE 122, 316 (336). – Parallele zum Weinabsatzfonds ziehend Ritter, NVwZ 2011, 405 (406); a. A. das BVerfG (vgl. Text zu Fn. 81), allerdings unter Ausblendung des Merkmals „Sachnähe“. 77 Germelmann, GewArch 2009, 476 (478); Hummel, DVBl 2009, 874 (883).

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einer Zurechnung sein, diese aber nicht begründen.78 So bleibt auch bei diesem Merkmal ein juristisches Unbehagen. Das Bundesverfassungsgericht scheut nicht einmal davor zurück, dieses Element seiner Sonderabgaben-Rechtsprechung einfach zu übergehen und nach der Feststellung der Gruppenhomogenität direkt nach der gruppennützigen Verwendung des Abgabenaufkommens zu fragen.79 In der Entscheidung zum Weinabsatzfonds wird der Topos „Sachnähe“ ebenfalls gemieden; das Gericht meint, die Finanzierungsverantwortung ergebe sich (wie grundsätzlich bei Absatzförderungsabgaben) daraus, „dass die Verwendung des Abgabeaufkommens in spezifischer Weise den Abgabebelasteten zugutekommt“.80 Eine solche Rechtsprechungspraxis lässt Zweifel daran aufkommen, ob jenes Merkmal wirklich den Kern der Sonderabgabendogmatik bildet. d) Gruppennützige Verwendung des Abgabenaufkommens Die vom Bundesverfassungsgericht postulierte gruppennützige Verwendung des Abgabenaufkommens soll eine sachgerechte Verknüpfung zwischen den von der Sonderabgabe bewirkten Belastungen und den mit ihr finanzierten Begünstigungen herstellen.81 Das Merkmal schließt folglich „fremdnützige“ Sonderabgaben grundsätzlich aus. Die gruppennützige Aufkommensverwendung muss allerdings nicht jeden einzelnen Abgabepflichtigen erreichen; es genüge, wenn das Abgabenaufkommen – so eine langjährige Rechtsprechung – überwiegend im Interesse der Gesamtgruppe (Abgabepflichtigen) verwendet werde.82 Relativierend wirkt die Formel, es reiche aus, wenn das Abgabenaufkommen „unmittelbar oder mittelbar, überwiegend im Interesse der Gesamtgruppe verwendet wird“.83 Auf dieser Grundlage wurde die Altenpflegeumlage gebilligt; da etliche Abgabepflichtigen (Pflegeeinrichtungen, Heime für alte Menschen) von der Kostenerstattung begünstigte Träger der praktischen Ausbildung seien, schade es nicht, dass umlagepflichtige ambulante Pflegeeinrichtungen gar keine Altenpflegekräfte beschäftigten.84 Beim Klärschlamm-Entschädigungsfonds fließt das Abgabenaufkommen nicht an die Gruppe der Abgabenschuldner (Klärschlammhersteller), sondern an – nicht abgabepflichtige – Landwirte; darin sah das Bundesverfassungsgericht jedoch eine ausreichende „generelle Verbesserung der Bedingungen für eine landbauliche 78

Ossenbühl, DVBl 2005, 667 (671); Thiemann, AöR 138 (2013), 60 (94). Vgl. BVerfG, NVwZ 2014, 646 Tz. 131 bis 148 (zur Gruppenhomogenität) und Tz. 149 bis 154 (zur gruppennützigen Verwendung). 80 BVerfG, NVwZ 2014, 1306 Rn. 133; verschwiegen wird die abweichende frühere Rechtsprechung, vgl. Text zu Rn. 66. 81 BVerfGE 55, 274 (307); 82, 159 (180); 110, 370 (391). 82 BVerfGE 67, 256 (276 f.); 82, 159 (180 f.); BVerfG-K, NVwZ 2012, 1535 (1538). 83 So BVerfG, NVwZ 2014, 1306 Rn. 136 (unter Berufung auf BVerfGE 108, 186, 279); wie unter einer solchen Voraussetzung das Abgabenaufkommen „in spezifischer Weise den Abgabebelasteten“ zufließen soll (vgl. Text zu Fn. 80), erschließt sich nicht. 84 BVerfGE 108, 186 (229 f.). 79

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Verwertung des Klärschlamms“, weil „der Fonds die Abgabepflichtigen als potentielle Schadensverursacher von individuellen Ersatzpflichten entlastet“.85 Die Insolvenzsicherungsabgabe kommt Versorgungsempfängern zugute und nicht etwa den mit der Abgabe belasteten Arbeitgebern; das Bundesverfassungsgericht bejaht dennoch einen greifbaren Gruppennutzen, weil ein Arbeitgeber im Falle der Insolvenz die eingegangene Verpflichtung einer betrieblichen Altersvorsorge nicht einhalten könne.86 Verworfen wurde hingegen die Abfallausfuhrabgabe (Solidarfonds Abfallrückführung) mangels gruppennütziger Verwendung des Abgabenaufkommens; die Abgabe finanziere die Folgen eines Fehlverhaltens von Abfallexporteuren.87 Mittlerweile behauptet das Bundesverfassungsgericht (z. B. zur Umlagefinanzierung der BaFin), dass allein „die zweckentsprechende Verwendung des Abgabenaufkommens zugleich gruppennützig wirkt“.88 Zur Verwendung der Filmabgabe nach dem Filmförderungsgesetz heißt es schlicht (unter Hinweis auf die – angebliche – Gruppenhomogenität der Abgabepflichtigen), der Nutzen für die Hauptverwerter deutscher Filme sei evident; die Verwendung des Abgabenaufkommens sei am Sachzweck der Abgabe orientiert und werde „damit gruppennützig verwendet“.89 Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach Funktion und Bedeutung des Merkmals „Gruppennützigkeit der Aufkommensverwendung“. War zunächst noch von einer sukzessiven Aufweichung des Kriteriums durch das Bundesverfassungsgericht die Rede,90 so wird neuerdings diagnostiziert, die „Gruppennützigkeit“ sei als eigenständiges Zulässigkeitskriterium für die Sonderabgabe (mit Finanzierungsfunktion) entfallen.91 3. Kriterienverknüpfung als bewegliches System Der in der Verfassungsrechtsprechung entwickelte Kriterienkatalog (s. o. III. 1.)92 wurde lange Zeit so verstanden (und gehandhabt), dass rechtliche Voraussetzungen 85 BVerfGE 110, 370 (392); abl. dazu Ossenbühl, DVBl 2005, 667 (672): ein irgendwie gearteter Gruppennutzen werde auf Umwegen beschworen; krit. auch Waldhoff, in: HStR V (Fn. 22), § 116 Rn. 93: Förderung der Sonderabgabengesetzgebung in Bund und Ländern durch das BVerfG. 86 BVerfG-K, NVwZ 2012, 1535 (1538). 87 BVerfGE 113, 128 (151 f.); dazu Kloepfer, ZUR 2005, 479; H.-J. Koch, NVwZ 2005, 1153; Gärditz, AbfallR 2006, 34. 88 BVerfGE 124, 235 (248); zuvor in diesem Sinne BVerfGE 113, 128 (151); 122, 316 (335); 123, 132 (142); krit. Hummel, DVBl 2012, 747: Relativierung der Voraussetzungen für Sonderabgaben. 89 BVerfG, NVwZ 2014, 646 Tz. 149; a. A. Thiemann, AöR 138 (2013), 60 (102 f.): Die finanzielle Unterstützung des deutschen Films sei keine gezielte Förderung des Gruppenwohles, etwaige Vorteile für die filmverwertenden Unternehmen seien bloße Nebeneffekte. 90 Waldhoff, in: HStR V (Fn. 22), § 116 Rn. 93. 91 Thiemann, AöR 138 (2013), 60 (101). 92 Keine große praktische Bedeutung haben die verfahrensrechtlichen Anforderungen erlangt; vgl. zum Postulat der periodischen Überprüfung einer Sonderabgabe BVerfGE 108, 186

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statuiert worden sind, die kumulativ erfüllt sein müssen, damit eine Sonderabgabe (mit Finanzierungsfunktion) gerechtfertigt werden kann.93 Diese an sich klare und auf Rechtssicherheit angelegte Sonderabgabendogmatik besteht nicht mehr. Einen ersten Schritt zur Auflösung des vormaligen Systems hat das Bundesverfassungsgericht dadurch unternommen, dass es die gruppennützige Verwendung des Abgabenaufkommens nicht mehr (immer) prüft, sondern mit der Vermutung operiert, wenn die Sachnähe zum Zweck der Abgabe und die Finanzierungsverantwortung der belasteten Gruppe der Abgabepflichtigen gegeben seien, wirke die zweckentsprechende Verwendung des Abgabenaufkommens zugleich gruppennützig.94 Dass diese Annahme mitunter nicht zutrifft, stört das Bundesverfassungsgericht nicht (mehr). Die schrittweise Erosion der Sonderabgabendogmatik ist sodann durch eine weitere Relativierung vorangetrieben worden. Das Bundesverfassungsgericht fasst die vormals getrennt zu prüfenden Zulässigkeitsvoraussetzungen zu einem „Ensemble“ der speziellen Anforderungen an die Zulässigkeit einer Sonderabgabe mit Finanzierungsfunktion zusammen; innerhalb dieses „Ensembles“ bestehe eine besonders enge Verbindung zwischen der Sachnähe der Abgabepflichtigen zum Zweck der Abgabenerhebung, einer daraus ableitbaren Finanzierungsverantwortung und der gruppennützigen Verwendung des Abgabenaufkommens.95 Diese holistische Sichtweise auf den richterrechtlich entwickelten „Sonderabgabentatbestand“ ist folgenreich: Die Erfüllung der „Merkmalsgruppe in ihrem Zusammenspiel“ bilde den entscheidenden Rechtfertigungsgrund für eine zu der Gemeinlast der Steuern hinzutretende Sonderlast und sichere so die Wahrung verhältnismäßiger Belastungsgleichheit.96 Der Kanon der Zulässigkeitsvoraussetzungen mutiert demnach zu einem beweglichen System.97 Das Bundesverfassungsgericht räumt ein, die funktionale Verknüpfung der Kriterien – mit Kompensationsmöglichkeiten98 – mindere deren Eigenständigkeit, so dass erhöhte Anforderungen an das Merkmal der Gruppennützigkeit der Mittelverwendung zu stellen seien;99 dass in der Praxis genau dies nicht geschieht, muss indes zur Kenntnis genommen werden.100 Die neue „Beweglichkeit“ der Son(230 ff.); 110, 370 (392 f.); 124, 235 (248); 124, 348 (381); zu haushaltsrechtlichen Informationspflichten BVerfGE 110, 370 (393); 124, 235 (248). 93 Vgl. dazu H. Jochum, StuW 2006, 134 (138 ff.); Berg, GewArch 2006, 441 ff.; Germelmann, GewArch 2009, 476 (477 f.). 94 Vgl. Nachw. o. Fn. 88 und 89; ferner BVerfGE 124, 348 (366); BVerfG, NVwZ 2014, 646 Tz. 126. – Von dieser Doktrin nunmehr (ohne Begründung) abweichend BVerfG, NVwZ 2014, 1306. 95 BVerfGE 113, 128 (150); 122, 316 (335); 123, 132 (142). 96 BVerfGE 122, 316 (335); 123, 132 (142); 124, 235 (244 f.); 124, 348 (366); BVerfG, NVwZ 2014, 646 Tz. 126. 97 Droege, Die Verwaltung 46 (2013), 313 (320). 98 Vgl. dazu BVerfGE 122, 316 (337 f.); 123, 132 (143 f.). 99 BVerfG, NVwZ 2014, 646 Tz. 127. 100 Vgl. oben Text zu und in Fn. 84 bis Fn. 89. – Bedenklich ferner die Annahmen und Behauptungen von BVerfG, NVwZ 2014, 1306 Rn. 137 ff., 151.

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derabgabendogmatik in der Judikatur mag insoweit begrüßt werden, als Wertungsfragen bei der Belastung bestimmter Gruppen mit Sonderabgaben offener als früher erörtert werden.101 Das Bundesverfassungsgericht bleibt jedoch jegliche Antwort auf eine Strukturierung und Konturierung jenes „Zusammenspiels“ innerhalb der „Merkmalsgruppe“ schuldig; Regeln für jenes „Spiel“ sind nicht erkennbar, Kriterien für die Rechtfertigung der Sonderlast bei der Gewichtung einzelner „Merkmale“ innerhalb der „Gruppe“ werden nicht genannt, das „Zusammenspiel“ funktioniert offenbar ohne vorgegebene Maßstäbe. Das Ergebnis verfassungsgerichtlicher Entscheidungen ist kaum noch vorhersehbar; die richterliche Gestaltungsmacht steigt, die Rechtssicherheit schwindet. IV. Sonderabgaben ohne Finanzierungsfunktion 1. Arten von Sonderabgaben i. w. S. Die Typologie der Sonderabgaben (s. o. II. 2.) umfasst bei den Sonderabgaben im weiteren Sinne seit geraumer Zeit als besondere Art die Ausgleichsabgabe.102 Sie fungiert als Ersatz für eine an sich zu erbringende Naturalleistung.103 Bekannte Beispiele hierzu sind die Schwerbehindertenabgabe,104 die Feuerwehrabgabe,105 die Ausgleichsabgabe für Stellplätze (nach Bauordnungsrecht)106 und die naturschutzrechtliche Ausgleichsabgabe.107 An Stelle der nicht erfüllten Primärpflicht – Beschäftigung Schwerbehinderter, Feuerwehrdienst, Schaffung von Stellplätzen auf dem Baugrundstück oder in dessen Nähe, Ersatzmaßnahmen nach einem Eingriff in die Natur – wird ein finanzieller Ausgleich geleistet. Mitunter verbindet das Bundesverfassungsgericht mit der Ausgleichsfunktion eine Antriebsfunktion.108 Bei der Abschöpfungsabgabe wird ein staatlich veranlasster (Sonder-)Vorteil beim Begünstigten abgeschöpft.109 Die Fehlbelegungsabgabe wurde zur Rückabwicklung von der öffentlichen Hand gewährter Subventionsvorteile eingeführt, da die Inhaber von Sozialwohnungen auch dann in ihren Wohnungen bleiben durften, 101

Siekmann, in: Sachs (Fn. 6), Vor Art. 104a Rn. 166. Die frühere Unterscheidung zwischen „Ausgleichs-Finanzierungsabgaben“ und „Ausgleichsabgaben eigener Art“ (BVerfGE 67, 256, 277) spielt, soweit ersichtlich, keine Rolle mehr. 103 H. Jochum, StuW 2006, 134 (141); K. Fischer, FS Schenke (Fn. 10), S. 159 f.; Heun, in: Dreier (Fn. 16), Art. 105 Rn. 26; krit. zu der Leitidee Thiemann, AöR 138 (2013), 60 (84 f.). 104 BVerfGE 57, 139 (165); dazu Stettner DVBl 1981, 375 ff.; E. Brandt, NJW 1981, 2103 f. 105 BVerfGE 92, 91 (116 f.); dazu Bausback, BayVBl 1995, 737 (741 ff.). 106 BVerfG-K, NVwZ 2009, 837; zuvor BVerwGE 122, 1 (7). 107 BVerwGE 74, 308 (309 ff.); 81, 220 (221 ff.). 108 BVerfGE 57, 139 (168) zur Schwerbehindertenabgabe. 109 H. Jochum, StuW 2006, 134 (143); K. Fischer, FS Schenke (Fn. 10), S. 162; Heun, in: Dreier (Fn. 16), Art. 105 Rn. 27. 102

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wenn ihr Einkommen im Laufe der Zeit die Einkommensgrenzen für die Mietberechtigung im sozialen Wohnungsbau überschritten hatte.110 Dem „Wasserpfennig“ wurde die Qualität einer Vorteilsabschöpfungsabgabe attestiert; das Wasserentnahmeentgelt fungiere als eine Art Gegenleistung für die Möglichkeit der Wasserentnahme, also für die Nutzung eines knappen Gutes der Allgemeinheit.111 Sonstige Arten von Sonderabgaben im weiteren Sinne haben, soweit ersichtlich, die Verfassungsjudikatur in der jüngeren Vergangenheit nicht beschäftigt. Dass keine abschließende Festlegung besteht, ist weitgehender Konsens.112 Nicht zu den Sonderabgaben zählen gesetzliche Preisregelungen für Rechtssubjekte des Privatrechts; ein Beispiel hierfür ist die EEG-Umlage, deren Aufkommen nicht der öffentlichen Hand zufließt, sondern die von den Energieversorgungsunternehmen über den Endpreis auf die Letztverbraucher umgelegt wird.113 2. Zulässigkeitsvoraussetzungen Unter welchen verfassungsrechtlichen Voraussetzungen Sonderabgaben im weiteren Sinne eingeführt werden können, ist – trotz einer dazu seit mehreren Jahrzehnten ergehenden Rechtsprechung – abschließend nicht geklärt.114 Das Bundesverfassungsgericht macht keine Anstalten, bestehende Unsicherheiten zu beseitigen.115 Das Gericht betont lediglich, die für Sonderabgaben mit Finanzierungsfunktion entwickelten Maßstäbe könnten auf Sonderabgaben im weiteren Sinne nicht übertragen werden.116 Welche Rechtsmaßstäbe gelten, bleibt ungewiss.117 Zu beobachten ist eine Kasuistik, die kaum verallgemeinerbar ist und deren Akzeptanz eher von der Plausibilität des jeweils erzielten Ergebnisses lebt. Gesichert ist lediglich, dass die Sonderabgabe im weiteren Sinne als nichtsteuerliche Abgabe einer besonderen Rechtfertigung aus Sachgründen bedarf.118 Mit aller Vorsicht kann gesagt werden, dass die Ausgleichsabgabe jedenfalls unterscheidungskräftige Abgrenzungsmerkmale gegenüber der Steuer aufweisen und der Belastungsgleichheit der Bürger Rechnung tragen muss.119 Am Beispiel der – verfassungswid110

BVerfGE 78, 249 (267 f.); dazu Karpen, JZ 1989, 395 f. BVerfGE 93, 319 (345 f.); dazu Raber, NVwZ 1997, 219 ff.; Britz, JuS 1997, 404 ff.; krit. Thiemann, AöR 138 (2013), 60 (83): bedenkliche Ausweitung der Sonderabgaben. 112 Vgl. oben II. 2., Text zu Fn. 39. 113 BGH, NVwZ 2014, 1180 (m. Anm. M. Ehrmann). 114 Jachmann (Fn. 30), Art. 105 Rn. 20. 115 Vgl. etwa – Anforderungen offen lassend – BVerfG-K, NVwZ 2009, 837 (839). 116 BVerfGE 57, 139 (167); 67, 256 (278); 78, 249 (269); BVerfG-K, NVwZ 2009, 837 (838); zum Teil a. A. Germelmann, GewArch 2009, 476 (479). 117 Droege, Die Verwaltung 46 (2013), 313 (321): Die Anforderungen bleiben konturenarm und hoch kasuistisch. 118 BVerfGE 78, 249 (269); BVerfG-K, NVwZ 2003, 467 (470). 119 BVerfGE 57, 139 (167 f., 169 f.) zur Schwerbehindertenabgabe; BVerfG-K, NVwZ 2009, 837 (838, 839) zum Ausgleichsbetrag für Stellplätze; BVerwGE 81, 220 (225) zur 111

Flexibilisierung der Sonderabgabendogmatik durch das BVerfG

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rigen – Feuerwehrabgabe ist allerdings deutlich geworden, dass auch die (primäre) Verhaltenspflicht als solche (Feuerwehrdienst) verfassungsmäßig sein muss und sich diese Pflicht in der Rechtswirklichkeit aktualisiert.120 Eine spezifische Sachnähe der Abgabepflichtigen sowie die gruppennützige Verwendung des Abgabenaufkommens sollen unbeachtlich sein.121 Die Abschöpfungsabgabe trägt ihre Legitimation – bei Beachtung der Belastungsgleichheit der Abgabepflichtigen – offenbar in sich; die Abschöpfung eines unverdienten Sondervorteils erscheint als ein Ausdruck unmittelbarer Gerechtigkeit.122 V. Fazit: Gestaltungsmacht des Bundesverfassungsgerichts In ihrem Gutachten „Neuordnung der Finanzbeziehungen“ zum 70. Deutschen Juristentag 2014 empfehlen die Gutachter „die Beibehaltung der strengen Anforderungen, die die Gesetzgeber des Bundes und der Länder nur in Ausnahmefällen zu dem Notinstrument der Sonderabgabe greifen lassen“.123 Dieser Empfehlung liegt offensichtlich eine unzureichende Diagnose zu Grunde. Die Sonderabgaben im weiteren Sinne können ohnehin nicht gemeint sein. Aber auch bei den Zulässigkeitskriterien für Sonderabgaben mit Finanzierungsfunktion wurde bereits vor zehn Jahren erkannt, dass die vom Bundesverfassungsgericht postulierten Voraussetzungen vage und deutungsfähig sind.124 In der Folgezeit hat das Gericht seine Kriterien sukzessive aufgeweicht und damit der Sonderabgabengesetzgebung Vorschub geleistet.125 An diesem Befund ändert auch der Umstand nichts, dass eine Korrektur der früheren Judikatur126 zum Absatzfonds der Land- und Ernährungswirtschaft127 und zum Absatzfonds der Holzwirtschaft128 vorgenommen worden ist. Das Ergebnis der Anwendung seiner Kriterien im Einzelfall durch das Bundesverfassungsgericht ist schon früher nicht immer vorhersehbar gewesen.129 Die Verknüpfung der Kriterien zu einem beweglichen System (s. o. III. 3.) hat die Berechenbarnaturschutzrechtlichen Ausgleichsabgabe. – Zusätzlich eine Zweckbindung zum Abgabenaufkommen fordernd H. Jochum, StuW 2006, 134 (142); dies ausdrücklich offen lassend BVerfG-K, NVwZ 2009, 837 (839). 120 BVerfGE 92, 91 (118); erläuternd Jachmann (Fn. 30), Art. 105 Rn. 20. 121 BVerfG-K, NVwZ 2009, 837 (838); a. A. bzgl. der Sachnähe Germelmann, GewArch 2009, 476 (479). 122 BVerfGE 78, 249 (267 f.) zur Fehlbelegungsabgabe; BVerfGE 93, 319 (345 f.) und BVerfG-K, NVwZ 2003, 467 (469 f.) zum (Grund-)Wasserentnahmeentgelt. 123 Kempny/Reimer (Fn. 40), S. 84. 124 Ossenbühl, DVBl 2005, 667 (670): „Zerfließen ins Uferlose“. 125 Waldhoff, in: HStR V (Fn. 22), § 116 Rn. 93. 126 BVerfGE 82, 159 (182 ff.). 127 BVerfGE 122, 316 (335 ff.). – Unterschiede zum Weinabsatzfonds betonend BVerfG, NVwZ 2014, 1306 Rn. 140. 128 BVerfGE 123, 132 (143 ff.). 129 Germelmann, GewArch 2009, 476.

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keit der Sonderabgabenjudikatur zusätzlich erschwert. Mit der Flexibilisierung der Dogmatik zu den Sonderabgaben hat sich das Bundesverfassungsgericht aber auch (Mit-)Gestaltungsoptionen geschaffen: Statt einer „harten“ Kontrolle des Abgabengesetzgebers findet das „geschmeidige“ Begleiten politischer Gestaltung von Lebenssachverhalten statt; eine am Ergebnis orientierte Betrachtungsweise ist dabei nicht ausgeschlossen. Das jüngste Beispiel dafür ist die Billigung der Filmabgabe nach dem Filmförderungsgesetz; eine „Gruppenhomogenität“ von verschiedenen Teilgruppen der Abgabepflichtigen (mit signifikanten Interessengegensätzen) wird behauptet, die – angeblich zentralen – Merkmale der „Sachnähe“ und „Finanzierungsverantwortlichkeit“ erfahren nicht die ihnen an sich zustehende Aufmerksamkeit, und die „gruppennützige Verwendung“ des Abgabenaufkommens wird kurzerhand aus dem Sachzweck der Abgabe hergeleitet.130 Im Ergebnis hat das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber bestätigt. Sein bewegliches System kann das Gericht allerdings auch mit einem anderen Resultat zur Anwendung bringen. Denn im Abgabenrecht, speziell bei den Sonderabgaben, ist das Bundesverfassungsgericht längst aus der Funktion eines Hüters der Verfassung und Kontrolleurs des Gesetzgebers hinausgewachsen; es hat sich ein Instrumentarium zur Mitgestaltung des Gemeinwesens zugelegt. Derartiges ist freilich im Grundgesetz nicht vorgesehen.

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BVerfG, NVwZ 2014, 646 Tz. 131 ff. und Tz. 149 ff.

Pauschale Aufteilung gemischt veranlasster Reisekosten? Von Hartmut Söhn, Passau I. Vom Abzugsverbot zum Aufteilungsgebot Eine Aufteilung betrieblich/beruflich und privat veranlasster Aufwendungen (gemischt veranlasste Aufwendungen; Mischaufwendungen) setzte nach der früheren Rechtsprechung voraus, dass der betrieblich veranlasste Teil nicht nur von untergeordneter Bedeutung war und „objektive Merkmale und Unterlagen“ „eine zutreffende und leicht nachprüfbare Trennung“ ermöglichten1. Anderenfalls sollte aus § 12 Nr. 1 S. 2 EStG ein „Aufteilung- und Abzugsverbot“ folgen. Allerdings wurde bereits 1978 vom Großen Senat zur Aufrechterhaltung der bisherigen Praxis („traditionelle Gründe“) eine Ausnahme bei den laufenden und festen Kosten eines betrieblich/beruflich und privat genutzten Kraftfahrzeugs gemacht. Später hat die Rechtsprechung weitere Ausnahmen bei den Kosten eines betrieblich/beruflich und privat genutzten (privaten) Telefonanschlusses (Grundgebühren, laufende Gebühren)2 zugelassen, obwohl die Grundgebühren nicht nur für ausgehende, sondern auch für eingehende Anrufe gezahlt wurden und jedenfalls insoweit nicht verifizierbar war, ob ein einzelner Anruf betrieblich/beruflich oder privat oder gemischt veranlasst war, ferner bei Aufwendungen für einen privat angeschafften, in der privaten Wohnung aufgestellten und gemischt genutzten PC eine regelmäßige hälftige Aufteilung erlaubt3. Speziell bei Reisekosten hatte die Judikatur zwar u. a. den Abzug der Aufwendungen für die Teilnahme an einer beruflichen Fortbildungsveranstaltung auch dann zugelassen, wenn der Veranstaltung ein Urlaubsaufenthalt an demselben Ort vorangegangen war4, aber an dem Grundsatz festgehalten, dass die Kosten der An- und Rückreise einschließlich Reisenebenkosten „einheitlich“ betrachtet werden müssten und deshalb bei einer nicht unwesentlichen betrieblichen/beruflichen Mitveranlassung der Reise insgesamt nicht als Betriebsausgaben/Werbungskosten abzugsfähig seien. Alles in allem war die Beurteilung gemischt veranlasster Aufwendungen in 1 Vgl. grundlegend BFH v. 19. 10. 1970 – GrS 2/70, BStBl II 1971,17; ferner: BFH v. 19. 10. 1970 – GrS 3/70, BStBl II 1971, 21; BFH v. 27. 11. 1978 – GrS 8/77, BStBl II 1979, 213; BFH v. 18. 5. 1984 – VI R 130/80, BStBl II 1984, 588; BFH v. 13. 3. 1986 – IV R 118/84, BFH/NV 198 6,466; BFH v. 26. 7. 1989 – X R 7/87, BFH/NV 1990, 441. 2 BFH v. 21. 11. 1980 – VI R 202/79, BStBl II 1981, 131. 3 BFH v. 19. 2. 2004 – VI 135/01, BStBl II 2004, 958 (961 f.). 4 BFH v. 23. 4. 1992 – IV R 27/91, BStBl II 1992, 898.

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Gesetzgebung und Rechtsprechung seit dem Preuß. EStG 18915 wechselhaft, höchst unterschiedlich und zum Teil widersprüchlich6. Im Schrifttum ist die Ableitung eines allgemeinen Aufteilungs- und Abzugsverbots aus § 12 Nr. 1 S. 2 EStG von Anfang an nahezu einhellig abgelehnt worden7. Denn die Vorschrift gilt nach ihrem insoweit eindeutigen Wortlaut und der Entstehungsgeschichte lediglich für sog. Repräsentationsaufwendungen. Aus dem vom Großen Senat im Beschluss vom 19. 10. 19708 zur Begründung eines allgemeinen Aufteilungs- und Abzugsverbots angeführten Grundsatz der Steuergerechtigkeit lässt sich tatsächlich nichts Gegenteiliges ableiten. Zwar ist es „richtig und gerecht“, dass Steuerpflichtige Aufwendungen für ihre Lebensführung nicht zum Teil in den einkommensteuerlich relevanten Bereich verlagern können. Dass aufteilbare Aufwendungen nicht aufgeteilt werden und ein nur betrieblich/beruflich veranlasster Kostenanteil nicht abzugsfähig ist, ist indessen weder „richtig“ noch „gerecht“, weil es dem Grundsatz der Steuergerechtigkeit im Sinne der Lastengleichheit bei gleicher Leistungsfähigkeit widerspricht. Steuerpflichtige, denen derartige Aufwendungen entstanden sind, werden nur bei einer Abzugsfähigkeit der betrieblich/beruflich veranlassten Kostenanteile leistungsfähigkeitskonform („gerecht“) besteuert9. Der Große Senat des BFH hat im Jahre 2009 entschieden, dass Aufwendungen für die Hin- und Rückreise bei gemischt betrieblich/beruflich und privat veranlassten Reisen grundsätzlich in abziehbare Betriebsausgaben/Werbungskosten und nicht abziehbare Aufwendungen für die private Lebensführung aufgeteilt werden können, falls die betrieblich/beruflich veranlassten Zeitanteile feststehen und nicht von untergeordneter Bedeutung sind10. Die namentlich seit den Entscheidungen des Großen Senats vom 19. 10. 197011 und vom 27.11. 197812 vertretene Ansicht, dass § 12 Nr. 1 S. 2 EStG ein allgemeines Aufteilung- und Abzugsverbot für gemischt veranlasste Aufwendungen vorsehe, wurde ausdrücklich aufgegeben13. Der bis dahin praktizierte Grundsatz der Nichtaufklärbarkeit wird damit zur Ausnahme, die in der Vergangenheit zugelassenen Ausnahmen von der Aufteilbarkeit werden die Regel. Ver-

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Gesetz-Sammlung für die Königlich preußischen Staaten, 1891, 175. BFH v. 21. 9. 2009 – GrS 1/06, BStBl II 2010, 672 (674 ff.) m.w.N. 7 Vgl. bereits Söhn, DStJG 3 (1980), 13 (51 ff.) sowie BFH v. 21. 9. 2009 – GrS 1/06, BStBl II 2010, 672 (674 ff.) jeweils m.w.N. 8 BFH v. 19. 10. 1970 – GrS 2/70, BStBl II 1971,17; BFH v. 19. 10. 1970 – GrS 3/70, BStBl II 1971, 21. 9 Söhn, Aufteilbarkeit gemischt veranlasster Aufwendungen – Zum Beschluss des Großen Senats des BFH vom 21. 9. 2009 – GrS 1/06, Festschrift für Spindler, 2011, 795 (796). 10 BFH v. 21. 9. 2009 – GrS 1/06, BStBl II 2010, 672. 11 BFH v. 19. 10. 1970 – GrS 2/70, BStBl II 1971,17; BFH v. 19. 10. 1970 – GrS 3/70, BStBl II 1971, 21. 12 BFH v. 27. 11. 1978 – GrS 8/77, BStBl II 1979, 213. 13 BFH v. 21. 9. 2009 – GrS 1/06, BStBl II 2010, 672 (680 ff.). 6

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waltung14 und Schrifttum15 haben dieser neuen Rechtsprechung im Grundsätzlichen durchweg zugestimmt. II. Grundsätzliches zum Aufteilungs- und Abzugsgebot für Mischaufwendungen Der Große Senat des BFH stützt sich auf allgemein anerkannte Besteuerungsgrundsätze, insbesondere auf das objektive Nettoprinzip (Besteuerung nach der objektiven Leistungsfähigkeit). Für die Besteuerung des Einkommens ist die Unterscheidung zwischen der durch die einzelnen Einkunftsarten definierten Erwerbssphäre und der Sphäre der Einkommensverwendung prägend. Deshalb muss bei angefallenen Aufwendungen zwischen den den jeweiligen Einkünften zuzuordnenden Erwerbsaufwendungen (Betriebsausgaben/Werbungskosten) einerseits und den – grundsätzlich nicht abzugsfähigen – Kosten der Lebensführung andererseits unterschieden werden. Aufwendungen sind durch eine steuerbare Tätigkeit veranlasst, wenn sie hierzu in einem steuerrechtlich anzuerkennenden wirtschaftlichen Zusammenhang stehen (Veranlassungsprinzip). Für das Bestehen eines solchen Zusammenhangs ist zum einen die – wertende – Beurteilung des die betreffenden Aufwendungen „auslösenden Moments“, zum anderen dessen Zuweisung zur einkommensteuerrechtlich relevanten Erwerbssphäre maßgebend.16 „Auslösendes Moment“ meint den steuerrelevanten Anlass (Ursache) einer Aufwendung, der anhand der gesamten Umstände des jeweiligen Einzelfalles im Wege einer wertenden Beurteilung aus einer möglichen Vielzahl tatsächlicher Ursachen (i.S. der Äquivalenztheorie) ermittelt werden muss. Den Steuerpflichtigen trifft insoweit eine umfassende Darlegungsund Nachweispflicht17. Sind Aufwendungen sowohl betrieblich/beruflich als auch privat veranlasst, lässt die Rechtsprechung einen qualitativ unbedeutenden betrieblichen/beruflichen Anlass seit jeher unberücksichtigt18. Entsprechendes gilt für einen qualitativ unbedeu14

BMF v. 5. 7. 2010, BStBl I 2010, 614. Vgl. z. B.: Loschelder in: Schmidt, EStG33, 2014, § 12 Rn. 2 ff. ; P. Fischer, NWB 2010, 412; Günther, EStB 2010, 151; Jochum, DStZ 2010, 665; Kanzler, NWB 2010, 168; Kanzler, StbJb 2010/2011, 43; Kempermann, FR 2010, 233; G. Kirchhof, Festschrift für Joachim Lang, 2010, 563 ff.; Leisner-Egensperer, DStZ 2010, 185; Ortmann-Babel, BB 2010, 296; Pezzer, DStR 2010,93; Schwenke, FR 2011, 1051; Seiler, in: Kirchhof, EStG13, 2014, § 12 Rn. 3 ff.; Söhn, Aufteilbarkeit gemischt veranlasster Aufwendungen – Zum Beschluss des Großen Senats des BFH vom 21. 9. 2009 – GrS 1/06, Festschrift für Spindler, 2011, 795 (796 ff.); Spindler, Festschrift für Joachim Lang, 2010, 589 ff.; Wied, in: Blümich, EStG, §4 Rn. 567; kritisch Urban, DS 2010, 87 (91); ablehnend Steck, DStZ 2011, 193. 16 Ständige Rechtsprechung, vgl. z. B. BFH v. 21. 10. 2010 – VI R 5/07, BStBl II 2010, 687; BFH v. 7. 5. 2013 – VIII R 51/10, BStBl II 2013, 808 (809 f.); vgl. ferner Söhn, in: Kirchhof/ Söhn/Mellinghoff, EStG, § 4 Rn. 65 ff. jeweils m.w.N. 17 BFH v. 3. 6. 2011 – VIII B 18/10, BFH/NV 2011, 1346. 18 BFH v. 18.5. 2005 – VIII R 43/03, BFH/NV 2005, 2174; BFH v. 17.12. 2009 – X B 115/ 09, BFH/NV 2010, 1249; vgl. ferner BMF v. 6. 7. 2010, BStBl I 2010, 614 sowie bereits Söhn, VDStjG 3 (1980), 13 (66 ff.). 15

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tenden privaten Anlass. Das bedeutet: Ein unbedeutender Veranlassungsbeitrag ist kein steuerrelevanter Anlass, sondern wird im Wege einer wertenden Beurteilung als „auslösendes Moment“ ausgeschieden (Kausalitätstheorie der Unbeachtlichkeit einer qualitativ unbedeutenden Mitveranlassung)19. Die Frage einer Aufteilung gemischt veranlasster Aufwendungen stellt sich nicht mehr. Eine qualitativ unbedeutende private Mitveranlassung schließt den vollständigen Abzug von Aufwendungen als Betriebsausgaben/Werbungskosten nicht aus und umgekehrt eröffnet eine unbedeutende betriebliche/berufliche keinen Betriebsausgaben-/Werbungskostenabzug20. Eine solche Bewertung (Gewichtung) von Anlässen (Ursachen) und die Auswahl des für die Besteuerung relevanten Anlasses (Ursache) im Wege einer Wertung ist eine besondere juristische Kausalitätstheorie für Zwecke der Einkommensbesteuerung. Daraus folgt zunächst, dass eine bloße äquivalenztheoretische Betrachtung („conditio sine qua non“) zu kurz greift21. Sind Aufwendungen im Sinne der Äquivalenztheorie betrieblich/beruflich und privat veranlasst, ist zusätzlich in jedem Einzelfall zu prüfen (bewerten), ob die betriebliche/berufliche oder die private Mitveranlassung qualitativ unwesentlich ist. Dass eine private Veranlassung „überwiegt“ oder „den Schwerpunkt“ bildet, indiziert allerdings noch nicht zwangsläufig eine „qualitativ unbedeutende“ betriebliche/berufliche Mitüberlassung. Entsprechendes gilt im umgekehrten Fall. Ein fester Prozentsatz für eine qualitativ unbedeutende Mitveranlassung, z. B. die in anderen Zusammenhängen praktizierte 10 %-Ba-

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Zustimmend: Hey, in Tipke/Lang, Steuerrecht, 21. Auflage, 2013, § 8 Rz. 220 f. m.w.N. Eine unbesehene und unkritische Übernahme einer juristischen Kausalitätstheorie aus anderen Rechtsgebieten wurde von der älteren Rechtsprechung abgelehnt (BFH v. 16. 2. 1970 – VI R 254/68, BStBl II 1970,662; BFH v. 28. 11. 1977 – GrS 2 – 3/77, BStBl II 1978,105 (108)). Das bedeutete aber keine Absage an eine steuerrechtliche Kausalitätstheorie (a.A.: Offerhaus, BB 1979, 617 (620); Ruppe, VDStjG 3 (1980), 103 (156 ff.)). Vielmehr gilt Folgendes: Die zivilrechtliche Adäquanztheorie ist für die Zuordnung von Aufwendungen zu Erwerbs- oder Privatsphäre untauglich, weil die Wahrscheinlichkeit einer Aufwendungen nicht entscheidend sein kann (Söhn, VDStjG 3 (1980), 13 (29) m.w.N.). Die Äquivalenztheorie kann zwar aussagen, dass eine Bedingung kausal war und ist insofern Ausgangspunkt einer steuerrechtliche Kausalitätstheorie; denn der notwendige Zusammenhang zwischen Aufwendungen und einer steuerbaren Tätigkeit setzt jedenfalls eine Verursachung im philosophisch-logisch-naturwissenschaftlichen Sinne voraus (Jüptner, Leistungsfähigkeit und Veranlassung, 1987/88, 156 ff.). Die Äquivalenztheorie kann jedoch nicht allein bestimmen, ob bei betrieblichen/ beruflichen und privaten Ursachen Betriebsausgaben/Werbungskosten oder Privatausgaben vorliegen (Söhn, VDStjG 3 (1980), 13 (74, 414 f.)). Hierfür ist vielmehr die Entwicklung einer besonderen einkommensteuerrechtlichen Kausalitätstheorie der „Unbeachtlichkeit einer qualitativ unbedeutenden Mitveranlassung“ erforderlich und insoweit ist die im gesetzlichen Unfallversicherungsrecht, im Kriegsopferversorgungsrecht und dem Recht der beamtenrechtlichen Unfallfürsorge praktizierte Theorie von der „wesentlichen Verursachung“ i.E. ein geeigneter Ansatz (Kirchhof, VDstjG 3 (1980), 201 (204 f.); Söhn, VDStjG 3 (1980), 13 (70) m.w.N.; Tipke, StuW 1979, 193 (198, 201)). 20 BFH v. 17. 12. 2009 – X B 115/09, BFH/NV 2010, BFH v. 25. 2. 2010 – IV B 57/09, BFH/NV 2010, 880; BFH v. 7. 5. 2013 – VIII R 51/10, BStBl II 2013, 808 (810). 21 A.A.: Kanzler, StbJb 2010/2011, 43 (52).

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gatellgrenze22, hat sicherlich Praktikabilitätsgründe für sich. Indes können die Umstände des Einzelfalles u. U. gegen die Anwendung einer solchen starren Grenze sprechen23. III. Ausnahmen vom allgemeinen Aufteilungsgebot für gemischt veranlasste Aufwendungen 1. Untrennbare Mischaufwendungen Sind Aufwendungen betrieblich/beruflich und privat veranlasst („doppelmotivierte“ Aufwendungen) und ist jeder Veranlassungsbeitrag für sich betrachtet nicht qualitativ unwesentlich, scheidet eine Aufteilung aus, falls objektivierbare Kriterien für eine Aufteilung fehlen. Die Aufwendungen sind insgesamt keine abzugsfähigen Betriebsausgaben/Werbungskosten. Was der Große Senat des BFH insoweit für Reisekosten entschieden hat24, gilt allgemein. Eine zum Teil im Schrifttum vertretene Ansicht, dass jede gemischt veranlasste Aufwendung aufteilbar sei und erforderlichenfalls im Schätzungswege aufgeteilt werden müsse25, wird damit zutreffend zurückgewiesen. Ein betrieblicher/ beruflicher Veranlassungsbeitrag ist nicht schätzbar, sondern muss nachgewiesen werden. Das setzt zwingend „nachvollziehbare Aufteilungskriterien“ voraus26 ; anderenfalls ist eine Aufteilung willkürlich und unzulässig27. Ohne objektivierbare Aufteilungskriterien sind gemischt veranlasste Aufwendungen „steuerlich untrennbar“ und nicht teilweise als Betriebsausgaben/Werbungskosten abzugsfähig.

22 Befürwortend: BFH v. 18. 5. 2005 – VIII R 43/03, BFH/NV 2005, 2174; BMF v. 6. 7. 2010, BStBl I 2010, 614 (615); Albert, FR 2010, 1220 (222, 224); Loschelder, in: Schmidt, EStG33, 2014, § 12 Rn. 4; Kanzler, StbJb 2010/2011, 43 (60); Sailer, in: Kirchhof, EStG13 , 2014, § 12 Rn. 8 Stichwort „Reisekosten“; ablehnend: P. Fischer, NWB 2010, 412 (418); Schwenke, FR 2011, 1051 (1053); Wied, in: Blümich, EStG, § 4 Rn. 567. 23 Schwenke, FR 2011, 1051 (1053). 24 BFH v. 21. 9. 2009 – GrS 1/06, BStBl II 2010,672 (684); zustimmend: BMF v. 6. 7. 2010, BStBl I 2010, 614 (616); Lindberg, in: Blümich, EStG, § 2 Rn. 53, 57 f.; Schwenke, FR 2011, 1051 (1053 f.); Pezzer, DStR 2010, 93 (95). Die Behauptung von Steck (DStZ 2011, 191 (207)), dass für die Nichtabzugsfähigkeit eine Rechtsgrundlage fehle, ist abwegig. 25 Vgl. z. B. Arndt, in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 12 Rn. 74 f.; Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1981/88, 329 FN 303; ders., StuW 2007, 3 (11); Ruppe, DStJG 3 (1980), 103 (140 ff.); Tipke, DStJG 3 (1980), 1 (9); Weber, StuW 2009, 184 (194). 26 BFH v. 3. 5. 2011 – VIII B 18/10, BFH/NV 2011, 1346. 27 BFH v. 29. 10. 1985 – IX R 56/82, BStBl II 1986, 143 (146); Fissenewert, in: Herrmann/ Heuer/Raupach, EStG, §12 Rn. 73; Schwenke, FR 2011, 1051 (1054).

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2. Gesetzliche Sonderregelungen Das allgemeine Aufteilungsgebot für gemischt veranlasste Aufwendungen gilt nicht, wenn und soweit durch gesetzliche Sonderregelungen etwas anderes bestimmt ist. (Nur) Der Gesetzgeber kann einmal durch eine konstitutive Ausnahmevorschrift anordnen, dass untrennbare und deshalb an sich insgesamt nicht als Betriebsausgaben/Werbungskosten abzugsfähige Aufwendungen teilweise steuerlich abzugsfähig sind. Ein Beispiel hierfür sind §§ 4 Abs. 5 Nr. 5, § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 6 EStG. Danach sind betrieblich veranlasste Verpflegungsmehraufwendungen in bestimmter Höhe abzugsfähige Betriebsausgaben, obwohl Ausgaben für die eigene Verpflegung immer zugleich ein privates Grundbedürfnis befriedigen, deshalb immer auch wesentlich privat mitveranlasst sind und eine Abgrenzung des betrieblich veranlassten Teils anhand objektiver Aufteilungskriterien tatsächlich unmöglich ist28. Die betriebliche Mitveranlassung ist hier indes nach Ansicht des Gesetzgebers so gewichtig, dass eine völlige steuerliche Nichtberücksichtigung dem objektiven Nettoprinzip „am wenigsten“ entspräche und der betragsmäßig begrenzte Abzug folglich mehr steuerlichen Gerechtigkeit und mehr objektives Nettoprinzip bringt29. Ein weiteres Beispiel ist § 9 Abs. 1 S. 3 Nr. 6 EStG (Abzug der Kosten für die Anschaffung typischer Berufskleidung als Werbungskosten). (Nur) Der Gesetzgeber kann ferner vorsehen, dass Mischaufwendungen nicht partiell als Betriebsausgaben/Werbungskosten abzugsfähig sind, um eine doppelte steuerliche Berücksichtigung zu vermeiden. Hauptbeispiel sind Aufwendungen für das sog. steuerliche Existenzminimum, die nach § 32a EStG pauschal abgegolten werden (subjektives Nettoprinzip). Zu den Kosten des Existenzminimums gehören die „unverzichtbaren“ Aufwendungen für die persönliche Lebensführung eines jeden Menschen, insbesondere für Wohnen (einschließlich Übernachtung), Hausrat, Heizung, Hygiene, Verpflegung, Bekleidung und Gesundheit (sächliches Existenzminimum)30, nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht außerdem Aufwendungen für eine Kranken- und Pflegeversicherung, insbesondere entsprechende Versicherungsbeiträge31. Als Kosten der persönlichen (privaten) Existenz sind unverzichtbare Aufwendungen für die persönliche Existenz wesentlich privat, jedoch keineswegs immer ausschließlich privat veranlasst, sondern können auch betrieblich/beruflich mitveranlasst sein. Beispiele hierfür sind insbesondere Übernachtungskosten und Verpflegungsaufwendungen auf Dienstreisen, Kosten zur Förderung der Gesundheit, die zugleich der Erhaltung und Wiederherstellung der Arbeitskraft dienen, die Kosten für die bei der Arbeit getragene bürgerliche Kleidung, Aufwendungen für eine eine Sehschwäche korrigierende 28

So zutreffend Drenseck, DB 1987, 2483. Vgl. auch Söhn, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 4 Rn. E 123. 30 BMF v. 6. 7. 2010, BStBl I 2010, 614 (615) m.w.N. 31 BVerfG v. 13. 2. 2008 – 2 BvL 1/06, BVerfGE 120, 125; BVerfG v. 13. 2. 2008 – 2 BvR 1220/04, BVerfGE 120, 169 (179); dazu Söhn, Festschrift für Joachim Lang, 2010, 549 ff. m.w.N. 29

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Brille oder eines auch während der beruflichen Tätigkeit wegen Schwerhörigkeit verwendeten Hörgeräts32. Soweit Kosten des Existenzminimums auch betrieblich/ beruflich mitveranlasst sind, liegen regelmäßig untrennbare Mischaufwendungen vor, weil objektivierbare Aufteilungskriterien fehlen. Ein Abzug als Betriebsausgaben/Werbungs-kosten käme folglich mangels Aufteilbarkeit in einen nur betrieblich/ beruflichen und einen nur privat veranlassten Teil nicht in Betracht. Die steuerliche Berücksichtigung im Rahmen des Existenzminimums ist folglich in diesen Fällen eine konstitutive Ausnahme vom Grundsatz, dass untrennbare Mischaufwendungen insgesamt nicht steuerlich abzugsfähig sind33. IV. Insbesondere: Reisekosten 1. Grundsatz: Aufteilungsgebot für gemischte Reisekosten Ob und inwieweit Reisekosten Betriebsausgaben/Werbungskosten oder private Aufwendungen sind, hängt nach Ansicht des Großen Senats des BFH von den „Gründen“ ab, aus denen der Steuerpflichtige die Reise oder Einzelteile einer Reise unternimmt. Die Gründe bildeten das „auslösende Moment“. Gemeint sind damit die steuerrelevanten Anlässe/Ursachen einer Reise, die anhand der gesamten Umstände des Einzelfalles im Wege einer wertenden Beurteilung aus einer möglichen Vielzahl tatsächlicher Ursachen i.S. der Äquivalenztheorie ermittelt werden müssen. Dabei obliegt dem Steuerpflichtigen eine umfassende Darlegungs- und Nachweispflicht. Denn nach den Regeln über die objektive Beweislast im Besteuerungsverfahren trägt der Steuerpflichtige die materielle Beweislast für das Vorliegen von Betriebsausgaben/Werbungskosten34. Insbesondere für Auslandsgruppenreisen gelten insoweit die im Beschluss des Großen Senats vom 20. 11. 197835 entwickelten strengen Abgrenzungsmerkmale unverändert weiter, so dass für eine betriebliche/berufliche Veranlassung neben einer fachlichen Organisation vor allem maßgebend ist, dass das Programm auf die besonderen betrieblichen/beruflichen Bedürfnisse der Teilnehmer zugeschnitten und der Teilnehmerkreis im Wesentlichen gleichartig (homogen) ist36. Erst wenn ein nicht nur unbedeutender betrieblicher/beruflicher Veranlassungsbeitrag einer Reise dem Grunde nach nachgewiesen ist, kommt eine schätzungsweise Aufteilung der angefallenen Kosten und ein Abzug des betrieblich/be32

Vgl. Söhn, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 4 Rn. 115 ff. m.w.N. Zur kontrovers diskutierten Abzugsfähigkeit von Aufwendungen für ein Zimmer, dass zwar kein nahezu ausschließlich betrieblich/beruflich genutztes häusliches Arbeitszimmer ist, aber teilweise für betriebliche/berufliche Zwecke genutzt wird, vgl. Söhn, in: Kirchhof/Söhn/ Mellinghoff, EStG, § 4 Rn. 122 m.w.N. 34 Vgl. statt vieler Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 88 AO Rn. 342 ff., 368 m.N. 35 BFH v. 27. 11. 1978 – GrS 8/77, BStBl II 1979, 213. 36 Vgl. z. B. BFH v. 29. 8. 2007 – X B 210/06, BFH/NV 2007, 2106 (2107 f.); BFH v. 21. 4. 2010 – VI R 5/07, BStBl I 2010, 687 (688 f.); BFH v. 19. 1. 2012 – VI R 3/11, BStBl II 2012, 416. 33

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ruflich veranlassten Kostenteils als Betriebsausgaben/Werbungskosten in Betracht (Nettoprinzip)37. Lassen sich keine Gründe feststellen, die eine betriebliche/berufliche (Mit-)Veranlassung einer Reise belegen, gehen entsprechende Zweifel „zulasten des Steuerpflichtigen“ (objektive Beweislast)38. Sind Reisekosten ausschließlich oder nahezu ausschließlich der betrieblichen/beruflichen Sphäre zuzuordnen, sind die Aufwendungen in vollem Umfang als Betriebsausgaben/Werbungskosten abzugsfähig. Aufwendungen, die sowohl den betrieblichen/beruflichen als auch den privaten Reiseteil betreffen (sog. doppelmotivierte Reise) – Hauptbeispiel sind die Kosten der Hin- und Rückreise zu einem betrieblich/beruflich und privat veranlassten Auslandsaufenthalt –, müssen grundsätzlich aufgeteilt werden, sofern die betriebliche/berufliche oder die private Mitveranlassung nicht von untergeordneter Bedeutung („qualitativ unwesentlich“) ist. Als naheliegender und sachgerechter Aufteilungsmaßstab kommen nach Ansicht des Großen Senats des BFH die betrieblichen/beruflichen oder privaten Zeitanteile einer Reise in Betracht. Dem ist zuzustimmen, weil die Zeitanteile einer Reise objektivierbare Kriterien darstellen, die eine Aufteilung zulassen. Der 6. Senat des BFH hat zwar entschieden, dass bei einer gebotenen Aufteilung von Reisekosten auch ein anderer als der zeitliche Aufteilungsmaßstab angezeigt sein könne39, aber keinen anderen Aufteilungsmaßstab genannt. Der Einwand, dass eine Aufteilung „kausaltheoretisch“ nicht überzeugen könne, da der Steuerpflichtige ohne die An- und Abreise auch nicht an einer betrieblichen/ beruflichen Veranstaltung am Aufenthaltsort habe teilnehmen können40, kann eine anteilige Zuordnung der Reisekosten zur betrieblichen/beruflichen und zur privaten Sphäre nicht infrage stellen, weil eine bloße kausaltheoretische Betrachtung zu kurz greift. Kausalität i.S. der Äquivalenztheorie ist für eine steuerrechtlich relevante Veranlassung zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung. Vielmehr ist zusätzlich eine wertende Betrachtung (Gewichtung) der verschiedenen Anlässe/Ursachen i.S. der Äquivalenztheorie erforderlich und jeder wertungsmäßig nicht nur qualitativ unwesentliche Anlass (Ursache) ist steuerrechtlich relevant. Welche Zeitanteile für eine Aufteilung von Reisekosten in Betracht kommen können, kann im Einzelfall fraglich sein. Eine Aufteilung „nach Tagen“ dürfte die praktische Regel sein, eine Aufteilung nach „kleineren Zeiteinheiten“ (Stunden) ist aber ebenfalls möglich. So lassen sich z. B. 120 Stunden für den Besuch betrieblich/beruflich veranlasster Kurse eines angehenden Sportmediziners von dem Zeitanteil für die – auch beim Sportmediziner wesentlich privat mitveranlasste – Ausübung „privater Sportarten“ – abgrenzen41. Beträgt der private Anteil einer Reise mehrere Tage, der betriebliche/berufliche hingegen nur mehrere Stunden oder umgekehrt, 37

BFH v. 21.9. 2009 – GrS 1/06, BStBl II 2010, 672. BFH v. 7.5. 2013 – VIII R 51/10. BStBl II 2013, 808 (810). 39 BFH v. 24. 2. 2011 – VI R 12/10, BStBl II 2011, 796. 40 Kanzler, StbJB 2010/2011, 43 (52). 41 BFH v. 21. 4. 2010 – VI R 66/04, BStBl II 2010,685; Schwenke, FR 2011, 1051 (1056). 38

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muss durch eine Wertung des Einzelfalles entschieden werden, ob der betriebliche/ berufliche bzw. der private Anteil „qualitativ unwesentlich“ ist oder die Aufwendungen aufgeteilt werden müssen42. 2. Ausnahme: Unteilbare Reisekosten Greifen betriebliche/berufliche und private Veranlassungsbeiträge einer Reise, die jeweils für sich betrachtet nicht qualitativ unwesentlich sind, so ineinander, dass objektivierbare Kriterien für eine Aufteilung fehlen, sind die Reisekosten insgesamt nicht als Betriebsausgaben/Werbungskosten abzugsfähig43. Der betriebliche/ berufliche Veranlassungsbeitrag einer Reise ist nicht schätzbar, sondern muss anhand „nachvollziehbarer Aufteilungskriterien“ nachgewiesen werden44. Ohne objektivierbare Aufteilungskriterien sind gemischt veranlasste Reisekosten „steuerlich untrennbar“ und deshalb insgesamt nicht als Betriebsausgaben/Werbungskosten abzugsfähig. Das unterschiedliche Gewicht der verschiedenen Veranlassungsbeiträge kann zwar nach Ansicht des Großen Senats im Einzelfall einen anderen Aufteilungsmaßstab als eine Aufteilung nach betrieblichen/beruflichen und privaten Zeitanteilen erfordern, nachvollziehbare Aufteilungskriterien müssen aber immer vorhanden sein. 3. Absehen von einer Aufteilung aufteilbarer Reisekosten? Der Große Senat hat im Beschluss vom 21. 9. 2009 die Ansicht vertreten, dass das unterschiedliche Gewicht verschiedener Veranlassungsbeiträge im Einzelfall erfordern könne, ganz von einer Aufteilung abzusehen. Nehme z. B. der Steuerpflichtige aufgrund einer Weisung seines Arbeitgebers einen beruflichen Termin wahr, so könnten die Kosten der Hin- und Rückreise auch dann in vollem Umfang betrieblich/beruflich veranlasst sein, wenn der Steuerpflichtige den betrieblichen/beruflichen Pflichttermin mit einem vorangehenden oder nachfolgenden privaten Aufenthalt verbinde45. Dabei komme es nicht notwendig darauf an, ob der private Teil der Reise kürzer oder länger sei als der betriebliche/berufliche Teil. Das ist zu Recht kritisiert worden46. Der Große Senat sieht bei einem „betrieblichen/beruflichen Pflichttermin“ die betriebliche/berufliche Veranlassung der Hin- und Rückreise als alleiniges „auslösendes Moment“ und die private Mitveranlassung selbst bei einem längeren vorangehenden oder nachfolgenden privaten Aufenthalt als qualitativ unwesent42

A.A.: Albert, FR 2010, 220 (224). BFH v. 21. 9. 2009 – GrS 1/06, BStBl II 2010,672 (684); zustimmend: BMF v. 6. 7. 2010, BStBl I 2010, 614 (616); Lindberg, in: Blümich, EStG, § 2 Rn. 53, 57 f.; Schwenke, FR 2011, 1051 (1053 f.); Pezzer, DStR 2010, 93 (95); verfehlt Steck , DStZ 2011, 191 (207). 44 S. oben III. 1. 45 BFH v. 21. 9. 2009 – GrS 1/06, BStBl II 2010,672 (684); zustimmend: BMF v. 6. 7. 2010, BStBl I 2010, 614 (615); Kempermann, FR 2010, 225 (226); Pezzer, DStR 2010, 93 (95); Spindler, Festschrift Lang (Fn. 15), 589 (599). 46 P. Fischer, NWB 2010, 412 (420). 43

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lich an47. Diese (Be-)Wertung des privaten Veranlassungsbeitrags ist so allgemein weder einsichtig noch überzeugend48. Dass z.B ein beruflicher Termin aufgrund einer dienstlichen Weisung zwingend ist, die Kosten für Hin- und Rückreise in jedem Fall anfallen würden und sich durch den privaten Aufenthalt nicht erhöhen, ist nur „äquivalenztheoretisch“ richtig. Erforderlich ist indes eine zusätzliche (Be-)Wertung der Veranlassungsbeiträge und danach sind die Reisekosten durch den privaten Aufenthalt offensichtlich nicht nur qualitativ unwesentlich mitveranlasst49. Die gegenteilige Verwaltungsansicht50 ist „billig“, aber nicht richtig. Mit der Behauptung, dass Zweifel an der Schlüssigkeit der Aufteilung der Kosten einer doppelten motivierten Reise nach den Grundsätzen des Großen Senats angebracht sein, weil der Steuerpflichtige ohne die An- und Rückreise die betrieblich/beruflich veranlassten Reisezwecke (Besuch eines Fachkongresses o. ä.) nicht habe verfolgen können51, wird schlicht und einfach „ausgeblendet“, dass die Aufwendungen für die An- und Rückreise tatsächlich auch durch die privaten Urlaubstage veranlasst sind. Und dass ein Steuerpflichtiger „allein wegen des privaten Teils der Reise gegenüber dem Steuerpflichtigen“ benachteiligt werde, „der nur zu dem Kongress an- und danach wieder“ abreise52, ist offensichtlich unrichtig. Wer Reisekosten insgesamt abziehen könnte, selbst wenn einige private Urlaubstage „angehängt“ werden, würde tatsächlich gleichheitswidrig begünstigt. Bei „beruflichen Pflichtterminen“ gelten keine Besonderheiten; aufteilbare Reisekosten sind grundsätzlich aufzuteilen. Das z. B. bei einem beruflichen Pflichttermin, der einen Tag dauert, und einem vorausgehenden oder nachfolgenden Ferienaufenthalt von 14 Tagen lediglich eine Aufteilung der Reisekosten nach Zeitanteilen „gerecht“ ist , ist offensichtlich. Allenfalls eine ganz kurzfristige Unterbrechung eines beruflichen Reisezwecks durch einen privaten Termin, und umgekehrt, kann qualitativ unwesentlich („unbedeutend“) sein. 4. Problemfall: Aufwendungen für Sprachreisen im Ausland Aufwendungen für Sprachreisen sind allgemein nicht als Betriebsausgaben/Werbungskosten abziehbar, soweit mit der Reise ein allgemein-touristisches Interesse von nicht untergeordneter Bedeutung befriedigt wird und keine einzelnen abgrenzbaren Aufwendungen durch einen ausschließlich betrieblichen/beruflichen Anlass entstehen53. Liegt nach den tatsächlichen Verhältnissen des Einzelfalles nur eine un47

So ausdrücklich BMF v. 6. 7. 2010, BStBl I 2010, 614 (615). Vgl. auch Loschelder, in: Schmidt, EStG33, 2014, § 12 Rn. 7 (aber missverständlich). 49 Vgl. ferner Loschelder, in: Schmidt, EStG33, 2014, § 12 Rn. 7; a.A.: FG Köln v. 29. 8. 2007 – 10 K 3758/04, EFG 2009, 391. 50 BMF v. 6. 7. 2010, BStBl I 2010, 614 (616). 51 Kanzler, FR 2011, 680 f. 52 So Kanzler, FR 2011, 680 f. 53 BFH v. 21. 9. 2009 – GrS 1/06, BStBl II 2010, 672; BFH v. 7.5. 2013 – VIIIR 51/10. BStBl II 2013, 808 (810). 48

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bedeutende private Mitveranlassung vor, ist ein vollständiger Abzug der Aufwendungen eröffnet. Ist die betriebliche/berufliche Mitveranlassung nur unbedeutend oder greifen die für sich gesehen jeweils nicht unbedeutenden betrieblichen/beruflichen und privaten Veranlassungsbeiträge so ineinander, dass mangels objektivierbarer Kriterien eine Trennung unmöglich ist, ist ein Betriebsausgaben-/Werbungskostenabzug insgesamt ausgeschlossen. Sind die für sich gesehen jeweils nicht unbedeutenden betrieblichen/beruflichen und privaten Veranlassungsbeiträge nach objektivierbaren Kriterien abgrenzbar, sind die Reisekosten aufzuteilen; der betriebliche/berufliche Kostenanteil ist als Betriebsausgaben/Werbungskosten abzugsfähig. Bei Sprachkursen im Ausland gelten nach der Rechtsprechung des BFH folgende Grundsätze: Erstens: Die steuerliche Berücksichtigung von Aufwendungen kann nicht mehr mit der Begründung versagt werden, dass der Sprachkurs im Ausland stattgefunden hat. Insbesondere darf nicht mehr typischerweise unterstellt werden, dass ein Auslandssprachkurs wegen der jeder Auslandsreise innewohnenden touristischen Elemente eher privat mitveranlasst ist als ein Inlandssprachkurs54, dass ein Besuch von Sprachkursen im Inland den gleichen Erfolg hätte haben können und ein Auslandsaufenthalt erhöhte Kosten verursachen kann55. Zweitens: Die anfallenden Aufwendungen sind schon dann betrieblich/beruflich (mit-)veranlasst, wenn lediglich Grundkenntnisse/allgemeine Kenntnisse in einer Fremdsprache vermittelt werden, soweit diese Kenntnisse für die betriebliche/berufliche Tätigkeit ausreichen56. Drittens: Besteht bei Sprachreisen für die Wahl des Kursorts im Ausland keine unmittelbare betriebliche/berufliche Veranlassung, ist die Ortswahl regelmäßig zugleich von touristischen o. a. privaten Interessen des Steuerpflichtigen bestimmt57, mit der Konsequenz, dass die anfallenden Reisekosten wegen des touristischen Werts des Aufenthalts am Ort regelmäßig zugleich nicht nur unbedeutend privat mitveranlasst sind58. Das bedeutet für die Kosten einer Sprachreise ins Ausland: Die Sprachkursgebühren sind regelmäßig ausschließlich betrieblich/beruflich veranlasst und deshalb in vollem Umfang als Betriebsausgaben/Werbungskosten abzugsfähig. Die Reiseund Aufenthaltskosten sind bereits dann nicht nur unwesentlich betrieblich/beruflich veranlasst, wenn durch den Sprachkurs Grundkenntnisse/allgemeine Kenntnisse in einer fremden Sprache für die betrieblich/berufliche Tätigkeit vermittelt werden. Mit einem Aufenthalt im Ausland, insbesondere in einem touristisch interessanten Ort, wird aber regelmäßig zugleich ein nicht nur unbedeutendes privates, meist

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BFH v. 13. 6. 2003 – VI R 168/00, BFH/NV 2002, 1517. BFH v. 19. 12. 2005 – VI R 89/02, BFH/NV 2006, 934; BFH v. 24. 2. 2011 – VI R 12/10, BStBl II 2011, 796 (797). 56 BFH v. 24. 2. 2011 – VI R 12/10, BStBl II 2011, 796. 57 BFH v. 24. 2. 2011 – VI R 12/10, BStBl II 2011, 796 (797). 58 BFH v. 24. 2. 2011 – VI R 12/10, BStBl II 2011, 796; a.A.: FG Bad-Württ. V. 9. 9. 2003 – 1 K 275/02, EFG 2005, 29 f. 55

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ein allgemein-touristisches Interesse befriedigt59. Folglich liegen regelmäßig „doppelmotivierte“ Aufwendungen vor, die aufgeteilt werden müssen, sofern objektivierbare Aufteilungskriterien vorhanden sind. In Betracht kommt hierfür in erster Linie eine Aufteilung nach „Kurstagen“ und „kursfreien Tagen“ (Wochenende), u. U. auch eine Aufteilung „nach Stunden“. Dass auch ein anderer als der zeitliche Aufteilungsmaßstab angezeigt sein könnte60, ist allerdings richtig. Jedenfalls muss der Steuerpflichtige aber immer objektivierbare, „nachvollziehbare Aufteilungskriterien“ nachweisen61; Zweifel gehen „zulasten des Steuerpflichtigen“ (materielle Beweislast). Untrennbare Kosten sind insgesamt nicht als Betriebsausgaben/ Werbungskosten abzugsfähig. Der 6. Senat des BFH hat indes zur Abzugsfähigkeit von Reisekosten bei einem Sprachkurs im Ausland seine Entscheidung mit folgendem Satz abgeschlossen: „Sollte keiner der Beteiligten einen anderen Aufteilungsmaßstab substantiell vortragen und nachweisen, so bestehen keine Bedenken, von einer hälftigen Aufteilung sämtlicher mit der Reise verbundener Kosten auszugehen“62. Eine nähere Begründung für diese Feststellung fehlt. Warum ein anderer Aufteilungsmaßstab als nach Zeitanteilen „angezeigt“ ist, „erklärt“ der 6. Senat ebenfalls nicht. Stattdessen wird i.E. eine Art „Meistbegünstigungsregel“ behauptet: Wesentlich privat und wesentlich betrieblich/beruflich veranlasste Reisekosten werden pauschal hälftig aufgeteilt, ohne dass objektivierbare Aufteilungskriterien nachgewiesen sind. Der Steuerpflichtige könnte wohl anhand objektivierbarer Aufteilungskriterien einen höheren betrieblichen/beruflichen Anteil nachweisen; eine nachteiligere Aufteilung nach Kurstagen und freien Tagen (Wochenende) wird aber durch die pauschale Hälftelung vermieden. Das ist sicherlich für den Steuerpflichtigen und die Finanzverwaltung „einfacher“ und dürfte streitvermeidend wirken. Allerdings ist Folgendes zu bedenken: (1) Der 6. Senat unterläuft die Rechtsprechung des Großen Senats zur Aufteilbarkeit von Mischaufwendungen; denn danach sind nicht nur unbedeutend betrieblich/ beruflich und nicht nur unbedeutend privat veranlasste Aufwendungen insgesamt nicht als Betriebsausgaben/Werbungskosten abzugsfähig, wenn keine objektivierbaren, nachvollziehbaren Aufteilungskriterien vorhanden sind und nachgewiesen werden. Hierfür trägt der Steuerpflichtige die materielle Beweislast. Die betrieblichen/ beruflichen und die privaten Veranlassungsbeiträge müssen festgestellt werden; eine hälftige Aufteilung ohne Nachweis ist eine unzulässige Schätzung. Nur wenn die betrieblichen/beruflichen und die privaten Veranlassungsbeiträge dem Grunde nach

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BFH v. 24. 2. 2011 – VI R 12/10, BStBl II 2011, 796; a.A.: FG Bad-Württ. V. 9. 9. 2003 – 1 K 275/02, EFG 2005, 29 f. 60 So BFH v. 24. 2. 2011 – VI R 12/10, BStBl II 2011, 796. 61 BFH v. 3. 5. 2011 – VIII B 18/10, BFH/NV 2011, 1346. 62 BFH v. 24. 2. 2011 – VI R 12/10, BStBl II 2011, 796 (797); zustimmend wohl Sailer, in: Kirchhof, EStG13 , 2014, § 12 Rn. 8.

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feststehen, kann die Höhe der als Betriebsausgaben/Werbungskosten abzugsfähigen Aufwendungen erforderlichenfalls geschätzt werden. (2) Der 6. Senat unterläuft die Regeln über die objektive (materielle) Beweislast im Besteuerungsverfahren. Wenn eine Aufteilung der Reisekosten nach Zeitanteilen nicht in Betracht kommen sollte und kein „anderer“ Aufteilungsmaßstab nachgewiesen wird, muss das zulasten des Steuerpflichtigen gehen. Die angefallenen Aufwendungen sind mangels nachgewiesener Trennbarkeit insgesamt nicht als Betriebsausgaben/Werbungskosten abzugsfähig. (3) Während z. B. der 8. Senat noch unlängst wieder streng nach den Vorgaben des Großen Senats über die Abzugsfähigkeit von Reisekosten an ausländischen Ferienorten, die der Steuerpflichtige zur Erholung (privater Veranlassungsbeitrag) und zur Aktualisierung von Lehrbüchern (betrieblicher Veranlassungsbeitrag) aufsucht, entschieden hat63, „übernimmt“ der 6. Senat die Rolle eines „Ersatzgesetzgebers“. Denn nur der Gesetzgeber könnte anordnen, dass sämtliche mit einer Reise verbundenen Kosten, die wesentlich betrieblich/beruflich und wesentlich privat veranlasst sind, ohne nachvollziehbare, objektivierbare Aufteilungskriterien pauschal zur Hälfte als Betriebsausgaben/Werbungskosten abzugsfähig sind. V. Zusammenfassung 1. Nicht nur unwesentlich betrieblich/beruflich und privat veranlasste Aufwendungen (Mischaufwendungen) sind aufzuteilen, wenn objektivierbare Aufteilungskriterien vorliegen und nachgewiesen werden. Untrennbare Mischaufwendungen sind insgesamt nicht als Betriebsausgaben/Werbungskosten abzugsfähig. Das gilt auch für Reisekosten. 2. Gemischt veranlasste Aufwendungen für Sprachreisen ins Ausland sind nach objektivierbaren Aufteilungskriterien aufzuteilen. Die vom 6. Senat des BFH judizierte pauschale Hälftelung der Reisekosten ist zwar einfach und mag streitvermeidend wirken, könnte indes nur durch den Gesetzgeber angeordnet werden.

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BFH v. 7. 5. 2013 – R 51/10, BStBl II 2013, 808; dazu auch Pezzer, BFH/PR 2013, 388 f.

Zwischen Bankgeheimnis und automatischem Informationsaustausch: Gebotene Zeitenwende in Luxemburg? Von Alain Steichen, Luxemburg, und Till Meickmann, Osnabrück Das Bankgeheimnis blickt auf eine lange Tradition als Ausdruck fundamentaler Freiheitsrechte zurück. Es stellt seit jeher einen fundamentalen Baustein freiheitlicher Berufsausübung von Banken und anderen Finanzdienstleistern dar; nicht weniger wichtig erscheint es aus Sicht der Bankkunden, die im Bankgeheimnis die Garantie des selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Umgangs mit ihrem Eigentum sowie eine Ausprägung ihrer Berufsfreiheit und des Schutzes ihrer Privatsphäre sehen. In den vielfältigen (steuer-)politischen Debatten der vergangenen Jahrzehnte ist dieser freiheitliche Aspekt des Bankgeheimnisses allerdings immer weiter in den Hintergrund getreten. Parallel dazu entwickelte sich das im europäischen Vergleich strikte luxemburgische Bankgeheimnis zu einem wesentlichen Pfeiler des Aufstiegs der luxemburgischen Bankenwirtschaft. Nicht zuletzt mit Rücksicht auf diese wirtschaftlich erfreuliche Entwicklung stand Luxemburgs Politik traditionell dem internationalen Informationsaustausch in Steuersachen kritisch gegenüber – jedenfalls soweit er mit dem Bankgeheimnis kollidierte. Aufgrund dieser ablehnenden Grundhaltung wurde das Bankgeheiminis international zunehmend als illegitimes, rein wirtschaftlich motiviertes Instrument wahrgenommen. Wegen des immer stärker wachsenden internationalen Drucks bei der Bekämpfung der Steuerflucht erwies sich die luxemburgische Position jedoch zuletzt als derart isolierend, dass die luxemburgische Regierung das Bankgeheimnis für beschränkt Steuerpflichtige nunmehr sukzessive abschafft. Der verfassungsrechtliche Freiheitsschutz war und ist dem Jubilar stets ein zentrales Anliegen. Er hat dazu zahlreiche Beiträge vorgelegt und dabei für ihn nicht hinnehmbare staatliche Maßnahmen angegriffen. Nicht nur darin fühlen wir uns ihm verbunden. Mit unserem Beitrag zu dieser Festschrift versuchen wir ganz in seinem Sinne dem freiheitlichen Charakter des Bankgeheimnisses nachzuspüren, dessen Auflösungserscheinungen zu beleuchten und zu untersuchen, ob die weitreichende Aufgabe des Bankgeheimnisses zur Eindämmung der Steuerhinterziehung eine angemessene Maßnahme ist.

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I. Das Bankgeheimnis als Ausdruck freiheitlicher Rechte Das Bankgeheimnis ist, anders als so mancher glauben mag, keineswegs eine „Erfindung der Neuzeit“, um ausländisches Kapital anzulocken. Im Gegenteil: In vielen europäischen Staaten blickt es auf eine sehr lange Tradition zurück.1 Die Wurzeln des luxemburgischen Bankgeheimnisses bspw. reichen mindestens bis ins 17. Jahrhundert. Erste, nach heutigen Maßstäben als arbeitsvertraglich zu klassifizierende, Regelungen zur Verschwiegenheit der Mitarbeiter von Banken entwickelten sich im Großherzogtum Luxemburg zu einem allgemein anerkannten Gewohnheitsrecht. Mit den Bankgesetzen von 1981 und 1993 entschied sich der luxemburgische Gesetzgeber, das Bankgeheimnis zu kodifizieren. Ziel dieser Gesetzgebung war nicht die Schaffung eines neuen Regimes, sondern die Bestätigung und gesetzliche Festlegung der bereits bestehenden gewohnheitsrechtlichen Regelungen. Entsprechend verpflichtet Art. 41 Abs. 1 des Gesetzes vom 5. April 19932 die Bankiers unter Strafandrohung, die „ihnen im Rahmen der beruflichen Tätigkeit bekannt gewordenen Auskünfte geheim zu halten“.3 Im Gesetzgebungsverfahren hat das luxemburgische Parlament ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es das Bankgeheimnis als Teil der öffentlichen Ordnung (ordre public) des Großherzogtums ansieht und es dementsprechend nur dann durchbrochen werden könne, wenn eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage dafür bestehe.4 Der Charakter des Bankgeheimnisses als Teil des ordre public ergibt sich allerdings bereits aus der Strafbarkeit des Verstoßes gegen dieses, sodass diesem Hinweis nur deklaratorische Bedeutung zukommt.5 Freiheitsrechtlich kennt das Bankgeheimnis zwei Schutzrichtungen: Neben dem Schutz der Berufs- bzw. Unternehmerfreiheit und des Eigentumsrechts des Bankiers sowie der allgemeinen Vertragsfreiheit dient es auch dem Schutz der Berufs- bzw. Unternehmerfreiheit, des Eigentumsrechts und der Privatsphäre des Kunden. 1 Zusammenfassend zur Geschichte des Bankgeheimnisses in Deutschland, Luxemburg, Österreich, der Schweiz und Liechtenstein: Volker Anton, Aktuelle Entwicklungen des Bankgeheimnisses im Rechtsvergleich unter besonderer Berücksichtigung seiner exterritorialen Wirkung, Frankfurt am Main 2013, S. 5 ff. 2 Gesetz vom 5. April 1993 über den Finanzsektor. 3 Übersetzung der aktuellen Fassung von Art. 41 Abs. 1 des Gesetzes vom 5. April 1993: „Die Verwalter, Mitglieder der leitenden und überwachenden Organe, leitende Angestellte, andere Angestellte und andere Personen, die im Dienste der Kreditinstitute, anderer Finanzdienstleister, der Abrechnungsstellen, der zentralen Gegenparteien, der Verrechnungsstellen und der ausländischen Betreiber von in Luxemburg zugelassenen Systemen nach Teil I dieses Gesetzes tätig sind, sind verpflichtet, die ihnen im Rahmen der beruflichen Tätigkeit bekannt gewordenen Auskünfte geheim zu halten. Die Offenbarung derartiger Auskünfte wird mit den in Art. 458 des Code Pénal vorgesehenen Strafen geahndet.“ 4 Alain Steichen, Information Exchange in Tax Matters: Luxembourg’s New Tax Policy, in: Rust/Fort (Hrsg.), Exchange of Information and Bank Secrecy, Alphen am Rhein 2012, S. 9 (10). 5 Alain Steichen, Information Exchange in Tax Matters: Luxembourg’s New Tax Policy, in: Rust/Fort (Hrsg.), Exchange of Information and Bank Secrecy, Alphen am Rhein 2012, S. 9 (10).

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1. Berufs- bzw. Unternehmerfreiheit und Eigentumsrecht von Bank und Kunden Dass Banken ihren Kunden die in Luxemburg einfach-gesetzlich vorgeschriebene Geheimhaltung der ihnen im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit bekannt gewordenen Auskünfte privatrechtlich zusichern, ist Teil der Ausübung ihrer beruflichen bzw. unternehmerischen Tätigkeit. Gleiches gilt hinsichtlich der Nutzung der Vermögenswerte durch den Kunden. Beide Tätigkeiten werden durch die weit gefasste Gewährleistung der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit nach Art. 11 Abs. 6 der Verfassung des Großherzogtums Luxemburg vom 17. Oktober 1868, die nach Art. 15 Abs. 1 der EU-Grundrechtecharta (EU-GRCh) verbürgte Berufsfreiheit bzw. den in Art. 16 EUGRCh normierten Schutz der unternehmerischen Freiheit umfasst. Darüber hinaus können die genannten Tätigkeiten unter den Schutz des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs als Teil des Eigentums fallen, das nach Art. 1 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und nach Art. 17 Abs. 1 S. 1 EU-GRCh6 geschützt wird. Wird das „Lüften“ des Bankgeheimnisses durch eine hoheitliche Maßnahme erzwungen, werden die o.g. Rechte ganz erheblich beschnitten. Im Sinne freiheitsrechtlicher Dogmatik liegt ein empfindlicher staatlicher Eingriff vor. Dieser kann nur gem. der Schranken der Art. 11 Abs. 6 a.E. luxemburgische Verfassung, Art. 52 Abs. 1 EU-GRCh, Art. 1 Abs. 2 Zusatzprotokoll zur EMRK und Art. 17 Abs. 1 S. 3 EU-GRCh gerechtfertigt werden. All diesen Verbürgungen ist dabei eines gemeinsam:7 Sie setzen eine gesetzliche Rechtsgrundlage voraus, die den Anforderungen der Verhältnismäßigkeit genügt. 2. Schutz der Privatsphäre des Kunden Kunden vertrauen ihrer Bank essentielle persönliche Informationen an, die mit denen ohne weiteres vergleichbar sind, die im Dunstkreis anderer Berufsgeheimnisse wie etwa der ärztlichen Verschwiegenheitspflicht offenbart werden. Niemand, von dem Bankkunden selbst einmal abgesehen, hat so tiefen Einblick in die Vermögensverhältnisse einer Person, wie dessen Bank. Dabei geben die bei einer Bank anfallenden Daten Auskunft über weit mehr als die bloßen Vermögensverhältnisse einer Person. Bei einem durchschnittlichen Bankkunden lassen sich bspw. anhand der Auszahlungen an Geldautomaten sowie EC- und Kreditkartenzahlungen genaue Bewegungs- und Verhaltensprofile erstellen, während Zahlungsströme es erlauben, persönliche Beziehungen nachzuzeichnen und etwa die Zahlungsverkehre mit Parteien, Vereinen, aber auch Verlagshäusern Rückschlüsse auf die politische Einstel6

Ob der eingerichtete und ausgeübte Gewerbebetrieb in den Schutzbereich des Art. 17 EU-GRCh fällt, ist umstritten, vgl. statt vieler: Christian Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/ AEUV, 4. Auflage 2011, EU-GRCharta, Art. 17, Rn. 9 m.w.N. 7 Zur Notwendigkeit, den Grundrechtsschutz in Europa auf einen „harten Kern“ zu reduzieren vgl. Torsten Stein, „In Vielfalt geeint“ im Europäischen Grundrechtsschutz?, in dieser Festschrift S. 1313 ff.

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lung des Kunden zulassen. Die Summe der erhobenen Daten macht damit die Lebensweise einer Person in außerordentlicher und erschreckender Weise sichtbar. Diese, insbesondere in ihrer Gesamtheit, höchstsensiblen und persönlichkeitsrechtsrelevanten Daten vor dem Zugriff durch Dritte – auch durch den Staat – zu schützen, ist notwendige und zentrale Bedingung jeder freiheitlichen Grundordnung. Entsprechend kann der Schutz der Kundeninformationen durch das Bankgeheimnis nicht nur in den Randbereich der nach Art. 11 Abs. 3 luxemburgische Verfassung garantierten Rechte der Person und Familie fallen.8 In gleichem Maße unterfällt der Schutz der Bankdaten insofern auch dem Recht auf Achtung des Privatlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK9 und dem Recht auf Schutz der personenbezogenen Daten nach Art. 8 Abs. 1 EU-GRCh. Ein Eingriff liegt in diesem Bereich vor, wenn geschützte Daten von staatlichen Stellen erhoben werden. Auch insofern bedarf die hoheitliche Anordnung der Durchbrechung des Bankgeheimnisses also der Rechtfertigung; diese muss sich an Art. 11 Abs. 3 a.E. luxemburgische Verfassung, Art. 8 Abs. 2 EMRK und Art. 8 Abs. 2 EU-GRCh messen lassen. Auch insoweit ist daher eine gesetzliche Grundlage erforderlich, die den Anforderungen des Gebotes der Verhältnismäßigkeit genügt. 3. Zusammenfassung Insgesamt lässt sich zwar ein unmittelbarer grundrechtlicher Geheimhaltungsanspruch der Bankkunden weder aus der Luxemburger Verfassung noch aus der EMRK oder der EU-GRCh ableiten. Die gewohnheits- und privatrechtlich begründete Geheimhaltungspflicht der Bank unterfällt jedoch dem Schutz der Berufs-, Unternehmer- und Eigentumsfreiheit sowie dem Recht auf Schutz der Privatsphäre. Das einfachgesetzlich ausgestaltete Bankgeheimnis genießt damit als Teil der luxemburgischen ordre public grundrechtlichen Schutz sowohl durch die luxemburgische Verfassung als auch durch die EU-GRCh sowie die EMRK. Durchbrechungen des Bankgeheimnisses können als Eingriffe in die genannten Freiheitsrechte von Banken und Kunden grundsätzlich gerechtfertigt werden. Die Rechtfertigung setzt aber eine gesetzliche Grundlage voraus, die dem Postulat der Verhältnismäßigkeit genügt. II. Durchbrechungen des Bankgeheimnisses im Interesse gegenläufiger Allgemeinwohlinteressen Die Durchbrechung des Bankgeheimnisses muss verhältnismäßig sein; sie setzt daher die Verfolgung eines legitimen Zwecks voraus. Der Geheimhaltungspflicht des Finanzinstituts stehen regelmäßig widersprechende Allgemeinwohlinteressen gegenüber, namentlich das Interesse an der Verfolgung und Ahndung von Straftaten, 8

Kritisch dazu: Jérôme Lasserre Capdeville, Le secret bancaire, Marseille 2006, Rn. 145. Vgl. Klaus-Peter Budke, Das Bankgeheimnis in der Bundesrepublik Deutschland und in Österreich aus rechtsvergleichender Sicht, Wien 1992, S. 26. 9

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an der Bekämpfung der Geldwäsche, Terrorismusfinanzierung und Steuerhinterziehung sowie der gleichmäßigen und gesetzmäßigen Besteuerung. Diese berechtigten Interessen der Allgemeinheit darf der Gesetzgeber aufgreifen; sie stellen einen legitimen Zweck dar, den der Gesetzgeber mit dem Geheimhaltungsinteresse des Bankkunden nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit möglichst schonend zum Ausgleich zu bringen hat.10 Luxemburgs Politik räumte dem Bankgeheimnis insbesondere in Steuerfragen lange Zeit weitgehenden Vorrang ein. Nachdem sich diese Position nach und nach als international unhaltbar erwies, beschloss die luxemburgische Regierung am 13. März 2009, in Zukunft die OECD-Standards für den internationalen Informationsaustausch anzunehmen. Zwanzig dem OECD-Standard folgende Doppelbesteuerungsabkommen wurden bereits am 31. März 2010 vom luxemburgischen Parlament ratifiziert.11 Seit 2013 wird von Luxemburg sogar der automatische Informationsaustausch im Rahmen der Zins- und Amtshilferichtlinie anerkannt. Inzwischen gehört Luxemburg zum Kreis der Early Adopters, die sich bei der Weiterentwicklung des automatischen Informationsaustauschs besonders aktiv zeigen. Diese Entwicklungen im Spannungsfeld zwischen Allgemeinwohlinteressen und Bankgeheimnis sind nachzuzeichnen und einer rechtlichen Würdigung zu unterziehen. Dabei wird aufgrund der freiheitsrechtlichen Dimension des Bankgeheimnisses insbesondere die Verhältnismäßigkeit des mit der Durchbrechung des Bankgeheimnisses verbundenen Eingriffs überprüft. 1. Frühe Einschränkungen des Bankgeheimnisses Bis zur Ratifikation der o.g. Doppelbesteuerungsabkommen im Jahr 2010 wurde das Bankgeheimnis in Luxemburg lediglich zum Zwecke der Bekämpfung von Geldwäsche, der Terrorismusfinanzierung und des Steuerbetrugs beschränkt. Ein Informationsaustausch in Steuersachen fand nur sehr eingeschränkt statt. a) Geldwäsche- und Terrorismusbekämpfung Erste Risse im strikten luxemburgischen Bankgeheimnis entstanden als Reaktion auf die international operierende organisierte Kriminalität und die zunehmende Terrorismusfinanzierung. Die entsprechenden Delikte sind als Geldwäsche nach Art. 506 – 1 Code Pénale (CP)12 und als Terrorismusfinanzierung nach Art. 135 – 5, 135 – 6 CP strafbar. Die in der EU-Geldwäscherichtlinie13 aufgeführten unionsrecht10

Vgl. Gerd Sandkühler, Bankrecht, Köln 1992, S. 31. Gesetz vom 31. März 2010 über die Genehmigung von Steuerabkommen zur Einführung des Verfahrens des Informationsaustauschs auf Anfrage. 12 Strafgesetzbuch. 13 Zunächst Richtlinie 91/308/EWG zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche, geändert durch die Richtlinie 2001/97/EG und aufgehoben durch 11

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lichen Vorgaben zur Bekämpfung der Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung hat Luxemburg durch Anpassungen des Gesetzes über die Bekämpfung der Geldwäsche und gegen die Finanzierung des Terrorismus14 umgesetzt. Zunächst blieb die Reichweite des Gesetzes über die Bekämpfung der Geldwäsche und gegen die Finanzierung des Terrorismus nur auf die Kernbereiche der Geldwäsche, also die Verschleierung der wahren Quelle illegal erworbener Gelder im Bereich der organisierten Kriminalität insbesondere aus dem Drogenbereich, beschränkt. Inzwischen sind allerdings weitere finanzielle Aspekte einer umfassenden Liste krimineller Aktivitäten, wie der Korruption, erfasst. Im Gegensatz zu anderen Staaten hat das Großherzogtum bei der Definition des Begriffs der Geldwäsche jedoch darauf verzichtet, diesen auch auf Steuerhinterziehung und -betrug sowie Sozialversicherungsbetrug auszudehnen. Nach Art. 5 Abs. 1 S. 1 des Gesetzes über die Bekämpfung der Geldwäsche und gegen die Finanzierung des Terrorismus werden die Banken verpflichtet, uneingeschränkt mit den Untersuchungsbehörden zusammenzuarbeiten. Insbesondere müssen die Banken nach Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. a) des Gesetzes der zuständigen Cellule de renseignement financier (CRF)15 eigeninitiativ und unverzüglich Verdachtsanzeigen abgeben, wenn Hinweise auf (zukünftige) Geldwäsche oder Terrorismusfinanzierung gegeben sind. Dabei muss die Verdachtsanzeige um die zugrundeliegenden Informationen und Dokumente ergänzt werden. Damit wird das Bankgeheimnis nicht nur in den Fällen massiv beschränkt, in denen die Ermittlungsbehörden von sich aus tätig werden, sondern zugleich werden die Banken angehalten, ihre Kunden zu denunzieren. Während einige Staaten, wie auch die Bundesrepublik Deutschland, die im Rahmen der Geldwäsche- und Terrorismusfinanzierungsbekämpfung gewonnenen Informationen auch für steuerliche Zwecke nutzen,16 haben die Luxemburger Steuerbehörden keinen Zugriff auf die so erlangten Informationen und können diese folglich auch nicht an ausländische Finanzbehörden weiterleiten. Damit bleiben die dem Bankgeheimnis unterfallenden Kundendaten vor dem Zugriff der Steuerbehörden Richtlinie 2005/60/EG zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung. 14 Gesetz vom 12. November 2004 über die Bekämpfung der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung zur Umsetzung der Richtlinie 2001/97/des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Dezember 2001 zur Änderung der Richtlinie 91/308/EWG des Rates zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche (Mémorial A – No. 183, 19. November 2004, S. 2776 ff.), zuletzt geändert durch Mémorial A – No. 129, 22. Juli 2013, S. 2698 ff. 15 Financial Intelligence Unit (FIU). 16 Insofern ist in Deutschland allerdings umstritten, ob es mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung vereinbar ist, wenn die weitergegebene Information zwar zur Geldwäschebekämpfung gewonnen wurde, letztlich aber nur für steuerliche Zwecke Verwendung findet, vgl. dazu: Andreas Fülbier, in: Fülbier/Aepfelbach/Langweg (Hrsg.), Geldwäschegesetz, Köln 2006, § 10, Rn. 5 ff.; Felix Herzog, in: Herzog (Hrsg.), Geldwäschegesetz, München 2010, § 15, Rn. 3 ff.

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auch im Rahmen der Geldwäsche- und Terrorismusfinanzierungsbekämpfung geschützt. Luxemburg hat sich mit diesem Regime klar zur Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung bekannt, folgt den internationalen Standards und räumt der Bekämpfung gegenüber dem Bankgeheimnis eindeutig Vorrang ein, ohne die so gewonnenen Informationen für steuerliche Zwecke im In- oder Ausland nutzbar zu machen. b) Steuerhinterziehung und Steuerbetrug Ein Eckpfeiler des luxemburgischen Bankgeheimnisses ist, dass Steuerbehörden bei Banken keinerlei Kundendaten finanzieller Natur erfragen dürfen.17 Dieser Grundsatz zum Schutz der Bankkunden gilt auch in Fällen einfacher Steuerhinterziehung („fraude fiscale“) und sogar bei schwerem Steuerbetrug („escroquerie fiscale“).18 In Fällen des Steuerbetrugs ist es zwar der Staatsanwaltschaft erlaubt, entsprechende Informationen von Banken zu erheben. Die in diesen Fällen von der Staatsanwaltschaft erlangten Informationen unterliegen jedoch keinem Informationsaustausch mit den inländischen Finanzbehörden, sodass diese auch nicht über den Umweg staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen Informationen über Bankkunden erhalten können. Dem Bankgeheimnis wird also Prädominanz gegenüber den Besteuerungsinteressen des Staates eingeräumt. Nur in Fällen des Steuerbetrugs wird das Bankgeheimnis für Zwecke der Strafverfolgung – aber auch lediglich insoweit – eingeschränkt. c) Informationsaustausch in Strafsachen Art. 3 des Gesetzes zur Rechtshilfe in Strafsachen19 bestimmt, dass Luxemburg bei der Verfolgung von Verstößen gegen Pflichten, Steuern, Zölle oder sonstige Abgaben abzuführen, vorbehaltlich anderer getroffener Vereinbarungen keine Rechtshilfe leistet. Eine solche – abweichende – Vereinbarung ist das erste Zusatzprotokoll vom 17. März 1978 zum Europäischen Rechtshilfeübereinkommen vom 20. April

17 Großherzogliche Verordnung vom 23. März 1989 Art. 1er: „Die Steuerbehörden sind nicht berechtigt, von Finanzinstituten zu verlangen, individuelle Informationen über ihre Kunden preiszugeben, anderes gilt nur in Fällen nach dem Gesetz vom 28. Januar 1948, um die faire und genaue Erhebung und Durchsetzung des Erbrechts zu gewährleisten.“ 18 Eine Steuerhinterziehung gem. § 396 Abs. 1 Loi Générale des Impôts (LGI, Luxemburger Abgabenordnung) begeht, wer zum eigenen Vorteil oder zum Vorteil eines anderen nicht gerechtfertigt erschleicht oder vorsätzlich bewirkt mit der Folge, dass Steuereinnahmen verkürzt werden. Ein Steuerbetrug nach § 396 Abs. 5 LGI ist gegeben bei der systematischen Anwendung von betrügerischen Machenschaften (qualitatives Element) über erhebliche Beträge (quantitatives Element). Vgl. Alain Steichen, Manuel de Droit Fiscal, Luxemburg 2006, S. 702 ff. 19 Gesetz vom 8. August 2000 über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen.

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1959, das Luxemburg mit dem Gesetz vom 27. August 199720 ratifiziert hat. Um das Bankgeheimnis zu schützen, gelten hierbei zwei Vorbehalte: Erstens wird nur dann Rechtshilfe gewährt, wenn die im Ausland begangene Straftat auch nach luxemburgischem Recht den Tatbestand einer Straftat erfüllt (sog. beiderseitige Strafbarkeit). Für Steuerdelikte heißt das, dass die Voraussetzungen des Steuerbetrugs nach § 396 Abs. 5 LGI erfüllt sein müssen, woran es bei der bloßen Nichtdeklaration von Einkünften zumeist fehlen wird.21 Zweitens wird Rechtshilfe nur unter dem Vorbehalt gewährt, dass die Ergebnisse der Ermittlungen, die in Luxemburg durchgeführt wurden, und Informationen, die in übermittelten Dokumenten oder Akten enthalten sind, ausschließlich zur Verfolgung und Aburteilung von Straftaten genutzt werden, für die die Rechtshilfe geleistet wurde (Spezialitätsvorbehalt). d) Informationsaustausch in Steuersachen bis 2010 Nach dem luxemburgischen steuerlichen Verfahrensrecht ermitteln die luxemburgischen Steuerbehörden ausschließlich für inländische Zwecke, entsprechend bleibt für den internationalen Informationsaustausch in Steuersachen nach rein inländischem Recht kein Raum. Dennoch beteiligte sich Luxemburg auf der Basis bilateraler Abkommen auch vor 2010 am Informationsaustausch in Steuersachen. Dieser Informationsaustausch erfolgt auf der Basis von Doppelbesteuerungsabkommen,22 die eine dem Art. 26 OECD-MA entsprechende Regelung enthalten. Nach Art. 26 Abs. 3 lit. b) OECD-MA besteht aber keine Verpflichtung dazu, Informationen zu erteilen, die nach den Gesetzen oder im üblichen Verwaltungsverfahren des ersuchten Staats nicht beschafft werden können. Weil die luxemburgischen Steuerbehörden aber gerade nicht berechtigt sind, Informationen über Bankkunden zu erheben, können sie demnach auch nicht verpflichtet sein, im Rahmen des Informationsaustauschs für ausländische Steuerbehörden entsprechende Informationen zu ermitteln. Bei der Revision des Musterabkommens 2005 wurde Art. 26 allerdings um die Absätze 4 und 5 ergänzt. Demzufolge darf ein Abkommensstaat ein Informationsersuchen nicht zurückweisen, nur weil kein inländisches Interesse an der ersuchten Information besteht (Art. 26 Abs. 4 OECD-MA) oder allein unter Hinweis darauf, dass sich die ersuchte Information im Besitz einer Bank oder einer anderen Finanzinstitution befindet (Art. 26 Abs. 5 OECD-MA). Um das Bankgeheimnis zu bewahren, lehnte Luxemburg die Änderung des Art. 26 Abs. 5 OECD-MA gemeinsam mit Belgien, Österreich und der Schweiz ab und schloss seine Berücksichtigung in

20 Gesetz vom 27. August 1997 zur Genehmigung des Zusatzprotokolls zum Europäischen Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen vom 17. März 1978. 21 Vgl. Alain Steichen, Le secret bancaire face aux autorités publiques nationals et étrangères, Bulletin Droit et Banque, No. 24, 1995, S. 24 ff. 22 Reine Informationsaustauschabkommen hat Luxemburg bisher nicht abgeschlossen, vgl. Eric Fort/ Rüdiger Jung/ Alexander Rust, Luxembourg Report, in: International Fiscal Association (Hrsg.), Exchange of Information, Volume 98b, The Hague 2013, S. 473 (476).

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Abkommensverhandlungen bis zur bereits angedeuteten Änderung der eigenen Abkommenspolitik im Jahr 2009 kategorisch aus.23 In der Europäischen Union fällt die Besteuerung von Zinserträgen unter die Zinsbesteuerungsrichtlinie.24 Sie gilt seit Juli 2005 für Einkünfte aus Kapitalerträgen, die an Personen gezahlt werden, die in einem Mitgliedstaat wohnhaft sind, jedoch nicht in dem, in dem die Zinsen gezahlt werden. Ziel der Richtlinie ist es, zu gewährleisten, dass grenzüberschreitende Zinsertragszahlungen unabhängig davon, wo sie angefallen sind, ordnungsgemäß versteuert werden. Hierfür soll der Quellenstaat den Wohnsitzstaat über die Höhe der Zinseinnahmen informieren. Statt der Auskunftserteilung kann für eine Übergangszeit von den in den Mitgliedstaaten Belgien, Luxemburg und Österreich niedergelassenen Zahlstellen ein Steuerabzug von den Zinserträgen (Quellensteuer) eines in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen wirtschaftlichen Eigentümers vorgenommen werden. Der Steuerabzugssatz stieg schrittweise auf nunmehr 35 Prozent an.25 75 Prozent der eingezogenen Steuern werden an das Wohnsitzland des Begünstigten abgeführt, die übrigen 25 Prozent behält Luxemburg als einziehendes Land ein. Dabei wird die Besteuerung der Zinserträge des wirtschaftlichen Eigentümers nach innerstaatlichen Vorschriften durch die Erhebung der Quellensteuer nicht ausgeschlossen. Über die Höhe der einbehaltenen Quellensteuer wird eine Steuergutschrift erteilt. Die Quellensteuer wird beim Zinsempfänger auf die deutsche Einkommensteuer angerechnet; bei übersteigender Quellensteuer erfolgt eine entsprechende Erstattung. Der nichtansässige Kunde kann die Quellensteuer von 35 Prozent vermeiden, wenn er seiner Bank eine von den Steuerbehörden seines Wohnsitzlandes ausgestellte Freistellungsbescheinigung vorlegt oder zum automatischen Informationsaustausch nach Art. 9 Abs. 1 lit. a) der Zinsrichtlinie optiert. Dieser Informationsaustausch erfolgt in zwei Schritten. Zunächst informiert die luxemburgische Zahlstelle (bspw. eine Bank) die luxemburgischen Steuerbehörden über sämtliche während eines Steuerjahres auf dem Konto des Kunden verbuchten Zinszahlungen, die in den Anwendungsbereich der Richtlinie fallen. Anschließend geben die Luxemburger Steuerbehörden diese Informationen an die Steuerverwaltung des Herkunftslandes des Kunden weiter. e) Verhältnismäßigkeit der bisherigen Durchbrechungen Die Durchbrechungen des Bankgeheimnisses bis 2009 dienten vor allem der Strafverfolgung und der Bekämpfung besonders allgemeinschädlicher Straftaten. An deren Verfolgung besteht ohne Frage ein außerordentlich großes Allgemeinwohlinteresse. Die mit der Durchbrechung des Bankgeheimnisses verbundenen Eingriffe in Grundrechte erfolgten ausschließlich verdachts- bzw. anlassbezogen und wurden 23

Ausführlich zur Situation in Luxemburg: Alain Steichen, Manuel de Droit fiscal, Luxemburg 2015, S. 326 f. 24 Richtlinie 2003/48/EG des Rates vom 3. Juni 2003 im Bereich der Besteuerung von Zinserträgen. 25 Von zunächst 15 Prozent bis Juli 2008 über 20 Prozent bis Juli 2011.

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durch eine signifikante Beschränkung der Nutzbarkeit der Daten auf das zur Verfolgung o.g. Zwecke notwendige Minimum reduziert. Mildere Mittel gleicher Eignung sind nicht ersichtlich, sodass die Durchbrechungen des Bankgeheimnisses bis 2009 den Anforderungen der Erforderlichkeit genügen können. Wegen der starken Allgemeinwohlinteressen und der nur leichten, punktuellen Eingriffe in freiheitsrechtliche Positionen bestehen auch hinsichtlich der Angemessenheit dieser hoheitlichen Maßnahmen keine Bedenken. Die bis 2009 vorgesehenen Beschränkungen des Bankgeheimnisses stehen also mit den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgebots in Einklang. 2. Veränderungen beim Informationsaustausch in Steuersachen seit 2009 Aufgrund des wachsenden internationalen Drucks, der nicht nur in so manch verbaler Entgleisung wie der des ehemaligen deutschen Finanzministers Peer Steinbrück gipfelte und in der Einführung einer „grauen Liste“ sowie der Androhung von Sanktionsmaßnahmen gegen vermeintlich unkooperative Jurisdiktionen mündete,26 sah sich die Luxemburger Politik gezwungen, zum Zwecke des internationalen Informationsaustauschs in Steuersachen ab 2009 weitreichende Einschränkungen des Bankgeheimnisses vorzunehmen. Neben den Zweck der Missbrauchsbekämpfung tritt hier also auch das Ziel der Integration in die internationale Staatengemeinschaft. a) Erweiterter Informationsaustausch nach neuen Doppelbesteuerungsabkommen So hat Luxemburg 2009 seinen Vorbehalt gegenüber Art. 26 OECD-MA aufgegeben und akzeptiert bei Verhandlungen zu neuen Doppelbesteuerungsabkommen sowie Neuverhandlungen von bestehenden Doppelbesteuerungsabkommen, Protokollen und Zusatzvereinbarungen insbesondere auch die Integration von Art. 26 Abs. 4, Abs. 5 OECD-MA. Bereits im Juli 2009 hatte Luxemburg zwölf entsprechende Vereinbarungen getroffen, sodass Luxemburg zur „weißen Liste“ der OECD hinzugefügt wurde.27 Nach Ansicht des Global Forum Reports vom September 2011 hat Luxemburg den erforderlichen Standard des Informationsaustauschs implementiert.28

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G20 London Summit – Leaders’ Statement vom 2. April 2009. Alain Steichen, Information Exchange in Tax Matters: Luxembourg’s New Tax Policy, in: Rust/Fort (Hrsg.), Exchange of Information and Bank Secrecy, Alphen am Rhein 2012, S. 9 (17). 28 OECD, The Global Forum on Transparency and Exchange of Information for Tax Purposes, Peer Review Report of Luxembourg, Phase 1, Legal and Regulatory Framework (2011). 27

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Inzwischen hat Luxemburg 52 Doppelbesteuerungsabkommen nach dem neuen Standard verhandelt, wovon bereits 46 in Kraft getreten sind.29 Mit der vollständigen Integration des Art. 26 OECD-MA bleibt der Informationsaustausch nicht auf solche Auskünfte beschränkt, die zur konkreten Durchführung des Abkommens erforderlich sind (sog. kleine Auskunftsklausel), also um eine abkommenswidrige Besteuerung zu verhindern. Vielmehr erstreckt sich der Informationsaustausch unabhängig von der konkreten Anwendung des Abkommens auf alle Informationen, die für die innerstaatliche Besteuerung von Bedeutung sein können (sog. große Auskunftsklausel). Bis zur Änderung der Abkommenspolitik im Jahr 2009 hatte Luxemburg in etwa so viele Abkommen mit kleiner Auskunftsklausel wie mit großer Auskunftsklausel abgeschlossen. Art. 26 OECD-MA erlaubt grundsätzlich drei Arten des Informationsaustauschs in Steuersachen: Die Auskunft auf Ersuchen, die automatische Auskunft und Spontanauskünfte.30 Die luxemburgische Regierung hat mehrfach ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sie Auskünfte nur auf Ersuchen erteilt.31 Voraussetzung für eine Auskunft auf Ersuchen nach Art. 26 OECD-MA ist, dass die angefragte Information voraussichtlich erheblich ist (Art. 26 Abs. 1 OECD-MA). Das Erfordernis der voraussichtlichen Erheblichkeit der Information bedeutet zwar nicht, dass zum Zeitpunkt eines Auskunftsersuchens die Erheblichkeit der ersuchten Information für ein steuerliches Verfahren bereits feststehen muss. Es bedeutet aber, dass zu diesem Zeitpunkt eine vernünftige Möglichkeit besteht, dass die Information für steuerliche Zwecke relevant sein wird. In der Praxis soll ein Ersuchen den Namen des Steuerzahlers, den Besteuerungszweck und die Relevanz der ersuchten Information dafür, den Grund für die Annahme, dass die ersuchte Information in Luxemburg ermittelt werden kann sowie den Namen der Bank, bei der die Information voraussichtlich zu erhalten ist, umfassen.32 Eine Verpflichtung zur Auskunftserteilung bei Anfragen „ins Blaue hinein“ (sog. „fishing expeditions“) besteht für den ersuchten Ver-

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In Kraft getreten sind bisher (1. Januar 2015) die Abkommen mit folgenden Staaten: Armenien, Bahrain, Barbados, Belgien, Deutschland, Dänemark, Finnland, Frankreich, Guernsey, Hong Kong, Island, Isle of Man, Indien, Japan, Jersey, Kanada, Kasachstan, Katar, Liechtenstein, Mazedonien, Malta, Mexiko, Monaco, Niederlande, Norwegen, Panama, Polen, Portugal, San Marino, Schweden, Schweiz, Slowenien, Spanien, Südkorea, Rumänien, Russland, Seychellen, Sri Lanka, Tadschikistan, Taiwan, Tschechien, Türkei, Laos, Vereinigtes Königreich und Vereinigte Staaten von Amerika. Nicht in Kraft getreten sind bisher die Abkommen mit folgenden Staaten: Irland, Italien, Kroatien, Mauritius, Oman und Saudi Arabien. 30 Zur Abgrenzung sei instruktiv verwiesen auf: Ernst Czakert, in: Schönfeld/Ditz (Hrsg.), Doppelbesteuerungsabkommen, Köln 2013, Art. 26, Rn. 43 ff. 31 Alain Steichen, Information Exchange in Tax Matters: Luxembourg’s New Tax Policy, in: Rust/Fort (Hrsg.), Exchange of Information and Bank Secrecy, Alphen am Rhein 2012, S. 9 (19). 32 Alain Steichen, Information Exchange in Tax Matters: Luxembourg’s New Tax Policy, in: Rust/Fort (Hrsg.), Exchange of Information and Bank Secrecy, Alphen am Rhein 2012, S. 9 (22).

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tragsstaat nicht.33 Hinsichtlich der nach der Revision des OECD-MK 2012 eindeutig erlaubten Gruppenanfragen bleibt abzuwarten, ob Luxemburg diese nur für nach der Revision abgeschlossene oder veränderte Doppelbesteuerungsabkommen annimmt, oder eine dynamische Auslegung der bestehenden Abkommen und damit Gruppenanfragen zulässt. Darüber hinaus folgt aus dem Erheblichkeitserfordernis außerdem, dass ein Informationsersuchen nur erfolgen darf, wenn die ersuchte Information nicht durch eigene Nachforschungen auf dem eigenen Staatsgebiet beschafft werden kann. Nach diesem Subsidiaritätsgrundsatz müssen also, bevor ein Auskunftsersuchen gestellt wird, alle innerstaatlichen Auskunftsquellen ausgeschöpft werden.34 Der erhebliche Arbeitsaufwand, den die Beantwortung eines Informationsersuchens verursacht, soll damit für Fälle, in denen die ersuchende Behörde mit eigenen Ermittlungsmaßnahmen an die fragliche Information gelangen kann, vermieden werden. Aufgrund der in den letzten Jahren vermehrt aufgetretenen Fälle des Erwerbs von Daten-CDs, die rechtswidrig beschaffte Informationen von Bankmitarbeitern enthielten,35 stellt sich die Frage, ob Auskunftsersuchen, die auf derart gewonnene Anhaltspunkte zurückgehen, von der luxemburgischen Steuerverwaltung auf Basis des entsprechenden Doppelbesteuerungsabkommens erfüllt werden müssen. Dem könnte der Vorbehalt der öffentlichen Ordnung nach Art. 26 Abs. 3 lit. c) OECD-MA entgegenstehen. Der ordre public-Vorbehalt soll verhindern, dass der Auskunftsverkehr in schwerwiegender Form gegen Grundwerte der Vertragsstaaten verstößt.36 Der in Luxemburg unter Strafandrohung stehende Diebstahl von Daten stellt einen solchen Verstoß dar, sodass in solchen Fällen die Pflicht zur Auskunftserteilung entfällt.37 Luxemburg adaptiert den OECD-Standard zum Informationsaustausch auf der Basis von Doppelbesteuerungsabkommen damit seit 2009 umfänglich und konsequent.

33 Vgl. Alain Steichen/Jan Böing, Neuerungen zum Informationsaustausch in Steuersachen zwischen Deutschland und Luxemburg auf der Grundlage von Artikel 23 des deutsch-luxemburgischen DBA, IStR 2012, S. 104 (106 f.); Alain Steichen, Manuel de Droit fiscal, Luxemburg 2015, S. 327 f. 34 Vgl. MA-Komm. Ziff. 9 Buchst. a; für Deutschland auch: BMF-Merkblatt zur zwischenstaatlichen Amtshilfe Tz. 2.1.2. 35 Vgl. zur rechtlichen Problematik der Beschaffung steuerlich relevanter Informationen gegen Bezahlung bereits: Rudolf Wendt, Die rechtliche Problematik der Beschaffung steuerlich relevanter Informationen gegen Bezahlung, DStZ 1998, S. 145 ff. 36 Steffen Lampert/Till Meickmann, Informationsaustausch mit Drittstaaten – von der Auskunfts- zur Verweigerungspflicht?, ISR 2014, S. 305 (308) m.w.N. 37 Differenziert dazu: Alain Steichen, Information Exchange in Tax Matters: Luxembourg’s New Tax Policy, in: Rust/Fort (Hrsg.), Exchange of Information and Bank Secrecy, Alphen am Rhein 2012, S. 9 (26); vgl. Alain Steichen/Jan Böing, Neuerungen zum Informationsaustausch in Steuersachen zwischen Deutschland und Luxemburg auf der Grundlage von Artikel 23 des deutsch-luxemburgischen DBA, IStR 2012, S. 104 (107 ff.).

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b) Automatischer Informationsaustausch nach der EU-Zinsrichtlinie Im April 2013 hat der damalige luxemburgische Premierminister Jean-Claude Juncker angekündigt, das Großherzogtum werde ab dem 1. Januar 2015 vollumfänglich am automatischen Informationsaustausch gemäß der Zinsrichtlinie teilnehmen.38 Entsprechend wird die bisherige Option der Quellenbesteuerung in Höhe von 35 Prozent entfallen. Die in Luxemburg ansässigen Wirtschaftsakteure, die Zinserträge an außerhalb des Großherzogtums, aber im Gebiet der EU ansässige natürliche Personen zahlen (im Wesentlichen sind das Banken im klassischen Sinne), müssen die erforderlichen Informationen dann an die zuständigen luxemburgischen Steuerbehörden melden. Diese wiederum werden die erhaltenen Informationen sodann an die zuständigen Steuerbehörden des Mitgliedstaates, in dem der wirtschaftliche Eigentümer ansässig ist, weitergeben. Der Anwendungsbereich der Zinsrichtlinie beschränkt sich bisher jedoch im Wesentlichen auf den Informationsaustausch klassischer Zinserträge. Andere Finanzprodukte, die vergleichbare Erträge erwirtschaften, beispielsweise bestimmte Lebensversicherungen, werden nicht erfasst. Außerdem werden bestimmte indirekte Formen des Eigentums an verzinslichen Wertpapieren bisher nicht erfasst. Um diese Lücken zu schließen, hat der Rat der Europäischen Union die Zinsrichtlinie Anfang 2014 verschärft.39 Die Umsetzung in nationales Recht muss bis zum 1. Januar 2016 erfolgen und eine Anwendung ab dem Jahr 2017 sichergestellt sein.40 c) Informationsaustausch nach der EU-Amtshilferichtlinie Eine weitere Grundlage des Informationsaustauschs zwischen den Mitgliedstaaten stellt die aktuelle Amtshilferichtline41 dar. Die Richtlinie implementiert den OECD-Standard des Informationsaustauschs auf Ersuchen auf europäischer Ebene. Insbesondere kann ein Mitgliedstaat die Informationserteilung gem. Art. 18 Abs. 2 der Amtshilferichtlinie nicht verweigern, weil die Informationen sich bei einer Bank, einem sonstigen Finanzinstitut, einem Bevollmächtigten, Vertreter oder Treuhänder befinden oder sich auf Eigentumsanteile an einer Person beziehen. Insofern verschärft diese Richtlinie nicht die von Luxemburg bereits seit 2009 eingegangenen Kompromisse. 38 Mélanie Staes, The Implementation of the EU Savings Directive and Directive 2011/16/ EU in Luxembourg National Law: Recent Developments, EC Tax Review 2014, 238 (239). 39 Richtlinie 2014/48/EU zur Änderung der Richtlinie 2003/48/EG im Bereich der Besteuerung von Zinserträgen. 40 Dass Luxemburg die neue Richtlinie umsetzen wird, hat der luxemburgische Premierminister Xavier Bettel am 6. Februar 2014 angekündigt, Mélanie Staes, The Implementation of the EU Savings Directive and Directive 2011/16/EU in Luxembourg National Law: Recent Developments, EC Tax Review 2014, 238 (241). 41 Richtlinie 2011/16/EU über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Aufhebung der Richtlinie 77/799/EWG.

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Allerdings umfasst die Amtshilferichtlinie seit 2015 auch eine Verpflichtung zum automatischen Informationsaustausch hinsichtlich der Vergütungen aus unselbständiger Arbeit, Aufsichtsrats- oder Verwaltungsratsvergütungen, gewisse Lebensversicherungsprodukte, Ruhegehälter sowie Eigentum an unbeweglichem Vermögen und Einkünfte daraus. Dabei muss der automatische Informationsaustausch nur insoweit erfolgen, als die Informationen den nationalen Steuerbehörden tatsächlich vorliegen. Durch eine Ende 2014 vom Rat der Europäischen Union mit Zustimmung Luxemburgs geplante Änderung der Amtshilferichtlinie sollen künftig auch Zinsen, Dividenden und andere Kapitaleinkünfte ebenso wie Kontostände und Erlöse aus der Veräußerung von Kapitalvermögen vom automatischen Informationsaustausch umfasst sein. Das Erfordernis der Verfügbarkeit der Information soll für Kapitaleinkünfte nicht weiter gelten. Diese Erweiterung des Anwendungsbereichs der Amtshilferichtlinie soll bis 2017 implementiert werden.42 d) Verhältnismäßigkeit des neuen Regimes Der Ausgleich zwischen den Individualinteressen am Bankgeheimnis und den Allgemeinwohlinteressen an der Durchbrechung des Bankgeheimnisses hat sich in Luxemburg seit 2009 und insbesondere ab 2013 in rasantem Tempo und geradezu erdrutschartig verschoben. Während das Bankgeheimnis zuvor nur in besonderen Ausnahmefällen gelüftet wurde, steigt dessen Durchbrechung in Steuersachen nunmehr zum Regelfall auf. Diese Entwicklung wurde von vielen (europäischen) Staaten vehement eingefordert und entspricht dem aktuellen Zeitgeist, der insofern eine maximale Transparenz erwartet. In Zukunft wird das Bankgeheimnis in Luxemburg zur Residualgröße zusammengeschrumpft; man darf mit guten Gründen fragen, was davon für Nicht-Luxemburger noch übrig bleibt. Ausgehend von diesem Befund drängt sich die Prüfung auf, ob damit noch ein verhältnismäßiger (insbesondere erforderlicher und angemessener) Ausgleich zwischen den antipolaren Interessen gefunden wird. In Bezug auf die Erforderlichkeit und die Angemessenheit der Maßnahmen ist eine Differenzierung zwischen den Änderungen bis und ab 2013 notwendig. aa) Situation bis zum Jahr 2013 Die Adaptation des OECD-Standards in Doppelbesteuerungsabkommen als Maxime der luxemburgischen Abkommenspolitik (Änderungen bis 2013) lässt (noch) keine massenhafte, strukturelle Durchbrechung des Bankgeheimnisses zu. Zur Lüftung des Bankgeheimnisses kommt es nur unter den recht engen Voraussetzungen des Art. 26 OECD-MA. Namentlich sog. „fishing expeditions“ sind danach nicht möglich, sondern nur anlass- und verdachtsbezogene Auskünfte. Dabei sicherte die lu42 Siehe Pressemitteilung des Rates der Europäischen Union vom 9. Dezember 2014 „Preventing tax evasion and fraud: the scope for automatic exchange of information is extended“ Nr. 16644/14, online abrufbar: http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/ docs/pressdata/en/ecofin/146126.pdf.

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xemburgische Judikative die Rechte der Steuerpflichtigen durch eine präzise Prüfung der Relevanz angefragter Daten. Nur wenn und soweit diese zur Klärung des der Anfrage zugrundeliegenden Sachverhalts von Nöten waren, wurden die Daten an die auskunftsersuchende Behörde weitergegeben. Gegen diese Konzeption ist im Kern nichts einzuwenden. Ohne einen Informationsaustausch auf Ersuchen entsteht praktisch kein Entdeckungsrisiko, sodass der Steuervollzug nicht gesichert werden kann. Mildere Mittel zur Schaffung eines Entdeckungsrisikos und damit zur Sicherung der gesetzmäßigen und gleichmäßigen Besteuerung kommen nicht in Betracht. Wegen der allein verdachts- bzw. anlassbezogenen Durchbrechung des Bankgeheimnisses und des auf das notwendige Maß beschränkten Umfangs des Datenaustauschs samt der gerichtlichen Absicherung dieser Begrenzung ist der damit verbundene Eingriff in freiheitsrechtliche Positionen nach Art und Gewicht durchaus noch als eher mittelschwer einzuordnen. Bedenkt man im Vergleich dazu die erheblichen Interessen an einem korrekten Steuervollzug, sind die bis 2013 getroffenen Maßnahmen zum internationalen Informationsaustausch auch als angemessen zu akzeptieren. bb) Situation ab dem Jahr 2013 Die Schritte hin zu einem automatischen Informationsaustausch, der einer faktischen Abschaffung des Bankgeheimnisses gleichkommt (Änderungen ab 2013), begegnen hingegen sowohl hinsichtlich ihrer Erforderlichkeit als auch ihrer Angemessenheit ganz erheblichen Bedenken. Erschwerend kommt hinzu, dass die Grenzen des Informationsaustauschs auf Ersuchen und deren gerichtliche Kontrolle hinsichtlich der Relevanz angefragter Daten jedenfalls in der Praxis weitgehend aufgegeben werden.43 (1) Die Alternative der Quellenbesteuerung: Eine Chance auf schonenderen Ausgleich? Zunächst kommt mit einer umfassenden Quellenbesteuerung flankiert durch einen verdachtsbezogenen Informationsaustausch auf Ersuchen und der Option zur Offenlegung der Erträge im Rahmen des automatischen Informationsaustauschs durchaus ein milderes, aber gleich geeignetes Mittel in Betracht.44 Um die gleiche Eignung zur Verfolgung der o.g. Zwecke aufzuweisen, müsste ein solches Modell zwar in mancherlei Hinsicht deutlich weiter gehen, als dies im Rahmen der Zinsrichtlinie bereits der Fall war; doch scheint dies ohne weiteres denkbar. Zunächst müsste die Höhe des Quellensteuersatzes angepasst werden. Dieser sollte nicht nur dem Petitum der Belastungsgleichheit, sondern auch den Fiskalinteressen des jeweiligen 43 Beachte die grundlegenden gesetzlichen Änderungen durch das Gesetz Nr. 6680 vom 25. November 2014 über das Verfahren des Informationsaustauschs auf Anfrage in Steuersachen und zur Änderung des Gesetzes vom 31. März 2010 über die Genehmigung von Steuerabkommen zur Einführung des Verfahrens des Informationsaustauschs auf Anfrage. 44 Kritisch zur gleichen Eignung solcher Regelungen: Pasquale Pistone, Exchange of Information and Rubik Agreements: The Perspective of an EU Acadamic, in: Bulletin for International Taxation 2013, S. 216 ff.

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Wohnsitzstaats Rechnung tragen. In concreto hieße das, dass dem jeweiligen Staat aus der Quellensteuer ein ebenso hoher Anteil am Ertrag zukommen müsste, wie dies beim inländischen Fall gegeben wäre.45 Außerdem wird der aktuell favorisierte automatische Informationsaustausch zu einem starken Fahndungsdruck führen und damit eine beträchtliche Anzahl von strafbefreienden Selbstanzeigen mit der Folge erheblicher Nachversteuerungen von bisher nicht deklarierten Erträgen hervorrufen. Um diesen Effekt äquivalent nachzubilden, steht das Modell einer Quellensteuer vor einer besonderen Herausforderung. Neben einer Regelung für laufende Kapitalerträge wäre bei der alternativen Erhebung der Quellensteuer daher zwingend auch eine Regelung für eine strafbefreiende Nachversteuerung der bisherigen Erträge erforderlich. Auch hier dürften sich im Vergleich zur strafbefreienden Selbstanzeige für den Steuerpflichtigen keine finanziellen Vorteile ergeben und dem betroffenen Steuerstaat müssten die gleichen Steuerbeträge zufließen.46 Wahlweise müsste der Steuerpflichtige, wie schon nach dem alten Modell der Zinsrichtlinie, zum automatischen Informationsaustausch optieren können. Über diese Option könnte sich der Steuerpflichtige den erhöhten Belastungen unter Preisgabe des Bankgeheimnisses entziehen. Vice versa könnte er sich das Bankgeheimnis in einem solchen am Rubik-Standard angelehnten Modell zum Preis der erhöhten steuerlichen Belastung bewahren. Damit stünden dem Steuerpflichtigen zwei unterschiedliche Optionen zur Wahrung seiner Interessen im Ausgleich der gegenläufigen Allgemeinwohlinteressen zur Wahl. Unseres Erachtens ist eine ausgewogene, vom Informationsaustausch auf Ersuchen flankierte Quellensteuer mit der Option zum automatischen Informationsaustausch insgesamt besser geeignet, die gebotene Missbrauchsbekämpfung mit der ebenfalls gebotenen Wahrung persönlicher Geheimhaltungsinteressen zu versöhnen, sodass die seit 2013 ergriffenen Maßnahmen den Anforderungen der Erforderlichkeit nicht genügen können. (2) Angemessenheit Unterstellt man einmal die Erforderlichkeit der seit 2013 ergriffenen Maßnahmen, erscheint jedenfalls die Angemessenheit des automatischen Informationsaustauschs nach der EU-Zinsrichtlinie und der EU-Amtshilferichtlinie höchst fraglich. Die generelle Offenlegung der Daten ohne jegliche Möglichkeit zur Einflussnahme seitens des betroffenen Bankkunden oder der Bank ist als der denkbar massivste Eingriff in die geschützten Rechte der beiden Vertragsparteien zu qualifizieren. Im Grun-

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Bei einer Aufteilung nach dem Schema 75 Prozent zu 25 Prozent bedeutete dies für in der Bundesrepublik ansässige natürliche Personen einen Quellensteuersatz von 35,167 Prozent im Vergleich zu einer Belastung von 26,375 Prozent in Deutschland (25 Prozent Abgeltungsteuer zuzüglich 1,375 Prozentpunkte Solidaritätszuschlag). 46 Auch hier ist davon auszugehen, dass die Belastung für den Steuerpflichtigen im Vergleich zur strafbefreienden Selbstanzeige höher ausfallen würde.

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de bleibt vom Schutz dieser Daten nichts mehr übrig.47 Diesem Befund stehen zwar erhebliche Interessen an der Missbrauchsbekämpfung gegenüber. Jedoch sind die Fortschritte und Verbesserungen, die durch den automatischen Informationsaustausch im Vergleich zu den bis 2013 initiierten Möglichkeiten zur Bekämpfung von Steuerhinterziehung erreicht werden, marginal. Zugleich werden die ausländischen Kunden ohne jeden konkreten Anhaltspunkt unter den Generalverdacht der Steuerhinterziehung gestellt; ihren Interessen an der Geheimhaltung ihrer Bankdaten wird in keiner Weise mehr Rechnung getragen. Der automatische Informationsausgleich schafft keinen Ausgleich zwischen den unterschiedlichen Interessen, sondern räumt der Bekämpfung der Steuerhinterziehung aus fiskalischen Gründen ohne jede Rücksicht auf das rechtlich geschützte Bankgeheimnis und die dahinterstehenden verschiedenen Interessen und Belange völlig einseitig Vorrang ein. Die freiheitsrechtlichen Anforderungen der Angemessenheit werden damit verfehlt. Vollends über das Ziel schießt es dann hinaus, wenn der luxemburgische Gesetzgeber zusätzlich die bislang noch bestehenden Grenzen des Informationsaustauschs auf Ersuchen jedenfalls praktisch aufhebt.48 Scheinbar geht der Gesetzgeber davon aus, dass es auf diese angesichts des automatischen Informationsaustausches nun ohnehin nicht mehr ankomme. Entfällt jedoch die gerichtliche Kontrolle der Relevanz angefragter Daten, werden die letzten Reste der ohnehin schon weitgehend eingeebneten Dämme eingerissen, die in der Vergangenheit noch im Ansatz den Schutz persönlicher Daten sicherten. Es lässt sich einmal mehr feststellen, wie groß doch die Gefahr ist, unter einem als übermächtig empfundenen externen Druck das Augenmaß zu verlieren und von einem Extrem in das andere zu verfallen. Man kann das Kind eben auch mit dem Bade ausschütten. cc) Zusammenfassung Während die bis 2013 ergriffenen Maßnahmen als verdachtsbezogene Durchbrechungen des Bankgeheimnisses den Anforderungen rechtsstaatlicher und freiheitsschützender Verhältnismäßigkeit (noch) genügen, greift die mit dem automatischen Informationsaustausch verbundene Abschaffung des Bankgeheimnisses für ausländische Kunden in unverhältnismäßiger und damit nicht zu rechtfertigender Weise in die durch die Luxemburger Verfassung, die EU-GRCh und die EMRK geschützten Rechte von Banken, Finanzdienstleistern und ihren Kunden ein.

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Alain Steichen, Manuel de Droit fiscal, Luxemburg 2015, S. 325 ff. Seit Ende 2014 steht dem Steuerpflichtigen gegenüber sog. „fishing expeditions“ im Rahmen von Auskunftsersuchen jedenfalls praktisch kein effektiver Rechtsschutz mehr zur Verfügung (vgl. die grundlegenden gesetzlichen Änderungen durch das Gesetz Nr. 6680 vom 25. November 2014 über das Verfahren des Informationsaustauschs auf Anfrage in Steuersachen und zur Änderung des Gesetzes vom 31. März 2010 über die Genehmigung von Steuerabkommen zur Einführung des Verfahrens des Informationsaustauschs auf Anfrage). 48

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III. Abschließende Betrachtung Das Bankgeheimnis ist nach den Skandalen der letzten Jahre um angekaufte Steuer-CDs und prominente Steuersünder als reines Vehikel der Steuerhinterziehung attackiert worden. Dass einige das Bankgeheimnis tatsächlich zum Zweck der Steuerhinterziehung missbrauchen, lässt sich zwar nicht von der Hand weisen. Dennoch spricht vieles dafür, dass die meisten Steuerzahler das Bankgeheimnis als legitimen und legalen Schutz der eigenen Daten begreifen. Es ist eine außerordentliche Herausforderung im Spannungsfeld zwischen legitimen Allgemeinwohlinteressen und den ebenso legitimen Interessen der Banken und ihrer Kunden einen sachgerechten Ausgleich zu finden. Wer meint, mit der Abschaffung des Bankgeheimnisses ein Patentrezept zur Lösung dieses Interessenkonflikts gefunden zu haben, verfehlt die gebotene Interessenabwägung und stigmatisiert in kaum erträglicher Weise sowohl ein althergebrachtes Rechtsinstitut als auch die Unternehmen und ihre Kunden, denen der Schutz ihrer Daten etwas wert ist. Gerade mit Blick auf den Datenschutz wirkt es nahezu bigott, wie Gesellschaft, Medien und europäische Politik diesen derzeit gegenüber den Vereinigten Staaten und hoch innovativen IT-Unternehmen immer vehementer einfordern. So wird regelmäßig vorgetragen, dass auch in einer vernetzten Welt die heterogenen rechtlichen Standards weiterhin ihre Berechtigung haben und dementsprechend zu beachten seien. Bei den hochsensiblen Bankdaten scheinen die dazu vorgebrachten Argumente aber nicht zu gelten. Weder wird dem freiheitlichen, datenschutzrechtlichen Aspekt des Bankgeheimnisses Rechnung getragen, noch wird die diesbezügliche Heterogenität der Rechtsordnungen akzeptiert. Es drängt sich die Vermutung auf, dass Triebfeder dieser „Hexenjagd“ etwas anderes als das reine Streben nach Steuergerechtigkeit sein muss. Es bleibt letztlich nur die Hoffnung, dass sich die Gesellschaften der Industrienationen ebenso wie die internationale Staatengemeinschaft bald eines Besseren besinnen, das über die Maßen ausgeschlagene Pendel des Informationsaustausches zurückschwingt und das Bankgeheimnis nicht nur in Luxemburg eine Renaissance erfahren kann.

Die Bankenabgabe – ein Placebo zur Beruhigung des Steuerzahlers? Von Gerd Waschbusch und Andrea Rolle, Saarbrücken I. Die Bankenabgabe – eine Reaktion auf die Finanzkrise Unter Verweis auf die Schutzbedürftigkeit des Finanzsystems sah sich die Bundesregierung im Verlauf der jüngsten Finanzkrise dazu gezwungen, in Schieflage geratene Kreditinstitute u. a. durch die Zusage von Garantien sowie die Bereitstellung finanzieller Mittel zu stützen.1 Das von der Bundesregierung ausgesprochene Angebot einer Rekapitalisierung haben bspw. die Hypo Real Estate Holding und die Commerzbank AG wahrgenommen.2 Operationalisiert wurden die finanziellen Stützungsmaßnahmen maßgeblich durch die Einrichtung des Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung (FMS; auch: Finanzmarkstabilisierungsfonds, SoFFin). Dieser speist sich als ein nicht rechtsfähiges Sondervermögen des Bundes letztlich aus Steuermitteln, so dass primär der deutsche Steuerzahler – und nicht die Banken als (Haupt-)Verursacher der Finanzkrise – die Kosten der durchgeführten Restrukturierungsmaßnahmen trug.3 Diese systematische Sozialisierung von Verlusten bei gleichzeitiger Privatisierung von Gewinnen widerspricht jedoch nicht nur jeglichem Gerechtigkeitsempfinden,4 sondern auch den Grundpfeilern der sozialen Marktwirtschaft. Um daher sicherzustellen, dass Verluste im Falle drohender Kreditinstitutsinsolvenzen zukünftig von der Kreditwirtschaft selbst getragen werden können,5 werden die Institute in Deutschland seit 2011 ex ante an der Finanzierung eines Restrukturierungsfonds für Kreditinstitute beteiligt.6 Die diesen Fonds anfüllende Abgabe – und Gegenstand des folgenden Beitrags – ist die von den Banken abzuführende Bankenabgabe.7 Gesetzliche Grundlage für die Einrichtung des Restrukturierungsfonds und die Ausgestaltung der Bankenabgabe ist das Restrukturierungsfonds-

1 Vgl. Paul, S. 599; Staub, S. 74 Fn. 455. Zu den Entwicklungsstufen der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise vgl. etwa Staub, S. 59 – 86. 2 Vgl. Sinn (2012), S. 96 – 97; Paul, S. 599; Schneider, S. 28. 3 Vgl. Niehaus, S. 43. 4 Vgl. Bundesministerium der Finanzen, Restrukturierungsgesetz. 5 Vgl. Schaap/van Dülmen, S. 9. 6 Vgl. Schneider, S. 28. 7 Vgl. Helios/Birker, S. 477.

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gesetz (RStruktFG)8, das als ein Bestandteil des Restrukturierungsgesetzes (RStruktG)9 zum 1. Januar 2011 in Kraft getreten ist. Die Restrukturierungsfondsverordnung (RStruktFV)10 konkretisiert die Erhebung der Beiträge zum Restrukturierungsfonds. Die vorliegenden Ausführungen verfolgen das Ziel, die Bankenabgabe als Präventivinstrumentarium zur Stabilisierung des Finanzsystems kritisch zu reflektieren. Zugunsten einer betriebswirtschaftlichen Betrachtung soll dabei auf eine steuer-, verfassungs- respektive europarechtliche Beurteilung verzichtet werden.11 Vor diesem Hintergrund werden in einem ersten Schritt die Zielsetzung und der Verwendungszweck der Bankenabgabe analysiert. Im nächsten Schritt fokussiert der Beitrag den Adressatenkreis der Bankenabgabe und skizziert ihre Berechnungsmethodik. Nachdem die Bankenabgabe auf ihre Eignung – insbesondere zur Entlastung des Steuerzahlers im Krisenfall eines oder mehrerer Institute – hin untersucht wurde, schließt der Beitrag mit einem Fazit. II. Die Bankenabgabe nach dem Restrukturierungsfondsgesetz sowie der Restrukturierungsfondsverordnung 1. Zwecksetzung und Verwendungszweck Die den Kreditinstituten nach dem Restrukturierungsfondsgesetz auferlegte Bankenabgabe fungiert als eine nichtsteuerliche Sonderabgabe für Kreditinstitute.12 In dem der Erhebung dieser Sonderabgabe zugrunde liegenden Zielsystem lassen sich grundsätzlich zwei Hauptzwecksetzungen identifizieren: Die erste Zielsetzung rekurriert auf das Verantwortungsprinzip im Bankensektor (sog. Verursachungsziel). Dieses äußert sich primär darin, dass die bankinternen Entscheidungsträger sich der Auswirkungen ihres Handelns bewusst sein und dafür selbstverständlich die Verantwortung übernehmen sollten.13 Das Einstehen für getroffene Entscheidungen führt dann einerseits dazu, an einem positiven Ausgang teilhaben zu können; andererseits 8

Gesetz zur Errichtung eines Restrukturierungsfonds für Kreditinstitute vom 9. 12. 2010 in der Fassung der Bekanntmachung vom 9. 12. 2010, BGBl. I S. 1900, 1921, zuletzt geändert durch Art. 3 des Gesetzes vom 20. 12. 2012, BGBl. I S. 2777. Rechtsstand des Beitrags ist November 2014. 9 Gesetz zur Restrukturierung und geordneten Abwicklung von Kreditinstituten, zur Errichtung eines Restrukturierungsfonds für Kreditinstitute und zur Verlängerung der Verjährungsfrist der aktienrechtlichen Organhaftung vom 9. 12. 2010, BGBl. I S. 1900. 10 Verordnung über die Erhebung der Beiträge zum Restrukturierungsfonds für Kreditinstitute vom 20. 07. 2011, BGBl. I S. 1406, zuletzt geändert durch Art. 7 des Gesetzes vom 26. 06. 2012, BGBl. I S. 1375. 11 Vgl. zu steuer-, verfassungs- oder europarechtlichen Aspekten der Bankenabgabe etwa Schön/Hellgardt/Osterloh-Konrad, Sonderabgabe; Schön/Hellgardt/Osterloh-Konrad, Ausgestaltung; Feyerabend/Behnes/Helios, S. 44 – 45; Ammelung/Frank. Vgl. zu Rechtsfragen der Bankenabgabe Hanten/München. 12 Vgl. Deutscher Bundestag (2010), S. 72. 13 Vgl. o. V. (2009), S. 14; Waschbusch, S. 40.

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bedeutet es gleichermaßen eine Haftung für getroffene Fehlentscheidungen.14 Dies gilt uniform für die gewinnbeteiligten Eigenkapitalgeber von Kreditinstituten, welche an den entstandenen Gewinnen partizipieren können, im Verlustfall aber auch haften müssen. Die im Rahmen der Finanzkrise zu beobachtende Stützung in Schieflage geratener Kreditinstitute mithilfe des Finanzmarktstabilisierungsfonds konterkarierte das Verursachungsprinzip grundlegend. Denn dieser Fonds speist sich aus dem allgemeinen Steueraufkommen, so dass letztlich – abgesehen von ihrer Eigenschaft als Steuerzahler – nicht die beteiligten Eigen- und Fremdkapitalgeber selbst, sondern die Steuerzahler für die Verluste der Banken eingestanden sind. Mit der Einführung der Bankenabgabe intendiert der Gesetzgeber, diesen Missstand zu beheben, indem er die Kreditinstitute selbst dazu verpflichtet, den im Falle einer Institutsschieflage greifenden Restrukturierungsfonds a priori anzufüllen.15 Folglich soll in Zukunft nicht mehr der Steuerzahler haftbar gemacht werden; stattdessen ist die Kreditwirtschaft selbst in der Verantwortung, in Schieflage geratene Institute mit eigenen Mitteln zu stützen. D. h., durch diese Präventivmaßnahme sollen mit Steuergeldern finanzierte staatliche Stützungen in Zukunft weitgehend vermieden werden.16 Mit dem Verursachungsziel inhaltlich verwandt gestaltet sich die zweite zentrale mit der Bankenabgabe verfolgte Zielsetzung, die in der Steuerung der Risikonahme der Kreditinstitute besteht und somit eine Lenkungswirkung besitzt (sog. Risikosteuerungsziel).17 Durch die Koppelung der Höhe der abzuführenden Bankenabgabe an eine institutsindividuelle, risikoadjustierte Bemessungsgrundlage sollen Banken entsprechend ihrem Risikoprofil belastet werden. Die Bankenabgabe sucht Kreditinstitute somit dahingehend zu steuern, ihr Risiko bewusst zu begrenzen und sie zu einer risikoadäquaten Unternehmensführung zu bewegen.18 Die in Form der Bankenabgabe von den Kreditinstituten abzuführenden Beiträge dienen – wie bereits erwähnt – dazu, den bei der Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung errichteten Restrukturierungsfonds kontinuierlich anzufüllen.19 Er wird 14

Vgl. Marx, S. 12; Waschbusch, S. 40. Vgl. Bundesministerium der Finanzen, Restrukturierungsgesetz; Schuschnig/Sylle, S. 288. 16 Vgl. Schuschnig/Sylle, S. 288. 17 Vgl. Deutscher Bundestag (2010), S. 4. Vgl. auch Paul, S. 600 m. w. N., der inhaltlich ähnlich vom „Lenkungs- bzw. Risikobegrenzungsziel“ spricht. Paul, S. 600 m. w. N. identifiziert neben dem Lenkungs- bzw. Risikobegrenzungsziel das – dem Verursachungsziel inhaltlich ähnliche – „Gerechtigkeitsziel“, welches eine ex post-Beteiligung der Banken an den entstandenen Kosten der Krise vorsieht, um sie mit der Gesellschaft zu versöhnen. 18 Vgl. Deutscher Bundestag (2010), S. 4. 19 Vgl. § 12 Abs. 1 Satz 1 RStruktFG. Dabei sind die angesammelten Mittel derart „anzulegen, dass eine möglichst große Sicherheit und ausreichende Liquidität der Anlagen gewährleistet sind.“ § 12 Abs. 1 Satz 3 RStruktFG. Dementsprechend werden die bisher angesammelten Mittel „sicher und liquide in Euro-denominierten, handelbaren Schuldverschreibungen von Emittenten mit sehr hoher Bonität angelegt“. FMSA (2014). 15

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von der der Rechts- und Fachaufsicht des Bundesministeriums der Finanzen unterstehenden Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung (FMSA) verwaltet.20 Die Verwaltung der finanziellen Mittel des Restrukturierungsfonds ist zweckgebunden.21 So darf das Aufkommen des – als Sondervermögen des Bundes fungierenden –22 Restrukturierungsfonds nicht für den allgemeinen Staatshaushalt vereinnahmt, sondern ausschließlich dazu verwendet werden, den Finanzmarkt durch die Überwindung von Bestands-23 und Systemgefährdungen24 i. S. d. § 48b KWG sowie durch Maßnahmen zur Finanzmarktstabilisierung i. S. v. § 2 Abs. 1 FMStFG zu stärken.25 Die Maßnahmen zur Stabilisierung des Finanzmarktes zielen hierbei primär darauf ab, Liquiditätsengpässe zu überwinden und Rahmenbedingungen für eine Stärkung der Eigenkapitalbasis von Unternehmen des Finanzsektors zu schaffen.26 Operationalisiert werden diese Maßnahmen durch § 3 Abs. 2 RStruktFG: Demnach können die Mittel des Restrukturierungsfonds Verwendung finden zur Gründung von Brückeninstituten oder für Anteilserwerbe nach § 5 RStruktFG, zur Gewährung von Garantien nach § 6 RStruktFG, zur Durchführung von Rekapitalisierungen nach § 7 RStruktFG oder für sonstige Maßnahmen nach § 8 RStruktFG.27 2. Ausgestaltung a) Persönlicher Anwendungsbereich Der bundesdeutsche Gesetzgeber versteht den Adressatenkreis der Bankenabgabe – geregelt in § 2 RStruktFG – als eine homogene, anhand eindeutiger Kriterien charakterisierbare Gruppe.28 Die Beitragspflicht zum Restrukturierungsfonds erstreckt sich grundsätzlich auf alle Kreditinstitute i. S. d. § 1 Abs. 1 KWG mit einer Erlaubnis nach dem Kreditwesengesetz (KWG), die die Vorgaben der Kreditinstituts-Rechnungslegungsverordnung (RechKredV) einhalten müssen.29 Dies intendiert, dass nicht ausschließlich sog. systemrelevante Kreditinstitute, sondern auch sog. nicht20

Vgl. § 11 RStruktFG. Vgl. Deutscher Bundestag (2010), S. 72. 22 Vgl. § 3 Abs. 3 RStruktFG. 23 § 48b Abs. 1 Satz 1 KWG definiert den Zustand der Bestandsgefährdung als „die Gefahr eines insolvenzbedingten Zusammenbruchs des Kreditinstituts für den Fall des Unterbleibens korrigierender Maßnahmen.“ 24 Nach § 48b Abs. 2 Satz 1 KWG liegt eine Systemgefährdung „vor, wenn zu besorgen ist, dass sich die Bestandsgefährdung des Kreditinstituts in der konkreten Marktsituation in erheblicher Weise negativ auf andere Unternehmen des Finanzsektors, auf die Finanzmärkte, auf das allgemeine Vertrauen der Einleger und anderen Marktteilnehmer in die Funktionsfähigkeit des Finanzsystems oder auf die Realwirtschaft auswirkt.“ 25 Vgl. § 3 Abs. 1 RStruktFG; Deutscher Bundestag (2010), S. 72. 26 Vgl. § 2 Abs. 1 Satz 1 FMStFG. 27 Vgl. Bundesministerium der Finanzen, Restrukturierungsfonds. 28 Vgl. Deutscher Bundestag (2010), S. 71. 29 Vgl. § 2 Satz 1 RStruktFG. 21

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systemrelevante Kreditinstitute in den persönlichen Anwendungsbereich der Bankenabgabe einbezogen werden.30 Durch die Beschränkung des persönlichen Anwendungsbereichs auf den Kreis der Kreditinstitute verzichtet der bundesdeutsche Gesetzgeber darauf, auch andere Finanzmarktakteure wie z. B. Finanzdienstleistungsinstitute i. S. d. § 1 Abs. 1a KWG oder Hedgefonds als potenzielle Verursacher einer Krise mit der Abgabe zu belasten.31 Unerheblich für die Beitragspflicht ist auch die Rechtsform der Kreditinstitute, weshalb neben Großbanken auch der öffentlich-rechtlich organisierte Bankensektor – Sparkassen und Landesbanken – sowie als eingetragene Genossenschaften firmierende Kreditinstitute – Volks- und Raiffeisenbanken, genossenschaftliche Zentralbanken – vom persönlichen Anwendungsbereich der Bankenabgabe erfasst werden.32 Eine Ausnahme bilden nach § 2 Satz 2 RStruktFG Kreditinstitute, die gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 KStG von der Körperschaftsteuer befreit sind (sog. Förderbanken), sowie Brückeninstitute nach § 5 Abs. 1 RStruktFG. Damit werden u. a. die Deutsche Bundesbank und die Kreditanstalt für Wiederaufbau von der Beitragspflicht verschont.33 Außerdem ausgenommen sind bspw. Versicherungsunternehmen.34 b) Sachlicher Anwendungsbereich aa) Grundstruktur der Beitragsarten Die von den Kreditinstituten jährlich abzuführende Bankenabgabe ist weder für alle beitragspflichtigen Institute gleich hoch noch beläuft sie sich für ein Institut jedes Jahr auf den gleichen Betrag. Sie richtet sich vielmehr nach Geschäftsvolumen, Größe und Vernetzung des beitragspflichtigen Kreditinstituts am Finanzmarkt zum Zeitpunkt ihrer Erhebung.35 Außerdem hängt sie maßgeblich von den Leistungen des jeweiligen Instituts in den Vorjahren ab. Die Grundstruktur der Beitragsarten gestaltet sich jedoch stets gleich. Die in einem Beitragsjahr insgesamt erhobenen Beiträge der Bankenabgabe setzen sich grundsätzlich aus den Jahresbeiträgen nach § 1 RStruktFV, den ggf. erhobenen Nacherhebungsbeiträgen nach § 3 Abs. 3 RStruktFV sowie den ggf. erhobenen Sonderbeiträgen nach § 2 RStruktFV zusammen.36 Die nachfolgende Abbildung gibt einen Überblick über die Beitragsarten der Bankenabgabe. 30

Vgl. Hagen/Lebeau, S. 321; Helios/Birker, S. 478. Vgl. Helios/Birker, S. 478; Paul, S. 600 m. w. N. 32 Vgl. Helios/Birker, S. 478. 33 Vgl. Helios/Birker, S. 478. 34 Vgl. Helios/Birker, S. 478. Zu weitergehenden Informationen zum persönlichen Anwendungsbereich der Bankenabgabe vgl. etwa Ammelung/Frank, S. 220 – 224; Hagen/Lebeau, S. 321 – 323. 35 Vgl. Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung; Deutscher Bundestag (2010), S. 4. 36 Vgl. zu detaillierten und beispielhaften Ausführungen zur Berechnung der Bankenabgabe Göbel/Henkel/ Lantzius-Beninga. Vgl. zu umfassenden Ausführungen zum Jahresbeitrag und den Sonderbeiträgen auch Ammelung/Frank, S. 225 – 249. 31

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Abbildung: Die Beitragsarten der Bankenabgabe

bb) Jahresbeitrag Der Jahresbeitrag bildet die Hauptkomponente der Bankenabgabe. Er war von den beitragspflichtigen Kreditinstituten erstmalig zum 30. September 2011 abzuführen und ist seither jeweils zum 30. September eines Kalenderjahres an den Restrukturierungsfonds zu leisten.37 § 12 Abs. 10 Satz 3 RStruktFG fordert eine Ausrichtung der Höhe des Jahresbeitrags an „dem Geschäftsvolumen, der Größe und der Vernetzung des beitragspflichtigen Kreditinstituts im Finanzmarkt“, wobei die Summe der eingegangenen Verbindlichkeiten sowie der Umfang noch nicht abgewickelter Termingeschäfte maßgebend sind.38 Infolgedessen bemisst sich seine Höhe als Summe der beiden Beitragskomponenten „Passiva“ und „Derivate“. Die beitragserheblichen Passiva resultieren nach § 1 Abs. 2 Satz 2 RStruktFVaus der Summe der Passivpositionen des zuletzt festgestellten Jahresabschlusses eines Kreditinstituts i. S. d. § 340a HGB abzüglich bestimmter abzugsfähiger Passiva des Formblatts 1 der RechKredV, welche regelmäßig als „,gute‘ Passivpositionen“39 bezeichnet werden. Diese erscheinen als für das Kreditinstitut eher risikoarm und müssen daher nicht in die Bemessungsgrundlage zur Berechnung der Bankenabgabe einbezogen werden. Zu diesen Abzugspositionen zählen bspw. die „Verbindlichkeiten gegenüber Kunden“ (Passivposten 2), sofern es sich dabei um Buchkredite handelt, bei denen die Kreditnehmer in- bzw. ausländische Nichtbanken sind.40 Die „Verbindlichkeiten gegenüber Kreditinstituten“ (Passivposten 1) stellen dagegen einen nicht abzugsfähigen Bestandteil der Bemessungsgrundlage für die Bankenabgabe dar.41 Dies lässt sich darauf zurückführen, dass die Verbindlichkeiten gegenüber Kreditinstituten die Vernetzung der Institute untereinander verkörpern, welche sich im Zuge der Finanzmarktkrise als möglicher Ansteckungskanal herausgestellt hat.42 37

Vgl. § 12 Abs. 2 Satz 1 RStruktFG; § 1 RStruktFV. Vgl. § 12 Abs. 10 Satz 3 RStruktFG; Feyerabend/Behnes/Helios, S. 41; Helios/Birker, S. 478. 39 Helios/Birker, S. 479. 40 Vgl. § 1 Abs. 2 Satz 2 lit. b) RStruktFV. Eine Ausnahme hiervon bilden Verbindlichkeiten gegenüber juristischen Personen, an denen das Kreditinstitut eine Beteiligung hält. Die abzugsfähigen Verbindlichkeiten gegenüber Kunden bergen im Falle eines Bankenruns zwar bedeutende Risiken für das Institut, diesen wird allerdings bereits mit den existierenden Einlagensicherungssystemen begegnet. Vgl. Hagen/Lebeau, S. 323 – 324. 41 Vgl. Helios/Birker, S. 479. 42 Vgl. Hagen/Lebeau, S. 323. 38

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Des Weiteren ist dasjenige „Genussrechtskapital“ (Passivposten 10) privilegiert, welches nicht vor Ablauf von zwei Jahren fällig wird.43 Der Abzug dieses Postens von der Bemessungsgrundlage für die Bankenabgabe wird mit dessen grundsätzlich dauerhafter Verfügbarkeit begründet, welche gegen ein kurzfristiges Versiegen von Refinanzierungsmöglichkeiten spricht.44 Darüber hinaus mindern sowohl der „Fonds für allgemeine Bankrisiken“ (Passivposten 11), der „wegen der besonderen Risiken des Geschäftszweigs der Kreditinstitute“ nach § 340 g Abs. 1 HGB gebildet wird und Eigenkapitalcharakter besitzt, als auch das Eigenkapital (Passivposten 12) selbst aufgrund ihrer Verlustabsorptionsfähigkeit die Bemessungsgrundlage für die Bankenabgabe.45 Der nach Subtraktion der Abzugspositionen verbleibende Gesamtbetrag der beitragserheblichen Passiva wird sodann in verschiedene Teilbeträge aufgespalten, zu deren Verrechnung gestaffelte, d. h. progressive Anrechnungssätze herangezogen werden.46 So ist die Gesamtsumme der beitragserheblichen Passiva, die den Freibetrag von 300 Millionen Euro übersteigt, gleichzeitig aber den Betrag von 10 Milliarden Euro nicht überschreitet, mit 0,0002 zu multiplizieren.47 Damit ergibt sich für diejenigen Institute, deren Beitragskomponente „Passiva“ höchstens 300 Millionen Euro beträgt, keine Beitragspflicht, wovon eine Vielzahl der Sparkassen sowie Volks- und Raiffeisenbanken profitiert.48 Diejenigen beitragserheblichen Passiva, die den Betrag von 10 Milliarden Euro überschreiten, nicht jedoch den Betrag von 100 Milliarden Euro, sind mit 0,0003 zu multiplizieren.49 Die den Betrag von 100 Milliarden Euro übersteigenden, den Betrag von 200 Milliarden Euro indes nicht überschreitenden beitragserheblichen Passiva sind mit 0,0004 zu multiplizieren.50 Die sich zwischen 200 Milliarden Euro und 300 Milliarden Euro bewegenden beitragserheblichen Passiva sind mit 0,0005 zu multiplizieren und die den Betrag von 300 Milliarden Euro überschreitenden beitragserheblichen Passiva sind letztlich mit 0,0006 zu multiplizieren.51 Alle so berechneten Teilkomponenten sind schließlich zur Beitragskomponente „Passiva“ zu addieren.52 Die zweite Beitragskomponente „Derivate“ erfasst den Umfang noch nicht abgewickelter Termingeschäfte, welcher ebenfalls als Indikator für die Vernetzung der 43

Vgl. § 1 Abs. 2 Satz 2 lit. c) RStruktFV. Vgl. Helios/Birker, S. 479; Schön/Hellgardt/Osterloh-Konrad, Ausgestaltung, S. 2194. 45 Vgl. § 1 Abs. 2 Satz 2 lit. d)–e) RStruktFV; Helios/Birker, S. 479 – 480. 46 Vgl. Helios/Birker, S. 480. Diese Progressionsstaffelung dient dem Ziel der Lenkungswirkung. Vgl. Hagen/Lebeau, S. 325. 47 Vgl. § 1 Abs. 2 Satz 3 RStruktFV. 48 Vgl. o. V. (2014). Der Gesetzgeber verfolgt mit der Freigrenze das Ziel, die bestehende Diskrepanz zwischen Mittelerhebung (Beitragspflichtige) und Mittelverwendung (Begünstigte) zum Zwecke der Beitragsgerechtigkeit zu verringern. Vgl. Hagen/Lebeau, S. 325. 49 Vgl. § 1 Abs. 2 Satz 4 RStruktFV. 50 Vgl. § 1 Abs. 2 Satz 5 RStruktFV. 51 Vgl. § 1 Abs. 2 Satz 5 RStruktFV. 52 Vgl. § 1 Abs. 2 Satz 6 RStruktFV. 44

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Kreditinstitute angesehen wird.53 Die Beitragskomponente „Derivate“ errechnet sich gemäß § 1 Abs. 2 Satz 7 RStruktFV als das Produkt des Nominalvolumens der nach § 36 RechKredV in den Anhang zum zuletzt festgestellten Jahresabschluss aufzunehmenden Termingeschäfte54 und dem Faktor 0,000003. cc) Sonderbeitrag Die von den beitragspflichtigen Kreditinstituten abzuführenden Beiträge der Bankenabgabe müssen so bemessen sein, dass sie zur Deckung der Kosten für die Maßnahmen nach § 3 Abs. 2 RStruktFG, der Ausgleichsverpflichtungen gemäß § 13 Abs. 2a FMStFG sowie der nach § 11 RStruktFG der FMSA zu erstattenden Kosten genügen.55 Sollten die Mittel des Restrukturierungsfonds hingegen nicht zur Kostendeckung ausreichen, ist die FMSA nach Maßgabe des § 12 Abs. 3 Satz 2 RStruktFG dazu ermächtigt, zur Deckung des verbleibenden Mittelbedarfs Sonderbeiträge zu erheben.56 § 12 Abs. 4 Satz 1 RStruktFG konkretisiert die Höhe des institutsindividuellen Sonderbeitrags als das „Verhältnis des Durchschnitts der in den letzten drei Jahren fällig gewordenen Jahresbeiträge des einzelnen beitragspflichtigen Kreditinstituts zum Durchschnitt der Gesamtsumme der in den letzten drei Jahren fällig gewordenen Jahresbeiträge“ aller beitragspflichtigen Kreditinstitute gemessen am gesamten Sonderbeitragsbedarf. Obschon die FMSA berechtigt ist, mehrere Sonderbeiträge in einem Kalenderjahr zu erheben, darf der Gesamtbetrag der in einem Kalenderjahr erhobenen Sonderbeiträge das Dreifache des Durchschnitts der in den letzten drei Jahren fällig gewordenen Jahresbeiträge des Kreditinstituts nicht übersteigen.57 dd) Zumutbarkeitsgrenze, Mindestbeitrag und Belastungsobergrenze Um die Kreditinstitute nicht mit – im Hinblick auf ihr Jahresergebnis – unangemessen hoch veranschlagten Jahresbeiträgen zu belasten, wird der Jahresbeitrag eines Instituts durch die sog. Zumutbarkeitsgrenze auf grundsätzlich höchstens 20 % des aus der Gewinn- und Verlustrechnung ersichtlichen Jahresergebnisses gedeckelt.58 Ungeachtet der Zumutbarkeitsgrenze müssen die Kreditinstitute jedoch stets einen Jahresbeitrag in Höhe von mindestens 5 % des gemäß § 1 Abs. 2 53 Vgl. – auch zu weiterführenden Informationen – Helios/Birker, S. 480; Schön/Hellgardt/ Osterloh-Konrad, Ausgestaltung, S. 2195. 54 Hier werden sowohl bilanzwirksame als auch bilanzunwirksame Termingeschäfte erfasst. Vgl. Helios/Birker, S. 480. 55 Vgl. § 12 Abs. 1 Satz 2 RStruktFG; Feyerabend/Behnes/Helios, S. 39; Helios/Birker, S. 477. 56 Vgl. Helios/Birker, S. 477. Vgl. zu den möglichen Zeitpunkten der Erhebung von Sonderbeiträgen sowie den Befreiungsmöglichkeiten § 2 RStruktFV. § 12 Abs. 6 RStruktFG eröffnet dem Restrukturierungsfonds außerdem die Möglichkeit, zur Finanzierung bestimmter Maßnahmen Kredite im Umfang von maximal 20 Milliarden Euro aufzunehmen. 57 Vgl. § 12 Abs. 4 Satz 2 – 3 RStruktFG. 58 Vgl. hierzu ausführlich § 3 Abs. 1 Satz 1 RStruktFV; Deutscher Bundesrat, S. 9; Löw/ Künzel/Brixner, S. 42.

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RStruktFV errechneten Jahresbeitrags (Mindestbeitrag) leisten.59 Damit greift die Zumutbarkeitsgrenze nur dann, wenn der errechnete Jahresbeitrag die Zumutbarkeitsgrenze übersteigt, der Mindestbeitrag diese jedoch unterschreitet. Der Mindestbeitrag wird festgesetzt, wenn dieser – und damit einhergehend auch der errechnete Jahresbeitrag – die Zumutbarkeitsgrenze übersteigt. Sollte der rechnerische Jahresbeitrag in einem Beitragsjahr die Zumutbarkeitsgrenze übersteigen, der Mindestbeitrag aber unter der Zumutbarkeitsgrenze liegen, ist der rechnerische Differenzbetrag zwischen festgesetzter Zumutbarkeitsgrenze und errechnetem Jahresbeitrag im Rahmen einer Nacherhebung zu leisten.60 Eine Nacherhebung tritt auch dann ein, wenn sowohl der Jahresbeitrag als auch der Mindestbeitrag die Zumutbarkeitsgrenze überschreiten. In diesem Fall wird die rechnerische Differenz zwischen errechnetem Jahresbeitrag und zu entrichtendem Mindestbeitrag nacherhoben.61 Die Nacherhebung erfolgt in beiden Fällen in den folgenden fünf Beitragsjahren durch Hinzurechnung zum Jahresbeitrag. Im Rahmen einer Übergangsregelung kann in den Beitragsjahren 2011 bis 2019 die rechnerische Differenz zwischen dem festgesetzten und dem errechneten Jahresbeitrag allerdings nur in den folgenden beiden Beitragsjahren nacherhoben werden:62 „Beträge, die nicht innerhalb der folgenden zwei Beitragsjahre nacherhoben werden, sind danach nicht mehr zu erheben.“63 In einem Nacherhebungsfall ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Summe aus dem im aktuellen Beitragsjahr zu leistenden Jahresbeitrag und den nachzuerhebenden Beiträgen aus den Vorjahren ebenfalls nicht die Zumutbarkeitsgrenze überschreiten darf.64 Da theoretisch in jedem Jahr eine Nacherhebung erforderlich werden kann, ist eine Erhebungsreihenfolge wie folgt zu beachten: „Der für das aktuelle Beitragsjahr zu erhebende Jahresbeitrag geht den nachzuerhebenden Beiträgen vor; nachzuerhebende Beiträge aus früheren Jahren gehen nachzuerhebenden Beiträgen späterer Jahre vor.“65 Resultiert aus dieser Reihenfolge, dass Beträge nicht innerhalb der nachfolgenden fünf Beitragsjahre nacherhoben werden, so sind diese danach nicht mehr zu erheben und entfallen für die Kreditinstitute.66

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Vgl. § 3 Abs. 2 RStruktFV; Helios/Birker, S. 480. Das heißt, ein Institut muss auch dann einen Mindestbeitrag entrichten, wenn es ein negatives Jahresergebnis erwirtschaftet hat. In diesem Fall soll eine Überforderung des Instituts dadurch vermieden werden, dass der Mindestbeitrag auf nur eine moderate Höhe festgesetzt wurde. Vgl. Deutscher Bundesrat, S. 10. 60 Vgl. – auch im Folgenden – § 3 Abs. 3 Satz 1 RStruktFV. 61 Die Nacherhebung soll dazu dienen, „im Rahmen der gesetzten Grenzen die Höhe der jährlich zu leistenden Beiträge speziell bei denjenigen Instituten zu verstetigen, deren Jahresergebnisse hohe Schwankungen aufweisen.“ Deutscher Bundesrat, S. 10. 62 Vgl. § 8 Abs. 3 Satz 1 RStruktFV. 63 § 8 Abs. 3 Satz 2 RStruktFV. 64 Vgl. § 3 Abs. 3 Satz 2 Hs. 1 RStruktFV. 65 § 3 Abs. 3 Satz 3 RStruktFV. 66 Vgl. § 3 Abs. 3 Satz 4 RStruktFV.

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Vor diesem Hintergrund bestehen die in einem Beitragsjahr insgesamt erhobenen Beiträge aus dem Jahresbeitrag, den gegebenenfalls erhobenen Nacherhebungsbeiträgen sowie den gegebenenfalls erhobenen Sonderbeiträgen.67 Ihr Gesamtbetrag, d. h. die durch die Bankenabgabe induzierte jährliche Belastung der Kreditinstitute, wird wiederum nach oben hin begrenzt; denn die Belastungsobergrenze bestimmt, dass die jährliche Gesamtbelastung grundsätzlich 50 % des Durchschnitts der letzten drei ermittelten Jahresergebnisse68 nicht übersteigen darf.69 Eine letzte Anforderung an die Mindesthöhe der zu leistenden Beiträge bezieht sich auf die Beitragsjahre, in denen Sonderbeiträge erhoben werden. In einem solchen Beitragsjahr hat ein Kreditinstitut grundsätzlich insgesamt mindestens Beiträge in Höhe der Summe seiner Mindestbeiträge der letzten drei Beitragsjahre zu leisten.70 Es hat jedoch den Jahresbeitrag und gegebenenfalls nachzuerhebende Beiträge zuzüglich des in dem Beitragsjahr festgesetzten Sonderbeitrags zu leisten, sofern diese Gesamtsumme niedriger ist.71 III. Die Bankenabgabe – Scheinentlastung des Steuerzahlers Die Bankenabgabe verkörpert in ihrer aktuellen Form eine Sonderabgabe, die den deutschen Kreditinstituten auferlegt wird. Von dem Gedanken des Verursachungsprinzips geleitet, konzentriert der bundesdeutsche Gesetzgeber die Pflicht zur Abführung der Bankenabgabe ausschließlich auf den Kreis der Kreditinstitute. Diesem spricht er – gerade im Vergleich mit der künftig zu entlastenden Allgemeinheit der Steuerzahler – „eine besondere Sachnähe und Finanzierungsverantwortung für die mit der Bankenabgabe verfolgten Ziele“72 zu.73 Als unmittelbar Begünstigte des Restrukturierungsfonds sieht der Gesetzgeber somit die Kreditinstitute in der Pflicht, die für Restrukturierungs- und Abwicklungsmaßnahmen unter Umständen erforderlich werdenden finanziellen Unterstützungsleistungen aufzubringen.74 Unter der Annahme, dass die Höhe des Restrukturierungsfonds künftig ausreichen wird, um Restrukturierungs- und Abwicklungsmaßnahmen ohne Zuhilfenahme zusätzlicher Steuermittel zu finanzieren, könnte daher das Ziel der verursachungsgerechten Belastung (Verursachungsziel) als er67

Vgl. § 3 Abs. 4 Satz 1 RStruktFV. Die Jahresergebnisse sind hierbei entsprechend der im Zusammenhang mit der Zumutbarkeitsgrenze gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 RStruktFV vorgegebenen Berechnung zu ermitteln. Dabei sind Jahresergebnisse mit negativem Vorzeichen mit Null anzusetzen. Vgl. § 3 Abs. 4 Satz 1 und 2 RStruktFV. 69 Vgl. § 3 Abs. 4 Satz 1 RStruktFV. 70 Vgl. § 3 Abs. 4 Satz 3 RStruktFV. 71 Vgl. § 3 Abs. 4 Satz 3 RStruktFV. 72 Deutscher Bundestag (2010), S. 71. 73 Vgl. Deutscher Bundestag (2010), S. 71. 74 Vgl. Deutscher Bundestag (2010), S. 72. 68

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reicht erscheinen. Dementsprechend entfiele in der Zukunft eine Inanspruchnahme des Steuerzahlers. Dieser der Öffentlichkeit zu vermitteln versuchte Schein trügt jedoch, denn die Kreditinstitute können ihre Lasten durch niedrigere Guthabenzinsen und höhere Kreditzinsen an ihre Kunden – und somit wiederum an die unbeteiligten und zu entlastenden Steuerzahler – weitergeben.75 Indem die Kreditwirtschaft als eine homogene Gruppe angesehen wird, wird zudem weiterhin das Verursachungsprinzip missachtet. Das einzelne Kreditinstitut wird nämlich grundsätzlich nicht als ein Individuum mit einem individuellen Risikoprofil betrachtet; vielmehr wird die Gesamtheit der Institute – aufgrund der grundsätzlich hohen Vernetzung zwischen den Kreditinstituten – pauschal als eine „Risikogemeinschaft“76 behandelt. Zwar verfolgt der Gesetzgeber eine individuelle Belastung, die sich an dem unterschiedlich hohen Vernetzungsgrad und somit der Risikolastigkeit der Geschäftstätigkeit des einzelnen Kreditinstituts orientiert;77 des Weiteren werden durch die Freigrenze von 300 Millionen Euro kleinere Institute von der Beitragspflicht ausgespart. Die Gruppe der Beitragspflichtigen (grundsätzlich alle zugelassenen Kreditinstitute) ist jedoch nicht deckungsgleich mit der Gesamtheit der Begünstigten des Restrukturierungsfonds (systemrelevante Kreditinstitute).78 Das Verursachungsziel wird somit grundsätzlich konterkariert. Darüber hinaus ist zu beachten, dass der Adressatenkreis insoweit lückenhaft ist, als er mögliche Verursacher einer Krise – wie etwa Hedge-Fonds – ausspart.79 Es wäre deshalb wünschenswert, würden von der Bankenabgabe auch diese Kapitalmarktteilnehmer erfasst.80 Ausschließlich vonseiten der Kreditwirtschaft finanzierte Stützungsmaßnahmen für in Schieflage geratene systemrelevante Kreditinstitute sind freilich nur dann sichergestellt, wenn der Restrukturierungsfonds die hierfür erforderliche Höhe besitzt. 75

Vgl. Paul, S. 602; Schneider, S. 28. Deutscher Bundestag (2010), S. 71. 77 Vgl. Deutscher Bundestag (2010), S. 71. 78 Vgl. zu diesem Aspekt ausführlich Hagen/Lebeau, S. 321. Vgl. auch Martini, S. 2021. Schaap/van Dülmen, S. 13 bewerten das Kriterium der sog. Systemrelevanz ebenfalls nicht als ausschlaggebend für die Beitragspflicht, sondern lediglich als Einflussfaktor für die Bemessung der Abgabenhöhe. Denn Verbünde wie Sparkassen und Genossenschaftsbanken tragen nach Schaap/van Dülmen, S. 13 aufgrund ähnlicher Geschäftsmodelle, starker Vernetzungen über Haftungsverbünde und der Eigentümerstruktur sowie ihres einheitlichen Auftretens auf dem Markt grundsätzlich ein systemisches Risiko in sich, das sich durch Dominoeffekte äußern könnte. In diesem Fall seien auch Haftungsverbünde – im Sparkassensektor greifen im Falle einer Schieflage zunächst einmal die umfangreichen Einlagensicherungseinrichtungen sowie das Mittel der Fusionierung – möglicherweise nicht stark genug. Auch Martini, S. 2021 sieht die Gesamtheit der Kreditinstitute als eine grundsätzlich hinreichend homogene Gruppe. Er erachtet die Sparkassen, deren Haftungsverbund seiner Auffassung nach keinen absoluten Insolvenzschutz darstellt, und die Genossenschaftsbanken als mittelbar Begünstigte des Fonds, erkennt jedoch die Problematik der Quersubventionierung: „Kreditinstitute bilden eine Risiko-, aber keine Solidargemeinschaft.“ 79 Vgl. Helios/Birker, S. 478; Paul, S. 600 m. w. N. 80 Vgl. Schaap/van Dülmen, S. 12 – 13. 76

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Vor diesem Hintergrund beläuft sich die angestrebte Zielgröße des Restrukturierungsfonds nach § 12 Abs. 10 Satz 1 RStruktFG auf 70 Milliarden Euro. Die Bundesregierung erwartete dabei zu Beginn der Erhebung Bankenabgaben in Höhe von mindestens 1,2 Milliarden Euro pro Jahr.81 Während der Fonds seit Einführung der Bankenabgabe dementsprechend bereits Mittel in Höhe von 3,6 Milliarden Euro aufweisen müsste, beträgt seine Höhe nach drei Beitragsjahren mit tatsächlich 1.802,5 Millionen Euro jedoch gerade einmal die Hälfte.82 Die bisherigen jährlichen Einnahmen aus der Sonderabgabe blieben allerdings nicht nur hinter den Erwartungen zurück, sie gestalten sich zudem zuletzt sogar rückläufig.83 So sanken sie nach 692,4 Millionen Euro im Jahr 2012 auf 520,1 Millionen Euro im vergangenen Jahr 2013.84 Dafür zeichneten im Wesentlichen die Groß- und Regionalbanken – darunter primär die Privatbanken – verantwortlich, deren Beitrag sich von 401,1 Millionen Euro im Jahr 2012 auf 229,8 Millionen Euro im vergangenen Jahr reduzierte.85 Die Sparkassen und Landesbanken leisteten in 2013 einen Anteil im Volumen von rund 220 Millionen Euro.86 Laut Angaben des Bundesfinanzministeriums rechnet die Bundesregierung vor dem Hintergrund dieser Entwicklung auch im Beitragsjahr 2014 lediglich mit Einnahmen in der bisherigen Größenordnung.87 Als ursächlich für die geringen Einnahmen wird primär die den Banken eingeräumte Möglichkeit angesehen, fällige Beiträge bei schwieriger Ertragslage zu stunden.88 Die Inanspruchnahme der Beitragsstundung – im Jahr 2011 im Volumen von 1,36 Milliarden Euro – geht allerdings grundsätzlich mit einer Nacherhebung in den beiden Folgejahren einher.89 Tatsächlich sind mit 25 Millionen Euro jedoch bisher lediglich rund 2 % der gestundeten Beiträge nacherhoben worden; der Rest ist nicht mehr nachzuzahlen, sondern vielmehr verfallen.90 81

Vgl. Marschall m. w. N. Bei jährlichen Einzahlungen in Höhe von 1,2 Milliarden Euro hätte somit der Restrukturierungsfonds – bei Vernachlässigung des Zinseszinseffektes – erst nach circa 59 (!) Jahren seine Zielgröße erreicht. Issing u. a. fordern daher – neben einer vom systemischen Risiko abhängigen Zielgröße des Restrukturierungsfonds – jährliche Bankenabgaben von mehr als 1,2 Milliarden Euro. Vgl. Issing u. a., S. 5 – 6. 82 Vgl. Marschall m. w. N. 83 Vgl. Marschall m. w. N. 84 Vgl. FMSA (2013); Marschall m. w. N. Im Jahr 2011 führten die Banken 589,9 Millionen Euro an den Restrukturierungsfonds ab. Vgl. Marschall m. w. N. 85 Vgl. Marschall m. w. N. 86 Vgl. Drost, S. 31. 87 Vgl. Marschall m. w. N. 88 Vgl. Marschall m. w. N. Die Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung macht in einer Pressemitteilung die schwächere Ertragslage im Jahr 2012 dafür verantwortlich. Vgl. FMSA (2013). Vgl. zur Möglichkeit der Stundung von Beiträgen § 12 Abs. 10 Satz 7 RStruktFG i. V. m. § 6 Abs. 4 RStruktFV. 89 Vgl. § 8 Abs. 3 RStruktFV; Marschall m. w. N. 90 Vgl. Marschall m. w. N.

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Sollte das jährliche Beitragsaufkommen auch in den kommenden Jahren bei durchschnittlich 600 Millionen Euro stagnieren, so ist offensichtlich, dass die angestrebte Zielgröße des Restrukturierungsfonds erst in ca. 117 Jahren erreicht werden könnte.91 Zudem ist fraglich, ob die willkürlich festgelegte Zielgröße von 70 Milliarden Euro im Ernstfall ausreichen wird, um eine neuerliche Finanzkrise abfangen zu können.92 Denn zur Bankenrettung im Rahmen der jüngsten Finanzkrise wurden in Deutschland allein bis zum Sommer des Jahres 2011 bereits staatliche Hilfen in Form von Eigenkapital sowie Garantien in Höhe von rund 260 Milliarden Euro benötigt.93 Doch selbst wenn dies der Fall wäre, dürfte eine solche Krise theoretisch erst in deutlich mehr als 100 Jahren erstmalig wieder eintreten. Der jüngste Krisenzyklus von der Weltwirtschaftskrise in den Jahren 1929/1930 bis zur internationalen Finanzund Wirtschaftskrise der Jahre 2007 ff. betrug allerdings nicht einmal 80 Jahre. Damit ist offen, wer für finanzielle Stützungsmaßnahmen einspringen wird, sollten diese vor Ablauf der Hundertjahrfrist erforderlich werden. Der Gesetzgeber versucht mit der vorgegebenen Berechnungsmethodik, die Risikonahme der Kreditinstitute zu quantifizieren, um einen objektiven Maßstab für die institutsindividuelle Abgabenhöhe bereitzustellen. Diese Beitragsbemessung soll sich am systemischen Risiko der einzelnen Bank ausrichten.94 Die Bemessungsgrundlage der Bankenabgabe, die vorwiegend Verbindlichkeiten, Rechnungsabgrenzungsposten und Rückstellungen beinhaltet, eignet sich allerdings nur bedingt zur Abbildung der eingegangenen systemischen Risiken.95 Da sie im Wesentlichen die Verschuldung respektive Refinanzierung einer Bank erfasst, ist sie weniger ein Indikator für die Risikosituation einer Bank als vielmehr für ihre Größe.96 Die Bemessungsgrundlage der Bankenabgabe bildet nämlich insbesondere das von Schulmeister aufgrund der vorhandenen Hebelwirkung als – im Vergleich zu den übrigen Bilanzpositionen – das bedeutendste Risiko eingestufte Risiko derivativer Finanzinstrumente nur unzureichend ab.97 Ein Koppeln der Bemessungsgrundlage an die Aktivseite der Bankbilanz als Ausdruck der Mittelverwendung anstelle der beitragsre91 Bei dieser Berechnung wurde zur Vereinfachung der Zinseszinseffekt der angelegten Gelder vernachlässigt. 92 Vgl. zur Problematik der Inanspruchnahme des Fonds in der Ansparphase Schneider, S. 28. Nichtsdestotrotz ist das Vorhandensein eines Vorsorgefonds – unabhängig von seiner Höhe – insbesondere im Lichte aufsichtsrechtlicher Zielsetzungen naturgemäß zu begrüßen. 93 Vgl. Paul, S. 599. 94 Vgl. Deutscher Bundestag (2010), S. 4. 95 Vgl. Paul, S. 601. Feyerabend/Behnes/Helios, S. 45 beschreiben die Bemessungsgrundlage der Bankenabgabe gar als „in vielen Einzelpunkten zweifelhaft“; außerdem weise sie bedenkliche Doppelbesteuerungen auf. Vgl. zu Doppelbesteuerungsfragen Helios/Birker, S. 481 – 482. 96 Vgl. Hagen/Lebeau, S. 323; Paul, S. 600 – 601; Helios/Birker, S. 483. Paul, S. 600 stellt fest, dass das Ausmaß der Vernetzung der Institute bei der Berechnung der Beitragshöhe allenfalls dadurch zum Tragen komme, dass eine Finanzierung über Kundengelder anstelle von Interbankengeldern zu einer geringeren Abgabenlast führe. 97 Vgl. Schulmeister, S. 2 – 3; ferner Paul, S. 601.

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levanten Passiva als Ausdruck der Mittelherkunft stellt allerdings nur eine – ebenfalls problembehaftete – Alternative dar.98 Schulmeister erkennt zudem in der Ausrichtung der aktuellen Bemessungsgrundlage an Stichtagsgrößen ein Manipulationspotenzial, da die Möglichkeit besteht, mit Risiken behaftete Positionen vor dem Stichtag zu schließen und anschließend wieder zu öffnen.99 Bei der Bemessungsgrundlage handelt es sich außerdem fast ausschließlich um eine retrospektive Betrachtung, welche offenkundig nicht dazu geeignet ist, prospektiv Risiken100 abzubilden. Zudem ist die Höhe der gestaffelten Sätze willkürlich gewählt. An einem Verfahren zur exakten Berechnung eingegangener (systemischer) Risiken mangelt es jedoch in praxi.101 Damit kann die vorgegebene Berechnungsmethodik aus Mangel an überlegenen Alternativen bloß als ein akzeptables Näherungsverfahren mit Stärken und Schwächen angesehen werden. Die Bankenabgabe bedeutet in ihrer derzeitigen Ausgestaltung, d. h. trotz der Möglichkeit der Inanspruchnahme eines – ebenfalls willkürlich festgelegten – Freibetrags in Höhe von 300 Millionen Euro sowie der Einführung der Belastungs- und Zumutbarkeitsobergrenzen, zweifelsohne eine Mehrbelastung für die beitragspflichtigen Institute;102 dies wird insbesondere offensichtlich, betrachtet man die kumulative Wirkung der Bankenabgabe im Kontext sämtlicher anderer aktueller Regulierungsmaßnahmen.103 Daher dient sie der Prävention, wenn ihre Steuerungsfunktion die Institute dazu bewegt, risikoreiche Geschäfte zugunsten einer verminderten Bemessungsgrundlage abzubauen.104 Aufgrund der Anknüpfung an den handelsrechtlichen Jahresabschluss bei der Berechnung der Bankenabgabe existieren allerdings verschiedenartige Möglichkeiten, mithilfe gezielter Bilanz- und Geschäftspolitik Einfluss zu nehmen.105 So kann durch bilanzpolitische Maßnahmen etwa das Jahresergebnis vermindert werden, wodurch sich die Zumutbarkeits- und die Belastungs98

Vgl. zu diesem Aspekt Hagen/Lebeau, S. 323. Vgl. Schulmeister, S. 3; ferner Paul, S. 601. 100 Denn mit dem Begriff „Risiko“ wird der „Tatbestand umschrieben, dass aus Sicht des Entscheidungsträgers ein zukünftig eintretender Wert von einem von ihm erwarteten bzw. geplanten Wert abweichen kann.“ Bieg/Krämer/Waschbusch, S. 1, Hervorhebung durch die Verfasser. 101 Vgl. Paul, S. 601 – 602, der daher jede Realform der Bankenabgabe als „unbefriedigend, da nicht anreizkompatibel“ bezeichnet. Vgl. auch Hein in: Schneider, S. 29; Schneider, S. 29. Paul, S. 601 plädiert bei der Berechnung der Bankenabgabe für eine Berücksichtigung sowohl der direkten als auch der indirekten Ansteckungskanäle. 102 Vgl. Skuratovski, S. 105. Vgl. zu den Möglichkeiten einer Mehrfachbelastung international agierender Institute durch eine Beitragspflicht in mehreren Ländern Helios/Birker, S. 481 – 482; Skuratovski; Schaap/van Dülmen, S. 13. 103 Vgl. Schaap/van Dülmen, S. 13. 104 Kritisch zu sehen ist in diesem Kontext auch die Verbindung zu den aufsichtsrechtlichen Anforderungen. So können die per Bankenabgabe abgeführten Mittel nicht zum Aufbau weiterer Polster verwendet werden, was unter Umständen zu einem Handlungsbedarf – z. B. dem Abbau von Krediten – bei den Kreditinstituten führen kann. 105 Vgl. Skuratovski, S. 105; Feyerabend/Behnes/Helios, S. 38 und S. 45; Löw/Künzel/ Brixner, S. 42. 99

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obergrenze verringern, oder die Bemessungsgrundlage selbst reduziert werden;106 eine verminderte Bemessungsgrundlage führt freilich zu einer geringeren Abgabenhöhe. Zu diesen Gestaltungsoptionen zählen bspw. Maßnahmen, die die Bemessungsgrundlage erhöhende Passivpositionen in solche Passiva umwandeln, die von der Erfassung ausgespart bleiben. Daher bieten sich für die Institute insbesondere die Umwidmung beitragsrelevanter Passiva in Eigen- oder Genussrechtskapital oder die Dotierung des Sonderpostens für allgemeine Bankrisiken nach § 340 g HGB an.107 Diese Möglichkeiten der Einflussnahme konterkarieren folglich die Zwecksetzung einer Lenkung der Institute in ihrer Risikoneigung. Denn durch die Ausrichtung der Abgabenhöhe an dem systemischen Risiko108 einer Bank soll die Abgabe eigentlich zu einer risikoadäquaten Unternehmensführung der Kreditinstitute beitragen.109 Augenscheinlich bekämpft die Bankenabgabe somit nicht zwingend die Ursachen respektive Auslöser von Bankenkrisen – nämlich eine übermäßige Risikonahme etwa durch den Einsatz strukturierter Finanzprodukte oder Derivate –, sondern sie befasst sich lediglich mit den potenziellen Auswirkungen eingegangener Risiken.110 Die in der vorliegenden Form erhobene Bankenabgabe wird im Rahmen des europäischen Projekts der Bankenunion111 künftig verschiedenen Modifikationen unterworfen. Zur nationalen Umsetzung der europäischen Vereinbarungen zur Bankenunion hat der Deutsche Bundestag am 6. November 2014 ein Paket von vier Gesetzen beschlossen.112 Es beinhaltet u. a. das Gesetz zu dem Übereinkommen vom 21. Mai 2014 über die Übertragung von Beiträgen auf den einheitlichen Abwicklungsfonds und über die gemeinsame Nutzung dieser Beiträge. Zentraler Hintergrund ist hierbei die Ablösung der bislang in Deutschland erhobenen Form der Bankenabgabe zuguns106

Vgl. Löw/Künzel/Brixner, S. 42. Vgl. – auch zu weiteren bilanzpolitischen Möglichkeiten – Skuratovski, S. 105; Löw/ Künzel/Brixner, S. 42 – 43. Die erfolgswirksame Zuführung zum Fonds für allgemeine Bankrisiken nach § 340 g HGB vermag die Bankenabgabe in zweifacher Weise zu reduzieren: einerseits als Abzugsposition bei der Berechnung der Beitragskomponente „Passiva“ und andererseits durch die Verminderung des Jahresüberschusses, der die Basis für die Zumutbarkeitsgrenze darstellt. Vgl. Niehaus, S. 49. 108 Die Bestimmung des systemischen Risikos hat dabei „anhand der Größe des Kreditinstituts und seiner Vernetzung im Finanzmarkt, insbesondere anhand seiner Verbindlichkeiten, gegebenenfalls unter Heranziehung weiterer Indikatoren“ zu erfolgen. Deutscher Bundestag (2010), S. 4. 109 Vgl. Deutscher Bundestag (2010), S. 4; Helios/Birker, S. 477. 110 Vgl. Hein in: Schneider, S. 29. 111 Bundesfinanzminister Dr. Wolfgang Schäuble formuliert als Hintergrund der Bankenunion eine weitere Stabilisierung des Finanzsektors sowie eine Stärkung des Vertrauens in die Stabilität der europäischen Währung. Zu diesem Zweck sollen Haftung und Verantwortlichkeit unmittelbar mit der Zuständigkeit für Entscheidungen verbunden sein, um auf diese Weise eine abermalige Haftung des Steuerzahlers ausschließen zu können. Vgl. Schäuble in: Bundesministerium der Finanzen, Maßnahmenpaket. 112 Vgl. Deutscher Bundestag (2014). 107

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ten der Einführung einer neuen auf europäischer Ebene einheitlich gestalteten Abgabe.113 Die konkrete Ausgestaltung der europäischen Bankenabgabe wurde im Vorfeld sehr kontrovers diskutiert;114 die europäischen Finanzminister beschlossen allerdings im Dezember 2014 einen Berechnungskompromiss. Die einheitlichen europäischen Bankenabgaben sollen ab 2015 auf nationaler Ebene erhoben werden, bevor sie ab dem Jahr 2016 auf nationale Abteilungen des Fonds transferiert und dort innerhalb von zehn Jahren schrittweise vergemeinschaftet werden (gemeinsamer europäischer Abwicklungsfonds, Single Resolution Fund, SRF).115 Die fortan von den Instituten der Europäischen Union zu leistenden Mittel der europäischen Bankenabgabe sollen dazu dienen, zukünftige Abwicklungsmaßnahmen mitzufinanzieren.116 Die innerhalb von acht Jahren, d. h. bis zum 1. Januar 2024 anzusparende Zielgröße des europäischen Abwicklungsfonds beläuft sich auf 55 Milliarden Euro.117 Dies bildet nach Schätzungen der EU-Kommission 1 % der gesicherten Bankeneinlagen ab.118 Ein Anteil von 15 Milliarden Euro dürfte dabei auf die deutschen Banken entfallen.119 Dies entspräche einer jährlichen Abgabe von etwa 1,9 Milliarden Euro, was eine im Durchschnitt um 1,3 Milliarden Euro deutlich stärkere Belastung als bisher bedeuten würde.120 Doch trotz der Ausweitung der Beitragspflicht auf die Banken der Europäischen Union löst auch der geplante europäische Abwicklungsfonds nicht die mit der Erhebung der Bankenabgabe verfolgten Ziele respektive verbundenen Problemkreise. Im Gegenteil: Durch die induzierte Quersubventionierung über die Banken der verschiedenen europäischen Staaten hinweg wird das Problem mangelnder Verursachungsgerechtigkeit noch deutlich verschärft werden. Dies äußert sich bspw. darin, dass regionale Institute mit einem tendenziell eher risikoaversen Geschäftsmodell wie z. B. Sparkassen substanziell geschwächt werden könnten, indem sie die Risiken internationaler Großbanken absichern,121 was vom Präsidenten des Deutschen Sparkassen-

113

Vgl. Bundesministerium der Finanzen, Maßnahmenpaket. So plädierte die deutsche Bundesregierung für eine nach dem individuellen Risiko der Bank gestufte Belastung sowie für eine Entlastung von Sparkassen und Volks- und Raiffeisenbanken, wie es die nationalen Vorschriften derzeit noch vorsehen. Dahingegen sah die Europäische Union in einem Diskussionspapier vor, kein Institut von der Beitragspflicht auszunehmen. Vgl. o. V. (2014). 115 Vgl. Bundesministerium der Finanzen, Bankenunion, S. 14; Drost, S. 31. 116 Vgl. Bundesministerium der Finanzen, Maßnahmenpaket. 117 Vgl. Bundesministerium der Finanzen, Bankenunion, S. 14; Drost, S. 31. 118 Vgl. Bundesministerium der Finanzen, Bankenunion, S. 14. 119 Vgl. o. V. (2014); Drost, S. 31. 120 Vgl. Drost, S. 31. 121 Das Ausmaß dieser Absicherung und substanziellen Schwächung ist unmittelbar abhängig von der konkreten Ausgestaltung der europäischen Bankenabgabe. 114

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und Giroverbands (DSGV) zu Recht weder als angemessen noch als fair erachtet wird.122 Die europäische Bankenabgabe ist Baustein der sog. Haftungskaskade, welche dem privaten Haftungsprinzip als zentralem Element der Marktwirtschaft wieder Bedeutung verschaffen soll.123 Ihre Intention besteht darin, Haftung und Verantwortung bei den Zuständigkeiten für Entscheidungen anzusiedeln, um eine abermalige Haftung des Steuerzahlers in der Zukunft ausschließen zu können.124 Im Rahmen der Bankenunion beschreibt die Haftungskaskade die vorgesehene Reihenfolge der Haftung im Krisenfall wie folgt:125 Eigentümer und Gläubiger werden im Rahmen einer privaten Verlustbeteiligung in Höhe von mindestens 8 % der Bilanzsumme der Bank herangezogen (sog. Bail-in), bevor der durch die europäische Bankenabgabe gespeiste gemeinsame Abwicklungsfonds i. S. e. Haftung des Bankensektors im Volumen von bis zu 5 % der Bilanzsumme der in Schieflage geratenen Bank in Anspruch genommen werden soll.126 Vor diesem Hintergrund erscheint die Zielgröße des europäischen Bankenabwicklungsfonds in Höhe von 55 Milliarden Euro – analog der Zielgröße des nationalen Fonds – deutlich unterdimensioniert.127 Dies birgt wiederum Risiken für den Steuerzahler.128 Denn im Anschluss an den privaten Sektor bildet der – wiederum aus Steuermitteln finanzierte – Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) das letzte, allerdings nur im Ausnahmefall zu beanspruchende Element der Haftungskaskade zur direkten Rekapitalisierung von Banken.129

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Vgl. Fahrenschon in: Drost, S. 31. Gefordert wird vom Bundesverband der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken (BVR) daher beispielhaft einen Freibetrag von 500 Millionen Euro, um kleine Banken von der Beitragspflicht ausschließen zu können und mittelgroße Banken einer nur moderaten Belastung aussetzen zu müssen. Vgl. Hofmann in: Drost, S. 31. 123 Vgl. Bundesministerium der Finanzen, Bankenunion, S. 14. 124 Vgl. Schäuble in: Schäfers/Plickert. 125 Vgl. Schäfers/Plickert. 126 Vgl. Bundesministerium der Finanzen, Bankenunion, S. 14 – 15; Schäfers/Plickert; Giegold/Scott-Cato/Joly. Allerdings bestehen diverse Wege, um von der Gläubigerhaftung abzuweichen. Vgl. Zimmer in: Schäfers/Plickert; Schäder. Bei einer Inanspruchnahme des Abwicklungsfonds während seiner Aufbauphase ist es möglich, dass die angesammelten Mittel nicht genügen. In diesem Fall existieren verschiedene Optionen wie eine Kreditaufnahme oder das Vorziehen von Beiträgen, um den fehlenden Bedarf zu decken. Vgl. Bundesministerium der Finanzen, Bankenunion, S. 15. 127 Vgl. Zimmer in: Schäfers/Plickert. 128 Vgl. Zimmer in: Schäfers/Plickert. 129 Vgl. Bundesministerium der Finanzen, Bankenunion, S. 15. Sinn (2014) sieht darin eine Beteiligung der deutschen Steuerzahler an den Kosten der Bankenrekapitalisierung in gemeinschaftlicher Haftung nicht nur für heimische Banken, sondern auch für Banken anderer Länder.

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IV. Fazit Die Bankenabgabe wurde den Kreditinstituten als eine Reaktion auf die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise auferlegt. Sie soll künftig zur Entlastung des Steuerzahlers beitragen, indem Kreditinstitute a priori finanzielle Mittel für Stützungsmaßnahmen im Restrukturierungsfonds ansparen. Außerdem soll sie Banken dahingehend lenken, ihr Risikoprofil zugunsten einer verminderten Abgabenhöhe deutlich zu entschärfen. Obschon die mit der Einführung der Bankenabgabe verbundenen Zielsetzungen begrüßt werden können, kann der Bankenabgabe selbst als Mittel zu diesem Zweck keine uneingeschränkte Eignung zugesprochen werden. Angesichts der aufgezeigten zahlreichen offensichtlichen Schwachstellen des Konzepts der Bankenabgabe – darunter die Problematik der Querfinanzierung und der zu geringen Höhe des Vorsorgefonds – hat diese Sonderabgabe ihr Ziel verfehlt. Ihre Konstruktion lässt nur den Rückschluss zu, dass es sich bei ihr lediglich um einen Placebo zur Beruhigung des Steuerzahlers handelt. Literatur Ammelung, Ulrich / Frank, Wolfgang: Die Bankenabgabe – Grundlagen, bilanzielle und steuerliche Konsequenzen –, in: Handbuch Banken-Restrukturierung – Bankenabgabe – Prävention – Stabilisierung – Haftung, hrsg. von Frank A. Brogl, Berlin 2012, S. 217¢261. Bieg, Hartmut / Krämer, Gregor / Waschbusch, Gerd: Bankenaufsicht in Theorie und Praxis, 4. Auflage, Frankfurt am Main 2011. Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung: Bankenabgabe – Über die Bankenabgabe, http:// www.fmsa.de/de/kreditinstitute/bankenabgabe/. Bundesministerium der Finanzen: Bundesregierung bringt Maßnahmenpaket zur europäischen Bankenunion auf den Weg, http://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Pressemit teilungen/Finanzpolitik/2014/07/2014 – 07 – 02-PM31.html. Bundesministerium der Finanzen: Die Europäische Bankenunion – Wie weit sind wir schon?, in: Monatsbericht des BMF, Juni 2014, S. 11 – 16. Bundesministerium der Finanzen: Fragen und Antworten zum Restrukturierungsgesetz und zur Bankenabgabe, http://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/FAQ/2012 – 10 – 18-re struktuierung-und-bankenabgabe.html. Deutscher Bundesrat: Begründung zum Verordnungsentwurf der Bundesregierung, BR-Drucksache 229/11 vom 15. 04. 2011. Deutscher Bundestag: Gesetz zu dem Übereinkommen vom 21. Mai 2014 über die Übertragung von Beiträgen auf den einheitlichen Abwicklungsfonds und über die gemeinsame Nutzung dieser Beiträge, Bundestags-Drucksache 517/14 vom 07. 11. 2014. Deutscher Bundestag: Bankenunion – Gesetze passieren Bundestag, www.bundestag.de/doku mente/textarchiv/2014/kw45_de_bankenunion/334908. Deutscher Bundestag: Gesetzentwurf der Bundesregierung – Entwurf eines Gesetzes zur Restrukturierung und geordneten Abwicklung von Kreditinstituten, zur Errichtung eines Re-

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strukturierungsfonds für Kreditinstitute und zur Verlängerung der Verjährungsfrist der aktienrechtlichen Organhaftung (Restrukturierungsgesetz), in: Bundestags-Drucksache 17/ 3024 vom 27. 09. 2010, Berlin 2010. Drost, Frank M.: Bankenabgabe dürfte sich verdreifachen – Europäischer Abwicklungsfonds wird deutlich teurer, in: Handelsblatt, Nr. 62 vom 28./29./30. 03. 2014, S. 31. Feyerabend, Hans-Jürgen A. / Behnes, Stephan / Helios, Marcus: Finanzierung des Restrukturierungsfonds durch die Bankenabgabe – Ausgewählte Einzelaspekte der bilanzbasierten Bemessungsgrundlage, in: Der Betrieb, Beilage 4 zu Heft 13/2011, S. 38¢45. FMSA: Pressemitteilung vom 22. November 2013, http://www.fmsa.de/de/presse/pressemittei lungen/2013/20131122_pressemitteilung_fmsa.html. FMSA: Pressemitteilung vom 9. Mai 2014, http://www.fmsa.de/de/presse/pressemitteilungen/ 2014/20140509_pressemitteilung_fmsa.html. Giegold, Sven / Scott-Cato, Molly / Joly, Eva: Das süße Gift der Bankensubventionen, http:// www.handelsblatt.com/meinung/gastbeitraege/gastbeitrag-das-suesse-gift-der-bankensubven tionen/10229896.html, 22. 07. 2014. Göbel, Henning / Henkel, Knut / Lantzius-Beninga, Berthold: Berechnung der Bankenabgabe, in: Die Wirtschaftsprüfung, 1/2012, S. 27¢39. Hagen, Alexander / Lebeau, Marc: Auswirkungen der Bankenabgabe auf bestimmte Bankenfinanzinstrumente und praktische Problemfelder, in Recht der Finanzinstrumente, 5/2011, S. 319¢327. Hanten, Mathias / München, Andrea: Rechtsfragen der Bankenabgabe, in: Zeitschrift für Wirtschafts- und Bankrecht, 41/2011, S. 1925¢1932. Helios, Marcus / Birker, Christian: Bilanzbasierte Bankenabgabe – Unter Berücksichtigung des neuen DBA zwischen Deutschland und Großbritannien zur Vermeidung von Doppelbelastungen, in: Der Betrieb, 9/2012, S. 477¢483. Issing, Otmar / Krahnen, Jan Pieter / Regling, Klaus / White, William: Criteria for a workable approach towards bank levies and bank restructuring – Memo for the June 2010 meeting of the G-20 in Toronto –, White Paper no. IV of The Issing Commission, Center for financial studies, Frankfurt am Main 2010. Löw, Edgar / Künzel, Rolf / Brixner, Joachim: Bilanzierung der Bankenabgabe, in: Die Wirtschaftsprüfung, 1/2012, S. 40¢49. Marschall, Birgit: Bankenabgabe bringt nur 1,8 Milliarden Euro – Anfrage der Linken an die Bundesregierung, http://www.rp-online.de/wirtschaft/bankenabgabe-bringt-nur-18-milliar den-euro-aid-1.4012262. Martini, Mario: Zur Kasse bitte…! Die Bankenabgabe als Antwort auf die Finanzkrise – Placebo, Heilmittel oder Gift?, in: Neue Juristische Wochenschrift 2010, S. 2019¢2023. Marx, Reinhard: Die Soziallehre als Kompass, in: FAZ, Nr. 294 vom 18. 12. 2009, S. 12. Niehaus, Hans-Jürgen: Erste Praxis-Erfahrungen mit der Bankenabgabe, in: die bank, 1/2012, S. 43¢50.

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o. V.: Gegen die Rendite zieht die Moral den Kürzeren – Die Eigenschaften des Ehrbaren Kaufmanns gelten zwar noch immer als Ideal – sie werden aber selten umgesetzt, in: FAZ, Nr. 242 vom 19. 10. 2009, S. 14. o. V.: Gegen Schäuble: EU will Bankenabgabe auch von kleineren Banken, http://deutsche-wirt schafts-nachrichten.de/2014/05/27/gegen-schaeuble-eu-will-banken-abgabe-auch-von-kleine ren-banken/, 27. 05. 2014. Paul, Stephan: Bankenabgabe, in: WiSt, 11/2011, S. 599¢602. Schaap, Heinz-Udo / van Dülmen, Anne: Steuerpolitik – Mittel zur Krisenbewältigung?, in: die Bank, 2/2011, S. 8¢13. Schäder, Barbara: Löchriges Sicherheitsnetz, in: Stuttgarter Zeitung, 10. 07. 2014. Schäfers, Manfred / Plickert, Philip: Bankenunion – Schäuble macht Bürgern großes Versprechen, http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/bankenunion-bundeskabinettbeschliesst-umsetzung-in-deutsches-recht-13036709.html, 09. 07. 2014. Schneider, Susanne: Bankenabgabe – Stumpfe Waffe gegen Krisen, in: Bankmagazin, 7/2010, S. 28 – 29. Schön, Wolfgang / Hellgardt, Alexander / Osterloh-Konrad, Christine: Bankenabgabe und Verfassungsrecht – Teil I: Verfassungsmäßige Zulässigkeit als Sonderabgabe, in: Zeitschrift für Wirtschafts- und Bankrecht, 46/2010, S. 2145 – 2157. Schön, Wolfgang / Hellgardt, Alexander / Osterloh-Konrad, Christine: Bankenabgabe und Verfassungsrecht – Teil II: Verfassungsmäßige Ausgestaltung, in: Zeitschrift für Wirtschaftsund Bankrecht, 47/2010, S. 2193 – 2204. Schulmeister, Stephan: Bank levy transactions tax: A critical analysis of the IMF and EC reports on financial sector taxation, WIFO Working Papers, 2010. Schuschnig, Tanja / Sylle, Fabian: Finanzstabilitätsabgaben im europäischen Wirtschaftsraum – Eine Untersuchung unterschiedlich ausgeführter Bankenabgaben in ausgewählten Ländern, in: Österreichisches BankArchiv, 5/2011, S. 288¢296. Sinn, Hans-Werner: Kasino-Kapitalismus – Wie es zur Finanzkrise kam, und was jetzt zu tun ist, 3. Aufl., Berlin 2012. Sinn, Hans-Werner: Europäische Bankenunion – Der Steuerzahler haftet, http://www.faz.net/ak tuell/wirtschaft/eurokrise/standpunkt-der-deutsche-steuerzahler-haftet-13036713.html, 10. 07. 2014. Skuratovski, Alexander: Mehrfachbelastung mit Bankenabgabe im internationalen Kontext – Analyse des Abkommens zwischen Deutschland und Großbritanniens, in: Recht der Finanzinstrumente, 2/2012, S. 103¢110. Staub, Nadine: Wirtschaftlicher Wandel und Mittelstand – Konjunkturelle und unternehmerische Herausforderungen meistern, Berlin 2012. Verordnung über die Erhebung der Beiträge zum Restrukturierungsfonds für Kreditinstitute (Restrukturierungsfonds-Verordnung ¢ RStruktFV) vom 20. Juli 2011 in der Fassung der Bekanntmachung vom 20. Juli 2011, BGBl. I S. 1406, zuletzt geändert durch Art. 7 des Gesetzes vom 26. Juni 2012, BGBl. I S. 1375.

Gebühr und Beitrag in der Finanzverfassung Von Rainer Wernsmann, Passau Gebühr und Beitrag als sog. Vorzugslasten sind in letzter Zeit vermehrt in den Blick der Rechtsprechung – insbesondere des Bundesverfassungsgerichts – geraten. Erinnert sei nur an die Entscheidungen zur sozialen Staffelung der Höhe der Kindergartengebühren1, zu den Rückmeldegebühren in Baden-Württemberg2 und Berlin3, zu Studienbeiträgen4, zur Notwendigkeit von Verjährungsregelungen5 sowie zur Zulässigkeit wiederkehrender Beiträge6. Auch im Zusammenhang mit dem neu ausgestalteten Rundfunkbeitrag stellen sich finanzverfassungsrechtliche Fragen, zu denen landesverfassungsgerichtliche Entscheidungen7 vorliegen. Lange Zeit gab es allenfalls punktuelle Rechtsprechung des BVerfG zu Einzelfragen von Gebühren und Beiträgen.8 Rudolf Wendt hat sich schon sehr früh mit grundlegenden verfassungsrechtlichen Fragen der Gebühr befasst.9 Dies soll Anlass sein, verschiedenen verfassungsrechtlichen Fragen der Gebühr und des Beitrags nachzugehen, und zwar wie Gebühr und Beitrag zu definieren und von anderen Abgaben (insbesondere Steuern, Sonderabgaben sowie Vorteilsabschöpfungsabgaben) abzugrenzen sind (I.), welche Zwecke der Gesetzgeber mit Gebühren und Beiträgen verfolgen darf (II.), welche Anforderungen Normenklarheit und Normenwahrheit an Gebühr und Beitrag stellen (III.), insbesondere ob eine überhöhte Gebühr oder ein überhöhter Beitrag begrifflich in eine Steuer umdefiniert werden kann (IV.), und schließlich ob ein Prinzip des Steuerstaats dem Einsatz der Gebühr als staatlichem Finanzierungsmittel Grenzen setzt (V.).

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BVerfGE 97, 332. BVerfGE 108, 1. 3 BVerfGE 132, 334. 4 BVerfGE 134, 1. 5 BVerfGE 133, 143. 6 BVerfG v. 25. 6. 2014, 1 BvR 668/10, 1 BvR 2104/10, NVwZ 2014, 1448. 7 BayVerfGH v. 15. 5. 2014, Vf. 8-VII-12, Vf. 24-VII-12, DVBl 2014, 848; VerfGH Rh-Pf v. 13. 5. 2014, VGH B 35/12, DVBl 2014, 842. 8 Z. B. BVerfGE 20, 257 (270); 50, 217 (225 ff.). 9 Wendt, Die Gebühr als Lenkungsmittel, 1975. 2

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I. Begriff der Gebühr und des Beitrags Allein die Bezeichnung einer Abgabe durch den Gesetzgeber ist jedenfalls für deren Qualifikation nicht entscheidend; maßgeblich ist allein der jeweilige materielle Gehalt.10 Definitionen und Maßstäbe für die Bemessung von Gebühren und Beiträgen finden sich häufig in den Kommunalabgabengesetzen der Länder (z. B. Art. 5 – 8 BayKAG). Von der Steuer – einfachrechtlich definiert in § 3 Abs. 1 AO, der in seiner derzeitigen Fassung auch den verfassungsrechtlichen Steuerbegriff zutreffend abbildet11 – unterscheiden sich Gebühren und Beiträge dadurch, dass letztere einen Gegenleistungsbezug aufweisen müssen. „Steuern sind“, wie das BVerfG in ständiger Rechtsprechung formuliert, „öffentliche Abgaben, die als Gemeinlast ohne individuelle Gegenleistung (,voraussetzungslos‘) zur Deckung des allgemeinen Finanzbedarfs eines öffentlichen Gemeinwesens erhoben werden“.12 Otto Mayer definierte als Zweck der Steuer hingegen noch die „Vermehrung der Staatseinkünfte“. Dies diente dem „Ausschluß von Geldstrafe und Kostenersatz und überhaupt von allen besonderen Zweckzusammenhängen“.13 Otto Mayer sprach noch von Einkünften, also dem Gewinn bzw. Überschuss der (staatlichen) Einnahmen über die (staatlichen) Ausgaben (vgl. auch heute die steuerrechtliche Definition von Einkünften in § 2 Abs. 2 EStG). Handelt es sich um bloßen Kostenersatz, erzielt der Staat keinen Gewinn/Überschuss. Definiert § 3 Abs. 1 AO heute als Zweck der Steuer bloß die Erzielung von Einnahmen (nicht: Einkünften), bedarf es eines weiteren Merkmals, um die Vorzugslasten aus dem Steuerbegriff auszugrenzen. Auch Sonderabgaben werden – ebenso wie Steuern und anders als Gebühren und Beiträge – „voraussetzungslos“, d. h. gegenleistungsunabhängig erhoben. Insbesondere das grundsätzliche Erfordernis gruppennütziger Verwendung des Abgabeaufkommens begründet noch keinen Gegenleistungsbezug.14 Gerade aus diesem Grunde treten sie in eine Konkurrenzsituation zur Steuer und bedürfen besonderer Rechtfertigung. Sie sind daher nur als „seltene Ausnahme“ zulässig.15 10

Zuletzt BVerfG v. 25. 6. 2014 (Fn. 6), Rn. 40 m.w.N.; st. Rspr. Vgl. dazu aber noch IV. Vgl. nur Söhn, in: Kube u. a. (Hrsg.), Leitgedanken des Rechts II, 2013, § 145 Rn. 18; Wernsmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 3 AO Rn. 35 ff. m.w.N. 12 BVerfG v. 25. 6. 2014 (Fn. 6), Rn. 41. 13 O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht I, 3. Aufl. 1924, S. 316 (dort zweiter Spiegelstrich in Fn. 2) (Hervorhebung nur hier). Vgl. zu diesem Zusammenhang auch Drüen, in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 3 AO Rn. 12, 18. Der Kostenersatz ließ in dieser Definition also bereits die Einkünfteerzielungsabsicht des Staates entfallen, da dieser nicht zu einem „Gewinn“ (Überschuss) beim Staat führte. 14 Thiemann, AöR 138 (2013), 60 (77); Wernsmann (Fn. 11), § 3 AO Rn. 162 f., 228 m.w.N. 15 BVerfG v. 28. 1. 2014, 2 BvR 1561/12 u. a., Rn. 122, NVwZ 2014, 646 (650); v. 6. 5. 2014, 2 BvR 1139/12, Rn. 117, NVwZ 2014, 1306; st. Rspr.; Wernsmann (Fn. 11), § 3 AO Rn. 162 ff. m.w.N. Für eine weitere Verschärfung der Maßstäbe für Sonderabgaben durch eine Annäherung der Sonderabgaben-Dogmatik an die Dogmatik von Gebühr und Beitrag Thiemann, AöR 138 (2013), 60 (87 ff.). 11

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Das BVerfG geht zwar davon aus, dass es keinen eigenständigen vollständigen verfassungsrechtlichen Beitrags- oder Gebührenbegriff gebe.16 „Voraussetzung“ der Erhebung von Vorzugslasten ist aber (in Abgrenzung zur Steuer), dass der Abgabenpflichtige eine individuell zurechenbare öffentliche Leistung erhalten hat bzw. ihm die Möglichkeit der Inanspruchnahme einer öffentlichen Leistung oder Einrichtung eingeräumt wurde. Die Gebühr knüpft an die tatsächliche Inanspruchnahme einer öffentlichen Leistung oder Einrichtung, der Beitrag an deren potentielle Inanspruchnahme an.17 Dementsprechend definiert das BVerfG Gebühren als öffentlich-rechtliche Geldleistungen, die aus Anlass individuell zurechenbarer Leistungen dem Gebührenschuldner durch eine öffentlich-rechtliche Norm oder sonstige hoheitliche Maßnahme auferlegt werden und dazu bestimmt sind, in Anknüpfung an diese Leistung deren Kosten ganz oder teilweise zu decken.18 Beiträge werden hingegen schon für die potentielle Inanspruchnahme einer öffentlichen Einrichtung oder Leistung und deren potentiellen Nutzen19 erhoben.20 Soweit auch solche Abgabepflichtigen mit einem Beitrag belegt werden, die den angebotenen Vorteil nicht in Anspruch nehmen wollen, denen der Vorteil also „aufgedrängt“ wird, kommt es darauf an, ob deren zwangsweise Einbeziehung in den Kreis der potentiellen Nutzer gerechtfertigt werden kann. Dies ist etwa zu bejahen beim sog. Semesterticket für die Befugnis aller Studierenden zur Benutzung der öffentlichen Verkehrsbetriebe21 sowie beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk darf aus Gründen der Rundfunkfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG) nicht unter Quotendruck und Druck wirtschaftlichen Erfolgs am Markt gesetzt werden, weshalb sein Bedarf unabhängig von der Zahl seiner Nutzer zu bestimmen und finanzieren ist.22 Gebühren und Beiträge sind dem Grunde und der Höhe nach begrenzt durch den öffentlichen Aufwand.23 Sie statten den Staat finanziell aus und setzen dabei im Abgabentatbestand bereits eine Ausgabeentscheidung voraus.24 Das ist bei sog. Verwen16

BVerfG v. 25. 6. 2014 (Fn. 6), Rn. 43 m.w.N.; st. Rspr. Zuletzt BVerfG v. 25. 6. 2014 (Fn. 6), Rn. 43 m.w.N. Vgl. bereits O. Mayer (Fn. 13), S. 315; Wilke, Gebührenrecht und Grundgesetz, 1973, S. 16; s. ferner statt aller Drüen (Fn. 13), § 3 AO Rn. 21, 25. 18 BVerfG v. 25. 6. 2014 (Fn. 6), Rn. 43 m.w.N.; st. Rspr. 19 BVerfGE 38, 281 (311); BVerfG v. 25. 6. 2014 (Fn. 6), Rn. 43; Thiemann, AöR 138 (2013), 60 (82 f.); Waldhoff, in: Ehlers/Fehling/Pünder, Besonderes Verwaltungsrecht III, 3. Aufl. 2013, § 67 Rn. 139. 20 BVerfGE 9, 291 (297 f.); 92, 91 (115); 110, 370 (388); 113, 128 (148); BVerfG v. 25. 6. 2014 (Fn. 6), Rn. 43. 21 Dazu BVerwGE 109, 97 (110 ff.). 22 BVerfGE 119, 181 (219); Schneider, NVwZ 2013, 19 (20 f.). 23 BVerfG v. 25. 6. 2014 (Fn. 6), Rn. 43 a.E. m.w.N. 24 Vgl. P. Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof, HStR V, 3. Aufl. 2007, § 119 Rn. 17. Damit ist nicht notwendig eine haushaltsrechtliche Zweckbindung verbunden; Wilke (Fn. 17), S. 51; L. Hummel, Verfassungsrechtsfragen der Verwendung staatlicher Einnahmen, 2008, S. 401 ff. 17

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dungszwecksteuern gerade nicht der Fall: Als Steuern werden sie gegenleistungsunabhängig erhoben. Bei Steuern zieht der Verwendungszweck der Einnahmen der Höhe der Belastung keine Grenzen.25 In diesem Sinne ist auch der neue Rundfunkbeitrag als Beitrag im finanzverfassungsrechtlichen Sinne zu qualifizieren: Seine Höhe wird bestimmt durch den Bedarf der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Dass eine unbestimmte Vielzahl von Bürgern (ggf. sogar jeder Einwohner) zu dieser Abgabe herangezogen wird, führt nicht automatisch zur Einordnung als Gemeinlast, also Steuer.26 Wenn und soweit jeweils dem Abgabepflichtigen ein Sondervorteil individuell-konkret zugerechnet werden kann, ist die Abgabe als Beitrag zu qualifizieren.27 Dies ist beim Rundfunkbeitrag der Fall, denn jeder, der objektiv öffentlich-rechtlichen Rundfunk empfangen kann, wird zu der Abgabe herangezogen.28 Dass der Abgabepflichtige die Möglichkeit der Nutzung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nicht wahrnehmen will, spielt keine Rolle. Der Rundfunkbeitrag erfasst ausschließlich Personen, denen die Möglichkeit des Empfangs öffentlich-rechtlichen Rundfunks eingeräumt wird, und damit (potentiell) „Begünstigte“29. Während hinsichtlich der Steuern vielfach vertreten wird, dass es kein Steuererfindungsrecht des Gesetzgebers gebe, der Kanon der vom Grundgesetz in Art. 105 Abs. 1, 2 GG geregelten Steuern also abschließend sei, weil „übrige Steuern“ i.S.d. Art. 105 Abs. 2 GG nur solche Steuern seien, die das Grundgesetz kenne,30 m.w.N. Vielfach wird der Staat die Einrichtung bzw. die erbrachten Leistungen ohnehin vorfinanziert haben; vgl. P. Kirchhof a.a.O, § 119 Rn. 57 f. 25 Wendt (Fn. 9), S. 48 f.; ders., in: Isensee/Kirchhof, HStR VI, 3. Aufl. 2008, § 139 Rn. 18 f.; Ehlers/Achelpöhler, NVwZ 1993, 1025 (1026); Drüen (Fn. 13), § 3 AO Rn. 18a; Heun, in: Dreier, GG III, 2. Aufl. 2008, Art. 105 Rn. 15 Fn. 79; Waldhoff, in: Isensee/Kirchhof, HStR V, 3. Aufl. 2007, § 116 Rn. 90; ders., StuW 2002, 285 (308); Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, 2005, S. 431 f.; ders. (Fn. 11), § 3 AO Rn. 160. Vgl. auch bereits BVerfGE 7, 244 (254 f.); 65, 325 (344); Behlert, Staffelung von Leistungsentgelten der Verwaltung nach dem Einkommen der Nutzer, 2002, S. 66. A.A. aber wohl Selmer, in: Bohne (Hrsg.), Perspektiven für ein Umweltgesetzbuch, 2002, S. 297 (311 ff.). 26 Zutreffend BVerfG v. 25. 6. 2014 (Fn. 6), Rn. 52; BayVerfGH v. 15. 5. 2014 (Fn. 7), Rn. 75; VerfGH Rh-Pf v. 13. 5. 2014 (Fn. 7), juris Rn. 103; Schneider, NVwZ 2013, 19 (21); Kube, Der Rundfunkbeitrag, 2014, S. 50 f. (mit dem weiteren Beispiel der Gebühren für die Ausstellung des Personalausweises). A.A. wohl Siekmann, in: Sachs, GG, 7. Aufl. 2014, vor Art. 104a Rn. 116. 27 BVerfG v. 25. 6. 2014 (Fn. 6), Rn. 52; BayVerfGH v. 15. 5. 2014 (Fn. 7), Rn. 80; VerfGH Rh-Pf v. 13. 5. 2014 (Fn. 7), juris Rn. 103. 28 Näher Wernsmann, ZG 2015, (erscheint demnächst) m.w.N. Ebenso P. Kirchhof, Die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, 2010, S. 44 ff.; Müller-Franken, in: Berliner Kommentar zum GG, Art. 105 Rn. 96 m.w.N. A.A. etwa Korioth/Koemm, DStR 2013, 833. 29 Vgl. P. Kirchhof (Fn. 24), § 119 Rn. 64. 30 So die h. M., z. B. Wernsmann, NVwZ 2011, 1367 (1367 f.) m.w.N.; a.A. und für ein Steuererfindungsrecht des Gesetzgebers auch hinsichtlich dem Grundgesetz bisher nicht bekannter Steuern oder Steuerarten hingegen z. B. Wendt (Fn. 25), § 139 Rn. 29 f. Offen lassend BVerfGE 98, 83 (101).

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ist für die nicht-steuerlichen Abgaben geklärt, dass es keinen Numerus clausus zulässiger Abgabetypen gibt.31 Die Gesetzgebungskompetenz für nicht-steuerliche Abgaben und damit auch für Gebühren und Beiträge richtet sich nach den Sachgesetzgebungskompetenzen (Art. 70 ff. GG).32 II. Gebühren- und Beitragszwecke Das BVerfG prüft in seiner neueren Rechtsprechung zur Verfassungsmäßigkeit von Abgaben im Rahmen der Gesetzgebungskompetenz nur, ob die Abgabe insgesamt dem Typus (Charakter) der jeweiligen Abgabe entspricht.33 Widersprechen nur einzelne Regelungselemente eines Abgabentatbestands dem Charakter einer bestimmten Abgabe, so fehlt es insoweit nicht an der Gesetzgebungskompetenz für diese Abgabe, sondern an deren materieller Verfassungsmäßigkeit. Soweit also eine als Vorzugslast konzipierte Abgabe nicht mehr von einem zulässigen Gebührenoder Beitragszweck gedeckt ist, ist diese wegen überhöhter Bemessung materiell verfassungswidrig. Das BVerfG formuliert: „Als sachliche Gründe, die die Bemessung der Gebühr rechtfertigen können, sind neben dem Zweck der Kostendeckung auch Zwecke des Vorteilsausgleichs, der Verhaltenslenkung sowie soziale Zwecke anerkannt.“34

Der Aussage, dass auch der Gebühren- und Beitragsgesetzgeber Lenkungsziele und soziale Zwecke verfolgen darf, ist zuzustimmen. Freilich argumentiert das BVerfG hier auf verschiedenen Ebenen und vermengt verschiedene Aspekte,35 nämlich die Rechtfertigung der Gebühr oder des Beitrags dem Grunde nach, für die nur die Kostendeckung und der Vorteilsausgleich in Betracht kommen, sowie die Rechtfertigung der Höhe nach (der Bemessung der Abgabe), bei der auch soziale Zwecke berücksichtigt werden dürfen. Soll der für die Vorzugslasten charakteristische Zu31 Zuletzt BVerfG v. 25. 6. 2014 (Fn. 6), Rn. 42; s. ferner Wernsmann (Fn. 11), § 3 AO Rn. 46, 343. 32 Allg. Auffassung: BVerfG v. 25. 6. 2014 (Fn. 6), Rn. 45 m.w.N.; st. Rspr.; Wendt (Fn. 25), § 139 Rn. 53 m.w.N. 33 Zumindest Erster Senat: BVerfGE 123, 1 (17, 18). Für Verneinung bereits der Gesetzgebungskompetenz für die Regelung einer überhöhten Gebühr zuvor noch Zweiter Senat: BVerfGE 108, 1 (13 ff., 15). Offen lassend wiederum Zweiter Senat: BVerfGE 132, 334 (348 f.). 34 BVerfGE 132, 334 (349) im Anschluss an BVerfGE 50, 217 (230 f.); 97, 332 (345 ff.); 107, 133 (144); 108, 1 (18). Dieser Kanon zulässiger Zwecke ist nicht abschließend; vgl. BVerfGE 108, 1 (18): „jedenfalls“. 35 Unbehagen an der Formulierung der Gebührenzwecke durch das BVerfG äußert auch Wendt (Fn. 25), § 139 Rn. 55 Fn. 181. Vgl. auch zutreffend P. Kirchhof (Fn. 24), § 119 Rn. 23: „Je weniger eine Entgeltabgabe auf eine äquivalente Vorteilsabschöpfung oder einen realitätsgerechten Kostenausgleich ausgerichtet ist, desto schwächer wird die Rechtfertigung aus dem Gedanken der Entgeltlichkeit.“

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sammenhang zwischen Leistung und Gegenleistung erhalten bleiben und eine trennscharfe Abgrenzung zwischen Vorzugslasten einerseits und Steuern andererseits möglich bleiben, so sind bestimmte, im Folgenden zu behandelnde Anforderungen einzuhalten. 1. Kostendeckung Klassischer Gebühren- und Beitragszweck ist zunächst die Kostendeckung. Sie kann die Gebühren- und Beitragserhebung dem Grunde nach rechtfertigen. Dementsprechend hat das BVerfG den Zweck der Kostendeckung auch als den „,Normalfall‘ des Abgabetypus der Gebühr“ bezeichnet.36 Der Zweck der Kostendeckung wird häufig auch in den Formulierungen des BVerfG gegenüber den anderen Zwecken besonders hervorgehoben.37 Es sollen Einnahmen erzielt werden, um besondere Kosten der individuell zurechenbaren Leistung ganz oder teilweise zu decken.38 Diese „Leistung“ muss nicht notwendigerweise in einem „Vorteil“ bestehen,39 so dass Gebühren zulässigerweise auch etwa erhoben werden können bei einer Verurteilung im Strafverfahren oder bei Ablehnung eines Antrags. Grund und Grenze der Gebühren- und Beitragserhebung ist grundsätzlich die Deckung der dem Staat entstandenen Kosten. Entsprechend konstatiert auch das BVerfG, dass bei Gebühren und Beiträgen „die Rechtfertigung und die Höhe der Abgabe gerade durch den öffentlichen Aufwand vorgegeben“ werden.40 Nach wohl h. M. (dazu 2.) kann indes auch eine Abgabe, der keinerlei staatlicher Aufwand gegenübersteht, unter bestimmten Voraussetzungen als Vorzugslast gerechtfertigt werden, wenn ein seitens des Staats gewährter Vorteil ganz oder teilweise abgeschöpft werden soll.41 Das BVerfG lässt dem Gesetzgeber bisweilen auch in den Formulierungen sehr große Spielräume.42 36

BVerfGE 108, 1 (21) m.w.N. BVerfGE 132, 334 (349). 38 So auch BVerfGE 50, 217 (226); 97, 332 (345); BVerfG v. 25. 6. 2014 (Fn. 6), Rn. 43 m.w.N.; st. Rspr.; ebenso Wilke (Fn. 17), S. 265. 39 Vgl. Vogel, Festschrift für Geiger, 1989, 518 (518); Jarass, DÖV 1989, 1013 (1015); Müller-Franken (Fn. 28), Art. 105 Rn. 92; Wernsmann (Fn. 11), § 3 AO Rn. 157, 270. 40 BVerfG v. 25. 6. 2014 (Fn. 6), Rn. 43 a.E. m.w.N. 41 BVerfGE 93, 319 (344). Krit. Drüen (Fn. 13), § 3 AO Rn. 19 („Eine Abgabe, der keine Aufwand verursachende Gegenleistung gegenübersteht, kann keine Vorzugslast sein“); Wernsmann (Fn. 11), § 3 AO Rn. 157. Die Höhe einer Vorteilsabschöpfungsabgabe darf aber jedenfalls den Wert der öffentlichen Leistung nicht übersteigen, da sonst eine unzulässige Nähe zur Steuer vorliegt; BVerfGE 93, 319 (345 ff.) – sog. Wasserpfennig; zustimmend Heimlich, Die Verleihungsgebühr als Umweltabgabe, 1996, S. 125. Generell kritisch zu Vorteilsabschöpfungsabgaben, denen kein staatlicher Aufwand gegenübersteht, mit Recht Birk, Festschrift für Ritter, 1997, S. 41 (48 ff.); Siekmann (Fn. 26), vor Art. 104a Rn. 99; Waldhoff (Fn. 25), § 116 Rn. 86; Thiemann, AöR 138 (2013), 60 (83). 42 Z. B. BVerfGE 85, 337 (346): Gebühren dürften „nicht völlig unabhängig von den (tatsächlichen) Kosten der gebührenpflichtigen Staatsleistung festgesetzt werden“; die Verknüpfung zwischen den Kosten und der Gebührenhöhe müsse sachgerecht sein. Der Gesetzgeber sei allerdings nicht gehindert, neben der Kostendeckung weitere Ziele zu verfolgen und „bei den Gebührenmaßstäben auch den Wert der staatlichen Leistung zu berücksichtigen“ – bei den 37

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2. Vorteilsabschöpfung Der sog. doppelgliedrige Gebührenbegriff43 stellt für Grund und Höhe der Gebührenpflicht nicht allein auf die dem Staat entstandenen Kosten (Kostendeckung) ab, sondern hält alternativ auch die Vorteilsabschöpfung für gerechtfertigt, falls dem Staat keine Kosten entstanden sind. Danach können Gebühren erhoben werden sowohl dann, wenn die staatliche Leistung dem Staat zwar keine Kosten verursacht, wohl aber dem Abgabepflichtigen Vorteile gebracht hat, als auch dann, wenn dem Abgabepflichtigen kein Vorteil, wohl aber dem Staat Kosten entstanden sind.44 Jedenfalls dann, wenn dem Staat ein Aufwand entstanden ist, ist aber auch eine primäre Orientierung am Wert der Verwaltungsleistung für den Steuerpflichtigen verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Zu denken ist etwa an sog. Wertgebühren, die sich am Gegenstandwert orientieren, z. B. die Gebühr für die verbindliche Auskunft (§ 89 Abs. 4, 5 AO).45 Die zulässige Höchsthöhe bestimmt sich dann nach dem Wert der zugeflossenen Vorteile oder der dem Hoheitsträger entstandenen Kosten (einschließlich der sog. Gemeinkosten). Maßgebliche Obergrenze für den Gesetzgeber ist der höhere Wert von beiden.46 Diesen doppelgliedrigen Gebührenbegriff vertrat der Sache nach auch das BVerfG, ohne dass zunächst andere Gebührenzwecke als solche der Kostendeckung oder des Vorteilsausgleichs benannt wurden: „So empfängt, wer eine öffentliche Leistung in Anspruch nimmt, einen besonderen Vorteil, der es rechtfertigt, ihn zur Tragung der Kosten der öffentlichen Leistung heranzuziehen oder die durch die öffentliche Leistung gewährten Vorteile ganz oder teilweise abzuschöpfen.“47

Erbringt der Staat eine Gegenleistung oder bietet er diese bevorzugt an und entstehen ihm dadurch Kosten oder dem Abgabepflichtigen Vorteile, so kommen für die Bemessung der Gebühr oder des Beitrags der Höhe nach auch die weiteren vom BVerfG genannten Kriterien in Betracht. Sie rechtfertigen vor dem Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) Abweichungen von der reinen Bemessung der Abgaben nach der anteiligen Kostenverursachung.

Gebührenmaßstäben (also nur der Höhe?); auch (also nur wenn Kosten entstanden sind?). Gegen Verfassungsrang des Kostendeckungsprinzips BVerfGE 97, 332 (345). 43 Grdl. Vogel (Fn. 39), S. 518 (533); ebenso Drüen (Fn. 13), § 3 AO Rn. 19a; P. Kirchhof (Fn. 24), § 119 Rn. 43; Kube, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 105 Rn. 11; Waldhoff (Fn. 25), § 116 Rn. 86; ähnlich schon O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht II, 3. Aufl. 1924, S. 289: Wer besondere „Vorteile“ auf „Kosten“ des Gemeinwesens beziehe, schulde eine angemessene Vergütung. 44 Vogel (Fn. 39), S. 518 (533 f.); P. Kirchhof (Fn. 24), § 119 Rn. 45; Wernsmann (Fn. 11), § 3 AO Rn. 277, 292. 45 BFH BStBl. II 2011, 536 = BFHE 232, 406 Rn. 20 ff.; ebenso etwa Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 89 AO Rn. 317 f., 321 ff. m.w.N. 46 Zutreffend Vogel (Fn. 39), S. 518 (534 f.). 47 BVerfGE 93, 319 (344).

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3. Soziale Zwecke Soziale Zwecke hat das BVerfG zutreffend für berücksichtigungsfähig bei der Gebührenbemessung erachtet. Soziale Gründe allein können allerdings nicht die Erhebung einer Gebühr oder eines Beitrags als solche (das „Ob“ der Abgabe) eigenständig rechtfertigen,48 sondern nur eine ggf. differenzierende Ausgestaltung der Gebührenbzw. Beitragstatbestände (das „Wie“ der Abgabe). Eine Staffelung der Kindergartengebühren nach dem Elterneinkommen ist demgemäß zulässig, „jedenfalls“ solange selbst die Höchstgebühr die anteiligen tatsächlichen rechnerischen Kosten der Einrichtung nicht übersteigt und in einem angemessenen Verhältnis zu der damit abgegoltenen Verwaltungsleistung steht.49 Es spricht vieles dafür, die Obergrenze für die Höchstgebühr im Regelfall tatsächlich dort zu ziehen, wo diese die anteiligen rechnerischen Kosten übersteigen würde, da sonst der Gegenleistungszusammenhang für die finanzstärkere Gruppe von Abgabepflichtigen gelöst würde.50 Gleichheitsrechtlich unproblematisch erscheint hingegen eine Gebührenermäßigung aus sozialen Gründen für finanzschwächere Gruppen von Abgabepflichtigen.51 Dabei darf der Gesetzgeber auch typisieren, sofern er den typischen Fall realitätsgerecht erfasst und abgrenzt. In diesen Fällen werden die wirtschaftlich stärkeren Gebühren- und Beitragsschuldner nicht über den ihnen entstehenden Vorteil hinaus belastet, während die bei den sozial schwächeren Abgabepflichtigen entstehenden Gebührenausfälle aus allgemeinen Haushaltsmitteln gedeckt werden. Eine solche Regelung ist vor dem Gleichheitssatz im Hinblick auf das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) gerechtfertigt. Insbesondere kann ihr nicht entgegengehalten werden, dass Leistungsfähigkeitsgesichtspunkte ausschließlich bei der Bemessung von Steuern berücksichtigt werden dürften.52 Soziale Zwecke spielen eine zentrale Rolle bei Sozialversicherungsbeiträgen, die aber keine Beiträge im engeren finanzrechtlichen Sinne darstellen, sondern eine ei48

Zutreffend P. Kirchhof (Fn. 24), § 119 Rn. 24. BVerfGE 97, 332 (346 f.); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 13. Aufl. 2014, Art. 3 Rn. 53; Schmehl, Das Äquivalenzprinzip im Recht der Staatsfinanzierung, 2004, S. 186 ff.; Wernsmann (Fn. 11), § 3 AO Rn. 158; a.A. Behlert (Fn. 25), S. 245. 50 Ebenso P. Kirchhof (Fn. 24), § 119 Rn. 47. Offen lassend BVerfGE 97, 332 (346, 347); anders allgemein noch BVerfGE 50, 217 (226), wonach Gebühren die entstandenen anteiligen Kosten über- oder unterschreiten dürfen. Ohne eine solche Grenze Kloepfer, AöR 97 (1972), 232 (256 ff.); L. Hummel (Fn. 24), S. 394, 396. Gegen die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer „umverteilenden Gebühr“ F. Kirchhof, Die Höhe der Gebühr, 1981, S. 147 ff. 51 BVerfGE 97, 332 (346 f.); zuvor schon OVG Bremen, DVBl. 1988, 250; OVG NW, NVwZ-RR 1989, 273; E. Becker, RAO, 7. Aufl. 1930, § 1 Anm. 5; F. Kirchhof (Fn. 50), S. 146 f.; Erichsen, Kommunalrecht des Landes Nordrhein-Westfalen, 2. Aufl. 1997, S. 185 f.; Hendler, DÖV 1999, 753; Müller-Franken (Fn. 28), Art. 105 Rn. 103; P. Kirchhof, Jura 1983, 505 (512); Wernsmann (Fn. 11), § 3 AO Rn. 274, 297. A.A. Hess. VGH, NJW 1977, 452; Vogel (Fn. 39), S. 518 (535 Fn. 93); Jestaedt, DVBl. 2000, 1820 ff. 52 A.A. wohl P. Kirchhof (Fn. 24), § 119 Rn. 54; Siekmann (Fn. 26), vor Art. 104a Rn. 115; Vogel (Fn. 39), S. 518 (535). Wie hier schon E. Becker (Fn. 51), § 1 Anm. 5. Ebenso Wieland, DStJG 35 (2012), 159 (169). 49

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genständige Abgabenkategorie bilden. Sozialversicherungsbeiträge sind in erster Linie durch das Versicherungs-, das Äquivalenz- und das Solidaritätsprinzip geprägt.53 Sie folgen anderen Regeln als Beiträge i. e. S. Auch sog. versicherungsfremde Leistungen (d. h. Leistungen im Versorgungsfall, denen keine Beiträge gegenüberstehen, die vorzeitig bewilligt oder günstig berechnet werden) werden jedenfalls insoweit für verfassungsrechtlich zulässig erachtet, als die sog. Bundeszuschüsse aus allgemeinen Haushaltsmitteln den Aufwand für die Finanzierung der versicherungsfremden Leistungen übersteigen.54 4. Zweck der Verhaltenslenkung In „begrenztem Umfang“ hielt das BVerfG schon früh den Einsatz von Gebühren und Beiträgen als Instrument der Verhaltenssteuerung für zulässig.55 Wie bei den sozialen Gründen gilt auch hier, dass Lenkungszwecke allein nicht die Erhebung einer Gebühr rechtfertigen können.56 Lenkungszwecke können erst bei der Rechtfertigung von Differenzierungen im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 GG bei der Ausgestaltung eines Gebühren- oder Beitragstatbestands ins Spiel kommen, wenn ein die Gebühren- bzw. Beitragserhebung rechtfertigender Belastungsgrund (Kostendeckung oder Vorteilsabschöpfung) vorhanden ist. Eine differenzierende Bemessung der Gebühr oder des Beitrags kann durch das Ziel der Verhaltenslenkung gleichheitsrechtlich gerechtfertigt werden.57 Zu denken ist etwa an eine erhöhte Spätgebühr zur Vermeidung der Inanspruchnahme der Verwaltung außerhalb der tatsächlichen Dienstzeiten58, Verspätungs- und Missbrauchsgebühren. Eine prohibitiv wirkende, d. h. abschreckende Vorzugslast, die das abgabepflichtige Verhalten verhindert, ist an den Freiheitsrechten zu messen. Übt die Existenz („Androhung“) der Gebühr oder des Beitrags Druck auf die potentiell Abgabepflichtigen dahingehend aus, auf ein bestimmtes abgabepflichtiges Verhalten zu verzichten, so kann insoweit ein faktischer Eingriff in das jeweils geschützte Freiheitsrecht vorliegen.59 Voraussetzung ist, dass die Eingriffsschwelle überschritten ist, dass die verhaltensbeeinflussende Wirkung einem Verbot also nahe kommt.60 Würde die Ge53

Näher Wernsmann (Fn. 11), § 3 AO Rn. 323 ff. m.w.N. Näher Wernsmann (Fn. 11), § 3 AO Rn. 322, 330 m.w.N. 55 BVerfGE 50, 217 (226 f., 230 f.). Für Zulässigkeit der Verhaltenssteuerung schon Wendt (Fn. 9), S. 65 ff. 56 Zutreffend P. Kirchhof (Fn. 24), § 119 Rn. 24, 39. 57 BVerfGE 97, 332 (345); 108, 1 (18); 132, 334 (349 Rn. 49) m.w.N.; BVerfG v. 25. 6. 2014 (Fn. 6), Rn. 49; st. Rspr.; BVerwGE 115, 32 (44); 134, 1 (16); ebenso Vogel (Fn. 39), S. 518 (535). 58 Beispiel nach F. Kirchhof, Grundriss des Steuer- und Abgabenrechts, 2. Aufl. 2001, Rn. 241. 59 Näher Jarass (Fn. 49), Art. 14 Rn. 29; Wernsmann, NJW 2006, 1169 (1172 f.) m.w.N. 60 Wernsmann (Fn. 11), § 4 AO Rn. 532, 555 ff. 54

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bühr die Abgabepflichtigen unangemessen belasten oder die jeweilige Freiheitsausübung (z. B. im Falle des alten Rundfunkbeitrags die Informationsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG61) versperren,62 so wäre sie unverhältnismäßig und materiell verfassungswidrig. Löst der Gesetzgeber die Bemessung der Gebühr oder des Beitrags von den Zwecken der Kostendeckung und des Vorteilsausgleichs, besteht die Gefahr, dass der Entgeltcharakter, der die Vorzugslast von der voraussetzungslos geschuldeten Steuer abgrenzt, geschwächt wird.63 Übersteigt die Höhe der aus Lenkungsgründen erhöhten Höchstgebühr bzw. des Höchstbeitrags die anteiligen tatsächlichen rechnerischen Kosten des Staates, so würde diese insoweit „voraussetzungslos“ – d. h. unabhängig von den Kosten der Leistung oder dem Wert der Gegenleistung – erhoben, womit die Abgabe sich der Steuer annähert. Ungleichbehandlungen im Rahmen der Gebührenbemessung können vor Art. 3 Abs. 1 GG durch Lenkungszwecke gerechtfertigt werden. Allerdings ist hier besonders sorgfältig darauf zu achten, dass die Gebühr oder der Beitrag nicht in ein grobes Missverhältnis zum Lenkungszweck gerät.64 Zwar ist dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum zuzubilligen, zumal sich häufig auch die Bemessungsgrundlagen nicht exakt und im Voraus quantifizieren lassen.65 Dessen Grenzen sind jedoch bei einem „groben Missverhältnis“ der Gebühren- oder Beitragsregelung zu den verfolgten legitimen Gebühren- und Beitragszwecken überschritten.66 Allenfalls punktuelle und maßvolle Höherbelastungen bestimmten unerwünschten Verhaltens, die sowohl die anteiligen Kosten der Leistung als auch den Wert der empfangenen Leistung übersteigen, werden insoweit noch gerechtfertigt werden können. Grundsätzlich ist auch hier davon auszugehen, dass die lenkungspolitisch motivierte Höchstgebühr bzw. der Höchstbeitrag nicht die anteiligen tatsächlichen rechnerischen Kosten überschreiten darf. Ausnahmen (d. h. eine über die Finanzierung des verursachten staatlichen Aufwands, ggf. auch Mehraufwands hinausgehende Belastung) sind nur unter besonderen Voraussetzungen zu rechtfertigen, da in diesen Fällen die Grenzen zur Steuer verwischt zu werden drohen.67

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Da der neue Rundfunkbeitrag typisierend nur an das Innehaben eines Haushalts und nicht an das Vorhalten eines Empfangsgeräts anknüpft, kommt insoweit jetzt eine verhaltensbeeinflussende Wirkung, die als Eingriff der Rechtfertigung bedarf, nicht mehr in Betracht. Zutreffend BayVerfGH v. 15. 5. 2014 (Fn. 7), Rn. 64. 62 So BVerfGE 119, 181 (227). 63 P. Kirchhof (Fn. 24), § 119 Rn. 23. 64 So der Maßstab des BVerfG, vgl. BVerfGE 132, 334 (350). 65 BVerfGE 132, 334 (350). 66 Vgl. BVerfGE 108, 1 (9); 132, 334 (350); st. Rpr.; BVerwGE 115, 32 (44). 67 P. Kirchhof (Fn. 24), § 119 Rn. 50; Wernsmann (Fn. 11), § 3 AO Rn. 299.

Gebühr und Beitrag in der Finanzverfassung

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5. Weitere Zwecke bei der Gebühren- und Beitragsbemessung Grundsätzlich ist der Gesetzgeber nicht verpflichtet, Sondervorteile an Einzelne nur gegen Gebühren- oder Beitragspflichten zu gewähren. Er hat vielmehr einen weiten Gestaltungsspielraum bei der Auswahl des Abgabengegenstandes, d. h. bei der Frage, ob insoweit überhaupt eine Gebühr oder ein Beitrag erhoben werden soll, wie auch bei der Bestimmung der Gebühren- und Beitragsmaßstäbe und -sätze.68 Die Ausgestaltung des Abgabentatbestands (der einmal getroffenen Belastungsgrundentscheidung) hat dann jedoch folgerichtig zu erfolgen. Keine Rechtfertigung gibt es z. B. für die Bevorzugung von sog. Landeskindern bei Studienbeiträgen.69 Eine Gebührenregelung ist zudem begrenzt durch die Gebührenzwecke; insoweit darf die Gebühr nicht in einem groben Missverhältnis zu den verfolgten legitimen Gebührenzwecken stehen. Anderenfalls verstößt sie gegen Art. 2 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG.70 III. Normenklarheit und Normenwahrheit im Hinblick auf den verfolgten Gebühren- und Beitragszweck Nicht jeder objektiv in Betracht kommende Gebühren- oder Beitragszweck kann beliebig zur Rechtfertigung einer Gebühr oder eines Beitrags herangezogen werden. Nur solche Gebührenzwecke, die von einer erkennbaren gesetzgeberischen Entscheidung getragen werden, sind geeignet, die jeweilige Gebührenbemessung sachlich zu rechtfertigen.71 Dieses „Gebot der Normenwahrheit“ fordert hinreichende Klarheit über die Art des verfolgten Gebührenzwecks, die erforderlichenfalls im Wege der Gesetzesauslegung gewonnen werden muss.72 Formuliert der Gesetzgeber eng (im entschiedenen Fall: „Gebühr für die Rückmeldung“), kann er nicht nachträglich geltend machen, dass er noch weitere, ungenannte Gebührenzwecke verfolgt habe,73 auch wenn diese durchaus in der Lage wären, die Höhe einer Gebühr (im entschiedenen Fall: für die Bereitstellung universitärer Einrichtungen und Leistungen) zu rechtfertigen. In anderem Zusammenhang wurde formuliert, die Notwendigkeit einer erkennbaren Entscheidung des Gesetzgebers verhindere ein „Nachschieben von Gründen“ im verfassungsgerichtlichen Verfahren.74 Dieses vom BVerfG aufge-

68

BVerfG v. 25. 6. 2014 (Fn. 6), Rn. 49 m.w.N.; st. Rspr. BVerfGE 134, 1 (Rn. 59 ff.). 70 BVerfGE 132, 334 (350 f.). 71 BVerfGE 108, 1 (19 f.); 132, 334 (350). 72 Vgl. BVerfGE 107, 218 (256); 108, 1 (20); 114, 196 (236); 114, 303 (312); 118, 277 (366); 132, 334 (350). 73 BVerfGE 108, 1 (20); 132, 334 (350). 74 Osterloh, DStJG 24 (2001), 383 (396); P. Kirchhof, AöR 128 (2003), 1 (48). Näher zum Festhalten des Gesetzgebers an ursprünglich verfolgten Zwecken Wernsmann (Fn. 25), S. 76 f., 238 ff., 250 ff. 69

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stellte Erfordernis dient auch dazu, sichtbar zu machen, für welche Leistungen Entgelte verlangt werden, und damit Doppelbelastungen zu vermeiden.75 IV. Keine Umdeutung einer überhöhten Vorzugslast in eine Steuer Sieht man den Gesetzgeber zur Normenwahrheit verpflichtet76 (vgl. soeben III.), so folgt daraus zwingend auch die Antwort auf eine andere umstrittene Frage: Eine überhöhte Gebühr schlägt hinsichtlich des nicht mehr durch die Gebührenzwecke legitimierten Anteils nicht in eine Steuer um, sondern bleibt begrifflich eine (wenn auch rechtswidrige) Gebühr.77 Auch soweit die Abgabe also nicht mehr als Gegenleistung verstanden oder durch einen der anderen Gebührenzwecke ihrer Höhe nach gerechtfertigt werden kann, bleibt sie eine Gebühr, die allerdings materiell verfassungswidrig ist. Wenn der Gesetzgeber das „falsche Etikett“ gewählt hat, kommt es auf die hypothetische Frage nicht mehr an, ob der Gesetzgeber den überschießenden Teil der Gebühr auch als Steuer einführen dürfte. Insofern ist die Bezeichnung einer Abgabe durch den Gesetzgeber (vgl. oben I.) mittlerweile durchaus unter dem Blickwinkel des Normenwahrheitsgebots insofern von Bedeutung, als eine falsche Bezeichnung einer Abgabe durch den Gesetzgeber den Rückgriff auf eine materiell einschlägige Abgabenart sperrt. Dies ist auch Ausdruck einer in der Rechtsprechung des BVerfG zum Finanzverfassungsrecht zum Ausdruck kommenden Tendenz, bloß objektiv denkbare Rechtfertigungsmöglichkeiten nicht zum Zug kommen zu lassen, sondern nur solche Gründe zur Rechtfertigung zuzulassen, die der Gesetzgeber auch tatsächlich verfolgt hat.78 Das BVerfG sieht mit Recht zudem die Formenklarheit und Formenbindung der Finanzverfassung gefährdet, wenn Gebühren begrifflich (ganz oder teilweise) zu Steuern würden, sofern sie unzulässig überhöht bemessen sind.79 75

BVerfGE 108, 1 (20); 132, 334 (350). BVerfGE 108, 1 (20); 132, 334 (350). Außerhalb des Abgabenrechts verallgemeinernd diesen Grundsatz aus dem Rechtsstaatsprinzip ableitend BVerfGE 107, 218 (256); 114, 196 (236 f.); 114, 303 (312); 118, 277 (366). 77 BVerfGE 108, 1 (13 f.); Drüen (Fn. 13), § 3 AO Rn. 19; Heintzen, in: von Münch/Kunig, GG Bd. II, 6. Aufl. 2012, Art. 105 Rn. 20; Müller-Franken (Fn. 28), Art. 105 Rn. 57; F. Kirchhof, DVBl. 1987, 554 (555); Hey, StuW 2008, 289 (292); S. Meyer, Gebühren für die Nutzung von Umweltressourcen, 1995, S. 63 ff.; Sacksofsky, Umweltschutz durch nicht-steuerliche Abgaben, 2000, S. 112 ff.; Wieland, Die Konzessionsabgaben, 1991, S. 265; Wilke (Fn. 17), S. 281 f.; Wernsmann (Fn. 11), § 3 AO Rn. 287. A.A. Kreft, DVBl. 1977, 369 (373); Kruse, Lehrbuch des Steuerrechts I, 1991, S. 39; Wendt (Fn. 9), S. 54 ff. Offen lassend noch BVerfGE 97, 332 (343). 78 So können etwa auch nur solche Lenkungszwecke zur Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen herangezogen werden, die der Gesetzgeber erkennbar verfolgt hat, vgl. BVerfGE 93, 121 (147); 99, 280 (296); 105, 73 (112 f. und LS 2); 110, 274 (293, 296 f.). Näher Wernsmann (Fn. 25), S. 237 ff. m.w.N. 79 BVerfGE 108, 1 (14) m.w.N. 76

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Schließlich kann die Aufspaltung der überhöhten Gebühr in einen Gebühren- und einen Steuerteil im Sinne einer „geltungserhaltenden Reduktion“ bis an die äußerste Grenze des Zulässigen nicht Aufgabe der Rechtsprechung sein, die insoweit auch an ihre Funktionsgrenzen stoßen würde. Dem Gesetzgeber (nicht der Rechtsprechung) kommt ein Gestaltungsspielraum bei der Gebührenbemessung angesichts der zugrunde liegenden komplexen Kalkulationen, Bewertungen, Einschätzungen und Prognosen zu.80 V. Gebühr und Beitrag sowie das Prinzip des sog. Steuerstaats Abschließend sind Gebühr und Beitrag noch in das System der Abgaben nach dem Grundgesetz einzuordnen. Vielfach wird vertreten, dass das sog. Prinzip des Steuerstaats auch der Belastung mit Gebühren und Beiträgen materielle Grenzen ziehe.81 Das BVerfG hat das Prinzip des Steuerstaats nur vereinzelt explizit dem Grundgesetz entnommen. Da das Grundgesetz nur die Steuer ausführlich in der Finanzverfassung regele (Art. 105 ff. GG), während Sonderabgaben gar nicht genannt und Gebühren/ Beiträge nur punktuell erwähnt werden (Art. 74 Abs. 1 Nr. 22 und Art. 80 Abs. 2 GG), sei davon auszugehen, dass das Grundgesetz in der Steuer das Regelfinanzierungsinstrument sehe. Dementsprechend müsse der staatliche Finanzbedarf „in erster Linie“ aus dem Ertrag der in Art. 105 ff. GG geregelten Einnahmenquellen (also i.W. über Steuern) finanziert werden.82 Damit soll wohl auch eine quantitative Aussage verbunden sein.83 Freilich vernachlässigt diese Interpretation bereits das gewaltige Finanzvolumen der Sozialversicherungen, die über Sozialversicherungsbeiträge finanziert werden. Richtigerweise bedarf die Erhebung von Sozialversicherungsbeiträgen (auf der Kompetenzgrundlage des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG) keiner besonderen Rechtfertigung im Hinblick auf das Steuerstaatsprinzip, soweit die zulässigen Beitragszwecke beachtet werden.84 Dann treten die Sozialversicherungsbeiträge wegen der mit ihnen korrespondierenden Gegenleistung (Versicherungsschutz) von vornherein nicht in Konkurrenz zur Steuer – ein Argument, das auch für Gebühren und Beiträge gilt. Denn anders als Sonderabgaben, die wie Steuern voraussetzungslos geschuldet werden, weisen Gebühren und Beiträge Entgeltcharakter auf. Das Grundgesetz begrenzt die Erhebung von Vorzugslasten durch die Gebühren- und Beitragszwecke 80

Vgl. BFH v. 30. 3. 2011 (Fn. 45), Rn. 21. Zur Art der Bemessung (Wirklichkeits- und Wahrscheinlichkeitsmaßstab) näher Wernsmann (Fn. 11), § 3 AO Rn. 295 m.w.N. 81 BVerfGE 108, 1 (15); 110, 370 (387); Isensee, Festschrift für H.P. Ipsen, 1977, S. 409 ff.; Vogel (Fn. 39), 518 (519, 529); Müller-Franken (Fn. 28), Art. 105 Rn. 55. 82 BVerfGE 78, 249 (266 f.); 82, 159 (178); 93, 319 (342). 83 Waldhoff (Fn. 25), § 116 Rn. 84 folgert aus dem Steuerstaatsprinzip, dass der Staatsbedarf „überwiegend“ durch Steuern zu finanzieren sei. 84 Waldhoff (Fn. 25), § 116 Rn. 10 f.; Müller-Franken (Fn. 28), Art. 105 Rn. 127; Isensee, in: Hansmeyer (Hrsg.), Staatsfinanzierung im Wandel, 1983, S. 435 (447); Wernsmann (Fn. 25), S. 460; ders. (Fn. 11), § 3 AO Rn. 332.

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(oben II.).85 Diese bilden Grund und Grenze der Belastung des Abgabenpflichtigen. Es lassen sich aus den Abgabezwecken materielle Grenzen von Vorzugslasten aus ihrem begriffsprägenden Charakter ableiten, die einer Überbeanspruchung des Abgabepflichtigen entgegenwirken können. Daher erscheint eine Entgeltfinanzierung über Gebühren und Beiträge – anders als die Erhebung von Sonderabgaben – nicht von vornherein „als Ausnahme“ in besonderer Weise rechtfertigungsbedürftig.86 Gebühren und Beiträge zählen zu den traditionellen Finanzierungsinstrumenten des Staates,87 waren bei Entstehung und Reform der Finanzverfassung bekannt und begegnen daher keinen grundsätzlichen Bedenken.88 Sollte versucht werden, quantitative Obergrenzen einer Gebühren- und Beitragsfinanzierung aus dem Prinzip des Steuerstaats abzuleiten, so käme man zudem in Schwierigkeiten, eine bestimmte Obergrenze zu definieren, ab wann eine Gebührenfinanzierung im Verhältnis zur Steuerfinanzierung nicht mehr zulässig sein sollte. Das Prinzip des Steuerstaats kann also ohnehin nur qualitativ, nicht quantitativ verstanden werden.89 Diese Sichtweise, die Gebühren nicht in ein Subsidiaritätsverhältnis zur Steuer rückt, liegt im Übrigen auch dem Kommunalabgabenrecht der Länder zugrunde, das vielfach gerade umgekehrt eine Subsidiarität der Steuerfinanzierung anordnet (vgl. z. B. § 3 Abs. 2 KAG NRW): Danach sollen Gemeinden und Kreise Steuern nur erheben, soweit die Deckung der Ausgaben durch andere Einnahmen, insbesondere Gebühren und Beiträge, nicht in Betracht kommt (wovon § 3 Abs. 2 Satz 2 KAG NRW eine Ausnahme für die Vergnügungsteuer und die Hundesteuer macht). Das einfache Recht ist zwar Gegenstand der verfassungsrechtlichen Überprüfung und bildet nicht deren Maßstab. Gleichwohl wird daran deutlich, dass auch der Gesetzgeber als „Erstinterpret der Verfassung“ ein solches Verständnis des Prinzips des Steuerstaats nicht zugrunde gelegt hat. VI. Fazit Die Dogmatik der Gebühren und Beiträge hat sich in den letzten Jahren weitgehend überzeugend weiterentwickelt. Kritikwürdig erscheint allerdings die Gleichsetzung der Gebührenzwecke in der neueren Rechtsprechung des BVerfG. Richtiger Ansicht nach kann eine Vorzugslast (Gebühr/Beitrag) dem Grunde nach nur durch die Zwecke von Kostenersatz oder Vorteilsausgleich gerechtfertigt werden. Lenkungszwecke oder soziale Zwecke können zwar Differenzierungen in der Gebühren85

Zutreffend ebenfalls auf die Gebühren- und Beitragszwecke abstellend BVerfG v. 25. 6. 2014 (Fn. 6), Rn. 49. 86 So aber P. Kirchhof (Fn. 24), § 119 Rn. 20. Vgl. Wernsmann (Fn. 11), § 3 AO Rn. 51, 70, 220, 274. 87 Ebenso BVerfGE 34, 52 (61); 92, 91 (113); 108, 1 (17); 108, 186 (216). 88 BVerfGE 108, 186 (216). 89 So auch Heun, in: Sacksofsky/Wieland, Vom Steuerstaat zum Gebührenstaat, 2000, S. 10 (21); Selmer/Brodersen, DVBl. 2000, 1153 (1164); Thiemann, AöR 138 (2013), 60 (67 f.); Kube, Finanzgewalt in der Kompetenzordnung, 2004, S. 118; Wernsmann (Fn. 25), S. 474 f. m.w.N. auch der Gegenansicht.

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bemessung der Höhe nach, nicht aber eigenständig eine Vorzugslast dem Grunde nach (deren „Ob“) rechtfertigen. Zudem vermag das Steuerstaatsprinzip der Erhebung von Gebühren und Beiträgen keine Grenzen zu ziehen. Diese wird allein begrenzt durch die Gebührenzwecke. Die Gefahr der Finanzierung allgemeiner Staatsaufgaben (etwa von innerer oder äußerer Sicherheit) über Gebühren und Beiträge droht insoweit ohnehin nicht, da es an einem individuell zurechenbaren Vorteil fehlen wird.

IV. Varia

Die unheilvolle Doppelwirkung von Sperrklauseln Von Hans Herbert von Arnim, Speyer Vorspruch Rudolf Wendt ist als Mitglied und Vizepräsident des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes mit der Praxis von Verfassungsgerichten wohl vertraut. Es liegt deshalb nahe, ihm in seiner Geburtstagsschrift einen Beitrag zu widmen, der ein beim Bundesverfassungsgericht seit 2012 anhängiges Verfahren betrifft1 und den wesentlichen Inhalt der Problematik zusammenfasst. Wendt steht zwar der neueren SperrklauselRechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kritisch gegenüber.2 Gerade bei Aufrechterhaltung von Sperrklauseln fällt aber ihre bisher wenig beachtete Doppelwirkung ins Gewicht. Aktueller Bezug Als die NPD im Jahre 2014 aus dem Sächsischen Landtag flog, verlor sie, wie man nicht ohne Befriedigung konstatierte, beträchtliche personelle und finanzielle Ressourcen. Ähnlich erging es der FDP, und bei den Wahlen in Brandenburg und Thüringen sah es für sie nicht besser aus. Noch einschneidender waren ihre Verluste nach der Bundestagswahl 2013. Damals rechneten die Medien vor, wieviel Staatsgeld die FDP für Fraktionen und Mitarbeiter eingebüßt hatte und dass ihr nur noch die Unterstützung durch ihre Friedrich-Naumann-Stiftung bliebe. Kaum jemand scheint aber an der Fülle öffentlicher Mittel Anstoß zu nehmen, über welche die Parteien in den Parlamenten weiterhin verfügen. Dabei sind diese politisch und rechtlich hoch problematisch, auch in Brandenburg, Sachsen und Thüringen. Schließlich bedeuten auch die Erfolge der AfD bei den drei Landtagswahlen nicht nur, dass sie nun politisch ernster genommen wird, sondern bewirken auch eine erhebliche finanzielle und personelle Stärkung dieser Partei. Nach der Bundestagswahl war zwar die Fünf-Prozent-Klausel mit Recht vielfach problematisiert worden. Schließlich waren ihr über 15 % der Stimmen zum Opfer 1 Aktenzeichen: 2 BVE 4/12. Die Klage, die der Verfasser für die ÖDP führt ( http://www. dhv-speyer.de/VONARNIM/Aktuelles/2012/Klage%20BVerfG%20für%20ÖDP/Klage% 20BVerfG%20für%20ÖDP%202012 %20(komp).pdf ), betrifft die verdeckte staatliche Parteienfinanzierung durch Fraktionen, Abgeordnetenmitarbeiter und parteinahe Stiftungen. 2 Rudolf Wendt, Sperrklauseln im Wahlrecht?, in: Matthias Ruffert (Hrsg.), Dynamik und Nachhaltigkeit des Öffentlichen Rechts, Festschrift für Meinhard Schröder, 2012, S. 431 (443 ff.).

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gefallen, darin auch die FDP mit 4,8 % und die AfD mit 4,7 %. Die Sperrklausel hält aber nicht nur kleinere Parteien aus dem Parlament heraus, sondern schließt sie auch von der verdeckten Parteienfinanzierung aus. Diese Doppelwirkung wird bisher kaum öffentlich wahrgenommen, obwohl sie im Laufe der Jahre gewaltig gesteigert wurde. Die Entwicklungsgeschichte macht die ganze Dimension deutlich. Erst schießt die staatliche Parteienfinanzierung in die Höhe … Die staatliche Parteienfinanzierung, über welche die Parteien im Parlament selbst entscheiden, war nach ihrer Einführung im Jahre 1959 so schnell in die Höhe geschossen, dass das Bundesverfassungsgericht eingreifen musste, um allzu üppige Selbstbedienung zu verhindern. Seitdem verlangen Erhöhungen ein ordentliches Gesetzgebungsverfahren, das sie der öffentlichen Kontrolle aussetzt. Zudem bestehen Obergrenzen (wenn diese auch damals noch nicht so genannt wurden), und außerparlamentarische Parteien werden an der „Staatsknete“ beteiligt, wenn sie mindestens 0,5 % der Stimmen erlangt haben. … dann explodieren die Ersatzleistungen Doch die Antwort der Parteien in den Parlamenten kam prompt: Sie ließen ersatzweise die Zuschüsse für ihre Parlamentsfraktionen explodieren, bewilligten ihren Stiftungen für die Inlandsarbeit sog. Globalzuschüsse für die politische Bildung und ihren Abgeordneten persönliche Mitarbeiter. Das gewaltige Umgehungsmanöver hat dazu geführt, dass die Finanzierung von Fraktionen, Mitarbeitern und Stiftungen, die anfangs nur einen Bruchteil der Parteienfinanzierung ausgemacht oder gar nicht existiert hatte, diese inzwischen weit überflügelt. Ursprünglich unscheinbare und plausibel begründete Einrichtungen entwickelten sich, wie die politikwissenschaftliche Forschung konstatiert, zu großzügig finanzierten Ersatzparteien und wandelten so unter der Hand ihren Charakter. Die Drei erhalten jetzt allein aus dem Bundeshaushalt rund 365 Mio. Euro (ohne die weiteren rund 340 Mio. Euro für Projekte der Stiftungen vor allem im Ausland) – sehr viel mehr als die Staatsfinanzierung der eigentlichen Parteien, die für ihre Organisationen im Bund und den Ländern bestimmt ist und 2014 rund 157 Mio. Euro beträgt. Allein für Mitarbeiter verfügt jeder Bundestagsabgeordnete inzwischen über 21.000 Euro monatlich (einschließlich der Arbeitgeber-Sozialleistungen), womit insgesamt rund 4.400 Personen beschäftigt werden. In den Bundesländern kommen weitere 120 Mio. Euro für die Parlamentsfraktionen und rund 90 Mio. Euro für etwa 3000 persönliche Mitarbeiter der Landtagsabgeordneten hinzu. Die Selbstbewilligungen weisen allerdings große Unterschiede auf. Die 88 Abgeordneten des Potsdamer Landtags können für 3.937 Euro im Monat Mitarbeiter beschäftigen, ihre 69 Kieler Kollegen dagegen nur für 966 Euro. Die Fraktionen in Thüringen und Sachsen bewilligen sich mit jährlich

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8,4 Mio. bzw. 10,7 Mio. Euro sehr viel mehr als in Rheinland-Pfalz (4,3 Mio. Euro). Zudem werden die rund 1500 Parlamentarier der Flächenländer voll alimentiert, obwohl sie, wie Landtagsdirektoren zugeben, nur einen Teilzeitjob ausüben. So können sie – mit den Worten eines früheren Bundestagspräsidenten – „tagein tagaus Parteiarbeit machen“. Die Diäten in Brandenburg, Sachsen und Thüringen sind rund doppelt so hoch wie die in Hamburg, obwohl die Mitglieder der Hamburger Bürgerschaft zusätzlich zu den Landes- noch Kommunalaufgaben wahrzunehmen haben. Bewilligung und Verwendung ohne Kontrollen und Grenzen Der breite Geldfluss wird dadurch ermöglicht, dass für Fraktionen, Abgeordnetenmitarbeiter und Stiftungen im Bund und in vielen Ländern bisher keine der verfassungsrechtlich gebotenen Anforderungen beachtet wird, welche die Staatsfinanzierung der Parteien in Grenzen halten. Erhöhungen werden im Haushaltsplan versteckt und gehen, selbst bei weit überproportionalen Sprüngen, in der Masse der Haushaltstitel leicht unter, zumal niemand im Parlament daran interessiert ist, die Medien darauf zu stoßen. Die Folge ist, dass das Geld „wie Manna vom Himmel fällt“ (so ein früherer Bundestagsabgeordneter). Das erklärt auch die genannten Unterschiede zwischen den Ländern: Erhöhungen verlangen eben auch in Brandenburg, Sachsen und Thüringen bloß die Änderung eines Haushaltstitels, während in Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein ein Gesetz – mit der entsprechenden öffentlichen Kontrollwirkung – geändert werden muss. Fraktionen Um die Parteien zu entlasten, nehmen ihnen die Fraktionen mit ihren vollen Kassen viele Aufgaben und Ausgaben ab. Ein früherer CDU-Bundesgeschäftsführer sprach deshalb geradezu von „Fraktionsparteien“. So erlauben sich z. B. die Fraktionen per Gesetz Öffentlichkeitsarbeit, die von Verlautbarungen der Mutterparteien praktisch kaum zu unterscheiden ist. Gleichzeitig verschleiern sie den wahren Umfang, indem sie Berichte publizieren, die lediglich die Sach-, nicht auch die Personalkosten ihrer Öffentlichkeitsarbeit ausweisen. Schließlich hat der Bundestag auch noch die Prüfung durch den Bundesrechnungshof eingeschränkt, und selbst dem Bürger hat er das Informationsrecht gegenüber dem Rechnungshof entzogen. Abgeordnetenmitarbeiter Die Prüfung der Abgeordnetenmitarbeiter wird dem Bundesrechnungshof sogar ganz vorenthalten. Umso leichter können die Parteien die Mitarbeiter, die eigentlich zur Unterstützung des Abgeordneten „bei der Erledigung seiner parlamentarischen Arbeit“ bestimmt sind (§ 12 Abs. 3 Abgeordnetengesetz), für Partei- und Wahlkampfzwecke missbrauchen. Dass dies flächendeckend geschieht, hat eine Sendung

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des ARD-Fernsehmagazins Report Mainz kurz vor der Bundestagswahl 2013 bestätigt. Die überwiegend im Wahlkreis eingesetzten Mitarbeiter bilden auch sonst geradezu das Rückgrat der regionalen Parteiorganisationen. Parteinahe Stiftungen Bei den Stiftungen, deren Arbeit ebenfalls mit der ihrer Parteien verschmilzt, treiben die Etablierten ihre Wettbewerbsvorteile auf die Spitze. Die Zahlungen laufen auch nach dem Ausscheiden der Mutterpartei aus dem Bundestag weiter. Dagegen muss eine neue Partei bei zwei Bundestagswahlen die Sperrklausel überwinden, damit auch sie für eine Stiftung Staatsgeld erhält. Sie würde also frühestens ab dem Jahre 2021 öffentliches Stiftungsgeld erhalten. Demgegenüber kann die FDP, sollte sie 2017 wieder in den Bundestag kommen, über die ganzen acht Jahre hinweg die öffentliche Finanzierung ihrer Stiftung genießen. Untaugliche Rechtfertigungsversuche Der übliche Rechtfertigungsversuch der Politik, die gewaltig angeschwollenen personellen und finanziellen Ressourcen seien angesichts der immer stärkeren Dominanz der Regierung zur „Aufrüstung“ der parlamentarischen Opposition erforderlich, widerlegt sich schon dadurch selbst, dass im Bundestag die Regierungsparteien den Löwenanteil der Gelder erhalten. Auch die Stärkung der Abgeordneten gegenüber dem Parlamentsestablishment schlägt als Argument für die vielen Mitarbeiter nicht durch. Es wird bereits durch das Hochschießen der Fraktionsmittel konterkariert, die die Macht der Fraktionsführung weiter verfestigt. Und erst Recht wird die gleichheitswidrige Ohnmacht einfacher Abgeordneter durch die hohen Zulagen vertieft, die die Fraktionen ihren Funktionsträgern zahlen und die – mit Ausnahme vielleicht der Zulagen für Fraktionsvorsitzende – sämtlich verfassungswidrig sind und inzwischen vier Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zuwider laufen. Ein missbräuchliches Geflecht: verdeckt verfassungswidrig Insgesamt hat die politische Klasse ein umfassendes Missbrauchssystem entwickelt, um auf die öffentlichen Ressourcen an Geld und Personal ungestört zugreifen und sie für den Erhalt von Macht und Mandaten einsetzen zu können. Das widerspricht der Staatsfreiheit der Parteien und, da außerparlamentarische Parteien von dem auch für Parteizwecke eingesetzten Geldstrom ausgeschlossen sind, der politischen Gleichheit der Parteien und der Bürger. Die Parteien haben die Verfassungswidrigkeit dieses Systems und vieler seiner Bestandteile bewusst in Kauf genommen. Das belegen die parlamentarischen Protokolle bei Erlass des Abgeordneten- und des Fraktionsgesetzes. Da die Gesetzesinitia-

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toren die auf der Hand liegenden Einwände nicht widerlegen konnten, haben sie die Bürger und die Medien über die Verfassungswidrigkeit gezielt hinweg getäuscht und so die öffentliche Kontrolle einmal mehr ausgeschaltet. Statt öffentlicher Kontrolle: Gerichtskontrolle Die unerträgliche Mauschelei ist nur deshalb bisher nicht zum öffentlichen Skandal geworden, weil das tief gestaffelte Geflecht in seiner unerhörten Komplexität wenig zugänglich erscheint. Es bleibt also nur die Gerichtskontrolle.

Legitimationsprobleme der Börsenselbstverwaltung – dargestellt am Beispiel des Börsenrates Von Steffen Augsberg, Gießen I. Problemaufriss: Legitimationsbedürfnisse und Legitimationsmodi im Börsenrecht Die aktuellen Finanz(markt)krisen bedeuten nicht nur eine ungeheure politische Herausforderung. Sie stellen auch die existierenden, für die Finanzmärkte geltenden regulatorischen Vorgaben in Frage. Das gilt natürlich primär für das einschlägige materielle Recht. Es betrifft aber auch die institutionellen und organisatorischen Rahmenbedingungen. Diese sind nicht nur auf ihre Funktionsfähigkeit, sondern auch und insbesondere auf ihre Legitimationsstruktur und -erfordernisse hin zu untersuchen. Gerade dort, wo die klassische, parlamentszentrierte Steuerung zugunsten dezentraler und dekonzentrierter Rechtsetzungsformen verlassen wird, ist besondere Aufmerksamkeit gefordert. Damit geraten namentlich die deutschen Börsen in den Blickpunkt. Denn bei diesen handelt es sich nach der Legaldefinition des § 2 Abs. 1 BörsenG um „teilrechtsfähige Anstalten des öffentlichen Rechts, die nach Maßgabe dieses Gesetzes multilaterale Systeme regeln und überwachen, welche die Interessen einer Vielzahl von Personen am Kauf und Verkauf von dort zum Handel zugelassenen Wirtschaftsgütern und Rechten innerhalb des Systems nach festgelegten Bestimmungen in einer Weise zusammenbringen oder das Zusammenbringen fördern, die zu einem Vertrag über den Kauf dieser Handelsobjekte führt.“ Mit dieser Festlegung der Rechtsform hat der Gesetzgeber eine ältere Streitfrage1 beantwortet und Rechtsklarheit geschaffen. Entgegen gängiger Vorstellungen sind die Börsen also keine privaten Akteure des Wirtschaftslebens, sondern bilden einen speziellen Teil der staatlichen Verwaltungsstruktur.2 Die in der öffentlichen Wahrnehmung dominierenden Kapitalgesellschaften, etwa die Deutsche Börse AG, sind 1

Vgl. dazu etwa Heiko Beck, in: Schwark/Zimmer (Hrsg.), Kapitalmarktrechts-Kommentar, 4. Auflage München 2010, § 2 BörsG Rn. 4 ff., 33 ff.; Carsten Peter Claussen, Noch einmal: Die Rechtsform deutscher Wertpapierbörsen, ZBB 2000, 1 ff.; Carsten Peter Claussen/Michael Hoffmann, Neues zur Rechtsform deutscher Wertpapierbörsen, ZBB 1995, 68 ff., jeweils m.w.N. 2 Vgl. im Überblick Siegfried Kümpel, Zur öffentlichrechtlichen Organisation der deutschen Wertpapierbörsen, BKR 2003, 3 ff.; siehe schon Gerhard Anschütz, Staatsaufsicht und Börsenverwaltung, VerwArch 11 (1903), 519 ff.; Peter Wiede, Die Börse als verwaltungsrechtliches Problem und Rechtsinstitut, Köln 1963, v. a. S. 131 ff.

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mit den eigentlichen Börsen nicht identisch. Sie sind als sog. Börsenträger nur mit dem Betrieb der Börsen beliehen.3 Diese duale Struktur, die sich aus der Unterscheidung zwischen den Börsen auf der einen und den Börsenträgern auf der anderen Seite ergibt, ist für die rechtliche Ausgestaltung des deutschen Börsenwesens charakteristisch: Dabei ist den als teilrechtsfähige Anstalten des öffentlichen Rechts organisierten Börsen die eigentliche Durchführung des Börsenhandels zugewiesen, und die privaten Börsenträger stellen die insoweit erforderlichen finanziellen, personellen und sachlichen Mittel zur Verfügung. Der Börse selbst, so ist einmal plastisch formuliert worden, gehört „nicht einmal ein Bleistift“4. Aus dieser grundlegenden dualen Organisationsstruktur folgt eine Trennung der organisationsrechtlichen Anforderungen: Während auf Seiten der privaten Börsenträger die jeweils einschlägigen gesellschaftsrechtlichen Bestimmungen maßgeblich sind, ergibt sich die Organisationsstruktur der Börsen aus den speziellen verwaltungsorganisationsrechtlichen Vorgaben des Börsengesetzes. Die zahlreichen Änderungen, die das Börsengesetz in den letzten Jahren erfahren hat,5 haben diese grundsätzliche Ausrichtung unverändert gelassen. Im Gegenteil sind die organisatorischen Besonderheiten durch das Vierte Finanzmarktförderungsgesetz6 sogar ausdrücklich in das Börsengesetz aufgenommen worden. Kennzeichnend für die konkrete Ausgestaltung ist demnach ein bereichsspezifisches, an das two-tier-Prinzip des Aktienrechts angelehntes, aber dennoch an allgemeine verwaltungsorganisationsrechtliche Anforderungen rückgebundenes Erscheinungsbild. Eines der zentralen Organe der deutschen Börsen7 sind dabei die in den §§ 12 ff. BörsenG geregelten Börsenräte. Sie sind durch das Börsengesetz mit spe3

Vgl. hierzu etwa Stefan Bressler, Public-Private-Partnership im Bank- und Börsenrecht durch Beleihung mit einer Anstaltsträgerschaft, Frankfurt/Main 2009; Siegfried Kümpel/Horst Hammen, Börsenrecht – Eine systematische Darstellung, 2. Auflage Berlin 2003, S. 108 ff.; Kümpel, BKR 2003, 3 (5 f.); Beck, in: Schwark/Zimmer (Hrsg.), Kapitalmarktrechts-Kommentar, § 3 BörsG Rn. 18; Marcus Willamowski, in: ders./Daniela Bergdolt, Börsengesetz, Baden-Baden 2012, § 5 Rn. 2 ff. 4 Claussen/Hoffmann, ZBB 1995, 68 (72). Näher etwa Johannes Köndgen/Jochen Mues, Zwangslizenz für Xetra? – Deutsches Börsenwesen zwischen Staatsauftrag und privatwirtschaftlicher Freiheit, WM 1998, 53 (59 f.); Jochen Mues, Die Börse als Unternehmen, BadenBaden 1999, S. 81. 5 Vgl. im Überblick Wolfgang Groß, Kapitalmarktrecht, 5. Auflage München 2012, Vorbemerkungen Rn. 1 ff.; siehe auch Heiko Beck, Die Reform des Börsenrechts im Vierten Finanzmarktförderungsgesetz, BKR 2002, 662 ff.; Rüdiger Meixner, Die Änderungen des Börsenrechts anläßlich der Sechsten KWG-Novelle, WM 1998, 431 ff.; Jochen Mues, Anmerkungen zum Börsengesetz nach dem Diskussionsentwurf für das Vierte Finanzmarktförderungsgesetz, ZBB 2001, 353 ff. 6 Gesetz zur weiteren Fortentwicklung des Finanzplatzes Deutschland (Viertes Finanzmarktförderungsgesetz), BGBl. I 2002, S. 2009. Dazu etwa allgemein Fabian Reuschle, Viertes Finanzmarktförderungsgesetz, 2002; Holger Fleischer, Das Vierte Finanzmarktförderungsgesetz, NJW 2002, 2977 ff. 7 Gemäß der Ende Mai 2012 verabschiedeten Neufassung des Börsengesetzes sind ausnahmslos auch die Warenbörsen erfasst.

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ziellen Aufgaben betraut, und sie zeichnen sich durch eine gruppenpluralistische Besetzung aus. Neben den unmittelbar am Börsenbetrieb beteiligten Gruppen ist dabei ausdrücklich auch die Hinzuwahl von Anlegervertretern vorgesehen. Diese vor dem Hintergrund der skizzierten öffentlich-rechtlichen Rechtsnatur der Börsen ersichtlich ungewöhnliche Konstruktion bietet Anlass, die hier aufscheinende Verbindung unterschiedlicher Legitimationsmodi näher in den Blick zu nehmen. Diese Analyse erfolgt in drei Schritten: - Zunächst ist knapp auf die Aufgabe der Börsenräte und das zugrunde liegende Legitimationsmodell einzugehen (dazu II.). - Anschließend ist dieses Konzept in den allgemeinen verfassungs- und verwaltungsrechtlichen Rahmen einzuordnen (dazu III.). - Abschließend ist resümierend auf die möglichen Konsequenzen dieser Organisationsstruktur im Zuge einer zunehmend unional harmonisierten und international ausgerichteten Börsenlandschaft einzugehen (dazu IV.).

II. Aufgabe und Legitimation der Börsenräte 1. Grundlegende Funktionszuweisung im Gesamtgefüge der Börsenorgane Seit der Novellierung des Börsengesetzes im Jahre 1994 werden zwar die alltäglichen Leitungsfunktionen durch die nunmehr professionalisierte Börsengeschäftsführung wahrgenommen.8 Nach wie vor fungiert der Börsenrat allerdings sowohl als Leitungs- und Überwachungsorgan wie als zentrales Rechtsetzungsorgan der Börse. Die erstgenannte Funktion umfasst dabei namentlich die Zuständigkeit für die Überwachung der Börsengeschäftsführung, aber auch die wesentlichen Personalentscheidungen im Hinblick auf die Börsengeschäftsführung und die für die Eigenkontrolle zuständige Handelsüberwachungsstelle.9 Demgegenüber betrifft der Rechtsetzungsaspekt die „Grundlagenzuständigkeit“10, derzufolge der Börsenrat im Einvernehmen mit der Börsenaufsichtsbehörde die Satzungshoheit zukommt. Gemäß § 12 Abs. 2 BörsenG kann der Börsenrat unterschiedliche, den Binnenbe8 Nach Eberhard Schwark, in: Schwark/Zimmer (Hrsg.), Kapitalmarktrechts-Kommentar, § 15 BörsG Rn. 1, spricht die „im Vergleich zum Aktienrecht restriktivere Regelung von Zustimmungsvorbehalten des Börsenrates (§ 12 Rn. 18) spricht jedoch für eine umfassende Leitungs- und Geschäftsführungskompetenz der Geschäftsführung“. 9 Zum vergleichsweise komplexen Gefüge der Börsenaufsicht (BAFin, Börsenaufsichtsbehörden der Länder, Eigenüberwachung durch spezielle Organe der Börse selbst) siehe nur Steffen Augsberg, in: Ehlers/Fehling/Pünder (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, Band 1: Öffentliches Wirtschaftsrecht, Heidelberg 2012, § 35 Rn. 26 ff. m.w.N. 10 Vgl. Horst Hammen, Börsenorganisationsrecht im Wandel – Vorschläge für ein 4. Finanzmarktförderungsgesetz, AG 2001, 549 (553); Kümpel/Hammen, Börsenrecht – Eine systematische Darstellung, S. 92, 144, 171.

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reich der Börse betreffende Regelwerke, insbesondere auch die Börsenordnung, als Satzung erlassen. 2. Börsenräte als Selbstverwaltungsgremien? Vor diesem Hintergrund sind die Börsenräte ebenso wie die weiteren Organe der Börsen selbst verwaltungsrechtsdogmatisch eindeutig als Erscheinungsform funktionaler Selbstverwaltung einzuordnen.11 Das Börsengesetz kennt zwar kein ausdrückliches Recht auf Selbstverwaltung. Für eine entsprechende Qualifizierung spricht aber, dass die Börsenräte innerhalb eines speziellen, vom hierarchisch gegliederten allgemeinen Verwaltungsapparat gelösten Verwaltungssektors gesetzlich zugewiesene Aufgaben wahrnehmen, wobei ihnen insbesondere Satzungshoheit zugewiesen ist.12 Gerade diese Festlegung auf eine spezifische Rechtsetzungsform, die einen alten Streit beendete,13 spricht sowohl für den öffentlich-rechtlichen Charakter der Börse wie für die Zuordnung zur funktionalen Selbstverwaltung. Dem steht auch nicht etwa die Rechtsform der Anstalt entgegen.14 Diese unterscheidet sich zwar prinzipiell von der Körperschaft dadurch, dass sie anders als diese nicht mitgliedschaftlich organisiert, sondern durch ein spezielles, mitunter komplexes und kompliziertes Benutzungsverhältnis gekennzeichnet ist.15 Allerdings steht dies selbstverwaltungstypischer Aufgabenwahrnehmung und entsprechenden Handlungsoptionen, insbesondere der Übertragung von Satzungshoheit, nicht entgegen. Unabhängig von der umstrittenen Frage, ob dies überhaupt verfassungsrechtlich zulässig wäre,16 bedarf es deshalb auch nicht etwa einer Beleihung mit Rechtsetzungsbefugnissen.17 Zudem zeigt gerade das Beispiel der Börse, wie auch explizit als Anstalten ausgestaltete Organisationseinheiten selbstverwaltungstypische Betroffenenpartizipation er-

11 Vgl. nur Beck, in: Schwark/Zimmer (Hrsg.), Kapitalmarktrechts-Kommentar, § 3 BörsG Rn. 3, Kümpel, BKR 2003, 3 (8 f.): Kümpel/Hammen, Börsenrecht – Eine systematische Darstellung, S. 125 ff., jeweils m.w.N. 12 Vgl. nur Beck, in: Schwark/Zimmer (Hrsg.), Kapitalmarktrechts-Kommentar, § 3 BörsG Rn. 3 m.w.N. 13 Vgl. im Überblick etwa Steffen Augsberg, Rechtsetzung zwischen Staat und Gesellschaft, Berlin 2003, S. 153 ff. 14 Vgl. zum Problem etwa Rüdiger Breuer, Die öffentlichrechtliche Anstalt, VVDStRL 44 (1986), S. 211 (222 m.w.N.). 15 Vgl. nur Klaus Lange, Die öffentlichrechtliche Anstalt, VVDStRL 44 (1986), 169 (180 ff.); siehe auch Iris Kemmler, Die Anstaltslast, 201, S. 30 ff.; Walter Krebs, Die öffentlichrechtliche Anstalt, NVwZ 1985, 609 (613 ff.). 16 Vgl. allgemein mit beachtlichen Argumenten für die verfassungsrechtliche Zulässigkeit Britta Beate Wiegand, Die Beleihung mit Normsetzungskompetenzen, Berlin 2008, v. a. S. 116 ff., 150 ff. 17 Gegen eine entsprechende Lösung im Börsenrecht Siegfried Kümpel/Horst Hammen, Börsenrecht. Eine systematische Darstellung, 2. Auflage Berlin 2003, S. 169 m.N. auch zur teilweise vertretenen Gegenansicht.

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möglichen.18 Bereichsspezifisch wird hier also eine ältere Einsicht des Verwaltungsorganisationsrechts bestätigt, derzufolge es zwischen Körperschaften und Anstalten fließende Übergänge gibt; „in der Lebenswirklichkeit finden sich häufig Organisationen, die körperschaftliche und anstaltliche Elemente in sich vereinigen“19. Unabhängig von der vormals heißdiskutierten, nunmehr in § 2 Abs. 1 BörsenG positiv-rechtlich beantworteten Frage nach der Rechtsnatur der Börsen und losgelöst von der Problematik, ob und inwieweit die einzelnen Organe mit Außenverbindlichkeit agieren,20 folgt daraus, dass die Börsenräte besonderer Legitimation bedürfen. Klar ist aber auch, dass diese nicht (allein) in einem klassisch-demokratischen, auf das Parlament zurückführbaren Zurechnungszusammenhang besteht, sondern die typischen Legitimationsmodi der funktionalen Selbstverwaltung in Ansatz gebracht werden. Deshalb enthält die einschlägige gesetzliche Grundlage zunächst besondere Anforderungen an die Zusammensetzung der Börsenräte, die diesen ersichtlich eine spezifische autonome Legitimation vermitteln (sollen):21 - So mussten schon nach der bis Mitte 2012 geltenden Vorgabe des Börsengesetzes im Börsenrat die zur Teilnahme am Börsenhandel zugelassenen Kreditinstitute 18

Vgl. Bressler, Public-Private-Partnership im Bank- und Börsenrecht durch Beleihung mit einer Anstaltsträgerschaft, S. 135; zur Betroffenenpartizipation als Legitimationsmuster siehe etwa Winfried Kluth, Funktionale Selbstverwaltung, Tübingen 1997, S. 236 f. 19 Hans-Werner Laubinger, Die nutzbare Anstalt des öffentlichen Rechts – ein Fabelwesen, in: Arndt u. a. (Hrsg.), Staat – Kirche – Verwaltung, Festschrift für Hartmut Maurer, München 2001, S. 641 (651); ähnlich Hans Jecht, Die Öffentliche Anstalt, Berlin 1963, S. 118 ff.; Gunnar Folke Schuppert, Die Erfüllung öffentlicher Aufgaben durch verselbständigte Verwaltungseinheiten, Göttingen 1981, S. 240 ff. Vgl. auch die „intermediären Anstalten“ bei Lange, VVDStRL 44 (1986), 169 (194 ff.), die den Körperschaften darin ähneln, dass sie Privaten die Möglichkeit der Einflussnahme auf das Handeln einer öffentlich-rechtlichen Organisation eröffnen. 20 Unklar Siegfried Kümpel/Horst Hammen, Börsenrecht – Eine systematische Darstellung, 2. Auflage Berlin 2003, S. 173, denen zufolge aus diesem Grunde auf Hoheitsbefugnisse verzichtet werden könne. 21 § 12 Abs. 1 BörsG lautet: „Jede Börse hat einen Börsenrat zu bilden, der aus höchstens 24 Personen besteht. Im Börsenrat müssen die zur Teilnahme am Börsenhandel zugelassenen Unternehmen und die Anleger vertreten sein. Bei einer Wertpapierbörse gelten als Unternehmen nach Satz 2 insbesondere die zur Teilnahme am Börsenhandel zugelassenen Kreditinstitute einschließlich der Wertpapierhandelsbanken, die zugelassenen Finanzdienstleistungsinstitute und sonstigen zugelassenen Unternehmen sowie die zur Teilnahme am Börsenhandel zugelassenen Kapitalverwaltungsgesellschaften. Handelt es sich bei der Börse zumindest auch um eine Wertpapierbörse, müssen im Börsenrat über die in Satz 2 genannten Unternehmen hinaus auch die Skontroführer, die Versicherungsunternehmen, deren emittierte Wertpapiere an der Börse zum Handel zugelassen sind, und andere Emittenten solcher Wertpapiere vertreten sein. Die Zahl der Vertreter der Kreditinstitute einschließlich der Wertpapierhandelsbanken sowie der mit den Kreditinstituten verbundenen Kapitalverwaltungsgesellschaften und sonstigen Unternehmen darf insgesamt nicht mehr als die Hälfte der Mitglieder des Börsenrates betragen. Die nach § 13 Absatz 4 zu erlassende Rechtsverordnung kann für einzelne Börsen Ausnahmen von den Bestimmungen der Sätze 2 bis 5 zulassen. Sie kann insbesondere vorsehen, dass sonstige betroffene Wirtschaftsgruppen im Börsenrat vertreten sind, und die Entsendung der Vertreter der nicht zum Börsenhandel zugelassenen Unternehmen regeln.“

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einschließlich der Wertpapierhandelsbanken, die zugelassenen Finanzdienstleistungsinstitute und sonstigen zugelassenen Unternehmen, die Skontroführer, die Versicherungsunternehmen, deren emittierte Wertpapiere an der Börse zum Handel zugelassen sind, andere Emittenten solcher Wertpapiere und die zur Teilnahme am Börsenhandel zugelassenen Kapitalanlagegesellschaften vertreten sein. Insgesamt darf diese Gruppe allerdings nicht mehr als die Hälfte der Mitglieder des Börsenrates betragen. Dabei werden die Mitglieder des Börsenrates für die Dauer von bis zu drei Jahren von den genannten Gruppen jeweils aus ihrer Mitte gewählt. Besondere Erwähnung findet schließlich wie bereits angeführt die Beteiligung der Anleger. Ihre Vertreter werden indes gem. § 13 Abs. 1 BörsenG aufgrund der Unbestimmtheit dieser Gruppe von den übrigen Mitgliedern des Börsenrates hinzugewählt. - Im Rahmen einer Ende Juni 2012 verabschiedeten Reform des Börsengesetzes22 wurde dieser Punkt formal noch einmal bestärkt und unter dem Aspekt des Anlegerschutzes hervorgehoben. In der Sache beschränkt sich die Neufassung indes auf eine Parallelisierung der Anforderungen an Wertpapier- und Warenbörsen; weder sind inhaltliche Änderungen hinsichtlich der Anlegerbeteiligung vorgesehen noch erfährt der Wahlmodus eine abweichende Regelung. Weiterhin erfolgt dessen Konkretisierung nach § 12 Abs. 1 S. 6, 7 BörsenG durch Rechtsverordnungen, die die Börsenaufsichtsbehörden der Länder erlassen. Die damit erreichte Flexibilität wird in der Literatur begrüßt, weil sie „sachgerechte Ausnahmen durch die Wahlverordnung [erlaubt]. Dadurch kann der jeweiligen Teilnehmerstruktur der Wertpapierbörsen Rechnung getragen werden“.23 Das darf indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass grundlegende legitimatorische Anforderungen nicht in das Belieben des Verordnungsgebers gestellt werden dürfen, so dass dessen Gestaltungsmacht Grenzen gesetzt sind. 3. (Eingeschränkte) Staatsaufsicht als Korrelat der Selbstverwaltung In einer etwas anders gelagerten Perspektive erweist sich an dieser Stelle am konkreten Beispiel der Börsenräte die Richtigkeit der allgemeinen Differenzierung zwischen Überwachung als Freiheitskorrelat und Aufsicht als Selbstverwaltungskorrelat.24 Die im Börsengesetz den Börsenaufsichtsbehörden der Länder zugewiesenen Aufsichtsfunktionen verdeutlichen so einerseits in ihrer Beschränkung auf eine 22 Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2010/73/EU und zur Änderung des Börsengesetzes v. 26. 6. 2012, BGBl. I 2012, S. 1375 (1381). 23 Schwark, in: Schwark/Zimmer (Hrsg.), Kapitalmarktrechts-Kommentar, § 12 Rn. 5. 24 Rolf Gröschner, Das Überwachungsrechtsverhältnis, Tübingen 1992, S. 52. Zustimmend Eberhard Schmidt-Aßmann, Verwaltungskontrolle: Einleitende Problemskizze, in: ders./ Hoffmann-Riem (Hrsg.) Verwaltungskontrolle, Baden-Baden 2001, S. 9 (29): „Wirtschaftsaufsicht im Sinne von Überwachung und Staatsaufsicht im Sinne von Verwaltungskontrolle sind getrennt zu halten“. Ebenso Wolfgang Kahl, Die Staatsaufsicht, Tübingen 2000, S. 384 ff.

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bloße Rechtsaufsicht noch einmal, dass der Gesetzgeber von einer funktionalen Selbstverwaltung des Börsengeschehens ausgeht.25 Andererseits vermittelt diese Aufsicht aber (ein Stück weit) demokratische Legitimation.26 Letzterem dient ferner das grundlegende Erlaubniserfordernis des § 4 BörsenG (für die Errichtung einer Börse), die Genehmigungspflichtigkeit der Börsenordnung nach § 16 Abs. 3 S. 1 BörsenG und die in § 3 Abs. 2 S. 1 BörsenG festgeschriebene Möglichkeit der Börsenaufsicht, an den Beratungen der Börsenorgane teilzunehmen. III. Autonome Legitimationsmodelle im Kontext der grundgesetzlichen Demokratie Wie fügt sich aber nun ein solches, bereichsspezifisch ausgearbeitetes Legitimationsmodell in das Gesamtgefüge der grundgesetzlichen Demokratie? Ist es als Bestandteil, als Ergänzung oder gar als Widerspruch zu der klassischen hierarchisch gegliederten Verwaltungsstruktur zu verstehen? Wie schließlich sind die Spezifika der Börsenselbstverwaltung, namentlich der Versuch, auch die Anleger zu beteiligen, in diesem Konzept zu verstehen? Eine Annäherung an diese in sich überaus diffizilen und jeweils eine Fülle von Folgeproblemen aufwerfenden Fragen soll hier in Form von drei knappen, eher diskussionsanregenden denn klare Antworten liefernden Anmerkungen erfolgen: - Erstens ist kurz daran zu erinnern, dass und wie sich funktionale Selbstverwaltung demokratiekonform konzipieren lässt (dazu 1.). - Zweitens ist auf die Friktionen hinzuweisen, die sich aus der Einbeziehung Dritter, eigentlich – jedenfalls in der klassischen Logik der mittelbaren Staatsverwaltung und insbesondere des Anstaltsrechts – Außenstehender in dieses spezielle Legitimationsmodell ergeben (dazu 2.). - Insoweit kann, drittens, ein Blick auf ein bekanntes Beispiel aus einem prima facie vielleicht nicht naheliegenden, in der Sache aber mit durchaus vergleichbaren Problemkonstellationen befassten Nachbarrechtsgebiet erhellend wirken (dazu 3.). 1. Demokratische Selbstverwaltung: ein Paradox? Die Vorstellung demokratischer Selbstverwaltung erscheint auf den ersten Blick paradox: Denn während demokratische Legitimationsmechanismen jedenfalls in einem klassischen Verständnis (wie es namentlich das Bundesverfassungsgericht 25

Vgl. etwa Dennis A. Lepczyk, Rechtliche Aspekte internationaler Börsenfusionen, Frankfurt/Main 2009, S. 46. 26 Hierzu einstweilen nur Kahl, Die Staatsaufsicht, v. a. S. 485 ff.; Paul Kirchhof, in: Maunz/Dürig (Begr.), Grundgesetz-Kommentar, Loseblatt (Stand: 01/2009), Art. 83 Rn. 32; Kluth, Funktionale Selbstverwaltung, S. 270 ff.; Sebastian Unger, Das Verfassungsprinzip der Demokratie, Tübingen 2008, S. 263 ff.

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vertritt27) grundsätzlich die Rückbeziehung auf das Gesamtvolk verlangen, ist die funktionale Selbstverwaltung im Grundsatz auf das Prinzip der Betroffenen-Selbstentscheidung bezogen.28 Allerdings ist das demokratische Prinzip des Grundgesetzes nicht in diesem Sinne schematisch auf eine spezielle Legitimationsvorstellung beschränkt, sondern – wie schon die explizite Erwähnung der kommunalen Selbstverwaltung in Art. 28 Abs. 2 GG zeigt – gegenüber anderen, nicht volkszentrierten Partizipationsformen offen.29 Das so verstandene, offene und flexible Demokratieprinzip ist geeignet, die Spannungsmomente zwischen divergierenden Demokratieverständnissen auszuhalten und in spezifische Anforderungen umzuformen.30 In diesem Sinne kann auch die autonome Legitimation, wie sie die funktionale Selbstverwaltung beinhaltet, als Annäherung an die übergreifende demokratische Idee verstanden werden, durch Mitwirkung an der staatlichen Herrschaftsausübung Selbstbestimmung in organisierter Form zu gewährleisten. Anders als die demokratische Legitimation zielt sie indes nicht auf die egalitäre Zurückdrängung, sondern dient gerade der Hervorhebung besonderer Interessen. Ihr Legitimationssubjekt ist deshalb eine nach besonderen Merkmalen verfasste Betroffenengemeinschaft. Während indes diese Überlegung klar auf körperschaftliche Strukturen abzielt, ist anstaltsspezifisch auf die gleichermaßen verfassungsgerichtlich anerkannte Zwecksetzung zu verweisen, Sachnähe und Sachverstand zu berücksichtigen und damit letztlich den Gesetzesvollzug zu effektivieren.31 2. Die Einbeziehung Außenstehender als Überschreitung des Autonomieprinzips Im Grundsatz bestehen somit keine durchschlagenden verfassungsnormativ fundierten Bedenken gegen dieses „hybride“ oder „duale“ Legitimationsmodell. Erkannt werden muss allerdings, dass die autonome, auf Betroffenenpartizipation und spezifischen Sachverstand aufbauende Legitimation die genuin demokratische, volkszentrierte Legitimation nicht ersetzen kann, sondern nur komplementär wirkt: „Die funktionale Selbstverwaltung ergänzt und verstärkt insofern das demokratische Prinzip.“32 Schließlich findet sie ihre eigentliche Basis nicht in der kollektiven Selbstbestimmung des Volkes, sondern in der individuellen Freiheit der Betroffenen. 27

Vgl. nur Unger, Das Verfassungsprinzip der Demokratie, S. 48 ff. m.w.N. Vgl. ausführlich zu den unterschiedlichen Legitimationsmustern Kluth, Funktionale Selbstverwaltung, S. 236 ff. 29 Vgl. dazu und zum folgenden nur Eberhard Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Auflage Berlin 2004, S. 94 f. 30 Vgl. BVerfGE 107, 59 (92); siehe dazu etwa Andreas Musil, Das Bundesverfassungsgericht und die demokratische Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung, DÖV 2004, 116 ff. Für eine Abkehr von einem „parlamentszentrierten, ganz auf der Theorie der Einheit des Staates und dem Hierarchieprinzip fußenden, tradierten Konzept monistischer Legitimation“ zugunsten eines „offene[n], pluralistisch-differenezierte[n] Konzepts demokratischer Legitimation“ schon Kahl, Die Staatsaufsicht, S. 485 ff. 31 BVerfGE 107, 59 (92). 32 BVerfGE 107, 59 (92). 28

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Insoweit „unterstützt und ergänzt“ sie zugleich auch „die grundrechtlichen Freiheitsgarantien auf der Ebene der demokratischen Willensbildung und Entscheidung“.33 Nur bei einer entsprechenden strengen Berücksichtigung der grundrechtlichen Vorgaben einschließlich der Wesentlichkeitslehre soll es gerechtfertigt sein, die „Einrichtung funktionaler Selbstverwaltung als Ausprägung des Demokratieprinzips des Art. 20 Abs. 2 GG mit dem Ziel der Verwirklichung der freien Selbstbestimmung“ einzuordnen.34 Indes stellt sich die Frage, wie weit die so vermittelte Legitimation reicht bzw. umgekehrt, wer in diesen Legitimationsmechanismus einzubeziehen ist. Prinzipiell ist dabei zunächst auf den Anstaltszweck abzustellen. Dieser besteht in dem hier betrachteten Anwendungsbeispiel, kurz gesagt, darin, ein geordnetes und faires Börsengeschehen sicherzustellen. In diesem Sinne ist es einsichtig und nachvollziehbar, wenn im Börsenrat die an diesem Börsengeschehen unmittelbar beteiligten Institutionen beteiligt werden. Der Börsenrat wird dementsprechend bifunktional beschrieben als „ein Interessenvertretungsorgan von höchster Sachkompetenz und Qualität“35. Akzeptiert man eine entsprechende Argumentation als legitimationsadäquat, dann gerät allerdings das Spezifikum der Anlegerbeteiligung in den Blick. Dieses liegt ersichtlich quer zu den vorgenannten Überlegungen: Es ist weder klassisch demokratischer Natur noch kann es dem für öffentlich-rechtliche Anstalten charakteristischen Prinzip der nutzungsbezogenen Betroffenenbeteiligung zugeordnet werden. Zwar lässt sich das selbstverwaltungstypische Erfordernis einer (gewissen) Interessenhomogenität insoweit noch mit dem einigenden Interesse an einem funktionierenden Börsenhandel erklären. Zumindest aber fehlt bei den Anlegern eine Sonderrechtsbeziehung zur Börse.36 Denn sie nehmen überhaupt nur über Intermediäre am Börsengeschehen teil und sind somit nur mittelbar Betroffene.37 Auch ein besonderer Sachverstand ist bei ihnen jedenfalls nicht notwendig vorhanden. Ihre zusätzliche Beteiligung führt deshalb auch keineswegs automatisch zu einem Zugewinn an Legitimation. Das deutet sich schon an angesichts der Schwierigkeit, eine entsprechend heterogene Gruppe überhaupt zu bestimmen bzw. aus ihrer Mitte angemessene Repräsentanten zu gewinnen. Dem entspricht es auch, dass nur hier keine binnendemokratische Wahl durch die Gruppenmitglieder vorgesehen ist, sondern die Anlegervertreter gem. § 13 BörsenG „von den übrigen Mitgliedern des Börsenrates hinzugewählt“ werden. 33

Reinhard Hendler, Selbstverwaltung als Ordnungsprinzip, Köln 1984, S. 329. BVerfGE 111, 191 (216 f.). 35 So Ekkehard Kurth (Ministerialdirigent, Leiter der Aufsicht über die hessischen Börsen), Börsen-Zeitung vom 06. 05. 2000, S. B2. 36 Vgl. im Blick auf die Körperschaftsstruktur der Börse Jan Damrau, Selbstregulierung im Kaitalmarktrecht. Eine rechtsökonomische Analyse der Normsetzung der deutschen Börsen und ihrer Träger, Berlin 2003, S. 294 f. 37 Vgl. nur Kümpel/Hammen, Börsenrecht – Eine systematische Darstellung, S. 177 ff. 34

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Nicht so sehr diese spezielle Beteiligungsvariante der Kooptation begegnet dabei indes Bedenken, sondern vielmehr die Vorstellung, mit der Erstreckung auch auf die Anleger ließe sich die Legitimation der Entscheidungen der Börsenräte verbessern.38 Deren Beteiligung ist vielmehr im Sinne eines bloßen „Nutznießerverhältnisses“39 zu rekonstruieren. Denn sie lässt sich weder mit einer besonderen Sachnähe noch mit einem spezifischen Sachverstand legitimieren, sondern ist erkennbar darauf angelegt, das breitere Publikum in die Selbstverwaltung mit einzubeziehen. So verweist etwa die Gesetzesbegründung des Dritten Finanzmarktförderungsgesetzes auf den Gemeinwohlbezug der Anlegerpartizipation.40 Diese Zielsetzung geht indes fehl. Denn die anteilige Berücksichtigung der ihrerseits durch besondere, individuelle (und insoweit natürlich ebenso prinzipiell zulässige wie grundrechtlich geschützte) egoistische Wünsche und Zielvorstellungen geleiteten Anleger ermöglicht eben keine echte Annäherung an klassisch-demokratische, gemeinwohlbezogene und gerade nicht an besonderen Eigeninteressen anknüpfende Legitimationsmuster. 3. Zum Vergleich: Patientenbeteiligung in der gesetzlichen Krankenversicherung Ein vergleichender Blick in einen anderen Referenzbereich41 verdeutlicht diese Problematik. Bekannt ist eine entsprechende Konzeption, Außenstehende (und gleichwohl von den Entscheidungen in besonderem Maße Betroffene) an bestimmten Entscheidungsprozessen der funktionalen Selbstverwaltung partizipieren zu lassen, nämlich insbesondere aus dem Recht der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Hier besitzen Organisationen, die auf Bundesebene maßgeblich die Interessen von Patienten sowie der chronisch kranken und behinderten Menschen in Deutschland wahrnehmen, ein gesetzlich festgelegtes Mitberatungs- und Antragsrecht im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), (§ 140 f. SGB V).42 In einer die gesetzlichen Vorgaben konkretisierenden sog. Patientenbeteiligungsverordnung43 38 Vgl. noch Steffen Augsberg, Rechtsetzung zwischen Staat und Gesellschaft, Berlin 2003, S. 168: „Ihre Beteiligung erfolgt weniger zum Zwecke der Partizipation der Normadressaten als vielmehr der Gemeinwohlsicherung und Akzeptanzgewinnung. Die vom Börsenrat produzierten Rechtsnormen können sich somit auf eine gegenüber ,normaler‘ anstaltlicher Normsetzung weitergehende Legitimation stützen und damit auch Rechtsbeziehungen größeren Gewichts begründen und intensivere Eingriffe beinhalten.“ 39 Tilman Breitkreuz, Die Ordnung der Börse, Berlin 2000, S. 103 m.w.N. 40 Vgl. BT-Drs. 13/8933, S. 71. 41 Zum verwaltungsrechtlichen Kontext der Referenzgebietsmethodik grundlegend Eberhard Schmidt-Aßmann, Das Allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Auflage Berlin 2004, S. 8 ff. 42 Hierzu und zum folgenden ausführlich etwa Christian Zimmermann, Der Gemeinsame Bundesausschuss, Berlin 2012, v. a. S. 29 ff. 43 Verordnung zur Beteiligung von Patientinnen und Patienten in der Gesetzlichen Krankenversicherung (Patientenbeteiligungsverordnung – PatBeteiligungsV) vom 19. 12. 2003, BGBl. I 2003, S. 2753, zuletzt geändert durch durch Art. 3 des Gesetzes vom 20. 2. 2013, BGBl. I 2013, S. 277.

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ist festgelegt, welche Kriterien Organisationen erfüllen müssen, um als Interessenvertretung der gesetzlich Versicherten anerkannt zu werden. Die Auswahl der Organisationen folgt dabei der Prämisse, mit den in ihnen vertretenen Mitgliedern die Vielschichtigkeit der Patientenorganisationen und der Selbsthilfe abzubilden. Wie im Börsenrecht geht es also auch hier um die Berücksichtigung einer nicht unmittelbar in die Selbstverwaltungsstrukturen eingebundenen, aber von deren Ergebnissen betroffenen, in sich heterogenen Personengruppe. Anders als im Börsenrecht bleibt im Entscheidungsverfahren des G-BA allerdings eine signifikante Unterscheidung aufrechterhalten: Nach wie vor besitzen die Patientenvertreter im G-BA aber nach § 140 f Abs. 2 SGB V zwar ein Antrags- und Mitberatungs-, aber kein Stimmrecht.44 Schon das verdeutlicht, dass es sich weiterhin um eine im Wesentlichen symbolische Beteiligungsform handelt.45 Auch eine zusätzliche Stärkung der Patientenbeteiligung bedeutete aber keine adäquate Antwort auf die Legitimationsfrage. Das Kernproblem einer Überlassung grundlegender Allokationsentscheidungen an ein von Partikularinteressen bestimmtes Gremium lässt sich auch durch eine derartige Hilfskonstruktion nicht beseitigen. Dementsprechend besteht im sozialrechtlichen Schrifttum auch weitgehende Einigkeit darüber, dass hier zumindest ein diskussionswürdiges Legitimationsproblem besteht.46

IV. Ausblick: Europäisierung der Börsenaufsicht als Herausforderung (auch) für das deutsche Börsenorganisationsrecht Eine entsprechende Einsicht ist für das Börsenrecht nicht zu erkennen. Im Gegenteil: Ein bekannter Kommentar hält ebenso schlicht wie schlicht falsch fest: „Diese börsliche Selbstverwaltung ist darüber hinaus demokratisch legitimiert, weil der Börsenrat als das zentrale Kontroll- und Rechtsetzungsorgan der Börse aus von den Handelsteilnehmern und Emittenten gewählten Personen besteht.“47 Und aus der (hessischen) Börsenaufsicht wird die reichlich idealisierende Auffassung vermit44 Vgl. dazu nur Ernst Hauck, Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) – ein unbequemes Kind unserer Verfassungsordnung, NZS 2010, 600 (603); Heinrich Amadeus Wolff, Die Legitimationsveränderungen des Richtlinienerlasses durch den Gemeinsamen Bundesausschuss auf der Grundlage des GKV-Modernisierungsgesetzes, NZS 2006, 281 ff. 45 Kritisch dementsprechend etwa Reimund Schmidt-De Caluwe, in: Becker/Kingreen (Hrsg.), SGB V, 4. Aufl. München 2014, § 92 Rn. 7 ff. m.w.N. 46 Siehe nur etwa Thorsten Kingreen, Verfassungsrechtliche Grenzen der Rechtsetzungsbefugnis des Gemeinsamen Bundesausschusses im Gesundheitsrecht, NJW 2006, 877 ff.; ders., Legitimation und Partizipation im Gesundheitswesen. Verfassungsrechtliche Kritik und Reform des Gemeinsamen Bundesausschusses, NZS 2007, 113 (115 ff.); Ruth SchimmelpfengSchütte, Die Entscheidungsbefugnisse des Gemeinsamen Bundesausschusses, NZS 2006, 567 ff.; Reimund Schmidt-De Caluwe, in: Becker/Kingreen (Hrsg.), SGB V, 4. Aufl. München 2014, § 92 Rn. 7 ff. m.w.N. 47 Schwark, in: Schwark/Zimmer (Hrsg.), Kapitalmarktrechts-Kommentar, § 3 BörsG Rn. 3.

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telt, gerade die „,börsendemokratische Legitimation‘ als Interessenvertretungen und Entscheidungsgremien“ zähle zu den Vorzügen der öffentlich-rechtlichen Organisationsform: „Durch die umfassende Repräsentanz aller relevanten Gruppen ist sichergestellt, dass deren Interessen und Vorschläge in die Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse des Börsenrates einfließen und vorhandene Kreativitätspotenziale in vollem Umfang nutzbringend ausgeschöpft werden. Es handelt sich um eine durch öffentliches Recht vorgegebene Plattform zur Diskussion und Entscheidung über Interessen, die […] wirtschaftsdemokratische Elemente enthalten. […] Treten widerstreitende Interessen auf, so können diese frühzeitig im Vorfeld bedeutsamer Beschlussfassungen durch entsprechende Abstimmungsprozesse in den Ausschüssen des Börsenrates transparent gemacht und schließlich einem fairen Interessenausgleich zugeführt werden.“48 Nun mag man in der Tat bezweifeln, dass den Entscheidungen der Börsenräte vergleichbare gesamtgesellschaftliche bzw. auch individuell-existentielle Bedeutung zukommt wie den Richtlinien des G-BA. Zumindest aber besitzen sie eine erhebliche wirtschaftliche Bedeutung für den Finanzplatz Deutschland. Nur so lässt sich schließlich – diesseits bloßer historischer Reminiszenzen – überhaupt die öffentlich-rechtliche Organisationsverfassung erklären und legitimieren.49 Das bestehende Modell der Anlegerbeteiligung besitzt zwar prima facie den Charme einer inklusiven Konzeption. Es stellt aber zugleich die Vorstellung einer autonomen, auf Betroffenenpartizipation und Sachnähe beruhenden Legitimation zumindest partiell in Frage. Letztlich liegt damit eine Vermischung unterschiedlicher Legitimationsmodi und unterschiedlicher diesen zugrunde liegender Rationalitäten vor. Dass der so entstandene Hybrid tatsächlich bestehende Legitimationsdefizite ausgleicht, erscheint vor diesem Hintergrund überaus zweifelhaft. Vielmehr lässt sich die Notwendigkeit, Außenstehende einzubeziehen, auch als verstecktes Plädoyer gegen eine Überlassung an die funktionale Selbstverwaltung lesen. Insofern ist die erkannte Notwendigkeit oder doch Sinnhaftigkeit einer Einbeziehung mittelbar involvierter Kreise ein Indiz für eine verstärkte Steuerung nach klassisch-demokratischen Maßstäben.50 Gerade weil die betroffenen Institutionen eine deutlich über den Kreis der in ihnen mitwirkenden Organisationen und Personen hinausreichende Bedeutung besitzen, greift der bloße Verweis auf die verfassungsrechtliche Anerkennung der funktionalen Selbstverwaltung zu kurz; vielmehr sind spezifischere und kritischere Untersuchungen geboten. Das gilt insbesondere für die nach wie vor problematische Steuerung elementarer Verteilungsentscheidungen im G-BA, es gilt aber auch für das Börsenrecht.

48

Ekkehard Kurth, Börsen-Zeitung vom 06. 05. 2000, S. B2. Aufschlussreich und lesenswert Kümpel/Hammen, Börsenrecht – Eine systematische Darstellung, S. 148 ff. 50 In diese Richtung auch allgemein Eberhard Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Auflage Berlin 2004, S. 96 f. 49

Legitimationsprobleme der Börsenselbstverwaltung

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Aus dem vergleichenden Blick in das Recht der GKV sind insoweit für das Börsenrecht zumindest zwei prozedurale Anregungen zu gewinnen: Erstens verweisen Verteidiger des G-BA-Modells auf die von diesem zu beachtenden, umfangreichen und im Vergleich zu klassisch-staatlicher Rechtsetzung vorteilhaften Verfahrensvorgaben.51 Und zweitens könnte zumindest die Möglichkeit einer Konkretisierung der Anlegerpartizipation übernommen werden. Die bislang existierenden Verordnungen zur Wahl des Börsenrates unterscheiden sich erheblich im Hinblick auf ihre Regelungsdichte,52 und auch die Neuregelung des Börsengesetzes enthält sich insoweit allerdings einer Festlegung. Letztlich ist indes in einer Langfristperspektive eine auf klassisch-demokratische Legitimationsmuster setzende, also namentlich die gesetzliche Vorstrukturierung stärkende und damit zugleich die Verantwortung des Gesetzgebers akzentuierende, Alternative vorzugswürdig. Jedenfalls bietet die Einsicht in die Legitimationsproblematik Veranlassung, über die Rolle und die Aufgaben der Börsenselbstverwaltung näher nachzudenken. Im übrigen ist abzuwarten, wie die börsenspezifischen Organisationsstrukturen durch die fortschreitende europaweite Harmonisierung des Kapitalmarktrechts beeinflusst werden: Hier sind in der Vergangenheit deutliche Anstrengungen unternommen worden, im Sinne der Schaffung eines level playing field die Marktbedingungen zu vereinheitlichen und damit zu einem verstärkten Wettbewerb zwischen den europäischen Börsenplätzen beizutragen. Konkurrenz erwächst den klassischen Börsen aber vor allem auch durch die weitgehend einheitlich regulierten außerbörslichen Handelsplattformen. Zwar ist das Organisationsmodell der als Public-Private-Partnership ausgestalteten deutschen Börsen53 hierdurch bislang noch nicht beeinträchtigt worden. Die allgemein zu beobachtende Tendenz zu zunehmender, über Agenturen vermittelter Zentralisierung, die in der Schaffung der europäischen Börsenaufsicht einen bereichsspezifischen Anknüpfungspunkt findet,54 mag aber zukünftig auch diese gewachsenen, wie gesehen aber nicht spannungsfreien Strukturen in Frage stellen.

51

Vgl. etwa Peter Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung, Tübingen 2000, S. 115 ff., 269 ff.; Hauck, NZS 2010, 600 ff. 52 Vgl. weitgehend inhaltsleer etwa § 19 der hessischen BörsenVO, § 4 der nord-rheinwestfälischen BörsenVO und § 1 der bayerischen BörsenVO; detaillierte Angaben enthält etwa § 17 der baden-württembergischen Börsenratswahlordnung. 53 Vgl. Bressler, Public-Private-Partnership im Bank- und Börsenrecht durch Beleihung mit einer Anstaltsträgerschaft. 54 Vgl. dazu nur Steffen Augsberg, in: Ehlers/Fehling/Pünder (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, Band 1, § 34 Rn. 27 ff. m.w.N.

The End of the European Dream and the Euro-crisis Wake Up Call By Joxerramon Bengoetxea, University of the Basque Country1 I. Introducing the European Dream A feeling of decadence is haunting the European Union since the financial crisis of 2008 as a result of unfulfilled expectations and misgivings about a lost solidarity spirit in many Member States. The malaise is related first and foremost to the Eurocrisis and to the feeeling of disempowerment of European citizens as regards politics, a feeling that is often shared with some Member State governments. A need for serious change is shared by many sectors of society, but this translates differently: for some, a serious systemic transformation is the way forward, for others a ‘lampedusan’ adjustment of the ‘system’ will suffice. Feelings of mistrust have sparked off images and stereotypes of the “lazy Southern Europeans” who want to default on Northern creditors or the cruel North imposing structural reforms that choke the South, refusing to display solidarity by e. g. accepting the Eurobonds. Perhaps the current air du temps can be explained by a previous period of euphoria. Or perhaps what we were living before was a dream, an illusion. Perhaps we were wishful thinkers and we are becoming pessimists now. What was this europhoria about? As Festschrift readers will remember, in the year 2000 the Lisbon Strategy was launched as an action and development plan aimed at making the EU by 2010 “the most competitive and dynamic knowledge-based economy in the world capable of sustainable economic growth, with more and better jobs and greater social cohesion”. This was not only spin doctors’ institutional ‘newspeak’ à la Orwell 1984. Some analysts and economists were also praising the model of European integration, and criticism of the euro was easily refuted by the success of financial de-regulation and pure monetary fight against inflation. In The European Dream, Rifkin describes the emergence and evolution of the EU over the past five decades, as well as key differences between European and American values. As the first truly post-sovereign system of governance, the EU is for Rifkin an economic ‘soft’ superpower rivalling the U.S., and has the potential to become a global systemic superpower, but one where individuals find security not through 1 This contribution has been written during a visiting scholar scheme at the Kansai Univeristy, Osaka, Japan. I am most grateful to the University Institute of Legal Studies and my host Prof Takeshi Tsunoda for their excellent hospitality. The contributor is part of the Grupo de Investigación consolidada GIC07/86 and UFI 11/05 on European integration.

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individual accumulation of wealth, but through solidarity and respect for fundamental rights2. Democratic and institutional input and the output of sustainable development and an area of freedom security and justice ensure legitimacy of the system. Going back to Lisbon optimism, the Treaty establishing the EU “marks a new stage in the process of creating an ever closer union among the peoples of Europe, in which decisions are taken as openly as possible and as closely as possible to the citizen”3. Indeed the Lisbon Treaty defines Europe’s ethos or model in a two-fold way. First, it lists in Article 2 the values upon which it is founded and which are “common to the Member States in a society in which pluralism, non-discrimination, tolerance, justice, solidarity and equality between women and men prevail”, i. e. “respect for human dignity, freedom, democracy, equality, the rule of law and respect for human rights, including the rights of persons belonging to minorities”. Second it sets out the aims of the EU in article 3. Of the long list of objectives, let me highlight the sustainable development of Europe based on balanced economic growth and price stability, a highly competitive social market economy, aiming at full employment and social progress, and a high level of protection and improvement of the quality of the environment. What are we to make of this ethos? Should we admit that we were cynical all the way, and that we did not really believe in them, but they made us look nice globally and that is why we proclaimed them? Perhaps there is some of that. Or shall we rather take them to be aspirations and regulative ideals that should guide our political actions and, why not, also our legal reasoning? The answer probably depends on the type of person we aspire to be. In my two brief but deep encounters with Prof Rudolf Wendt, I had the opportunity to meet a genuine European, German and Saarländer jurist who embodied, as I discovered, this ethos that Europe stands for, and towards which Germany can so valuably contribute. The first encounter was in a workshop our common friend Heike Jung and myself had organised on the autonomy and heteronomy of the judiciary in Europe, and Rudolf gave a very balanced presentation on the role of the judge at the Saarland Constitutional Court. The second encounter was in a workshop, again coordinated jointly with Heike Jung and Kimmo Nuotio of Helsinki, on the principle of ultima ratio and which Rudolf analysed in relationship to the principle of proportionality4. This contribution in honour of Rudolf Wendt will not deal directly with proportionality nor with ultima ratio, but it will have something to say on the role of the judges, and especially of constitutional and European supranational judges when fac2 Jeremy Rifkin, The European Dream, Penguin 2004. His article in The Washington Post, of 31-Ocotober-2004, “America, Wake Up to the European Dream” has inspired the title of my contribution. 3 TEU: Article 1, second paragraph. 4 See Oñati Socio-Legal Series, Vol 3, No 1 (2013), volume can be downloaded at http:// www.opo.iisj.net/index.php/osls/issue/view/20 and see Rudolf Wendt, “The Principle of Ultima Ratio and/or the Principle of Proportionality”, this article can be downloaded at: http:// www.opo.iisj.net/index.php/osls/article/view/220.

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ing the serious systemic crises that are effecting a blow on the EU and on many of the Member States and societies. As the title suggests, we need to wake up but remember our aspirations and ideals to cooperatively act accordingly. The aim of this contribution is therefore try to analyse whether the EU is delivering on its objectives and ethos and whether this feeling of disempowerment can be justified. I seek to explain the systemic links, or structural couplings, between the different crises that are currently haunting Europe: the crisis of the euro or Euro-crisis, the economic crisis linked to stagnation or even recession (depression?) in many sectors of the Economy, the welfare state crisis, the crisis of social integration and multiculturalism, the political crisis in many European states, the institutional crisis in the EU, even the crisis of international cooperation and humanitarian aid. Obviously, relations between these crises are not linear, nor directly causal, but rather supra-systemic and nodal. II. The Wake Up Call As we have seen in the opening paragraphs, all of sudden we realise we are in a state of crisis. Initially we thought Europe was different and the sub-prime financial earthquake was geographically circumscribed, until we realised it was global. Finally we came to terms with reality: Europe, especially some of it, was much worse hit than initially expected, and something had to be done. Greece was about to default. Even the data had been fixed up and the institutions had looked away. This was the Wake Up Call. The dominant factor is captured under the euphemism of “structural reforms”, i. e. the thinning out of state finances and budgets and the culture of cuts and debt-reduction, priority being given to payment of debt-interest, and higher and higher costs of borrowing. Arguably, the sense of panic is not (yet) so great as to generate a clear cross-party and cross-European consensus on the way to implement such harsh structural reforms. But the May 2014 European Parliament elections are a serious wake up call as well. How much worse does the situation have to get, before such sense of urgency is shared not by some but by all the Member States? The broad consensus needed would have to deal with many more reforms beyond financial and economic ones, including the redistribution of wealth in society, universal access to welfare and basic common goods. After all, dignity and solidarity are values upon which the EU is founded as we have seen. These are concerns that social scientists and jurists should address. Euro-crisis, which is much larger and deeper than the financial collapse that triggered it, should be on our research agendas as socio-legal scholars of European integration, as comparatists and as social philosophers. 1. Financial Crisis Since the financial crisis started in 2007 – 08, there has been a constant string of meetings of top European policymakers in an effort to resolve a debt crisis that has

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wrecked the economy in Greece, Portugal, Ireland, Spain, Italy, Romania, Hungary and dragged the eurozone to the brink of its second recession in three years. These include meetings of the Eurogroup, Economic and Financial Affairs Council (Ecofin) and European Council. “Eurocrisis” is the main point on the Agenda for most major summits since 2010, not only for these European Summits but also for international summits like the G-8 (Camp David, USA, Mid-May 2012) or the G-20 (Los Cabos, Mexico, Mid-June 2012 and Brisbane, Australia, Mid-November 20145). This Eurocrisis is an unprecedented mix of factors like mortgage based private debt crisis6, reduced access to credit for entrepreneurial investment, public debt crisis, banking crisis, zero or negative growth, high unemployment, a radical austerity diet imposed on the public expenditure of the welfare state, a public sector crisis, failed institutional design and credibility / confidence crisis. Nothing much is really expected from these types of summit meetings, even if new faces (Hollande, Renzi, Moscovici) come with fresh ideas to stimulate growth. The banking and financial sector collapse of 2008 – 09 might have been at the epicentre of the crises tsunamis but after receiving the necessary injections of capital from taxpayers’ money, they seem to resist attempts at regulation and they fail in their function of securing credit for economic entrepreneurship. How can this ‘resilience’ be explained? 2. Crisis of Economic Governance in Europe Linked to this Eurocrisis, recent events in Europe give us an impression of social disintegration, political disorientation or lack of vision, institutional fatigue, even a 5

See Point 11 of the Summit Declaration: “Against the background of renewed market tensions, Euro Area members of the G20 will take all necessary measures to safeguard the integrity and stability of the area, improve the functioning of financial markets and break the feedback loop between sovereigns and banks … we welcome Spain’s plan to recapitalize its banking system and the Eurogroup’s announcement of support for Spain’s financial restructuring authority. The adoption of the Fiscal Compact and its ongoing implementation, together with growth-enhancing policies and structural reform and financial stability measures, are important steps towards greater fiscal and economic integration that lead to sustainable borrowing costs. The imminent establishment of the European Stability Mechanism is a substantial strengthening of the European firewalls.” Towards the completion of the EMU concrete steps are needed “towards a more integrated financial architecture, encompassing banking supervision, resolution and recapitalization, and deposit insurance. Euro Area members will foster adjustment through structural reforms to strengthen competitiveness in deficit countries and to promote demand and growth in surplus countries. The EU members of the G20 are determined … to support growth … through completing the European Single Market and making better use of European financial means, such as the European Investment Bank (EIB), pilot project bonds, and structural and cohesion funds, for more targeted investment, employment, growth and competitiveness, while maintaining the firm commitment to implement fiscal consolidation to be assessed on a structural basis. We look forward to the Euro Area working in partnership with the next Greek government to ensure they remain on the path to reform and sustainability within the Euro Area.” (emphasis added). 6 In some legal systems like Spain, with tragic results because of century old mortgage debt laws that have only been, partially, addressed from the procedural perspective, because of the crucial 2013 judgment of the Court of Justice of the EU in the Aziz case (C-415/11, n.y.r.).

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concept failure. National politicians posing as European leaders try to give a serene impression of having things under control, as if following the EU treaties and applying pre-established rules, even coming up with new rules in the Eurosummits, will solve the crisis. European federalists think it is high time to take a new, bold step in the process of European integration. That only a political, fiscal, union can save the euro is a generally accepted formula, a variant of the commonplace that if the euro goes the European Union fails. But a naïve faith in greater and ever closer integration is not enough to make up for faulty institutional design. Meanwhile, Eurosceptics are raving and Euro-phobes multiplying almost everywhere in Europe as the May 2014 elections to the European Parliament show. What might have started off as a financial crisis risks now sliding into dangerous widespread populist, totalitarian and anti-immigrant positions and provoking “technocratic” and market interferences into politics. Interestingly, the EU Treaties do not provide any way out of the euro. This possibility was, apparently, not even contemplated. The euro was probably thought to be an irreversible project. But a few years later, after the first three years of financial crisis, saving the euro becomes the new mantra and talk of splitting up the Eurozone along a North/South divide (with Ireland counting as South), although not on the institutional agenda, was indeed the subject of serious discussion, not only in academic circles until late 2012. It takes European leaders quite a lot of effort and time to step in and defend the euro. Thus Mr. Draghi, president of the European Central Bank, said at a news conference on 2 Aug. 2012: “It is pointless to bet against the euro – It is pointless to go short on the euro … You do not go back to the lira or the drachma or whatever”. He said this “a week after telling the world that the ECB would do ‘whatever it takes’ to save the euro union … suggesting that the ECB might buy the bonds of countries like Spain and Italy if they committed to tough measures to reduce deficits and revamp their economies”7. The sense of emergency has been serious enough for the European Central Bank to decide to intervene and buy unlimited amounts of eurozone sovereign debts, thus averting the fall of the euro8. Politics (governance) and the economy are very closely connected, as they are to psychology. The famous phrase credited to Bill Clinton – “it’s the economy, stupid!” – could be turned around: but it is also politics! Or, rather, it is the fear of not being reelected if certain (seemingly wise but harsh) economic decisions, i. e. structural re7

Landon Thomas Jr., “Central Banker Facing a Test”, New York Times, August 28, 2012. European Comission former President Durao Barroso considers that this decision saved the euro by sending a clear message to sovereign debt markets, discourse held in the Belem Cultural Center, Lisbon on 7 Jan 2013. The general line is now (2014) that euro-collapse was avoided: austerity, rather than stimulus, is still seen as the solution, and the Grosse Koalition does not seem to have changed the cultural perception that structural reforms are still necessary in the South. As from October 2013 control of MS national budgets by the Commission, the so-called European semester, makes sure no deficit is incurred above allowed percentages, and in October 2014 Italian and French budgets have had to be “retouched”. Mutualization of public debt is not on the agenda, but if it ever manages to emerge as an acceptable solution it will require even greater fiscal discipline. 8

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forms, are made. “And not only the economy, it is also the rule of law” one could add, after the immense relevance in the debate on the European Stability Mechanism of the German Constitution and the Federal Constitutional Court9 and also of the European Court of Justice10. 3. Macro-Economic Crisis and Austerity Ireland, Hungary and the so-called PIGS (Portugal, Italy, Greece and Spain) have been in recession. Portugal and Ireland have been intervened or rescued. Nevertheless the Irish have supported the new structural reforms of the euro in referendum (60 %, 31 May 2012). Even though Italy and Spain seemed too big to rescue, for their respectively huge public and private debts, Spain called for intervention measures adopted by the Eurogroup in 10-June-2012, to redress its banking collapse. Now, Ireland and Spain are displayed as role models in the structural wave. The political consequences are different in each of the cases, as we mention below.

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Judgment of the Second Senate of the Federal Constitutional Court of 12th September 2012, rejecting the applications for an injunction brought against the German ratification of the Treaty on ESM, brought on the grounds of a violation of the overall budgetary responsibility of the German Bundestag, entrenched in constitutional law through the principle of democracy (Article 20 (1) and 2, Article 79 (3) of the German Constitution GG). Admittedly, the authorization in Art 136(3) TFEU to establish a permanent mechanism for mutual aid between the Member States of the euro currency area, changes the present design of the economic and monetary union in such a way that it moves away from the principle of the independence of the national budgets which has characterized the monetary union so far. However the ratification of the Treaty is constitutional with the proviso that the ESM Treaty may only be ratified if at the same time it is ensured under international law that the limitation of liability set out under Article 8 (5) sentence 1 of the ESM Treaty limits the amount of all payment obligations arising to the Federal Republic of Germany from this Treaty to its share in the authorized capital stock of the ESM (EUR 190 024 800 000) and that no provision of this Treaty may be interpreted in a way that establishes higher payment obligations for the Federal Republic of Germany without the agreement of the German representative. As elected representatives of the people, the Members of the German Bundestag must retain control of fundamental budgetary decisions even in a system of intergovernmental governing. In this respect, the German Bundestag is prohibited from establishing mechanisms of considerable financial importance that may result in incalculable burdens with budget significance being incurred without the mandatory approval of the Bundestag. And Bundestag and Bundesrat will receive the comprehensive information they need to be able to develop an informed opinion. 10 Case C-370/12 Pringle v. Government of Ireland, Ireland and the Attorney General, Judgment of 27 November 2012, not yet reported, rubberstamped the ESM intergovernmental Treaty with a teleological interpretation of the no-bail out clause of Article 125 TFEU. Some authors consider the Court’s judgment is contra legem. See Gunnar Beck, “The Legal Reasoning of the Court of Justice and the Euro Crisis – the Flexibility of the Cumulative Approach and the Pringle Case”, 20 Maastricht Journal of European and Comparative Law 4 (2013). 635. See Paul Craig’s reply, in “Pringle and the Nature of Legal Reasoning”, 21 Maastricht Journal of European and Comparative Law (2014) 205 – 220. Craig holds that the Court’s approach “remains defensibly legal even though it is contestable” p 220.

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The bankruptcy of Greece, the austerity and restructuring measures it needed first to decide and then to implement to avoid “Grexit” (euro-exit), have already transformed domestic politics where the two mainstream parties have jointly lost 40 % of the votes and failed to agree on an emergency government, while the neo-nazi Golden Dawn threatens immigrants and warns “gays” they will be next to go – and obtained 21 seats (7 % of the vote) in the one-day parliament that called for new elections for June 17. Greece is still undergoing stringent austerity measures and even the IMF recognised the conditions imposed on it had gone too far. Greece is on its 5th debt sustainability stress test by the troika. On 8 September 2014, responding to calls for elections PM Samaras was reported by mni agency to have said: “The time is approaching for the country to exit the bailout era once and for all and, if an early pre-election campaign starts right now, we will risk losing everything we managed to achieve”. Hungary, also affected by the economic crisis, is a special case altogether: leaving aside the hard-line nationalist majority supporting the Viktor Orban government, there is an “anti gypsy” Movement for a Better Hungary (17 % of the vote) with a “paramilitary” Hungarian Guard; and the Council of Europe’s Venice Commission “for Democracy Through Law” has voiced concerns on the Hungarian constitutional process and outcome11. Romanian “democracy” is just as troubling, having recently held a referendum to oust the President, failed only for insufficient voter turnout in 2012. In these two countries the political crisis seems to have silenced the economic one. Poland had its own political setback not so long ago, but the crisis seems well over and the PM Donald Tusk becomes the President of the European Council on 1 December 2014, replacing van Rompuy. Spain is a special case altogether. Official unemployment figures have been around 25 %, and 50 % for the young for the last three years, but the Government repeats the austerity mantra: “cut or be cut”12. This is presented as an imposition of the global markets. Electoral impact has been very slow but steady. The governing Popular Party managed an absolute majority in the Nov-2011 elections. The May 2014 European Parliament elections surprised all analysts with the phenomenal results by Podemos (1.2 million votes all of a sudden), an anti-austerity political movement that is hard to classify and which is already transforming politics in Spain. Two further features are the levels of corruption amongst the Popular Party (not only but mainly) and the Catalan movement for the right to decide on their status, which the Spanish Government and Constitutional Court are systematically refusing to consider, alleging it is against the Constitution.

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Opinions no. 614/2011 (25 – 26 March 2011) and no. 621/2011 (17 – 18 June 2011). According to UNICEF, 714.000 homes have all their adult members unemployed. 2,2 million children live below the poverty threshold (mostly in immigrant families and of young couples). The number of homes with no income increased by 120 % between 2007 and 2010 (‘Report on Spain 2012 – 2013’). 12

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In Italy, things seem to have settled since Matteo Renzi became President of the Government Council (PM) after some political manoeuver. Before that, an unelected PM, Mario Monti, had been “imposed” apparently out of the blue13, to try to decide and implement the “necessary” reforms. In that case, the analysts’ signals were not precisely of despair for the loss of democratic representation but rather of relief to see the disgraced “cavaliere” Silvio Berlusconi finally release power. Monti did not want to stand as candidate in the elections, and preferred to be asked by the Parliament to lead the country. The 2013 elections have shown a complete décalage in the European-wide observation and interpretation of Italy and Italian understanding of its own political chaos. Letta, who had managed a majority after the elections, lost an important vote in Parliament because Renzi staged an opposition within his own coalition … Beppe Grillo and his 5 Stelle Movement were the temporary winners of the election but could not form a governemnt. The elections to the European Parliament seem to have confirmed Renzi’s leadership as Italian PM and as European social democrat. In France, the Front National has had the largest number of votes in the May 2014 European Parliament elections and it managed 6.5 million votes in the first round of the Spring-2012 presidential elections. All political parties are dancing to its populist anti-immigrant tune. President François Hollande is at the lowest popularity of any Presidency ever. Austerity and the sense of a lack of direction are the main causes. The previous Sarkozy government tabled a proposal to rethink the Schengen system, and enable the re-establishment of internal frontiers on an ad hoc basis14. The day after the French elections, the Dutch Freedom Party ceased to support the austerity-bent Dutch government and made it fall. However, in the elections of 12th 09 2012 this Party has lost much support. The UK government and ruling Tory party have been playing euro-scepticism for so long that they are now trapped in their own blether. After the relief of the narrow victory (55 %) of the no-vote in the Scottish Independence Referendum of 18 September 2014, another referendum is expected for 2016 if the Tory party is returned to power; this time on EU Membership. In the meantime, any initiative to introduce more integration in any area is blocked by the current government. In the May 2014 European Parliament elections the anti-EU UKIP has come out first in the United Kingdom. The Conservative Party dances to its jig.

13 Monti was first appointed a life senator so he could be elected as president of government council. 14 According to the evaluation of the Schengen system made by the Commission in midMay 2012, in the aftermath of the Arab spring revolutions of 2011 and with the on-going crisis in Syria, around 30 000 unlawful entries have been detected in the EU external frontiers in 2011, 75 % of them on the Greek-Turkish border (Rhodope area). On 7 June 2012 the Danish Presidency of the Council agreed to proceed to a reform of the Treaty on the Functioning of the EU so that the legal basis is modified for any decision to temporarily suspend the Schengen Agreement with no need to consult Parliament. In other words reinforced inter-governmentalism and loss of supranational control dismantles Europe.

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An ‘apparent’ insensibility of Germany, insisting, even under the Grosse Koalition resulting from the last 2013 elections, on the need to undergo cuts and reforms before activating national economies with ECB and ESM incentives, leaving aside the issuing of Eurobonds which even the OECD supports, added to individualistic attitudes of some Member States, aiming to protect their financial industries (the City) at all costs and opposing measures like the tax on financial transactions, leads one to think that something more than a clash of economic analyses – Keynesianism v Chicago school – is going on. These are only some of the political outcomes of austerity in some, not all of the Member States; the events indicate that there is a serious “Crisis of European Democracy”15. 4. Austerity and the Crisis of the Social Model In many countries, the euro-crisis is eroding one feature Europeans felt most proud of until a few years ago: its diverse models of pension systems and social safety nets in welfare, health and education policies, and a high level of employee protection in the area of health and safety but also in employment. There are Mediterranean models, central European models or Scandinavian models, but these typologies16 all blend into a certain family resemblance of the European social model, which was taken for granted as part of the European Dream but is valued for all its worth now that it is at risk. The impact of austerity politics on societal relations will be huge. This is a crisis of the social welfare systems, and therefore also a crisis of identity for Europe because solidarity and the social model has been a defining feature of the EU. The street protests in so many cities (15-M and Stop Desahucios in all of Spain; Athens; throughout the UK, the Occupy movement, occasional riots in French banlieus) and many similar protests to come are a symptom of these crises and social imbalances and of the lack of prospects for a young generation better educated than any before, but disempowered by an elite that is often under suspicion of corruption. But this has also extended to a crisis of development cooperation and environmental protection. For the withering away of cooperation for development is another aspect of the systemic crisis in Europe. It is not simply a matter of giving out money. The recent ebola breakout in Central Western Africa has shown the contrast between 15 This is the title of Amartya Sen’s article in The New York Times, 22 May 2012 where the Nobel laureate holds: “Perhaps the most troubling aspect of Europe’s current malaise is the replacement of democratic commitments by financial dictates – from leaders of the European Union and the European Central Bank, and indirectly from credit-rating agencies, whose judgments have been notoriously unsound.” In more complex terms, Jürgen Habermas (Between Facts and Norms, Cambridge, Mass, 1998:150) provides the theoretical framework for this malaise: “the constitutional state requires that the administrative system be kept free of illegitimate interventions of the factual strength of privileged interests”. Habermas does not say what follows when privileged interests prevail. 16 See Gosta Esping-Andersen, The Three Worlds of Welfare Capitalism, Cambridge 1990.

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a heavyweight like the EU and a light-weight like Cuba who has offered technical and personal assistance and international cooperation. Likewise, the selfishness of political models and individual attitudes has its impact on the lessening of the environmental and climate change agenda in Europe, another important aspect of the systemic crisis: it is as though combatting global warming and a strong environmental policy were luxuries we could no longer afford, instead of being a path to survival. Some Eastern and Southern European countries slow down the environmental agenda wrongly considering that it will hinder development. Instead Germany is speeding up its plans to move to a green economy. 5. The Welfare Model on the Wane and the Crisis of Multi-culturalism The erosion of the social model and of solidarity seems to mark an end to toleration. This malaise grows even more sombre if we direct our gaze at multiculturalism, another jewel of integration-Europe together with peace, the rule of law and the single market. In a speech to the CDU youth, Chancellor Merkel spoke of the end of “multi-kulti”17. UK Prime Minister David Cameron probably thought he had given multi-culturalism its coup de grâce in a speech to the Munich Security Conference a few weeks later18. One would find little to object if the proclaimed failure of multiculturalism was provoked by a rejection of its implied ethical relativism and a celebration of a more interactive and hybrid inter-culturalism19. Werner Menski, in his Osaka lecture (2002), makes an interesting comparison of the multicultural models: “In the USA, the image of the ‘melting-pot’ is still relevant, but has quietly been replaced by the ‘salad bowl’ model, in which cultural and ethnic identities do not just disappear through a process of blending the elements of the multicultural salad. The cucumber is still a cucumber, and the tomato still a tomato, but they have taken on a different flavour, too. In Canada, the ‘mosaic’ model has been applied to create an image of Canadian society as composed of 17 16 October 2010: “We are a country which, at the beginning of the 1960 s, actually brought guest workers to Germany. Now they live with us, and we lied to ourselves for a while, saying that they won’t stay and that they will disappear one day. That’s not the reality. This multi-kulti approach, saying that we simply live side by side and are happy about each other, this approach has failed, utterly failed.” http://www.euractiv.com/culture/merkels-ethnic-re marks-add-fuel-fire-news-498867. 18 Cameron said that Western countries needed to confront extremism rather than pursue a “hands-off tolerance” and that “the doctrine of state multiculturalism” had encouraged segregation and failed to supply “a vision of society” to which people want to belong. http:// www.euractiv.com/culture/merkel-cameron-multiculturalism-failed-news-501945. 19 As W. Kymlicka (2012) points out, the influential 2008 White Paper on Intercultural Dialogue from the Committee of Ministers of the Council of Europe argues that inter-culturalism should be the preferred model for Europe because multiculturalism has failed. Kymlicka interprets that “multiculturalism is offered up as a sacrificial lamb, a handy scapegoat for popular discontent, in the hope that this will undercut support for populist, anti-immigrant or anti-Roma, xenophobic parties”. See Kymlycka’s reply to Meer and Modood in Nasar Meer & Tariq Modood (2012): How does Interculturalism Contrast with Multiculturalism? Journal of Intercultural Studies, 33:2.

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all kinds of immigrants and their descendants. Australia has begun to recognize this pluralizing fact, too, and various European countries are experimenting with different models of respect for ethnic minority groups and their socio-cultural needs.”20

The talk at the European level, and the values upheld are those of equality and nondiscrimination, but sometimes this is understood as utmost respect for difference and sometimes as uniformity or the evening out of differences in order to obtain new citizens. The European Court of Human Rights has chosen to show deference to the different national interpretations or domestic standards through its doctrine of the margin of appreciation. This might well be “the age of plural equality”, as Lawrence Friedman reminds us21 but at the same time, anti-minority feelings and attitudes are taking place almost everywhere in Europe and, arguably, even if we do have the interpretative social science tools to understand these processes we still lack a practical discourse that can generate normative consensus on the steps to take. Resort to fundamental rights and to the values stated in the TEU and the Charter of Fundamental Rights of the Union is only an approximation and the rights, principles and values have to be weighed against each other and their possible justifiable limitations measured on proportionality standardslike necessity, appropriateness, absence of less restrictive alternatives and proportion. 5. Systemic Crisis and Democracy There is also a crisis of democracy in Europe, for social welfare and quality of democracy are increasingly related22. Two important questions can be drawn from this gloomy euro-narrative: Is there a link, and what type of link, between the austerity measures being commended by global financial institutions, European institutions and neoliberal think tanks, amongst others, and the rise of far right populisms? Here is a fine question not only for social systems or conflicts theorists and methodologists23, but also for economists and political scientists, even for legal anthropologists. Interestingly the European Commission denies any such link but recognises the symptoms, blaming national leaders for them24. The second question is of norma20 Walter Menski, “Immigration and Multiculturalism in Britain, New Issues in Research and Policy”, CASAS Online Papers 2009. 21 The Human Rights Culture, New Orleans, 2011, p. 123: “Plural equality and free choice are fundamental premises of the rights movement and of modern society in general”. 22 I. Sotelo, El Estado social. Antecedentes, origen, desarrollo y declive, Madrid, ed. Trotta, 2010, ps. 391 y 392: “Democracy and the social welfare State dependo n each other. The weakening of the social welfare State brings along a more fragile democracy, and the demise o fthe social welfare State means the end of democracy, at least as we understand it in Europe” (our translation). 23 For an analysis of these processes in the new Europe related to French and Italian populism, culture and security, see Mabel Berezin, Illiberal Politics in Neoliberal Times, Cambridge UP, 2009. 24 “EU leaders share responsibility for the rise in popularity of anti-European parties, the European Commission said Monday [23 April, after the 1st round of French elections] but

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tive and constitutional prognosis: will a European People, a constituent demos, eventually emerge from these crises or will the state-national constitutional contexts or even the sub-state national settings, remain as the natural forum of austerity and solidarity politics?25 There is a gradual development of a forum or agora, which becomes the instance where the decisions required in order to face the economic and financial crisis become effective and where the social solidarity necessary for inclusive strategies to manage cultural diversity inspires harmonising measures. And this forum is no longer exclusively national. It is both local and global. We witness the waning of the nation-state as the only, perhaps even the main forum of sovereignty, deliberation and decision-making on these issues of practical reason: toleration, solidarity. Some sectors find it difficult to accept this new setting of global, liberalised and individualist market models and risks, as they consider the EU to be, and feel attracted by the “security” offered by nationalisms and populisms. They live in a different type of dream, perhaps, from the European federalist perspective a nightmare. Surely there ought to be alternatives between these extremes. And surely, socio-legal and comparative law scholars should be analysing these phenomena. Social science methodologies cannot remain strictly national. III. Rethinking the European Union Set Up in the Light of Our Ideals Europeans are waking up. Rather than fall prey to pessimism and Euro-scepticism, the need to identify the sources of the problems and the need to articulate solutions is gradually generating consensus. In a joint article, a number of European intellectuals evoked the metaphor of the dream, again, and called for the dismantling of two related dogmas – austerity and cuts as regards social policies and fortress Europe or restrictions as regards immigration – and urged the European institutions to renew their aspiration to democracy, to social progress, to promoting equality between individuals and to protecting those who suffer most directly the forms of racial and social violence accentuated by the crisis26. Europe’s duty to the less developed world should be added to these aspirations. It is a worrying symptom that decreases in internal solidarity and tolerance should be echoed by dwindling external aid and devel-

rejected the notion that austerity measures are contributing to the trend”, Source: http://euob server.com/843/115994 . 25 This question is raised by Paul Krugman in “Apocalypse Fairly Soon”, New York Times: 18 – 05 – 2012. 26 “L’Europe unie est un rêve, l’austérité et le rejet de l’immigré, un cauchemar” by Anthony Giddens, Adam Michnik, Elie Wiesel, Benjamin Abtan, Dario Fo, Svetlana Gannushkina, Amos Gitaï, Béate et Serge Klarsfeld, Bernard Kouchner, Bernard-Henri Levy, Oliviero Toscani, A. B. Yehoshua, Daniel Barbu, Jovan Dijvak, Amélie Nothomb, Dominique Sopo, Le Monde 28 May 2012.

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opment cooperation, and also in its support for the Alliance of Civilizations27, for peace building and transitional justice. The argument is then that we need to rethink democracy, solidarity and our aspirations to be global actors in a new federal multi level governance system where citizens (and non-citizen residents who contribute to welfare) participate in all levels of governance – local, regional, state-national, transnational, supranational and international – inspired by the regulative ideals we set for ourselves in the Lisbon Treaty or in the Charter, or in the European Convention of Human Rights. This argument extends this need to new types of democracy that can transcend the so-called democratic deficit of the EU in a multilingual, multicultural context, exploring also new forms of direct democracy in the digital age. The Council of Europe Commissioner for Human Rights Nils Muiznieks has called on Contracting States to consult proposed austerity measures with their citizens, and the occupy movements, and with civil society in order to find ways out of the crisis. Experiments that have been tried out in Iceland and Ireland and in other places might be the rudiments of new articulations. He considered it is necessary to fight for the fundamental rights of most vulnerable groups like youth, older people or homosexuals and insisted on the need to ensure immigrants’ rights to education and nationality28. Expressing citizens’ decisions through voting mechanisms is basic and curtailing the opportunities for expressing preference is anti-democratic. This is partly what, in my opinion, the Spanish government and Constitutional Court are doing with the Catalans who wish to decide on their status, in contrast with the way the UK and Scottish government dealt with the Scots’ wish to express their view on independence. As we have seen, the different dimensions of the current European crises, the financial-economic crisis, the social, political and multicultural crises interact in different ways that need to be studied, historically, comparatively and sociologically. Social solidarity is generally at stake and the political and institutional locus where social solidarity is debated, decided and arranged – local or European – and where social inclusion is promoted, in other words the ‘social constitution’29 becomes a key factor in determining the forum of politics and legitimacy (the merging of people and polity); ultimately of nation-building and of (de)construction of the demos.

27 http://www.unaoc.org/. The riots, deaths and protests against US embassies worldwide following the publication in youtube of a film called The Innocence of Muslims, apparently produced by some Coctic Egyptian in California in mid-September 2012 show how such attempts are fragile but necessary. 28 Source: Strasbourg press Conference, Efe news agency, 25 May 2012. 29 The term is forcefully contrasted with the economic, ordo-liberal, constitution by Christian Joerges in “Democracy and European Integration. A Legacy of Tensions, a Re-conceptualization and Recent True Conflicts” European University Institute, Law Working Papers 2007/25.

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Just as it becomes pressing to find ways out of the different economic, financial and political crises mentioned above, it becomes equally pressing to understand diversity within Europe, to analyse cultural plurality and the legal and moral claims and challenges that it generates on the legal systems (pluralism), on jurisdictions (transnational litigation) and on institutions at all levels: local, regional, state and supranational, and to see how the different responses at these levels themselves create a new pluralistic picture. After all, the solutions to the crises cannot possibly be devised by only some and for only some of the better organised stakeholders, excluding large numbers of those affected like the many minority groups excluded from full European citizenship. This is happening at a time when Europe risks becoming selfish and excluding also large parts of the World, abandoning internal and external solidarity. Going back to the management of diversity, it can be held that our identity as Europeans, but also as immigrants, Muslims, Christians, atheists, agnostics, Women, Men, Basques, Germans, Italians, Irish, Scots, Rom, … is at stake. And the critical discursive construction of this plural identity should be inclusive, tolerant and far removed from populism and chauvinist or exclusionary nationalism. Europe, especially but not exclusively, Germany and Austria, has a tragic history of racism suffered mostly by Jews and Roma, which coincided with a terrible financial and economic crisis, mass unemployment and hyperinflation largely related to the unfair debt imposed on Germany after its defeat in the Great War that started 100 years ago. We should not forget what happened. The history of collaboration in many other European countries, not only France, is still to be fully and openly recognised. Historians and anthropologists can provide interesting guidance. Anti-minority or anti-diversity feeling in contemporary Europe is now directed against Muslims and again, Roma. A report by Amnesty International has detected discriminatory trends (opinions and attitudes, but also adoption of legal norms forbidding certain attires or the construction of certain buildings) against Muslims in France, Spain, Belgium, Switzerland and the Netherlands30. The situation of the Roma, the only genuinely European minority, came to the fore with the projected mass expulsion of Romanian Roma from France in September 2010, which led to a, later aborted, Commission infringement proceeding31. However the predicament of the Roma in Hungary, Romania and other central European countries is no better, as the many cases before the ECHR show32.

30 http://www.amnesty.org/en/news/muslims-discriminated-against-demonstrating-theirfaith-2012 – 04 – 23. 31 The official dismantling of Roma camps in the Paris banlieus in the Summer of 2012, together with special occupational training measures has replaced the expulsions by the Sarkozy government. 32 See e. g. case D.H. and Others v Czech Republic, 47 EHRR 3 and more generally, the European Court of Human Rights website’s Press and Information factsheet on Roma and Travellers, March 2012.

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Populism – a mix of nationalism, Euro-scepticism and xenophobia in Piris’ words33 – and anti-cosmopolitan feelings are in the air, and they are exacerbated by the decreased internal and external solidarity provoked by the economic and social welfare crises. The worst strategy is to play their game. Europeans should reinstate the values of toleration and seek inspiration from l’âge des Lumières to combat fundamentalisms of all sorts for, precisely as Beck and Grande remind us, “Everything that the fundamentalists hate is to be celebrated and cherished as what is authentically European: the much lamented ‘vacuum of meaning’, the ‘decadence’, the ‘loss of the middle’, the rejection of the metaphysical image of ‘the’ human being and ‘the’ European West. Why? Because the cosmopolitan-European character of a society consists in the fact that nobody lays down what is right and good and how people should live their lives as long as they do not harm others” (Cosmopolitan Europ105). The current European crises could also be an opportunity for the (cosmopolitan) Peoples of Europe to take the bold step into the European Federation, at least for those Peoples of Europe that wished to take such step to the avant garde. This step involves economic-monetary and social integration-solidarity also at European level, in other words the reflective equilibrium between the economic and the social constitutions and the federal and pluralist cultural dialogue between European citizens and European peoples inspired by the Cosmopolitan legal order and human rights. These normative proposals are worth analysing and discussing as well. We have analysed the problems and identified what needs to be done. The question is then what we, as jurists, do, i. e. what we can, what we should, and what we shall do. And, taking into account that judicial action largely influences the action of the other legal actors, what should judges do? I see two possible extreme solutions. The first is conservative and seemingly respectful of the separation of powers: let legislators make the necessary laws and judges will apply it. But what if the legislators do not know what to do, or are adopting erratic decisions, or are making laws that undermine some of the programmatic rights and aspirations proclaimed in the Constitution? The other solution is for judges to use the law creatively in the spirit of the Human Rights and constitutional instruments and eventually provoke coherent changes at the legislative level. It very much depends on one’s conception of the judicial role, as the mouth that pronounces de words of the law, or as a more creative agent, as recently advocated by 33

J.-C. Piris, The Future of Europe: Towards a Two-Speed EU?, Cambridge, 2011, 104 mentions the following as populist threats to a number of European countries: Vlaams Belang, Danish People’s Party, True Finns, Front National, Freedom Party, National Party and Sweden Democrats. He shows very little political nuance in putting these diverse movements together though. We have seen how different they can, and how nationally specific they really are. He considers the two-speed Europe solution could be a means to fight the populist trend. While I would agree on a two-speed Europe, I cannot see how this would solve the problem of populism, for instance in France.

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Leslie Green at Oxford34, who sees the judicial role as encompassing law-applying obligations – such as making correct findings of fact, knowing the law and updating their knowledge, ruling intelligibly – but also law-improving obligations clarifying the law, systematising it and resolving conflicts, thus improving the law’s capacity to guide citizens’ conduct – and even obligations to protect the law from those who undermine judicial independence or the effectiveness of the systems of courts. Upholding fundamental rights and constitutional and EU law values would thus enter, in my contention, in the law-protecting obligations, and could even require, in some cases, to disapply or defeat statutory, or domestic law that would hinder the effectiveness of those higher rights and values contained in the Constitution or in the EU law. This is what the Court of Justice has done in some cases like the later consumer protection cases like Aziz35, with the help of imaginative judges in domestic jurisdictions who are willing to use the law to protect the rights of persons, or of the more vulnerable consumers. Some judges have this capacity to combine clarity of analysis and courage in decision-making to uphold individual rights, a mixture of three elements, personal judicial virtues like impartiality, courage, willingness to hear all views, sincerity, respect for the parties, awareness of the factual and legal background, and a high quality reasoning that carries the rational acceptability of the audience. These are qualities which Rudolf Wendt referred to in the Onati Workshop on the autonomy and heteronomy of the judiciary and which, I am fully persuaded, he displayed in his professional career as a Constitutional Court judge.

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Leslie Green, “Law and the Role of a Judge” Oxford University Legal Research Paper Series 47/2014. 35 Case cited above, see also Hans Micklitz and Norbert Reich “The Court and Sleeping Beauty. The Revival of the Unfair Contract Terms Directive”, 51 CMLRev (2014) 771 – 810.

Strafrecht und Menschenwürde – eine phänomenologische Betrachtung Von Guido Britz, St. Ingbert I. Einleitung Beinahe schon herausfordernd lapidar heißt es in Art. 1 Abs. 1 GG, dass die Würde des Menschen unantastbar sei1. Ebenso große wie starke Worte muss man anerkennend konstatieren. Ihre Verbindlichkeit und Unverbrüchlichkeit erhält die Sentenz aus der genialen Einfachheit und Allgemeinheit ihrer Formulierung. Die hiervon ausgehende Suggestion ist ausschließlich positiv; aus rechtlicher2, philosophischer3 und religiöser4 Sicht. Mit anderen Worten: Man kann dem nur zustimmen, will und muss es zudem. In diesem durch das „Übergrundrecht“ erzeugten gleichsam enormen wie unwiderstehlichen Sog ist keinerlei Raum für Widerspruch oder negative Assoziationen. Zerlegt in seine sprachlichen Bestandteile ergeben sich aus Art. 1 Abs. 1 GG schließlich nur positiv konnotierte Worte bzw. Begriffe: Mensch, Würde, unantastbar. Ihre schlichte Kombination lässt nicht nur verfassungsrechtlich eine Festung entstehen. Aus grundrechtsdogmatischer Sicht und spezifisch unter dem Gesichtspunkt der Grundrechte und ihrer Funktionen – insbesondere als status negativus – ist ein uneinnehmbares Bollwerk geschaffen; zumal das Grundrecht schrankenlos konzipiert ist. Unverfügbares ist mithin in Art. 1 Abs. 1 GG – selbstverständlich in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG – zementiert; und zwar primär de iure und somit jenseits der gleichfalls vorhandenen Symbolik und Programmatik. Aus der schnörkellosen und damit zunächst verlockenden Simplizität der sprachlichen Fassung einerseits sowie der dieser auch nicht ansatzweise korrespondierenden Komplexität vor allem des Begriffs der (Menschen-)Würde andererseits resultie1 Prantl zufolge ist der Satz „kurz wie eine SMS“; vgl.: Prantl, Glanz und Elend der Grundrechte (Droemer, München 2014), S. 23; Hufen, JuS 2010, 1: „Trompetenstoß“. 2 Zu den rechtlichen Dimensionen: Seelmann (Hrsg.), Menschenwürde als Rechtsbegriff, 2004; P. Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, 2. Auflage 2014, S. 68 ff., S. 178 ff. 3 Zur (aufklärungs-)philosophischen Grundlegung: Kant, Metaphysik der Sitten, § 38: „Die Menschheit selbst ist eine Würde; denn der Mensch kann von keinem Menschen (weder von anderen noch sogar von sich selbst) bloß als Mittel, sondern muss jederzeit zugleich als Zweck gebraucht werden und darin besteht eben seine Würde…“. 4 Zur religiösen Perspektive und insbesondere zur Begründung der Menschenwürde durch den Gottesbezug: vgl. Härle, Würde – Groß vom Menschen denken (München 2010), S. 79; instruktiv: Bedford-Strohm, Menschenwürde, in: Taschenlexikon Religion und Theologie, Horn/Nüssel (Hrsg.), S. 783 ff. m.w.Nachw.

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ren sodann die Schwierigkeiten im Umgang damit. Pointiert formuliert: Man kann sich an Art. 1 Abs.1 GG gewissermaßen abarbeiten; was die nahezu unüberschaubare Literatur zu belegen vermag5. Dies beginnt bereits bei der Definition von Menschenwürde als gewissermaßen der ersten Stufe der Verflüssigung des Sirups. Denn diese bildet zugleich eine erste Ebene einer notwendigen Vergeschmacklichung. In diesem Sinne gelungene Definitionen erlangen damit zu Recht selbst Kultstatus, wie ihn die sog. Objektformel6 für sich zweifelsohne reklamieren kann7. Nachvollziehbare Kontur und Sichtbarkeit des Inhalts von Art. 1 Abs. 1 GG ergeben sich jedoch erst in der praktischen Umsetzung bzw. (Nicht-)Verwirklichung des Grundrechts und demzufolge fallspezifisch8. Es ist das Anliegen dieses Beitrags, ausschließlich bezogen auf den Bereich des Strafrechts vor allem anhand der Rspr. des BVerfG die rechtspraktische Relevanz von Art. 1 Abs. 1 GG nachzuzeichnen. Auf diese Art und Weise soll phänomenologisch der Menschenwürde spezifische Kontur verliehen werden; natürlich wegen des gewählten Bezugsobjekts sektoral beschränkt. Hierbei bietet sich an, zwischen materiellem Strafrecht, Strafprozessrecht und Strafvollzugsrechts zu differenzieren. Wegen der Fülle des Materials ist es im Übrigen ausgeschlossen, an dieser Stelle einen auch nur annährend vollständigen Überblick verschaffen zu wollen; zumal die Menschenwürde in der strafrechtlichen Debatte seit einiger Zeit Konjunktur zu haben scheint9. Entsprechende Erwartungen müssen also von vornherein enttäuscht werden. Vielmehr geht es lediglich darum, anhand ausgewählter Beispiele aus der Rspr. maßgebliche Linien zu skizzieren und damit Facetten von Menschenwürde sichtbar und somit – im Sinne eines haptischen Begreifens – verständlich werden zu lassen. Zur Offenlegung von Prämissen ist dies eingebunden in die Darstellung eines möglichen Verständnisses von Menschwürde sowie einen Aufriss des Verhältnisses von Straf- und Verfassungsrecht. Unberücksichtigt bleibt in diesem Zu-

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Vgl. etwa die Literaturhinweise bei Jarass/Pieroth, GG, Bd. 1; Tiedemann (o. Fn. 2), S. 195 ff.; Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1. 6 Dürig, AöR 81 (1956), S. 117 ff. Hierzu: BVerfGE 27, 1 (6); 45, 187 (228); Dürig, in: Maunz/Dürig, GG (1958), Art. 1 Rn. 28, 34. 7 Dass sich die sog. Objektformel natürlich kritisieren lässt, sei nicht unterschlagen. Hierzu: Aubel, DV 37 (2004), S. 229 ff. (241 ff.); Hoerster, JuS 1983, 93 ff.; BVerfGE 30, 1 ff. (25 f.). 8 Ähnlich auch: BVerfGE 30, 1 ff. (25): „… so hängt alles von der Festlegung ab, unter welchen Voraussetzungen die Menschenwürde verletzt sein kann. Offenbar lässt sich dies nicht generell sagen, sondern immer nur in Ansehung des konkreten Falles. Allgemeine Formeln wie die, der Mensch dürfe nicht zum bloßen Objekt der Staatsgewalt herabgewürdigt werden, können lediglich die Richtung andeuten, in der Fälle der Verletzung der Menschenwürde gefunden werden können.“ 9 Prittwitz (Hrsg.), Strafrecht und Menschenwürde, 1998; Knauer, ZStW 2014 (126), S. 305 m.w.N.

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sammenhang indessen der Themenkomplex, ob und inwiefern Straftatbestände des geltenden Rechts10 zum Schutz der Menschenwürde beitragen11. Übergreifend ist anzumerken, dass das jüngst erschienene Buch von Bieri12 maßgeblich inspiriert hat. Dies bezieht sich sowohl auf das Thema als auch die methodische Herangehensweise. Insofern führt Bieri aus13 : Doch manchmal geschieht es, daß wir genauer wissen möchten, wovon wir eigentlich reden, weil Wichtiges auf dem Spiel steht, sowohl im Verstehen als auch im Handeln. Wenn wir dann einen Schritt hinter die sprachliche Gewohnheit zurücktreten und uns auf den Begriff konzentrieren, stellen wir verwirrt fest, daß uns gar nicht klar war, was wir die ganze Zeit gesagt hatten. Der Begriff erscheint uns plötzlich fremd und rätselhaft.

Und an anderer Stelle14 : Ich hatte kein Bedürfnis, eine Theorie der Würde vorzutragen. Ich bin nicht sicher, daß wir so etwas überhaupt brauchen… Nicht beweisen wollte ich, sondern sichtbar und verstehbar machen.

Mithin geht es in diesem Beitrag keinesfalls um – unter Umständen sogar entbehrliche – Versuche einer Reformulierung von Menschenwürde auf definitorischer Ebene unter besonderer Berücksichtigung strafrechtlicher Interessen. Der neugierige Blick liegt alleine und ausschließlich gewissermaßen auf der Durchführungsebene. Mithin handelt es sich um die fallbezogene Materialisierung oder eben Nichtmaterialisierung der grundrechtlichen Verbürgung15. Dass aus dieser phänomenologischen Perspektive wiederum auch Rückschlüsse auf ein abstrahierendes Verständnis von Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG gezogen werden können, liegt auf der Hand. II. Bieri und die (Menschen16-)Würde Bieri zufolge gibt es zwei gedankliche Wege, Klarheit über den Begriff der (Menschen-)Würde zu gewinnen17. Zum einen lässt sie sich als eine (natürliche) Eigenschaft des Menschen begreifen. In deren Konsequenz liegt es sodann, dass ihr der 10 Unberücksichtigt bleibt ferner, ob und inwiefern mit der Menschenwürde rechtspolitisch zur Unterlegung von Gesetzesvorhaben argumentiert wird. Vgl. beispielsweise den Entwurf von Mecklenburg-Vorpommern für ein „Gesetz zur Verbesserung des strafrechtlichen Schutzes der Menschenwürde“ (BR-Drs. 759/2000). 11 Hierzu instruktiv: Knauer, ZStW 2014 (126), 307 ff. 12 Peter Bieri, Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde, Carl Hanser Verlag, München 2013. 13 Bieri, a. a. O., S. 11. 14 Bieri, a.a.O., S. 16. 15 Hierzu auch: BVerfGE 30, 1 ff. (25); oben Fn. 8. 16 Wiewohl Titel und überwiegender Inhalt des Buches sich mit der Menschenwürde befassen, greift Bieri darüber hinaus auf, wie beispielsweise die Ausführungen über Schlachthöfe belegen; vgl. Bieri, a. a. O., S. 28 f. 17 Bieri, a. a. O., S. 11.

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Charakter eines nicht zu nehmenden Anrechts zukommt, dessen Begründung letztlich im Gottesbezug zu sehen ist18. Zum anderen handelt es sich um – die von Bieri favorisierte Perspektive – „eine bestimmte Art und Weise, ein menschliches Leben zu leben“19. Ausgehend davon werden drei Dimensionen unterschieden und aufgefächert20: die Art, wie ich von anderen Menschen behandelt werde, die Art, wie ich sie behandele, und die Art, wie ich zu mir selbst stehe. Es ließe sich ohne weiteres darüber diskutieren, ob und inwieweit die beiden Wege sich derart strikt unterscheiden lassen. Dies gilt auch und gerade mit Blick auf den juristischen Horizont und die Erforderlichkeit oder Aufgabe, mit normativen Begriffen praktisch belastbare und handhabbare Grundrechte und Gesetze zu schaffen. Beide Betrachtungswinkel müssten eigentlich tauglich sein, hierzu im Sinne einer Begriffsklärung einen Beitrag zu leisten. Demzufolge lässt sich der Ansatz von Bieri durchaus lediglich als Folie verstehen, mit deren Hilfe der gewählte, im Kern deskriptive Ansatz umgesetzt werden soll. Deskription und Ableitung bilden hierbei indessen eine Einheit, mit deren Hilfe Menschenwürde sichtbar und verstehbar gemacht wird. Dieser Annäherung dienen im Einzelnen sodann die verschiedenen Kapitel des Buches, welche jedoch sachlich in- und miteinander verschränkt sind21. Freilich schließt diese Herangehensweise Definitionen bzw. Definitionsversuche nicht aus22. Nach Bieri lässt sich Menschenwürde – unter anderem – wie folgt beschreiben23 : In dem Maße, in dem unsere Würde davon abhängt, wie andere uns behandeln, ist sie in der Erwartung, dem Anspruch und dem Recht begründet, nicht bloß als Mittel zu einem Zweck benutzt, sondern als Selbstzweck behandelt zu werden.

Und an anderer Stelle24 :

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Bieri, a. a. O., S. 11 f. Bieri, a. a. O., S. 12. 20 Bieri, a. a. O., S. 12 f. 21 Zentral ist wohl das erste Kapitel „Würde als Selbständigkeit“. Auf die dort erzeugte Grundmelodie wird in den Folgekapiteln häufig reflektiert. Freilich erfolgt dies unter Berücksichtigung des im jeweiligen Kapitel vollzogenen Perspektivenwechsels. Musikalisch betrachtet ließe sich formulieren, dass im Eingangskapitel das Thema vorgestellt wird. In der Folge entstehen Variationen, aber das Thema scheint immer wieder durch. 22 Das Buch von Bieri ist bei dieser Lesart nicht frei von Widersprüchen. Denn unter anderem führt er Folgendes aus (Bieri, a. a. O., S. 14): „Ich wollte herausfinden: Worin besteht dieses hohe Gut der Würde, und was macht den Makel seines Verlusts so bedrohlich? Das konnte nicht bedeuten, nach einer Definition für den Begriff der Würde zu suchen: nach notwendigen und hinreichenden Bedingungen dafür, wann jemand seine Würde wahrt oder wann er sie verliert … Was wir im Einzelnen verstehen und in der Übersicht erkennen wollen, ist, wie das Geflecht von Erfahrungen beschaffen ist, das wir mit dem Begriff der Würde verknüpfen.“ 23 Bieri, a. a. O., S. 24. 24 Bieri, a. a. O., S. 31 f. 19

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Zwar ist Würde etwas, über das auch jeder Einzelne für sich selbst bestimmt. Aber sie ist nicht nur etwas, was jeder Einzelne in der Hand hat. Sie ist auch etwas Größeres, etwas Objektives, das zwar immer Einzelne betrifft, aber doch über sie hinausreicht…

Diese Ableitungen stehen in sachlichem Zusammenhang mit der Subjektqualität des Menschen und der hieraus resultierenden Selbstbestimmung sowie Selbstständigkeit25. Die Nähe zur sog. Objektformel sowie zur Kant’schen Aufklärungsphilosophie erscheint mehr als greifbar, sodass der Erklärungsansatz allemal konsensfähig ist. Deutlich wird aber auch die Singularität der Menschenwürde. Oder anders gewendet: Nicht jeder Eingriff in die menschliche Individualsphäre kann die Würde an sich betreffen. Vielmehr handelt es sich um einen Kernbereich der Subjektivität bzw. des Menschseins26. Überdies geht es bei etwaigen Verletzungen nicht alleine um die möglicherweise beeinträchtigte individuelle Würde, sondern zugleich um ein intolerables Rütteln an einem herausragenden gesellschaftlichen Wert schlechthin. Demnach ist Würde – ganz im Sinne der sog. Objektformel – auch und vor allem das Recht, nicht gedemütigt zu werden27. Und wie steht es mit staatlichen Schutzmechanismen, lässt sich nunmehr fragen. Rechte stellen Bieri zufolge einen Schutzwall gegen Ohnmacht dar, sie bilden ein Bollwerk gegen Abhängigkeit und Willkür28. Die Menschenwürde ist daher durch das System des Rechts zu schützen29. Umgekehrt ist unter dem Gesichtspunkt der Freiheit der Eingriffscharakter von Gesetzen nicht zu verkennen. Nach Bieri tangiert dies die Würde – solange (?) – nicht, als es sich um einen Verzicht auf Freiheit zum gesellschaftlichen Nutzen handelt. Die Freiheitsbeschränkungen sind mithin deshalb zu akzeptieren, da – oder besser: sofern (?) – es bei Gesetzen um den Schutz der Würde geht30.

25

Bieri, a. a. O., S. 19 ff. Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist weiterhin zu berücksichtigen, dass ein Grundrechtekatalog im Grundgesetz enthalten ist. Trotz möglicher Konkurrenzen und Überschneidungen gilt im Ausgangspunkt, dass die einzelnen Grundrechte inhaltlich voneinander abzuschichten sind. Das hat zur Konsequenz, dass aus Art. 1 Abs. 1 GG grundsätzlich diejenigen Inhalte auszuklammern sind, die Gegenstand der Regelung in einem anderen und daher speziellen Grundrecht sind. Wenn also beispielsweise Religions- oder Bekenntnisfreiheit als Ausdruck menschlicher Würde verstanden würde (vgl. hierzu: Bieri, a. a. O., S. 40 f.), wäre primär auf Art. 4 GG zu rekurrieren. 27 Bieri, a. a. O., S. 35; hierzu auch: Birnbacher, Schutz vor Demütigung als Grundrecht?, in: Hilgendorf (Hrsg.), Menschenwürde und Demütigung, 1. Aufl., Baden-Baden 2013, S. 63 (65, 69 f., 77 ff.); Tiedemann, (o. Fn. 2), S. 143 ff. 28 Bieri, a. a. O., S. 37. 29 Bieri, a. a. O., S. 32. 30 Bieri, a. a. O., S. 40. Die Perspektive von Bieri mutet in diesen Passagen einseitig an. Klärungsbedürftig erscheint nämlich, inwiefern und unter welchen Voraussetzungen die Menschenwürde zum (Prüfungs-)Maßstab für Gesetze werden kann. Grundrechtsdogmatisch geht es um die Fragen, wann sich aus Art. 1 Abs. 1 GG Grenzen ergeben oder wann Schutzreflexe ausgelöst werden können. 26

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Die Eckpunkte auch unter Berücksichtigung der von Bieri gewählten Konzeption sind damit gesetzt. Ein akzeptables Vorverständnis von Menschenwürde ist nämlich formuliert. Dies korrespondiert darüber hinaus grundsätzlich mit der h. M. in der verfassungsrechtlichen Literatur mit der bereits mehrfach erwähnten sog. Objektformel im Zentrum; jedenfalls sind gravierende Inkompatibilitäten nicht festzustellen. Zugleich sind die Rolle und die Funktion des Rechts ansatzweise umrissen. III. Strafrecht und Verfassungsrecht Das Verhältnis zwischen Straf- und Verfassungsrecht ist seit jeher ein besonderes. Denn in keinem anderen Bereich des Rechts ist das Individuum derart dem Staat überantwortet oder – drastisch formuliert – ausgeliefert wie im Strafrecht. Der staatliche Zugriff auf das Individuum ist potentiell ein unmittelbarer. Ein Zuwiderhandeln gegen die im Kern- wie im Nebenstrafrecht gleichermaßen kriminalisierten wie poenalisierten Verbote löst nämlich Sanktionen und insbesondere Strafe aus; unabhängig davon, dass bereits das entsprechende (Straf-)Verfahren zu einschneidenden Einschränkungen und Belastungen führen kann. Der strafende Staat ist qua eines ihm insoweit auch zuerkannten Monopols unter anderem befugt, einem für schuldig befundenen Individuum die Freiheit zu nehmen. Der wegen Rechtsbruchs Verurteilte kann daher unter Einschränkung auch weiterer Grundrechte an einem spezifischen, nach außen hin grundsätzlich hermetisch abgeschlossenen Ort31 für eine bestimmte Dauer oder für immer interniert und somit von der Gesellschaft weitgehend separiert werden. Mit anderen Worten: Mehr als staatlich verordnete Freiheitsstrafe geht im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat nicht. Es ist daher stets von besonderem Interesse zu erkunden und auszuloten, wie der mit einer solchen Autorität und Machtfülle ausgestattete (Rechts-)Staat mit dem Individuum und vor allem dessen Rechten bzw. Rechtspositionen verfährt. Hierbei sind insbesondere die Grundrechte der Betroffenen relevant. Vor diesem Hintergrund erklären sich Formulierungen wie etwa die, dass das Strafverfahrensrecht als Seismograph der Staatsverfassung anzusehen sei32. Freilich ist dies aus den erwähnten Gründen heraus auf das gesamte Strafrecht übertragbar, unabhängig von spezifischen Akzentuierungen. Speziell bezogen auf den Schutz und die Achtung der Menschwürde

31 Den Ort nennt man Gefängnis oder – in moderner Diktion – Justizvollzugsanstalt. Zu deren Geschichte: Krause, Geschichte des Strafvollzugs, Darmstadt 1999, S. 45 ff., 58 ff. Dass für den Vollzug von Freiheitsstrafe auch heute noch auf Gefängnisse oder – modern gesprochen – JVAs zurückgegriffen wird, hat zunächst historische Gründe. Oder anders formuliert: Etwas Besseres als Gefängnisse und damit innerstaatliche Orte der Verbannung hat man bislang nicht entdeckt; unabhängig von der Frage, ob und inwiefern nicht ritualisierte Vorstellungen von Strafe die Verhängung gerade eines solchen Übels implizieren. 32 Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 27. Auflage, München 2012, § 2 Rn. 1.

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wird daher zu Recht postuliert, dass die Strafgesetze und Verfahrensnormen am Maßstab des Art. 1 Abs. 1 GG zu messen sind33. IV. Materielles Strafrecht und Menschenwürde Vor allem im materiellen Strafrecht lässt sich das verbindliche Postulat aus Art. 1 Abs. 1 GG als Gestaltungsmaxime, zugleich aber auch als Prüfungsmaßstab begreifen und erklären. Adressaten sind demzufolge die Legislative einerseits und schließlich die Judikative namentlich in Form des BVerfG andererseits. Soweit es um die abstrakte Festlegung und Beschreibung strafbaren Verhaltens im Kern- oder Nebenstrafrecht geht, lässt sich erfreulicherweise konstatieren, dass im Zusammenhang mit der Kreation bzw. Nichtkreation eines haftungsbegründenden Straftatbestandes bislang selten ein Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 GG im Sinne eines unzulässigen Eingriffs in den Schutzbereich festgestellt wurde. Anders sieht es hingegen für die Rechtsfolgenseite von Straftatbeständen sowie die Ebene der Rechtfertigung aus. Übergreifend lässt sich somit – ohne dass diese Katalogisierung Anspruch auf Verbindlichkeit erheben würde – auffächern in die Bereiche Strafbegründung sowie Legitimation und Ausgestaltung von Strafrecht und Strafe. 1. Strafbegründung und Menschenwürde Im Rückblick auf die kriminalpolitischen Diskussionen der letzten Jahrzehnte zählt die teilweise schon grabenkampfartig geführte Debatte um die Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs34. Mithin handelt es sich sicherlich um den konfliktträchtigsten Bereich innerhalb des StGB, wenngleich seit längerem Ruhe eingekehrt ist. Angesichts des Spaltungspotentials der Thematik verwundert es freilich nicht, dass das BVerfG gleich mehrfach gezwungen war, sich hiermit zu befassen. Ebenso ausführlich wie intensiv setzt sich das Gericht in seiner zeitlich letzten Entscheidung aus dem Jahre 1993 mit der Problematik auseinander; und dies gerade auch in Bezug auf das Strafrecht. Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass Menschenwürde auch dem ungeborenen Leben zukommt und daher stringente staatliche Schutzpflichten auslöst35 : Die Würde des Menschseins liegt auch für das ungeborene Leben im Dasein um seiner selbst willen. Es zu achten und zu schützen bedingt, daß die Rechtsordnung die rechtlichen Voraussetzungen seiner Entfaltung im Sinne eines eigenen Lebensrechts des Ungeborenen gewährleistet…

33

Eschenbach, in: Münchner Anwaltshandbuch Strafverteidigung, Rn. 106. Zur grundsätzlichen Relevanz der Menschenwürde im Strafverfahren: BVerfGE 55, 144 ff. (150); BGHSt 14, 358 ff. (364). 34 Zum Überblick über die Reformgeschichte: Fischer, StGB, Vor §§ 218 – 219b Rn. 3 ff. 35 BVerfG, NJW 1993, 1751 ff. (1753).

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In der durch das BVerfG entworfenen Schutzkonzeption kommt dem Strafrecht auch unter Berücksichtigung des grundsätzlich limitierenden ultima ratio-Prinzips wegen des sog. Untermaßverbots zentrale Bedeutung zu36 : Handelt es sich bei der Aufgabe, das menschliche Leben vor seiner Tötung zu schützen, um eine elementare staatliche Schutzaufgabe, so läßt das Untermaßverbot nicht zu, auf den Einsatz auch des Strafrechts und die davon ausgehende Schutzwirkung zu verzichten…. Danach ist das Strafrecht regelmäßig der Ort, um das grundsätzliche Verbot des Schwangerschaftsabbruchs und die darin enthaltene Rechtspflicht der Frau zum Austragen des Kindes gesetzlich zu verankern.

Für strafrechtliche Belange lässt sich nach alledem verallgemeinernd das Substrat gewinnen, dass die verfassungsrechtlich garantierte Menschenwürde den Schutz des menschlichen Lebens im Sinne einer puren Existenzsicherung beinhaltet. Der sich aus dem Grundrecht zugleich ergebende staatliche Schutzreflex macht die Instrumentalisierung des (Kern-)Strafrechts unumgänglich und unverzichtbar. Es bedarf demnach Strafnormen mit einem Tötungsverbot37. Ausgeschlossen ist in diesem Zusammenhang die Implementierung eines tatbestandsimmanenten Rechtfertigungsgrundes, welcher zu einer sektoralen Suspendierung des repressiven Tötungsverbots führen würde38. Der strafrechtliche Schutz des Lebens in diesem Sinne ist tatbestandlich absolut zu konzipieren. Die verfassungsgerichtlichen Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch reichen infolgedessen über ihre spezifische Thematik deutlich hinaus. Denn in ihrer Konsequenz – was für das ungeborene und daher werdende Leben gilt, gilt erst Recht für das seiende Leben – liegt die durch das Grundrecht der Menschwürde unterlegte Kontinuität beim strafrechtlichen Lebensschutz. Ein Tötungsverbot im Kernstrafrecht ist deshalb eine Notwendigkeit. Umgekehrt lassen sich die Tötungsverbote als unmittelbarer Ausfluss von Menschwürde verstanden als Schutz des menschlichen Daseins um seiner selbst willen beschreiben. Es besteht daher eine direkte Allianz zwischen Art. 1 Abs. 1 GG und dem strafrechtlichen Tötungsverbot. Diese Eckpunkte gilt es beispielsweise bei den aktuellen rechtspolitischen Debatten um die Sterbehilfe sowie die Reform der Tötungsdelikte zu berücksichtigten. Denn die grundrechtlich garantierte Menschenwürde beinhaltet einen legislativen Gestaltungsauftrag. Vor diesem Hintergrund relativieren sich des Weiteren unter Umständen die konträren Positionen um die Tauglichkeit der Menschenwürde als Rechtsgut. Gegen ihre 36 BVerfG, NJW 1993, 1751 ff. (1754 f.). Zurückhaltender noch: BVerfG, NJW 1975, 573 (576). 37 Zu Poenalisierungsgeboten und deren Problematik: Müller-Dietz, Zur Problematik verfassungsrechtlicher Poenalisierungsgebote, in: Jung/Müller-Dietz (Hrsg.), § 218 – Dimensionen einer Reform, S. 77 ff. (S. 86 ff.). 38 In diesem Sinne erachtete das BVerfG es für ausgeschlossen, Schwangerschaftsabbrüche wegen der ersten zwölf Wochen (sog. Fristenlösung) für gerechtfertigt oder als nicht rechtswidrig zu betrachten. Dem Gesetzgeber wurde daher vorgegeben, diese aus dem Tatbestand des § 218 StGB herauszunehmen; vgl.: BVerfG, NJW 1993, 1751 ff. (1758).

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Anerkennung als Rechtsgut wendet sich vor allem Kelker mit dem Argument, dass wegen des absoluten und bedingungslosen Schutzes des Einzelnen durch die Menschenwürde jegliche Verletzungsmöglichkeit notwendigerweise und ohne jede Einschränkung immer strafrechtlich zu ahnden wäre39. Die Gegenansicht verweist darauf, dass die Menschenwürde in mehreren Strafnormen das geschützte Rechtsgut bilde; die Menschenwürde erlaube es, das straftatbestandliche Unrecht vollständig zu erfassen40. In diesem Zusammenhang wird freilich darauf verwiesen, dass zur Vermeidung einer Moralisierung die Menschenwürde nicht in zu starkem Maße zur Legitimation von Straftatbeständen herangezogen werden könne41. Unter diesem Gesichtspunkt ließe sich eine Entschärfung der Debatte erreichen, wenn konstatiert würde, dass die Menschenwürde nicht um ihrer selbst willen, sondern nur in spezifischen Erscheinungsformen geschützt wird. Auf diese Weise ist jedenfalls das Argument der Unbestimmtheit des Rechts- oder Schutzgutes zu entkräften. 2. Menschenwürde als Konstruktionsprinzip Zu den zentralen Pfeilern eines modernen Strafrechts zählt ohne Zweifel der Schuldgrundsatz. Erstaunlicherweise handelt es sich jedoch um eine nach wie vor sehr umstrittene und daher keineswegs geklärte Kategorie; zudem ist nicht zuletzt wegen der Diskussion um die Einführung eines Unternehmensstrafrechts fortdauernde Bewegung in der Materie42. Nach Hassemer zählt der Schuldbegriff „zu den schwierigsten und dunkelsten Instrumenten des Strafrechtssystem“43. Pothast zufolge wird der Begriff umso dunkler, je mehr Klärungsversuche man zur Kenntnis nehme44. Metaphorisch betrachtet hat man es also mit einem Berg zu tun: aus der Ferne scheinen Dimensionen und Konturen klar, erst aus der Nähe besehen zeigen sich die Schwierigkeiten. In einer recht frühen Entscheidung hat der Große Senat für Strafsachen anlässlich einer durchaus spannenden wie herausfordernden Nötigungskonstellation mit Irrtumsfragen45 eine bis heute akzeptierte Grundlegung vorgenommen46. Alleine schon wegen ihrer gedanklichen und sprachlichen Klarheit verdient die durchaus luzide Herleitung nach wie vor Respekt47: 39

Kelker, in: FS für Puppe, S. 1673 ff. (1687 f.). Hörnle/Kremnitzer, Israel Law Review 44 (2012), S. 143 ff. (165 ff.); zustimmend: Knauer, ZStW 2014, 305 ff. (321 f.). 41 Hörnle, in: Hilgendorf (Hg.), Menschenwürde und Demütigung, 2013, S. 93; Hörnle/ Kremnitzer, Israel Law Review 44 (2012), S. 143 ff. (167). 42 Frister, Strafrecht Allgemeiner Teil, 3. Auflage, München 2008, S. 29 f. 43 Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, 2. Aufl., München 1990, S. 216 f. 44 Posthast, Die Unzulänglichkeit (1980), S. 312. 45 BGH (GS) 2, 194 ff. (194 f.). 46 Zustimmend: BVerfGE 20, 323 (332 f.). 47 BGH (GS) 2, 194 ff. (200). 40

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Strafe setzt Schuld voraus. Schuld ist Vorwerfbarkeit. Mit dem Unwerturteil der Schuld wird dem Täter vorgeworfen, daß er sich nicht rechtmäßig verhalten, daß er sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich für das Recht hätte entscheiden können.

Und zur Begründung dessen48 : Der innere Grund des Schuldvorwurfs liegt darin, daß der Mensch auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt und deshalb befähigt ist, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden, sein Verhalten nach den Normen des rechtlichen Sollens einzurichten und das rechtlich Verbotene zu vermeiden…

Sodann die conclusio49 : Wer weiß, daß das, wozu er sich in Freiheit entschließt, Unrecht ist, handelt schuldhaft, wenn er es gleichwohl tut.

Die den Indeterminismus akzentuierende Entscheidung aus dem Jahre 1952 ist mithin noch immer lesenswert50 ; zuweilen ist sie in Erinnerung zu rufen, wenn das dogmatische Gestrüpp zu wuchern droht. Soweit es um die vom BGH freilich nur angerissene Begründung des Schuldprinzips geht, scheint die verfassungsrechtliche Verankerung durch. Gewöhnlich wird – vor allem in der Lehrbuchliteratur – zuweilen eher pauschal auf das Rechtsstaatsprinzip, die Menschenwürde und das Allgemeine Persönlichkeitsrecht verwiesen51, da die Schuldausschließungs- und Entschuldigungsgründe sowie die Schuldfähigkeit im Fokus stehen52. Der verfassungsrechtliche Hintergrund wird gewissermaßen auf die bekannte Formel „nulla poena sine culpa“ komprimiert. Wiewohl sich das BVerfG mehrfach zum Schuldgrundsatz geäußert hat, sind erst in dem aktuellen Urteil betreffend die Verfassungsgemäßheit des sog. Verständigungsgesetzes53 die wesentlichen Gesichtspunkte strukturiert aufbereitet. Denn in der häufig erwähnten Entscheidung aus dem Jahre 1963, worin dem Grundsatz „nulla poena sine lege“ Verfassungsrang konzediert wurde, hat das BVerfG primär 48

BGH (GS) 2, 194 ff. (200). BGH (GS) 2, 194 ff. (201). 50 Die Entscheidung ist in Abkehr zum psychologischen Schuldbegriff beim normativen Schuldbegriff zu verorten. Dass wiederum unter dem Gesichtspunkt des funktionalen Schuldbegriffs, der seinerseits ebenfalls diskutiert wird, Vorbehalte angebracht werden können, liegt auf der Hand; vgl. zur Entwicklung und zum Diskussionsstand: Stratenwert/Kuhlen, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Auflage, München 2011, § 10 Rn. 2 ff. 51 Vgl. Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil, § 10 Rn. 2; Freund, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Auflage; Berlin u. a. 2009; § 4 Rn. 4. 52 Grund hierfür ist, dass die Herleitung und Begründung der Schuld in praxi – gleiches gilt für die klausurmäßige Subsumtion strafrechtlicher Tatbestände – dem Verfahren einschließlich der hierin zu treffenden Feststellungen gewissermaßen vorgelagert sind (instruktiv: Hassemer, a. a. O., S. 216). Es darf demnach solange von der Schuld ausgegangen werden, bis Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass wegen entsprechender Defizite eine Prüfung stattzufinden hat. 53 BVerfG, NJW 2013, 1058 ff. 49

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auf das Rechtsstaatsprinzip sowie flankierend auf Art. 2 Abs. 1 GG abgestellt54 ; unerwähnt ist hingegen Art. 1 Abs. 1 GG geblieben. Über eine weitere Zwischenstation55 wird schließlich in dem Beschluss vom 9. 3. 1994 eine unmittelbare Verbindung zwischen Schuldgrundsatz und Menschenwürde hergestellt und weitergehend begründet56. Die erwähnte Entscheidung zum sog. Deal gab somit erst Anlass57, die wesentlichen Gesichtspunkte zu präzisieren und zu extrapolieren. Dem Schuldgrundsatz kommt demnach – wie an anderer Stelle vorformuliert – Verfassungsrang zu58. Er wurzelt in der Menschenwürdegarantie, dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht sowie dem Rechtsstaatsprinzip59. Strafe als gerechte Vergeltung für rechtlich verbotenes Verhalten und als sozialethischer Tadel setzt unabdingbar individuelle Vorwerfbarkeit voraus. Deshalb60: Eine solche strafrechtliche Reaktion wäre ohne Feststellung der individuellen Vorwerfbarkeit mit der Garantie der Menschenwürde und dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbar…

Im Hinblick auf staatliche Strafe und deren notwendige Voraussetzungen ist es nach der verfassungsgerichtlichen Konzeption das identische – wenngleich auch (notwendigerweise) idealisierte – Menschenbild mit einem selbstbestimmten und mit Willensfreiheit ausgestattetem Individuum, welches die Brücke zwischen strafrechtlichem Schuldprinzip einerseits und verfassungsrechtlich verbürgter Menschenwürde andererseits schlägt. Über die im Schuldgrundsatz gleichfalls angelegten rechtsstaatlichen Anliegen werden Strafe und Schuld unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten sodann austariert: Straftatbestand und Rechtsfolge müssen sachgerecht aufeinander abgestimmt sein, die Strafe muss in einem gerechten Verhältnis zur Tatschwere sowie zum Verschulden des Täters stehen61; zudem ist die strafrechtliche oder strafrechtsähnliche Ahndung einer Tat rechtsstaatlich verboten, sofern keine Schuld vorliegt62. Denn nur unter diesen Voraussetzungen kann Strafe ihre Funktion des Herbeiführens eines gerechten Schuldausgleichs erfüllen63. Da sich 54

BVerfGE 20, 323 (331). BVerfGE 45, 187 (228, 259). 56 BVerfGE 90, 145 (173). Die Verbindung zur Menschenwürde wird bereits in BVerfGE 45, 187 ff. (259) hergestellt, freilich ohne nähere Begründung. 57 Ausgangspunkt der Überlegungen des BVerfG zur Verfassungsgemäßheit der strafprozessualen Verständigung ist das Schuldprinzip sowie – darauf aufbauend – der Grundsatz der Wahrheitserforschung. Denn zentrale Aufgabe des Strafprozesses ist nach Ansicht des BVerfG die Ermittlung des wahren Sachverhalts als Voraussetzung der Verwirklichung des materiellen Schuldprinzips; vgl.: BVerfG, NJW 2013, 1058 (1060). Das Schuldprinzip einschließlich dessen verfassungsrechtlicher Verankerung ist damit ein maßgeblicher Argumentationstopos in der Entscheidung. 58 BVerfG, NJW 2013, 1058 (1059). 59 BVerfG, NJW 2013, 1058 (1059). Auch: BVerfGE 45, 187 ff. (259). 60 BVerfG, NJW 2013, 1058 (1059). 61 BVerfG, NJW 2013, 1058 (1060). 62 BVerfGE 80, 109 ff. (120 m.w.Nachw.). 63 BVerfG, NJW 2013, 1058 (1060 m.w.Nachw.). 55

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im Schuldbegriff somit eine kardinale grundrechtliche Vorgabe und ein zentraler strafrechtlicher Grundsatz verbinden, lässt sich ohne weiteres konstatieren, dass die Menschwürde als Konstruktionsprinzip für das (Schuld-)Strafrecht anzusehen ist. 3. Rechtfertigung und Menschenwürde Schon in der bereits erwähnten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch ist angeklungen, dass in entsprechenden Konstellationen (straf-)rechtliche Erlaubnissätze aus Gründen des Rechtsgüterschutzes gerade mit Blick auf Art. 1 Abs. 1 GG aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht anerkannt werden dürfen64. Aktualisiert hat sich die Thematik bei der Diskussion um die Verfassungsgemäßheit des LuftSiG65. Denn in der maßgeblichen Regelung zur sog. Abschussermächtigung nach § 14 Abs. 3 LuftSiG66 war vorgesehen, dass eine unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt auf ein auch mit Passagieren besetztes Flugzeug zulässig sei, wenn die Gefahr bestünde, dass das Flugzeug gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden solle und der Waffeneinsatz das einzige Abwehrmittel darstelle. Mit Blick vor allem67 auf die terroristischen Anschläge vom 11. September 2001 in den USA hatte man damit insbesondere die „Renegade-Einsätze“68 vor Augen69. Neben der Frage der Zulässigkeit des bewaffneten Einsatzes der Bundeswehr im Innern unter Berücksichtigung von Art. 83 ff., 87a Abs. 2, 3, 4 GG70 wurde von vornherein auch die sog. Abschussermächtigung kritisch diskutiert71. Denn im Kern wurde durch die gesetzliche Regelung eine Abwägung zwischen dem Leben der im entführten Flugzeug befindlichen Passagiere und dem Leben der durch den Anschlag gefährdeten Bevölkerung ermöglicht; und zwar dergestalt, dass die Tötung Ersterer zur Gefahrenabwehr unter den genannten Voraussetzungen zulässig sein sollte. Es ging also um „Leben gegen Leben“72. 64

BVerfG, NJW 1993, 1751 (1764). BVerfG, NJW 2006, 751 ff. 66 Zur Genese: Gesetzentwurf der BReg vom 7. 11. 2003 (BR-Drs. 827/03); Empfehlungen der Ausschüsse vom 9. 12. 2003 (BR-Drs. 827/1/03); Anträge des Landes Nordrhein-Westfalen und der Hansestadt Bremen vom 17. 12. 2003 und vom 18. 12. 2003 (BR-Drs. 827/4/03, 827/5/03, 827/6/03, 827/7/03 und 827/8/03); Gesetzentwurf der BReg vom 14. 1. 2004 (BTDrs. 15/2361). 67 Ein weiteres Vorkommnis war der Flug eines geistig verwirrten Täters mit einem gestohlenen Kleinflugzeug über Frankfurt am 5. 1. 2003; Baumann, Jura 2006, 447 (448). 68 Es geht um den Missbrauch von – zumeist entführten – (Zivil-)Flugzeugen als Waffe gegen die Bevölkerung; hierzu: Gramm, NZWehrr 2003, 89. 69 Vgl. hierzu auch: BVerfG, NJW 2006, 751 (758) unter Hinweis auf die gesetzgeberischen Motive. 70 Wilkesmann, NVwZ 2002, 1316 (1321); Krings/Burkiczak, NWVBl. 2004, 249 ff.; Pieroth/Hartmann, Jura 2005, 729 (731 ff.). 71 Baumann, DÖV 2004, 853 (860); ders., Jura 2006, 447 (448); Baldus, NVwZ 2004, 1278 (1285); Hartleb, NJW 2005, 1397 (1401); Pieroth/Hartmann, Jura 2005, 729 f. 72 Pieroth/Hartmann, Jura 2005, 729. 65

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Das BVerfG hat die Regelung des § 14 Abs. 3 LuftSiG voraussehbar wegen Unvereinbarkeit mit Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG für nichtig befunden; unter anderem unter Rekurs auf die sog. Objektformel. Denn die im entführten Flugzeug befindlichen Personen würden durch die Abwehrmaßnahme zum bloßen Objekt der staatlichen Rettungsaktion zum Schutze anderer degradiert73. Hierzu wird gerichtlicherseits Folgendes festgehalten74: Sie werden dadurch, dass ihre Tötung als Mittel zur Rettung anderer benutzt wird, verdinglicht und zugleich entrechtet; indem über ihr Leben von Staats wegen einseitig verfügt wird, wird den als Opfern selbst schutzbedürftigen Flugzeuginsassen der Wert abgesprochen, der dem Menschen um seiner selbst willen zukommt.

Anders bewertete das BVerfG demgegenüber die Konstellation, dass sich die unmittelbare Waffengewalt gegen ein unbemanntes Luftfahrzeug oder nur gegen Personen richtet, welche das Luftfahrzeug als Tatwaffe gegen das Leben der (Boden-) Bevölkerung einsetzen wollen75. Vergleichbar der Situation des sog. finalen Rettungsschusses76 wird insbesondere ein Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 GG nicht gesehen77. Denn die Täter haben die Notwendigkeit staatlichen Eingreifens selbst herbeigeführt und können durch Distanzierung vom ihrem Vorhaben die anstehende Intervention abwenden78. Aus verfassungsrechtlicher Sicht wird wohl zu Recht die Entscheidung als Absage an solche Stimmen in der Literatur begriffen, welche die grundrechtlich verbürgte Menschwürde entgegen ihrer absoluten Konzeption gewissen Relativierungen79 unterworfen sehen wollen80. Aus spezifisch strafrechtlicher Perspektive ist festzuhalten, dass die Strafbarkeit von Tötungsdelikten Ausfluss von Menschenwürde ist. Umgekehrt sind wiederum die die Tötung von Menschen rechtfertigenden Erlaubnissätze im Lichte von Art. 1 Abs. 1 GG zu bewerten. Denn Art. 1 Abs. 1 GG schützt die menschliche Existenz abwägungsfrei81 um ihrer selbst willen und beinhaltet insofern auch staatliche Schutzpflichten.

73

BVerfG, NJW 2006, 751 (758). BVerfG, NJW 2006, 751 (758). 75 BVerfG, NJW 2006, 751 (760). 76 Baumann, Jura 2006, 447 (453). 77 BVerfG, NJW 2006, 751 (760). 78 BVerfG, NJW 2006, 751 (761). 79 Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Rn. 43 ff.; Schlehofer, GA 1999, 357 ff. (362 ff.). 80 Baumann, Jura 2006, 447 (448, 452); zum Kontrapunkt: Höfling, JuS 1995, 857 ff. (859 m.w.Nachw.). 81 BVerfGE 39, 1 (59): „Jedes menschliche Leben … ist als solches gleich wertvoll und kann deshalb keiner irgendwie gearteten unterschiedlichen Bewertung oder gar zahlenmäßigen Abwägung unterworfen werden. 74

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4. Menschenwürde und lebenslange Freiheitsstrafe Verlässt man die tatbestandliche Seite von Strafrechtsnormen, die alle Elemente der Haftungsbegründung umfasst, ergeben sich auf der Rechtsfolgenebene ebenfalls grundrechtliche Anforderungen. Moduliert werden sowohl die Strafen82 als auch die Maßregeln der Sicherung und Besserung83 ; und zwar zumeist betreffend ihrer konkreten Ausgestaltung. In diesem Zusammenhang hat auch die Menschenwürde ihren Platz. Herauszugreifen ist exemplarisch die nach wie vor aktuelle84 Entscheidung des BVerfG aus dem Jahre 1977 zur Frage der Verfassungsgemäßheit der lebenslangen Freiheitsstrafe. Sachverständig beraten hat sich das Gericht unter anderem mit der Frage möglicher Haftschäden durch den Vollzug der lebenslangen Freiheitsstrafe und den Möglichkeiten der strafvollzuglichen Gegensteuerung85 sowie der präventiven Wirkung lebenslanger Freiheitsstrafen bei Mord86 befasst87. Nach grundsätzlichen Ausführungen zur Bedeutung der Menschenwürde auf dem Gebiet der Strafrechtspflege88 destillierte das BVerfG aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip die Verpflichtung des Staates, „jenes Existenzminimum zu gewähren, das ein menschenwürdiges Dasein überhaupt erst ausmacht“89. Bezogen auf die lebenslange Freiheitsstrafe folgt hieraus90 : Mit einer so verstandenen Menschenwürde wäre es unvereinbar, wenn der Staat für sich in Anspruch nehmen würde, den Menschen zwangsweise seiner Freiheit zu entkleiden, ohne daß zumindest die Chance für ihn besteht, je wieder der Freiheit teilhaftig werden zu können.

Da das Gericht gravierende Haftschäden durch den Vollzug der lebenslangen Freiheitsstrafe nicht festzustellen vermochte91, die freilich einen Verstoß gegen Art. 1 82

Zu Strafen beispielsweise: BVerfGE 20, 323 ff.; 45, 187 ff.; 90, 145 ff. Zur Sicherungsverwahrung: BVerfGE 109, 133 ff; BVerfG, NJW 2012, 3357 ff. 84 Dies ergibt sich aus der Entscheidung zur Sicherungsverwahrung: BVerfGE 109, 133 ff. (150 f.). In einer Parallele zur Entscheidung im 45. Bd. heißt es dort: „Daher muss die Sicherungsverwahrung ebenso wie der Strafvollzug darauf ausgerichtet sein, die Voraussetzungen für ein verantwortliches Leben in Freiheit zu schaffen.“ 85 BVerfGE 45, 187 ff. (206 ff., 230 ff.). 86 BVerfGE 45, 187 ff. (211 ff.). 87 Einen weiteren Komplex bildete die Frage nach tatbestandlicher Ausgestaltung von § 211 StGB und der absoluten Strafdrohung; vgl. BVerfGE 45, 187 ff. (213 ff.). Mit Blick auf die aktuelle Reformdiskussion betreffend §§ 211, 212 StGB erlangen auch diese Passagen durchaus wieder verstärkt Relevanz. 88 BVerfGE 45, 187 ff. (227 f.). Dies kulminiert ist der Feststellung: „Auf dem Gebiet der Strafrechtspflege, auf dem höchste Anforderungen an die Gerechtigkeit gestellt werden, bestimmt Art. 1 Abs. 1 GG die Auffassung vom Wesen der Strafe und das Verhältnis von Schuld und Sühne.“ 89 BVerfGE 45, 187 ff. (228). 90 BVerfGE 45, 187 ff. (229). 91 BVerfGE 45, 187 ff. (237). Zum Gefängnis führt Bieri (a. a. O., S. 285) allerdings Folgendes aus: „Dort steht täglich und in hundert Kleinigkeiten die Würde der Bestraften auf dem 83

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Abs. 1 GG durchaus hätten begründen können92, erlangten der sog. Behandlungsvollzug mit dem verfassungsrechtlich unterlegten Anspruch auf Resozialisierung93 sowie die gesetzlich zu regelnde Möglichkeit der Strafrestaussetzung zur Bewährung94 zentrale Bedeutung. Es handelt sich gewissermaßen um die Kompensationsmaßnahmen, wenn dem Gesetzgeber wegen der ihm zustehenden Gestaltungsmöglichkeiten zugestanden wird, die lebenslange Freiheitsstrafe als Sanktion bei bestimmten – d. h. schwersten – Delikten vorzusehen95. Die Entscheidung des BVerfG lässt sich ohne weiteres dahingehend interpretieren, dass die Sanktion der lebenslangen Freiheitsstrafe durchweg Ausnahmecharakter trägt. Diese Sichtweise ist durch Art. 1 Abs. 1 GG geboten. Denn hieraus wurde in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip die These von der grundsätzlichen Endlichkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe geboren96. Der Verurteilte muss demnach die konkrete wie realisierbare Chance haben, zu einem späteren Zeitpunkt die Freiheit zu erlangen; … denn der Kern der Menschenwürde wird getroffen, wenn der Verurteilte ungeachtet der Entwicklung seiner Persönlichkeit jegliche Hoffnung, seine Freiheit wiederzuerlangen, aufgeben muss97.

Hinsichtlich der Sanktion der lebenslangen Freiheitsstrafe ist daher dialektisch zu differenzieren. Unter Berücksichtigung vor allem generalpräventiver Aspekte, einschließlich unter Umständen bestehender, mitunter vielleicht kruden Bestrafungsvorstellungen in der Bevölkerung98, ist die abstrakte Androhung legislativ zulässig99; es handelt sich um den symbolischen Teil100. Auch darf sie in praxi verhängt werden. Allerdings ist klar, dass die gesetzlich vorgesehene und im Einzelfall sodann verhängte Freiheitsstrafe grundsätzlich101 endlich ist. Mit anderen Worten: Lebenslang ist nicht lebenslang. Der Grund liegt darin, dass die Menschwürde und die hiermit zu Spiel. Gefängnisse sind totale Institutionen, und als solche sind sie eine Bedrohung für die Würde.“ 92 BVerfGE 45, 187 ff. (238). 93 BVerfGE 45, 187 ff. (239). 94 BVerfGE 45, 187 ff. (246). 95 BVerfGE 45, 187 ff. (253). Im Focus standen in der Entscheidung die Tötungsdelikte. Freilich wird aus der Entscheidung insofern keine Beschränkung herauszulesen sein. 96 BVerfGE 45, 187 ff. (245). 97 BVerfGE 45, 187 ff. (245). 98 Hierzu: Steinert, Kleine Ermutigung für den kritischen Strafrechtler, sich vom „Strafbedürfnis der Bevölkerung“ (und seinen Produzenten) nicht einschüchtern zu lassen; in: Seminar: Abweichendes Verhalten IV, Lüderssen/Sack (Hg.), Frankfurt a.M. 1980, S. 302 ff. 99 Zu den Strafzwecken mit Blick auf die lebenslange Freiheitsstrafe: BVerfGE 45, 187 ff. (254 ff.). 100 Fischer, AnwBl 2014, 883 ff. (885). 101 Entgegenstehen können Sicherheitsinteressen: BVerfGE 45, 187 ff. (242); 109, 133 ff. (151). Demnach ist es der staatlichen Gemeinschaft nicht verwehrt, sich gegen gefährliche Straftäter durch Freiheitsentzug zu sichern.

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verbindende Gewährleistung von Individualfreiheit dem grundsätzlich entgegenstehen. Zu begrüßen ist es daher, wenn unter Rekurs auf „alte“ Postulate102 nunmehr bei der beabsichtigten Reform der Tötungsdelikte im Sinne „Absolutes Rechtsgut Leben – keine absolute Strafe“103 die Sanktion der lebenslangen Freiheitsstrafe zumindest weiter zurückgedrängt werden soll. 5. Exkurs: Todesstrafe und Menschenwürde Über die Zulässigkeit der Todesstrafe zu diskutieren, erscheint eigentlich müßig. Denn die gesetzlichen Vorgaben lassen es an Eindeutigkeit nicht fehlen. Nach Art. 102 GG ist die Todesstrafe abgeschafft. Auch international ergibt sich dies beispielsweise aus dem Protokoll Nr. 6 und dem Protokoll Nr. 13 zur EMRK, sodass weder in Friedens- noch in Kriegszeiten eine entsprechende Verurteilung oder Vollstreckung zulässig ist. Gleichwohl oder gerade wegen dieser vermeintlichen Selbstverständlichkeit wird neuerdings empfohlen, die Todesstrafe (wieder104) zu thematisieren105. Anlass sind Befragungen der Bevölkerung und insbesondere von Studierenden. Entgegen dem vermeintlichen Trend einer abnehmenden Zustimmung zur Todesstrafe lassen neuere Befragungen des akademischen Nachwuchses – vor allem von Jurastudenten – eine gegenläufige Entwicklung erkennen106 ; was als besorgniserregend qualifiziert werden kann. Mithin lässt sich ohne weiteres die Frage stellen, wie belastbar das Normengerüst sich darstellt und insbesondere, welche Vorgaben sich aus Art. 1 Abs. 1 GG ergeben. Das BVerfG hat die Frage offen gelassen, ob die Todesstrafe einen Verstoß gegen die Menschenwürde darstellen kann107: Ob eine prinzipielle Ächtung der Todesstrafe Inhalt von Art. 1 Abs. 1 GG… ist, bedarf… keiner Entscheidung.

Demgegenüber ist in der Rspr.108 und Lit.109 überwiegend anerkannt, dass die Garantie der Menschenwürde die Verhängung der Todesstrafe ausschließt. In der Tat würde es einen erdrutschartigen Argumentationsbruch darstellen, wenn angesichts der erwähnten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch und der hieraus ableit102

Jung/Müller-Dietz, Langer Freiheitsentzug – wie lange noch?, Bonn 1994, S. 11 ff.; Eser, AnwBl 2014, 877. 103 Deckers, AnwBl 2014, 868 ff. (870). 104 Zur Diskussion der Wiedereinführung der Todesstrafe im letzten Jahrhundert vgl. auch: BVerfGE 45, 187 ff. (247 m.w.Nachw.). 105 Streng, Die Todesstrafe – eigentlich kein Thema? in: jM 2014, 29 ff. 106 Ausführlich hierzu: Streng, a. a. O., 32 f. 107 BVerfGE 94, 115 ff. (138). 108 BGHSt 41, 317 (325). 109 Jarass/Pieroth, GG, Art. 1 Rn. 18; AK-GG/Podlech, GG, Art. 1 Rn. 43 jeweils m.w.Nachw. Vgl. Auch Streng, a. a. O., 34; Hufen, JuS 2010, 8.

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baren Folgerungen die Implementierung der Todesstrafe nicht gegen die Menschenwürdegarantie verstoßen würde. Hinzu kommt, dass die EMRK neuerdings in Richtung einer Auslegungshilfe auf verfassungsrechtlicher Ebene eine deutliche Aufwertung erfahren hat. Bei der Interpretation von Art. 1 Abs. 1 GG müssten demnach insbesondere die Vorgaben der EMRK Beachtung finden110. V. Strafprozessrecht und Menschenwürde Im Bereich des Strafprozessrechts wird der verfahrensrechtlich bedeutsame, allerdings nicht ausdrücklich kodifizierte111 nemo tenetur-Grundsatz (auch) mit der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG begründend unterlegt112. Der Beschuldigte darf demnach nicht gezwungen werden, durch selbstbelastende Angaben zu seiner Überführung oder Verurteilung beitragen zu müssen. Rogall zufolge liegt das Menschenunwürdige bei einem Verstoß gegen den Grundsatz darin begründet, dass der Beschuldigte gegen den naturrechtlichen Gedanken des Selbstschutzes und gegen die psychologischen „Gesetzmäßigkeiten“ des Selbsterhaltungstriebes zur Selbstüberführung gezwungen wird113. Ohne eine eigene oder tiefergehende Begründung hierfür zu entwickeln114, hat das BVerfG die verfassungsrechtliche Unterfütterung der nahezu schon als Selbstverständlichkeit betrachteten Selbstbelastungsfreiheit bestätigt115. Unter anderem führte das Gericht hierzu aus116 : Die Aussagefreiheit des Beschuldigten und das Verbot des Zwanges zur Selbstbelastung (nemo tenetur se ipsum accusare) sind notwendiger Ausdruck einer auf dem Leitgedanken der Achtung der Menschenwürde beruhenden rechtsstaatlichen Grundhaltung… Der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit ist im Rechtsstaatsprinzip verankert und hat Verfassungsrang.

Mithin sind sowohl der tradierte Grundsatz wie seine rechtliche Fundierung etabliert. Einen Prüfstein besonderer Art für die Belastbarkeit des Verfahrensgrundsatzes einschließlich seiner Herleitung bildet freilich die Thematik der Folter. Namentlich an dem Aufsehen erregenden und zwischenzeitlich auch verfilmten Entführungsfall „Jakob von Metzler“, welcher sich wiederum in die Fälle „Daschner“117

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Zum „Dialog der Gerichte“: BVerfG, NJW 2011, 1931 ff. (1935 ff.). Eine Ausnahme bildet die Verfassung von Brandenburg: Art. 52 Abs. 5 BrbgVerf. 112 BGHSt 5, 332 ff. (333 f.); 14, 358 ff. (364); BVerfGE 55, 144 ff.(150); SK-StPO/Rogall, Vor § 133 ff. Rn. 132 m.w.N. Vgl. auch: Meyer-Goßner/Schmitt, § 136a Rn. 1; LR-StPO/Gleß, § 136a Rn. 3; KK-Diemer, § 136a Rn. 1. 113 SK-StPO/Rogall, Vor § 133 Rn. 132 m.w.N. 114 Vgl.: BVerfGE 56, 37 ff. (43); 80, 109 ff. (121). 115 BVerfGE 38, 105 ff. (113); 55, 144 ff. (150); 56, 37 ff. (43); 80, 109 ff. (121); BVerfG, NJW 2013, 1058 (1061). 116 BVerfG, NJW 2013, 1058 (1061). 117 LG Frankfurt, NJW 2005, 692 ff. 111

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und „Magnus Gäfgen“118 aufsplittete, entzündete sich eine lebhafte Debatte, in deren Zentrum auch Art. 1 Abs. 1 GG stand. Was war – grob skizziert119 – geschehen? Im Rahmen der Entführung des Kindes Jakob von Metzler vermutete die polizeiliche Ermittlungsbehörde, dass das Entführungsopfer noch lebe, aber in akuter Lebensgefahr sei. Der Entführer Magnus Gäfgen schwieg jedoch und machte insbesondere keine Angaben zum Aufenthaltsort des Opfers. Als Vizepolizeipräsident und damit als vorgesetzter Beamter ordnete Daschner schließlich Folgendes an: Zur Rettung des Lebens des entführten Kindes habe ich angeordnet, daß Gäfken - nach vorheriger Androhung - unter ärztlicher Aufsicht - durch Zufügung von Schmerzen (keine Verletzungen) erneut zu befragen ist…

Dieser Akt der – menschlich und auch moralisch unter Umständen nachvollziehbaren120, indessen jedoch strafbaren – Zivilcourage war und ist in den Akten vermerkt. Er ist Ausgangs- und Kernpunkt der Diskussion, zu der sich das BVerfG bedauerlicherweise nicht äußerte, da die Verfassungsbeschwerde gegen das Revisionsurteil des BGH nicht zur Entscheidung angenommen wurde. Beide Instanzen des EGMR bejahten bekanntermaßen einen Verstoß gegen das Folterverbot nach Art. 3 EMRK121, was indessen für die verfassungsrechtliche Bewertung zunächst ohne Relevanz ist. Im Rahmen der Erörterung von möglichen Rechtfertigungsgründen nach §§ 32, 34 StGB setzte das LG Frankfurt im „Fall Dascher“ grundrechtliche Grenzen. Die Handlung verstoße gegen Art. 1 Abs. 1 GG122, was sich auch aus Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG ableiten ließe123. Keine Person dürfe daher durch staatliche Gewalt zu einem Objekt, zu einem Ausbund von Angst vor Schmerzen gemacht werden124. In der Literatur hingegen wurde die „täterschutzorientierte Interpretation von Art. 1 Abs. 1 GG und die völlige Ausblendung der Menschenwürde des Opfers“ kritisiert125. Es wurde vor dem Hintergrund einer innergrundrechtlichen Abwägung bei Art. 1 Abs. 1 GG126 für eine in engen Grenzen zulässige „Rettungsfolter“ plädiert127.

118 LG Frankfurt, Urt. v. 28. 7. 2003 – 5/22 Ks 2/03; EGMR, NStZ 2008, 699 ff.; EGMR, NJW 2010, 3145 ff. 119 Ausführlich: LG Frankfurt, NJW 2005, 692. 120 In diese Richtung: Jerouschek, JuS 2005, 296 ff. (302). 121 EGMR, NStZ 2008, 699 ff. (700); EGMR, NJW 2010, 3145 ff. 122 LG Frankfurt, NJW 2005, 692 ff. (693). 123 LG Frankfurt, NJW 2005, 692 ff. (693). 124 LG Frankfurt, NJW 2005, 692 ff. (693). 125 Götz, NJW 2005, 953 (957). 126 Götz, NJW 2005, 953 (955).

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Deren verfassungsrechtliche Voraussetzung ist die Einschränkung des Schutzbereichs der Menschenwürde des Täters128. Demgegenüber wurde ein Festhalten am ausnahmslosen Folterverbot proklamiert, sodass die strafrechtliche Lösung von Einzelfällen mit dem entsprechenden Konfliktpotential nur auf der Schuldebene stattfinden kann129. Aus spezifisch strafprozessualer Sicht ist es allerdings zu keiner Relativierung des Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit gekommen. Um die strafrechtliche Bewertung der primär präventiv-polizeirechtlichen Maßnahme mit diffizilen Kriterien und Abschichtungen, die da heißen „rechtswidrig“, „nicht rechtswidrig“, „rechtmäßig“ oder „entschuldigt“, mag gestritten werden. Mit der Entscheidung des EGMR vom 1. 6. 2010 wurde das Folterverbot nach Art. 3 EMRK in seiner Absolutheit und Ausnahmelosigkeit bestätigt. Überdies enthält Art. 15 VN-Anti-FolterÜbk ein innerstaatlich geltendes Verwertungsverbot von durch Folter herbeigeführten Aussagen130. Dahinter kann Art. 1 Abs. 1 GG in Bezug auf den nemo tenetur-Grundsatz nicht zurückstehen. Denn die Aufspaltung des Falles in präventivpolizeiliche, strafrechtliche und strafprozessuale Kategorien lässt nur die unterschiedlichen Facetten deutlich werden. Verfahrensrechtlich kommt es zu keiner Relativierung von Art. 1 Abs. 1 GG. Denn es bleibt insbesondere bei seiner Materialisierung in der einfachgesetzlichen Vorschrift des § 136a StPO und dem darin enthaltenen Verwertungsverbot. VI. Menschenwürde und Strafvollzug Die Vollstreckung von Freiheitsstrafen im Rahmen des Strafvollzugs, also die innerstaatliche Verbannung des verurteilten Straftäters in nach außen hin weitgehend abgeschottete (Justizvollzugs-)Anstalten – auch Gefängnisse genannt –, führt notwendigerweise zu Einschränkungen von Grundrechten131. Dies ist in den Strafvollzugsgesetzen hinlänglich zum Ausdruck gebracht, obwohl die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe zunächst nur eine Einschränkung der persönlichen Freiheit intendiert. Oder anders gewendet: Da für die Verbüßung einer ausgeurteilten Freiheitsstrafe

127 Zur Zulässigkeit der Rettungsfolter: Jerouscheck, JuS 2005, 296 ff. (301 f.); Erb, NStZ 2005, 593 ff.; ders., Jura 2005, 24 ff. vgl. zur Thematik auch: Brugger, JZ 2000, 165 ff. (169); Miehe, NJW 2003, 1219 f. 128 Götz, NJW 2005, 953 (956). 129 Jäger, JA 2008, 678 ff. ( 683 f.); ähnlich: Hufen, JuS 2010, 10. 130 Hierzu: HansOLG Hamburg, NJW 2005, 2326; KK-Diemer, § 136a Rn. 1. 131 Aus neuerer Zeit: BVerfG, Beschl. v. 7. 11. 2012, 2 BvR 1567/11 (Größe des Haftraumes); BVerfG, Beschl. v. 29. 2. 2012, 2 BvR 368/10 sowie Beschl. v. 5. 8. 2012, 2 BvR 729/08 (Lockerungen); BVerfG, Beschl. v. 28. 2. 2013, 2 BvR 612/12 (Rechtsschutz); BVerfG, Beschl. v. 25. 9. 2013, 2 BvR 1582/13 (Rechtsschutz); BVerfG, Beschl. v. 20. 3. 2013, 2 BvR 67/ 11 (Nichtraucherschutz); BVerfG, Beschl. v. 28. 2. 2013, 2 BvR 612/12 (Ausführung). Vgl. hierzu auch: Roth, NStZ 2014, 624 ff. Die Menschenwürdegarantie hatte hierbei Relevanz bei „Größe des Haftraums“ sowie bei „Lockerungen“.

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grundsätzlich nichts anderes als Gefängnisse vorhanden sind, kommt es zwangsläufig zu einer Beschränkung weiterer Grundrechte. In der bereits erörterten Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe hat sich das BVerfG mit den tatsächlichen Rahmenbedingungen nicht auseinandergesetzt, diese vielmehr unhinterfragt als gegeben vorausgesetzt132. Mit Blick auf die verfassungsrechtlichen Vorgaben ging es zur Legitimation der absoluten Strafe sodann lediglich darum, mit der Aufgabe der Resozialisierung und der Strafrestaussetzung zur Bewährung eine grundrechtsverträgliche Ausgestaltung der Wirklichkeit des Vollzugs der lebenslangen Freiheitsstrafe und der sich hieraus ergebenden Belastungen kompensatorisch vorzugeben. Es handelt sich – bei allen möglichen Kritikpunkten – gewissermaßen um einen Meilenstein auch im Vollzugsrecht. Zu diesen Meilensteinen ist sicherlich auch die Entscheidung aus dem Jahre 1972133 zu zählen. Das BVerfG verabschiedete134 bekanntlich die hergekommene Ausgestaltung des Strafvollzugs als sog. besonderes Gewaltverhältnis mit der darin angelegten Möglichkeit, Grundrechte von Strafgefangenen mittels schlichter Verwaltungsvorschriften zu relativieren bzw. zu beschränken135. Demnach können deren Grundrechte nur durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden136. An maßgeblicher Stelle formulierte das Gericht137: Das Grundgesetz ist eine wertgebundene Ordnung, die den Schutz von Freiheit und Menschenwürde als den obersten Zweck allen Rechts erkennt; sein Menschenbild ist allerdings nicht das des selbstherrlichen Individuums, sondern das der in der Gemeinschaft stehenden und ihr vielfältig verpflichteten Persönlichkeit… In Art. 1 Abs. 3 GG werden die Grundrechte für Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung für unmittelbar verbindlich erklärt. Dieser umfassenden Bindung der staatlichen Gewalt widerspräche es, wenn im Strafvollzug die Grundrechte beliebig oder nach Ermessen eingeschränkt werden können.

Festzuhalten ist, dass im Ausgangspunkt eine Bezugnahme auf die Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG erfolgte; freilich nur in allgemeiner Form. Sedes materiae bildeten ausgehend von der konkreten Fallgestaltung vielmehr die Vorschriften der Art. 5 Abs. 2, 10 Abs. 2 GG sowie Art. 104 Abs. 1, 2 und Art. 2 Abs. 2 S. 2, 3 GG und sodann die eigentliche Frage, ob die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für eine ordnungsgemäße Beschränkung von Grundrechten vorlagen. Im Bereich 132 An anderer Stelle wurde diese Lücke durch das BVerfG erkannt. So stellte das Gericht fest, dass das GG mit Ausnahme des in Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG niedergelegten Misshandlungsverbots keine Aussage über die Art und Weise enthält, in der Freiheitsstrafe zu vollziehen ist; vgl.: BVerfGE 33, 1 ff. (10). 133 BVerfGE 33, 1 ff. 134 Müller-Dietz, NJW 1972, 1161; ders., Menschenrechte und Strafvollzug, in: Langer Freiheitsentzug – wie lange noch?, Jung/Müller-Dietz (Hg.), Bonn 1994, S. 43 ff. (46). 135 BVerfGE 33, 1 ff. (10). 136 BVerfGE 33, 1 ff. (9). 137 BVerfGE 33, 1 ff. (10 f.).

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des Möglichen hätte es unter Umständen aber auch gelegen, aus Art. 1 Abs. 1 GG dem Individuum gewissermaßen als Zeichen seiner Menschenwürde eine Grundausstattung an Rechten und deren unveräußerliche Inhaberschaft zuzuerkennen. VII. Zusammenfassung und Ausblick Dem BVerfG zufolge gehören die Achtung und der Schutz der Menschenwürde zu den Konstitutionsprinzipien des Grundgesetzes138. Dieser Auftrag ist an alle Staatsgewalt adressiert139 und erfasst insbesondere auch die Strafrechtspflege. Vor diesem Hintergrund scheint der Ertrag auf den ersten Blick bescheiden auszufallen. Strafrechtlich betrachtet ergibt sich aus Art. 1 Abs. 1 GG der Aspekt des Lebensschutzes im Sinne einer schlichten Existenzerhaltung mit der Konsequenz eines Kodifikationsgebots betreffend Tötungsdelikte und Einschränkungen im Bereich der Rechtfertigungsgründe bzw. Erlaubnissätze. Des Weiteren resultiert aus der Menschenwürde – in Grenzen – ein Schutz der individuellen Freiheit als Limitierung staatlicher Sanktionierung im Bereich der Freiheitsstrafe; im Verbund mit anderen verfassungsrechtlichen Vorgaben ergeben sich in diesem Zusammenhang für den Strafvollzug maßgebliche Gestaltungslinien. Als tragender Begründungsstrang lassen sich daneben die Gewährleistungen aus Art. 1 Abs. 1 GG beim Schuldgrundsatz sowie beim Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit ausmachen. Schließlich ergibt sich aus der Menschenwürde ein Verbot der Todesstrafe. Nach Dürig darf die Menschenwürde allerdings nicht zu „kleiner Münze“ geschlagen werden140. Ihrer überragenden Bedeutung würde es also keinesfalls entsprechen, sie inflationär an vielen Stellen auffinden oder nachweisen zu können. Zu ihrer Einzigartigkeit gehört es demnach, sie auf einen Kernbereich reduziert zu sehen. Dem korrespondiert, dass eine Verbindung nur zu maßgeblichen Grundsätzen des Straf- und Strafprozessrechts hergestellt werden kann. Gleiches gilt für ihre Transformation als strafrechtliches Rechtsgut, was eine unmittelbare Konsequenz des sich aus Art. 1 Abs. 1 GG ergebenden Schutzgedankens ist. Ähnlich verhält es sich beim Verbot der Todesstrafe und der Limitierung von Erlaubnissätzen. In diesem Sinne reicht es aus, die Menschenwürde an zentralen Schaltstellen im Strafrecht auszumachen. Um ihrer selbst willen, ist mit ihr – auch künftig – zurückhaltend umzugehen. Umgekehrt vermag die Menschenwürde durch ihre feine Dosierung sodann die mit ihr unterlegten Grundsätze und Postulate in besonderer Art und Weise zu akzentuieren.

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BVerfGE 45, 187 ff. (227). BVerfGE 45, 187 ff. (227). 140 Hierzu: Pieroth/Hartmann, Jura 2005, 729; Dürig, in: Maunz/Dürig, GG (1958), Art. 1 Rn. 29. 139

Von Savigny lernen Notae minimae zum Projekt eines einheitlichen Kaufrechts für die EU Von Tiziana J. Chiusi, Saarbrücken Einleitung Das Projekt der europäischen Integration soll dem Kontinent Frieden und Wohlstand sichern. Mittlerweile – und Gott sei Dank – gehört es fast zu den beliebten Allgemeinplätzen von Politikern, bei feierlichen Reden zu beteuern, dass diese Ziele in den vergangenen fünfzig Jahren gerade dank der Idee der europäischen Einheit erreicht wurden. Bei der schrittweisen Verwirklichung dieses Projekts ist es stets unerlässlich gewesen, den Weg des Kompromisses einzuschlagen. Selbst als die europäische Gemeinschaft aus einer kleinen, homogenen Gruppe von Gründerstaaten bestand, war es nicht einfach, unterschiedliche Interessen in Einklang zu bringen; im Europa von 28 Staaten ist die Suche nach Ergebnissen, die für alle Mitgliedstaaten tragbar sind, so schwierig geworden, dass gelegentlich der Eindruck entsteht, im Rahmen der diversen Gipfel würden eher gesichtswahrende Papiere produziert als wirkliche Entscheidungen getroffen. Kaum dass man dann doch zu einer Entscheidung gekommen ist, beginnt zu Hause, vor der nationalen Öffentlichkeit, der Kampf um die Deutungshoheit der meistens sowohl auslegungsfähigen als auch auslegungsbedürftigen Beschlüsse. Dabei sind die politische Verantwortung und der Einflussbereich der Europäischen Union als Garant und Motor der Demokratie auf dem Kontinent seit dem Fall der Sowjetunion stets gewachsen, gleich wie die wirtschaftliche Rolle der EU in der Welt. Dass die damit verbundene Rolle effektiver und zielgerichteter ausgeübt werden kann, je fortgeschrittener die politische Integration der Union ist, dürfte unumstritten sein. Die Bereitschaft der Mitgliedstaaten aber ist auf diesem Feld unterschiedlich ausgeprägt. Dabei laufen die Unterschiede nicht nur zwischen den Staaten sondern auch innerhalb der Staaten quer durch die einzelnen Interessengruppen. Die Ablehnung der sog. europäischen Verfassung, die Drohung von britischer Seite mit einer Volksabstimmung über die Zugehörigkeit Großbritanniens zur EU, die wiederkehrende Diskussion über die Vernachlässigung des Prinzips der Subsidiarität durch die Kommission, die krisenbedingte zunehmende Abneigung gegenüber dem Euro in vielen Staaten der Union sind insoweit diffuse Symptome eines Unbehagens, das erst genommen werden sollte. Dieses ist nämlich oft dem Umstand geschuldet, dass die Verlagerung von Kompetenzen und Souveränität als ein Verlust an Freiheit von den

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Bürgern empfunden wird und darf daher nicht als intellektuelles Unvermögen, komplexe Zusammenhänge zu erfassen, banalisiert werden, oder als plumper Nationalismus verunglimpft werden. Die Vorschläge der Kommission kommen oft einer Einmischung in innere Angelegenheiten gleich, die Überreglementierung, die sich manchmal in den sonderbarsten Formen ausdrückt, repräsentiert in den Augen von vielen den Versuch, das Leben der Bürger in allen Winkeln zu steuern. Gerade das ist aber schwer zu akzeptieren, weil die Mechanismen, die zu solchen Entscheidungen führen, als nicht kontrollierbar erscheinen und diejenigen Personen, die sie treffen, als „weit weg“ und vor allem von der Pflicht zur Rechenschaft entbunden betrachtet werden, welcher die nationalen Politiker durch die Wahlen unterstehen.1 In der Tat stellt es ein Paradoxon der EU dar, dass dem allgemeinen Bekenntnis zur Freiheit und Demokratie ein gewisses Defizit an demokratischen Abläufen bei dem Funktionieren ihrer politischen Institutionen gegenübersteht, so dass die EU, was Demokratiestandards angeht, sicherlich ihren Mitgliedsstaaten hinterherhinkt. Daraus folgt m. E., dass letztendlich die entscheidende Frage für die Zukunft der Europäischen Union sich auf den Grad an Freiheit fokussiert, den sie garantieren kann, und zwar nicht nur auf dem Feld des wirtschaftlichen Wettbewerbs. Die zunehmende Verdrossenheit der Europäer gegenüber den Institutionen der EU sollte nämlich gerade nicht mit Verdrossenheit gegenüber der Idee der europäischen Integration gleichgesetzt werden. Im Gegenteil: sie kann durch die Ideen, auf denen das europäische Projekt beruht, erfolgreich bekämpft werden. Dem hochgeschätzten Wissenschaftler, der gerade das Thema der Freiheit mit ihren diversen Facetten und Ausdrucksmöglichkeiten akribisch bearbeitet hat, dem besonnenen, zuverlässigen und stets hilfsbereiten Fakultätskollegen, auf dessen wertvollen Rat ich immer zählen konnte, dem lieben, teuren Freund Rudolf Wendt, sind die folgenden Ausführungen, die sich aus einer besonderen Perspektive mit dem Thema Freiheit beschäftigen,2 in tiefer Verbundenheit gewidmet mit den besten Wünschen für viele weitere Jahre wissenschaftlicher Produktivität und ein glückliches Leben. Ad multos annos, Rudolf!

1 Auf die unheilvolle Rolle des Lobbyismus, die den Eindruck entstehen lässt, durch viele EU-Maßnahmen werde unter dem Vorwand prinzipiell zu befürwortender Ziele wie z. B. Klimaschutz oder Energieersparnis konkrete Förderung einzelner Industriezweige, etwa der Leuchtstoffmittel- oder der Staubsaugerbranche, betrieben, sei nur am Rande hingewiesen. 2 Der erste Anlass für diese Gedanken war ein Vortrag, den ich im Rahmen einer von Kollegen Rüfner (Universität Trier) organisierten Tagung zum Thema „Gemeinsames Kaufrecht in vereinten Europa?“ an der Universität für National- und Weltwirtschaft in Sofia im Oktober 2013 gehalten habe. Der Vortragsstil wurde grundsätzlich beibehalten.

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I. Eine einheitliche zivilrechtliche Kodifikation für Europa 1. Politisch ist Europa dazu noch nicht ausgereift Man darf wohl sagen, dass mit dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht (CESL: Common European Sales Law) die Kommission den ersten Schritt auf dem Wege zu einem europäischen Zivilgesetzbuch wagt.3 Der jetzt vorliegende Text möchte nämlich offensichtlich über die bisherigen Regelungsmodelle hinausgehen, die von sich dazu berufen fühlenden Professoren in den letzten Jahren erarbeitet wurden,4 und den Entwurf einer Kodifikation für ein zentrales Gebiet des Privatrechts, das Kaufrecht, darstellen. Der optionale Charakter, den dieses europäische Kaufrecht haben soll,5 darf insoweit nicht täuschen: er ist ein Tribut an die vorhersehbaren Widerstände der Mitgliedstaaten, denen dadurch vorgebeugt oder die relativiert werden sollen. Als Legitimationsstrategie greift die Optionsmöglichkeit aber zu kurz, und zwar nicht nur, weil unabhängig von seiner Durchsetzung auf dem Markt, trotz seiner Defizite, das CESL als Referenztext die wissenschaftliche Diskussion in eine bestimmte Richtung steuern und eine wie auch immer geartete praktische Bedeutung annehmen könnte, sondern vor allem, weil die „Optionalität“ dem Wesen einer Kodifikation diametral widerspricht, deren Sinn gerade die Festsetzung von sicheren, umfassenden und ausgewogenen Rechtsstandards in einem bestimmten historischen Zeitpunkt ist. Es ist übrigens sicher nicht Aufgabe der Europäischen Kommission, unausgereifte Vorschläge hervorzubringen, um den Fetisch einer egal wie guten und sinnvollen juristischen Vereinheitlichung voranzutreiben, und damit auf „kaltem Wege“ die Bürger vor vollendete Tatsachen zu stellen. Vielmehr muss dieses Ziel durch eine bewusste politische Entscheidung der Mitgliedsstaaten erreicht werden, vor allem nach einer adäquaten juristischen Vorbereitung durch die europäische Rechtswissenschaft. Diese entstehen zu lassen und zu etablieren ist die erste und fundamentale Voraussetzung für die Schaffung eines europäischen Zivilgesetzbuches. Das erklärte Hauptziel des Verordnungsvorschlags klingt allerdings anders: Das CESL solle das Funktionieren des Binnenmarktes durch Förderung des grenzüber3 KOM (2011) 635. Zu einer kritischen, umfassenden Überprüfung des Vorschlags der Kommission s. grundlegend Eidenmüller/Jansen/Kieninger/Wagner/Zimmermann, Der Vorschlag für eine Verordnung über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht, in: JZ 2012, 269 ff. 4 S. die sog. Lando-Kommission mit ihren Principles of European Contract Law (PECL); Unidroit mit den Principles of International Commercial Contracts (PICC); Study Group on a European Civil Code mit den Principles of European Law und dem Draft Common Frame of Reference (DCFR). Dazu s. Zimmermann, „Wissenschaftliches Recht“ am Beispiel (vor allem) des europäischen Vertragsrechts, in: Bumke/Röthel (Hrsg.), Privates Recht, Tübingen 2012, S. 21 ff. 5 S. Art. 8 und 9 des Verordnungsentwurfs CESL sowie Erwägungsgrund 10, Verordnungsvorschlag CESL.

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schreitenden Handels verbessern.6 Zum einen würde die Unterstellung der Verträge unter ein einheitliches Rechtsregime die Transaktionskosten von Unternehmen senken; zum anderen würde das CESL für Verbraucher attraktiv sein, da das darin garantierte Verbraucherschutzniveau über dem Schutzstandard jedes einzelnen Mitgliedstaates liege.7 Freilich werden diese Ziele insoweit relativiert, als das CESL nur auf grenzüberschreitende Verträge zwischen Unternehmen, von denen mindestens eines ein kleines oder mittleres Unternehmen sein muss, sowie auf Verbraucherverträge anwendbar sein soll.8 In der Vorstellung der Kommission würde das CESL als supranationales Instrument mit dem Kaufrecht der verschiedenen Mitgliedstaaten konkurrieren. Die EU träte somit sowohl als Garantin und ordnende Hand des Wettbewerbs zwischen den Mitgliedstaaten als auch als Akteurin mit einem eigenen Kaufrecht auf. Das würde bedeuten – so die Intention –, dass Unternehmen und Verbraucher als Nutzer und nicht Wissenschaftler oder Politiker über Erfolg oder Misserfolg des CESL entscheiden würden. Dies ist kurzsichtig. Es wiederholt sich auch hier ein Handlungsmuster, das gerade für die aktuelle Glaubwürdigkeitskrise der EU mitverantwortlich ist und zwar, dass Technizismen und in Brüsseler Kreisen entschiedene Marktinterventionen alles zu regeln imstande und berufen sind. Zwar ist nachvollziehbar (aber auch ziemlich banal), dass vertragsrechtsbezogene Transaktionskosten ein Hindernis für den Binnenmarkt seien und daher Unternehmen ein Interesse an einem in allen Mitgliedstaaten verwendbaren Einheitsvertrag haben könnten. Doch Reputation, steuerliche Regelungen, Sprachprobleme, Lizensierungs- und Registrierungserfordernisse oder die Prozessführung/Vollstreckung spielen bei der Unterstellung unter ein fremdes Rechtsregime praktisch dieselbe Rolle wie vertragsrechtsbezogene Transaktionskosten. Nicht zu vergessen ist außerdem der Umstand, dass bis zur Konsolidierung von Auslegungsgrundsätzen durch den EuGH die Wahl des CESL mit gewissen Unsicherheiten verbunden wäre. 2. Wissenschaftlich ist die europäische Rechtswissenschaft noch nicht ausgereift Die Idee, dass durch die Kodifikation ein politischer Einheitsprozess vorangetrieben wird, ist nicht neu. Auch A. F. J. Thibaut vertrat in seiner berühmten Schrift „Über die Nothwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts für Deutschland“ vom Jahr 1814 die Auffassung, dass ein Zivilgesetzbuch die Einheit der deutschen Länder fördern würde. Savigny stellte aber klar, dass nur aus politischen Erwägungen 6

Begründung zum Verordnungsentwurf CESL sub 1; KOM (2011) 636. Vgl. Schulte-Nölke, Der Blue Button kommt – Konturen einer neuen rechtlichen Infrastruktur für den Binnenmarkt, in: ZEuP 19 (2011) 749, 755. Zur Frage des Verbraucherrechts im europäischen Kontext vgl. Gsell/Herrenstahl (Hrsg.), Vollharmonisierung im Privatrecht, Tübingen 2009; Stürner (Hrsg.), Vollharmonisierung im europäischen Verbraucherrecht, München 2010. 8 Art. 4 und 7 Verordnungsentwurf CESL. 7

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kein Gesetzbuch entstehen kann, jedenfalls kein gutes.9 Vielmehr soll die Wissenschaft in der Lage sein, ein solches zu schreiben. Die Konsensfindung über komplexe juristische Regelungen auf europäischer Ebene ist schwierig. Es entspräche möglicherweise besser der Idee eines aus dem Geist und der Praxis der Völker Europas stammenden Rechts, dass vereinheitlichende Modelle für juristische Regelwerke auf der Ebene der Mitgliedstaaten exerziert bzw. erarbeitet werden, bevor sie auf EU-Ebene ihre definitive und nicht verbesserungsbedürftige Festsetzung finden. Die Tatsache, dass die Kommission dieses Prinzip grundsätzlich nicht praktiziert und immer wieder von oben herab reglementieren will, stellt einen der wichtigsten Gründe des sinkenden Vertrauens der Bürger in den europäischen Gesetzgebungsprozess dar. Der vorliegende Text des CESL ist offensichtlich unter Zeitdruck und ohne das notwendige Nachdenken und die zu einem solchen Vorhaben erforderliche kritische Begleitung durch den wissenschaftlichen Diskurs zustande gekommen. Entsprechend unreif und mangelhaft ist er. Damit wird dem Ideal der europäischen Einheit nicht gedient. II. Einige kritische Punkte Für eine kritische Analyse des CESL kann man leider nicht wirklich auf Materialien zurückgreifen. Das fällt dem an den Materialien zum BGB geschulten deutschen Juristen negativ auf. Die Kommentare der Verfasser der PECL und PICC, welche im DCFR teils übernommen worden sind, die alle sozusagen als „Textstufen“ des CESL zu betrachten sind,10 können zwar herangezogen werden; sie geben aber keine Auskunft zu den Motiven, die die Verfasser zu der einen statt einer anderen Lösung eines juristischen Problem geführt haben. Die Erwägungsgründe des Verordnungsentwurfs betreffen vor allem die Anwendungsvoraussetzungen des CESL. Bemerkenswert ist die gewollte Unvollständigkeit im Aufbau des CESL: die Themenkomplexe Rechtsund Sittenwidrigkeit, Stellvertretung, Schuldner- und Gläubigermehrheiten, Abtretung und Aufrechnung sind nicht erfasst.11 Da in Erwägungsgrund 26 des Verordnungsvorschlags behauptet wird, dass das CESL vertragsrechtliche Sachverhalte regele, die „während des Lebenszyklus“ von Verträgen von praktischer Bedeutung seien, muss im Umkehrschluss festgestellt werden, dass überraschenderweise das CESL die oben genannten Institute als praktisch irrelevant betrachtet.12 Darüber hinaus bleiben im Text ungeregelt auch Fragen wie Vertragsstrafe, Willensmängel, deren Verursachung Dritten zuzurechnen ist, Hemmung der Verjährung aufgrund von Hinderungsgründen außerhalb des Einflussbereichs des Gläubigers, wobei 9 Thibaut schrieb sein Werk 1814 unter dem Eindruck der „Befreyung seines (sc. Deutschlands) Bodens“ (so S. 5) von der napoleonischen Herrschaft; Savigny antwortete im selben Jahr und somit noch geraume Zeit vor der territorialen Neuordnung Europas durch den Wiener Kongress. 10 So Eidenmüller u. a., in: JZ 2012, 269, 270. 11 Erwägungsgrund 27 des Verordnungsentwurfs. 12 Vgl. dazu Kleinschmidt, Stellvertretung, IPR und ein optionales Instrument für ein europäisches Vertragsrecht, in: RabelsZ 75 (2011) 497, 504.

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dies in den Erwägungsgründen nicht erwähnt ist. Eine Erklärung dafür vermag ich nicht zu geben, wobei sich freilich der Verdacht aufdrängt, dass der politisch motivierte Zeitdruck – nämlich das Vorhaben noch während der Amtszeit von Präsident Barroso durchzupeitschen – das für solche schwierigen und kontroversen Probleme notwendige Durch- und Nachdenken gehindert hat und damit auch die Erarbeitung einer vernünftigen Lösung.13 In diesem Zusammenhang sollte auch auf die unkritische Übersetzung von juristischen Termini des englischen Originals in der deutschen Version des CESL hingewiesen werden. „Abhilfe“ (statt „Rechtsbehelfe“), „Vertragsbeendigung“ (statt „Aufhebung des Vertrages“ oder auch „Rücktritt“), „Personenschäden“ (statt „Verletzung persönlicher Rechtsgüter“) usw. sind der deutschen Rechtssprache fremd und führen daher zu Ungenauigkeiten oder gar zu Missverständnissen. Formulierungen wie „Forderung nach Erfüllung“ (für „requiring performance“) oder „Ein Recht, die Erfüllung einer Verbindlichkeit zu vollstrecken“ (für „[a] right to enforce performance“)14 wirken nicht nur überraschend, sondern vulgarisieren die juristische Fachsprache.15 Das CESL soll nicht unmittelbar auf eine Vertragsbeziehung anwendbar sein, sondern muss von den Parteien in bestimmter Weise vereinbart werden (sog. „opt-in“Modell) innerhalb des Rechts der jeweiligen Staaten, das nach den einschlägigen Kollisionsnormen anwendbar ist.16 Somit handelt es sich beim CESL nicht um ein „neunundzwanzigstes“ sondern um ein weiteres Kaufvertragsrecht, das neben dem Kaufrecht der einzelnen Staaten innerhalb der jeweiligen Rechtsordnungen zur Verfügung stehen wird.17 Unter dem Gesichtspunkt der Anwendungsvoraussetzungen soll hier der Hinweis genügen, dass die gewählte Vorschaltung des Kollisionsrechts die Rechtsanwendung erschweren wird und dem Postulat eines einheitlichen Rechts zuwiderläuft. Konsequent zur Idee der Vereinheitlichung, die aber, wie oben erwähnt, aus politischen Erwägungen nicht offensiv verfolgt wird, wäre es, den Anwendungsbereich auf alle („business to business“ [B2B] und „business to consumer“ [B2C]) Verträge auszudehnen, gleich ob grenzüberschreitend oder nicht. Das würde im Übrigen dem Ziel der Senkung von Transaktionskosten wirklich dienen.18 Die Beschränkung auf einen Teilbereich von „business to business“ (B2B)-Geschäften ist gerade unter Anwendungsgesichtspunkten problematisch, da sie die von einer Vertragspartei nur schwer durchzuführende Einschätzung der Größe der Jahresbi-

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S. dazu Eidenmüller u. a., in: JZ 2012, 269 , 270. Art.178 Verordnungsentwurf CESL; s. dazu Eidenmüller u. a., in: JZ 2012, 269, 272. 15 Die Vulgarisierung darf nicht mit „Benutzerfreundlichkeit“ verwechselt werden, wie vereinzelt vertreten wird, s. dazu Veneziano, Conclusion oft the Contract, in: Schulze/Stuyck (Hrsg.), Towards a European Contract Law, München 2011, S. 81, 86. 16 Art. 8 und 9 Verordnungsentwurf CESL; s. dazu Eidenmüller, Obligatorisches versus optionales Vertragsgesetzbuch, in: Schäfer/Ott (Hrsg.), Vereinheitlichung und Diversität des Zivilrechts in transnationalen Wirtschaftsräumen, Tübingen 2002, S. 237, 240 ff. 17 S. dazu Eidenmüller u. a., in: JZ 2012, 269, 270. 18 So zu Recht Eidenmüller u. a., in: JZ 2012, 269, 275 f. 14

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lanzsumme ihres Vertragspartners voraussetzt. Auch unter dem Aspekt der Rechtssicherheit ist eine solche Regelung fragwürdig. Das erschwerende Erfordernis einer gesonderten Zustimmung seitens der Verbraucher ist in dieser „bevormundenden“ Form verzichtbar.19 Dass innerstaatliche und grenzüberschreitende Verträge verschiedenen Rechtsregimen unterworfen werden, steht mit dem deklarierten Ziel der Kommission im Einklang, widerspricht aber dem Geist einer Kodifikation, die, wie oben gesagt, der wirkliche Beweggrund des Kaufrechtsprojekts sein dürfte, und vor allem der fundamentalen Idee des Binnenmarktes. Freilich wird es den Mitgliedstaaten überlassen, die Verwendung des CESL auch für reine Inlandsgeschäfte und für Verträge zwischen Unternehmern allgemein zu erlauben.20 III. Das CESL als Referenztext? Aus dem Gesagten dürfte sich ergeben, dass Einiges gegen die Etablierung des CESL in der Praxis spricht. Unabhängig davon und viel wichtiger aber ist, welche Auswirkungen das CESL – und somit auch der wissenschaftlich sehr umstrittene DCFR als maßgebliche Grundlage des CESL21 – haben könnte, wenn es trotz seiner Mängel und unberücksichtigt seiner Anwendung in der wirtschaftlichen Praxis als maßgeblicher Referenztext für das europäische Vertragsrecht wahrgenommen würde.22 Dies könnte nämlich geschehen, wenn es als europäische Verordnung erlassen würde. Die Rechtswissenschaft vor allem, aber auch die Rechtspraxis würden dann de facto gezwungen, sich mit einzelnen Fragen des Textes auseinanderzusetzen; die noch fließende Diskussion über ein europäisches Vertragsrecht würde allein durch die normative Kraft des Faktischen von einem unausgegorenen CESL gesteuert, gar geprägt.23 Daraus folgt nicht nur, dass diejenigen, die sich mit der Materie beschäftigen mussten, schon nur deswegen sicherlich dazu tendieren werden, am CESL festzuhalten, damit sich die getane Arbeit rentiert, da – wie zu Recht bemerkt wurde – Investitionen Beharrungsvermögen erzeugen.24 Vielmehr würde das CESL – um mit Savigny zu sprechen – „alle Aufmerksamkeit auf sich und von der wahren Rechtsquelle ablenken“,25 d. h. letztlich würde es ein Hindernis auf dem Weg zur Konstruktion eines wahrhaften europäischen Vertragsrechts darstellen. Erschwerend 19

Art. 8 und 9 und Anhang II Verordnungsentwurf CESL; vgl. Eidenmüller u. a., in: JZ 2012, 269, 276. 20 Art. 13 Verordnungsentwurf CESL. 21 S. dazu die kritische Stimme von Eidenmüller/Faust/Grigoleit/Jansen/Wagner/Zimmermann, Der Gemeinsame Referenzrahmen für das Europäische Privatrecht: – Wertungsfragen und Kodifikationsprobleme –, in: JZ 2008, 529 ff. 22 Vgl. Eidenmüller u. a., in: JZ 2012, 269, 287, ferner s. zu dieser Problematik umfassend Jansen, The making of Legal Authority, Oxford 2010. 23 In der Sprache der Wirtschaftswissenschaft: Dem CESL käme ein Ankereffekt zu. 24 Eidenmüller u. a., ebd. 25 F. C. v. Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Heidelberg 1814, S. 23.

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hinzu käme, dass der EuGH als natürliche Instanz für die Interpretation von CESLVorschriften vermutlich dazu neigen würde, dem CESL eine Modell- und Referenzfunktion auch für die Entwicklung von anderen Vertragstypen zuzuerkennen mit der Konsequenz, dass ein „verbesserungsbedürftiger Zustand zementiert würde“.26 IV. Von Savigny lernen Der Prozess der Vereinheitlichung des europäischen Privatrechts hat einen kritischen Punkt erreicht. Denn wenn der vorliegende Vorschlag in dieser Form durchgesetzt wird, wird weder die von der Kommission angestrebte Transaktionskostensenkung eintreten, da die Unternehmen nicht mit einheitlichen AGB werden arbeiten können, noch eine reale Begünstigung der europäischen Verbraucher erreicht, da diese nur dann effektiv sein kann, wenn die Preise sinken. Die weitere Bürokratisierung der „heiligen Kuh“ Verbraucherschutz, die durch das CESL erreicht wird, würde dagegen vermutlich zu einer Erhöhung der Kosten für die Unternehmen führen, die sich typischerweise im steigenden Preis für die Verbraucher widerspiegeln würde. Es fügt sich in ein so übliches wie kurzsichtiges Schema ein, wenn die Europäische Kommission, um so wenig wie möglich politischen Gegenwind zu verursachen, für das CESL eine verkomplizierte, unsaubere Anwendungsregelung aussucht, die weder der Sache noch den wahren Intentionen seiner Autoren Rechnung trägt, oder politisch bedingt auf der künstlichen Dichotomie Privatautonomie vs. Verbraucherschutz aufbaut, oder eine lückenhafte, juristisch unvertretbare Regelung setzt, die zentrale Fragen wie Vertretung, Aufrechnung, Vertragsstrafen und Abtretung unbeantwortet lässt. Die noch laufende Diskussion im Europarat scheint zu einer Begrenzung des Anwendungsbereichs des CESL auf die Internetgeschäfte zu führen, stellt aber – leider – nicht den aktuellen CESL-Vorschlag an sich und vor allem den methodischen und politischen Weg, an dessen Ende es steht, in Frage. Es wurde schon darauf hingewiesen,27 dass weder ein Erfolg noch ein Misserfolg des CESL wünschenswert wäre. Wie oben gesagt, würde ein Erfolg mit sich das Übel bringen, dass Rechtspflege und Rechtswissenschaft ihre Kraft mit einem defizitären Instrumentarium verschwenden müssen, dessen Mängel und Kosten den Binnenmarkt belasten, statt sich um die bestmöglichen juristischen Lösungen zu bemühen, die zu einer vollkommenen europäischen Kodifikation führen und somit wahrhaft und nachhaltig der europäischen Idee dienen könnten. Ein Misserfolg würde möglicherweise die Idee einer zukünftigen europäischen Kodifikation gefährden, jedenfalls um Vieles zurückwerfen. Die aktuellen Erfahrungen mit der Eurokrise sollten

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Eidenmüller u. a., in: JZ 2012, 269, 288. Eidenmüller u. a., ebd.

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uns lehren, dass die von den europäischen Organen allzu oft praktizierte Strategie „Augen zu und durch“ lebensgefährlich für die Union sein kann. Savigny hat uns gelehrt, welchen Gefahren man sich aussetzt, wenn eine Kodifikation in einer Zeit entsteht, die dazu noch nicht in der Lage ist, noch nicht berufen ist. Genau aber wie er zu der Zeit, als er den „Beruf…“ geschrieben hat, können wir zur Zeit „ein lebendiges Bestreben“28 konstatieren nach einer deswegen neuen Rechtswissenschaft, weil sie europäisch sein will, nicht mehr national. Es ist hier nicht der Ort, um über die Fundamente, die Methode, die Zielrichtung, die Sprache einer solchen europäischen Rechtswissenschaft zu diskutieren. Sicher kann aber gesagt werden, dass sie die notwendige Voraussetzung einer juristischen Vereinheitlichung Europas, einer europäischen Kodifikation ist. Es gibt Anzeichen dafür, dass sie sich langsam etabliert. Daher wäre es töricht, gerade auf dem Gebiet des Vertragsrechts, in dem die Diskussion auf europäischer Ebene schon seit einiger Zeit geführt wird, die „gegenwärtige[n] Mängel“ des CESL zu „befestigen“ und damit – um mit dem Worten Savignys zu schließen – „viel besseres … der Zukunft [zu] entziehen“.29

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Beruf, S. 51. Beruf, ebd.

Highway to the danger zone: Das Scheitern des französischen Staates am Beispiel seines Straßenverkehrswesens* Von Philippe Cossalter, Saarbrücken I. Einleitung Am 13. Oktober 2014 wurde dem französischen Wirtschaftswissenschaftler Jean Tirole der Wirtschaftsnobelpreis verliehen. Am selben Tag kündigte die Umweltund Verkehrsministerin Ségolène Royal ihre Absicht zur Senkung der Mautgebühren für Autobahnen um zehn Prozent sowie zur Abschaffung dieser Gebühren an den Wochenenden an1. Schon das zeitliche Zusammentreffen beider Ereignisse ist bemerkenswert: Insbesondere die Arbeiten von Wirtschaftswissenschaftlern wie Jean Tirole sind für die mikroökonomische Analyse des Verkehrswesens von erheblicher Bedeutung2. Auf Seiten des Staates scheinen solche Analysen jedoch auszubleiben oder derart von kurzfristigen politischen Betrachtungen verdrängt zu sein, dass sie praktisch unsichtbar werden. Die Frage der Bestimmung von Autobahngebühren sowie Straßenbeiträgen ist gegenwärtig ein bedeutendes Thema in Frankreich. Anhand dieses Beispiels können zahlreiche Fragen zur Politik und Wirtschaft sowie zum Steuerwesen und zur Finanzverwaltung des Staates veranschaulicht werden. Man kann behaupten, dass die Straßen- und Autobahnbenutzungsabgaben ein anschauliches Bild des heutigen Frankreichs sowie dessen Schwächen liefern. Die Finanzverwaltung des Staates wurde aufgrund der verschiedenen, durch Frankreich getroffenen Entscheidungen der vergangenen zehn Jahre im verkehrspolitischen Bereich deutlich kritisiert. Ein erstes bedeutendes Ereignis war in diesem *

Übersetzt von Audrey Eugénie Schlegel, wissenschaftliche Mitarbeiterin; Lyn Paula Fischer, studentische Hilfskraft. 1 Hier soll allerdings darauf hingewiesen werden, dass der Umwelt- und Verkehrsministerin einige Stunden später vom Premierminister widersprochen wurde, wodurch sie sich allgemeinem Gespött ausgesetzt sah. 2 Vgl. vor allem: Jean Tirole, „Concessions, concurrence et incitations“, in: Revue d’économie financière, 1999, S. 79 – 92; Jean Tirole, „Concession, concurrence et incitations“, in: Claude Henry / Emile Quinet (Hrsg.), Concurrence et service public, Akten der Jules DUPUIT-Konferenz, unter der Präsidentschaft von MarcelBoiteux, Paris, L’Harmattan, 2003, S. 75 – 94.

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Rahmen die Entscheidung zur Übertragung der Anteile am Kapital der Autobahngesellschaften an den Privatsektor im Jahr 2006. Die zweite bedeutende Entscheidung betraf die Einrichtung eines mit der Lkw-Maut vergleichbaren Systems und seine spätere Aufhebung. Im ersten Fall wurden dem Staat durch die Privatisierung erhebliche Mittel entzogen, welche die Finanzierung einer gezielten Politik auf dem Gebiet alternativer Gütertransportmöglichkeiten ermöglicht hätten (Entwicklung des Huckepackverkehrs). Im zweiten Fall werden die staatlichen Verluste auf 400 Millionen Euro jährlich geschätzt. Die Verschlechterung des Straßenzustands und die durch den Straßenverkehr hervorgerufene erhöhte Umweltverschmutzung wird sich finanziell nicht mehr kompensieren lassen. Diese Entscheidungen, in denen der Umweltschutz eindeutig zugunsten kurzfristiger finanzieller und politischer Ziele vernachlässigt wurde, wären hinnehmbar gewesen, hätten sie eine entsprechende Bereicherung des Staates zur Folge gehabt. Eine solche blieb jedoch aus, der Staat scheint systematisch die schlechtesten Entscheidungen zu treffen und dabei die Gesamtheit der Belange zu vernachlässigen, deren Verteidigung ihm anvertraut ist. Das besorgniserregendste Signal besteht aber in der voranschreitenden Abschwächung des Grundsatzes der Kontinuität des Staates. Dieser bildet seit dem Ancien Régime, zusammen mit dem Einheitsgrundsatz, den Haupt- und Kerngrundsatz des französischen öffentlichen Rechts („Le Roy est mort, vive le Roy*“). Es kann also eine gewisse Verzweiflung festgestellt werden, die möglicherweise aus dem Scheitern der französischen Eliten resultiert. Zum Verständnis der Lage französischer Autobahnen und Straßen müssen die Ereignisse vor 2006 berücksichtigt werden (II.). Die Privatisierung der Autobahnen (III.) wurde wider jegliche wirtschaftliche und finanzielle Vernunft durchgeführt (IV.), wobei wahrscheinlich gegen eine beachtliche Anzahl etablierter Rechtsgrundsätze verstoßen wurde (V.). Einige Jahre nach dem eigentlichen Privatisierungsskandal wurde eine gezielte Politik zur Einführung eines Lkw-Beitrags auf denjenigen Straßen eingeleitet, die nicht einer nutzungsabhängigen Gebühr unterstanden (VI.). Mit der Gesellschaft Eco-Mouv‘ kam es zum Abschluss eines Vertrages zur Übertragung einer öffentlichen Aufgabe, dessen Umstände möglicherweise Gegenstand ungerechtfertigter Kritik wurden (VII.). Aus politischen Gründen wurde anschließend das Projekt zur Erhebung eines Straßenbenutzungsbeitrags aufgegeben (VIII.). Ebenso wurde die von der Umwelt- und Verkehrsministerin vorgeschlagene *

Anmerkung der Übersetzerin: Die Formel „Der König ist tot, es lebe der König“ bezeichnete zunächst die Fortdauer der französischen Erbmonarchie. Darin war allerdings auch ein Ausdruck der Kontinuität des Staates zu sehen, da der Staat zu jenen Zeiten in der Person des jeweiligen Monarchen verkörpert war. Später mündete die Bedeutung dieser Formel in einer allgemeinen Bezeichnung des Grundsatzes der Staatskontinuität.

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Alternativlösung aufgegeben (IX.). Die französische Regierung steht nunmehr in einer sowohl politisch als auch rechtlich ausweglosen Lage (X.). II. Die Lage französischer Autobahnen vor deren Privatisierung Die Bedeutsamkeit des Rechtsinstituts des verwaltungsrechtlichen Vertrags, insb. des Vertrags zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge und Dienstleistungen, kennzeichnet bekanntermaßen das französische Verwaltungsrecht maßgeblich. Frankreich war die einzige große Volkswirtschaft der Gegenwart, in welcher im 20. Jahrhundert ein System der Vergabe öffentlicher Dienstleistungen an den Privatsektor beibehalten wurde, während dieses System nahezu allerorts, besonders in Deutschland, infolge der Welle des sog. Gemeindesozialismus3 abgeschafft wurde. Frankreich wies diesbezüglich eine beachtliche Vielfalt an juristischen Mechanismen auf, die vom Institut der einfachen vertraglichen Übertragung einer öffentlichen Dienstleistung bis hin zu gemischten Lösungen variabel waren. Unter diesen gemischten Lösungen ist insbesondere die Vergabe von Autobahnkonzessionen hervorzuheben. Diese entsprachen dem strengsten Typus der Vergabe öffentlicher Bau- und Dienstleistungsaufträge4, jedoch waren sie Gesellschaften mit mehrheitlicher staatlicher Beteiligung, den sog. SEMCA (Sociétés d’économie mixte concessionnaires d’autoroute – gemischtwirtschaftliche Gesellschaften zum Betrieb einer öffentlichen Autobahnkonzession)5 anvertraut. Aufgrund der mehrheitlichen staatlichen Beteiligung am Gesellschaftskapital sowie der zahlreichen besonderen finanziellen Regelungen stellt diese Art von Autobahnkonzessionen eine beachtliche Abweichung vom allgemeinen Recht dar. Bezüglich der besonderen finanziellen Regelungen ist an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass der Autobahnsektor von gewissen Finanzmechanismen gekennzeichnet ist, die in ganz Europa weit verbreitet sind. Hier soll mit der „Anlehnung“ („adossement“) nur einer dieser Mechanismen erläutert werden. 3 Zu diesen Fragen, s. P. Cossalter, Les délégations d’activités publiques dans l’Union Européenne, Paris, LGDJ, 2007, S. 24 – 29. 4 Im vorliegenden Beitrag sind unter „Vergabe öffentlicher Bau- und Dienstleistungsaufträge“ (concession de travaux et services publics) auch die Vergaben von Autobahnkonzessionen (concession d’autoroute) zu verstehen. „Übertragung einer öffentlichen Aufgabe“ (délégation de service public) ist der nunmehr vom Gesetzgeber festgelegte Begriff (s. „Gesetz Nr. 93 – 122 vom 29. Januar 1993 über die Prävention von Korruption und über die Transparenz des Wirtschaftslebens sowie öffentlich-rechtlicher Verfahren“, loi relative à la prévention de la corruption et à la transparence de la vie économique et des procédures publiques). Dieser letztere Begriff weist allerdings nach Ansicht des Verfassers eine gewisse Zweideutigkeit auf, und lässt sich deswegen nicht ohne weiteres ins Deutsche übersetzen. 5 Z. B. Autoroutes du sud de la France (ASF), Autoroutes Paris-Rhin-Rhône (APRR) sowie Société des Autoroutes de l’Est de la France (SANEF).

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Bildlich lässt sich die Anlehnung als neuer Vertrag darstellen, welcher sich auf einen bereits bestehenden Vertrag stützt. Eine etwas juristischere Definition der Anlehnung ist der Abschluss eines neuen Vertrags mit dem Vertragspartner, welcher zum Teil durch die Einnahmen des vorherigen Vertrags finanziert wird6. Dieser Mechanismus ist als solcher vom Unionsrecht nicht verboten, solange beim Abschluss des zweiten Vertrags die durch die Richtlinie für öffentliche Aufträge festgelegten Bekanntmachungs- und Ausschreibungspflichten eingehalten werden (Autobahnkonzessionen stellen Baukonzessionen i. S. d. Unionsrechts dar)7. Der Vorteil der Anlehnung bestand jedoch genau in der Ermöglichung des Ausbaus eines neuen Autobahnteils durch die aus einer bereits bestehenden Sektion stammenden Einnahmen. Das Rechtsinstitut der Anlehnung musste somit konsequenterweise aus dem französischen Recht abgeschafft werden. Mit der Abschaffung der Anlehnung entstand der Bedarf nach einer Sanierung der finanziellen und vertraglichen Verhältnisse zwischen dem Staat und den SEMCA. Die folgenden drei Stufen dieser Sanierung wurden im August 2000 festgelegt: Die Aufhebung der staatlichen Verpflichtungen zur Übernahme von Verbindlichkeiten in den mit den SEMCA abgeschlossenen Konzessionsverträgen; die Streichung des Systems der nachträglichen Verbuchung von Ausgaben, in welchem finanzielle Belastungen nicht dem Passivteil der Bilanz zugerechnet wurden, sodass das Budgetgleichgewicht auf künstliche Weise bewahrt wurde; die Verlängerung der Konzessionsdauer auf Grundlage der durchschnittlichen Vertragslaufzeit im Privatsektor. Diese letzte Maßnahme wurde gemäß den Regeln über staatliche Beihilfen zum Gegenstand einer Meldung bei der Europäischen Kommission. Diese Sanierung der Konzessionsverträge bildete eine Vorstufe zur Privatisierung der SEMCA.

6 „Die Anlehnung besteht im Ausgleich der Einnahmen aus verschiedenen Verträgen, die von ein und demselben Konzessionär verwaltet werden“, Institut de la gestion déléguée, Les Problèmes actuels des concessions d’infrastructure, Institut de la gestion déléguée, April 1999, 40 pp., p. 28. S. auch Yves Cousquer, Les partneriats public-privé, Conseil général des ponts et chaussées, Rapport 2003 – 0078 – 01, Oktober 2003, S. 8, Fn.9, „Die Anlehnung bestand in der Erweiterung des Konzessionsbereiches auf neue Autobahnsektionen zum Zweck ihres Ausbaus und Betriebs, ohne neue Ausschreibung, als Gegenleistung für eine Verlängerung der ursprünglichen Konzessionsdauer durch ein Zusatzabkommen zum Konzessionsvertrag“. Für den Conseil d’État (CE) ist die Anlehnung als „die Methode der Finanzierung des Ausbaus einer neuen, nicht gewinnbringenden Autobahnsektion durch die Verlängerung der bestehenden Konzession über die zur Abschreibung des Bauwerkes erforderliche Dauer hinaus“. S. CE, avis Ass. Gén., 16. September 1999, Nr. 362.908, BJCP Nr. 10, Mai 2000, S. 1999. 7 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Grünbuch zu öffentlich-privaten Partnerschaften und den gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften für öffentliche Aufträge und Konzessionen, 30. April 2004, KOM (2004) 327 final, Rn. 50.

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III. Die rechtlichen Bedingungen der Privatisierung von Autobahngesellschaften Seit Anfang der 2000er Jahre haben die abwechselnden sozialistischen und konservativen Regierungen die Entscheidung zur Veräußerung vom Kapital der Autobahngesellschaften getroffen. Diese Privatisierung nahm zunächst die Form des Verkaufs eines Minderheitsanteils am Kapital an, in einem weiteren Schritt erfolgte die Veräußerung der Gesamtheit des staatseigenen Kapitals an Gesellschaften des Privatrechts. Die für diesen Privatisierungsprozess maßgebenden Standards waren die für diesen Bereich üblichen Kriterien. Die Besonderheit dieses Prozesses lag darin, dass das gesetzliche Monopol der privatisierten Gesellschaften seine Grundlage in einem mit dem Staat abgeschlossenen Vertrag fand. Ein typischer Vorgang. Die Privatisierung der Autobahngesellschaften folgte einem für das französische Recht typischen Vorgang, dessen Etappen leicht nachvollziehbar sind. Gemäß Artikel 34 der geltenden Verfassung werden die „Verstaatlichungen von Unternehmen und die Überführungen von Eigentum an öffentlichen Unternehmen in Privateigentum“ vom Gesetz geregelt. Die Präambel der Verfassung von 19468 statuiert in ihrem Absatz 9, dass „jedes Vermögen und jedes Unternehmen, dessen Betrieb den Charakter eines nationalen öffentlichen Dienstes oder eines faktischen Monopols trägt oder erhält, (…) Eigentum der Gesamtheit werden“ soll. Diese Präambel von 1946 stellt innerhalb des französischen Verfassungssystems eine deutliche Verankerung sozialistischer Kerngrundsätze als Erbe aus Zeiten des Zweiten Weltkrieges dar. Ihr Absatz 9 steht jedoch keineswegs einer Privatisierung entgegen9, ebenso wenig wie die Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789 einer etwaigen Verstaatlichung entgegensteht10. Hierbei müssen allerdings zwei Regeln eingehalten werden: Einerseits ist für die Entscheidung über die Zwangsveräußerung oder die Veräußerung der Mehrheit des Kapitals eines Unternehmens die gesetzgeberische 8 Die französische Verfassung vom 27. Oktober 1946 wurde mit der Verabschiedung der gegenwärtig gültigen Verfassung vom 4. Oktober 1958 außer Kraft gesetzt. Ihre in einer Menschenrechtserklärung bestehende Präambel bleibt dennoch aufgrund eines Verweises in der gegenwärtigen Verfassung weiterhin gültig. S. Conseil Constitutionnel, Entscheidung Nr. 71 – 44 DC vom 16. Juli 1971, Amtsblatt (Journal Officiel) vom 18. Juli 1971, S. 7114. 9 S. P. Cossalter, „L’alinéa 9“, in: Le Préambule de la Constitution de 1946, Éditions Panthéon-Assas, 2008, S. 171 – 195. S. auch Conseil Constitutionnel, Nr. 86 – 207 DC vom 26. Juni 1986, Amtsblatt (Journal Officiel) vom 27. Juni 1986, S. 7978 (eine deutsche Übersetzung dieser Entscheidung ist auf der Webseite des Conseil Constitutionnel zu finden: www.conseil-constitutionnel.fr). 10 Conseil Constitutionnel, Entscheidung Nr. 81.132 DC vom 16. Januar 1982, Amtsblatt (Journal Officiel) vom 17. Januar 1982, S. 299 (eine deutsche Übersetzung dieser Entscheidung ist auf der Webseite des Conseil Constitutionnel zu finden: www.conseil-constitution nel.fr).

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Kompetenz des Parlaments zu beachten, andererseits müssen die Kosten des Vorgangs Gegenstand einer genauen und korrekten Einschätzung werden. Bei einer Verstaatlichung ist die genaue und korrekte Einschätzung des Anteilspreises für die vorangehende, gerechte Entschädigung der Privatperson erforderlich, deren Eigentum unter verfassungsrechtlichem Schutz steht11. Bei einer Privatisierung gilt der verfassungsrechtliche Grundsatz, nach welchem das Eigentum einer Person des öffentlichen Rechts nicht unter ihrem Wert verkauft werden darf. Im Rahmen der Privatisierung der Autobahngesellschaften wurden all diese Verfahrensstufen eingehalten: Verabschiedung eines Gesetzes zur Ermächtigung der vollziehenden Gewalt zum Verkauf des Kapitals der SEMCA, anschließend Ermittlung des Wertes der staatlichen Anteile durch die Agentur zur Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur in Frankreich (Agence de financement des infrastructures de transports de France- AFITF), Erlass individueller Dekrete zur Durchführung des Verkaufs. Diese Privatisierung wies jedoch die Besonderheit auf, dass Veräußerungen von Unternehmen, deren Wert allein auf abgeschlossenen verwaltungsrechtlichen Verträgen beruhte, gebilligt wurden. Die Privatisierung von Unternehmen mit gesetzlicher Monopolstellung. Die Besonderheit dieser Privatisierungsvorgänge lag in der Inhaberschaft der privatisierten Gesellschaften von öffentlichen Bau- und Dienstleistungskonzessionen. Zwar steht die Gewährung von „besonderen oder ausschließlichen Rechten“12 gegenüber privatrechtlichen Gesellschaften mittels eines verwaltungsrechtlichen Vertrags nicht unter Verbot, hierin ist im Gegenteil genau das Wesen des Konzessionssystems zu sehen. Jedoch bleibt die Gewährung solcher Vorteile durch die Veräußerung von Kapitalanteilen aus öffentlicher Hand an den Privatsektor eine Seltenheit. Die Veräußerung des Kapitals konzessionsinhaberischer Unternehmen wird seit ungefähr fünfzehn Jahren praktiziert13. Diese Praxis wurde von der Europäischen Kommission in einer Mitteilung zur Auslegung der anwendbaren Vorschriften untersucht14 und vom Gerichtshof der Europäischen Union für mit dem Unionsrecht vereinbar erklärt15. Derartige Veräußerungspraktiken werden auch in Deutschland durchgeführt, als Beispiel hierfür darf die Veräußerung des Kapitals der Berliner 11

Artikel 17 der Menschen- und Bürgerrechtserklärung: „Da das Eigentum ein unverletzliches und heiliges Recht ist, kann es niemandem genommen werden, wenn es nicht die gesetzlich festgelegte, öffentliche Notwendigkeit augenscheinlich erfordert und unter der Bedingung einer gerechten und vorherigen Entschädigung“ (der amtlichen Übersetzung entnommen). 12 Art. 106 AEUV. 13 P. Cossalter, „SEM et mise en concurrence: perspectives comparées“, Revue française de droit administratif 20O2, Nr. 5, S. 938 – 951. 14 Auslegungsmitteilung der europäischen Kommission vom 5. Mail 2008, K(2007)6661. 15 EuGH, vom 6. Mai 2010, Club Hotel Loutraki AE, Nr. C-145/08 sowie C-149/08.

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Wasserbetriebe genannt werden. Die Privatisierung der britischen Wasserversorgungsgesellschaften stellt einen bemerkenswerten Präzedenzfall der Privatisierung einer Gesellschaft unter Beibehaltung ihrer gesetzlichen und natürlichen Monopolstellung dar. Ein Unterschied ist allerdings zwischen der Privatisierung der französischen Autobahngesellschaften und dem Privatisierungsvorgang der britischen natürlichen Monopole im Wasserversorgungsbereich zu beachten: Den aus der Privatisierung der Regional Water Authorities hervorgegangenen Water Services Companies werden licences erteilt, d. h. unbefristete Genehmigungen, während die konzessionsinhaberischen Gesellschaften nur über befristete Verträge verfügen. Darin ist eindeutig ein Paradox zu sehen, welches Gegenstand späterer Überlegungen werden soll: Aus den befristeten Verträgen der Autobahngesellschaften entsteht eine rechtlich gesicherte Stellung, die im Fall der britischen Wasserversorger nicht vorhanden war. Im Gegenteil sind die Letzteren ständig dem Risiko einer neuen rechtlichen Regelung oder der Auferlegung einer Sondersteuer ausgesetzt16. Das Vertragssystem stellt für die privatisierten Gesellschaften eine Rechtssicherheitsgarantie dar und gewährt ihnen einen „Schutz ihrer Monopolgewinne“. Über einen vergleichbaren Schutz verfügt kein Betreiber in einem regulierten System, selbst wenn er eine Monopolstellung innehat. Dieser a priori übliche Vorgang der Privatisierung der autobahnkonzessionsinhaberischen Gesellschaften weist somit erhebliche wirtschaftliche Besonderheiten auf. IV. Der umstrittene Finanzrahmen der Privatisierung Angesichts der Gesamtheit dieser Umstände wäre die Durchführung einer sorgfältigen Untersuchung der Privatisierungsbedingungen, vor allem der Modalitäten des künftigen Betriebs der Autobahnen, durch die französischen Behörden geboten gewesen. Jedoch ergibt sich insbesondere aus zwei Berichten des französischen Rechnungshofes (Cour des Comptes) für die Jahre 200817 und 201318 der Eindruck, dass den Behörden bei diesem Privatisierungsvorgang alle denkbaren Fehler tatsächlich unterlaufen sind. Hier sollen die Hauptkritikpunkte zusammengefasst und erläutert werden, die nach Ansicht des Verfassers zur Privatisierung der französischen Autobahngesell16

Karen Bakker, „Du public au privé au…mutuel? La restructuration du secteur de l’eau en Angleterre et au Pays de Galles“, Flux avril-septembre 2003, Nr. 42 – 43, „Eau: le temps d’un bilan“, S. 87 – 99. In der Praxis bereitete die Regulierung dieses Sektors viel mehr Schwierigkeiten, als ursprünglich von dem Urheber der Reform, dem Wirtschaftswissenschaftler Littlechild, vorgesehen: Stephen Littlechild, „Economic Regulation of Privatized Water Authorities and Some Further Reflections“, Oxford Review of Economic Policy, 1988 Vol. 4 Nr. 2, S. 4068. 17 Cour des Comptes , Rapport public annuel 2008 (Jahresbericht 2008), S. 237 – 321. 18 Cour des Comptes, Les relations entre l’Etat et les sociétés concessionnaires d’autoroutes, besonderer Bericht (rapport particulier), Juli 2013, S. 127 ff.

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schaften formuliert werden könnten. Diese Erläuterungen sind nicht auf die Bedenken des französischen Rechnungshofes beschränkt. Die erste Folge der Privatisierung war ein doppelter Rückgriff auf den Benutzer zur Finanzierung von einer und derselben Investition. Denn eine Abschreibung hatte bereits für eine beachtliche Zahl der vergebenen Autobahnen stattgefunden, damit hatte für sie bereits eine Phase maximaler Rentabilität begonnen. Das mit der Privatisierung verfolgte Ziel der französischen Behörden war augenscheinlich die Abwicklung einer finanziellen Transaktion zum unmittelbaren Vorteil des Staates durch „Veräußerung“ der Konzessionsverträge (ungefähr 15 Milliarden Euro). Diese „Veräußerung“ nimmt jedoch die Form einer Art Leverage Buy Out an, wonach die Käufer der privatisierten Gesellschaften die Rückzahlung der Investition mit dem durch den Betrieb generierten cash flow anstrebten. So wurden diejenigen Autobahnen, die bereits Gegenstand einer vollständigen oder teilweisen Abschreibung geworden waren, zur Grundlage für eine Nutzungsgebühr, deren Zweck in der Rückzahlung der von den Käufern getätigten Investition lag, und nicht in der Abschreibung der Investitionen. Ein zweites spezifisches Problem ergab sich aus der Tatsache, dass die Veräußerung des Eigentums am Kapital der konzessionsinhaberischen Gesellschaften den Verkauf eines verwaltungsrechtlichen Vertrags durch die französischen Behörden bedeutete. Zwar bezog sich die Transaktion aus rechtlicher Sicht nicht auf Verträge, sondern auf das Kapital der Gesellschaften. Diese Konzessionsverträge bilden aber den Hauptvermögenswert dieser Gesellschaften, zu deren Vermögen nicht Eigentumsrechte an den Autobahnen selbst zählen, sondern nur die Betriebsrechte an diesen Immobilien, die weiterhin im staatlichen Eigentum bleiben. Die Veräußerung des Kapitaleigentums von Gesellschaften bei vorheriger Vergabe einer Konzession ist eine in Spanien relativ weit verbreitete Praxis, in der die lokalen Behörden ein Mittel zur Erzeugung sofortiger Einnahmen sehen, deren Kosten im Nachhinein an die Benutzer weitergegeben werden. Diese Praxis kann mit der Erhebung einer „Markeintrittsgebühr“ (canon inicial anticipado) verglichen werden und bildet den Hauptnachteil der Veräußerung von Anteilen am Kapital konzessionsinhaberischer Gesellschaften. An anderer Stelle wird erläutert werden, inwiefern diese Praxis zur Entstehung einer besonderen Rechtsfrage in Frankreich hätte führen können. Ein drittes, übliches Problem gesetzlicher Monopole entsteht bei der Verteilung der Monopolgewinne. Trotzdem wurden bei der Privatisierung keine Überlegungen über eventuelle Mittel zur Beschränkung der Gewinne konzessionsinhaberischer Gesellschaften angestellt19.

19 Jedoch soll erwähnt werden, dass den jüngeren Verträgen Klauseln über die Umsatzbeschränkung hinzugefügt wurden, deren Inspirationsquellen in der US-amerikanischen Wirtschaftslehre zu finden sind. Philippe Cossalter, „Les concessions à durée endogène“, Droit administratif, 2006 Nr. 5, S. 4 – 9.

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Nach den in den Medien verbreiteten Informationen würde der Nettogewinn der Autobahngesellschaften bei circa 25 % liegen. Diese Zahlen erinnern an die im Vereinigten Königreich mit den ersten PFI-Verträgen erwirtschafteten Gewinne20. Das kaum noch genutzte PFI-System, welches einer jahrhundertalten Tradition entspringt, entspricht jedoch nicht dem Konzessionssystem. Die Privatisierungen wurden auf der Grundlage eines vorkonstituierten Regelwerks aus vertraglichen Normen sowie Verwaltungsakten mit allgemeiner Wirkung vorgenommen21. Der Staat konnte die vertraglichen Bedingungen, insbesondere die finanziellen Betriebsbedingungen, gegenüber den Vertragspartnern, deren Mehrheit des Kapitals er innehatte, anpassen. Mit dem Aufkommen großer Privatkonzerne wurde ihm diese Möglichkeit entzogen. Die Entstehung solcher asymmetrischen Macht- und Informationsverhältnisse zum Nachteil des Staates war, obwohl sie vorhersehbar war, nicht vorgesehen. Verschiedene Faktoren trugen zur Entstehung und Konsolidierung von Monopolgewinnen zum Vorteil der konzessionsinhaberischen Gesellschaften bei. Zunächst hat sich die sog. „Zersplitterungspraxis“ („pratique du foisonnement“) entwickelt, obwohl die Regierungsverordnung von 1995 sowie einige Konzessionsverträge ebenso Bestimmungen zur durchschnittlichen Gebührenerhöhung beinhalteten. Diese Praxis bestand in einer auf Grundlage der Strecke errechneten Gebührenerhöhung (selbstverständlich fanden die größten Gebührenhöhungen auf den verkehrsdichtesten Strecken statt). Sie wurde nach der Veröffentlichung eines Berichts des französischen Rechnungshofes für das Jahr 200822 von den konzessionsinhaberischen Gesellschaften aufgegeben. Die zeitlichen Abstände zwischen den späteren Gebührenerhöhungen erwiesen sich als viel kürzer als erwartet. Die oben erwähnte Regierungsverordnung vom 24. Januar 1995 (Art. 1 Abs. 3) sieht die Festlegung der Bedingungen künftiger Gebührenerhöhungen in einem „Planvertrag“ vor. Sollte der Abschluss eines solchen Planvertrags zwischen den Parteien ausbleiben, werden die Gebühren einseitig durch Beschluss des Ministers für Ausrüstung und Verkehr festgelegt. Diese Erhö20

Nao, The refinancing of the Fazakerley PFI prison contract, HC 584, Session 1999 – 2000, 29. Juni 2000, House of Commons-Committee of Public Accounts, The refinancing of the Fazakerley Prison PFI contract, Thirteen the Report of Session 2000 – 01, HC 372, März 2001. 21 Die Festlegung der Autobahnmautgebühren und der Maßstäbe ihrer Entwicklung erfolgte in groben Zügen in einer Regierungsverordnung (décret) aus dem Jahre 1995: Regierungsverordnung Nr. 95 – 81 vom 24. Januar 1995 über die Autobahnmaut (décret relatif aux péages autoroutiers). 22 Cour des Comptes, Les relations entre l’Etat et les sociétés concessionaires d’autoroutes, besonderer Bericht (rapport particulier), Juli 2013, S. 127 ff., S. 16. Zu den asymmetrischen Informationsverhältnissen in natürlichen Monopolen: Oliver E. Williamson, „Franchise bidding for natural monopolies – in general and with respect to CATV“, The Bell Journal of Economics, 7 (2), Printemps, S. 73 – 104, in: Oliver E. Williamson / Scott E. Masten, Transaction Cost Economcs, Aldershot, Edwar Elgar Publishing Ltd. (coll. „The International Library of Critical Writings in Economics“, Nr. 54), 1995, 2 Bände.

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hung darf nicht unter 70 % der Entwicklung der Verbraucherpreise nach Abzug der Tabakpreise liegen (Art. 3). Angesichts dieser Vorschriften entsteht der Eindruck einer vollständigen Kontrolle der Gebühren durch staatliche Behörden. Wird keine Einigung über die künftige Gebührenentwicklung getroffen, dürfen die Behörden die Gebühren so niedrig festlegen, wie es ihnen beliebt. Jedoch kann der Staat sich nicht erlauben , die niedrigsten Preise festzulegen. Dieses letzte Parameter ist vielleicht zugleich auch das Wichtigste. In den Konzessionsverträgen wurden, abgesehen von der betrieblichen Unterhaltung der Autobahnen, keine Investitionsprogramme vorgesehen, insbesondere nicht solche, die durch eine eventuelle Verdichtung oder Verlängerung des Autobahnnetzes erfolgen. Die Finanzierung aller zusätzlichen Bauarbeiten ist während der Vertragslaufzeit durch finanzielle Ausgleiche zu gewährleisten, vor allem durch Erhörung der Mautgebühren. Deswegen wurden in den mit dem Staat ausgehandelten Planverträgen oft im Vergleich zur Steigerung der Inflationsrate größere Durchschnittserhöhungen festgelegt. Nichtdestotrotz ist eine differenzierte Betrachtungsweise gegenüber diesen Kritiken angebracht. Zum Beispiel ist anzumerken, dass ein Teil der durch die Privatisierung der Autobahngesellschaften entstandenen Gewinne der Agentur zur Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur in Frankreich gewidmet wurde (Agence de financement des infrastructures de transports de France- AFITF23). Aufgabe dieser Agentur ist die Finanzierung „von Projekten nationaler oder internationaler Bedeutung zum Ausbau oder zur Umgestaltung der Straßen-, Eisenbahn-, Binnenschifffahrtsoder Hafeninfrastrukturen sowie zur Gründung oder Entwicklung von Seerouten für den regelmäßigen Frachtverkehr“24. Die Höhe dieser gewidmeten Summe blieb aber im Verhältnis zum Gesamtgewinn (4,1 Milliarden Euro, weniger als ein Drittel der mit der Privatisierung erzielten Gewinne) sehr gering. Der Hauptteil dieses Gewinns wurde zur Rückzahlung von Schulden ohne Zusammenhang mit der Verkehrspolitik, wie etwa den Schulden des Sozialversicherungsbereiches genutzt25. 23 Diese „Agentur“ (Agence) ist aber ihrer Natur nach ein zu Verwaltungszwecken eingerichtetes öffentlich-rechtliches Sondervermögen des französischen Staates (établissement public administratif de l’Etat). S. die Regierungsverordnung Nr. 2004 – 1317 vom 26. November 2004 über die Agentur für die Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur in Frankreich (décret relatif à l’Agence de financement des infrastructures de transport de France). 24 „… des projets d’intérêt national ou international relatifs à la réalisation ou à l’aménagement d’infrastructures routières, ferroviaires, fluviales ou portuaires ainsi qu’à la création ou au développement de liaisons maritimes régulières de transport de fret“, Regierungsverordnung (décret) Nr. 2004 – 1317, Art. 1. 25 Cour des Comptes, Rapport public annuel pour 2008 (Jährlicher Bericht für das Jahr 2008), S. 22: „En 2007, l’Etat a utilisé le reliquet des recettes de privatisation des sociétés d’autoroutes pour régler, via la Caisse de la dette publique et l’Agence centrale des organismes de sécurité sociale (ACOSS), un montant de 5,1 Md E de dettes de l’Etat à l’égard des caisses nationales du régime général de sécurité sociale“. („2007 wurde der Restgewinn aus der Privatisierung der Autobahngesellschaften vom Staat über die staatliche Defizitkasse und die zentrale Agentur für Sozialversicherungsversicherungsträger zur Begleichung einer Schuld in

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V. Die umstrittenen rechtlichen Bedingungen der Privatisierung Die Privatisierungen erfolgten unter umstrittenen wirtschaftlichen und finanziellen Bedingungen. Im Hinblick auf eine Grundregel des französischen Vergaberechts erschienen Kritiken an den rechtlichen Bedingungen der Privatisierung auch angemessen. Die Autobahnkonzessionen sind der Kategorie der „Übertragung einer öffentlichen Aufgabe“ zuzurechnen. Dieser Rechtsbegriff erfasst alle Konzessionsvertragstypen des französischen Rechts und unterwirft sie gemeinsamen Regeln, vor allem hinsichtlich ihrer Bekanntmachung und Ausschreibung26. Die Übertragung öffentlicher Aufgaben ist mit nur wenigen Ausnahmen deckungsgleich mit dem Bereich der Bau- und Dienstleistungskonzessionen des Unionsrechts. Im Rahmen der Übertragung öffentlicher Aufgaben bedürfen aber Markteintrittsrechte einer Rechtfertigung, in einigen Wirtschaftsbranchen herrscht sogar ein diesbezügliches Verbot27. Markteintrittsrechte bestehen klassischerweise in der Leistung einer Geldkapitalzahlung bei Beginn der Erfüllung eines Konzessionsvertrages. Die Pflicht zur Begründung dieser Rechte in allen Wirtschaftsbranchen zeugt vom Willen des Gesetzgebers, eine Belastung der Benutzer konzedierter öffentlicher Dienste mit Zahlungsforderungen ohne Zusammenhang mit der Inanspruchnahme des Dienstes zu vermeiden. Unbegründete Markteintrittsrechte würden den öffentlich-rechtlichen Körperschaften einen Geldzufluss sichern, der auf der Erhebung einer „versteckten“ Steuer zu Beginn des Vertrags besteht, dessen Kosten ohnehin anschließend in Form einer Gebühr an die Benutzer weitergegeben werden. Neben dem Verbot von Eintrittsrechten bestehen weitere Verbote mit demselben Zweck, wie etwa das Verbot von Klauseln, die eine Pflicht des Beauftragten zur ErHöhe von 5,1 Mrd. E gegenüber den nationalen allgemeinen Sozialversicherungskassen genutzt.“). 26 Die bei der Übertragung staatlicher Dienstleistungen anwendbaren Vorschriften befinden sich im Gesetz Nr. 93 – 122 vom 29. Januar 1993 über die Prävention von Korruption und über die Transparenz des Wirtschaftslebens sowie öffentlich-rechtlicher Verfahren, loc. cit. („loi relative à la prévention de la corruption et à la transparence de la vie économique et des procédurs publiques“). 27 Art. 40 des Gesetzes Nr. 93 – 122 vom 29. Januar 1993 über die Prävention von Korruption und über die Transparenz des Wirtschaftslebens sowie öffentlich-rechtlicher Verfahren, am Schluss: „In den Verträgen ist eine Begründung der Höhe und der Art der Berechnung von Eintrittsrechten sowie der Gebühren anzuführen, die vom Beauftragten an die auftraggebende öffentlich-rechtliche Körperschaft bezahlt werden“. Der Vertrag legt die Gebühren fest, die von den Benutzern zu zahlen sind, und nennt die Wirkung der Parameter und Indizien auf die Höhe dieser Gebühren, die ihre Entwicklung bestimmen“ („Les montants et les modes de calcul des droits d’entrée et des redevances versées par le délégataire à la collectivité délégante doivent être justifiée dans ces conventions. La convention stipule les tarifs à la charge des usagers et précise l’incidence sur ces tarifs des paramètres ou indice qui déterminent leur évolution.“).

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bringung von Dienstleistungen oder Leistung von Zahlungen ohne Zusammenhang mit der übertragenen Aufgabe beinhalten28. Die Veräußerungen der Anteile am Kapital einer Gesellschaft mit Inhaberrechten über eine öffentliche Bau- und Dienstleistungskonzession entspricht der Erhebung eines Markteintrittsrechts. Diese besteht in der Leistung einer Zahlung an den Staat, deren Höhe vom Recht zum Betrieb einer übertragenen öffentlich-rechtlichen Aufgabe abhängt. Die Wirkungen einer solchen Transaktion sind äquivalent zu denjenigen der Markteintrittsrechte: Der allgemeine Haushalt der auftraggebenden öffentlich-rechtlichen Körperschaft wird um eine Geldsumme erweitert, deren Kosten an die Benutzer der übertragenen Dienstleistung durch die Erhöhung von Gebühren weitergegeben werden. Gegen diese Darstellung wird anhand der wörtlichen Auslegung (die fälschlicherweise mit einer engen Auslegung gleichgesetzt wird) argumentiert. Nach dieser Auslegung wäre das Verbot von Eintrittsrechten keineswegs mit einer Beschränkung der Kapitalübertragung vergleichbar. Darüber hinaus könnte eine derartige gesetzliche Regelung keine Einschränkung der verfassungsrechtlich gesicherten Freiheit des Staates, sein eigenes Vermögen zu veräußern, beinhalten. In diesem Beitrag wird nicht für ein Verbot der Übertragung von Kapitalanteilen an ein öffentlich-rechtliches Unternehmen mit Inhaberrechten zu öffentlichen Bauund Dienstleistungskonzessionen plädiert. Der Kern des Problems liegt in der Schätzung eines derartigen Unternehmens. Entgegen den Argumenten eines Teiles der Lehre und des französischen Rechnungshofes selbst liegt der Skandal der Privatisierung der Autobahngesellschaften nicht in einer falschen Schätzung des Kaufpreises (15 Milliarden Euro, anstatt 22 Milliarden nach Einschätzung des Rechnungshofes), sondern in der mangelnden Berücksichtigung der künftigen Konzessionsgewinne bei der Bestimmung des Kaufpreises. Die ungerechte Verschiebung der finanziellen Last von den Benutzern auf den Steuerzahler hätte durch eine Veräußerung des Kapitals ohne Berücksichtigung der künftigen Gewinne aus der Erhebung von Gebühren (mit einer Senkung des Kaufpreises quasi auf Null) im Privatisierungsvorgang vermieden werden können. Ein solches System hätte auch eine große Flexibilität bei der Festlegung der Gebühren durch die staatlichen Behörden ermöglicht. Die Höhe der Gebühren wäre anschließend Gegenstand einer Bestimmung nach dem Grenzkostenmodell geworden und die Erzeugung eines verhältnismäßigen Gewinns zugunsten der konzessionsinhaberischen Gesellschaften wäre nicht untersagt worden. Die dadurch berechneten Gebühren entsprächen der Rückzahlung der Bau-, Betriebs-, Instandhaltung- und Erneuerungskosten, weitere Gebühren- oder Beitragsanteile hätten zusätzlich zur Berücksichtigung externer Kosten vorgesehen werden können29. Der französische Sénat 28

Art. 40 des Gesetzes Nr. 93 – 122 vom 29. Januar 1993. S. vor allem Europäische Kommission, Generaldirektion VII, Faire Preise für die Infrastrukturbenutzung: Ein abgestuftes Konzept für einen Gemeinschaftsrahmen für Verkehrs29

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selbst hatte den erheblichen Mangel an Genauigkeit der Ergebnisse dieser Ermittlung der „sozialen Grenzkosten“ kritisiert30, jedoch darf vernünftigerweise behauptet werden, dass die im Rahmen einer derartigen Preisermittlung zugelassenen Kostenverschiebungen grundsätzlich gerechter erscheinen als die Rückzahlung von Sozialversicherungsdefiziten durch die Erhebung von Autobahnmautgebühren. VI. Die Frage der Straßennutzung durch LKWs Verschiedene Argumente sprachen für die Einführung eines mit dem deutschen System der LKW-Maut vergleichbaren Mechanismus in Frankreich. Als der Staat die Idee verwarf, die Erträge der Autobahnmautgebühren in die Entwicklung alternativer Verkehrsmittel zu investieren31, drängte umso mehr der Bedarf nach einer anderweitigen Lösung. Der Vorschlag einer „Eurovignette“ wurde in aller Eile angenommen. Auch die Erfordernisse der Umsetzung des Verursacherprinzips sprachen für die Einführung einer solchen Steuer. Allerdings besteht bereits ein Abgabensystem zur Besteuerung des Straßenverkehrs, welches jedoch ein hohes Abgabenniveau und eine gewisse Komplexität aufweist, und dessen Berücksichtigung externer Kosten mangelhaft bleibt. Dieses System besteht hauptsächlich in einer internen Verbrauchersteuer auf Energieprodukte (taxe intérieure de consommation sur les produits énergétiques – TICPE), und wurde um Abgaben erweitert, die im Bereich des Kraftwagenkaufes erhoben werden, wie etwa die sog. „Achsensteuer“ (taxe à l’essieu)32 oder die Firmenfahrzeugsteuer. Die Erstere wurde erst nach einem zum Nachteil Frankreichs ergangenen Urteil des EuGH33 modernisiert. Infrastrukturgebühren in der EU, Weißbuch, 22. Juli 1997, S. 54. Europäische Kommission, Mitteilung zur Strategie zur Internalisierung externer Kosten, KOM 2008 (435). 30 La politique commune des transports, Informationsbericht (rapport d’information) von Herrn Jacques Oudin, im Namen der Delegation für Unionsangelegenheiten am 3. Mai 2001 vorgelegt, S. 53. 31 Die Autobahngesellschaften werden nunmehr an der Finanzierung der Agentur für die Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur in Frankreich (Agence de financement des infrastructures de transports de France – AFITF) beteiligt. Diese Beteiligung erfolgt im Wesentlichen durch die Zahlung der Gebühr für die Nutzung des im öffentlichen Eigentum stehenden Autobahnnetzes (redevance d’occupation du domaine autoroutier), aber nie durch die Erhebung eines Gewinnanteils. 32 Eine besondere Steuer, die nur auf gewisse Straßenfahrzeuge erhoben wird (Straßenfahrzeugssteuer – Taxe sur véhicules routiers (TSVR), oder Achsensteuer – taxe à l’essieu). Sie wurde 1968 mit dem Ziel eingeführt, die Kosten der Instandhaltung der Straßen auszugleichen, welche vom Verkehr besonders schwerer Lkw erheblich beschädigt waren. 33 Die Richtlinie Nr. 93/89/EWG des Rates vom 25. Oktober 1993 über die Besteuerung bestimmter Kraftfahrzeuge zur Güterbeförderung sowie die Erhebung von Maut- und Benutzungsgebühren für bestimmte Verkehrswege durch die Mitgliedstaaten wurde nicht vor dem Ablauf der Umsetzungsfrist am 1. Januar 1995 umgesetzt. Dadurch entstand eine Wettbewerbsverzerrung im Verhältnis zu denjenigen Mitgliedstaaten, die ihre Lkw-Steuer erhöht hatten. Frankreich wurde in einem Urteil des EuGH vom 5. März 1998 verurteilt, Rs. C-175/

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In diesem Besteuerungssystem bleibt die Berücksichtigung der tatsächlichen Straßennutzung und vor allem der externen Kosten, wie die Überfüllung der Straßenwege oder die Verschlechterung des Straßenzustandes, unzureichend34. Ferner werden französische Transportunternehmen in diesem System dadurch benachteiligt, dass die Steuer nur beim Erwerb von Kraftwagen oder Erdölprodukten auf dem nationalen Territorium erhoben wird. Free Riders aus benachbarten Staaten bleiben davon verschont. Die kostenlose Straßennutzung in Frankreich erweist sich angesichts der Tatsache, dass Frankreich die Hauptverkehrsachse zwischen Nord- und Südeuropa bildet, als umso problematischer. Davon ausgehend, dass die Leserschaft dieses Beitrags überwiegend aus deutschen Juristen bestehen wird, liegt die Entbehrlichkeit einer Erläuterung der unionsrechtlichen Regelungen zur Lkw-Maut auf der Hand. Hier soll nur daran erinnert werden, dass die mehrfach geänderte35 Richtlinie vom 17. Juni 199936, die sog. „Eurovignetten-Richtlinie“, einen Rechtsrahmen für die Erhebung von Lkw-Gebühren bildet. Zunächst hatten nur elsässische Volksvertreter zugunsten der Einführung eines mit der Lkw-Maut vergleichbaren Systems im Elsass argumentiert. Diese unmittelbar an Deutschland angrenzende Region bildet für Lkws eine Alternative zur Umgehung der deutschen Verkehrswege und somit der Lkw-Maut. Ein im Jahr 2006 verabschiedetes Gesetz sah die versuchsweise Einführung einer „elsässischen Lkw-Abgabe“ (taxe poids lourds alsacienne – TPLA) vor37. Zur tatsächlichen Umsetzung dieser Vorschriften kam es jedoch nicht und die Lkw-Abgabe fand Eingang in das national geltende Ecotaxe-System (das französische System zur Erhebung von Umweltabgaben). Unter diesen Umständen und als Folge der sog. „Grenelle“-Umweltvereinbarungen38 wurde vom französischen Gesetzgeber nahezu einstimmig der Grundsatz der 97. Das französische Besteuerungssystem wurde erst mit dem Gesetz Nr. 98 – 546 vom 2. Juli 1998 vereinfacht sowie einer erheblichen Erhöhung der betroffenen Steuer unterzogen. 34 La tarification, un instrument économique pour des transports durables, Revue du Commissariat général au développement durable, November 2009, S. 24. 35 Richtlinie Nr. 2006/38/EG des Parlaments und des Rates vom 17. Mai 2006, Abl. L 157 vom 9. Juni 2006, S. 8; Richtlinie Nr. 2006/103/EG des Rates vom 20. November 2006, Abl. L 363 vom 20. Dezember 2006 Nr. 344; Richtlinie Nr. 2011/76/EU vom 27. September 2011. 36 Richtlinie Nr. 1999/62/EG vom 17. Juni 1999 über die Erhebung von Gebühren für die Benutzung bestimmter Verkehrswege durch schwere Nutzungsfahrzeuge, Abl. L 187 vom 20. Juli 1999, S. 42. 37 Art. 27 des Gesetzes Nr. 2006 – 10 vom 5. Januar 2006 über die Sicherheit und Entwicklung des Transportwesens (loi relative à la sécurité et au développement des transports). Ein weiteres Gesetz wurde zur Ermächtigung der betroffenen Gebietskörperschaft zur Beauftragung eines privatrechtlichen Partners mit der Bestimmung der Steuerbemessungsgrundlage erforderlich: Art. 118 des Gesetzes Nr. 2006 – 1771 vom 30. Dezember 2006 zur Berichtigung des Haushaltsgesetzes für 2006 (loi de finances rectificative pour 2006). 38 Unter „Grenelle“ wird eine Konferenzreihe verstanden, die auf eine Initiative des Präsidenten Nicolas Sarkozy zurückzuführen ist. Sie wurde zwischen September und Dezember

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Erhebung einer „nationalen Abgabe auf Güterkraftfahrzeuge“ (taxe ntionale sur les véhicules de transport de marchandises – TNPLN)39 verabschiedet.

2007 veranstaltet und sollte der Verabschiedung langfristiger Planungsgrundsätze in Umweltfragen dienen. Die Verpflichtung Nr. 45 bezieht sich auf den Umweltbeitrag. „Verpflichtung Nr. 45: Einführung einer Umwelt-Kilometerabgabe auf Lkws innerhalb des nicht von der Konzession erfassten Straßennetzes. Ziel: Tatsächliche Umsetzung im Jahre 2010. Ausgleichsmöglichkeiten durch verschiedene Mechanismen und durch Berücksichtigung in Zahlungsaufträgen. Die Einnahmen sollen in das Eisenbahnnetz (AFITF) investiert werden. Eine Änderung der Eurovignette-Richtlinie mit dem Ziel einer verbesserten Berücksichtigung von Umweltkosten soll beantragt werden. Die Höhe dieser Abgabe, die weitergegeben werden könnte, soll nach den individuellen durchschnittlichen Schadstoffabstößen jedes einzelnen Fahrzeugmodells, seiner maximalen Nutzlast sowie der Anzahl zurückgelegter Kilometer berechnet werden.“„Engagement n8 45: Création d’une éco-redevance kilométrique pour les poids lourds sur le réseau routier non concédé. Objectif: mise en place effective en 2010. Modes de compensation via divers mécanismes et reprise en pied de facture. Affectation de cette ressource aux infrastructures ferroviaires (AFITF). Demande de révision de la directive Eurovignette en vue d’une meilleure intégration des coûts environnementaux. Le montant de la taxe, qui doit pouvoir être répercuté, serait fonction des émissions spécifiques du véhicule, de la charge utile maximale et du nombre de kilomètres parcourus“. 39 Art. 11-VI Abs. 2 des Gesetzes Nr. 2009 – 967 zur Planung der Umsetzung der Ergebnisse des Umweltgremiums Grenelle (loi de programmation relative à la mise en oeuvre du Grenelle de l’environnement): „Ein Umweltbeitrag soll ab dem Jahr 2011 auf Lkws erhoben werden. Die Einführung dieser Abgabe wurde auf der Grundlage der Nutzungskosten des nicht mautpflichtigen nationalen Straßenverkehrsnetzes sowie derjenigen Verkehrswege der Gebietskörperschaften erforderlich, die als taugliche Alternative zur Umgehung dieser Abgabe in Betracht kommen. Mit dem Umweltbeitrag wird das Ziel der Finanzierung von Infrastrukturprojekten im Verkehrsbereich verfolgt. Zu diesem Zweck sind die im nationalen Straßennetzwerk erzielten Einnahmen aus dieser Abgabe jährlich an die Agentur zur Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur in Frankreich abzuführen. Die Einnahmen aus denjenigen Teilen des Netzwerkes, die im Eigentum der Gebietskörperschaften stehen, werden nach Abzug der Einziehungskosten vom Zentralstaat an die Gebietskörperschaften zurückgeführt. Diese Abgabe darf zum Zwecke einer angemessen Verteilung des Verkehrs auf der Gesamtheit der Verkehrsachsen auf gewissen Teilen des Straßennetzwerkes erhöht werden“. „Une écotaxe sera prélevée sur les poids lourds à compter de 2011 à raison du coût d’usage du réseau routier national métropolitain non concédé et des voies des collectivités territoriales susceptibles de subir un report de trafic. Cette écotaxe aura pour objet de financer les projets d’infrastructures de transport. A cet effet, le produit de cette taxation sera affecté chaque année à l’Agence de financement des infrastructures de transport de France pour la part du réseau routier national. L’Etat rétrocèdera aux collectivités territoriales le produit de la taxe correspondant aux sommes perçues pour l’usage du réseau routier dont elles sont propriétaires, déduction faite des coûts exposés y afférents. Cette redevance pourra être modulée à la hausse sur certains tronçons dans un souci de report de trafic équilibré sur des axes non congestionnés“. Ein neues Kapitel des Zollgesetzbuches (Code des douanes) wurde dieser Abgabe gewidmet (Art. 269 bis 283 quinquies).

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VII. Der Rahmen für die Einführung einer Lkw-Maut in Frankreich Die eigentliche Entscheidung zur Einführung der Lkw-Abgabe wurde im Gesetz vom 3. August 2009 getroffen, allerdings sah dieses keine Regelungen zu den Einzelheiten ihrer Umsetzung vor. Eine detaillierte Beschreibung der verschiedenen Schritte zur Einführung der Ecotaxe würden den Rahmen dieses Beitrags überschreiten40. Dennoch kann an dieser Stelle eine zusammenfassende Darstellung des EcotaxeSystems erfolgen. Das französische Parlament sowie die Regierung haben die Entscheidung zur Einführung einer Abgabe in Höhe einiger Cents pro Kilometer sowohl auf Autobahnen als auch nicht-mautpflichtigen Straßen mit einer Abstufung nach der Euro-Klasse des jeweiligen Fahrzeugs getroffen. Diese Abgabe stellt eine „Gebühr“ i.S.d. Eurovignetten-Richtlinie dar41 und sollte den Fahrzeugen auferlegt werden, deren Gewicht 3,5 Tonnen beträgt oder übersteigt. Das 15 534 km lange betroffene Straßenverkehrsnetz hätte sich in 10 203 km nationale und 5 331 km lokale Straßen unterteilen lassen42. Nach den ersten Einschätzungen hätte diese Abgabe jährlich bis zu 1,1 Milliarden Euro Einnahmen gebracht, davon wären 280 Millionen an das mit dem Einzug beauftragte Unternehmen abgeführt worden. Folgende zwei Aspekte bieten hier Anlass zu weiteren Überlegungen: Die Bestimmung der rechtlichen Natur dieser LKW-Abgabe sowie die Modalitäten der Zuweisung dieser Aufgabe an einen privatrechtlichen Partner. Die Frage der rechtlichen Natur der Lkw-Abgabe wurde zum Gegenstand einer Debatte. Grundsätzlich bietet das französische Recht drei Arten obligatorischer Abgaben: Die Steuer (impôt), die Gebühr (redevance) und die dazwischenliegende Kategorie des Beitrags (taxe).

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Für eine solche Beschreibung, s. die 500 Seiten des Ecotaxe-Berichts: Assemblée nationale, Rapport d’information déposé le 14 mai 2014 par la Mission d’information sur l’écotaxe poids lourds. S. auch für eine detailliertere rechtliche Untersuchung sowie weitere Hinweise: Rapport fait du nom de la commission d’enquête du Sénat: les modalités du montage juridique et financer et l’environnement du contrat retenu in fine pour la mise en oeuvre de l’écotaxe poids lourd, 21. Mai 2014. 41 Die oben zitierten Richtlinien 1999/62/EG vom 17. Juni 1999, Richtlinie 2006/38/EG vom 17. Mai 2006, Richtlinie 2011/76/EU vom 27. September 2011. 42 Assemblée nationale, Rapport d’information déposé le 14 mai 2014 par la Mission d’information sur l’écotaxe poids lourds, S. 45.

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Zusammenfassend lässt sich die Steuer als eine „durch Hoheitsakt vom Einzelnen zur Deckung öffentlicher Lasten geforderte Geldleistung ohne Gegenleistung und ohne Aussicht auf Restitution oder Möglichkeit auf Rückforderung “43 definieren. Das Organgesetz zu den Finanzgesetzen (loi organique relative aux lois de finances – LOLF)44, der nahezu verfassungsrechtliche Rahmen des französischen Staatshaushalts, unterscheidet zwischen Steuern und „Entgelten für erbrachte Dienstleistungen“ (rémunérations de services rendus). Nach einer klassischen Definition besteht die „Gebühr für erbrachte Dienstleistungen“ (redevance pour services rendus) in einer von den Nutzern eines öffentlichen Diensts geforderten Geldleistung zur Deckung entweder der Betriebs- oder Gründungskosten dieses Diensts oder der Instandhaltungskosten eines öffentlichen Gebäudes als unmittelbare Gegenleistung für die von dieser Dienststelle erbrachten Dienstleistungen oder für die Nutzung des betroffenen öffentlichen Gebäudes45. Der Beitrag ist wie die Steuer der Kategorie der „Abgaben aller Art“ (impositions de toute nature)46 zuzurechnen und ist denselben Regeln unterworfen. Jedoch ist der Beitrag zumindest in theoretischer Hinsicht von der Steuer dadurch zu unterscheiden, dass er anlässlich einer bestimmten Leistung erhoben wird. Im Gegensatz zur Gebühr steht die Höhe des Betrags in keinerlei Verhältnis zur erbrachten Leistung: Der Beitrag ist nicht als Gegenleistung für eine erbrachte Leistung anzusehen. Die LKW-Abgabe trug zunächst den Namen „Öko-Gebühr“ (éco-redevance). Da diese Abgabe aber keine Gegenleistung für den Ausbau und die Instandhaltung der betroffenen Straßen bildet, mündete ihr Name allmählich in „Öko-Beitrag“ (écotaxe). Auf diesen Namen darf die Hypothese gestützt werden, dass die Beitragseigenschaft zum Teil von der Berücksichtigung externer Kosten herrührt. Diese Beitragseigenschaft ist nicht unumstritten, denn diese Abgabe wird anlässlich der Inanspruchnahme der Infrastruktur erhoben und die zurückgelegten Kilometer liegen der Bestimmung ihrer Höhe zugrunde. Autobahngebühren hingegen entsprechen nur noch selten den tatsächlichen Betriebskosten der Infrastruktur und ihre Höhe wird im Allgemeinen unter Berücksichtigung des durchschnittlichen Nutzungsverhaltens festgelegt und nicht in jedem Einzelfall unter Berücksichtigung der jeweiligen tatsächlichen Nutzung. Dabei erfolgt diese Bestimmung teilweise

43 Dies ist die übliche Definition der Steuer im französischen Recht nach einer Formulierung von Gaston Jèze, die hier vollumfänglich übernommen wurde. S. JÈZE (Gaston), Cours de finances publiques, LGDJ, 1936. 44 Organgesetz Nr. 2001 – 692 vom 1. August 2001 zu den Finanzgesetzen (loi organique relative aux lois de finance). 45 Conseil d’Etat, Entscheidung vom 23. Dezember 1959, Jacquier et Camidessus, Samml. (recueil) S. 705. 46 Verfassung vom 4. Oktober 1958, Art. 34.

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ohne direkte Bezugnahme auf die Erfordernisse der finanziellen Abschreibung der Infrastruktur47. Die Erhebung einer Steuer und nicht einer Gebühr hat die staatlichen Behörden und die mit dem Einzug des „Beitrags“ (s. oben) beauftragte Gesellschaft zur Gründung eines Systems übermäßiger rechtlicher und technischer Komplexität gezwungen48. Diese Komplexität hat zu negativen Auswirkungen auf die Fristen der Einführung des Systems geführt49, welches letztendlich erst im Jahre 2014 zur Anwendung kam. Zu diesem Zeitpunkt herrschte allerdings aufgrund der außerordentlichen Unbeliebtheit der Regierung keinerlei Akzeptanz gegenüber einer neuen Abgabe. Diese mangelnde Popularität wurde zu einem ausschlaggebenden Faktor beim Verzicht auf die weitere Durchführung des Systems, wie im Weiteren erläutert werden soll. Der andere Kernpunkt des Systems ergibt sich aus seiner Vergabe an eine Gesellschaft des Privatrechts mittels eines Partnerschaftsvertrags. Der Partnerschaftsvertrag darf als französische Version der „private public partnership“50 angesehen werden. Dieses Rechtsinstitut wurde weitgehend von der Private Finance Inititative inspiriert und ermöglicht die Vergabe eines „Gesamtauftrages zur Finanzierung immaterieller Investitionen, von Bauwerken oder Ausstattungen, die zur Erfüllung gemeinwirtschaftlicher Zwecke benötigt werden, sowie zur Finanzierung von deren Unterhalt, Wartung, Betrieb oder Verwaltung. Gegebenenfalls erstreckt sich der Auftrag auf die Finanzierung sonstiger Dienstleistungen, die einer Person des öffentlichen Rechts in der Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben dienlich sind“51. Das Entgelt des Vertragspartners wird vom jeweiligen öffentlich-rechtlichen Auftraggeber gezahlt. Der Vertragstypus des Partnerschaftsvertrags gilt an sich bereits als verrufen. Der mit dem Konsortium Ecomouv’ abgeschlossene Vertrag ist umso mehr kritikwürdig, 47 Cour des comptes, Jährlicher Bericht (Rapport public annuel) 2008, S. 237 – 321, insb. S. 238 ff. 48 Assemblée nationale, Rapport d’information déposé le 14 mai 2014 par la Mission d’information sur l’écotaxe poids lourds, S. 38. 49 Die Anwendung wurde durch einen Rechtsstreit um mehrere Monate verschoben, welcher erst mit dem folgenden Urteil beendet wurde: Conseil d’Etat SSR, Urteil vom 24. Juni 2011, Ministre de l’économie, Rs. Nr. 347720 ECLI : FR:CESSR:2011:347720.20110624. 50 Philippe Cossalter, „Introduction à la Private Finance Initiative“, in : Philippe Cossalter / Bertrand du Marais, La Private Finance Initiative, Institut de la gestion déléguée, 2001, S. 11 – 74. 51 Art. 1 des Regierungsgesetzes Nr. 2004 – 559 vom 17. Juni 2001 über Partnerschaftsverträge (ordonnance sur les contrats de partenariat): „mission globale relative au financement d’investissements immatériels, d’ouvrages ou d’équipements nécessaires au service public, à la construction ou transformation des ouvrages ou équipements, ainsi qu’à leur entretien, leur maintenance, leur exploitation ou leur gestion, et, le cas échéant, à d’autres prestations de services concourant à l’exercice, par la personne publique, de la mission de service public dont elle est chargée“.

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da hiermit eine Person des Privatrechts mit dem automatisierten Einzug einer Steuer beauftragt wurde. Der Conseil d’Etat, der höchste Gerichtshof innerhalb der französischen Verwaltungsgerichtsbarkeit, hat sich zur Frage der Rechtmäßigkeit dieses Mechanismus wie folgt geäußert: Seiner Ansicht nach sei kein Anlass zu verfassungsrechtlichen Bedenken in der Beauftragung einer Person des Privatrechts mit der Erhebung von Daten zur Bemessungsgrundlage einer Steuer, mit der Feststellung und mit dem Einzug dieser Steuer zu sehen52, soweit die Zuständigkeit für die Zwangseinziehung dieser Steuer bei Verwaltungsbeamten bleibt, und der Vertragspartner einer strikten Kontrolle unterworfen wird53. Allerdings sei eine derartige Vergabe eines öffentlichen Auftrags nur durch Gesetz (und nicht durch Regierungsgesetz) zu billigen gewesen. Die erforderliche Ergänzung zum Regierungsgesetz über den Partnerschaftsvertrag erfolgte in Form eines Finanzgesetzes, dessen Vorschriften eine Ermächtigung des Staates zur Beauftragung eines externen Dienstleisters mit der Gesamtheit der Aufgaben zur Feststellung und Beitreibung der Abgabe vorsahen54. Die Zuständigkeit für die Zwangseinziehung der Abgabe blieb bei der Zollverwaltung. Der Einzug dieser Abgabe sollte durch ein automatisches Verfahren erfolgen, durch die Einrichtung von Kontrollgates auf den Straßen sowie der Ausstattung der Lkws mit Kilometerzählern. Mit diesem Gesamtsystem wäre Frankreich der erste Mitgliedstaat gewesen, der die Unionsrichtlinie über die Interoperabilität elektronischer Mautsysteme55 in ihrem vollen Umfang umgesetzt hätte. 52 Conseil d’État, Stellungnahme vom 11. Dezember 2007, Nr. 381058: „28 Kein Grundsatz verfassungsrechtlichen Rangs steht der Beauftragung eines Dienstleistungsanbieters des Privatrechts mit der Erhebung von Daten zur Bemessungsgrundlage der ,Lkw-Abgabe‘, mit der Feststellung und mit dem Einzug dieser Steuer entgegen, soweit diese Strukturen bei der Erfüllung ihrer Aufgabe der staatlichen Aufsicht unterworfen bleiben, ausreichende Sicherheiten zur vollständigen Rückzahlung der Rechnungsbeiträge hinterlegt werden und die Einhaltung der erforderlichen Buchführungsregeln bei der Erbringung dieser öffentlichen Aufgabe gewährleistet wird“. („28 Aucun principe de valeur constitutionnelle ne s’oppose à ce que le législateur confie à un prestataire privé la mission de réaliser les prestations de collecte des éléments d’assiette, de liquidation et de recouvrement de la taxe ,poids lourds‘ sous réserve que cet organisme soit placé dans cette mesure sous le contrôle de l’Etat, que soient constituées des garanties de nature à assurer le reversement intégral des sommes facturées et que l’exécution du service public soit assurée dans le respect des règles comptables appropriées.“). 53 Damit ist der Conseil d’État der Rechtsprechung des Conseil Constitutionnnel gefolgt: Conseil Constitutionnel, Entscheidung Nr. 90 – 285 DC vom 28. Dezember 1990 zum Finanzgesetz für das Jahr 1991 (décision relative à la loi de finances pour 1991). 54 Art. 153 des Finanzgesetzes Nr. 2008 – 1425 vom 27. Dezember 2008 für das Jahr 2009 (loi de finances pour 2009). 55 Richtlinie 2004/52/EG vom 29. April 2004 über die Interoperabilität elektronischer Mautsysteme in der Gemeinschaft, Abl. Nr. L 166 vom 30. April 2004, S. 124; Entscheidung der europäischen Kommission vom 6. Oktober 2009 (2009/750/EG) über die Festlegung der Merkmale des europäischen elektronischen Mautdienstes und seiner technischen Komponenten, Abl. NR. L 268 vom 13. Oktober 2009, S. 11.

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VIII. Die Abkehr von der Ecotaxe Beinahe alle Kontrollgates für den Umweltbeitrag waren vom Auftragnehmer, dem Konsortium Ecomouv’, eingerichtet worden, als sich in der Bretagne heftiger Widerspruch gegen diesen Mechanismus erhob. Eine Reihe an Sozialmaßnahmen in der Nahrungsmittelindustrie56 und die beginnende Erhebung der Umweltsteuer auf schadstoffausstoßende Fahrzeuge hatten eine gewaltige Protestbewegung hervorgerufen. Diese Bewegung wurde mit dem ersten Angriff auf ein Kontrollgate bei Pont-de-Buis und seiner anschließenden Zerstörung am 28. Oktober 2013 unter dem Namen „die roten Mützen“ („les bonnets rouges“)57 bekannt. Mit der Unterstützung zahlreicher bretonischer Politiker, teilweise auch Mitglieder der unteren Kammer des Parlaments (assemblée nationale), geriet die Lage bald außer Kontrolle. Verschiedene Kontrollgates wurden angegriffen und niedergebrannt. In der Regierung verbreitete sich die Befürchtung einer Ausweitung des Konflikts auf die gesamte französische Gesellschaft. Diese Ereignisse haben ferner die Infragestellung der Abschlussbedingungen des Partnerschaftsvertrags zur Vergabe des Einzugsauftrags an Ecomouv’ gefördert. Darüber hinaus wurden die Bedingungen dieses Verzichts des Staates auf die Einnahmen des Autobahnwesens zum Gegenstand heftiger Kritiken, obwohl die Privatisierung der Autobahngesellschaften im Jahre 2006 ohne besondere Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit vonstatten ging. Zwei Informationen gaben besonderen Anlass zu Auseinandersetzungen. Die erste betraf die fraglichen Bedingungen der Vergabe des Auftrags, welche die eventuelle Begehung von Untreuehandlungen zulasten des Staates ermöglichten. Eine gründliche Untersuchung dieser durch die Medien verbreiteten Information konnte noch nicht vorgenommen werden58. Die zweite Information bezog sich auf die Vertragsbedingungen, die für das privatrechtliche Konsortium als sehr günstig bewertet wurden. Vor allem wurde die Übermäßigkeit der in Frankreich auf 25 % geschätzten Einzugskosten im Vergleich zur Höhe dieser Kosten in Deutschland (wo sie auf 13 % geschätzt wurden, obwohl sie sich wohl eher auf ungefähr 20 % belaufen) oder in 56

Die Ecotaxe stellt einen interessanten Vergleichspunkt zu Deutschland dar, ebenso wie die Sozialmaßnahmen in der bretonischen Nahrungsmittelindustrie, da der gegenwärtige Niedergang der Schweinefleischindustrie zum Teil durch den Wettbewerb mit den deutschen Schlachthöfen bedingt ist, welche aufgrund von in den 1990er und 2000er Jahren durchgeführten drastischen Sparplänen rentabler als die französischen Einrichtungen geworden sind. 57 Eine beachtliche Zahl der Protestanten trug eine rote Seemannskappe, die zunächst vom bretonischen Kleidungshersteller Armor-Lux verschenkt wurde und später im Handel käuflich zu erwerben war. Die rote Farbe sollte an die für die Französische Revolution symbolische phrygische Mütze erinnern. 58 Der hierfür eingesetzte Untersuchungsausschuss der oberen Kammer des Parlaments (Sénat), dem nur eingeschränkte Ermittlungsmittel zur Verfügung standen, kam zum Ergebnis, dass der Grundsatz der Gleichbehandlung der Mitbewerber eingehalten wurde. S. den Bericht des Untersuchungsausschusses: Rapport fait au nom de la commission d’enquête du Sénat, les modalités du montage juridique et financier et l’environnement du contrat retenu in fine pour la mise en oeuvre de l’écotaxe poids lourds, 21. Mai 2014, S. 101.

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Österreich (8 %) kritisiert. Es liegt auf der Hand, dass derartige Vergleiche aufgrund der starken technischen Abweichungen zwischen den jeweiligen Mechanismen sowie der französischen Entscheidung, sich den technischen Interoperabilitätserfordernissen zu unterwerfen, äußerst unsicher sind59. Eine nachvollziehbare Vergleichsstudie zu diesen Fragen wurde noch nicht durchgeführt. Eine solche Studie erscheint sogar aufgrund des im Folgenden erläuterten Verzichts auf die Ecotaxe, der mit hoher Wahrscheinlicht zur Aufhebung des an Ecomouv’ vergebenen Auftrags führen wird, nicht erforderlich. Am 29. Oktober 2013 wurde die vorläufige Aussetzung der Ecotaxe für die „zur Durchführung eines Dialogs auf nationaler und regionaler Ebene erforderliche Zeit“ durch den Premierminister Jean-Marc Ayrault verkündet60, woraufhin am 9. November 2013 ein Ausschuss zur Ermittlung der Bedingungen des juristischen und finanziellen Mechanismus des mit Ecomouv’ abgeschlossenen Vertrags61 eingerichtet wurde. Am 12. November 2013 wurde eine Stelle zur Aufklärung des Ecotaxe-Vorgangs vom Sénat eingerichtet62, welche eine erforderliche Analyse der Einführungsbedingungen der Ecotaxe, vor allem ihrer Umsetzung, durchführen sollte. Dem Bericht ist keine wesentliche Kritik des Gesamtsystems zu entnehmen, jedoch formulierte die Aufklärungsstelle zahlreiche Vereinfachungsvorschläge. Die Kernaussage des Berichts der Aufklärungsstelle besteht aber in der Feststellung der Unmöglichkeit und Unverhältnismäßigkeit des schlichten und einfachen Verzichts auf die Ecotaxe sowie die Andeutung von „horrenden finanziellen Folgen eines Verzichts auf den staatlichen Haushalt, welche mit hoher Wahrscheinlichkeit über mehrere Jahre spürbar bleiben würden, unabhängig davon, ob diese Kosten aus den Vereinbarungen entstehen, die in Anwendung der Klauseln über die Vertragsbeendigung getroffen werden sollen oder aus der Aufhebung des Vertrags aus einem Grund des Allgemeininteresses oder gar im Wege der gerichtlichen Beseitigung eines eventuellen Rechtstreites mit den Partnern, die vom Staat ausgesucht worden waren“63. Die von der einseitigen Aufhebung des Vertrags verursachten Kosten sollen sich nach offiziellen Angaben auf beinahe eine Milliarde Euro belaufen, und der

59 Richtlinie 2004/52/EG vom 29. April 2004 und Entscheidung der Kommission vom 6. Oktober 2009 (2009/750/EG), loc. cit. 60 Diese Erklärung wurde im folgenden Bericht zitiert: Rapport fait au nom de la commission d’enquête du Sénat les modalités du montage juridique et financier et l’environnement du contrat retenu in fine pour la mise en oeuvre de l’écotaxe poids lourds, 21. Mai 2014, S. 16: „le temps nécessaire à un dialogue au niveau national et régional“. 61 Rapport fait au nom de la commission d’enquête du Sénat les modalités du montage juridique et financier et l’environnement du contrat retenu in fine pour la mise en œuvre de l’écotaxe poids lourds, 21. Mai 2014. 62 Diese Stelle verfasste den Bericht vom 14. Mai 2014, loc. cit. 63 Assemblée nationale, rapport d’information déposé le 14 mai 2014 par la Mission d’information sur l’écotaxe poids lourds, S. 15 – 16. (Bericht der Aufklärungsstelle für die Lkw-Ecotaxe, am 14. Mai 2014 vorgelegt).

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Staat selbst würde dadurch auf Einnahmen in Höhe von jährlich ca. 800 Millionen Euro verzichten. Die Proteste der Bevölkerung, vor allem in der Bretagne, konnten dennoch die Einrichtung eines bereits vom Parlament beschlossenen Systems verhindern. Der Premierminister hat am 22. Juni 2014 die Ersetzung der Ecotaxe durch eine „Transitmaut auf Lkws“ (péage de transit poids lourds) angekündigt. IX. Die Abkehr von der Transitabgabe Die „Transitmaut auf Lkws“, auch „Transitabgabe“ (taxe de transit) genannt, besteht in der Verringerung der Strecken, auf welchen die landesweite Abgabe auf Güterkraftfahrzeuge erhoben werden soll. Das der Ecotaxe unterworfene Straßenverkehrsnetz betrug, nach Abzug der einer Autobahnmaut unterworfenen Autobahnen (welche nicht der Ecotaxe unterworden worden waren), insgesamt 10.000 km. Die Änderung des Systems führte zu einer Verringerung dieses Netzes auf einen Kern an Hauptverkehrsachsen von nur 4.000 km. Im Nachtragshaushaltsgesetz für das Jahr 2014 wurde die künftige Erhebung der Abgabe auf den „im Metropolgebiet gelegenen Autobahnen und Straßen, die in Verkehrsrouten mit einer täglichen durchschnittlichen Verkehrsdichte von mehr als 2.500 der betroffenen Fahrzeuge eingebunden sind, und die dem nationalen Vermögen an Verkehrsstraßen angehören (…), unter Ausnahme derjenigen Autobahn- und Straßenstrecken, auf welchen Mautgebühren erhoben werden“ sowie der „Straßen im Eigentum einer Gebietskörperschaft, sofern diese Straßen Alternativen zu den abgabepflichtigen Strecken darstellen“64. Die nähere Bestimmung des betroffenen Straßenverkehrsnetzes soll durch Regierungsverordnung (décret) erfolgen. In der Regierungsverordnung vom 29. September 2014 wurde eine Aufzählung der nationalen Straßen und nicht mautpflichtigen Autobahnen erstellt, auf welchen die Abgabe erhoben werden soll65. Es liegt der Verdacht nahe, dass das Hauptanliegen der Regierung bei dem Entwurf dieses Systems in der Umgehung der Bretagne bestand, welche nur am Rande betroffen wird. Die Fachleute der Transportbranche spürten jedoch, dass sie ihre Vorteile ausbauen konnten. An diesem Punkt kann eine Abhilfemöglichkeit weder vom Richter noch 64

Nachtragshaushaltsgesetz Nr. 2014 – 981 vom 8. August 2014 für das Jahr 2014 (loi de finances rectificative pour 2014): „autoroutes et routes situées sur le territoire métropolitain intégrées à des itinéraires supportant un trafic moyen journalier excédant 2 500 véhicules assujettis, et appartenant au domaine public routier national […]à l’exception des sections d’autoroutes et routes soumises à péages“ et aux „routes appartenant à des collectivités territoriales, lorsque ces routes supportent ou sont susceptibles de supporter un report significatif de trafic“. 65 Regierungsverordnung Nr. 2014 – 10999 vom 29. September 2014 über die Zusammensetzung der nationalen Abgabe auf Güterkraftfahrzeuge unterworfenen landesweiten Straßenverkehrsnetzes (décret relatif à la consistance du réseau routier national soumis à la taxe nationale sur les véhicules de transport de marchandises).

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vom Gesetzgeber geschaffen werden. Die dem Verfasser zur Verfügung stehenden Informationen wurden politischen Berichterstattungen aus den Medien entnommen. Folgende Zusammenfassung ergibt sich hieraus: Die Ankündigung eines landesweiten Streiks der Verkehrsunternehmer für den 13. Oktober 2014 hatte die Verkündung der „Aussetzung sine die“ der Ecotaxe bereits ab dem 9. Oktober 2014 zur Folge66. X. Die politisch und rechtlich ausweglose Lage der französischen Regierung „Bis jetzt gilt Deutschland als „Musterbeispiel“ in Europa, da das System der Lkw-Maut trotz des „geschlossenen“ Charakters des Systems und seiner hohen Betriebskosten die Einbeziehung eines umfangreichen Straßenverkehrsnetzwerkes ermöglicht (ca. 12 000 km). Mit dem Inkrafttreten des französischen Systems wird jedoch das gebührenpflichtige Straßenverkehrsnetz Frankreichs das längste Europas sein, auch unter Abzug der 8000 km bereits mautpflichtiger Autobahnstrecken. Dank seiner technischen Interoperabilität wird dieses System mit dem Einfluss der Europäischen Kommission zum Vorbild werden – ein dahingehender Vorschlag zur Änderung der „Eurovignetten“-Richtlinie könnte vorgelegt werden“67. Dieser Auszug aus dem im Mai 2014 veröffentlichen Bericht der parlamentarischen Aufklärungsstelle für die Ecotaxe liefert Anhaltspunkte für den gewaltsamen Bruch mit diesem System sowie für die fehlende Vorbereitung des Staates. 66 „Ecotaxe: une volée de coups de pied au recul – Après la capitulation, sans combat, de Ségolène Royal face aux transporteurs routiers, la facture arrive…“, Le Canard enchaîné, 15. Oktober 2014, S. 3. Der Artikel beginnt wie folgt: „Am Ende der Ministersitzung am Mittwoch, dem 8. Oktober 2014 nehmen der Präsident François Hollande und der Premierminister Manuel Valls die Umwelt- und Verkehrsministerin Ségolène Royal beiseite. Sie sind besorgt: Die Transportunternehmer drohen mit einer Blockade auf der Gesamtheit des französischen Territoriums. Die Ministerin erhielt einen Freibrief zur Lösung der Situation und sogar zur „Aufhebung der Ecotaxe, je nach Stand der Debatte und dem guten Willen der Teilnehmer“, wie Hollande und Valls klarstellen“. „A la sortie du Conseil des ministres, mercredi 8 octobre 2014, François Hollande et Manuel Valls [le premier ministre] prennent Ségolène Royal [ministre de l’environnement] à part. Ils sont inquiets: les routiers menacent de bloquer la France. Ségolène reçoit un mandat impératif: ouvrir immédiatement des négociations avec les fédérations de transporteurs. Elle a carte blanche pour trouver une solution. Et même pour décider la suppression de l’écotaxe en fonction des discussions et de la bonne volonté des acteurs, lui précisent clairement Hollande et Valls“. 67 Assemblée nationale, rapport d’information déposé le 14 mai 2004 par la Mission d’information sur l’écotaxe poids lourds, S. 35: „Jusqu’à présent, c’est l’Allemagne qui est considérée en Europe comme un ,modèle‘, dans la mesure où le dispositif de la LKW Maut permet de couvrir un réseau routier très étendu (environ 12 000 km), malgré le caractère ,fermé‘ de ce système et son coût de gestion élevé ; mais lorsque le dispositif français entrera en vigueur, même si l’on ne tient pas compte des quelque 8 000 km d’autoroutes déjà soumises à péage, le réseau français soumis à redevance d’usage sera le plus long de l’Union européenne, et compte tenu de son caractère techniquement interopérable, c’est ce système qui deviendra, sous l’impulsion de la Commission européenne, un modèle à suivre – une proposition de révision de la directive ,Eurovignette‘ allant dans ce sens pourrait être déposée.“

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Dieser befindet sich heute in einer Zwangslage, in die er sich selbst gebracht hat. Einerseits wird die Mehrheit des nicht von der Konzession erfassten Autobahnnetzes von privatrechtlichen Gesellschaften betrieben, welche sich auf einen sehr umfangreichenden Schutz in den Konzessionsverträgen berufen können. Eine Umverteilung der im Rahmen dieser extrem gewinnreichen Verträge erwirtschafteten Dividenden ist ausgeschlossen. Andererseits erscheint eine Umsetzung der Ecotaxe auf kurze Sicht aufgrund der politischen Lage undenkbar. In dieser doppelten Zwangslage wird dem französischen Staat jeder Haushaltsspielraum zur Finanzierung einer eventuellen Modernisierungspolitik im Verkehrswesen entzogen. Die Umwelt- und Verkehrsministerin Ségolène Royal ist für ihre Ankündigungen unrealistischer Vorhaben bekannt geworden. Zurzeit sei sie auf der Suche nach Lösungen, die einerseits eine Senkung der Höhe des an Ecomouv’ geschuldeten Schadensersatzes ermöglichen würden, andererseits die Abgabe eines Anteils am Gewinn der konzessionsinhaberischen Autobahngesellschaften an den Staat. Wie bereits hervorgehoben, wird auf der Seite von Ecomouv’ die Aufhebung der Ecotaxe zu erheblichen Folgen führen. Die Höhe des Schadenersatzanspruchs des Konsortiums wird sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auf über eine Milliarde Euro belaufen. Die Autobahngesellschaften ihrerseits verfügen über Bau- und Dienstleistungskonzesssionen des öffentlichen Rechts, der dadurch gewährleistete Schutz übertrifft bei Weitem den durch Verleihung eines gesetzlichen Monopols gebotenen Schutz. Denn obwohl das System der licences und des franchising den öffentlichen Behörden die Ausübung weitgehender Regulierungsbefugnisse gestattet, findet mit dem Abschluss des Vertrags die Festlegung eines festen Rahmens statt, aus welchem es nur einen einzigen Ausweg gibt: Denjenigen des Erlasses entsprechender Rechtsverordnungen, deren Rechtmäßigkeit von der Einräumung extrem hoher Schadenersatzsummen abhängt. Die Rückforderung der Monopoleinkünfte, die zum Vorteil der Autobahngesellschaften geschaffen wurden, bleibt ausgeschlossen. Die britische Regierung hingegen hatte mit der berühmten Windfall tax den Wasserversorgungsgesellschaften erhebliche Steuerlasten auferlegen können68. Die Abkehr von der Ecotaxe geschah zum gleichen Zeitpunkt wie die Veröffentlichung eines Berichts des französischen Rechnungshofes zu einem der Flaggschiffe der französischen Eisenbahnindustrie: Der sog. „Train à grande vitesse“ (TGV Hochgeschwindigkeitszug)69. In diesem Bericht wird die übermäßige Entwicklung des Hochgeschwindigkeitseisenbahnverkehrs und dessen horrende Kosten bemängelt. Der Rechnungshof kritisiert unter anderem die Tatsache, dass der Agentur für Finan68

Lucy Chennells, „The Windfall Tax“, Fiscal Studies, 1997, Vol. 18, Nr. 3, S. 279 – 291, S. 280; The Economic Review, April 1998, Vol. 15, Nr. 4. 69 Cour des Comptes, La grande vitesse ferroviaire: un modèle porté au-delà de sa pertinence, Rapport public thématique, Oktober 2014.

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zierung der Verkehrsinfrastruktur in Frankreich (Agence de financement des infrastructures de transports de France – AFITF) ein erheblicher Teil ihrer Ressourcen entzogen wurde sowie die damit verbundene Gefährdung der Möglichkeiten zur Finanzierung neuer Hochgeschwindigkeitseisenbahnlinien. Welchen Weg er auch geht, der französische Staat stellt durch seine verschiedenen Institutionen die strategischen Entscheidungen, die in den vergangenen Jahrzehnten getroffen wurden, in Frage: Entwicklung von Hochgeschwindigkeitseisenbahnlinien, Privatisierung der Autobahnen, Einführung der Ecotaxe. Der französische Staat muss sich gegenwärtig mit der strengsten Haushaltsdisziplin seit dem Zweiten Weltkrieg auseinandersetzen. Wie so viele andere Staaten muss er sich den Erfordernissen einer Krisenwirtschaft anpassen. Dabei hat er sich allerdings nicht für eine methodische Vorgehensweise entschieden, sondern für eine allgemeine „Rette-sich-wer-kann“-Reaktion: Eine derartige Reaktion setzt keine positiven Zeichen für eine gewissenhafte Verwaltung des staatlichen Haushalts.

Effektiver Rechtsschutz nach Art. 47 GRCh und seine Folgen für den nationalen (Verwaltungs-)Rechtsschutz Von Annette Guckelberger, Saarbrücken I. Einleitung Der Jubilar Rudolf Wendt hat sich in seiner Eigenschaft als Vizepräsident des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes sowie in Lehre und Forschung1 vielfach mit Rechtsschutzfragen befasst. Dies möchte ich zum Anlass nehmen, die Bedeutung des Art. 47 GRCh einschließlich seiner Folgen für das nationale Rechtsschutzregime zu beleuchten. Seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon2 verfügt die Europäische Union über einen kodifizierten Grundrechtekatalog, wobei die dort enthaltenen Grundrechte den Verträgen rechtlich ebenbürtig sind (Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 EUV). Art. 47 Abs. 1 GRCh verbürgt jeder Person, deren unionsrechtliche Rechte verletzt worden sind, ein Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf bei einem Gericht. Absatz 2 garantiert, dass die Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist behandelt wird, sowie das Recht auf Beratung, Verteidigung und Vertretung. Komplettiert wird diese Garantie durch ein Recht auf Prozesskostenhilfe (Art. 47 Abs. 3 GRCh). Weil die Unionsgerichte schon zuvor eine umfangreiche und lange zurückreichende Rechtsprechung zum effektiven Rechtsschutz etabliert hatten, wurde mit Art. 47 GRCh kein völliges Neuland betreten.3 Die schriftliche Ausformulierung des Art. 47 GRCh fördert jedoch seine Sichtbarkeit und trägt somit zur Rechtsbehelfsklarheit bei.4 Neben der Art. 47 GRCh zukommenden praktischen Relevanz ist möglicherweise auch diese Klarheit der Grund, warum Verstöße hiergegen deutlich häufiger als bei anderen Grundrechten vor den Unionsgerichten gerügt wer1

S. nur Wendt, in: Ennuschat (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Peter J. Tettinger, 2007, S. 335 ff.; ders., in: Mann/Püttner, Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, Bd. 2, 2011, S. 75 ff. 2 ABl. EU v. 17. 12. 2007, Nr. C 306, S. 1 ff. 3 Dazu nur Giegerich/Lauer ZEuS 2014, 461, 463; Reich VuR 2012, 327; zur Entwicklung der Rechtsprechung Munding, Das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz im Rechtssystem der Europäischen Union, 2010, S. 100 ff.; Stotz, in: Zentrum für Europäisches Wirtschaftsrecht (Hrsg.), Effektiver Rechtsschutz in der Europäischen Union, 2013, S. 4 ff. 4 Ähnlich Giegerich/Lauer ZEuS 2014, 461, 464.

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den.5 Dementsprechend hob kürzlich der EuGH-Richter Safjan dessen „singular importance among the Charter rights by serving as their transmission belt“ hervor.6 Das Recht auf effektiven Rechtsschutz bildet den „Schlussstein im Gewölbe des Rechtsstaats“7 und dokumentiert den Charakter der Union als Rechtsunion (s. auch Art. 2 EUV).8 Es stellt mit den Worten des EuGH „ein Grundprinzip des Unionsrechts“ dar.9 Durch Art. 47 GRCh wird der allgemeine Grundsatz auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz bekräftigt, wie er sich aus der EMRK sowie den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergibt.10 In Deutschland ist neben dem allgemeinen, aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip entnommenen Justizgewährungsanspruch11 die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG für die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes wegweisend. Dieses nationale Grundrecht kann auf eine Erfolgsgeschichte zurückblicken12 und inspirierte als ein „Vorzeigeprodukt[…]“ der deutschen Staats- und Verfassungsordnung ausländische Verfassungen.13 Die gegenüber Art. 47 GRCh knappere und kargere Ausgestaltung des Art. 19 Abs. 4 GG lässt sich mit der gegenüber dem Grundgesetz deutlich späteren Entstehung der Grundrechtecharta,14 den zwischenzeitlich gemachten Erfahrungen mit dem Recht auf effektiven Rechtsschutz sowie dem rechtsvergleichenden Blick auf andere Verfassungen erklären. Dies bedeutet aber nicht, dass der effektive Rechtsschutz in Deutschland zwangsläufig hinter den unionsrechtlichen Anforderungen zurückbleiben muss.15 Vielmehr deutet die geringe Zahl deutscher Verwaltungsgerichtsentscheidungen in der Juris-Datenbank zu Art. 47 GRCh darauf hin, dass in

5 Zur Rügehäufigkeit Stotz (Fn. 3), S. 28. Allgemein zur zunehmenden Beurteilung von Grundrechtsfragen durch den EuGH seit Inkrafttreten der GRCh Bergmann, in: Calliess (Hrsg.), Liber amicorum für Torsten Stein, 2015, S. 403 ff. 6 Safjan, A Union of Effective Judicial Protection, King’s College London, February 2014, S. 1. 7 Nowak, in: Heselhaus/ders., Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2006, § 51 Rn. 1; Rengeling, in: Becker/Hatje/Potacs/Wunderlich (Hrsg.), FS für Schwarze, 2014, S. 735; für die nationale Ebene Papier, in: Kube u. a. (Hrsg.), FS für Kirchhof, 2013, § 85 Rn. 1. 8 Jarass NJW 2011, 1391; Pabel, in: Grabenwarter (Hrsg.), Europäischer Grundrechteschutz (EnzEuR), Bd. 2, 2014, § 19 Rn. 2; s. auch EuGH NVwZ 2014, 53, 56 Rn. 91. 9 EuGH NVwZ 2011, 1380, 1383 Rn. 61. 10 EuGH, Rs. C-93/12, Urt. v. 27. 6. 2013 Rn. 59. 11 BVerfGE 107, 395, 401; zuletzt BVerfG, Beschl v. 17. 9. 2014, Az. 2 BvR 64/12 juris Rn. 23; zum durchaus vergleichbaren Rechtsschutzstandard durch diesen Anspruch und durch Art. 19 Abs. 4 GG Ottaviano, Der Anspruch auf rechtzeitigen Rechtsschutz im Gemeinschaftsprozessrecht, 2009, S. 7 ff.; Papier (Fn. 7), § 85 Rn. 3. 12 Papier (Fn. 7), § 85 Rn. 1. 13 Papier (Fn. 7), § 85 Rn. 1; dazu Tonne, Effektiver Rechtsschutz durch staatliche Gerichte als Forderung des europäischen Gemeinschaftsrechts, 1997, S. 86 f., 115, 119 Fn. 489. 14 Uhle, in: Heckmann/Schenke/Sydow (Hrsg.), FS für Würtenberger, 2013, S. 935, 955. 15 Uhle (Fn. 14), S. 935, 955.

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Deutschland kaum Zweifel an der Rechtsschutzeffektivität des deutschen Verwaltungsprozessrechts bestehen. II. Die Garantie effektiven Rechtsschutzes in Art. 47 GRCh Art. 47 GRCh betrifft nach seiner Überschrift das „Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht“. Der dort verankerte Grundsatz effektiven Rechtsschutzes setzt sich – so der EuGH – aus mehreren Elementen zusammen.16 Das in Absatz 1 geregelte Recht auf Einlegung eines wirksamen Rechtsbehelfs bei einem Gericht wurde Art. 13 EMRK nachgebildet,17 garantiert aber im Unterschied zu diesem einen wirksamen Rechtsbehelf auf eine gerichtliche Entscheidung.18 Da der Zugang zu einem Gericht ausreicht, folgt aus Art. 47 Abs. 1 GRCh kein Recht auf eine weitere Gerichtsinstanz.19 Sollte jedoch eine solche eröffnet sein, finden die verfahrensrechtlichen Garantien des Art. 47 GRCh Anwendung.20 Während das Recht auf eine wirksame Beschwerde nach Art. 13 EMRK nur für Verletzungen der Rechte oder Freiheiten „dieser Konvention“ gilt, geht Art. 47 GRCh darüber hinaus. Dieses Rechtsschutzgrundrecht kommt bei Verletzung aller sich aus dem Unionsrecht ergebenden Rechte und Freiheiten zur Anwendung.21 Infolgedessen können sich die einzelnen Grundrechtsträger bei Geltendmachung einer Verletzung ihrer Rechte aus dem Primär- oder Sekundärrecht auf Art. 47 GRCh berufen.22 Auch wenn die Mitgliedstaaten Rechte in Umsetzung oder Durchführung unionsrechtlicher Bestimmungen gewähren, ist Art. 47 GRCh einschlägig.23 Abweichend zur Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG greift Art. 47 Abs. 1 GRCh auch, wenn das Unionsrecht durch hieran gebundene Privatpersonen verletzt wird.24

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EuGH EuZW 2013, 24, 26 Rn. 48. EuGH, Rs. C-334/12 RX-II, Urt. v. 28. 2. 2013 Rn. 42. 18 Nowak (Fn. 7), § 51 Rn. 29; Pabel (Fn. 8), § 19 Rn. 19; Rademacher, Realakte im Rechtsschutzsystem der Europäischen Union, 2014, S. 171 ff., 212; näher dazu Giegerich/ Lauer ZEuS 2014, 461, 466. 19 EuGH NVwZ 2011, 1380, 1383 Rn. 69. 20 Pabel (Fn. 8), § 19 Rn. 47. 21 Kugelmann, in: Niedobitek (Hrsg.), Europarecht – Grundlagen der Union, 2014, § 4 Rn. 152. 22 Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 4, Europäische Grundrechte, 2009, Rn. 5001; Giegerich/Lauer ZEuS 2014, 461, 465; Raschauer/Sander/Schlögl, in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, 2014, Art. 47 Rn. 29. 23 Frenz (Fn. 22), Rn. 5004; Raschauer/Sander/Schlögl (Fn. 22), Art. 47 Rn. 29. 24 Voet van Vormizeele, in: Schwarze, EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 47 Rn. 7; dazu, dass Art. 47 GRCh das Pendant zu Art. 19 Abs. 4 GG und dem allgemeinen Justizgewähranspruch in Deutschland bildet, Jarass NJW 2011, S. 1395. 17

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Art. 47 Abs. 1 GRCh wurde als allgemeines Menschenrecht konzipiert.25 Grundsätzlich kann sich „jede Person“ darauf berufen, selbst wenn sie außerhalb der Union sesshaft sein sollte. Allerdings kann aus der Akzessorietät der Rechtsschutzgarantie zu dem als verletzt gerügten Recht eine Verengung resultieren. Weil sich z. B. Art. 42 GRCh nur auf Unionsbürger und auf Personen mit Wohn- oder satzungsmäßigem Sitz in der Union bezieht, können andere als die dort genannten Personen keine Verletzung des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf zur Durchsetzung des Rechts aus Art. 42 GRCh geltend machen.26 Da im Unterschied zu anderen Grundrechten (Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 6 GRCh) in Art. 47 GRCh von „Person“ und nicht von „Mensch“ die Rede ist und sich Art. 47 GRCh am Ende der Einzelgrundrechte befindet, arbeitete der EuGH zutreffend heraus, dass diese Garantie auch juristischen Personen zugutekommen kann.27 Das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf vermittelt den berechtigten Personen keine Erfolgsgarantie in dem Sinne, dass das gerichtliche Verfahren zu ihren Gunsten ausgehen muss.28 Ein wirksamer Rechtsbehelf setzt grundsätzlich die volle Kognitionsbefugnis des Gerichts über alle Tatsachen- und Rechtsfragen der bei ihm anhängigen Streitigkeit voraus.29 Auch wenn der Kommission in bestimmten Wirtschaftsfragen rechtlich ein Wertungsspielraum zusteht, müssen die Gerichte nicht nur die sachliche Richtigkeit der angeführten Beweise, ihre Zuverlässigkeit und Kohärenz kontrollieren. Zu prüfen ist auch, ob diese Beweise alle für die Beurteilung der komplexen Situation relevanten Daten darstellen und sie die aus ihnen gezogenen Schlüsse untermauern können.30 Der an Art. 6 Abs. 1 EMRK ausgerichtete31 Art. 47 Abs. 2 GRCh gilt im Unterschied zu Ersterem nicht nur für zivil- und strafrechtliche, sondern für alle gerichtlichen Streitigkeiten.32 Danach muss das Rechtsschutz gewährende Gericht unabhängig33 und unparteiisch sein. Nach dem EuGH bedeutet die subjektive Unparteilichkeit des Gerichts, die bis zum Beweis des Gegenteils vermutet wird, dass keines seiner Mitglieder Voreingenommenheit oder persönliche Vorurteile an den Tag legen

25 Blanke, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 47 GRCh Rn. 5; Eser, in: Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2014, Art. 47 Rn. 10; Giegerich/ Lauer ZEuS 2014, 461, 465. 26 Eser (Fn. 25), Art. 47 Rn. 10; Frenz (Fn. 22), Rn. 4997; Raschauer/Sander/Schlögl (Fn. 22), Art. 47 Rn. 29. 27 EuGH EuZW 2011, 137, 139 Rn. 37 ff.; Voraussetzung ist, dass die juristische Person durch das als verletzt gerügte Recht berechtigt wird, s. Frenz (Fn. 22), Rn. 4997. 28 Pabel (Fn. 8), § 19 Rn. 42; s. auch Raschauer/Sander/Schlögl (Fn. 22), Art. 47 Rn. 10. 29 EuGH EuZW 2013, 24, 26 Rn. 49. 30 EuGH EuZW 2013, 24, 26 Rn. 59. 31 EuGH, Rs. C-334/12 RX-II, Urt. v. 28. 2. 2013, Rn. 42. 32 Giegerich/Lauer ZEuS 2014, 461, 466; Ottaviano (Fn. 11), S. 30; Pabel (Fn. 8) § 19 Rn. 20, 24. 33 Zur richterlichen Unabhängigkeit als Ausprägung der Gewaltenteilung und notwendige Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Rechtsschutzes Papier (Fn. 7), § 85 Rn. 9.

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darf.34 Aufgrund der objektiven Unparteilichkeit des Gerichts muss dieses hinreichende Garantien dafür bieten, um berechtigte Zweifel in dieser Hinsicht auszuschließen.35 Der EuGH entnimmt dem Recht auf ein faires Verfahren verschiedene Einzelrechte. So besteht zunächst die Notwendigkeit einer Begründung belastender Entscheidungen. Nur so kann sich der Einzelne über die Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes klar werden und seine Rechte unter bestmöglichen Bedingungen verteidigen.36 Außerdem ermöglicht die Begründung dem angerufenen Gericht die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Entscheidung.37 Da sich das Recht auf gute Verwaltung angesichts des Wortlauts von Art. 41 Abs. 1 GRCh auf die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union beschränkt,38 ergibt sich für die nationalen Verwaltungen die Pflicht zur Begründung ihrer Entscheidungen aus Art. 47 Abs. 2 GRCh.39 Darüber hinaus muss jede Partei ihr Anliegen unter solchen Bedingungen im Prozess vertreten können, die sie nicht klar gegenüber ihrem Prozessgegner benachteiligen.40 Dagegen würde verstoßen, wenn von vornherein nur eine der Parteien das Gericht anrufen dürfte.41 Des Weiteren ist der Anspruch auf rechtliches Gehör vor Gericht für das faire Verfahren von zentraler Bedeutung.42 Zu diesem gehört auch das Recht einer Person, selbst zur Verhandlung zu erscheinen.43 Schließlich ist zum Ausschluss einer Geheimjustiz44 die Streitsache öffentlich zu verhandeln. Hinsichtlich des Rechts auf gerichtliche Entscheidung innerhalb angemessener Frist orientiert sich der EuGH an der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 EMRK.45 Soweit es keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass sich die Nichteinhaltung 34 EuGH, Rs. C-308/07 P, Slg. 2009, I-1059 Rn. 46; Eser (Fn. 25), Art. 47 Rn. 33; s. zum Recht auf den gesetzlichen Richter, das kein Element des Art. 47 Abs. 2 GRCh ist, Grupp, in: Calliess (Hrsg.), FS für Torsten Stein, 2015, S. 535 ff. 35 EuGH, Rs. C-308/07 P, Slg. 2009, I-1059 Rn. 46; Rs. C-341/06 P, Slg. 2008, I-4777 Rn. 54; Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh), 2013, Art. 47 GRCh Rn. 22. 36 EuGH EuZW 2012, 912, 915 Rn. 53; s. auch EuGH NVwZ 2013, 1139, 1141 Rn. 55, 56. 37 EuGH, Rs. C-146/14 PPU, Urt. v. 5. 6. 2014, Rn. 45. 38 S. zu den unterschiedlichen Positionen m.w.N. Guckelberger/Geber, Allgemeines Europäisches Verwaltungsverfahrensrecht vor seiner unionsrechtlichen Kodifizierung?, 2013, S. 182 ff.; Gundel, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 4. Aufl. 2014, § 27 Rn. 6. 39 Franzius, in: Leible/Terhechte (Hrsg.), Europäischer Grundrechteschutz (EnzEuR), Bd. 3, 2014, § 4 Rn. 20; aber ohne speziellen Bezug zum Begründungselement Jarass (Fn. 35), Art. 47 GRCh Rn. 5, 48. 40 EuGH, Rs. C-169/14, Urt. v. 17. 7. 2014 Rn. 49. 41 EuGH, Rs. C-169/14, Urt. v. 17. 7. 2014 Rn. 50. 42 Dazu Pabel (Fn. 8), § 19 Rn. 63; s. auch Munding (Fn. 3), S. 111 ff. 43 EuGH NJW 2013, 1215, 1218 Rn. 49. 44 Pabel (Fn. 8), § 19 Rn. 67. 45 Zur Beurteilung der Angemessenheit der Dauer anhand des Einzelfalls EuGH WuW/E EU-R, 2886, 2894 Rn. 96; s. auch Munding (Fn. 3), S. 512 f.

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einer angemessenen Entscheidungsfrist auf den Ausgang des Rechtsstreits ausgewirkt haben kann, bildet ein gerichtlich einzuklagender Schadensersatzanspruch nach der EuGH-Rechtsprechung einen angemessenen Rechtsbehelf zur Reaktion auf einen derartigen Grundrechtsverstoß.46 Während auf nationalstaatlicher Ebene die Prozesskostenhilfe nur in wenigen Ländern explizit verfassungsrechtlich verankert ist,47 wird diese in Art. 47 Abs. 3 GRCh näher ausgeformt. Aus dem Umstand, dass die finanzielle Hilfe für die Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes nicht in dem Kapitel „Solidarität“ behandelt wird, entnahm der EuGH, „dass dieses Recht nicht in erster Linie als Sozialhilfe angelegt ist, wie es im deutschen Recht der Fall zu sein scheint“.48 Deshalb kann dieses Recht, das u. a. zu einer Befreiung von der Zahlung eines Gerichtskostenvorschusses und/oder der Rechtsanwaltsgebühren führen kann, grundsätzlich auch durch juristische Personen geltend gemacht werden.49 Bis heute ist streitig, ob Art. 47 GRCh ein einheitliches oder mehrere, getrennt zu behandelnde Grundrechte garantiert. Als Argumente für die zuletzt genannte Ansicht lassen sich die Überschrift und die unterschiedliche Fundierung der einzelnen Regelungen auf Art. 6 Abs. 1 und Art. 13 EMRK anführen.50 Dagegen spricht jedoch, dass die EMRK-Vorgaben in modifizierter Form unter einem Dach vereinigt wurden.51 Eine Zusammenfassung aller in Art. 47 GRCh normierten Rechte zu einem sich aus mehreren Komponenten zusammensetzenden gemeinsamen Grundrecht liegt nahe, weil sie alle dem effektiven Rechtsschutz dienen.52 Auch die Formulierung des Art. 47 Abs. 1 GRCh, wonach das Recht „nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen“ besteht, spricht dafür, dass dieses durch die weiteren Absätze ausgeführt wird.53 Die Rechte aus Art. 47 GRCh sind nicht absoluter Natur.54 Gem. Art. 52 Abs. 1 GRCh sind gesetzlich vorgesehene Einschränkungen der Charta-Rechte möglich, wenn ihr Wesensgehalt geachtet und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt wird.55 So hielt der EuGH das Fehlen eines Rechtsbehelfs gegen eine Maßnahme zur 46

EuGH WuW/E EU-R, 2886, 2892 ff. Rn. 82 ff.; EuGRZ 2013, 671, 677 Rn. 81 ff. Eser (Fn. 25), Art. 47 Rn. 38a. 48 EuGH EuZW 2011, 137, 139 Rn. 41. 49 EuGH EuZW 2011, 137, 140 Rn. 59. 50 Frenz (Fn. 22), Rn. 4991. 51 Raschauer/Sander/Schlögl (Fn. 22), Art. 47 Rn. 36. 52 So auch Jarass NJW 2011, S. 1394; Last, Garantie wirksamen Rechtsschutzes gegen Maßnahmen der Europäischen Union, 2008, S. 56; Jantscher, in: Kahl/Raschauer/Storr (Hrsg.), Grundsatzfragen der europäischen Grundrechtecharta, 2013, S. 43, 46 f.; Pabel (Fn. 8), § 19 Rn. 34; zur EuGH-Konzeption des ungeschriebenen Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz als bündelndes Rahmenrecht Munding (Fn. 3), S. 130. 53 Jantscher (Fn. 52), S. 46. 54 EuGH NJW 2013, 1215, 1218 Rn. 49; Rs. C-156/12, Urt. v. 13. 6. 2012 Rn. 39; Rs. C334/12 RX-II, Urt. v. 28. 2. 2013 Rn. 43. 55 S. EuGH EuZW 2010, 550, 553 Rn. 63. 47

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Vorbereitung der endgültigen Entscheidung über einen Asylantrag für hinnehmbar, wenn die im beschleunigten Verfahren ergangene Endentscheidung und insbesondere die Gründe zur Ablehnung des Asylantrags der eingehenden Prüfung durch den nationalen Richter zugänglich sind.56 Für die Rechtsbehelfe können Zulässigkeitsvoraussetzungen aufgestellt werden, wenn sie die Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes nicht unzumutbar erschweren.57 Da die zügige und kostengünstige Beilegung von Streitfällen einschließlich der damit bezweckten Entlastung der Gerichte berechtigten Allgemeininteressen dient, kann den Personen die obligatorische Durchführung eines außergerichtlichen Streitbeilegungsverfahrens aufgegeben werden, wenn dieses Verfahren zu keiner die Parteien bindenden Entscheidung führt und damit keine wesentlichen Verzögerungen für den anschließenden gerichtlichen Rechtsschutz einhergehen.58 Eine unzumutbare Erschwerung des Rechtsschutzes würde dagegen angesichts des nach wie vor bestehenden digital divide vorliegen, wenn es ausschließlich einen elektronischen Zugang zu diesem Streitbeilegungsverfahren geben würde.59 Beschränkungen der Verteidigungsrechte sind möglich: „Diese müssen jedoch tatsächlich Zielen des Allgemeininteresses entsprechen, die mit der in Rede stehenden Maßnahme verfolgt werden, und dürfen im Hinblick auf den verfolgten Zweck keine offensichtliche und unverhältnismäßige Beeinträchtigung der auf diese Weise gewährleisteten Rechte darstellen“.60 Aus zwingenden Gründen der Sicherheit des Staates kann es sich als notwendig erweisen, einer Person nicht alle Gründe einer Entscheidung mitzuteilen.61 Ergibt sich eine solche Notwendigkeit in einem Verfahren vor dem innerstaatlichen Gericht, sind die verschiedenen konfligierenden Interessen zueinander in praktische Konkordanz zu bringen: Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, eine wirksame Kontrolle des Vorliegens und der Stichhaltigkeit der von den nationalen Stellen im Hinblick auf die Sicherheit vorgetragenen Gründe sowie Techniken und Regeln über diese Kontrolle vorzusehen.62 Zum Schutz der nationalen Sicherheit, der Interessen von Jugendlichen oder des Privatlebens (s. Art. 6 Abs. 1 S. 2 EMRK) kann bei ausreichend gewichtigen Gründen von einer öffentlichen Verhandlung abgesehen werden.63 Das Gericht kann von einer öffentlichen Verhandlung 56

EuGH NVwZ 2011, 1380, 1382 Rn. 56. S. auch EuGH, Rs. C-334/12 RX-II, Urt. v. 28. 2. 2013 Rn. 43. 58 EuGH EuZW 2010, 550, 553 f. Rn. 62 ff. 59 EuGH EuZW 2010, 550, 553 Rn. 58; Ausnahmen hiervon könnte man sich in Bereichen vorstellen, in denen Gewissheit herrscht, dass alle Teilnehmer elektronisch kommunizieren können. 60 EuGH, Rs. C-156/12, Urt. v. 13. 6. 2012, Rn. 39; s. auch EuGH NJW 2009, 1938, 1939 Rn. 29. 61 EuGH NVwZ 2013, 1139, 1141 Rn. 54; zum Geheimnisschutz in Gerichtsverfahren vor dem EuGH Hakenberg, in: Calliess (Hrsg.), Liber amicorum für Torsten Stein, 2015, S. 570, 585 ff. 62 EuGH NVwZ 2013, 1139, 1141 Rn. 57 f. 63 Näher dazu Jarass (Fn. 35), Art. 47 GRCh Rn. 41. 57

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zudem absehen, wenn der Einzelne auf eine solche verzichtet, der Verzicht eindeutig feststeht, auf einer freien Willensentscheidung beruht und keine wichtigen öffentlichen Interessen entgegenstehen.64 Bei hinreichend gewichtigen Gründen kann das Beratungs- und Vertretungsrecht der Personen, wie dies etwa in den Verfahren vor den Unionsgerichten der Fall ist,65 auf Anwälte beschränkt werden.66 Auch können aus berechtigten Gründen des Allgemeininteresses Kriterien für die Gewährung von Prozesskostenhilfe aufgestellt werden.67

III. Effektiver Rechtsschutz im Gerichtsverbund Art. 47 GRCh trifft selbst keine Aussage dazu, welche Gerichte konkret zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes verpflichtet sind.68 Dies ergibt sich vielmehr aus anderen Regelungen. Gem. Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh gilt die Grundrechtecharta für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union. Für die Mitgliedstaaten gelten diese Rechte nur bei der Durchführung von Unionsrecht. In dieser Regelung erblickt der EuGH eine Bestätigung seiner ständigen Rechtsprechung, wonach „die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben Anwendung finden“.69 In der Rechtssache Åkerberg Fransson ließ der EuGH für die Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte genügen, dass die nationale Rechtsvorschrift „in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt“,70 also wenn sich im konkreten Fall irgendein Bezug zu einem Rechtssatz der Union herstellen lässt.71 Sollte in einer solchen Konstellation das Handeln des Mitgliedstaates nicht vollständig durch das Unionsrecht determiniert sein, sind insoweit die nationalen Grundrechte anwendbar, dürfen aber weder das Schutzniveau der Charta noch die Einheit und Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigen.72 Diese Rechtsprechung ist beim BVerfG wegen ihres weiten 64 So EuGH NJW 2013, 1215, 1218 Rn. 49 (zum Verzicht des Angeklagten auf Erscheinen in Verhandlung); zum Absehen von einer mündlichen Verhandlung Jarass (Fn. 35), Art. 47 GRCh Rn. 39; zu Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK, der bei Auslegung des Art. 47 GRCh beachtet werden muss: Meyer-Ladewig, EMRK Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl. 2011, Art. 6 EMRK Rn. 182. 65 EuGH BeckRS 2014, 80977 Rn. 27 ff. 66 Blanke (Fn. 25), Art. 47 GRCh Rn. 18; Frenz (Fn. 22), Rn. 4587. 67 EuGH, Rs. C-156/12, Urt. v. 13. 6. 2012 Rn. 41, wobei nach Rn. 43 insbesondere bei juristischen Personen deren Verhältnisse in die Betrachtung einbezogen werden können. 68 Nowak (Fn. 7), § 51 Rn. 36. 69 EuGH, Rs. C-265/13, Urt. v. 27. 3. 2014 Rn. 29; zuvor schon EuGH NVwZ 2013, 561, 561 Rn. 19 ff.; zum Zusammenhang zwischen Unionsgrundrechten und Anwendung von Unionsrecht auch Dörr, Der europäisierte Rechtsschutzauftrag deutscher Gerichte, 2003, S. 56; sowie Haedicke GRUR 2014, 119, 120. 70 EuGH NVwZ 2013, 561, 561 Rn. 19 ff. 71 So Kirchhof EuR 2014, 267, 270. 72 EuGH NVwZ 2013, 561, 561 Rn. 29; zum doppelten Grundrechtsschutz bei der Ausfüllung von Spielräumen Lehnert/Pelzer ZAR 2010, 41, 45.

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Anwendungsbereichs für die Unionsgrundrechte auf Kritik gestoßen.73 Es bleibt abzuwarten, ob der EuGH künftig in dieser Hinsicht eine größere Sensibilität an den Tag legen wird. Ein Indiz dafür könnte eine vor kurzem ergangene Entscheidung zu einer innerstaatlichen Rechtsvorschrift sein, die allgemein bestimmte Gebühren im Bereich der Rechtspflege betraf. Diese hat der EuGH nicht an Art. 47 GRCh gemessen, weil damit keine Durchführung von Bestimmungen des Unionsrechts „bezweckt“ werde. Im Übrigen enthalte das Unionsrecht auch keine spezielle Regelung in diesem Bereich und gebe es keine Regelung, die sich auf das nationale Recht auswirken könnte.74 Die Rechtsschutzgarantie wird somit immer dann relevant, wenn die Unionsgerichte angerufen werden. Vollziehen die Mitgliedstaaten das Unionsrecht, sind die mitgliedstaatlichen Gerichte für die Rechtsschutzgewährung zuständig und ebenfalls an Art. 47 GRCh gebunden. Für das Unionsrecht ergibt sich somit ein aus Unionsund nationalen Gerichten zusammengesetztes Rechtsschutzsystem, das nunmehr in Art. 19 Abs. 1 EUVausdrücklich verankert wurde.75 Angesichts der dualen Vollzugszuständigkeiten für das Unionsrecht wird die Arbeitsteilung zwischen diesen Gerichten teilweise dahingehend beschrieben, dass gegen Maßnahmen der Unionsorgane im direkten Vollzug der Rechtsweg zu den Unionsgerichten eröffnet sei, gegen staatliche Akte des indirekten Vollzugs dagegen derjenige zu den nationalen Gerichten.76 Wie sogleich zu zeigen sein wird, handelt es sich bei der soeben skizzierten Arbeitsteilung im Unionsrechtsschutz aber nur um eine Faustformel oder „Grundlinie“.77 Denn den Mitgliedstaaten wurde in Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV die Gewährung eines wirksamen Rechtsschutzes als Auffangfunktion zugewiesen.78 1. Lücken im Rechtsschutz durch die Unionsgerichte Das Recht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 47 GRCh) bedarf der Ausgestaltung bzw. Konkretisierung durch prozessuale Regelungen.79 Da sich die diesbezüglichen Bestimmungen für die Unionsgerichte aus dem Primärrecht (Art. 251 ff. AEUV) er73

S. BVerfGE 133, 277, 313 ff. Rn. 88 ff., wonach das nationale Recht unionsrechtlich determiniert sein muss und es nicht genügen soll, wenn die Norm innerstaatliche Ziele verfolgt, die das Funktionieren unionsrechtlich geordneter Rechtsbeziehungen nur mittelbar beeinflussen können. 74 EuGH, Rs. C-265/13, Urt. v. 27. 3. 2014 Rn. 32. 75 Dörr, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 4. Aufl. 2014, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz Rn. 5, 179. 76 Dörr (Fn. 75), Europäischer Verwaltungsrechtsschutz Rn. 179. 77 Der Terminus „Grundlinie“ wird von Schmidt-Aßmann/Schenk, in: Schoch/Schneider/ Bier, VwGO Kommentar, Einl. Rn. 102 verwendet; zum arbeitsteiligen Rechtsschutz Franzius (Fn. 39), § 4 Rn. 20; Fredriksen ZEuS 2005, 99, 102; Gundel VerwArch 92 (2001), 81, 85. 78 Dazu Schmidt-Aßmann/Schenk (Fn. 77), Einl. Rn. 103a. Zu den nationalen Gerichten als „funktionale Unionsgerichte“ Kotzur, in: Leible/Terhechte (Hrsg.), Europäischer Grundrechteschutz (EnzEuR), Bd. 3, 2014, § 5 Rn. 26. 79 Rademacher (Fn. 18), S. 156.

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geben, die hierarchisch den gleichen Rang wie die Grundrechtecharta haben,80 war abzusehen, dass auf den EuGH die Frage zukommen würde, wie mit dem primärrechtlichen Prozessrecht umzugehen ist, falls sich dieses aus der Perspektive des Art. 47 GRCh als unzulänglich erweisen sollte. Geben dann diese Primärrechtsnormen den Rahmen für die Rechtsschutzgarantie vor81 oder sind sie – man denke nur an die vom EuGH etablierten Klagemöglichkeiten wegen ungerechtfertigter Bereicherung82 – rechtsfortbildend anzuwenden?83 Als weitere Lösungsansätze wurden die Ergänzung des Rechtsschutzes durch die mitgliedstaatlichen Gerichte,84 die Lückenfüllung über sekundärrechtliches Prozessrecht, insbesondere wenn das Primärrecht schweigt,85 oder die Errichtung von Fachgerichten nach Art. 257 AEUV in Erwägung gezogen, weil auf Letztere gemäß Art. 257 Abs. 6 AEUV die primärrechtlichen Vorschriften über die Unionsgerichte nur anwendbar sind, wenn die Verordnung über die Bildung des Fachgerichts nichts anderes vorsieht.86 Richtigerweise dürfte der einzuschlagende Weg zur Schließung der ausgemachten Rechtsschutzlücke nur mit Blick auf die konkrete Fragestellung und die Ausgestaltung der primärrechtlichen Prozessrechtsvorschriften zu beantworten sein.87 Hinsichtlich des Dauerthemas,88 inwieweit Personen die Unionsgerichte direkt um Rechtsschutz gegen Gesetzgebungsakte ersuchen können, die keiner Vollziehung bedürfen, stellte sich der EuGH in der Rechtssache Inuit unter Rekurs auf die Systematik und Entstehungsgeschichte auf den Standpunkt, dass sich die neu eingeführte Individualklagemöglichkeit des Art. 263 Abs. 4 Var. 3 AEUV gegen Rechtsakte mit Verordnungscharakter, welche die Person unmittelbar betreffen und keiner Durchführungsmaßnahmen bedürfen, nicht auf Gesetzgebungsakte i.S.d. Art. 289 AEUV bezieht.89 Sofern der Kläger nicht Adressat eines solchen Aktes ist, kann er gegen eine derartige Handlung nach Art. 263 Abs. 4 Var. 2 AEUV Rechtsschutz erlangen, wenn sie ihn unmittelbar und individuell betrifft. In Fortführung der bisherigen Rechtsprechung ist das Kriterium der individuellen Betroffenheit von natürli80

Bull DVBl. 2014, 98, 100; Rademacher (Fn. 18), S. 154; s. auch schon Baumeister EuR 2005, 1, 12; Last (Fn. 52), S. 96, 121. 81 So Last (Fn. 52), S. 110 ff.; dazu auch Rademacher (Fn. 18), S. 154 ff. 82 EuGH, Rs. C-47/07 P, Slg. 2008, I-9761 Rn. 44 ff.; dazu auch Rademacher (Fn. 18), S. 164 ff. 83 Dazu Rademacher (Fn. 18), S. 157, 163 ff., der sich auf S. 168 für eine solche Lösung bei Schweigen des Primärrechts ausspricht. 84 Dazu Rademacher (Fn. 18), S. 163 ff. 85 Dazu Rademacher (Fn. 18), S. 168 ff. 86 Dazu Rademacher (Fn. 18), S. 162 f. 87 So auch Rademacher (Fn. 18), S. 169. 88 Mayer DVBl. 2004, 606; Michl NVwZ 2014, 841; s. auch Schwarze DVBl. 2002, 1297, 1308. 89 EuGH NVwZ 2014, 53, 54 Rn. 50 ff.; zustimmend Cremer ZG 2014, 82, 85 ff.; zu den unterschiedlichen Meinungen aus dem Schrifttum, ob nicht Gesetzgebungsakte unter die dritte Variante subsumiert werden können, Nowak/Behrend EuR 2014, 86, 88 ff.

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chen oder juristischen Personen nach dem EuGH nur erfüllt, „wenn sie von der angefochtenen Handlung wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder auf Grund von Umständen betroffen sind, die sie aus dem Kreis aller übrigen Personen herausheben und sie dadurch in ähnlicher Weise individualisieren wie einen Adressaten“ (sog. Plaumann-Formel).90 Dies war jedoch in der zu entscheidenden Rechtssache nicht der Fall. Da im AEUV durch das Zusammenwirken von Nichtigkeitsklage, Inzidentkontrolle und Vorabentscheidung ein „vollständiges System von Rechtsbehelfen und Verfahren“ zur Gewährleistung der Rechtmäßigkeitskontrolle der Unionshandlungen durch die Unionsrichter etabliert worden sei,91 müsse die betreffende Person die nationalen Gerichte um Rechtsschutz ersuchen, die gegebenenfalls eine Vorabentscheidung des EuGH über die Gültigkeit des Sekundärrechtsakts einholen könnten.92 Mit Art. 47 GRCh habe man keine Änderung des Rechtsschutzsystems, insbesondere der Zulässigkeitsbestimmungen für die direkten Klagen bei den Unionsgerichten, bezweckt, „wie auch aus den Erläuterungen zu diesem Artikel hervorgeht, die gem. Art. 6 I Unterabs. 3 EUV und Art. 52 VII der Charta für deren Auslegung zu berücksichtigen sind“.93 Da der Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 1 EUV den Unions- und nationalen Gerichten gemeinsam überantwortet wurde, müssen die Mitgliedstaaten angesichts der Regelung in dessen UAbs. 2 bei Bedarf einen Rechtsbehelf zur Erlangung wirksamen Rechtsschutzes schaffen.94 Dabei reicht es aus, wenn das nationale Prozessrecht einen Rechtsbehelf zur Verfügung stellt, der dem Kläger wenigstens inzident die Wahrung seiner unionsrechtlichen Rechte ermöglicht.95 Mit Art. 47 GRCh wäre es dagegen nicht zu vereinbaren, wenn sich eine Person zur Rechtsschutzerlangung auf der nationalen Ebene erst Verwaltungsoder Strafverfahren mit den daraus resultierenden Sanktionen aussetzen müsste.96 Man kann – wie schon früher – darüber streiten, ob die sich aus dem Primärrecht ergebende Lage für den Rechtsschutz gegen Gesetzgebungsakte ohne Vollziehungsakt in der jetzigen Gestalt rechtspolitisch sinnvoll und nicht auf eine Änderung des Art. 263 Abs. 4 AEUV hinzuwirken ist.97 Beispielsweise hält es Rademacher für „schlicht kontra-intuitiv, wenn in einer bestimmten Angelegenheit zwar allein die EU administrativ handelt […], dagegen aber nicht das ja eigentlich vorhandene Direktklagesystem der EU zuständig sein soll, sondern der Umweg über die Mitgliedstaaten gegangen werden muss“.98 In der Tat mutet es seltsam an, dass die Zulässig90

EuGH NVwZ 2014, 53, 55 Rn. 72; s. zuvor Rs. C-298/00, Slg. 2004 I-4087 Rn. 36. EuGH NVwZ 2014, 53, 56 Rn. 92. 92 EuGH NVwZ 2014, 53, 56 Rn. 93 ff. 93 EuGH NVwZ 2014, 53, 57 Rn. 97; kritisch gegenüber der Argumentation Nowak/Behrend EuR 2014, 86, 96 f. 94 EuGH NVwZ 2014, 53, 57 Rn. 99 ff. 95 EuGH EuZW 2007, 247, 249 Rn. 41; EuGH NVwZ 2014, 53, 57 Rn. 104. 96 EuGH EuZW 2007, 247, 250 Rn. 64; EuGH NVwZ 2014, 53, 57 Rn. 104; s. auch Giegerich/Lauer ZEuS 2014, 461, 472 f.; Munding (Fn. 3), S. 494 f. 97 Bull DVBl. 2014, 98. 98 Rademacher (Fn. 18), S. 206 f. 91

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keitshürden für Nichtigkeitsklagen gegen Gesetzgebungsakte höher sind als diejenigen gegen delegierte Rechts- und Durchführungsakte99 und gegen erstere deshalb Rechtsschutz nur über die nationalen Gerichte erlangt werden kann. Mancher sieht in der Anrufung der nationalen Gerichte einen „Umweg“,100 der mit zeitlichen Verzögerungen verbunden ist.101 Auch werden die Abhängigkeit des effektiven Rechtsschutzes von der Bereitstellung derartiger Rechtsbehelfe auf nationaler Ebene,102 die diesbezüglichen Divergenzen103 sowie der Umstand kritisch gesehen, dass Einzelne die Anrufung des EuGH durch nationale Gerichte im Wege des Vorabentscheidungsersuchens unionsrechtlich nicht erzwingen können.104 Andererseits sind die nationalen Gerichte an das Unionsrecht und damit an die dort normierten Voraussetzungen der Vorlage gebunden. Nach dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV) gehört es zu ihren Aufgaben, dem Unionsrecht und damit auch den Unionsgrundrechten zur Durchsetzung zu verhelfen. Indem der EuGH mit offensichtlich unbegründeten Rechtsbehelfen erst gar nicht befasst wird und ihm im Übrigen die im Wege der Vorabentscheidung anstehende Rechtsfrage aufbereitet wird, geht für die ohnehin schon überlastete Unionsgerichtsbarkeit105 ein Entlastungseffekt einher.106 Im Übrigen stoße auf nationaler Ebene das Vorlageverfahren an das BVerfG zur Verwerfung formeller Gesetze (Art. 100 Abs. 1 GG) auf keine Bedenken, obwohl auch damit Verzögerungen im Rechtsschutz verbunden sein könnten.107

99 Bull DVBl 2014, 98, 99; Ogorek JA 2014, 236, 238; Vondung, Die Architektur des europäischen Grundrechtsschutzes nach dem Beitritt der EU zur EMRK, 2012, S. 39; Nowak/ Behrend EuR 2014, 86, 98 spekulieren, dadurch habe sich der EuGH – unter Ausschluss des EuG – die Nichtigerklärung sichern wollen. 100 Streinz EuZW 2014, 17, 21; s. auch Gundel VerwArch 92 (2001), 81, 103. 101 Bull DVBl 2014, 98, 100 f.; Vondung (Fn. 99), S. 47; dazu auch Munding (Fn. 3), S. 500, 521 f. 102 Streinz EuZW 2014, 17, 21; Vondung (Fn. 99), S. 40. 103 Dazu Böcker, Wirksame Rechtsbehelfe zum Schutz der Grundrechte der Europäischen Union, 2005, S. 129; Calliess NJW 2002, 3577, 3581. 104 Böcker (Fn. 103), S. 129; Ogorek JA 2014, 236, 238; Streinz EuZW 2014, 17, 21; zu dieser Rechtsschutzlücke auch Giegerich/Lauer ZEuS 2014, 461, 471. 105 Zur Diskussion um die Erhöhung der Richterzahl beim EuGH Bollmann ZRP 2014, 149; dazu auch schon von Danwitz NJW 1993, 1108, 1115. 106 Baumeister EuR 2005, 1, 22; Gundel VerwArch 92 (2001), 81, 103, 105; dazu auch Böcker (Fn. 103), S. 192 ff. 107 Baumeister EuR 2005, 1, 20; Gundel VerwArch 92 (2001), 81, 102; ders. (Fn. 38), § 27 Rn. 31 weist im Übrigen auf die Gefahr hin, dass mit einer direkten Klage für die Einzelnen auch eine Präklusionsgefahr für inzidente Überprüfungsverfahren vor den nationalen Gerichten verbunden sein könnte.

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2. Folgen für die Mitgliedstaaten a) Individualrechtsschutz gegen Gesetzgebungsakte der Union Zur Schließung der Rechtsschutzlücken der Individualnichtigkeitsklage gegenüber Gesetzgebungsakten ist es nach dem EuGH „Sache des innerstaatlichen Rechts jedes Mitgliedstaats, unter Beachtung […] der Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz, die zuständigen Gerichte zu bestimmen und die Verfahrensmodalitäten für Klagen zu regeln, die den Schutz der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen“.108 Da dem Einzelnen zur Erlangung effektiven Rechtsschutzes nicht die Begehung einer Rechtsverletzung zugemutet werden kann,109 kommt bei Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs (§ 40 VwGO) vor allem die Erhebung einer Feststellungsklage nach § 43 VwGO als möglicher Rechtsbehelf in Betracht.110 Damit diese zulässig ist, müsste ein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis vorliegen. Unter einem Rechtsverhältnis i.S.d. Norm versteht man die sich aus einem konkreten Sachverhalt aufgrund einer öffentlich-rechtlichen Norm ergebenden rechtlichen Beziehungen zwischen Personen oder einer Person zu einer Sache, kraft deren die Person etwas Bestimmtes zu tun hat, tun darf oder auch nicht zu tun braucht.111 Die für das Rechtsverhältnis maßgebliche Norm kann sich dabei auch aus dem Unionsrecht ergeben.112 Rechtliche Beziehungen verdichten sich zu einem Rechtsverhältnis, „wenn die Anwendung einer bestimmten Norm des öffentlichen Rechts auf einen bereits übersehbaren Sachverhalt streitig ist“.113 Damit keine Umgehung des § 47 VwGO vorliegt, muss der Kläger bei seinem Vortrag einen Bezug zu einem in der Wirklichkeit gegebenen Sachverhalt herstellen.114 Als möglicher Beklagter ist insbesondere an den Rechtsträger der Stelle zu denken, die für die Überwachung der Einhaltung der Unionsregelung zuständig ist.115 Die Zulässigkeitsvoraussetzungen der Feststellungsklage sind also wegen Art. 47 GRCh rechtsschutzfreundlich auszulegen, erforderlichenfalls sind sachdienliche Hinweise zu erteilen (§ 86 Abs. 3 VwGO). Teilt das Gericht die Ansicht des Klägers hinsichtlich der Ungültigkeit des inzident zur Prüfung gestellten Sekundärrechtsakts, richtet es angesichts des Normverwerfungsmonopols eine Gültigkeitsvorlage nach Art. 267 Abs. 1 lit. b AEUV an den 108

EuGH NVwZ 2014, 53, 57 Rn. 102. EuGH NVwZ 2014, 53, 57 Rn. 104; s. auch Giegerich/Lauer ZEuS 2014, 461, 472 f.; Michl NVwZ 2014, 841. 110 Baumeister EuR 2005, 1, 16; Giegerich/Lauer ZEuS 2014, 461, 473 ff.; Glaser, in: Gärditz, VwGO, 2013, § 43 Rn. 30 ff.; Mayer DVBl. 2004, 606, 613; Munding (Fn. 3), S. 492; Wölker DÖV 2003, 570, 576; Streinz JuS 2014, 184, 186; a. A. Bull DVBl. 2014, 98, 100. 111 BVerwGE 136, 54, 57; 141, 223, 224 f. 112 Giegerich/Lauer ZEuS 2014, 461, 474; Lenz/Staeglich NVwZ 2004, 1421, 1426. 113 BVerwGE 141, 223, 225; s. auch BVerwG NVwZ 2010, 1300, 1301, Rn. 24. 114 BVerwGE 136, 54, 57. 115 Näher dazu Michl NVwZ 2014, 841, 843 f.; s. auch Giegerich/Lauer ZEuS 2014, 461, 473; Munding (Fn. 3), S. 493. 109

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EuGH.116 Vorlageverpflichtet sind nicht nur letztinstanzliche Gerichte (Art. 267 Abs. 3 AEUV). Zur Gewährleistung der einheitlichen Geltung und Anwendung des EU-Sekundärrechts müssen auch die erstinstanzlichen Gerichte ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH richten, wenn sie einen Sekundärrechtsakt für ungültig halten und diesen nicht anwenden wollen.117 Hat das Verwaltungsgericht keine Zweifel an der Gültigkeit des Sekundärrechtsakts, wird es die Klage abweisen.118 Sieht das angerufene Gericht aus Sicht des Klägers fehlerhaft von einer Vorlage an den EuGH ab, kann er gegen die Gerichtsentscheidung mit den zur Verfügung stehenden Rechtsmitteln vorgehen.119 Da gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV nur letztinstanzliche Gerichte zur Vorlage an den EuGH verpflichtet sind, kann dem Verwaltungsgericht nach dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof einzig bei einer auf die Vorlage bezogenen Ermessensreduzierung auf Null ein entscheidungserheblicher Verfahrensverstoß zur Last gelegt werden.120 Im Übrigen bleiben derartige Rügen oft unter Verweis auf die Möglichkeit eines Rechtmittels gegen die Gerichtsentscheidung erfolglos.121 Da der EuGH gesetzlicher Richter i.S.d. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG ist, können Verstöße gegen die Vorlagepflicht an den EuGH auch Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde sein.122 Allerdings nimmt das BVerfG, weil es kein „oberstes Vorlagenkontrollgericht“ ist,123 nur eine zurückgenommene verfassungsgerichtliche Prüfung unter der Fragestellung vor, ob die Auslegung und Anwendung des Art. 267 AEUV durch das jeweilige Gericht nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist.124 Bevor man jedoch angesichts des Art. 47 GRCh zutreffend überlegt, ob das BVerfG in der vorliegenden Konstellation die Vorgabe zum gesetzlichen Richter strenger handhaben müsste,125 sind es zunächst einmal die Verwaltungsgerichte, die dieses – einen zeitgerechten Rechtsschutz garantierende – Grundrecht bei 116 Giegerich/Lauer ZEuS 2014, 461, 475; Glaser (Fn. 110), § 43 Rn. 30; Michl NVwZ 2014, 841, 845. 117 S. EuGH NJW 1988, 1451 f. Rn. 11 ff.; Giegerich/Lauer ZEuS 2014, 463, 475, 477; Karpenstein, in: Leible/Terhechte (Hrsg.), Europäischer Grundrechteschutz (EnzEuR), Bd. 3, 2014, § 8 Rn. 67; Vondung (Fn. 99), S. 46 f.; Voßkuhle/Lange, in: Leible/Terhechte (Hrsg.), Europäischer Grundrechteschutz (EnzEuR), Bd. 3, 2014, § 6 Rn. 12. 118 Michl NVwZ 2014, 841, 845. 119 Zur Berufung bei einem Verstoß gegen den gesetzlichen Richter (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO), z. B. OVG Münster, Beschl. v. 22. 9. 2014, Az. 2 A 1122/14 juris Rn. 16 f.; zur Beschwerde VGH Mannheim NVwZ-RR 2014, 545, 548; zur Revision (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO), BVerwG, Beschl. v. 12. 10. 2010, Az. 7 B 22/10 juris Rn. 8 f. 120 VGH München NVwZ-RR 2013, 736, 737. 121 S. nur BVerwG, Beschl. v. 12. 10. 2010, Az. 7 B 22/10 juris Rn. 9; Beschl. v. 18. 11. 2011, Az. 1 B 13/11 juris Rn. 4; s. auch OVG Münster NWVBl. 2010, 326, 328. 122 BVerfGE 126, 286, 315; BVerfG NVwZ 2014, 1160, 1161. 123 BVerfGE 126, 286, 316; BVerfG NJW 2014, 2489, 2490. 124 BVerfG NVwZ 2014, 1160, 1161. 125 So Giegerich/Lauer ZEuS 2014, 461,477; Lenz/Staeglich NVwZ 2004, 1421, 1427 f.; für eine großzügigere Vorgehensweise BVerfG NJW 2010, 1268, 1269.

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ihrer Entscheidung über eine Vorlage an den EuGH sowie über diesbezügliche Rechtsmittel berücksichtigen müssen.126 Wie es für Grundrechte typisch ist, kann diese subjektiv-rechtliche Garantie in bestimmten Fällen eine Ermessensreduzierung auf Null auslösen. Bei der Ermessensausübung durch die Verwaltungsgerichte ist einzustellen, dass Art. 47 Abs. 1 GRCh einen Rechtsschutz in angemessener Zeit vermittelt und eine baldige Klärung aus Gründen der Wirksamkeit des Unionsrechts geboten ist. Gegebenenfalls ist von den Verwaltungsgerichten vorläufiger Rechtsschutz – bei der Feststellungsklage also durch eine einstweilige Anordnung nach § 123 VwGO – gemäß den vom EuGH entwickelten, engen Kriterien für die Suspendierung von Unionsrecht zu gewähren.127 b) Weitere Folgen Da der Vollzug des Unionsrechts überwiegend durch die Mitgliedstaaten erfolgt, die dabei an die Grundrechtecharta gebunden sind, ist es zuallererst Aufgabe des Gesetzgebers, ein den Anforderungen des Art. 47 GRCh genügendes Prozessrecht zu schaffen.128 Mangels unionsrechtlicher Vorgaben verfügt er bei der Ausgestaltung seiner prozessrechtlichen Normen über Verfahrensautonomie, muss aber die folgenden zwei Bedingungen erfüllen: Nach dem Äquivalenzprinzip dürfen die Modalitäten des jeweiligen Rechtsbehelfs nicht ungünstiger sein als bei gleichartigen innerstaatlichen Sachverhalten.129 Außerdem darf das innerstaatliche Recht die Ausübung der unionsrechtlich gewährten Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsprinzip).130 Dabei werden die Stellung der fraglichen Vorschrift im gesamten Verfahren, der Verfahrensablauf einschließlich etwaiger Besonderheiten des Verfahrens vor diversen Stellen sowie die dem Rechtsschutzsystem zugrunde liegenden Grundsätze betrachtet, wie etwa der Schutz der Verteidigungsrechte, der Rechtssicherheitsgrundsatz oder der ordnungsgemäße Ablauf des Verfahrens.131 Gibt eine deutsche Norm im Zusammenhang mit der EU-Verordnung zu Leitlinien über die transeuropäische Energieinfrastruktur132 vor, dass die Bundesfachplanung erst mit Rechtsbehelfen gegen die Zulassungsentscheidung für die jeweilige 126

Zu der interessanten Frage, ob nicht ausnahmsweise sofort der Rechtsweg zum BVerfG beschritten werden könnte, dies aber i.E. verneinend Giegerich/Lauer ZEuS 2014, 461, 478 ff. 127 EuGH NJW 1996, 1333, 1335 f.; auch Giegerich/Lauer ZEuS 2014, 461, 481 f.; Michl NVwZ 2014, 841, 845 f.; zu den einengenden Anforderungen auch Siegel, Europäisierung des Öffentlichen Rechts, 2012, Rn. 466 ff. 128 Dazu Pabel (Fn. 8), § 19 Rn. 11; zur unionsrechtlichen Aufladung des Inhalt von Art. 19 Abs. 4 GG Dörr (Fn. 69), S. 168. 129 EuGH NJW 2003, 3539, 3541 Rn. 58; BeckRS 2014, 81585 Rn. 31. 130 EuGH DÖV 1977, 363; DVBl. 1996, 249, 250 Rn. 12; BeckRS 2014, 81585 Rn. 31. 131 EuGH DVBl. 1996, 249, 250 Rn. 14; BeckRS 2014, 81585 Rn. 34. 132 Verordnung (EU) Nr. 347/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 17. 4. 2013, ABl. EU 2013 Nr. L 115, S. 39 ff.

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Ausbaumaßnahme angegriffen werden darf, muss dieser Rechtsschutzausschluss auf der vorgelagerten Ebene nicht nur Art. 19 Abs. 4 GG, sondern auch Art. 47 GRCh standhalten.133 Der EuGH hielt eine Konzentration von Rechtsstreitigkeiten über die Entscheidungen einer mit dem Vollzug des Unionsrechts betrauten Behörde bei einem Gericht für unionsrechtlich unbedenklich, wenn dies insbesondere mit der geordneten Rechtspflege begründet wird.134 Immer wieder wird der EuGH damit befasst, ob eine zur Herbeiführung von Rechtssicherheit grundsätzlich mögliche nationale Rechtsbehelfsfrist oder Präklusionsnorm nicht doch unionsrechtswidrig ist, weil sie für eine zumutbare Inanspruchnahme von Rechtsschutz zu kurz oder zu restriktiv ausfällt.135 Sieht eine nationale Regelung vor, dass ein Gericht wegen der Aufhebung eines nationalen Gesetzes, das im Zusammenhang mit der Durchführung von Unionsrecht steht und Art. 47 GRCh verletzt, vorrangig das nationale Verfassungsgericht anzurufen hat, verstößt dies gegen Art. 267 AEUV. Denn dadurch ist es dem nationalen Gericht verwehrt, seiner Befugnis zur Einholung einer Vorabentscheidung durch den EuGH nachzukommen.136 Den mit europarechtlich geprägten Streitigkeiten befassten nationalen Verwaltungsgerichten obliegt die Prüfung, ob das von ihnen anzuwendende Prozessrecht den unionsrechtlichen Vorgaben genügt.137 Wenn möglich, sind die deutschen Prozessrechtsvorschriften unionsrechtskonform rechtsschutzfreundlich auszulegen bzw. anzuwenden.138 Es erstaunt, dass in den Entscheidungen der deutschen Verwaltungsgerichte so wenig auf Art. 47 GRCh rekurriert wird,139 obwohl es im deutschen Verwaltungsrecht vielfach um die Durchsetzung von Vorschriften mit einem unionsrechtlichen Hintergrund geht und die deutschen Stellen dann (auch) an die Unionsgrundrechte gebunden sind. Abgesehen von der Haltung des BVerwG, wonach die Beschränkung der Revisionsinstanz auf eine reine Rechtskontrolle nicht gegen 133 Zu § 15 Abs. 3 S. 2 NABEG und seiner Vereinbarkeit mit Art. 19 Abs. 4 GG Guckelberger JA 2014, 647, 649. 134 EuGH BeckRS 2013, 81290 Rn. 58 ff. 135 Siehe etwa EuGH IStR 2013, 922, 926 f. Rn. 80 ff.; dazu auch Pabel (Fn. 8), § 19 Rn. 39; Siegel (Fn. 127), Rn. 461 f. 136 EuGH, Rs. C-112/13, Urt. v. 11. 9. 2014, Rn. 28 ff. 137 Zur Implementierungsfunktion des nationalen Rechtsschutzes für das Unionsrecht Dörr (Fn. 69), S. 173. 138 S. etwa EuGH NVwZ 2014, 865, 866 f. Rn. 34 f.; Jarass NJW 2011, 1391, 1395; s. auch Wölker DÖV 2003, 570, 576; schon seit langem befasst sich die Wissenschaft mit der Europäisierung des Verwaltungsprozessrechts, dazu z. B. Burgi, Verwaltungsprozess und Europarecht, 1996; Classen, Die Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, 1996; Dünchheim, Verwaltungsprozeßrecht unter europäischem Einfluß, 2003; Ehlers, Die Europäisierung des Verwaltungsprozeßrechts, 1999; Schoch, Die Europäisierung des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes, 2000. 139 Eine Erklärung dafür könnte sein, dass einzelne Vorgaben des Art. 47 GRCh vage gehalten und daher konkretisierungsbedürftig bzw. zugunsten anderer Rechtsgüter einschränkbar sind, s. dazu Bertrand/Sirinelli, in: Auby/Duteheil de la Rochère (Hrsg.), Traité de droit administratif européen, 2014, S. 565, 574 f.

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Art. 47 GRCh verstößt,140 ist vor allem die von ihm untersuchte Frage hervorzuheben, ob sich das für eine Fortsetzungsfeststellungsklage erforderliche Fortsetzungsfeststellungsinteresse (§ 113 Abs. 1 S. 4 VwGO) bei einem erledigten, tiefgreifenden Eingriff in die Grundfreiheiten aus Art. 47 GRCh ergeben könnte. Nachdem das BVerwG herausgearbeitet hat, dass der nationale Gesetzgeber auch nach dem Unionsrecht die Zulässigkeit eines Rechtsbehelfs vom Vorliegen eines qualifizierten Interesses abhängig machen dürfe,141 stellte es sich auf den Standpunkt, die Verneinung des Fortsetzungsfeststellungsinteresses bei einer erledigten glücksspielrechtlichen Untersagungsverfügung sei mit Art. 47 GRCh vereinbar. Solange die Verfügung nicht erledigt sei, könne der Einzelne gerichtlichen Rechtsschutz erlangen. Aus dem Effektivitätsgebot folge keine Verpflichtung zur Gerichtskontrolle bei Erledigung des Eingriffs allein zum Zweck der abstrakten Rechtsklärung.142 Die Abhängigkeit der Klage von einem rechtlichen, wirtschaftlichen oder ideellen Nutzen für den Kläger beinhalte eine nach Art. 51 Abs. 1 GRCh zulässige Einschränkung des Rechtsschutzgrundrechts, die aus Gründen der Wahrung der „Prozessökonomie zur Verwirklichung des unionsrechtlich legitimen Ziels zügigen, effektiven Rechtsschutzes für alle Rechtssuchenden“ zulässig sei.143 Da beim mitgliedstaatlichen Vollzug des Unionsrechts der effektive Rechtsschutz eine zusätzliche Stütze durch Art. 47 GRCh erfährt144 und die nationalen Gerichte an dieses Grundrecht gebunden sind, sollten sie schon aus dogmatischen Gründen im Hinblick auf die Richtigkeit ihrer Entscheidungen in unionsrechtlich geprägten Fällen, in denen das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz bedeutsam wird, Art. 47 GRCh in ihre Argumentation einbeziehen. Denn der EuGH kann diesem Unionsgrundrecht durchaus in einzelnen Facetten einen abweichenden Gehalt von der den deutschen Juristen so vertrauten Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG beimessen. So meinte der EuGH-Richter Safjan in einem Vortrag vor Kurzem, „it is the Court of Justice, which determines exactly what this level is by interpreting Article 47 CFREU“.145 Außerdem wird so allen bewusst, dass die innerstaatlichen Gerichte bei der Durchsetzung von Unionsrecht funktionell (auch) Unionsrechtsschutz vermitteln,146 dieser mithin eine komplementäre Aufgabe zwischen nationaler und Unionsgerichtsbarkeit ist.147

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BVerwG NVwZ 2013, 733, 736. BVerwGE 146, 303, 314. 142 BVerwGE 146, 303, 316. 143 BVerwGE 146, 303, 315; i. E. auch Rademacher (Fn. 18), S. 204. 144 So zum Zeitaspekt Schenke NVwZ 2012, 257; Dörr (Fn. 75), Europäischer Verwaltungsrechtsschutz Rn. 221. 145 Safjan (Fn. 6), S. 1. 146 Burgi, Verwaltungsprozess und Europarecht, 1996, S. 58; Dörr (Fn. 75), Europäischer Verwaltungsrechtsschutz Rn. 179. 147 Safjan (Fn. 6), S. 1 f. 141

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IV. Fazit Art. 47 GRCh legt einheitliche Standards für die Gewährung von Rechtsschutz bei Verletzungen unionsrechtlich garantierter Rechte und Freiheiten durch die Unions- und mitgliedstaatlichen Gerichte fest.148 Da die Mitgliedstaaten, soweit keine direkten Klagemöglichkeiten zu den Unionsgerichten bestehen, nach Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV zur Schaffung der erforderlichen Rechtsbehelfe für einen wirksamen Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen verpflichtet sind, bedarf es einer gelungenen Abstimmung von nationaler und Unionsgerichtsbarkeit. Der nach der Inuit-Entscheidung des EuGH unter gewissen Voraussetzungen den Mitgliedstaaten obliegende Rechtsschutz gegen Gesetzgebungsakte der Union, die keiner Durchführung mehr bedürfen, lässt sich durch eine entsprechende unionsrechtsschutzfreundliche Auslegung der deutschen VwGO-Normen so in den Griff bekommen, dass jedenfalls in diesem Mitgliedstaat keine Rechtsschutzlücken entstehen dürften.149 De lege ferenda könnte man auf nationaler Ebene darüber nachdenken, ob insoweit nicht die Schaffung eines speziellen Rechtsbehelfs oder die Bereitstellung eines subjektiven öffentlichen Rechts auf Anrufung des EuGH im Vorabentscheidungsweg150 sinnvoll sein könnte. Zur Vermeidung von Verstößen gegen Art. 47 GRCh sollten die deutschen Gerichte bei der Komplementierung des Unionsrechtsschutzes die diesbezügliche EuGH-Rechtsprechung im Blick behalten. Möglicherweise wird langfristig – etwa angesichts des Beitritts der Union zur EMRK151 – zu diskutieren sein, ob nicht die Arbeitsteilung zwischen unionaler und nationaler Gerichtsbarkeit durch eine Änderung der primärrechtlichen Möglichkeiten zur direkten Anrufung der Unionsgerichte anders austariert werden sollte.152 Weiterhin ist die Bedeutung des Art. 47 GRCh beim Rechtsschutz im Zusammenhang mit mehrstufigen Verwaltungsverfahren, bei denen nationale und unionale Ebene miteinander verklammert sind,153 sowie beim dezentralen Verwaltungsvollzug durch interadministratives, grenzüberschreitendes Verwaltungshandeln der Mitgliedstaaten im Blick zu behalten.154

148 Last (Fn. 52), S. 196 f.; zur Vereinheitlichung des Rechtsschutzes und der Verfahrensgarantien in Europa auch Pache NVwZ 2001, 1342, 1344. 149 Cremer ZG 2014, 82, 95; so bereits Gundel VerwArch 92 (2001), 81, 101. 150 Zu einem solchen subjektiven Recht Munding (Fn. 3), S. 526 f. 151 Dazu Vondung (Fn. 99), S. 272 ff. 152 Z. B. zum Thema Grundrechtsbeschwerde Blanke (Fn. 25), Art. 47 Rn. 8; Eser (Fn. 25), Art. 47 Rn. 41; Mayer DVBl. 2004, 606, 614; Rengeling, in: FS für Kutscheidt, 2003, S. 93, 103; zu denkbaren Änderungen auch Munding (Fn. 3), S. 557 ff. 153 Franzius (Fn. 39), § 4 Rn. 28. Zu den Problemen vertikaler Verbundverfahren auch Guckelberger/Geber (Fn. 38), S. 63 ff. 154 Voßkuhle/Lange (Fn. 117), § 6 Rn. 23.

„Wer wird Millionär?“ – ein rechtsfreier Raum? Von Maximilian Herberger, Saarbrücken I. Die K-Frage („Edeka“) Günther Jauch hat es schon im Jahre 2000 geahnt: „Wer wird Millionär?“ ist kein rechtsfreier Raum. Der Kandidat – seines Zeichens Zahnarzt aus Pforzheim – antwortete seinerzeit auf die 125.000 Mark-Frage („Welches Wort steckt hinter dem K in Edeka?“) mit „Kaufleute“. Jauch hingegen meinte gestützt auf die Expertise seiner Redaktion, die richtige Antwort sei „Einkaufsgenossenschaft deutscher Kolonialwaren- und Lebensmittelhändler“ und garnierte das einleitend mit der Bemerkung: „Auch auf die Gefahr hin, dass es ein richtig schöner dicker Prozess wird, die Antwort ist – falsch.“ Übrigens kam es damals nicht zu einem Prozess. Zuerst verwies die RTL-Sprecherin der taz gegenüber ohne Quellenangabe auf Jauchs „sicher richtige Antwort“. Später hatte RTL dann zwar dem betroffenen Zahnarzt in erfreulicher (sich später so nicht wiederholender) Offenheit mitgeteilt „Sie haben wohl doch Recht“, dies jedoch mit dem Ersuchen verbunden, „den Ball flach zu halten“. Diesem Ersuchen war der Kandidat dann auch nachgekommen. Zu einer Klage kam es nicht.1 So hatte man nun zwar neben Jauchs Gespür für Streitwerte („richtig schöner dicker Prozess“) auch sein Wort für die Möglichkeit des Rechtsweges.2 Aber wie tragfähig diese Möglichkeit in der Rechtswirklichkeit sein würde, blieb bis zu der hier zu besprechenden Entscheidung des OLG Köln vom 10. 4. 20143 unausgelotet. Ein Grund dafür liegt auf der Hand: Bei den interessanten Spielsummen birgt ein Prozess ein erhebliches Kostenrisiko. Richtig „schön“ ist, was das Risiko angeht, ein solcher „dicker Prozess“ für die betroffenen Kandidatinnen und Kandidaten nicht. Außerdem ließ sich immer schon vermuten, was jetzt Gewissheit ist: Der sog. „Mitwirkenden-Vertrag“ zwischen der Endemol Deutschland GmbH, der Produktionsfirma von „Wer wird Millionär“, und den Kandidatinnen und Kandidaten, enthielt eine den

1 Vgl. zu dieser Episode taz, 20. 12. 2000, http://www.taz.de/1/archiv/?id=archivsei te&dig=2000/12/20/a0146. 2 Auch ein propädeutisches Jura-Studium wie das von Jauch absolvierte (vgl. http://de.wi kipedia.org/wiki/Günther_Jauch – Version vom 27. Okt. 2014 19:08) hinterlässt offensichtlich nützliche Spuren. 3 OLG Köln, 10. 4. 2014 (11 W 64/13).

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Rechtsweg ausschließende Klausel. Diese Klausel auf den gerichtlichen Prüfstand zu stellen, war nicht ohne Risiko. Anlässe, fälschlicherweise für richtig gehaltene Antwortalternativen in Frage zu stellen, hätte es mehrere gegeben.4 Einige charakteristische Beispiele sind geeignet, das zu verdeutlichen. II. Der zehnte Monat im Jahreslauf In einem Internet-Forum wird 2002 über eine Auseinandersetzung mit RTL zu folgender Frage berichtet5: „Welcher Monat war vor der Einführung des julianischen Kalenders der zehnte im Jahreslauf? A: September B: Oktober C: November D: Dezember“.

Als richtige Antwort sei in der Sendung D zugrunde gelegt worden. Dagegen wurde – immerhin unter Berufung auf den Kleinen Pauly Band V, Spalte 1483, Zeilen 39 – 46 – folgender Einwand vorgetragen: Im Jahre 153 v. Chr. – also bereits lange vor der Julianischen Kalender-Reform – sei der Jahresanfang vom 1. März auf den 1. Januar „vorverlegt“ worden. Damit hätten die Zählmonate (darunter Dezember, der zehnte) ihren vorherigen Platz verloren. Die von RTL für richtig gehaltene Antwort sei demnach falsch. Laut der mitgeteilten Mail der RTL-Zuschauerredaktion an die Fragestellerin herrschte dort zwar „Freude“ darüber, dass „eine spezielle Frage offenbar Ihren sportlichen Ehrgeiz geweckt hat.“ Aber: „Es überfordert jedoch die zeitlichen und personellen Möglichkeiten unserer Redaktion bei weitem, dies sozusagen im Rahmen eines ,Gutachterstreits‘ restlos aufzuklären.“ Danach sah RTL die Angelegenheit offensichtlich als erledigt an. III. Die Fellkappen-Maus in „Hänsel und Gretel“ Am 21. 10. 2006 ging es um die folgende Frage6:

4 Vgl. Dominic Pick http://www.zehn.de/die-10-strittigsten-fragen-bei-wer-wird-millionaer2547611-0. 5 Die Debatte dazu (einschließlich der Korrespondenz mit RTL) findet sich unter http:// www.simforum.de/showthread.php?p=294580. 6 Vgl. zu dieser Episode Karen Krüger, Der Pfennigfuchser und die Ignoranz von RTL, FAZ vom 13. 6. 2007 (http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/wer-wird-millionaer-derpfennigfuchser-und-die-ignoranz-von-rtl-1437144.html).

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„Welches Grimmsche Märchen endet mit der Erlaubnis, eine Maus zur Pelzkappe zu verarbeiten?“

Als richtige Antwort proklamierte Günther Jauch „Hänsel und Gretel“. Das Problem war nur, dass die Originalausgabe von „Hänsel und Gretel“ von 1812 mit dem Satz endet: „Die Mutter aber war gestorben.“ Keine Rede also von der Erlaubnis, eine Maus zur Pelzkappe zu verarbeiten. Die von Helmut Wüst, einem Märchenkenner und Forensiker, mit RTL geführte Korrespondenz beinhaltete seitens RTL (wie bereits im vorigen Fall) die Erklärung, man freue sich, dass eine spezielle Frage offenbar seinen „sportlichen Ehrgeiz“7 geweckt habe. Und am Ende stand dann die basta-artige Abschlusserklärung: „Bitte haben Sie Verständnis, wenn wir unsererseits keine weitere Arbeitszeit in die Erörterung dieser Angelegenheit investieren wollen und können.“ Bei der französischen Parallel-Sendung „Qui veut gagner des millions?“ sieht man die Dinge möglicherweise etwas entspannter. Dort durfte 2008 eine Kandidatin auf Grund einer Ungenauigkeit bei den Antwortalternativen ihren Auftritt wiederholen.8 IV. Die Tribünen-Frage in der Sendung vom 6. 5. 2013 Bisher wurde in Sachen „Wer wird Millionär?“ bei einem Streit über die Korrektheit der Fragestellung samt Antwortalternativen (soweit ersichtlich) kein Prozess geführt – bis zum letzten Jahr. Anlass dafür war die Kontroverse rund um die „Tribünenfrage“ in der Sendung vom 6. 5. 2013. Diese Frage wurde folgendermaßen gestellt: „Wer auf der ,Tribüne‘ Platz nimmt, tut dies der Wortherkunft zufolge eigentlich, um…? A: Gekrönt zu werden B: Recht zu sprechen C: Orgien zu feiern D: Almosen zu verteilen“.

Der Kandidat nahm einen Joker in Anspruch und telefonierte mit einem Bekannten, der Antwort B für richtig hielt. Da sich der Kandidat immer noch nicht sicher war, nahm er einen zweiten Joker in Anspruch und befragte einen sog. „Publikumseinzeljoker“. Seine Wahl fiel auf eine Saarbrücker Jura-Studentin, die Zweifel an der Richtigkeit von Antwort B äußerte und Antwort D als richtige Antwort für möglich hielt. Der Kandidat entschied sich danach für die Antwort D. Nach Ansicht der Redaktion der Sendung war allerdings Antwort B richtig. Dies hatte zur Folge, dass der Kandidat, statt 125.000 Euro als Gewinnsumme zu erreichen, auf 500 Euro Gewinn7 Eine in den zur Anwendung kommenden Textbausteinen von RTL offensichtlich beliebte Formulierung. Wenn man aber von „sportlichem Ehrgeiz“ spricht, sollte der Gedanke der Fairness nicht fern sein. 8 http://fr.wikipedia.org/wiki/Qui_veut_gagner_des_millions_%3F#Faits_notables (Version vom 7. 11. 2014, 11:17 Uhr).

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summe zurückfiel. Die Sendung hatte aufgrund des dramatischen Verlaufs ein großes Echo in den Medien und im Internet.9 Im Folgenden soll nicht dieses Medienecho nachgezeichnet werden. Vielmehr geht es um einige zivilrechtliche Aspekte des Vorgangs und das Ergebnis eines von dem Kandidaten geführten Prozesskostenhilfeverfahrens. V. Anspruch auf Aushändigung eines Vertragsexemplars Im Vorfeld der gerichtlichen Auseinandersetzung stellt sich die Frage, ob ein Anspruch auf Aushändigung eines Exemplars des Mitwirkenden-Vertrages besteht. Die Kandidatinnen und Kandidaten, die bei „Wer wird Millionär“ auftreten, werden angehalten, einen sog. „Mitwirkenden-Vertrag“ zu unterzeichnen. Dies geschieht kurz vor der Aufzeichnung der Sendung im Studio. Ein Exemplar des Mitwirkenden-Vertrages erhielten die Kandidatinnen und Kandidaten jedenfalls bis 2013 nicht. Als der in der Sendung vom 6. 5. 2013 unterlegene Kandidat anwaltlichen Rat über die Erfolgsaussichten eines Prozesskostenhilfeverfahrens suchte, stellte sich zunächst die Frage nach dem Inhalt des für die rechtliche Beziehung zum Veranstalter maßgeblichen Vertrages. Es liegt auf der Hand, dass die Rechtsverfolgung erschwert wird, wenn der Rechtssuchende nicht über ein Vertragsexemplar verfügt. In diesem Vorstadium konnte immerhin erreicht werden, dass dem Anwalt des Kandidaten ein Exemplar des Mitwirkenden-Vertrages überlassen wurde, dies verbunden mit der Erklärung, man stehe einem solchen Ansinnen nicht ablehnend gegenüber, es sei nur bisher noch nie vorgetragen worden.10 Ein Anspruch auf Überlassung eines Vertragsexemplars ergibt sich sicherlich als vertragliche Nebenpflicht und kann letzten Endes auch auf § 242 BGB gestützt werden. Allerdings könnte § 810 BGB den Gedanken nahelegen, dass man auf die Einsichtnahme beim Vertragspartner angewiesen sei, u. a. verbunden mit der Möglichkeit, Fotokopien anzufertigen. Indessen ist § 810 BGB nicht abschließend11, steht also dem Begehren auf Aushändigung eines Vertragsexemplars nicht entgegen. Im Übrigen wäre es auch relativ unpraktisch, wenn der über die Urkunde Verfügende darauf bestehen würde, dass die Urkunde bei ihm mit der Möglichkeit einge9

Vgl. zum Beginn der Auseinandersetzung mit RTL „Wer wird Millionär“ und das Römische Recht, http://www.jurpc.de/jurpc/show?id=20130087 (DOI: DOI 10.7328/jurpcb201328582). Dort findet sich auch die Anfangskorrespondenz des Verfassers mit RTL. Der weitere Gang der Debatte kann über https://www.facebook.com/LsHerbergerSB verfolgt werden. Überraschend war die große Resonanz dieses Facebook-Auftritts. Am 10. 5. 2013 verzeichnete Facebook „101.152 erreichte Personen“. Weitere Spuren der Kontroverse im Netz findet man bei Google mit Suchfragen wie „Tribünenfrage“ (das Wort ist auf dem Weg zum Begriff) oder auch „Jauch Fairness“. 10 Vgl. dazu https://www.facebook.com/LsHerbergerSB/posts/299659426845219. 11 Habersack, Münchener Kommentar zum BGB, 6. Auflage 2013, § 810 BGB, Rn. 2, 13.

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sehen wird, gegebenenfalls Kopien anzufertigen. Auf dieses Ergebnis scheint auch die juristische Analyse von Endemol/RTL hinausgelaufen zu sein. VI. Das Prozesskostenhilfeverfahren vor dem LG Köln Aus der Überlegung heraus, dass die in der Sendung mit der „Tribünenfrage“ für allein richtig erklärte Antwort möglicherweise falsch sei, sah der seinerzeit ausgeschiedene Kandidat einen Anspruch auf erneute Teilnahme mit einer korrekten Frage-/Antwort-Vorgabe in derselben Sendungssituation wie bei dem seiner Ansicht nach fehlerbedingten Ausscheiden als gegeben an.12 Zur Vorbereitung der gerichtlichen Durchsetzung dieses Anspruchs stellte er am 1. 8. 2013 beim LG Köln einen Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren gegen die Endemol Deutschland GmbH. Der die Gewährung von Prozesskostenhilfe ablehnende Beschluss der 29. Zivilkammer des LG Köln vom 20. 11. 2013 (29 0 202/13)13 fällt durch seine Kürze auf. Er umfasst 29 (in Worten: neunundzwanzig) Zeilen. Gestützt wird die Ablehnung zum einen darauf, dass die Endemol Deutschland GmbH als Produktionsfirma nicht in der Lage sei, dem Wiederholungsbegehren nachzukommen. Denn verantwortlich für die Programminhalte sei nicht die Beklagte, sondern RTL. Es sei auch nicht ersichtlich, wie diese Unmöglichkeit durch eine Umstellung des Klageantrags gegenüber der Beklagten habe behoben werden können. Eines Hinweises an den Kläger habe es insofern nicht bedurft, denn sein Begehren scheitere an § 762 Abs. 1 S. 1 BGB („Durch Spiel oder durch Wette wird eine Verbindlichkeit nicht begründet.“), der auf eine Sendung vom Typ „Wer wird Millionär“ anzuwenden sei. Gegen diese juristische Qualifizierung spricht bereits, dass dann die Kandidaten ja keinen Anspruch auf die Auszahlung der Gewinnsumme hätten, was wohl keiner der Beteiligten annimmt. Die weitere Begründung verdient deswegen zitiert zu werden, weil sie eine bestimmte Stimmungslage zu „Wer wird Millionär“ deutlich anklingen lässt, die möglicherweise die Einstufung als „Spiel oder Wette“ nicht unbeeinflusst gelassen hat: „Denn bei der Sendung steht der Unterhaltungszweck im Vordergrund. Dass der Bildungszweck zentral wäre, kann nicht festgestellt werden, dagegen spricht bereits, dass die ersten

12 Vgl. zu dieser juristischen Sicht der Dinge Wolfgang Kuntz, Die Tribünen-Frage bei „Wer wird Millionär“, Legal Tribune Online (23. 5. 2013), www.lto.de/recht/hintergruende/h/ wer-wird-millionaer-jauch-tribuene-wiederholung. 13 LG Köln, 20. 11. 2013 (29 0 202/13), http://www.jurpc.de/jurpc/show?id=20140175 (http://dx.doi.org/10.7328/jurpcb20142910168).

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Fragen recht einfach, die späteren entlegen sind sowie das vorgeschaltete Verfahren der ,Auswahl‘ der Kandidaten14.“

Im Kontext der Frage einer möglichen Pflichtverletzung des Veranstalters durch falsche Fragestellungen wird die skeptische Grundhaltung zur Sendung dann nochmals verdeutlicht: „Hinzukommt, dass unerheblich ist, ob die dem Kläger gestellte Frage eindeutig zu beantworten war oder nicht, denn in einer etwaigen Mehrdeutigkeit der Frage wird angesichts der Üblichkeit von Mehrdeutigkeit sowohl bei Fragen als auch Antworten in diese [sic] Sendereihe von Seiten des Gerichts schon keine Pflichtverletzung gesehen“.

Lakonische Kürze mag eine denkbare Qualität von Urteilen sein. Wenn sie aber – wie hier – entgegenstehende Rechtsprechung zum Thema15 gänzlich außer Acht lässt, wird man eine solche Begründung nicht für ein gelungenes Werkstück erachten können, und dies ganz unabhängig vom Ergebnis. VII. Die sofortige Beschwerde gegen den Beschluss des LG Köln Der gegen den ablehnenden Beschluss eingelegten sofortigen Beschwerde vom 02. 12. 2013 wurde durch das LG nicht abgeholfen. Dazu bestehe kein Anlass, denn: „Entgegen der Auffassung des Klägers wird die Sendung „Wer wird Millionär“ weder durch Wissen geprägt noch hängt der Ausgang von Geschicklichkeit ab.“

Die Sache wurde mit dieser Begründung dem OLG als Beschwerdegericht vorgelegt. VIII. Das Beschwerdeverfahren vor dem OLG Köln 1. Die Mitwirkenden-Vereinbarung Der ausführlich begründete Beschluss des 11. Senats des OLG Köln16 zitiert zu Beginn zwei Bestimmungen der Mitwirkenden-Vereinbarung, die zwischen der Produktionsfirma Endemol Deutschland GmbH und den Kandidatinnen und Kandidaten abgeschlossen wird. Von der rechtlichen Bedeutung einzelner Klauseln dieser Vereinbarung hängt die Entscheidung in der Sache wesentlich mit ab. Durch das Zitat im Beschluss ist es nun erstmals möglich, diese beiden Bestimmungen wiederzugeben 14 Da das Verfahren der „Auswahl“ (in Anführungszeichen) hier zum Kriterium wird, ein Hinweis auf die lebendige Beschreibung desselben (auch zu den für den Bewerber dabei entstehenden Kosten): Alex, Wer wird Millionär Bewerbung: Wege und Umwege zu Günther Jauch, http://niedblog.de/wer-wird-millionaer-bewerbung. 15 Vgl. z. B. OLG München, 28. 07. 2005 (U (K) 1834/05), juris; AG München, 16. 4. 2009 (222 C 2911/08), juris. 16 OLG Köln, 10. 4. 2014 (11 W 64/13), http://www.jurpc.de/jurpc/show?id=20140176 (http://dx.doi.org/10.7328/jurpcb20142910169).

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und so den Schleier des bisherigen Geheimnisses um die Mitwirkenden-Vereinbarung ein wenig zu lüften. Punkt III Nr. 2: „Sämtliche im Rahmen der Produktion getroffenen Entscheidungen von Endemol (insbesondere auch des Moderators) sind unanfechtbar.17 Falls Fehler, Missverständnisse oder Differenzen bezüglich einzelner Antworten und/oder Sendungsbestandteile und/oder der technischen Einrichtungen der Produktion und/oder des Telefonsystems auftreten, ist die Entscheidung von Endemol über den weiteren Sendungs- bzw. Spielverlauf bindend. Der Rechtsweg ist insoweit ausgeschlossen.“

Punkt III Nr. 3: „Gem. § 762 I S. 1 Bürgerliches Gesetzbuch wird durch einen Vertrag über ein Gewinnspiel keine Verbindlichkeit begründet, d. h. der/die Mitwirkende hat keinen Gewinnanspruch; der Rechtsweg ist insoweit ausgeschlossen … Alle in der Produktion ausgelobten Gewinne stehen unter der aufschiebenden Bedingung, dass die Produktion ausgestrahlt wird, d. h. ohne Ausstrahlung gibt es keinen Gewinn.“

Auf die Punkte III Nr. 2 und Nr. 3 der Mitwirkenden-Vereinbarung eingehend qualifiziert das Gericht diese als Allgemeine Geschäftsbedingung und erklärt sie hinsichtlich des Rechtswegausschlusses für unwirksam: „Da es sich, wie noch zu begründen sein wird, bei dem Fernsehquiz „Wer wird Millionär?“ nicht um ein Spiel oder eine Wette i.S.d. § 762 BGB handelt, sondern um eine Auslobung, muss der oder die Mitwirkende mindestens einen auch gerichtlich durchsetzbaren Anspruch auf Einhaltung der selbst auferlegten Quizregeln und bei Erreichung des Spielzieles auch einen auf dem Rechtsweg durchsetzbaren Anspruch auf den erreichten Gewinn haben. Ein vollständiger Ausschluss des Rechtsweges ist mit den grundlegenden gesetzlichen Regelungen über die Auslobung deshalb unvereinbar, weil der oder die Mitwirkende mindestens einen zu schützenden Anspruch auf Einhaltung der (Spiel-)Regeln hat, der bei einem wirksamen Ausschluss gerichtlicher Überprüfung leer liefe.“18

Damit wird die Einhaltung sämtlicher für „Wer wird Millionär“ geltenden Spielregeln der vollen gerichtlichen Kontrolle unterworfen.19 Dazu gehört es auch zu prüfen, ob die richtige Antwortalternative zugrunde gelegt wurde, weswegen das Gericht dann konsequenterweise noch in die Prüfung dieses Punktes eintritt. Offengelassen wird vom Gericht in diesem Zusammenhang eine weitere wichtige Rechtsfrage, die nämlich, „ob sich ein Mitwirkender bzw. eine Mitwirkende in der Mitwirkungsvereinbarung materiell-rechtlich wirksam einer Bestimmung unterwerfen kann, nach der sich der/die Mitwirkende – sinngemäß – der Entscheidung der Antragsgegnerin (oder insbesondere auch des Moderators) als bindend unterwirft, 17

Hervorhebung im Beschluss und damit wohl auch im Original der Mitwirkenden-Vereinbarung. 18 Beschluss vom 10. 4. 2014 (11 W 64/13), Bl. 5. 19 Es wäre interessant zu erfahren, ob Endemol den für unwirksam erklärten Punkt III Nr. 2 der Mitwirkenden-vereinbarung weiter verwendet.

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„falls Fehler, Missverständnisse oder Differenzen bezüglich einzelner Antworten […] auftreten“ (Ziff. III 2 S. 3 der Vereinbarung).“20 Es wird erwogen, dass dafür möglicherweise „vergleichbar der Tatsachenentscheidung eines Schiedsrichters“21 die Notwendigkeit spreche, einen ungestörten Spielablauf zu garantieren. Gegen die Wirksamkeit spreche aber, dass „der bzw. die Mitwirkende jedenfalls vor völlig willkürlichen Entscheidungen geschützt sein [müsse], die jedenfalls nicht völlig ausgeschlossen sind, nach den Vertragsklauseln aber ebenfalls nicht angreifbar wären.“22 Da es dem Gedankengang des Gerichts nach auf diese Frage entscheidungserheblich nicht ankam, blieb die Frage – nach dem Gedankengang des Beschlusses korrekt – unbeantwortet. Dass die Frage aber aufgeworfen wurde (der Begründungslogik nach hätte man darauf verzichten können), darf wohl als Hinweis darauf verstanden werden, dass das Gericht Rechtsschutz gegen willkürliche Entscheidungen bei der Einstufung von Antworten im Rahmen der Quiz-Show gewähren würde. 2. Spiel/Wette oder Auslobung? Nach der Eröffnung des Rechtsweges gegen die insoweit für unwirksam erklärten Klauseln in der Mitwirkenden-Vereinbarung stellt sich die Frage nach der Grundlage für einen möglichen Anspruch. Zur Debatte stehen § 762 BGB (Spiel/Wette)23 oder § 657 BGB (Auslobung). Für die Abgrenzung stellt der Senat darauf ab, ob die Ergebnisse der Veranstaltung, in der eine Geldsumme gewonnen werden kann, „nicht wesentlich von den Fähigkeiten, Kenntnissen oder der Geschicklichkeit der Beteiligten abhängen, sondern ganz oder doch hauptsächlich vom Zufall“24. Sodann wird für das „den Senatsmitgliedern bekannte Quizspiel“ ausführlich dargelegt, warum bei diesem Spiel nicht der Zufall entscheidet, sondern Kenntnisse und Fähigkeiten. Denn: „Die Fragen sind so gestaltet, dass sie zu einem erheblichen Teil mit fundierter Allgemeinbildung beantwortet werden können, etwa bei Fragen aus den Bereichen Politik, Geschichte, 20

Beschluss vom 10. 4. 2014 (11 W 64/13), Bl. 5. Beschluss vom 10. 4. 2014 (11 W 64/13), Bl. 6. 22 Beschluss vom 10. 4. 2014 (11 W 64/13), Bl. 6. 23 So ja das LG Köln als Vorinstanz, den in Punkt III Nr. 3 der Mitwirkenden-Vereinbarung gewählten juristischen Ausgangspunkt aufgreifend. Bemerkenswert ist aber, dass dieser Punkt III Nr. 3 zugleich die „ausgelobten (!) Gewinne“ erwähnt, und sich so hinsichtlich der rechtlichen Qualifizierung als widersprüchlich erweist. Diese Widersprüchlichkeit wird in dem Beschluss des OLG Köln übersehen. Dort wird nur das Zitat von § 762 I S. 1 BGB hervorgehoben: „Zwar zitiert Ziff. III der Vereinbarung § 762 I 5.1 BGB, was im Kontext nicht anders verstanden werden kann, als dass die Antragsgegnerin die Teilnahme an dem Fernsehquiz als ein Gewinnspiel versteht. Diese rechtliche Einordnung wird dem Charakter der Veranstaltung jedoch nicht gerecht.“ (Bl. 7). Das ist für den weiteren Gedankengang jedoch folgenlos, da Endemol vorgehalten wird, den Charakter der eigenen Veranstaltung zu verkennen. 24 Beschluss vom 10. 4. 2014 (11 W 64/13), Bl. 7. Vgl. zu diesem Thema auch Ernst, Das TV-Zuschauerquiz im BGB zwischen Auslobung und Spiel, NJW 2006, S. 186 – 188. 21

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Geographie oder auch der Literatur. Zum Teil erfordern sie die Fähigkeit der Kombination, etwa wenn sich die richtige Antwort aus Wortspielen ergibt. … Durchgängig lässt sich sagen, dass eine höhere Gewinnstufe ohne ein Mindestmaß an Allgemeinbildung kaum zu erreichen sein wird.“25

Vor diesem zutreffend und detailgenau dargestellten faktischen Hintergrund ist dann klar, dass die Regeln für die Auslobung maßgeblich sind. 3. Korrektheit der Antwortalternative B („Recht zu sprechen“) Wegen der Qualifizierung als Auslobung stellt sich nun die für den Fall entscheidende Frage, ob in der Annahme, nur die Antwortalternative B („Recht zu sprechen“) sei korrekt, eine Fehlentscheidung liegt.26 Der Senat verneint dies und stützt dieses Ergebnis auf zwei Begründungen, die er jeweils für sich allein als tragfähig einstuft.27 Die erste Argumentation bedient sich der „Ausschlussmethode“. Die Antworten A, C und D seien als unrichtig einzustufen. Selbst wenn sich in Einzelfällen Handlungen dieser Art mit der Wortherkunft von „Tribüne“ in Verbindung bringen ließen, müsse sich die Assoziation „auf eine typische oder jedenfalls naheliegende Verbindung der Begriffe beziehen, wie in der Formulierung ,der Wortherkunft zufolge eigentlich‘ zum Ausdruck kommt.“28 Also folge: „Schon nach der Ausschlussmethode verbliebe demnach Antwort B: ,Um Recht zu sprechen‘.“29

Diese Argumentation ist nicht beweiskräftig. Sie wäre nämlich nur schlüssig, wenn feststünde, dass genau eine Antwort-Alternative richtig ist. Dann könnte man durch Ausschluss von drei anderen falschen Alternativen dartun, dass die verbleibende Antwort die richtige ist. Nur steht vorliegend nicht fest, dass genau eine richtige Antwort-Alternative existiert – das ist ja gerade umstritten. Es fehlt also an der entscheidenden Prämisse für die „Ausschlussmethode“, weswegen man die Kritik auch dahingehend formulieren könnte, dass eine „petitio principii“ vorliegt. 25

Beschluss vom 10. 4. 2014 (11 W 64/13), Bl. 7. Diese am Gutachtenaufbau orientierte Struktur des Urteils verdient Anerkennung. Denn man hätte auch urteilsstilartig die vorhergehenden Fragen mit dem Argument dahinstehen lassen können, dass „jedenfalls“ die vorgesehene Antwort-Alternative korrekt sei. Offensichtlich wollte man die anderen Rechtsfragen aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit mit entscheiden. 27 Dass jede der beiden Argumentationen für sich betrachtet als schlüssig angesehen wird, ergibt sich aus dem folgenden resümierenden Satz: „Damit lässt sowohl die etymologische Betrachtung als auch die Ausschlussmethode die Antwort B („Recht zu sprechen“) als richtige Antwort erscheinen.“ (Beschluss vom 10. 4. 2014 (11 W 64/13), Bl. 11). 28 Beschluss vom 10. 4. 2014 (11 W 64/13), Bl. 9. 29 Beschluss vom 10. 4. 2014 (11 W 64/13), Bl. 9. 26

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Zusätzlich fragt es sich, welchen argumentativen Mehrwert die „Ausschlussmethode“ erbringen soll, wenn sie den Nachweis der Richtigkeit genau einer Antwort nicht ersetzen kann. Möglicherweise war sich der Senat des Umstands bewusst, dass die „Ausschlussmethode“ letzten Endes nicht trägt und eine Argumentation zur Richtigkeit von Antwort B unumgänglich ist. Eine solche Begründung liefert er aus seiner Sicht ab Bl. 9 des Beschlusses nach. Der Kerngedanke ist dabei der, dass das Wort „Tribüne“ „nach allen gängigen Wörterbüchern (vgl. nur Langenscheidts Universalwörterbuch Latein: ,tribunal, -alis, n, Tribüne, Hochsitz, Richterstuhl‘; Duden, Fremdwörterbuch, Duden, Das große Wörterbuch der deutschen Sprache30: „Tribüne, die, n, [frz. tribune< ital. tribuna < lat. Tribunal]) auf das lateinische Wort ,tribunal‘“ zurückgehe.“31 Zwar verkenne der Senat nicht, „dass die intensive Befassung mit der antiken Bedeutung des Begriffs „tribunal” auch andere Assoziationen zulässt als ausschließlich die Rechtsprechung.“32 Dazu sei jedoch zu sagen: „Auch die vom Antragsteller bemühten33 bzw. zitierten Stimmen bestreiten indessen nicht, dass auch nach historischen Quellen das tribunal der Erledigung von öffentlichen Angelegenheiten dient [sic], zu denen auch die Rechtsprechung gehörte. So konzedieren die von ihm in Anspruch genommenen Verfasser des Tractats ,Zur Begriffsgeschichte des lateinischen Wortes tribunal in Klassik und Nachklassik‘34 ausdrücklich, dass auch die Rechtsprechung‘ zu den öffentlichen Angelegenheiten gehörte, zu deren Erledigung das tribunal diente (5. 3 des Aufsatzes).“35

Diese Argumentation blendet einen (übrigens im Verfahren vorgetragenen und belegten) Argumentationsstrang gänzlich aus. Dieser verwies darauf, dass „Tribüne“ 30 Lt. Mitteilung der Duden-Redaktion (E-Mail vom 19. 6. 2013) wird sie „die Stelle im Wörterbuch nachbessern“, da „das Wörterbuch an dieser Stelle aufgrund seiner sehr knappen Darstellungsweise missverstanden werden könnte.“ Der externe Experte des Duden für Etymologiefragen habe insoweit auf die Angaben im spezielleren Duden-Herkunftswörterbuch (Duden Bd. 7) verwiesen. Diese erlaubten nur den Schluss, „dass ,Tribüne‘ und ,Tribunal‘ einen gemeinsamen Ausgangspunkt hinsichtlich der Formseite und nicht unbedingt der Ausdrucksseite haben“. 31 Beschluss vom 10. 4. 2014 (11 W 64/13), Bl. 9 f. Nicht im Sinne von Beckmesserei, sondern aus Gründen der Arbeitserleichterung beim Nachprüfen der Zitate sei hinzugefügt, dass man sich diese etwas genauer wünschen würde. 32 Beschluss vom 10. 4. 2014 (11 W 64/13), Bl. 10. 33 Hier schimmert ein wenig das Vorverständnis durch. Wertneutral ist erst die Formulierung „zitierten“. 34 Wer diesen Traktat studieren will, um zu prüfen, ob sein Tenor vom OLG Köln korrekt aufgenommen wurde, kann dies unter der Internet-Adresse http://www.jura.uni-saarland.de/fi leadmin/jips/Begriffsgeschichte_Tribunal.pdf tun. Dazu (nicht aus verletzter Eitelkeit, sondern aus Gründen der Anerkennung der Autorenschaft) die Bemerkung: Man würde sich beim Zitat eines Traktats die Angabe der Autoren-Namen (Prof. Dr. phil. Peter Riemer, Prof. Dr. jur. Maximilian Herberger, Lukas Mathieu) wünschen. 35 Beschluss vom 10. 4. 2014 (11 W 64/13), Bl. 10.

„Wer wird Millionär?“ – ein rechtsfreier Raum?

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der Wortherkunft nach aus dem Französischen stammt, und nicht aus dem klassischen Latein. In dieser Wortgeschichte hinter dem im Mittelpunkt der „Wer wird Millionär“-Frage stehenden Wort „Tribüne“ war die Wortbedeutung im Französischen nie die von „Richterstuhl“ oder „Tribunal“.36 Für „Tribunal“ gibt es eine andere Wortgeschichte.37 Wer sich also für die Wortgeschichte des französischen Lehnworts unmittelbar ins klassische Latein begibt, irrt etymologisch. IX. Fazit Es ist sehr zu begrüßen, dass das OLG Köln wesentliche Klarstellungen zum Rechtsschutz für die Kandidatinnen und Kandidaten getroffen hat, die in der Sendung „Wer wird Millionär“ vor dem Richterstuhl Günther Jauchs sitzen. Bis zu dieser Entscheidung war es faktisch der souveränen Willkür von Endemol, RTL und Günther Jauch überlassen, auf Einwände gegen die falsche Behandlung von Fragen einzugehen oder nicht. Noch im Falle der angeblich in „Hänsel und Gretel“ gestatteten Verarbeitung einer Maus zu einer Fellkappe musste Karen Krüger konstatieren: „Katharina Frank wird keine zweite Chance bekommen – in der Welt von ,Wer wird Millionär?‘ hat RTL das letzte Wort und bestimmt, wer die richtige Antwort hat. Eine zweite Chance gibt es anscheinend nur im Märchen.“38

Damit ist es nun vorbei. Eine zweite Chance hat man auch vor dem OLG Köln. Und was zusätzlich von großer Tragweite ist: Das Gericht hat sich in Sachen „Tribünenfrage“ auf wesentliche Details der etymologischen Debatte eingelassen. Dies setzt Überprüfungsmaßstäbe, sollte sich in Zukunft die „Wer wird Millionär“-Fragenredaktion wieder einmal mit einer Frage auf ein Gebiet begeben, in dem wissenschaftliche Forschung den Richtigkeitsmaßstab abgibt. 36

Im Wörterbuch von Littré findet sich unter den sieben angeführten Hauptbeispielen keines mit juristischer Konnotation. Die dominante Bedeutung ist „erhöhter Ort, an dem von den griechischen und römischen Rednern Reden gehalten wurden.“ („Lieu élevé d’où les orateurs grecs et romains haranguaient le peuple.“); http://littre.reverso.net/dictionnaire-fran cais/definition/tribune. Das gleiche Bild bietet sich im Wörterbuch der Académie Française (http://portail.atilf.fr/cgi-bin/dico1look.pl?strippedhw=tribune). Vgl. zur Herkunft aus dem Französischen auch Prof. Norbert Gutenberg (https://www.face book.com/LsHerbergerSB/posts/285774838233678). Als das französische Lehnwort in’s Deutsche wanderte, nahm es den Rhetorik-Kontext mit. 37 Vgl. dazu im Einzelnen die Nachweise beim Centre National de Ressources Textuelles et Lexicales, wo unter http://www.cnrtl.fr/etymologie/tribune und http://www.cnrtl.fr/etymologie/ tribunal, die getrennte Etymologie von „Tribune“ und „Tribunal“ dargelegt wird. 38 Karen Krüger, Der Pfennigfuchser und die Ignoranz von RTL, FAZ vom 13. 6. 2007, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/wer-wird-millionaer-der-pfennigfuchser-und-dieignoranz-von-rtl-1437144.html.

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Maximilian Herberger

Bleibt am Ende der Gedanke und die Einladung an Endemol, RTL und Günther Jauch: Sollte man nicht darüber nachdenken, im Mitwirkenden-Vertrag ein geregeltes Verfahren der gütlichen Einigung bei Meinungsverschiedenheiten über die Korrektheit von Antworten vorzusehen?

Über die „Entphilosophierung“ der japanischen Strafrechtsdogmatik und ihre Folgen Von Makoto Ida, Tokyo I. Einleitung Die allgemeinen Lehren des Strafrechts in Japan haben sich unter dem starken Einfluss der deutschen Strafrechtswissenschaft, die die Japaner ab den 1880er Jahren eifrig studiert, aber manchmal durch einen – nicht leicht beschreibbaren – Filterungsprozess rezipiert haben, herausgebildet.1 Während dieser Entwicklung, beginnend mit dem Studium des Lehrbuchs Albert Friedrich Berners, hat die japanische Strafrechtsdogmatik stark interdisziplinäre Züge, ein besonderes Charakteristikum der deutschen Lehre, verliehen bekommen. Will man auf die dogmatischen Fragen des Strafrechts näher eingehen, dann ist es unumgänglich, die Grenzen der Juristerei zu überschreiten und etwa die Philosophie, die Psychologie, die Soziologie oder dergleichen zu Rate zu ziehen. Das von Engisch überlieferte Wort von Leibniz, dass Rechtswissenschaft ohne Philosophie ein Labyrinth ohne Ausgang sei,2 könnte auch den japanischen Strafrechtswissenschaftlern als Motto dienen, unter dem ihre tägliche Arbeit steht. Es gab in der Geschichte der Strafrechtswissenschaft eine Reihe von Sternstunden, in denen uns die der Philosophie entlehnte Methode einen enormen Erkenntnisfortschritt bei der Klärung der dogmatischen Fragen ermöglicht hat. Ein schönes Beispiel stellt der berühmte ZStW-Aufsatz von Reinhard Frank über „Vorstellung und Wille in der modernen Doluslehre“ aus dem Jahre 1890 dar.3 In dieser Jugendarbeit versuchte der Verfasser unter bewusster Anwendung der Erkenntnisse der Psychologie, die er damals als ein Spezialgebiet der Philosophie betrachtete, in der wirren Diskussionslage der strafrechtlichen Vorsatzlehre Ordnung zu schaffen. Frank führte das Gegensatzpaar von der Willens- und der Vorstellungstheorie ein und zeigte zugleich, dass zwischen den beiden Lagern kein substantieller Unterschied bestehe, weil auch die Vertreter der Vorstellungstheorie – in der vorausgehenden Prüfungsstufe – einen Handlungswillen als Erfordernis einer Handlung für nötig halten. Mit seiner muster1

Einen Überblick über die Rezeptionsgeschichte der deutschen Wissenschaften in Japan gibt Makoto Ida, FS Kühne, 2013, S. 759 ff. 2 Karl Engisch, Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit im Strafrecht, 1930, Vorwort. 3 In: ZStW, Bd. 10, 1890, S. 169 ff.

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gültigen Analyse des kognitiven und des voluntativen Elements des Vorsatzes wurde die fundamentale Struktur dieses subjektiven Straftatmerkmals aufgedeckt. Auch die Praktiker unseres weitentfernten, ostasiatischen Insellandes arbeiten heute tagtäglich mit diesem Begriffspaar. Diese außerordentliche juristische Leistung hat der junge deutsche Strafrechtsdogmatiker einer psychologischen Grundeinsicht zu verdanken.4 Die ohnehin enge Beziehung zwischen Strafrecht und Philosophie wurde in Japan mit der Übernahme des Tatbestandsbegriffs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wesentlich gestärkt und erreichte in den 1950er und 60er Jahren mit dem Streit um die Handlungslehre ihren Höhepunkt. Diese Tendenz wurde mit der lebhaften Diskussion über die Willensfreiheit und den Schuldbegriff in den 1970er Jahren fortgesetzt. Aber ab den 90er Jahren geriet die bisherige Strafrechtsdogmatik langsam in Verruf. In dieser kleinen Studie, die dem verehrten Jubilar mit herzlichen Glückwünschen zu seinem 70. Geburtstag dargebracht sei, möchte ich dieses Auf und Ab der philosophisch orientierten Strafrechtswissenschaft in Japan kurz beschreiben (u. II.) und mir über die Hintergründe dieser „Entphilosophierung“ der Strafrechtsdogmatik einige Gedanken machen (u. III.). Am Ende werde ich auch anhand von zwei Beispielen aufzeigen, welch fatale Folgen diese Tendenzen für die Strafrechtswissenschaft mit sich bringen und bringen werden (u. IV.). Vorab möchte ich darauf hinweisen, dass ich, wenn ich im Folgenden von „Philosophie“ oder „philosophisch“ spreche, damit die Reflexion über die Methode und die Grundlagen der Strafrechtsdogmatik meine. II. Strafrecht und Philosophie in der Nachkriegszeit 1. Die Ausgangsfrage für die japanische Strafrechtswissenschaft der Nachkriegsphase war, wie die Garantie der Menschenrechte bei der Prüfung der Straftat gesichert werden kann und soll. Ins Zentrum der Aufmerksamkeit wurde der Tatbestandsbegriff gerückt. Die deutschen Tatbestandslehren, wie die von Ernst Beling und von Max Ernst Mayer, waren den Japanern bereits in den 1920er Jahren bekannt. Aber in der Nachkriegszeit wurde in dem Maße, in dem das Gesetzlichkeitsprinzip in seiner rechtsstaatlichen Funktion wieder Anerkennung fand, dem Tatbestandsbegriff in der Lehre eine zunehmend zentrale Stellung zugewiesen.5 Mit der Übernahme des Tatbestandsbegriffs hat die japanische Strafrechtsdogmatik stark systematische und auch philosophische Züge angenommen.

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Im Übrigen ist die Privatbibliothek von Frank nach seinem Tod von der Keio-Universität, wo ich jetzt tätig bin, gekauft worden. Wir können heute in der Universitäts-Bibliothek Bücher und Zeitschriften mit seinen handschriftlichen Notizen sehen. 5 Vgl. Haruo Nishihara, FS Jescheck, 1985, S. 1232 ff.

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Die Entwicklung der deutschen Tatbestandslehre bis Edmund Mezger stand bekanntlich unter dem Einfluss der Wertphilosophie des Neukantianismus.6 Sie hat der Lehre von der Straftat eine erkenntnistheoretische Fundierung verschafft. Dem Tatbestand wurde seine systematische Stellung zwischen dem wertneutralen Sachverhalt (Objekt der Wertung) und dem strafrechtlichen Werturteil (Wertung des Objekts) zugewiesen. Es wurde danach gefragt, in welchem Verhältnis der Tatbestand zum Unrecht und zu anderen Deliktsvoraussetzungen steht. In Japan formulierte man die hauptsächlich diskutierte Frage mit der philosophischen Terminologie: ob der Tatbestand als „Erkenntnisgrund“ oder als „Realgrund“ der Rechtswidrigkeit aufzufassen sei. Eine weitere umstrittene Frage, nämlich ob die Prüfung der Straftat mit der Tatbestandsmäßigkeit beginnt oder die Handlung eine selbstständige Deliktsvoraussetzung vor der Tatbestandsprüfung darstellt, wurde mit dem philosophischen Thema, ob vor der begrifflichen Erkenntnis des Menschen nur eine amorphe, strukturlose Wirklichkeit bestehe (so Neukantianismus), oder bereits vor dem gesetzgeberischen Erfassen der Straftat ein vorgegebenes Phänomen der Handlung existiere (so Ontologie), in Verbindung gebracht. Es ist heute überhaupt ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis der japanischen Strafrechtsdogmatik, unsere eigenartige Tatbestandskonzeption, die durch diese halb juristische und halb philosophische Diskussion herausgebildet wurde, zu begreifen. Der Pionier der Tatbestandslehre in Japan war Seiichiro Ono (1891 – 1986), Ordinarius an der Kaiserlichen Universität zu Tokyo, dem die Professur nach dem Zweiten Weltkrieg aberkannt wurde.7 Er konzipierte unter besonderer Berücksichtigung der Lehren von Beling und M. E. Mayer seine eigene Auffassung und vertrat sie bereits seit dem Ende der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts. Ono sah die Tatbestandsmäßigkeit als ein vom Gesetzlichkeitsprinzip unabhängiges rechtstheoretisches Erfordernis an. Man benötige für die Verbrechenslehre nicht nur allgemeine Kategorien wie die Rechtswidrigkeit und Schuldhaftigkeit, sondern auch den Tatbestand als ihre gesetzliche Konkretisierung oder Spezifizierung. Ein Verhalten müsse tatbestandlichrechtswidrig und tatbestandlich-schuldhaft sein, um für strafbar erklärt zu werden. Ono fasste deshalb den die erste Deliktsstufe bildenden Tatbestand als Typus der strafbaren Handlung, d. h. als Typus der rechtswidrigen und schuldhaften Handlung, auf. Er zählte nicht nur die objektiven, sondern auch die subjektiven (für Ono schuldrelevanten) Elemente wie Vorsatz und Fahrlässigkeit zu Tatbestandsmerkmalen, weil auch sie der Individualisierung der Straftaten dienen. Die eigenständige Tatbestandslehre Onos wurde in der Nachkriegszeit von seinem Schüler Shigemitsu Dando (1913 – 2012) in dessen 1957 erschienenen, besonders einflussreichen Lehrbuch8 übernommen. Dando fasste auch wie Ono den Tatbestand nicht nur als einen Un6 Vgl. Heinrich Schweikert, Die Wandlungen der Tatbestandslehre seit Beling, insb. S. 48 ff. 7 Vgl. Ono, Die Lehre vom Deliktstatbestand, 1953 (jap.), wo seine wichtigen Arbeiten über die Tatbestandslehre zusammengestellt sind. 8 Das Lehrbuch für den AT ist durch B. J. George ins Englische übersetzt worden: Shigemitsu Dando, The Criminal Law of Japan: the General Part, 1997.

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rechtstypus, sondern zugleich als einen Schuldtypus auf. Denn im gesetzlichen Tatbestand im BT seien nur solche Verhaltensweisen typisiert, die prinzipiell vorwerfbar sein können. Vorsatz und Fahrlässigkeit, die in ihren wesentlichen Eigenschaften Schuldmerkmale seien, sollen deshalb zum Tatbestand gehören und bereits in der ersten Deliktsstufe geprüft werden. In der dritten Stufe der Schuldhaftigkeit werden danach nur die im Tatbestand nicht typisierten Schuldelemente wie die Schuldfähigkeit, die Möglichkeit der Unrechtskenntnis und die Zumutbarkeit rechtskonformen Verhaltens geprüft. Die Tatbestandslehre Ono-Dandos hat bis heute ihre mächtige Position in der japanischen Strafrechtsdogmatik beibehalten und sie hat so den japanischen Strafrechtlern ermöglicht, das starke systematische Argument der personalen Unrechtslehre, das darin liegt, dass sie durch die Einordnung von Vorsatz und Fahrlässigkeit bereits in den Tatbestand, in die erste Deliktsstufe, viel praktikablere Lösungen ermögliche, als wenn man diese erst in der letzten Prüfungsstufe der Schuldbeurteilung berücksichtigt, zu entkräften.9 2. Die Diskussion um den Finalismus, die auch in Japan in den 1950er und 60er Jahren entbrannt war, markierte den Höhepunkt der philosophisch orientierten Strafrechtsdogmatik Japans. Die scharfsinnige Analyse und Kritik durch Hans Welzel, der Neukantianismus sei eine „Komplementärtheorie des Positivismus“, wie sein methodisches Anliegen, den Blick der Dogmatik auf die Strukturen der Phänomene zu lenken, an die die Rechtsregeln anknüpfen, und auf gegenständliche Unterschiede basierende Theoriebildungen zu fordern,10 erregten in Japan ungewöhnliches Aufsehen. Die Debatte, die meist auf philosophisch-spekulativer Ebene geführt wurde, hatte aber manchmal einen sehr pedantischen Charakter und erweckte sogar den Eindruck, dass man sich zuerst mit Nikolai Hartmann und Richard Hönigswald befassen müsste, bevor man überhaupt die strafrechtliche Handlungslehre angehen kann; eine Situation, die Ryuichi Hirano, der einflussreichste japanische Strafrechtler der Nachkriegszeit, damals so charakterisierte, „Man weiß selber nicht mehr, wozu man denn darüber redet“.11 In der Tat schenkte man in dieser Diskussion dem Hauptanliegen Welzels, auf die Unterschiede der jeweiligen Gegenstände basierenden Theoriebildungen zu fordern, erstaunlich wenig Beachtung. Hauptsächlich wurde jene Frage behandelt, mit welchem Oberbegriff alle Formen des strafrechtlich relevanten Geschehens einschließlich der fahrlässigen Handlung und des Unterlassens zusammengefasst werden können. Diese Frage hatte in der Tat bloß „architektonisch-ästhetischen Wert“12 und keinerlei Einfluss auf die inhaltliche Gestaltung der Dogmatik 9

Es erhebt sich selbstverständlich ein gewichtiges Bedenken gegen diese Tatbestandskonzeption. Sie verwechselt den Tatbestand mit dem Deliktstypus und führt zu einer undifferenzierten, „ganzheitlichen“ Betrachtung der Straftat. Nach dieser Systemkonzeption sollen bereits in der ersten Prüfungsstufe – vor der Rechtfertigungsfrage – wichtige Schuldelemente berücksichtigt werden. Damit würden die Unrechts- und die Schuldbetrachtung vermischt. 10 Vgl. sein Lehrbuch (zuletzt in der 11. Aufl. 1969) und seine in: ders., Abhandlungen zum Strafrecht und zur Rechtsphilosophie, 1975, gesammelten Aufsätze. 11 Ryuichi Hirano, Strafrecht, AT I (jap.), 1972, S. 105. 12 Claus Roxin, Strafrechtliche Grundlagenprobleme, 1973, S. 74.

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und damit auf die Lösung der praktischen Probleme. Die finale Handlungslehre wurde oft für erledigt erklärt, allein aus dem Grund, dass sie für diesen Oberbegriff nicht geeignet sei. Und je mehr die japanische Strafrechtswissenschaft im Laufe der Amerikanisierung der Gesellschaft und des Rechts vom Zeitgeist des Utilitarismus und Funktionalismus erfasst wurde, desto weniger wurde überhaupt der Streit um die Handlungslehre thematisiert. In der späteren Zeit bezeichnete man oft die ganze Diskussion um die Handlung im Strafrecht als vergeblich und sinnlos. 3. Aus der Debatte um die finale Handlungslehre ging als ein „Nebenprodukt“ die Diskussion über den Unrechtsbegriff hervor. Sie hat sich später als der wichtigste Theorienstreit der Nachkriegsphase erwiesen, der auch heute noch die japanischen Strafrechtstheoretiker in zwei Lager spaltet.13 Auf der einen Seite steht die Lehrmeinung, die in Japan missverständlicherweise als Handlungsunwertlehre bezeichnet wird. Danach erschöpft sich das Unrecht nicht in der Rechtsgutsverletzung oder -gefährdung. Sie will beim Unrechtsurteil neben dem Erfolgsunwert auch den Verhaltensunwert, d. h. die Komponente der Verhaltensnormwidrigkeit, berücksichtigen. Auf der anderen Seite vertritt die objektivistische Unrechtslehre, die in Japan als Erfolgsunwertlehre bezeichnet wird, die Position, dass das strafrechtliche Unrecht nur dann zu bejahen sei, wenn ein rechtsgutsverletzender oder wenigstens -gefährdender Sachverhalt tatsächlich eingetreten ist. Bemerkenswert ist, dass bei diesem Grundlagenstreit über das Unrecht vielfach auf den grundlegenden Unterschied zwischen der kontinentaleuropäischen und der anglo-amerikanischen Rechtskultur Bezug genommen wird.14 Dabei sieht man das Typische an der deutschen Rechtslehre darin, dass sie die Regeln des Strafrechts als Verhaltensnormen mit Steuerungsfunktion auffasst. Demgegenüber wird die Grundansicht, welche die Rechtsregeln vornehmlich als erst nachträglich anzuwendende Entscheidungsnormen betrachtet, dem anglo-amerikanischen Rechtskreis zugesprochen. Diese Gegenüberstellung soll insbesondere dazu dienen, die in Deutschland herrschende, auf der Verhaltensnormtheorie basierende, personale Unrechtslehre zu relativieren und ihre Übertragbarkeit auf die japanische Gesellschaft anzuzweifeln, sowie das objektivistische, erfolgsunrechtsorientierte Denken der japanischen Dogmatik in der amerikanisierten Nachkriegszeit zeitgemäß und „trendig“ zu charakterisieren. In der Tat ist mit der Verhaltensnormtheorie ein gewisser Bevormundungs- bzw. paternalistischer Charakter verbunden, wenn sie immer an Ort und Stelle auch die Willensbildung der Normadressaten direkt bestimmen will. Diese Grundansicht kann, je nachdem, welcher Staat dabei vorausgesetzt wird – ein demokratischer oder aber ein autoritärer –, mit der Tendenz einer aus einem ex-ante Gesichtspunkt 13 Zum Diskussionsstand in Japan ausführlich Mitsuru Iijima, Die Entwicklung des strafrechtlichen Unrechtsbegriffs in Japan, 2004. 14 Vgl. hierzu Makoto Ida, Strafrechtsvergleichung als Kulturvergleich? – Dargestellt am Beispiel der Versuchsstrafbarkeit, in: Franz Streng/Gabriele Kett-Straub (Hrsg.), Strafrechtsvergleichung als Kulturvergleich, 2012, S, 35 f.

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resultierenden Unrechtserweiterung unterschiedliche Auswirkungen, ja sogar verhängnisvolle Folgen haben. Auch die empirische Basis der Verhaltensnormtheorie ist von einer Klärung weit entfernt. Ist es nicht so, dass die Diskrepanz zwischen dem Normbruch und seiner Sanktionierung in der Wirklichkeit die Verhaltensnormtheorie um ihre Überzeugungskraft bringt? Diese Tendenzen schreiten heute immer mehr fort. Das Vorliegen eines mehr oder weniger großen Dunkelfeldes und einer weitgehenden Abhängigkeit der Normbekräftigung von der Ermessensausübung der Justizbeamten, wie dies in Japan der Fall ist, wo unter dem Opportunitätsprinzip die Strafverfolgung stark vom Ermessen des Staatsanwalts abhängt, lässt uns die Stimmigkeit der Grundthese, dass der Verhaltensnormbruch der Normbekräftigung durch die Verhängung der Strafe bedürfe, stark bezweifeln.15 Man kann der personalen Unrechtslehre sogar eine düstere Zukunft prophezeien: Je knapper in unserer Gesellschaft die Ressourcen der Strafrechtspflege im Verhältnis zur Kriminalitätsentwicklung werden und je weniger und selektiver die Normbrüche strafrechtlich verfolgt werden können, desto mehr steigt die Tendenz zu einem „technokratischen“ Strafrecht16 und es erhebt sich die Frage, ob diese Wirklichkeit das Konzept, das die Rechtsregeln bloß als erst nachträglich zum Zug kommende Entscheidungsnormen auffasst, viel besser abbilde. Die Thematisierung dieses Problempunktes geschah in Japan etwas zu schematisch. Er betraf jedoch sicherlich die rechtstheoretisch aufzuklärenden und auch empirisch zu erhärtenden, d. h. interdisziplinär zu erforschenden Grundlagen des Strafrechts.17 Es ist sehr schade, dass dieser normentheoretische Meinungsunterschied nicht weiter vertieft wurde und heute eher resignierend hingenommen wird. 4. Der letzte große philosophische Streit der Nachkriegsperiode betraf Probleme der Willensfreiheit und des materiellen Schuldbegriffs.18 Nach dem üblichen Verständnis wird mit der Anerkennung des Schuldprinzips zugleich ein indeterministischer Standpunkt eingenommen. Die bisher herrschende Schuldlehre berief sich auf den sog. relativen Indeterminismus als theoretische Basis. Er besagt, dass das menschliche Verhalten von Anlage und Umwelt stark beeinflusst, aber nicht vollständig determiniert werde und es dem Menschen möglich sei, innerhalb eines gewissen Handlungsspielraums aus freiem Willensentschluss „selbstbestimmend“ eine mögliche Handlung auszuwählen, es sei denn, dass er geisteskrank ist oder sich in einer außergewöhnlichen psychischen Zwangslage befindet. Dieses frei gewählte Verhalten begründe einen moralischen Vorwurf, der vom sozialethischen Standpunkt aus 15

Vgl. auch Gunther Arzt/Ulrich Weber, Strafrecht, Besonderer Teil, 2000, S. 11 ff.; Arzt/ Weber/Bernd Heinrich/Eric Hilgendorf, Strafrecht, Besonderer Teil, 2. Aufl. 2009, S. 12 ff. 16 Franz Streng, Strafrechtsexport als Strafrechtsimport. Zugleich rechtskulturvergleichende Hypothesen zu Deutschland und Japan, in: Strafrechtsvergleichung als Kulturvergleich (Fn. 14), S. 1 ff. 17 So auch Albin Eser, Strafrechtsvergleichung durch Kulturvergleich, ZJapanR 19. Jg, Nr. 37, 2014, S. 289. 18 Vgl. zum Folgenden Makoto Ida, Die heutige japanische Diskussion über das Straftatsystem, 1991, S. 140 ff.

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gegen den Täter erhoben werde. Diese Lehrmeinung fand den einflussreichsten Vertreter – wiederum auch hier – in Dando. Diese Position wurde seit den 60er Jahren zum Gegenstand lebhafter Diskussion. Insbesondere – wiederum auch hier – Hirano kritisierte sie und versuchte, aufgrund des in der angelsächsischen Philosophie verbreiteten weichen Determinismus einen neuen Schuldbegriff aus utilitaristischer Sicht zu entwickeln. Seine Kritik an der herrschenden Schuldlehre richtete sich vor allem darauf, dass danach die Kausalgesetzlichkeit und damit die Vorhersehbarkeit des Handelns die Freiheit und die Schuld ausschließen müssten. Nach dem Modell des individuellen Anders-handeln-Könnens besitzt beispielsweise der rückfällige Dieb, der schon mehrmals wegen Diebstahls verurteilt wurde und bei dem sich die Fähigkeit, der Versuchung zur Begehung weiterer Straftaten zu widerstehen, weitgehend abgebaut hat, einen engeren Handlungsspielraum und trägt deshalb eine geringere Schuld als derjenige, der zum ersten Mal und nur ausnahmsweise straffällig geworden ist. Je mehr die Tat von der kriminellen Einstellung des Täters herrührt, desto geringer müsste demnach die Schuld sein. Hirano meinte, dass die Kausalgesetzlichkeit des Handelns nicht gleich seine Unfreiheit bedeute. Das menschliche Handeln sei dann frei, wenn seine Ursachen nicht auf von außen determinierende Faktoren und auch nicht auf die innerliche physiologische oder biologische Schicht, sondern auf die „durch den Schuldvorwurf beeinflussbare Persönlichkeitsschicht“ zurückzuführen sind. Kurz: der Mensch sei dann frei und verantwortlich, wenn er seinem Charakter gemäß, d. h. durch seinen Charakter determiniert, gehandelt hat. Die lebhafte Diskussion, die Hirano seit dem Anfang der 60er Jahre mit seinem utilitaristischen Schuldverständnis entfachte und die bis heute keine befriedigende Lösung fand, kreiste um die Frage, ob die charakterologische Gesetzmäßigkeit der Willensentscheidung, d. h. ihre Erklärbarkeit durch den Charakter des Täters, in einer die Freiheit des Menschen einschränkenden Richtung wirkt. Dando bejahte und Hirano verneinte die Frage. Wenn z. B. ein junger Diebstahlstäter – nicht selbstverschuldet – in einem außerordentlich nachteiligen Milieu aufgewachsen ist und dadurch einen stark kriminellen Charakter erworben hat, wird dieser Umstand seine Schuld erhöhen oder mindern? Diese Frage hat bis heute noch keine befriedigende Lösung gefunden. 5. Aus diesem kursorischen geschichtlichen Überblick kann man bereits eine kleine Lektion ableiten. Es steht zwar außer Streit, dass die Philosophie für die positive Strafrechtswissenschaft nützlich und manchmal unerlässlich ist. Aber wir sollten uns um eine kritische und methodenbewusste Rezeption der philosophischen Einsichten bemühen. Sie gehen uns Juristen nur an, wenn sie uns ermöglichen, bei der Klärung und Lösung der dogmatischen Probleme weiterzukommen. Wir müssen hier äußerst selektiv vorgehen. Die dogmatische Argumentation, die eine bestimmte philosophische Schulrichtung voraussetzt oder durch die philosophische Mode jeweiliger Epochen bedingt ist, ist weniger konsensfähig und von vornherein zur Kurzlebigkeit verurteilt. Die Philosophie in der Strafrechtsdogmatik darf nicht als Selbstzweck betrie-

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ben werden. Wir sollten uns auch nicht denken, philosophische Probleme wie das der Willensfreiheit in unserem Forschungsfeld zu einer endgültigen Lösung bringen zu können und zu müssen. III. Die japanische Strafrechtsdogmatik nach der Jahrtausendwende 1. Die japanische Strafrechtswissenschaft ist in den 1990er Jahren zur Reflexion über ihr Selbstverständnis veranlasst worden. Wir sahen uns damals genötigt, das System der Juristenausbildung gründlich zu reformieren. In der Reformdiskussion wurde eindringlich auf die Praxisferne der universitären Rechtswissenschaft hingewiesen. Ein krasses Missverhältnis bestehe zwischen der Produktion durch die Wissenschaft und der Konsumtion in der Praxis. Die Ausbildung an den juristischen Fakultäten wurde dementsprechend als praxisfremd gebrandmarkt.19 Die gründliche Reform der Juristenausbildung, die im Jahre 2004 realisiert wurde, bestand darin, dass wir – im Gegensatz zu Korea – die alten juristischen Fakultäten deutscher Art beibehalten und zusätzlich die Law Schools als graduate schools US-amerikanischer Art eingeführt haben, in denen die praxisbezogene Rechtswissenschaft intensiv erlernt werden soll. Da die meisten Kollegen, die aktiv in Forschung und Ausbildung tätig sind, von der juristischen Fakultät zur Law School gewechselt sind und nunmehr in Zusammenarbeit mit Praktikern die praxisorientierten Lehrveranstaltungen übernehmen, hat diese Reform in der Tat die erwartete Wirkung – in durchschlagender Weise – entfaltet. Das Verhältnis zwischen Lehre und Praxis hat sich in den letzten Jahren ganz wesentlich gebessert. Diese Schwerpunktverlagerung hat aber andererseits dazu geführt, dass die strafrechtlich fundamentalen Probleme, die mit praktischen Alltagsfragen wenig zu tun haben, weniger erforscht und gelehrt werden. Grundlagenfächer wie die Kriminologie und die Rechtsvergleichung sowie die Grundfragen der Strafrechtswissenschaft sind inzwischen in den Hintergrund gedrängt worden; sie haben stark an Bedeutung eingebüßt. 2. Die Entphilosophierungstendenz der japanischen Strafrechtsdogmatik hat aber nicht nur externe Ursachen, sondern sie ist aus innerer Notwendigkeit entstanden. Die Methodik der Strafrechtsdogmatik ist insbesondere seit den 1970er Jahren ganz überwiegend durch den Empirismus, Utilitarismus und Zweckrationalismus geprägt worden. Anlass war die auch in Japan ab den 1960er Jahren intensiv beginnende Diskussion über die gesamte Strafrechtsreform, die das Interesse der Strafrechtler auf die kriminalpolitischen Fragen lenkte. Der mächtigste Wortführer der funktionalistischen Richtung war Hirano. Er glaubte das tragfähige Fundament der Strafrechtsdogmatik in den kriminalpolitischen Überlegungen gefunden zu haben. Bei der strafrechtlichen Beurteilung komme nicht den systematischen oder philosophischen Ar19

Meine Antwort auf die Frage „Welche neuen praxisrelevanten Ergebnisse bringen die gegenwärtig zum materiellen Strafrecht diskutierten neuen systematischen Konzepte?“ (in: Hans Joachim Hirsch (Hrsg.), Krise des Strafrechts und der Kriminalwissenschaften?, 2001, S. 137 ff.) ist in dieser Atmosphäre geschrieben worden. Aus heutiger Sicht sind die dortigen Behauptungen in wesentlichen Punkten korrektur- und ergänzungsbedürftig.

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gumenten, sondern den materiellen und kriminalpolitischen Argumenten, die sich mit der Abwägung von Nutzen und Schaden der Bestrafung befassen, das entscheidende Gewicht zu. Hirano, der sich als Schüler von H. L. A. Hart20 bezeichnete, berücksichtigte die Strafrechtsdiskussion im anglo-amerikanischen Rechtskreis und drängte die damalige Rechtslehre zur Hinwendung zu einem auf die Problemlösung abstellenden funktionalen Ansatz und damit zu einer „Entdeutschung“. Er war allerdings auch mit der Diskussion in Deutschland gut vertraut und wusste, dass es dort durchaus eine parallele Entwicklung gab. Bezeichnenderweise wurde in Japan Ulrich Klugs Plädoyer für den „Abschied von Kant und Hegel“21 so verstanden, dass man sich im Strafrecht überhaupt von der Philosophie und der Metaphysik verabschieden und um eine „Säkularisierung der Strafrechtsdogmatik“ bemühen solle. An Stelle der philosophischen oder ethischen Argumentation sollte das Problemangehen mittels der Abwägung der kollidierenden Interessen treten. Diese sog. „funktionale Betrachtung des Strafrechts“ wurde damals als eine Methode ins Feld geführt, die der japanischen Verfassung, die unter starkem amerikanischen Einfluss entstanden ist, am besten angepasst sei. 3. Neben diesem Funktionalismus und damit im gewissen Sinne einem Amerikanismus, der aus pragmatischer Sicht die philosophischen Fragestellungen, die den praktischen Bedürfnissen des juristischen Alltags nicht unmittelbar dienlich sind, stark entwertet hat, führte auch die Forderung nach der Trennung von Strafrecht und Moral insbesondere ab den 1960er Jahren zur Entphilosophierung im Sinne eines Desinteresses für die Substanz der Werturteile im Strafrecht.22 Unter dem Einfluss der internationalen Zeitströmung hat sich der Gedanke durchgesetzt, dass die staatliche Strafe erst dann ihre Legitimation erhalte, wenn die betreffende Tat einen rechtsgutsbeeinträchtigenden Charakter besitzt, und dass die Intervention der Staatsgewalt im Bereich reiner Moral und Ethik nicht statthaft sei. Es wurde in einem von der Moral getrennten Strafrecht die Suche nach dem konsensfähigen Minimum der Werturteile für entbehrlich gehalten, da für die Bewertung der Rechtsgüter das Verfassungsrecht in seinen Wertentscheidungen genügend Anhaltspunkte gebe; eine offensichtlich verfehlte Annahme. Das Wertproblem stellt jetzt die große Schwäche der japanischen Strafrechtswissenschaft dar. Man könnte auch so formulieren: Nach der Trennung des Strafrechts von der Moral befolgten die japanischen Strafrechtswissenschaftler die utilitaristische bzw. zweckrationalistische Linie und betrachteten die Strafe als ein Instrument zur Sozialkontrolle, das man nach erfolgter Güterabwägung immer mobilisieren kann. 20 Über ihn Nicola Lacey, A Life of H. L. A. Hart: The Nightmare and the Noble Dream, 2004. 21 In: Jürgen Baumann (Hrsg.), Programm für ein neues Strafgesetzbuch, 1968, S. 36 ff. 22 Im Übrigen war in Japan angesichts des Machtmissbrauchs während des Zweiten Weltkriegs vornehmlich die Einschränkung der Strafgewalt in formaler Hinsicht im Mittelpunkt des Interesses unter den Strafrechtlern der Nachkriegszeit gestanden, aber eine Reflexion über die ethische Substanz des Rechts hatte nur ungenügend stattgefunden.

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IV. Folgen der Entphilosophierung 1. Die Strafrechtsdogmatik besteht aus einer Reihe von komplizierten Puzzlespielen, die erst bei hoher geistiger Anstrengung gelöst werden können. Darin erschöpft sie sich aber keineswegs; sie ist eine Wissenschaft, die sich mit dem Menschen und der Gesellschaft befasst, begleitet von vielfältigen Kontakten mit Einzelwissenschaften. Die heutige japanische Strafrechtsdogmatik wird nur als Puzzlespiel betrieben und ihre Interdisziplinarität kommt entscheidend zu kurz. Die Diskussionsbereitschaft für die Methoden- und sonstigen fundamentalen Probleme des Strafrechts, die mit praktischen Alltagsfragen wenig zu tun haben, hat sich bei den japanischen Strafrechtlern merklich verringert. Das bringt auch fatale Folgen mit sich. Im Zeitalter der zu Populismus neigenden Politik und der politisch orientierten Gesetzgebung, in dem die öffentliche Stellungnahme der Experten zu strafrechtlichen Grundfragen und die entsprechende Aufklärung der Gesellschaft bitter nötig sind, stehen wir gewissermaßen mit leeren Händen da. Die japanische Strafrechtswissenschaft droht ihre Identität als Wissenschaft sowie ihre produktive Kooperation mit anderen Wissenschaften zu verlieren. 2. Ich möchte hier nur zwei Beispiele für die Vernachlässigung der Grundlagenprobleme des Strafrechts geben. Das erste Beispiel betrifft die Todesstrafe, die Japan trotz massiver Kritik von Seiten der europäischen Länder immer noch beibehält. Das wohl stärkste Argument für die Beibehaltung der Todesstrafe in Japan stützt sich auf das Prinzip der Proportionalität zwischen Straftat und Strafe, das der allgemeinen Überzeugung der Japaner entspricht und auch in der Lehre und der Gerichtspraxis fast einhellige Anerkennung findet. Dieses Prinzip setzt voraus, dass die Strafe ihrem Wesen nach ein Übel, eine dem Straftäter zuzufügende Rechtsgutsverletzung, darstellt, und verlangt, dass die Strafe mit der Straftat, einem anderen Übel, das der Täter schuldhaft bewirkt hat, in einem gerechten Verhältnis steht. Was ist dann aber das Übel der Straftat, mit dem das Übel der Strafe in einem ausgewogenen Verhältnis stehen soll? Nach dem in Japan – nicht nur unter Laien – weit verbreiteten Verständnis liegt das Übel der Straftat in ihrer sachlichen und sichtbaren Folge, etwa dem Verlust des Lebens einer konkreten Person, selbstverständlich unter der Voraussetzung, dass dabei auch die Vorwerfbarkeit der Willensentscheidung des Täters Berücksichtigung finden muss. Wenn man die Proportionalität in diesem Sinne versteht, kommt man nicht umhin, nur die Todesstrafe als eine proportionale Sanktion zu betrachten, insbesondere gegen den Täter, der ohne schuldreduzierende Umstände vorsätzlich mehrere Personen getötet hat. Krass formuliert: eine lebenslängliche Freiheitsstrafe würde keine gerechte Entsprechung für „das“, was z. B. Adolf Hitler getan hat, anbieten können. Höchst fraglich ist freilich dieses Strafverständnis, das das konkrete Strafmaß mit dem verursachten Schaden in unmittelbare Verbindung setzt und die Strafverhängung an der Befriedigung des als ein soziales Faktum begriffenen Rachebedürfnisses orientieren will. Dem könnte man ein anderes Strafverständnis entgegenhalten, das die Strafe als ein genuin öffentlich-rechtliches Institut versteht. Die Strafe hat danach

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mit dem Bestrafungswunsch der Opferseite, als einem privaten Interesse, nichts zu tun und wird allein zum Schutz der Geltung der Strafrechtsnormen eingesetzt, die in erster Linie als Verhaltensanweisungen zu verstehen sind. Die klassische Strafkonzeption dieser Art findet sich etwa bei Hegel: die Straftat sei die Negation des Rechts und die Strafe die Negation der Negation des Rechts.23 Bei der Zugrundelegung dieser Ansicht werden zwar nicht automatisch alle Wege zur Todesstrafe abgebaut. Es wird aber dadurch immerhin eine direkte Verbindung der Strafe mit dem konkreten Schaden vermieden. Hegel schrieb vor fast 200 Jahren: „In dieser Erörterung kommt es allein darauf an, dass das Verbrechen, und zwar nicht als die Hervorbringung eines Übels, sondern als Verletzung des Rechts als Rechts aufzuheben ist, und dann, welches die Existenz ist, die das Verbrechen hat und die aufzuheben ist; sie ist das wahrhafte Übel, das wegzuräumen ist, und worin sie liege, der wesentliche Punkt; solange die Begriffe hierüber nicht bestimmt erkannt sind, so lange muss Verwirrung in der Ansicht der Strafe herrschen.“24 Ich komme mir vor, als hätte dieser geniale Denker sein Wort an die heutigen japanischen Strafrechtler adressiert. 3. Ich möchte ein weiteres Beispiel geben: Das geltende japanische Strafgesetzbuch von 1907 bekennt sich zur Dreiteilung der Beteiligungsformen, nämlich Mittäterschaft, Anstiftung und Beihilfe, wie es in Deutschland damals bereits kodifiziert war. Mich stört sehr, dass die japanische Praxis bei der Handhabung der Teilnahmevorschriften diese Dreiteilung gar nicht mehr ernstnimmt und die Anstiftung bei uns seit längerem – von äußert seltenen Fällen einmal abgesehen – nicht mehr vorkommt. Eine irritierende Tatsache ist, dass man in der japanischen Fachliteratur die Erklärung dafür, wie das kommt, nirgendwo finden kann. Anhaltspunkte gewinnt man nur, wenn man die Grundlage der Dreiteilung der Beteiligungsformen in historischer Sicht recherchiert: Die diesbezüglichen deutschen Regelungen waren bekanntlich Ergebnis der Übernahme der Teilnahmevorschriften des französischen StGB von 1810.25 Der Übergang der bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts üblichen Zweiteilung von Urheberschaft und Gehilfe zur Dreiteilung von Mittäterschaft, Anstiftung und Beihilfe geschah durch die Verselbstständigung der Anstiftung aus der Urheberschaft (Täterschaft) und deren Degradierung zur Teilnehmerschaft. Diesem Stellungswandel der Anstiftung lag die Einsicht zugrunde, dass die Anstiftung eine autonome Willensentscheidung des direkt Handelnden voraussetze und dieser, und nicht der Anstifter, die Hauptverantwortlichkeit trage. Die Idee des mit der gleichen 23 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 7, Suhrkamp Verlag, 1986, Zusatz zu § 97, S. 186; zur Straftheorie Hegels vgl. Andreas von Hirsch u. a. (Hrsg.), Strafe – Warum?: Gegenwärtige Strafbegründungen im Lichte von Hegels Straftheorie, 2011; Heiko Hartmut Lesch, Der Verbrechensbegriff, 1999, S. 75 ff.; Jean-Christophe Merle, Strafen aus Respekt vor der Menschenwürde, 2007, S. 93 ff.; Kurt Seelmann, Anerkennungsverlust und Selbstsubsumtion, 1995. 24 Hegel (o. Fn. 23), § 99, S. 188. 25 Shahryar Ebrahim-Nesbat, Die Herausbildung der strafrechtlichen Teilnahmeformen im 19. Jahrhundert, 2006.

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Kompetenz zur autonomen Willensentscheidung ausgestatteten Individuums, kurz: die Idee der atomisierten Subjektivität, war die philosophische Grundlage für die gesetzgeberische Dreiteilung der Beteiligungsformen und für die dogmatischen Lehren der Unterbrechung der Kausalität und des Regressverbots. Dieses Bild des autonomen Subjekts ist aber rein normativer Natur, im Grunde nichts mehr als ein Wunschdenken und wird der Wirklichkeit der Straftat des Kollektivs nicht gerecht. So gesehen ist es kein Wunder, dass die japanische Praxis inzwischen zur Zweiteilung von (Mit-)Täterschaft und Beihilfe „zurückgegangen“ ist. V. Schluss Ob meine obigen Bemerkungen über die Strafe und die Anstiftung zutreffen oder nicht, ist eine zweitrangige Frage. Wichtig ist hier, dass die Grundlagenprobleme dieser Art sowie Probleme wie die der Steuerungsfunktion der Verhaltensnormen oder der Willensfreiheit zum wesentlichen Bestandteil der Strafrechtsdogmatik gehören. Unverzichtbar ist dabei die Heranziehung von human-, sozial- und naturwissenschaftlichen Erkenntnissen. Die besondere Bedeutung und Ergiebigkeit der Rechtsvergleichung und Rechtsgeschichte rührt daher, dass es sich bei den Grundlagenproblemen der Strafrechtsdogmatik nicht um eine bestimmte Nation, um ein bestimmtes Zeitalter, um eine bestimmte Generation, sondern um das menschliche Dasein an sich handelt.

Über die Ratio des ultima-ratio-Prinzips Von Heike Jung, Saarbrücken I. Einführung Wer die Entwicklung des Strafrechts über einige Jahrzehnte verfolgt hat, hat manches kriminalpolitische Wechselbad miterlebt.1 Längst musste ich meine eigene Prognose, wonach wir im 21. Jahrhundert weniger Strafrecht haben würden, revidieren.2 Mein Pamphlet „Wider die neue ,Straflust‘!“3 mag man insofern auch als Ausdruck einer gewissen Desillusionierung begreifen. Titel wie „Langer Freiheitsentzug – wie lange noch?“4 und „Muss Strafe sein?“5 scheinen irgendwie aus der Zeit gefallen zu sein. Der Kurs der Kriminalpolitik lässt sich offenbar nur schwer vorhersagen. In den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts suchten viele im Gefolge von Gustav Radbruch nach etwas Besserem als Strafe.6 Abolitionistische7 und minimalistische8 Tendenzen waren gewissermaßen die ideologische Speerspitze einer verbreiteten, eher strafrechtskritischen Bewegung. Natürlich waren diese Positionen in ihrer Einseitigkeit nicht konsentiert, aber gerade die Existenz solcher Utopien ist ein Gradmesser 1

Treffende Analysen der Entwicklung z. B. bei Heinz, „Wegschließen und zwar für immer!“ Das deutsche Strafrecht auf dem Weg zum Sicherheitsstrafrecht?, in: Festschrift für Streinz, Edition Rechtskultur, Regensburg 2009, S. 233 und Streng, Strafrechtliche Sanktionen, 3. Aufl. Kohlhammer, Stuttgart 2012, S. 5. Vgl. auch die Prognose von Weigend, Wohin bewegt sich das Strafrecht?, in: Festschrift für Frisch, Duncker & Humblot, Berlin 2013, S. 17. 2 Jung, New Perspectives or More of the Same? Criminal Law and Criminal Science in the 21st Century, Keio Law Review 1993, S. 41. 3 GA 2006, S. 724. 4 Jung/Müller-Dietz (Hrsg.), Langer Freiheitsentzug – wie lange noch?, Forum Verlag Godesberg, Bonn 1994. 5 Radtke u. a. (Hrsg.), Muss Strafe sein?, Nomos, Baden-Baden 2004. 6 Radbruch, Rechtsphilosophie, hrsg. v. Erik Wolf, 5. Aufl. Koehler, Stuttgart 1956, S. 269. 7 Vgl. namentlich Christies Kultbeitrag, Conflicts as Property, British Journal of Criminology 1977, S. 1. 8 McClintock, Some Aspects of Discretion in Criminal Justice, in: Adler/Asquith (eds.), Discretion and Welfare, Heinemann, London 1981, S. 185, 194; Baratta, Prinzipien des minimalen Strafrechts, in: Kaiser/Kury/ H.J. Albrecht (Hrsg.), Kriminologische Forschung in den 80er Jahren. Projektberichte aus der Bundesrepublik Deutschland, Kriminologische Forschungsberichte aus dem Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafecht, Bd. 35/2, Freiburg 1988, S. 513.

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für das kriminalpolitische Klima.9 Auch der berühmte „Report on Decriminalisation“10 des Committee on Crime Problems des Europarats war von diesem Gedankengut inspiriert. Die Strafrechtsreform der späten 60er und 70er Jahre stand dementsprechend in Deutschland im Zeichen der Entkriminalisierung. Freilich haben die alsbald einsetzenden Kriminalisierungskampagnen im Bereich des Wirtschafts-11 und Umweltstrafrechts,12 die unter der Ägide des Risikostrafrechts laufende Vorverlagerung des Strafrechtsschutzes, die stärkere Hinwendung zum Opfer13 und die Wiederbelebung des Konzepts der Gefährlichkeit, um nicht zu sagen die Wiederentdeckung des Bösen,14 eine Schubumkehr bewirkt. Strafen und Strafrecht sind – salopp formuliert – wieder „in“, und zwar wohlgemerkt nicht in dem von Hassemer intendierten Sinne einer Domestizierung der Eingriffe durch Formalisierung der sozialen Kontrolle,15 sondern im Sinne eines vermehrten Einsatzes von Strafrecht zur Verstärkung der sozialen Kontrolle. Man setzt (wieder) auf dessen symbolische Eindrücklichkeit.16 In einer Situation, in der also nach immer mehr Strafrecht gerufen wird, „tout pénal“17 zu regieren scheint, muss man sich fragen, ob da etwas und was da schief gelaufen ist. Dementsprechend läuft die Diskussion über die Voraussetzungen staatlichen Strafens „auf vollen Touren“,18 neuerlich befeuert durch die umstrittene In9

Vgl. auch zusammenfassend Schöch, Entkriminalisierung, Entpönalisierung, Reduktionismus – Quantitative Prinzipien in der Kriminalpolitik, in: Festschrift für Schüler-Springorum, Heymanns, Köln u. a. 1993, S. 245. 10 Strasbourg 1980. 11 S. nur Tiedemann, Welche strafrechtlichen Mittel empfehlen sich für eine wirksame Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität?, Gutachten für den 49. Deutschen Juristentag, in: Verh. des 49. DJT, Bd. I, Teil C, Beck, München 1972; Jung, Die Wirtschaftskriminalität als Prüfstein des Strafrechtssystems, de Gruyter, Berlin/New York 1979. 12 Vgl. etwa Heine/Meinberg, Empfehlen sich Änderungen im strafrechtlichen Umweltschutz, insbesondere in Verbindung mit dem Verwaltungsrecht?, Gutachten für den 57. Deutschen Juristentag, in: Verh. des 57. DJT, Bd. I, Teil D, Beck, München 1988. 13 Z. B. Jung, The Renaissance of the Victim in Criminal Policy: A Reconstruction of the German Campaign, in : Essays in Honour of Roger Hood, Oxford University Press, Oxford 2003, S. 443. 14 Z. B. Eagleton, Das Böse, Ullstein, Berlin 2010; Dölling, Über das Böse aus kriminologischer und strafrechtlicher Sicht, in: Festschrift für Roxin II, de Gruyter, Berlin/New York 2011, S. 1901. 15 Hassemer, Warum Strafe sein muss, 2. Aufl., Ullstein, Berlin 2009, S. 118 ff. 16 Kunz, Muss Strafe wirklich sein? Einige Überlegungen zur Beantwortbarkeit der Frage und zu den Konsequenzen daraus, in: Radtke u. a. (Fn. 5), S.71, 81 f. Allg. zur Symbolik des Strafrechts ders., Zur Symbolik des Strafrechts, in: Festschrift für Schöch, de Gruyter, Berlin/ New York 2010, S. 353. 17 Nach Seillan, Responsabilité pénale, 3. Aufl., Editions Préventiques, Bordeaux 2012, S. 9 folgt die Behandlung von Gefahren, Unfällen, Krankheiten und Katastrophen der Devise „Tout devient droit pénal“. Pin, Droit pénal général, 6. Aufl., Dalloz, Paris 2014, S. 33 beklagt die „surpénalisation de la vie sociale“. 18 Vgl. z. B. Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, Nomos, BadenBaden 2003; von Hirsch/Seelmann/Wohlers (Hrsg.), Mediating Principles. Begrenzungsprin-

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zest-Entscheidung des BVerfG, die eine Flut von überwiegend kritischen Kommentaren hervorgerufen hat.19 Der Blick richtet sich in diesem Zusammenhang zwangsläufig auch auf das ultima-ratio-Prinzip, mit dem wir ja landläufig die Vorstellung verbinden, dass Strafrecht und Strafe nur als letztes Mittel und nicht als sola oder prima ratio20 zum Einsatz kommen sollte.21 Wir fragen nach dem Status und der Leistungskraft dieses Prinzips und langen damit zwangsläufig in einem Grenzbereich zwischen Strafrecht, Kriminalpolitik und Verfassungsrecht an. Dies lässt eine schon für deutsche Verhältnisse schwierige Gratwanderung erwarten. Sie wird noch dadurch erschwert, dass – international betrachtet – diese Gemengelage anders geschichtet sein mag, ganz abgesehen davon, dass ultima ratio schon als Begriff im Kanon der strafrechtlichen Prinzipien kein Allgemeingut zu sein scheint. Meine Überlegungen sind nicht zuletzt inspiriert von zwei Workshops in Oñati (2012) und Helsinki (2013), die dem Thema gewidmet waren. In Oñati ging es um das Prinzipielle,22 nicht zuletzt um den Diskurs mit dem Verfassungsrecht und den Verfassungsrechtlern. Hier war auch Rudolf Wendt gefragt.23 Dies war sozusagen ein „Heimspiel“ für ihn, der als Verfassungsrechtler keine selbstgenügsame Linie verfolgt, dem der binnendisziplinäre Diskurs vielmehr ein Anliegen ist. Überhaupt ist er ein Brückenbauer zwischen den Fachrichtungen, zwischen Theorie und Praxis sowie zwischen Recht und Politik. Auf seine Ratschläge kann man bauen, zipien bei der Strafzumessung, Nomos, Baden-Baden 2006; Simester/von Hirsch, Crimes, Harms and Wrongs, Hart, Oxford/Portland 2011; Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht, Nomos, Baden-Baden 2014. 19 BVerfGE 120, 224; dazu Stuckenberg, Grundrechtsdogmatik statt Rechtsgutslehre, GA 2011, S. 653; Androulakis, Abschied von Rechtsgut – Einzug der Moralität; Fletcher, The Relevance of Law to the Incest Taboo; Krauß, Rechtsgut und kein Ende; Roxin, Zur neueren Entwicklung in der Rechtsgutdebatte, alle in: Festschrift für Hassemer, Müller, Heidelberg 2011, S. 271, 321, 423, 573; Hörnle, Consensual Adult Incest: A Sex Offense?, New Criminal Law Review 17 (2014), S. 76; Kaspar (Fn. 18), S. 445 – 456. 20 Erstmals kritisiert von Naucke, Strafrecht. Eine Einführung, Metzner, Frankfurt 1975, S. 53; vgl. zuletzt auch Hassemer, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Grenze strafrechtlicher Eingriffe, in: von Hirsch/Seelmann/Wohlers (Fn. 18), S. 121, 125. Ähnlich Kühne, Gegenstand und Reichweite des Präventionskonzepts, in: Festschrift für Rolinski, Nomos, Baden-Baden 2002, S. 1, 11 (primäres Regelungsinstrument) sowie mit pointiertem Titel ders., Der erstaunliche Bedeutungszuwachs des Strafrechts: Gibt es Wachstumsgrenzen?, in: Festschrift für Müller-Dietz, Beck, München 2001, S. 419. 21 Umfassend Trendelenburg, Ultima ratio? Subsidiaritätswissenschaftliche Antworten am Beispiel der Strafbarkeit von Insiderhandel und Firmenbestattungen, Lang, Frankfurt a. M. u. a. 2011. 22 Dazu Bengoetxea/Jung/Nuotio, Ultima Ratio, is the Principle at Risk? Editors’ Introduction, Oñati Socio-Legal Series (online) 3 (1), 1 – 5, available from http://ssrn.com/ab stract=2213166 sowie den Tagungsbericht von Haggenmüller/Jung/Stuckenberg, Ultima ratio – ein Prinzip in Gefahr?, GA 2012, S. 636. 23 Wendt, The Principle of „Ultima Ratio“ And/Or the Principle of Proportionality, Oñati Socio-Legal Series (online) 3 (1), 81 – 94, available from http://ssrn.com/abstract=2200873.

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fachlich wie persönlich. Indem ich also ihm zu Ehren und mit allen guten Wünschen zum 70. Geburtstag ein Thema aufgreife, das uns beide bewegt, möchte ich auch Dank sagen für die langjährige Freundschaft und seinen fortwährenden Beistand. II. Anschauungsmaterial Über die Bedeutung eines strafrechtlichen Prinzips lässt sich zwar trefflich theoretisieren. Solche Diskussionen drohen freilich schnell den Realitätsbezug zu verlieren und am Alltag der Kriminalpolitik vorbeizugehen. Natürlich ahnen wir, dass das Strafrecht einen Wandlungsprozess durchlaufen hat, der möglicherweise auch auf das ultima ratio-Prinzip durchschlägt. Natürlich reiben wir uns die Augen, wenn Kriminalisierungsprojekte als wohlfeile Lösung fast schon im Monatsrhythmus verkündet werden nach dem Motto: „Problem erkannt – strafrechtlicher Deckel drauf!“24 Nur: Müssen wir uns nicht eingestehen, dass wir selbst noch das eine oder andere Kriminalisierungsprojekt in petto hatten und noch haben? Sind wir nur irritiert, wenn die Kriminalisierungsprojekte aus der falschen (politischen) Ecke zu kommen scheinen? Selten können wir zudem Kriminalisierungsprojekte, denen wir ablehnend gegenüberstehen, einfach als indiskutabel beiseite schieben. Vielmehr müssen wir uns in der Regel auf eine streitige Auseinandersetzung über Wertungen, Prognosen und Alternativen, wenn nicht gar auf einen reinen Austausch von Glaubensbekenntnissen über Funktion und Wirkungsweise von Strafrecht einlassen. Nehmen wir zum Beispiel „Doping“: Seit Jahren verfolge ich als Strafrechtler das Auf und Ab der sozialen Kontrolle von Doping. Wir konstatieren einen ständigen Wettlauf von Missbrauch und Kontrolle. Die Bilanz bleibt unklar. Es geht längst nicht mehr nur darum, dass uns die wiederkehrenden Dopingfälle die Freude an der Betrachtung sportlicher Großereignisse vergällen. Die Merkantilisierung des Spitzensports drängt uns dazu, einen fairen Wettkampf zu garantieren. Allein auf die Selbstregulierung durch die Sportverbände können wir uns offenbar nicht verlassen.25 Angesichts der bekannten dogmatischen Fallstricke bei der Anwendung des Betrugstatbestandes26 wird neuerdings (auch) die Einführung eines Straftatbestands des „Dopingbetruges“ propagiert.27 Hatte man zur Legitimation der Ausweitung des strafrechtlichen Schutzes zunächst die Legitimationsstränge noch gebündelt, so tritt nun zunehmend der Gedanke der Wettbewerbsverzerrung und der alles überwölbende Gedanke der Fairness mit seinen Rückkopplungseffekten von der Welt des Sports auf die (Leistungs-)Gesellschaft in den Vordergrund, wenn es darum geht, eine stärkere Akzentuierung des strafrechtlichen Teils der sozialen Kontrolle zu rechtferti24

Zur politischen „Attraktivität“ strafrechtlicher Lösungen auch Weigend (Fn. 1), S. 27 f. Vgl. hierzu allgemein Jung, Regulierte Selbstregulierung – eine Diskussionsbemerkung aus strafrechtlicher Sicht, in: Die Verwaltung, Beiheft 4 (2001), S. 191. 26 Treffliche Zusammenfassung bei Roxin, Strafrecht und Doping, in: Festschrift für Samson, Müller, Heidelberg 2010, S. 445, 447. 27 Vgl. den Beschluss der 84. Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister 2013 (Punkt 3 d). 25

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gen.28 In diese Richtung zielt auch ein Gesetzentwurf des Bundesrates aus dem Jahre 2013.29 Wir haben es hier nicht mit einem Schnellschuss zu tun. Die Diskussion wogt vielmehr schon länger hin und her und hat eine Fülle von durchaus gegensätzlichen Stellungnahmen hervorgebracht.30 Häufig geht es unter dem Druck der öffentlichen Meinung schneller. Nach der „Edathy-Affaire“ überbot man sich mit Reformvorschlägen hinsichtlich der Erweiterung des Kinderschutzes, namentlich im Hinblick auf den Vertrieb von Nacktbildern von Kindern.31 Das Anliegen ist nachvollziehbar. Allerdings bleibt die Frage, ob man das Gewollte auch in ein verfassungsfestes Strafgesetz umsetzen kann, namentlich, ob es gelingen wird, einen strafbaren Kern herauszupräparieren, ohne Konstellationen mit zu erfassen, die niemand ernsthaft pönalisieren will. Dass der Weg vom berechtigten Anliegen bis zur „wasserdichten“ Formulierung nicht einfach ist, hat uns zuletzt der Tatbestand der Nachstellung (§ 238 StGB) gelehrt, der nach wie vor als „verfassungsrechtliche Zitterpartie“ gilt.32 An Entkriminalisierungen größeren Stils vermögen wir uns kaum noch zu erinnern. Sicher: Die Strafrechtsreform der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts ist ein Belegbeispiel von historischer Größenordnung.33 Doch seither hat sich nicht viel bewegt, wenn man einmal von der wechselvollen Geschichte der Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs absieht. Verschiedene Anläufe zur Entkriminalisierung der Bagatelldelinquenz im Bereich der Eigentumsdelikte sind kläglich 28

Z. B. Momsen, Criminal penalties in the fight against doping?, in: Emrich/Pitsch (Hrsg.), Sport and Doping, Lang, Frankfurt u. a. 2011, S. 183, 200 f. 29 BT-Dr. 18/294. Der Gesetzentwurf sieht u. a. die Einführung eines Tatbestandes des Dopingbetruges für „Berufssportler“ vor. Ähnlich nunmehr der Referentenentwurf eines AntiDoping-Gesetzes des Bundesministeriums der Justiz und für Verbrauerschutz, des Bundesministeriums des Innern und des Bundesministeriums für Gesundheit (vgl. dazu Süddeutsche Zeitung vom 12. 11. 2014, S. 27). 30 Z. B. – mit jeweils unterschiedlichen Positionen und Ansätzen – Momsen-Pflanz, Die sportethische und strafrechtliche Bedeutung von Doping, Lang, Frankfurt a. M. u. a. 2005; Emrich/Pitsch (Fn. 28); Höfling/Horst (Hrsg.), Doping – warum nicht?, Mohr Siebeck, Tübingen 2010; Greco, Zur Strafwürdigkeit des Selbstdopings im Leistungssport, GA 2010, S. 622; Roxin (Fn. 26); Timm, Die Legitimation des strafbewehrten Dopingverbots, GA 2012, S. 732; Kreuzer, Kriminalisierung des dopenden Sportlers?, in: Gedächtnisschrift für Walter, Duncker & Humblot, Berlin 2014, S.101; Senkel, Wirksamkeitschancen des Anti-DopingRechts, Universaar Verlag, Saarbrücken 2014; Prittwitz, Straftat Doping, in: Festschrift für Schiller, Nomos, Baden-Baden 2014, S. 512. 31 Näher Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. 4. 2014, S. 1; eher kritisch R. Müller, Das Edathy-Gesetz, ebenda; Prantl, Das Strafrecht als Kaugummi, Süddeutsche Zeitung vom 12. 4. 2014, S. 4. Mittlerweile hat der Gesetzgeber durch das 49. StrÄndG vom 21. 1. 2015 (BGBl. I, S. 10) den Begriff der Kinder- und Jugendpornographie in §§ 184b, 184c StGB weiter gefasst. 32 Die von dem bayrischen Gesetzentwurf (BR-Dr. 193/14) angestrebte Umgestaltung des Tatbestandes zu einem Eignungsdelikt wird die Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Bestimmung nicht verstummen lassen, sondern eher verstärken. 33 Hassemer (Fn. 15), S. 153 spricht in diesem Zusammenhang von einer „Entrümpelung“ des Strafrechts.

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gescheitert.34 Immerhin: Das Ringen um eine begrenzte Entkriminalisierung im Bereich des Betäubungsmittelstrafrechts hält an. Die Cannabis-Entscheidung des BVerfG hat bekanntlich die Verfassungsmäßigkeit der Kriminalisierung auch des Besitzes von Cannabis vor dem Hintergrund der „Korrekturfunktion“ der Einstellungsvorschriften bestätigt,35 ohne dass damit die Diskussion zum Stillstand gekommen wäre.36 Womit wir auch bei der Frage wären, an wen wir etwaige Monita hinsichtlich der Einhaltung des ultima-ratio-Grundsatzes eigentlich zu richten hätten. Natürlich ist der primäre Adressat der Gesetzgeber. Damit können wir es jedoch nicht bewenden lassen. Ein Verfassungsgrundsatz, so es ein solcher ist, muss sich auch vor dem BVerfG bewähren. Nun hat zuletzt die schon erwähnte Inzest-Entscheidung des BVerfG deutlich gemacht, wie hoch dieses Gericht die Hürden für eine Entkriminalisierung via Gerichtsentscheidung steckt.37 Insofern steht die Entscheidungspraxis des BVerfG mit auf dem Prüfstand. III. Ultima ratio und das kriminalpolitische Umfeld Der ultima-ratio-Grundsatz ist integrierender Bestandteil des liberalen strafrechtlichen Garantiehaushalts. Die Verbindungen zur Sozialschadenslehre sind ebenso evident wie diejenigen zum Bestimmtheitsgrundsatz. Wer freilich meint, damit sei seine Durchschlagskraft gewährleistet, sieht sich getäuscht. Man sollte sich überhaupt nicht der Illusion hingeben, dass dieses strafrechtliche Garantieprogramm den Charakter eines liberalen Bollwerks hat. Natürlich kommt es auf die Zeit an, über die wir reden. So muss man die liberalen kriminalpolitischen Forderungen der Aufklärungszeit vor dem Hintergrund des damaligen exzessiven Strafrechts sehen. Die Strafarten und das Strafniveau haben sich seither gewandelt. Insofern hat das liberale Programm, hat die Humanisierung des Strafrechts viel bewirkt, was nicht heißt, dass wir vor „Rückfällen“ absolut gefeit wären.

34 Erhellend der Abgesang von Hamm, Eigentum im Wandel der Zeiten, KritV 1993, S. 213, 225 sowie allg. zur Problematik der strafrechtlichen Behandlung der Bagatellkriminalität Kunz, Das Bagatellprinzip, Duncker & Humblot, Berlin 1984. 35 BVerfGE 90, 145. Dazu die Entscheidungsanalyse von Stuckenberg, in: Menzel/MüllerTerpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 2. Aufl. Mohr Siebeck., Tübingen 2011, S. 551. 36 Statt vieler Nestler, Geeignetheit und das strafrechtliche Verbot des Umgangs mit Cannabis – eine Projektskizze, in: Festschrift für Hassemer (Fn. 19), S. 971. Bleibt zu hoffen, dass die von Böllinger initiierte Resolution von 122 Rechtsprofessoren zur Entkriminalisierung des Betäubungsmittelstrafrechts (vgl. Prantl, Süddeutsche Zeitung v. 7. 4. 2014, S. 4) Widerhall in der Politik finden wird. 37 Es wird nicht überraschen, dass ich die dissenting opinion des Richters Hassemer für das eigentliche „Glanzstück“ der Entscheidung halte: BVerfGE 120, 224, 255.

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Nun wird Elias’ Theorie der Zivilisation,38 die vom Wandel der Strafsensibilität kündet, gerne als Einbahnstraße in Richtung auf Abbau von (roher) Gewalt und damit auch in Richtung auf die Zurückdrängung des strafrechtlichen Interventionspotentials gedeutet. Ein solcher Automatismus ist jedoch bei Elias nicht angelegt. Die Veränderung von (Straf-)Sensibilitäten kann, muss aber nicht zu Rückschnitten bei der strafrechtlichen Intervention führen. Natürlich wirken sich veränderte Sensibilitäten auf die Sanktionsarten und die Sanktionsbemessung aus. Zugleich vermögen sie aber auch neue Straftaten zu generieren, wie das schon erwähnte Beispiel des Straftatbestandes des Stalking verdeutlicht, der erkennbar darauf abzielt, manifesten Formen der psychologischen Bedrohung Einhalt zu gebieten. Das ist konsequent in einer Zeit, in der Gewalt – im Elias’schen Sinne – verstärkt „durch die Seele geht“. Sensibilität und Sensibilisierung haben auch den Aufstieg des Opferparadigmas im Strafrecht, man könnte auch sagen eine gewisse Re-Personalisierung des Strafrechts, begünstigt. Lief die Entwicklung der öffentlichen Strafe über Jahrhunderte auf eine Art Usurpierung und Instrumentalisierung der Opferinteressen hinaus, so hat die von den Menschenrechten inspirierte Opferforschung unser Sensorium für Betroffenheit, Schmerz und Verlust – nicht nur, aber auch im Bereich der Sexualdelikte, die gerade eine aufklärerisch angelegte Reform durchlaufen hatten,39 – verstärkt. Dies mischt sich mit einer emanzipatorisch orientierten Bewegung, die z. B. – national wie international – das Phänomen der häuslichen Gewalt in den Fokus gerückt hat.40 Auch sorgt der Gleichheitsgedanke als wirkmächtiges Agens in der Kriminalpolitik41 dafür, dass die strafrechtliche Legalordnung immer aufs Neue Ergänzungen und Umschichtungen erfährt. Besonders markant sind in diesem Zusammenhang die Kriminalisierungskampagnen im Wirtschafts- und Steuerstrafrecht sowie im Korruptionsstrafrecht, die unter der sozialpsychologisch angehauchten Devise ablaufen: „Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen“. Überhaupt scheint sich die „Strafbarkeitslücke“ zu einer Art Schreckgespenst für die Politik und die Politiker zu entwickeln.42 38

Dazu Jung, Kriminalsoziologie, 2.Aufl., Nomos, Baden-Baden 2007, S. 38 – 41. Zur Entwicklung des Sexualstrafrechts neuerdings die Standortbestimmung von Frommel, Moralisierung und Entmoralisierung des Sexualstrafrechts in den letzten 40 Jahren, in: Gedächtnisschrift für Walter (Fn. 30), S. 687. Ausgehend von der Entmoralisierung des Sexualstrafrechts durch die Strafrechtsreform der 70er Jahre, verweist sie auf die größere Sensibilität für geschlechts-und altersspezifische sowie krankheitsbedingte Opferrisiken, warnt aber zugleich vor einer Überschätzung des Strafrechts; vgl. namentlich S. 694, erhellend auch Fn. 1, 4. 40 Vgl. für Spanien Garro Carrera, Violences conjugales: stratégies et dysfonctionnement de la politique pénale espagnole, Les cahiers de la justice 2014 (1), S. 93. Garro Carrera thematisiert auch die Begleitschäden der stärkeren Hinwendung zum Strafrecht. 41 Vgl. Jung/Morsch, Gleichheit und Strafjustiz, in: Gedächtnisschrift für Walter (Fn. 30), S. 707. 42 Weigend (Fn. 1), S. 29; Volk, Marktmissbrauch und Strafrecht, in: Festschrift für Hassemer (Fn. 19), S. 915, 917. 39

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Während sich hier gesellschaftliche (Neu-)Bewertungen Bahn brechen, bisweilen auch bedingt durch eine veränderte Wahrnehmung von Problemen und Gefahren, rührt der Kriminalisierungsdruck an anderen Stellen von der Veränderung der Wirklichkeit. Der technische Fortschritt generiert schutzbedürftige Interessen. Pars pro toto mögen hierfür der strafrechtliche Schutz der Informationsgesellschaft43 (Stichwort: cyber crime) oder aber der gesamte Bereich der Biomedizin44 stehen, die beide die Dialektik von Freiheit und Zwang in einem neuen Umfeld haben hervortreten lassen. Ohnehin stellen wir einen veränderten Umgang mit Risikopotentialen fest, was sicher auch mit einer wachsenden Sorge vor Entwicklungen zu tun hat, die die Lebensbedingungen der Menschen nachhaltig beeinträchtigen und zerstören können.45 Dies hat dazu beigetragen, den strafrechtlichen Interventionspunkt soweit vorzuverlegen, dass die Grenze zu „neutralen“ Handlungen berührt wird.46 Es liegt wohl in der Konsequenz immer komplexer werdender Gesellschaften, dass Destabilisierungsängste wachsen und Ordnungsbedürfnisse generieren, die ihrerseits nach strafrechtlicher Absicherung zu verlangen scheinen. Die Rechtsgüter werden dementsprechend immer diffuser – Klimadelikte, Gefühlsschutzdelikte – bis hin zur weitgehenden Auflösung des Rechtsgutsbegriffs in der Figur der Verhaltensdelikte.47 Es versteht sich im Übrigen, dass die Bekämpfung des Terrorismus das Konzept eines rechtsstaatlichen Strafens vor große Herausforderungen stellt48 – siehe die von Jakobs angefachte Kontroverse um das sog. Feindstrafrecht,49 die sich trotz der verbreiteten Kritik hieran50 auf das kriminalpolitische Gesamtklima auswirken dürfte.

43 Hierzu der Generalbericht für den AIDP-Kongress 2014 in Rio de Janeiro von Weigend, Information Society and Penal Law, General Report, Revue Internationale de Droit Pénal 84 (2013), S. 49. 44 Dazu schon Jung, Biomedizin und Strafrecht, ZStW 100 (1988), S. 3. 45 Nach wie vor grundlegend zu den Konsequenzen der Risikogesellschaft für das Strafrecht Prittwitz, Strafrecht und Risiko, Klostermann, Frankfurt a. M. 1993. 46 Zusammenfassend zu dieser Entwicklung wie überhaupt zur Relevanz des sozialen Wandels für das Strafrecht Frisch, Gesellschaftlicher Wandel als formende Kraft und als Herausforderung des Strafrechts, in: Festschrift für Jung, Nomos, Baden-Baden 2007, S. 189. 47 Zum Ganzen statt vieler Seelmann, Verhaltensdelikte: Kulturschutz durch Recht?, in: Festschrift für Jung (Fn. 46), S. 893. 48 Vgl. etwa Jung, Uses and Abuses of Criminal Law Responses to Terrorism, in: Festschrift in Honour of Raimo Lahti, Publications of the Faculty of Law University of Helsinki, Helsinki 2007, S. 97. 49 Jakobs, Kriminalisierung im Vorfeld der Rechtsgutsverletzung, ZStW 97 (1985), S. 751, 783 f. 50 Z. B. Hörnle, Dimensionen des Begriffs „Feindstrafrecht“, GA 2006, S. 80; Greco, Über das so genannte Feindstrafrecht, GA 2006, S. 96; Jung (Fn. 3), S. 726 f.; Muñoz Conde, Der Kampf gegen den Terrorismus und das Feindstrafrecht, in: Festschrift für Volk, Beck, München 2009, S.495; Jäger, Der Feind als Paradigmawechsel im Strafrecht – Zu Existenz und Tauglichkeit eines Feindstrafrechts als Mittel zur Verteidigung des Rechtsstaats, in: Festschrift für Roxin II (Fn. 14), S. 71.

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IV. Ultima ratio – eine Annäherung an Begriff und Status Die (deutschen) Strafrechtler haben eine eigene Begriffswelt entwickelt und sie hängen an ihr. Das gilt intern, also im Verhältnis zum Verfassungsrecht, aber auch extern im Verhältnis zu anderen Strafrechtsordnungen. Man wird jedoch – intern – kaum bestreiten können, dass wir es bei ultima ratio mit einem Begriff aus dem Formenkreis des Verhältnismäßigkeitsprinzips zu tun haben. Damit steht auch fest, dass wir keine übertriebenen Hoffnungen auf die Durchschlagskraft setzen dürfen. Denn der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist, wiewohl Verfassungsgrundsatz und wiewohl sorgfältig systematisch „durchdekliniert“, ein „weiches Prinzip“51, das uns komplexe Abwägungen abverlangt. Nicht anderes gilt für ultima ratio. Wir sind also, wollen wir das strafrechtskritische Potential nutzen, auf die Entwicklung „differenzierter Argumentationsmuster“ verwiesen.52 Der Begriff ultima ratio setzt die Existenz eines Konflikts voraus. Es geht um Art und Intensität der Reaktion auf diesen Konflikt. Die Kriminologie hat uns an dieser Stelle Formeln angedient, die fast wie Subdeklinationen des ultima-ratio-Prinzips klingen, Formeln wie „non intervention“ und „Austauschbarkeit von Sanktionen“. Abgesehen davon, dass wir uns hier auf der Anwendungsebene bewegen, kontert die amerikanische Moderne mit „zero tolerance“,53 womit es im Abtausch der kriminalpolitischen Anwendungsmuster wieder „unentschieden“ zu stehen scheint. Auch wenn es hier um die Anwendungs- und nicht um die Androhungsebene geht, scheint das Prinzip das Strafrecht im interkulturellen Verständnis nicht ganz so selbstverständlich zu durchwalten, wie wir annehmen. In den nordischen Ländern, die seit Jahren zu den Trendsettern in der kriminalpolitischen Diskussion zählen, ist ultima ratio ein viel traktiertes Thema.54 Im anglo-amerikanischen und schottischen Raum ist der Begriff nicht gängig, auch wenn ihn Kenner der internationalen Szene durchaus verwenden, nicht ohne anzumerken, dass es sich um ein kontinental-europäisches Konzept handelt.55 Das heißt aber nicht, dass die inhaltliche Stoßrichtung, die wir mit dem Begriff verbinden, andernorts absent wäre. Nehmen wir nur McClintock’s Konzept des „minimalism“, ein Begriff, den auch Ashworth/Horder aufgreifen, die für einen „minimalist 51

So die Formulierung von Neumann, Das Verhältnismäßigkeitsprinzip als strafbegrenzendes Prinzip, in: von Hirsch/Seelmann/Wohlers (Fn. 18), S. 128. 52 So Neumann (Fn. 51), S. 136. 53 Vgl. etwa die differenzierte Analyse des „New Yorker Modells“ von Zimring, The City that Became Safe, Oxford University Press, Oxford 2012. 54 Z. B. Jareborg, Criminalisation as ultima ratio, in: Festschrift für Eser, Beck, München 2005, S. 1341; ders., Criminalization and the ultima ratio principle, in: Ulväng/Cameron (Hrsg.), Essays on Criminalisation & Sanctions, Iustus Forläg, Uppsala 2014, S. 23; Minkkinnen, ,If Taken in Earnest‘: Criminal Law Doctrine and the Last Resort, Howard Journal 2006, S. 521; Lahti, Das moderne Strafrecht und das ultima-ratio-Prinzip, in: Festschrift für Hassemer (Fn. 19), S. 439. 55 Simester/von Hirsch (Fn. 18), S. 197 f.

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approach“ und den Rückgriff auf das Strafrecht als „last resort“ plädieren.56 Pin proklamiert die „autolimitation de la loi pénale“ und bemüht ausdrücklich den Begriff der „ultima ratio,57 während Delmas-Marty den „exorcisme législatif“ schon vor Jahren attackiert hat, bei dem die Magie des Strafrechts verloren gehe.58 Gleichgültig ob man dies nun humanistisch oder instrumentell deutet, solche Feststellungen stehen, wie der ultima-ratio-Begriff, für das Bestreben, das Strafrecht nicht ausufern zu lassen. Ultima ratio wohnt dabei der Zauber einer lateinischen Wendung inne, mit der wir spontan einen Zugewinn an Überzeugungskraft assoziieren. Ob diese Sprachregelung freilich „exportfähig“ ist, ist eine andere Frage. Es erscheint für die internationale Diskussion vorzugswürdig, die enge Verbindung mit dem insoweit erfolgreicheren Begriff der Verhältnismäßigkeit zu suchen.59 Allerdings sollten wir uns auf Deutschland bezogen nicht damit abfinden, dass das BVerfG – sub specie Verhältnismäßigkeit – Strafgesetze trotz gegenläufiger Erklärungen letztlich nach denselben Maßstäben beurteilt wie jedwedes andere Gesetz.60 V. Die institutionellen Zusammenhänge Die Stichworte „Entkriminalisierung“ und „Kriminalisierung“ lenken den Blick in erster Linie auf den Gesetzgeber. Nun wissen wir natürlich, dass man die kriminalpolitische Klaviatur mit unterschiedlichen Intentionen und Wertvorstellungen bedienen kann, was dementsprechend auch zu unterschiedlichen Ergebnissen führt. Auch die Feststellung auf dem Vorblatt von Gesetzesentwürfen „Alternativen: 56

Ashworth/Horder, Principles of Criminal Law, 7. Aufl., Oxford University Press, Oxford 2013, S. 31,33. Der Begriff des „Minimalstrafrechts“ findet sich in ausdrücklicher Anknüpfung an den Sprachgebrauch von Ferrajoli auch bei Julio Maier, Die Zukunft des Strafrechts, in: Festschrift für Hassemer (Fn. 19), S. 481, 497. 57 Pin (Fn.17), S. 32. 58 Delmas-Marty, Le flou du droit, Presses Universitaires de France, Paris 1986, S. 43. 59 In diesem Sinne Lahti (Fn. 54), S. 448. Vgl. auch Art. 49 Abs. 3, 52 Abs. 1 GRC sowie allgemein zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im europäischen Strafrecht Asp, Two Notions of Proportionality, in: Festschrift in Honour of Raimo Lahti (Fn. 48), S. 207. Asp sorgt sich zu Recht, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit trotz aller Anerkennung als Fundamentalprinzip des europäischen Strafrechts in der Praxis ignoriert werde (a.a.O, S. 219; sowie ders., The Substantive Criminal Law Competence of the EU, Juridiska fakulteten vid Stockholms universitet, Stockholm 2012, S. 205). Insofern erweist sich das europäische Strafrecht eher als Triebfeder für die weitere Expansion des Strafrechts; ebenso Elholm, Strafrechtliche Maßnahmen der EU – verstärkte Repression in den nordischen Ländern?, in: Festschrift für Jung (Fn. 46), S. 135; Weigend (Fn. 1), S. 30. Das Manifest der European Criminal Policy Initiative hält mit einem ausdrücklichen Bekenntnis zum ultima-ratio-Prinzip dagegen; vgl. Prittwitz, Strafrecht und Kriminalpolitik in Europa, NK 2010, S. 108, 109. 60 Vgl. auch Wendt (Fn. 23), S. 89. Er kritisiert zu Recht, dass das BVerfG in seiner Judikatur zum ultima-ratio-Prinzip die von ihm selbst postulierte „greater strictness“ nicht ernst nehme (S. 92). Dies deckt sich mit der Einschätzung von Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, Klostermann, Frankfurt a. M. 2005, S. 25.

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keine“ ist schließlich nur eine politische Meinungsäußerung. Kriminalpolitik ist keine Rechenaufgabe, bei der nur ein Ergebnis herauskommen kann. Das heißt freilich nicht, dass der kriminalpolitische Diskurs ohne Regeln verliefe. Diese Regelhaftigkeit ist freilich im Wechselspiel von Rationalität und Emotionalität permanenten Bedrohungen ausgesetzt. Doch zählt zu den „Spielregeln“ des Diskurses, dass man die Formen, heißt also die verfassungsrechtlichen Vorgaben einhält, und der Austausch der Argumente sich im Rahmen dieser Vorgaben bewegt. Man muss also den Gang der Argumentation, auch wenn man die Bewertung im Ergebnis nicht teilt, nachvollziehen können. Diese Begründungspflicht macht die einzelnen Argumentationsschritte überprüfbar. In diesem Sinne zwingt der ultima-ratio-Grundsatz, im Gesetzgebungsprozess Farbe zu bekennen und deutlich zu machen, warum eine Kriminalisierung unausweichlich ist. Das ist zugegebenermaßen nicht viel, entspricht aber der Natur des demokratischen Entscheidungsprozesses. Es deutet zugleich eine „prozessuale Dimension“ des Begriffs im Sinne einer Argumentationslast des Gesetzgebers an. Getreu der Devise, wonach das Recht die Sprache der Demokratie ist,61 mögen Anhänger eines wirkmächtigeren ultima-ratio-Prinzips die Hoffnung auf das BVerfG setzen. Es hat freilich in (fast) allen Fällen, trotz eines dezidierten Bekenntnisses zum ultima-ratio-Prinzip bislang enttäuscht. Vielleicht durfte man aber auch nicht mehr erwarten: Da ist zum einen die strafrechtlichen Grundprinzipien – auch bei verfassungsrechtlicher „Hochzonung“ – inhärente Vagheit, zum anderen ist das Gericht institutionell auf eine Kontrolle des gesetzgeberischen Beurteilungsspielraums verwiesen. Dies führt – siehe die Inzest-Entscheidung – praktisch zu einer Bestandsgarantie für existierende strafrechtliche Regelungen, obwohl Kaspar zu Recht darauf verweist, dass die Straflosigkeit eines Verhaltens eigentlich leichter zu legitimieren ist als die Strafbarkeit.62 Die Bilanz des EGMR sieht im Übrigen nicht viel besser aus. Das Gericht hat zwar in den Anfängen in einigen Fällen „durchgegriffen“,63 inzwischen scheint man auch dort nationale Strafvorschriften nur mehr mit spitzen Fingern anzufassen.64 Die Kehrseite der Medaille besteht darin, dass eine Kriminalisierung sich via Gericht nur ganz selten wird durchsetzen lassen. Im Gefolge der ersten Entscheidung 61 In diese Richtung Habermas, Über den internen Zusammenhang von Rechtsstaat und Demokratie, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen, Suhrkamp, Frankfurt 1996, S. 293, 301. 62 Kaspar, Kriminologie und Strafrecht – getrennte Welten?, in: Gedächtnisschrift für Walter (Fn. 30), S. 83, 99; a. A. wohl Merten, Grundrechtliche Schutzpflichten und Untermaßverbot, in: Gedächtnisschrift für Burmeister, Müller, Heidelberg 2005, S. 227, 243. 63 Vgl. Bengoetxea/Jung, Towards a European criminal jurisprudence?, Legal Studies 1991, S. 239 mit Hinweisen u. a. auf die Entscheidungen Dudgeon (Serie A Nr. 45) und Norris (Serie A Nr. 142). 64 Z. B. die Inzest-Entscheidung Stübing v. Germany, Urt. v. 12. 4. 2012, Beschw. Nr. 43547/08 (dazu Jung, Das Inzestverbot oder der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auf den Spuren des Bundesverfassungsgerichts, GA 2012, S. 616) sowie die Entscheidung zum Verbot der Vollverschleierung S. A. S. c. France, Urt. v. 1. 7. 2014, Beschw. Nr. 43835/11.

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des BVerfG zum Schwangerschaftsabbruch65 und verschiedener Entscheidungen des EGMR66 diskutiert man zwar inzwischen europaweit über „Pönalisierungspflichten“67. Überhaupt hat uns die verstärkte grundgesetzliche Ausprägung von Sicherheit in Gestalt der Schutzpflichtdebatte bis hin zu einem verschiedentlich postulierten „Menschenrecht auf Sicherheit“68 eine gewisse Verschiebung in der Architektur des Grundrechtsschutzes zwischen Abwehrrechten einerseits und Sicherheits- und Schutzinteressen andererseits beschert. Letztere bleiben jedoch im Vergleich zu den klar umschriebenen Freiheitsrechten in der Regel diffus. In der Sprache der Grundrechtsdogmatik: Sie sind also nicht (so) eindeutig definiert.69 Die Präponderanz des Freiheitsrechts in der Abwägungssituation steht für mich daher außer Frage.70 Mit dem Verweis auf verfassungsrechtliche Schutzpflichten und das spiegelbildlich zum „Übermaßverbot“ entwickelte „Untermaßverbot“71 wird man eine Verpflichtung des Gesetzgebers zur Kriminalisierung daher nur bei vorsätzlichen Verletzungen besonders hochrangiger Rechtsgüter, Paradebeispiel sind die Straftaten gegen das Leben,72 als von der Verfassung her zwingend geboten begründen können. Eher im Gegenteil steht der Gesetzgeber eigentlich dauerhaft in der Pflicht, die existierenden Strafnormen auf den Prüfstand zu stellen.73 Trotzdem könnte die „normative Verdichtung“ des Diskurses über menschenrechtlich und/oder europarechtlich induzierte Pönalisierungspflichten – zumindest psychologisch betrachtet – die Wirk65

BVerfGE 39, 1, 57; dazu Müller-Dietz, Zur Problematik verfassungsrechtlicher Pönalisierungsgebote, in: Jung/Müller-Dietz (Hrsg.), § 218 StGB. Dimensionen einer Reform, Decker’s Verlag G. Schenck, Heidelberg 1983, S. 77. In seiner zweiten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch (BVerfGE 88, 203) hat das BVerfG seine Position bekanntlich relativiert. 66 Erstmals: X and Y v. the Netherlands, Serie A Nr. 128; sowie aus neuerer Zeit Siliadin v. France, Urt. v. 26.7. 2005, Beschw. Nr. 73316/01. 67 Pradel, Notre Code pénal, vingt ans à peine et déjà des dérives qui n’ont pas attendu le nombre des années, La Semaine Juridique 2014, S. 414, 415 konstatiert, dass der Gesetzgeber nicht mehr Herr im Hause ist. 68 Vgl. nur Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, de Gruyter, Berlin/NewYork 1983; ders., Sicherheit als Voraussetzung und als Thema einer freiheitlichen Verfassung, in: Gedächtnisschrift für Brugger, Mohr Siebeck, Tübingen 2013, S. 499, 516; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, Nomos, Baden-Baden 1987 sowie die konzise Stellungnahme zur Schutzpflichtdebatte aus strafrechtlicher Sicht von Müller-Dietz, Verfassungsrechtliche Schutz- und Pönalisierungspflichten, in: Gedächtnisschrift für Zipf, Müller, Heidelberg 1999, S.123. 69 Dazu Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, Nomos, Baden-Baden 1988, S. 123. 70 Ähnlich Kaspar (Fn. 18), S. 154 f.; vgl. auch – im Rahmen der Exegese von Art. 6 GRC – Klement, § 8 Freiheit der Person, in: Grabenwarter (Hrsg.), Europäischer Grundrechtsschutz, Bd. 2 der Enzyklopädie Europarecht, Nomos, Baden-Baden 2014, Rdnr. 94. 71 Zur Diskussion mit kritischem Unterton Oliveira, Zur Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik, Duncker & Humblot, Berlin 2013, S. 140. 72 Der Hinweis auf die Straftaten gegen das Leben ist nicht abschließend gemeint; er soll signalisieren, dass die Messlatte hoch liegt. Vgl. auch den Katalog von Kaspar (Fn. 18), S. 79. 73 Kaspar (Fn. 62), S. 99.

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kraft des ultima-ratio-Grundsatzes (weiter) unterminieren. Vielleicht trägt sie à la longue aber auch dazu bei, die allemal notwendigen Abwägungen besser zu „kanalisieren“.74 Keinesfalls aber dürfen wir – so das schöne Bild von Lazarus – den „coercive sting in the tail of positive duties“75 aus dem Auge verlieren. VI. Zum Maßstab der Bewertung Das ultima-ratio-Prinzip scheint in einer kriminalisierungsfreudigen Epoche einem Erosionsprozess zu unterliegen. Tatsächlichen oder vermeintlichen Missständen begegnet man in der Politik geradezu reflexartig mit dem Ruf nach dem Strafrecht. Die punitive Grundstimmung kommt nicht von ungefähr: Das alles überwölbende Sicherheitsdenken, neue (globale) Risiken, eine Neubewertung von Bedrohungen und Verletzlichkeit und die sozialpsychologische Treibkraft des Gleichheitsgrundsatzes verbinden sich mit einem zunehmend instrumentelleren Verständnis von Strafrecht und generieren so einen außerordentlichen Kriminalisierungsdruck. Nicht dass das ultima-ratio-Prinzip völlig in Vergessenheit geraten wäre. Man erinnert sich seiner durchaus, mehr jedoch im Sinne einer Pflichtübung, eines Kontrollpunktes, den man schnell durchlaufen hat, zumal die Alternativen ihrerseits nicht selten problembehaftet sind.76 Wenn sich deshalb da und dort Enttäuschung breit macht, mögen auch illusionäre Vorstellungen von der Leistungskraft dieses Prinzips mitschwingen. Vielleicht wird man schlussendlich jenen Recht geben müssen, die vor einer Überbewertung von vollmundigen Begriffen mit unklarem oder besser diffusem verfassungsrechtlichem Status warnen. Dies hat auch damit zu tun, dass sich auch sonst mancher Grundsatz des Strafrechts nicht ohne weiteres an der Verfassung oder der EMRK festmachen lässt77 oder doch in den Einzugsbereich einer komplexen, seine Durchschlagskraft relativierenden Abwägungsdogmatik gerät. Vielleicht muss man ohnehin stärker als bisher den Gesamtzusammenhang im Auge behalten. Dies gilt zunächst bezogen aufs Ganze des Rechtssystems. So hat Tiedemann seit jeher reklamiert, dass ein Wirtschaftsstrafrecht möglicherweise ein milderes Mittel ist als Eingriffe in anderen Rechtsbereichen, die zu viel grundstürzenderen Veränderungen führen würden.78 Hier geht es um die allgemeinere Frage 74 So die Annahme von Kaspar (Fn. 18), S. 71 f. Hierzu könnte auch Jareborgs, Criminalization (Fn. 54), S. 38 Vorstellung von ultima ratio als einem Kriminalisierungsprinzip beitragen. 75 Lazarus, Positive Obligations and Criminal Justice: Duties to Protect or Coerce?, in: Essays in Honour of Andrew Ashworth, Oxford University Press, Oxford 2012, S. 135, 155. 76 Mehr dazu bei Seelmann, Schwierigkeiten der Alternativendebatte im Strafrecht, in: Radtke u. a. (Fn. 5), S. 151. Trendelenburg (Fn. 21), S. 495 summiert: „Die Alternativen sorgen für gemischte Gefühle.“ 77 Dazu z. B. Stuckenberg (Fn. 19), S. 655. 78 Z. B. Tiedemann, Plädoyer für ein neues Wirtschaftsstrafrecht, ZRP 1976, S. 49, 54; zu meinen Vorbehalten hiergegen Jung, Die Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität als Prüf-

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nach dem Verhältnis von präventiver Kontrolle und reaktivem Strafrecht,79 für das in Teilen inzwischen in Gestalt der Prozeduralisierung auch differenzierte Zwischenlösungen angeboten werden.80 Aber auch binnenstrafrechtlich betrachtet lohnt der Blick aufs Ganze. Wir sollten uns bei dem Stichwort ultima ratio nicht nur auf die Ebene der Kriminalisierung konzentrieren, sondern auch die Ebene der Sanktionierung mit bedenken. Insofern präsentiert sich uns das Strafrecht heute verstärkt als differenziertes System, in dem Kriminalisierung und Sanktionierung im Wechselspiel dem Gedanken der Normverdeutlichung Rechnung tragen, gestufte Reaktionen also die Möglichkeit eröffnen, die Kriminalisierungswirkungen auf der Durchführungsebene aus Gründen der Individualisierung abzumildern. Hier hat auch die Verständigung im Verfahren ihren Platz. Solange der Punitivitätsdruck anhält, wirkt sich der ultima-ratio-Grundsatz also möglicherweise in anderer Form und auf anderen Ebenen aus. Als Versuch der „Ehrenrettung“ ist eine solche Gesamtschau freilich zwiespältig. Schließlich sind auch „flexible Sanktionen“81 Sanktionen; wir bewegen uns immer noch im Strafrecht. Das Stichwort „Verständigung“ erinnert uns eher umgekehrt daran, dass das BVerfG bei seiner Verständigungs-Entscheidung82 zu kurz gegriffen hat, weil es den verstärkten Zugriff des Gesetzgebers auf strafrechtliche Regelungen nicht problematisiert hat. Außerdem kommt man – bei aller Bedeutung der Abmilderung des Strafrechts auf der Durchführungsebene – nicht daran vorbei, dass solche prozessualen „Korrekturmöglichkeiten“ für die Beurteilung der Frage, ob die materielle Strafnorm verfassungsgemäß ist, eigentlich keine Rolle spielen dürfen.83

stein des Strafrechtssystems, de Gruyter, Berlin/New York 1979, S. 25. Vgl. auch die ausführliche Auseinandersetzung mit den Thesen Tiedemanns und der Diskussion hierüber bei Trendelenburg (Fn. 21), S. 174 – 200. 79 Grundsätzlich dazu neuerdings Prittwitz, Strafrecht als propria ratio, in: Festschrift für Roxin II (Fn. 14), S. 23. 80 Dazu Eicker, Die Prozeduralisierung des Strafrechts, Stämpfli u. a., Bern 2010. 81 So der Titel eines Editorials von Kunz, Kriminologisches Bulletin de Criminologie 1999 Nr. 2, S. 3; dazu Jung, Was ist Strafe? , Nomos, Baden-Baden 2002, S. 60. 82 BVerfGE 133, 168. 83 Ähnlich Richter Sommer in seiner abweichenden Meinung zur Cannabis-Entscheidung BVerfGE 90, 145, 212, 225 f. Jedenfalls kann aus dem damals von der Senatsmehrheit ins Feld geführten Argument, wonach die Einstellungsmöglichkeiten im Hinblick auf das Übermaßverbot relevant seien, kein verfassungsrechtlicher Blankoscheck für die Kriminalisierung eines ohne Zweifel nicht strafwürdigen Verhaltens abgeleitet werden; ebenso Richter Hassemer in seiner abweichenden Meinung zur Inzest-Entscheidung BVerfGE 120, 224, 255, 272.

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VII. Ausblick 1. Das Strafrecht scheint heute einen veränderten Stellenwert zu haben.84 Der verbreitete (schnelle) Zugriff auf das Strafrecht lässt auch die Strafbegrenzungsprinzipien in einem veränderten Licht erscheinen. Sie scheinen ihren Biss verloren zu haben. Ehe wir jedoch den ultima-ratio-Grundsatz zum Papiertiger erklären, sollten wir namentlich von den Kriminologen und den Politikwissenschaftlern mehr differenzierte Analysen des Ablaufs der verschiedensten Kriminalisierungsprojekte einfordern. Genauer: Es mangelt an empirischen Untersuchungen über Gesetzgebungsprozesse auf dem Gebiet des Strafrechts.85 D.h. die Diskussion über die Leistungsfähigkeit des ultima-ratio-Prinzips bedarf einer solideren empirischen Grundierung. Zugleich ist die strafrechtliche Wirkungsforschung gefordert, wenn es um die empirische Ausfüllung des ultima-ratio-Prinzips geht.86 Dazu gehört freilich auch die Bereitschaft der Entscheidungsträger, sich mit deren Erkenntnissen auseinanderzusetzen. Womit wir an die allgemeine Frage nach der Rolle von Wissenschaft und Sachverstand im (kriminal)politischen Entscheidungsprozess rühren.87 2. Die „Status-Frage“ halte ich angesichts der „fuzziness“, die dem ultima-ratioPrinzip als Rechtsprinzip eigen ist,88 nicht für zentral. Dasselbe gilt für die Frage der Begriffsbildung. Ultima ratio, modération,89 Toleranz90 gehören dem nämlichen Formenkreis an. Es sind dies allesamt Begriffe, die uns signalisieren, dass das Strafrecht sich, auch um seiner eigenen Wirksamkeit willen, zurücknehmen sollte.91 Zugegeben: Der ultima-ratio-Begriff scheint am unmittelbarsten auf die Strafe selbst ausge84 Schon Müller-Dietz, Aspekte und Konzepte der Strafbegrenzung, in: Festschrift für R. Schmitt, Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1992, S. 95, 98 spricht von Phänomenen, die auf Dauer das Selbstverständnis des Strafrechts tangieren. 85 Scheerers Untersuchung über „Die Genese der Betäubungsmittelgesetze in der Bundesrepublik Deutschland und in den Niederlanden“, Schwartz, Göttingen 1982, hat nur wenige Nachahmer gefunden. 86 S. auch Nestler (Fn. 36), S. 980 f.; Hilgendorf, Punitivität und Rechtsgutslehre – Skeptische Anmerkungen zu einigen Leitbegriffen der heutigen Strafrechtstheorie, NK 2010, S. 125, 130. 87 Dazu am Beispiel der Kriminologie Jung, Die postmoderne Kriminologie im Wechselspiel von Professionalität, Demokratie und Rechtstaatlichkeit, in: Kunz/Besozzi (Hrsg.), Soziale Reflexivität und qualitative Methodik, Haupt, Bern u. a. 2003, S. 153. 88 Vgl. auch die kritische Analyse von Minkkinen, The ,Last Resort‘: A Moral and/or Legal Principle?, Oñati Socio-Legal Series (online), 3 (1), S. 21, 29 available from http://ssrn.com/ab stract=2200411. 89 Zu diesem Montesquieu’schen Konzept Jung, Montesquieu und die Kriminalpolitik, JuS 1999, S. 216. 90 Zum Toleranzprinzip in unserem Zusammenhang Müller-Dietz, Strafe und Staat, Klostermann, Frankfurt a. M. 1973, S. 25; Frisch, Toleranz als Prinzip der Strafbegrenzung?; von Hirsch, Toleranz als Mediating principle, beide in: von Hirsch/Seelmann/Wohlers (Fn. 18), S. 83, 97. 91 Getreu der Devise von Delmas-Marty (Fn. 58), S. 43 „La fonction magique impose l’éclat, mais aussi la rareté …“.

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richtet oder, anders formuliert, er scheint für das trainierte Strafrechtsverständnis „inhaltsgetränkter“ zu sein, was ihn freilich nicht unbedingt handhabbarer macht.92 Natürlich möchte ich die Anbindung an das Verfassungsrecht, sprich an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, nicht missen.93 Nur muss man sich darüber im Klaren sein, dass die materiell-strafrechtliche „Kontrollbilanz“ des BVerfG insoweit – bislang jedenfalls – nicht positiv ausfällt. Sie ließe sich vielleicht verbessern, wenn der „constitutionalism“ als Prägemarke des Strafrechts auf allgemeine Akzeptanz stieße.94 Dies verlangt zwar nicht die Entwicklung einer „Subsidiärwissenschaft“ im Sinne von Trendelenburg,95 wohl aber eine Forcierung des infradisziplinären Diskurses nicht nur über die „Konstitutionalisierung“, sondern auch über die konstitutionelle Bedeutung des Strafrechts. D. h. der einschlägige strafrechtliche und der verfassungsrechtliche Diskurs müssen zusammengeführt werden.96 3. Die Durchsetzungskraft des ultima-ratio-Prinzips ließe sich sicher steigern, wenn es gelänge, den sozialpsychologischen Gehalt der Strafbegrenzungsprinzipien verstärkt in das allgemeine Bewusstsein zu rücken und – ganz im Sinne von Hassemer – 97 als die eigentliche Essenz des Strafrechts zu begreifen. Diese Prinzipien sollten jedenfalls im Studium stärker betont werden in der Hoffnung, dass dies auch Früchte in der praktischen Kriminalpolitik trägt. 4. Man sollte freilich das Kontrollpotential des BVerfG und des EGMR nicht vorschnell abschreiben. Die dissenting votes der Richterin Rupp-v. Brünneck und des Richters Simon zu der ersten Entscheidung des BVerfG zum Schwangerschaftsabbruch,98 die des Richters Sommer zu der Cannabis-Entscheidung,99 die des Richters Hassemer zu der Inzest-Entscheidung100 und die der Richterinnen Nußberger und Jä-

92 Ob man deswegen – wie Trendelenburg (Fn. 21), S. 74 f. – von einem, im Verhältnis zu dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit relevanten, eigenen Bedeutungsinhalt sprechen kann, ist eine andere Frage. 93 Vgl. auch Kaspar (Fn. 18), S. 247 (Vorzug der größeren Klarheit) sowie Theile in seiner Besprechung der Dissertation von Trendelenburg (Fn. 21) in: GA 2014, S. 249, 251 (Anschlussfähigkeit). 94 Dazu Nuotio, On the Significance of Criminal Justice for a Europe ,United in Diversity‘, in: Nuotio (Hrsg.), Europe in Search of ,Meaning and Purpose‘, Publications of the Faculty of Law University of Helsinki, Helsinki 2004, S. 171, 195. 95 Trendelenburg (Fn. 21), S. 1 („Vorstudien zu einer künftigen Subsidiaritätswissenschaft“). 96 In diesem Sinne hört man es als Strafrechtler natürlich gerne, wenn Poscher, Am Fuße der Kathedrale, in: Jestaedt/Lepsius (Hrsg.), Rechtswissenschaftstheorie, Mohr Siebeck, Tübingen 2008, S. 105, 108 f. sub specie ultima ratio für eine straftheoretische Anreicherung der verfassungsrechtlichen Bemühungen bei der Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes plädiert. 97 Hassemer (Fn. 15). 98 BVerfGE 39, 1, 68. 99 BVerfGE 90, 145, 212. 100 BVerfGE 120, 224, 255.

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derblom zu der EGMR-Entscheidung über die Vollverschleierung101 bieten überzeugende Argumentationsmuster dafür, wie man die strafbegrenzende Wirkung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erschließen kann, im Sinne des Postulats von Rudolf Wendt: „A change towards a real … constitutional control of criminal provisions would however be desirable“.102

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S. A. S. c. France, Urt. v. 1. 7. 2014, Beschw. Nr. 43835/11. Wendt (Fn. 23), S. 93. Auch Weigend, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Grenze staatlicher Strafgewalt, in: Festschrift für Hans Joachim Hirsch, de Gruyter, Berlin/ New York 1999, S. 923, 932 konstatiert, dass das BVerfG das strafrechtsbegrenzende Potential des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht ausschöpft. 102

Privatrechtliche Reflexionen zur „gebremsten“ Marginalisierung des Verwaltungsprivatrechts Von Michael Martinek, Saarbrücken I. Einleitung Heutzutage kann die Trennung zwischen Öffentlichem Recht und Privatrecht als eine grundlegende kategoriale Unterscheidung in der Rechtswissenschaft, mit einer in allen kontinentalen Rechtsordnungen lange in das römische Recht zurückreichenden Tradition1 und mit einer in Deutschland fundamentalen Bedeutung für das materielle Recht wie auch für das Prozessrecht, angesehen werden.2 Zwar wurde diese Trennung im Verlauf der Rechtsgeschichte nicht immer konsequent durchgehalten; für mittelalterliche Rechtsbücher wie den Sachsenspiegel war beispielsweise die Unterscheidung zwischen Landrecht und Lehnrecht ungleich wichtiger.3 Indes ist die Unterteilung im deutschen Recht spätestens seit dem Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches als der Zentralkodifikation unseres Privatrechts nach außen deutlich sichtbar. Auch in anderen Rechtsordnungen des germanischen oder romanischen Rechtskreises kommt dieser Unterscheidung heute eine grundlegende Ordnungskraft zu.4 In Deutschland spiegelt sich die Trennung zwischen Öffentlichem Recht und Privatrecht nicht allein in verschiedenen Gerichtsbarkeiten oder Vollstreckungsarten 1 Es darf an den Ulpian zugeschriebenen Kernsatz erinnert werden: „publicum ius est quod ad statum rei Romanae spectat, privatum quod ad singulorum utilitatem“, der bekanntlich als früher Beleg für die „Interessentheorie“ zur Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Recht gilt; vgl. Kaser/Knütel, Römisches Privatrecht, 2014, § 3 II Rn. 5, S. 34. 2 Im Beck’schen Onlinekommentar zum VwVfG/Ronellenfitsch, 24. Edition, Stand 2014, § 1 VwVfG, Rn. 28 findet sich die Formulierung: „Der Dualismus von öffentlichem und privatem Recht ist seit langem Strukturelement der kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen“; belegt wird diese grundlegende Trennung für das deutsche Recht namentlich durch § 40 VwGO und spiegelbildlich § 13 GVG. 3 Vgl. hierzu Molitor, Über Öffentliches Recht und Privatrecht, 1949, S. 10. 4 In der Schweiz beispielsweise durch Kodifizierungen des Privatrechts in Form des Zivilgesetzbuches und des Obligationenrechts sowie durch die öffentlich-rechtliche Bundesverfassung zu erkennen. Auch verschiedene Normen wie Art. 6 und 59 ZGB lassen die Existenz der Trennung zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht erkennen. In Frankreich lässt sich diese Unterscheidung anhand des im Code Civil festgehaltenen Teils des Privatrechts und etwa des separat davon etablierten Bereichs des Verwaltungsrechts (droit administratif) erkennen. Auch in südamerikanischen Rechtssystemen wird zwischen derecho privado und derecho público unterschieden.

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wider5, sondern findet auch im universitären Bereich bei der Ausrichtung von Lehrstühlen oder der Ausarbeitung von Lehrplänen ihren festen Platz. Trotz dieser weitgehend anerkannten Differenzierung kann heutzutage jedoch immer wieder eine Verflechtung, Überlagerung oder Vermischung der beiden Rechtsgebiete beobachtet werden.6 Dies zeigt schon eine Umschau ins praktische Leben der „Rechtswirklichkeit“: So schließen etwa kommunale Verkehrsbetriebe zivilrechtliche Beförderungsverträge ab7, oder städtische Wasserwerke kontrahieren mit ihren Kunden mittels privatrechtlicher Lieferverträge, oder Gemeindeverwaltungen nutzen privatrechtliche Ausgestaltungsmöglichkeiten bei der Gewährung von Subventionen.8 Die bei solchen Vorgängen begründeten Rechtsbeziehungen lassen sich prima vista weder bruchlos dem Öffentlichen Recht noch zweifelsfrei dem Privatrecht zuordnen. Vielmehr sind sie in einem Bereich zu verorten, in dem sich die Verwaltungsrechts- und die Privatrechtsordnung gegenseitig zu durchdringen scheinen: im sogenannten Verwaltungsprivatrecht.9 Natürlich muss man zunächst unterscheiden zwischen einer privatrechtlichen Organisationsform der öffentlichen Hand (z. B. einer GmbH oder AG mit einer oder mehreren Gebietskörperschaften als Anteilseignern, die an die Stelle einer Körperschaft des öffentlichen Rechts tritt) und einer privatrechtlichen Kontraktionsform (z. B. einem privatrechtlichen Beförderungsvertrag oder einem Darlehensvertrag, der an die Stelle eines Verwaltungsakts oder eines öffentlich-rechtlichen Vertrags rückt). Regelmäßig kann die öffentliche Hand bei öffentlich-rechtlicher Organisationsform auch in privatrechtlicher Kontraktionsform handeln, während sie bei privatrechtlicher Organisationsform nicht mehr auf die hoheitlichen Instrumente zurückzugreifen vermag. Aber auch im zweiten Fall durchmischen sich öffentliches und Privatrecht in einer irritierenden Weise, dienen doch privatrechtliche Organisations- und Kontraktionsform der Erfüllung öffentlicher Aufgaben.

5 Vgl. Siebert, Privatrecht im Bereich öffentlicher Verwaltung – zur Abgrenzung und Verflechtung von öffentlichem Recht und Privatrecht, in Festschrift für Hans Niedermeier, 1953, S. 215; Alpmann, Brockhaus Studienlexikon Recht, 4. Auflage 2014, S. 1255. 6 U.a. bei Kohorst, Der Rechtsschutz gegenüber gemeindlichem Verwaltungsprivatrecht, 1972, S. 11. 7 So ersichtlich aus einem Urteil des BGH vom 23. 09. 1969, VI ZR 19/68, BGHZ 52, 325 = NJW 1969, 2195. 8 Diese und weitere Beispiele finden sich bei Stelkens, Verwaltungsprivatrecht – Zur Privatrechtsbindung der Verwaltung, deren Reichweite und Konsequenzen, 2005, S. 24; Schmidt, Allgemeines Verwaltungsrecht, 16. Auflage 2013, Rn. 1011 ff., S. 350, Bull/Mehde, Allgemeines Verwaltungsrecht mit Verwaltungslehre, 8. Auflage 2009, § 6 Rn. 253, S. 115, ; Wittern/Baßlsperger, Verwaltungs- und Verwaltungsprozessrecht, 19. Auflage 2007, Rn. 28, S. 14; Patzelt, Die Abschöpfung des Planungsgewinns in der Bauleitplanung, 2010, § 2.3.1, S. 50 sowie von Zezschwitz: Rechtsstaatliche und prozessuale Probleme des Verwaltungsprivatrechts, NJW 1983, 1873 (1874). 9 Handbuch des Staatsrechts/Kirchhof, Band V, 3. Auflage 2007, § 99 Rn. 7, S. 11; Erbguth, Allgemeines Verwaltungsrecht, 7. Auflage 2014, § 29 Rn. 9, S. 464.

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II. Begrifflichkeiten Der Begriff des Verwaltungsprivatrechts zur Erfassung des „Mischgebiets“ von Verwaltungs- und Privatrecht kann zwar ausweislich der Lehrbuchliteratur als Allgemeingut10, aber keinesfalls als unumstritten bezeichnet werden. So werden Bestand und Sinnhaftigkeit eines damit umschriebenen Rechtsstoffs von manchen Kritikern teils für unnötig gehalten11 oder gar von vornherein abgelehnt.12 In seiner grundlegenden Saarbrücker Habilitationsschrift zu diesem Thema fasst Ulrich Stelkens den Stand der Diskussion dahingehend zusammen, dass Skeptiker das Verwaltungsprivatrecht „als ,irgendwo‘ zwischen öffentlichem und privatem Recht ,vagabundierendes Rechtsgebiet‘“ auffassen und ihm den „Vorwurf der ,System- und Disziplinlosigkeit‘“ machen.13 Man kann in jüngerer Zeit tatsächlich eine Welle der Infragestellung der dogmatisch-konstruktiven Berechtigung und der heuristischen Fruchtbarkeit eines Verwaltungsprivatrechts ausmachen, das bereits mit vorausschauendem Blick auf seine derzeitige Erosion als „(noch) hM“ bezeichnet wurde.14 Von Seiten der Skeptiker, die wohl zum Gutteil die dem Verwaltungsprivatrecht zugeordneten Handlungen als verwaltungsrechtliche Verträge eingeordnet wissen wollen, wird die Frage aufgeworfen, „ob überhaupt noch ein Bedürfnis für diese Rechtsfigur besteht, weil sie als ,Etikettenschwindel‘ zu deuten sei“.15 In Fahrt kam die „Karriere“ des Verwaltungsprivatrechts erst in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, nämlich in den 1950ern, als Hans Julius Wolff diesem Begriff in seinem Studienbuch zum Verwaltungsrecht Form und Gestalt verlieh16, nachdem die Unübersehbarkeit und die Rechtsfragen eines speziellen Bereichs zwischen Öffentlichem Recht und Privatrecht namentlich von Wolfgang Siebert herausgearbeitet

10 Nicht zuletzt wird er in einer Vielzahl aktueller Lehrliteratur zum Verwaltungsrecht verwendet, so, z. B. von Ipsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, 8. Auflage 2012, Rn. 198, S. 54; Wittern/Baßlsperger, Verwaltungs- und Verwaltungsprozessrecht, 19. Auflage 2007, Rn. 28, S. 14; Schmidt, Allgemeines Verwaltungsrecht, 16. Auflage 2013, Rn. 1009, S. 350; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Auflage 2011, Rn. 18, S. 47; Bull/Mehde, Allgemeines Verwaltungsrecht mit Verwaltungslehre, 8. Auflage 2009, Rn. 252, S. 115; Erbguth, Allgemeines Verwaltungsrecht, 7. Auflage 2014, § 29 Rn. 2, S. 458; Storr/Schröder, Allgemeines Verwaltungsrecht, 2009, Rn. 291, S. 221. 11 von Zezschwitz: Rechtsstaatliche und prozessuale Probleme des Verwaltungsprivatrechts, NJW 1983, 1873 (1877). 12 Vgl. u. a. Bull/Mehde, Allgemeines Verwaltungsrecht mit Verwaltungslehre, 8. Auflage 2009, Rn. 251 f., S. 115. 13 Stelkens, Verwaltungsprivatrecht Zur Privatrechtsbindung der Verwaltung, deren Reichweite und Konsequenzen, 2005, S. 36. 14 Nomos Handkommentar Verwaltungsrecht/Unruh, § 40 VwGO, Rn. 117, S. 1386. 15 Stober/Kluth, Verwaltungsrecht I, 12. Auflage 2007, § 23 Rn. 1, S. 207 (mit weiteren Nachweisen in Fn. 5). 16 Wolff, Verwaltungsrecht I, 1. Auflage 1956, § 13 I b, S. 73.

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worden waren.17 Nach Hans Julius Wolff sollte das Verwaltungsprivatrecht die privatrechtliche Tätigkeit der Verwaltung „auf Grund hoheitlicher Entscheidung in Rechtssatz oder Verwaltungsakt“18 umfassen, wobei die Verwaltung ihren öffentlich-rechtlichen „Bindungen“ aber durch die privatrechtliche Handlungsform nicht sollte entkommen können. Feste Konturen des Begriffs haben sich jedoch erst über die Zeit entwickelt.19 Die unterbreiteten Definitionsvorschläge zum Verwaltungsprivatrecht reichen von Situationen, „in denen das Privatrecht auf das Handeln juristischer Personen des öffentlichen Rechts anzuwenden ist“20, über Bereiche, die eine „Erfüllung von Verwaltungsaufgaben in Rechtsformen des Privatrechts“21 erfordern, bis hin zur Feststellung, dass das Verwaltungsprivatrecht einschlägig sei, wenn „ein öffentlich-rechtlicher Verwaltungsträger Verwaltungsaufgaben in privatrechtlicher Form“ erfülle22 oder „wenn ein Träger der öffentlichen Verwaltung in privatrechtlicher Form tätig wird und dadurch unmittelbar gegenüber dem Bürger eine öffentliche Aufgabe erfüllt“23. Der wohl gravierendste Streitpunkt in den Definitionsbemühungen scheint in der Frage zu bestehen, ob es für die „Anwendbarkeit“ oder „Einschlägigkeit“ des Verwaltungsprivatrechts eines unmittelbaren Handelns der Verwaltung bedarf oder ob ein mittelbares Handeln ausreicht. So lassen sich immer wieder Definitionen finden, die lediglich auf das Erfüllen von Verwaltungsaufgaben durch öffentlich-rechtliche Verwaltungsträger in privatrechtlicher Form abstellen.24 Andererseits pochen viele Autoren aber darauf, dass es sich stets um eine „unmittelbare“ Erfüllung von Verwaltungsaufgaben handeln müsse und daher eine entsprechende Differenzierung zwischen unmittelbar und mittelbar stattzufinden habe.25 So könne nicht jedes Verwaltungshandeln, das mit Mitteln des Privatrechts ins Werk gesetzt werde, schon auto17 Siebert, Privatrecht im Bereich öffentlicher Verwaltung – zur Abgrenzung und Verflechtung von öffentlichem Recht und Privatrecht, in: Festschrift für Hans Niedermeier, 1953, S. 215 ff. 18 Wolff, Verwaltungsrecht I, 1. Auflage 1956, § 13 I b, S. 73. 19 Vgl. Ipsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, 8. Auflage 2012, § 3 Rn. 198, S. 54. 20 Stelkens, Verwaltungsprivatrecht – Zur Privatrechtsbindung der Verwaltung, deren Reichweite und Konsequenzen, 2005, S. 23. 21 Wittern/Baßlsperger, Verwaltungs- und Verwaltungsprozessrecht, 19. Auflage 2007, Rn. 28, S. 14. 22 Schmidt, Allgemeines Verwaltungsrecht, 16. Auflage 2013, Rn. 1009, S. 350. 23 Alpmann, Brockhaus Studienlexikon Recht, 4. Auflage 2014, S. 1255. 24 Vgl. Ipsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, 8. Auflage 2012, § 3 Rn. 198, S. 54; Schmidt, Allgemeines Verwaltungsrecht, 16. Auflage 2013, Rn. 1009, S. 357; Stelkens, Verwaltungsprivatrecht – Zur Privatrechtsbindung der Verwaltung, deren Reichweite und Konsequenzen, 2005, S. 23. 25 So hatte es bereits Wolff formuliert, Verwaltungsrecht I, 1. Auflage 1956, § 13 I b, S. 73. Weiterhin auch vertreten durch Patzelt, Die Abschöpfung des Planungsgewinns in der Bauleitplanung, 2010, S. 50, § 2.3.1 sowie Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Grundrechte – Staatsrecht II, 30. Auflage 2014, § 5 Rn. 186, S. 50, die insoweit eine Wahrnehmung von genuinen Verwaltungsaufgaben verlangen.

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matisch dem Verwaltungsprivatrecht zugeordnet werden. Es müssten vielmehr anhand des Kriteriums der Unmittelbarkeit der Erfüllung der Aufgaben zwei Kategorien gebildet werden: Danach steht auf der einen Seite das „rein fiskalische Handeln“, das nicht dem Verwaltungsprivatrecht unterfallen soll. Im Rahmen der Fiskalverwaltung werden nämlich keine „unmittelbar“ öffentlichen Aufgaben bewältigt, sondern unter Einsatz privatrechtlicher Handlungsformen Mittel beschafft, die zur späteren Erfüllung unmittelbar öffentlicher Aufgaben benötigt werden.26 Beim ersten Unterfall fiskalischen Handelns, den sog. Hilfsgeschäften, tritt die Verwaltung selbst als Kunde auf, beispielsweise beim Erwerb von Büromaterialien zur Deckung des verwaltungseigenen Bedarfs.27 Auch ist es möglich, dass der Staat sich in erwerbswirtschaftlicher Betätigung als Unternehmer oder Aktionär präsentiert, so etwa bei einer Beteiligung an staatseigenen Brauereien28 oder am VW-Konzern.29 Schließlich kann der Staat auch als Eigentümer privatrechtlich wirken, indem er seine eigenen Vermögensgegenstände bewirtschaftet, z. B. in Form der Vermietung von Werbeflächen in oder an Bussen eines kommunalen Betriebs.30 Von solchen typischen Konstellationen der Fiskalverwaltung sei indes das Verwaltungsprivatrecht strikt abzugrenzen, das eben lediglich die Wahrnehmung „unmittelbarer“ öffentlicher Aufgaben in privatrechtlicher Form umfasse. Jenseits des Streits über Mittelbarkeit oder Unmittelbarkeit bzw. über eine Sonderstellung des fiskalischen Handelns besteht aber jedenfalls darüber Konsens, dass es im Verwaltungsprivatrecht um ein Tätigwerden der Verwaltung gehen muss, bei dem Verwaltungsaufgaben mit Hilfe privatrechtlicher Ausgestaltungsmöglichkeiten erfüllt werden. III. Hintergründe Die Betätigungsfelder und die Hintergründe für die Wahl und den Einsatz einer privatrechtlichen Handlungs- oder Organisationsform durch die Verwaltung können mannigfaltig sein, wie schon die bisher erwähnten Beispiele (Verkehrsbetriebe, Wasserwerke und Subventionsgewährung) zeigen. In der Vergangenheit waren es vor allem „die Energieversorgung, die Entwicklung der o¨ ffentlichen Daseinsvorsorge von der Eisenbahn bis zur Post, die kommunale Versorgungswirtschaft, (…) [der öffentliche] Nahverkehr und das Sparkassenwesen [sowie] die kommunale und freie

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Erbguth, Allgemeines Verwaltungsrecht, 7. Auflage 2014, § 29 Rn. 10, S. 465. Maunz/Dürig/Dürig/Scholz, Grundgesetz-Kommentar 71. Ergänzungslieferung 2014, Art. 3 Abs. 1, Rn. 476. 28 Aktuell scheinen noch drei solche Staatbrauereien zu existieren: Die Bayrische Staatsbrauerei Weihenstephan und das Staatliche Hofbräuhaus in München in bayrischer Hand, sowie die baden-württembergische Rothaus Brauerei. 29 Maunz/Dürig/Dürig/Scholz, Grundgesetz-Kommentar 71. Ergänzungslieferung 2014, Art. 3 Abs. 1, Rn. 476. 30 Erbguth, Allgemeines Verwaltungsrecht, 7. Auflage 2014, § 29 Rn. 16, S. 468. 27

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Wohlfahrtspflege“31, die sich dem Verwaltungsprivatrecht geöffnet haben. Im Bereich der modernen Daseinsvorsorgeaufgaben mag man zuvörderst etwa an die Abwasserentsorgung, die Müllabfuhr oder die Schwimmbäder (früher: „Badeanstalten“) denken. Aber auch Stichwörter wie Interventionsmaßnahmen, Subventionierungen und Förderungen, Aufgabenverlagerung und -vergabe (etwa an den TÜV), Beschaffungs- und Erhaltungsmaßnahmen (Ausübung von Vorkaufsrechten), Beteiligungen an privaten Gesellschaften (z. B. im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus), Realakte der Verwaltung (etwa durch Verkehrssicherungsmängel bei öffentlichen Straßen) oder Normativakte (AGB, Tarife) werden im Zusammenhang mit dem Verwaltungsprivatrecht genannt.32 Jedenfalls finden sich die klassischen Anwendungsbereiche des Verwaltungsprivatrechts wohl im Bereich der Leistungsverwaltung wieder, vorrangig im Bereich der Daseinsvorsorge, der Benutzung öffentlicher Einrichtungen sowie der Vergabe von Subventionen.33 Denn die Leistungsverwaltung ist im Vergleich zur Eingriffsverwaltung nicht von einem starren Kompetenzrecht geprägt. Der Befund ist wohl nicht falsch, dass das Verwaltungsprivatrecht aufgrund „der Formenarmut des öffentlichen Vertragsrechts entstanden“34 ist. Das Privatrecht ist in seinen Handlungs- und Organisationsformen vergleichsweise frei und vielfältig, bunt und ungebunden. Bemerkenswert erscheint dabei, dass mit der Anerkennung eines Verwaltungsprivatrechts die Prämisse verbunden ist, dass die Institutionen der öffentlichen Hand („der Staat“) sich überhaupt privatrechtlicher Organisations- und Handlungsformen bedienen dürfen. Man kann hier schwerlich mit dem Prinzip argumentieren: Was nicht verboten ist, das ist erlaubt. Dies kann nicht für die öffentliche Hand gelten, die jedenfalls grundsätzlich einer Ermächtigungsgrundlage für ihr Handeln bedarf, und zwar auch im Bereich der Leistungs-, nicht nur in dem der Eingriffsverwaltung. Offenbar wird das Erfordernis der Ermächtigungsgrundlage aber nur auf das „Ob“ und nicht auf das „Wie“ bezogen. Positivrechtliche Quellen für erlaubtes Handeln der Verwaltung in privatrechtlicher Form lassen sich jedenfalls kaum finden; der Gesetzgeber überlässt offenbar weithin „die Wahl zwischen öffentlichrechtlichen und privatrechtlichen Organisations- und Handlungstechniken“ allein der Verwaltung35, was als prinzipiell zula¨ ssig und als mit dem Grundgesetz vereinbar 31 Handbuch des Staatsrechts/Kirchhof, Band V, 3. Auflage 2007, § 99, Rn. 33; wenn auch die Aufzählung von Eisenbahn und Post heutzutage aufgrund der erfolgten Privatisierungen an Relevanz eingebüßt haben dürfte. 32 von Zezschwitz: Rechtsstaatliche und prozessuale Probleme des Verwaltungsprivatrechts, NJW 1983, 1873 (1874); weitere Abgrenzungen und eine Auflistung der verschiedenen Ansichten bei: Maunz/Dürig/Dürig/Scholz, Grundgesetz-Kommentar, 71. EL 2014, Art. 3 Abs. 1, Rn. 477 ff. 33 Vgl. u. a. Erbguth, Allgemeines Verwaltungsrecht, 7. Auflage 2014, § 29 Rn. 3, S. 458; von Zezschwitz: Rechtsstaatliche und prozessuale Probleme des Verwaltungsprivatrechts, NJW 1983, 1873 (1874). 34 von Zezschwitz: Rechtsstaatliche und prozessuale Probleme des Verwaltungsprivatrechts, NJW 1983, 1873 (1873). 35 von Zezschwitz: Rechtsstaatliche und prozessuale Probleme des Verwaltungsprivatrechts, NJW 1983, 1873 (1873).

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angesehen wird36, wenn es nicht sogar aufgrund fehlender anderweitiger gesetzlicher Grundlagen als zur Lückenschließung erforderlich betrachtet wird.37 Die öffentliche Hand kann hinsichtlich der Organisationsform wie der Handlungsform einen Spielraum ausnutzen. So genießt sie etwa bei der Subventionsgewährung eine Wahlfreiheit hinsichtlich der Art der Ausgestaltung ihrer Rechtsbeziehungen, also des im Rahmen der Zwei-Stufen-Theorie sogenannten „Wie“ ihres Verwaltungshandelns.38 Nachdem über das „Ob“ einer Subventionsgewährung im Wege eines Verwaltungsakts aufgrund einer einschlägigen Ermächtigungsgrundlage entschieden wurde, kann die Ausgestaltung gleichfalls durch Verwaltungsakt, durch öffentlich-rechtlichen Vertrag oder eben durch einen privatrechtlichen Darlehensvertrag erfolgen. Man kann den Gedanken der Wahlfreiheit als in § 54 VwVfG bestenfalls „angelegt“ ansehen39, denn diese Vorschrift bezieht sich ja nur auf das „Gebiet des öffentlichen Rechts“ und auf die Wahl zwischen Verwaltungsakt und öffentlich-rechtlichem Vertrag. Dort heißt es: „Ein Rechtsverhältnis auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts kann durch Vertrag begründet, geändert oder aufgehoben werden (öffentlich-rechtlicher Vertrag), soweit Rechtsvorschriften nicht entgegenstehen. Insbesondere kann die Behörde, anstatt einen Verwaltungsakt zu erlassen, einen öffentlich-rechtlichen Vertrag mit demjenigen schließen, an den sie sonst den Verwaltungsakt richten würde.“ Das Verwaltungsprivatrecht aber wird neben dem Verwaltungsakt und dem öffentlich-rechtlichen Vertrag als „gleichberechtigtes Mitglied“ der möglichen Handlungsformen der Verwaltung betrachtet.40 IV. Überlagerungen Offenbar ist bereits unklar, ob das Verwaltungsprivatrecht als „Mischgebiet“ eher dem öffentlichen Recht oder dem Privatrecht zuzurechnen ist oder nähersteht.41 Für ein Verständnis als eine Art „Sonderprivatrecht“ (ähnlich dem Handelsrecht als dem Sonderprivatrecht der Kaufleute oder – moderner – der Unternehmen, ähnlich auch dem Verbraucher(schutz)recht oder dem Arbeitsrecht) spricht, dass es ja eben „Verwaltungsprivatrecht“ und nicht „Privatverwaltungsrecht“ heißt. Fest steht aber, dass das Privatrecht keine uneingeschränkte, „volle“ Geltung beanspruchen kann, wenn sich die Verwaltung zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben der Privatrechtsform

36 Maunz/Dürig/Ibler, Grundgesetz-Kommentar, 69. Ergänzungslieferung 2013, Art. 86 GG, Rn. 80. 37 Stober/Kluth, Verwaltungsrecht I, 12. Auflage 2007, § 23 Rn. 7, S. 210. 38 Vgl. Erbguth, Allgemeines Verwaltungsrecht, 7. Auflage 2014, § 29 Rn. 8, S. 462. 39 Stober/Kluth, Verwaltungsrecht I, 12. Auflage 2007, § 23 Rn. 28, S. 217. 40 Stelkens, Verwaltungsprivatrecht – Zur Privatrechtsbindung der Verwaltung, deren Reichweite und Konsequenzen, 2005, S. 1190. 41 von Zezschwitz: Rechtsstaatliche und prozessuale Probleme des Verwaltungsprivatrechts, NJW 1983, 1873 (1873), rechnet es dem Privatrecht zu, anzweifelnd Stober/Kluth, Verwaltungsrecht I, 12. Auflage 2007, § 23 Rn. 1, S. 207.

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bedient.42 Der Bundesgerichtshof hat dies dahingehend ausgedrückt, dass der Verwaltung zwar „die privatrechtlichen Rechtsformen, nicht aber die Freiheiten und Möglichkeiten der Privatautonomie“ zur Verfügung stehen.43 Dies wird üblicherweise so verstanden, dass die Verwaltung in der Wahl ihrer Handlungsformen als „bedingt frei“ anzusehen sei, weil sie sich ihrer Pflichtenstellung, die ihr aus der Bindung an die öffentlich-rechtlichen Grundsätze erwächst, nicht durch privatrechtliche Handlungsformen und -weisen entziehen darf. Ausdrücklich ist die Verwaltung auch im Verwaltungsprivatrecht „an die Grundrechte, insbesondere an den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz und an die allgemeinen Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns (Art. 1 III, 20 III GG, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit) gebunden“.44 Zudem ist anerkannt, dass eine Bindungswirkung nicht nur durch die Grundrechte, sondern auch „kraft des Gesetzesvorranges durch alle Verbots- und Gebotsnormen des öffentlichen Rechts“ entstehen kann.45 Diese grundrechtsüberschreitende Bindung der Verwaltung an außerhalb des Privatrechts liegende Grundsätze, wie den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz und die allgemeinen Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns46 bedeutet, dass sie sich im Ergebnis weder von unionsrechtlichen, verfassungsrechtlichen noch von anderen grundlegenden öffentlich-rechtlichen Bindungen befreien darf und kann. Hier muss natürlich das Schlagwort von der „Flucht ins Privatrecht“ erwähnt werden, die es eben nicht in der Weise geben darf und kann, dass dem Bürger anderenfalls der Schutz genommen würde, der ihm bei einer öffentlich-rechtlichen Ausgestaltung der Rechtsbeziehung hätte gewährt werden müssen.47 Um eine solche „Flucht“ bzw. „Schutzlosigkeit“ zu verhindern, werden nach üblichem Verständnis im Verwaltungsprivatrecht die privatrechtlichen Normen durch solche öffentlichrechtlichen Bestimmungen „ergänzt, überlagert und modifiziert“, die die Verwaltung bei einer alternativen Entscheidung zugunsten einer öffentlich-rechtlichen Ausgestaltung hätte beachten müssen.48 Danach stellt sich das Verwaltungsprivatrecht 42

Maunz/Dürig/Dürig/Scholz, Grundgesetz-Kommentar, 71. EL 2014, Art. 3 Abs. 1, Rn. 480. 43 BGH, Urteil vom 05. 04. 1984 – III ZR 12/83, NJW 1983, 197 (200); Bull/Mehde, Allgemeines Verwaltungsrecht mit Verwaltungslehre, 8. Auflage 2009, § 6/4 Rn. 252, S. 115. 44 Schmidt, Allgemeines Verwaltungsrecht, 16. Auflage 2013, Rn. 1038, S. 357; vgl. des Weiteren: BGH, Urteil vom 05. 04. 1984 – III ZR 12/83, NJW 1985, 197 (200); Ipsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, 8. Auflage 2012, § 3 Rn. 199, S. 55. 45 von Zezschwitz: Rechtsstaatliche und prozessuale Probleme des Verwaltungsprivatrechts, NJW 1983, 1873 (1873). 46 Vgl. Erman/Armbrüster, 14. Auflage 2014, Vor § 145 BGB, Rn. 24; Ipsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, 8. Auflage 2012, § 3 Rn. 199, S. 55. 47 Vgl. Schmidt, Allgemeines Verwaltungsrecht, 16. Auflage 2013, Rn. 1034, S. 357, Alpmann, Brockhaus Studienlexikon Recht, 4. Auflage 2014, S. 1255; nicht einmal staatlich beherrschte gemischtwirtschaftliche Betriebe könnten sich dieser unmittelbaren Bindung entziehen, so BVerfG, Urteil vom 22. Februar 2011, BVerfGE 128, 226 – Fraport. 48 BGH, Urteil vom 06. 11. 2009 – V ZR 63/09, NVwZ 2010, 531 (532); Ehlers, Rechtsstaatliche und prozessuale Probleme des Verwaltungsprivatrechts, DVBl 1983, 422 (423).

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als ein Handeln der öffentlichen Hand in privatrechtlicher Organisations- oder Handlungsform dar, bei dem das einschlägige Privatrecht durch öffentlich-rechtliche Grundsätze überlagert wird. V. Privatrechtsbindungen Mit dem Verwaltungsprivatrecht verbindet sich das Bild, dass sich die öffentliche Hand aus dem (vertikalen) Über-Unterordnungsverhältnis zum Bürger herauslöst und sich auf eine gleiche (horizontale) Stufe mit den Privatrechtssubjekten begibt. Dies wird an den verwaltungsprivatrechtlichen Einsatzbereichen der Leistungsverwaltung deutlich, etwa bei der Ausgestaltung des öffentlichen Personennahverkehrs in Privatrechtsform, beim Festsetzen von Abwasserentgelten oder auch bei einer möglichen Staffelung von Kindergartenentgelten nach Elterneinkommen.49 Die öffentliche Hand und der betroffene Bürger sind hier nicht in ein (vertikales) Subordinationsverhältnis eingebunden, sondern begegnen sich im (horizontalen) Gleichordnungsverhältnis. Man darf dabei nicht übersehen, dass die öffentliche Hand im Verwaltungsprivatrecht nicht nur an Freiheit gewinnt, sondern sich zugleich neuen, nämlich privatrechtlichen Bindungen aussetzt. Pointiert gesagt: Die öffentliche Hand unterwirft sich im Verwaltungsprivatrecht neuen privatrechtlichen Bindungen. Denn zu Recht wird von privatrechtlicher Seite etwa besonders betont, dass, „solange kein eigensta¨ ndig reguliertes Verwaltungsprivatrecht fu¨ r das privatrechtliche Ta¨ tigwerden der o¨ ffentlichen Ha¨ nde besteht“, sich die Verwaltung „in diesem Handlungsbereich als Partner des Privatrechtsverkehrs mit den Maßsta¨ ben des § 242 BGB uneingeschra¨ nkt messen lassen muss.“50 Dabei bildet der das gesamte Privatrecht durchwirkende Grundsatz von Treu und Glauben keineswegs die einzige Bindung. Spürbare Beschränkungen können sich beispielsweise – gerade im kommunalen Versorgungsbereich – auch aus einer Kontrolle von Allgemeinen Geschäftsbedingungen nach §§ 305 ff. BGB ergeben.51 Mehr noch: Die Privatrechtsbindungen können bis hinein in eher technische Fragen wie die bürgerlich- oder gesellschaftsrechtlichen Vertretungs- und Zurechnungsregelungen reichen, in denen das Zivilrecht seine eigenen Anforderungen an den „Partner“ Verwaltung stellt. So wird in den §§ 164 ff. BGB festgelegt, wer wen, wie und unter welchen Voraussetzungen bei einem Rechtsgeschäft vertreten darf. Auch für die Zurechnung eines „Vertretenmüssens“ bietet das BGB beispiels49 Vgl.: Bull/Mehde, Allgemeines Verwaltungsrecht mit Verwaltungslehre, 8. Auflage 2009, § 6 Rn. 253, S. 115; Schmidt, Allgemeines Verwaltungsrecht, 16. Auflage 2013, Rn. 1009, S. 350; Wittern/Baßlsperger, Verwaltungs- und Verwaltungsprozessrecht, 19. Auflage 2007, Rn. 28, S. 14; Patzelt, Die Abschöpfung des Planungsgewinns in der Bauleitplanung, 2010, § 2.3.1, S. 50; von Zezschwitz: Rechtsstaatliche und prozessuale Probleme des Verwaltungsprivatrechts, NJW 1983, 1873 (1874). 50 Erman/Böttcher/Hohloch, 14. Auflage 2014, § 242 BGB, Rn. 57. 51 Bull/Mehde, Allgemeines Verwaltungsrecht mit Verwaltungslehre, 8. Auflage 2009, § 6 Rn. 253, S. 116.

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weise mit § 278 BGB oder § 31 BGB Normen zur Verhaltenszurechnung und mit § 164 BGB sogar eine Norm zur Wissenszurechnung an. Die Vorschrift des § 31 BGB findet gemäß § 89 BGB „auf den Fiskus sowie auf Körperschaften, Stiftungen und Anstalten des öffentlichen Rechts entsprechende Anwendung“, kann aber bei einer privatrechtlichen Organisationsform der öffentlichen Hand in einer GmbH oder AG sogar nach allgemeinem Gesellschaftsrecht unmittelbar für die Handlungszurechnung von Organen und Repräsentanten eines körperschaftlich strukturierten Verbands Anwendung finden. Die „Flucht ins Privatrecht“ führt für die Verwaltung nicht in ein Schlaraffenland. Wenn beispielsweise die öffentliche Hand als juristische Person des öffentlichen Rechts oder des Privatrechts (GmbH, AG) organisiert ist und in der privatrechtlichen Handlungsform des Vertrags einem Privatrechtssubjekt gegenübertritt, dann können sich vielfältige privatrechtliche Zurechnungsfragen für das Handeln der natürlichen Personen als Organwalter stellen, deren Beantwortung dann auch noch, wie Ulrich Stelkens gezeigt hat, von der Art und Weise der Einbindung der handelnden natürlichen Person in die Verwaltung abhängt.52 Während das (vertragsrechtliche oder deliktische) Verhalten eines „Organwalters im engeren Sinn“ im Verwaltungsprivatrecht vielfach nach § 89 Abs. 1 i.V.m § 31 BGB oder (wie bei der GmbH oder AG) unmittelbar nach § 31 BGB als eigenes Verhalten des Organträgers zugerechnet werden mag, wird das Verhalten von „Organwaltern im weiteren Sinn“ allenfalls bei deliktischem Verhalten von § 831 Abs. 1 BGB erfasst, wenn sie in die Organisationsform des Verwaltungsträgers eingegliedert, also als Beamte und Angestellte tätig sind. Wenn „Organwalter im weiteren Sinn“ nicht in die Organisationsform eingegliedert agieren, sondern z. B. einer „funktionalen Privatisierung“ entstammen, soll eine Zurechnung von vertraglichem Fehlverhalten nur noch über § 278 BGB erfolgen können.53 Mit anderen Worten: mit der Wahl privatrechtlicher Organisations- und/oder Handlungsformen öffnet die Verwaltung u. U. die berühmte „Büchse der Pandora“. VI. Gleichheitsgrundsatz Viel wichtiger ist für das Verwaltungsprivatrecht aber die Frage, in welcher Weise und mit welchen Folgen denn nun die privatrechtlichen Normen durch die öffentlichrechtlichen Bestimmungen „ergänzt, überlagert und modifiziert“ werden, und in welcher Weise sowie mit welchen Folgen die Verwaltung „den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz und (…) die allgemeinen Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns (Art. 1 III, 20 III GG, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit)“ zu beachten hat.54

52 Vgl. Stelkens, Verwaltungsprivatrecht – Zur Privatrechtsbindung der Verwaltung, deren Reichweite und Konsequenzen, 2005, S. 1185. 53 Vgl. Stelkens, Verwaltungsprivatrecht – Zur Privatrechtsbindung der Verwaltung, deren Reichweite und Konsequenzen, 2005, S. 1185. 54 Schmidt, Allgemeines Verwaltungsrecht, 16. Auflage 2013, Rn. 1038, S. 357; vgl. des Weiteren: BGH, Urteil vom 05. 04. 1984 – III ZR 12/83, NJW 1985, 197 (200); Ipsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, 8. Auflage 2012, § 3 Rn. 199, S. 55.

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Was den immer wieder besonders betonten allgemeinen Gleichheitsgrundsatz im Verwaltungsprivatrecht betrifft, scheint auf den ersten Blick die Vermutung naheliegend, dass er in seinen Kernaussagen kaum mehr eine öffentlich-rechtliche „Ergänzung, Überlagerung oder Modifikation“ des Privatrechts zu bewirken braucht, weil er zum Gutteil, wenn nicht in der Hauptsache ins Privatrecht integriert worden ist, nämlich durch das im Jahr 2006 in Kraft getretene Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), mit dem in Deutschland vier EU-rechtliche Antidiskriminierungsrichtlinien umgesetzt worden sind.55 Man kann von einer Marginalisierungshypothese sprechen: Danach hat das AGG das Verwaltungsprivatrecht weithin marginalisiert. Dies lässt sich an folgendem Fall veranschaulichen: Eine Gemeinde entschließt sich, ihren Verkehrsbetrieb in privater Form zu führen und privatrechtliche Beförderungsverträge abzuschließen. Dabei sollen bestimmte Kunden unterschiedliche Beförderungsentgelte entrichten. Für eine solche differenzierte Preispolitik kann es ganz verschiedene Gründe geben. Liegen diese Gründe etwa an sperrigem Gepäck, das mittransportiert werden soll, so können die Grundrechte hier in der Regel keinen Einfluss auf das Privatrecht und somit auf den Beförderungsvertrag haben, da eine solche Negativ-Auswahl anhand diskriminierungsfreier Kriterien erfolgt. Sollte ein Fahrgast allerdings beispielsweise aufgrund von Merkmalen, die unter Art. 3 Abs. 3 GG zu zählen wären (Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat und Herkunft, Glauben und religiöse oder politische Anschauungen) einen anderen Fahrpreis entrichten müssen, so würden die Grundrechte hier ein solches Vorgehen selbstverständlich verbieten. Betrachtet man dieses Szenario jedoch erneut aus privatrechtlicher Sicht, so lässt sich feststellen, dass auch privaten Verkehrsunternehmen eine solche Ungleichbehandlung heute schon allein aufgrund privatrechtlicher Vorschriften untersagt wäre, weil insoweit das AGG umfangreiche Regelungen aufstellt. Gemäß § 1 AGG (Abschnitt 1, Allgemeiner Teil) ist es Ziel des Gesetzes „Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen“. Angelehnt an § 1 AGG soll § 19 AGG als Ausdruck des zivilrechtlichen Benachteiligungsverbots generell verhindern, dass „willkürlich und ohne sachlichen Grund einzelnen Personen der Zugang zu einer Leistung verwehrt oder erschwert wird, die ansonsten anderen Personen gleichermaßen zur Verfügung“56 stünden. Die Vorschrift des § 19 AGG soll also „fu¨ r Schuldverha¨ ltnisse auf dem Gebiet des Zivilrechts“57 Anti-Diskriminierungsvorkehrungen treffen und insofern den Gedanken des Art. 3 GG auch ins Privatrecht tragen. Insbesondere erfasst § 19 AGG „auch Vertra¨ ge, die ein Verwaltungstra¨ ger in

55 Das AGG dient der Umsetzung von der Antirassismusrichtlinie 2000/43/EG, der Rahmenrichtlinie Beschäftigung 2000/78/EG, der „Gender-Richtlinie“ 2002/73/EG und der Gleichbehandlungsrichtlinie wegen des Geschlechts außerhalb der Arbeitswelt 2004/113/EG, vgl. BT-Drucks 16/1780, S. 1. 56 BT-Drucksache 16/1780, S. 41. 57 Erman/Armbrüster, 14. Auflage 2014, § 19 AGG, Rn. 9.

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privatrechtlicher Form abschließt (Verwaltungsprivatrecht)“58, und kann daher auf unseren Fall angewandt werden. Ohne dass es also einer „öffentlich-rechtlichen Ergänzung, Überlagerung oder Modifikation des Privatrechts“ und einer Schützenhilfe des Grundgesetztes bedarf, verstieße das Verlangen eines höheren Beförderungsentgeltes schon unmittelbar gegen privatrechtliche Vorschriften. Auch ein Rekurs auf eine mittelbare Drittwirkung der Grundrechte über die zivilrechtlichen Generalklauseln wie §§ 138, 242 oder 826 BGB erübrigt sich. VII. Kontokündigungsfall Ein zweiter Fall führt indes bereits zu einer bemerkenswerten Einschränkung der Marginalisierungshypothese: Eine Sparkasse beschließt, die giro-vertragliche Geschäftsbeziehung zu einem bestimmten Kunden, nämlich zum Landesvorstand der NPD zu beenden und wegen des Parteienhintergrundes „das Konto zu kündigen“. Eine Begründung wird dafür zwar nicht genannt, doch liegt der Anlass für die Kündigung in Fernsehberichten über Kreditgeschäfte zwischen Banken/Sparkassen und der NPD. Mit diesem Fall hatte sich der Bundesgerichtshof im Jahr 2003 nach vorinstanzlichen Entscheidungen des Landgerichts und des Oberlandesgerichts Dresden zu befassen.59 Danach war die Kündigung des guthabenbasierten Kontos ohne jede Begründung rechtsunwirksam nach § 134 BGB, wobei das Gericht insbesondere auf die spezielle Position einer Sparkasse Bezug nahm, die als Anstalt des öffentlichen Rechts „Aufgaben der öffentlichen Daseinsvorsorge“ wahrnehme.60 Als solche unterliege sie öffentlich-rechtlichen Bindungen und sei unmittelbar an die Grundrechte gebunden, die die vollziehende Gewalt als unmittelbar geltendes Recht bänden61, wobei ein besonderes Augenmerk auf das Willkürverbot aus Art. 3 Abs. 1 GG zu legen sei. Im Einzelnen führte der Bundesgerichtshof aus, dass eine Sparkasse ihrer Funktion der Gewährleistung der kommunalen Daseinsvorsorge Rechnung tragen und auch vermeintlich rechtsradikalen Parteien die Möglichkeit der Kontoführung eröffnen müsse, solange die Verfassungsfeindlichkeit nicht durch das Bundesverfassungsgericht festgestellt sei. Anderenfalls würde das Parteienprivileg des Art. 21 GG für solche Parteien bedeutungslos62, denen unter anderem die Entgegennahme staatlicher Teilfinanzierungen nach § 19 Abs. 1 Satz 2 PartG nicht mehr möglich sei.

58

Erman/Armbrüster, 14. Auflage 2014, § 19 AGG, Rn. 9. BGH, Urteil vom 11. 3. 2003 – XI ZR 403/01, NJW 2003, 1658; vgl. dazu auch die Pressemitteilung des BGH: http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document. py?Gericht=bgh&Art=en&Datum=2003&Sort=3&Seite=78&nr=25467&linked=pm& Blank=1. 60 BGH, Urteil vom 11. 3. 2003 – XI ZR 403/01, NJW 2003, 1658 (1658). 61 Siehe dazu auch: Stelkens/Bonk/Sachs/Stelkens, Verwaltungsverfahrensgesetz 8. Auflage 2014, § 35 Rn. 122. 62 BGH, Urteil vom 11. 3. 2003 – XI ZR 403/01, NJW 2003, 1658 (1658). 59

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Hier halfen dem BGH also erneut die Grundrechte bei der Formulierung einer Lösung für diesen Sachverhalt des Verwaltungsprivatrechts, bei dem das Privatrecht durch öffentliches Recht ergänzt, überlagert oder modifiziert wird. Lässt sich nicht auch für diesen Fall heute, unter der Geltung des AGG, eine rein privatrechtliche oder privatrechtsinterne Lösung erzielen? Der sachliche Anwendungsbereich des AGG scheint jedenfalls gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 8 AGG eröffnet zu sein, weil „der Zugang zu und die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen“, betroffen sind; nach dem Willen des Gesetzgebers sollen Güter und Dienstleistungen „der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen“, wenn sie öffentlich zum Vertragsschluss angeboten werden.63 Dies würde allerdings bedeuten, dass jeglicher öffentlich angebotene Gegenstand auch unmittelbar der Öffentlichkeit zur Verfügung stünde. Daher wird eine Beschränkung dieser Regelung auf Bereiche vorgeschlagen, „ die unmittelbar durch die Öffentlichkeit in Anspruch genommen werden, weil sie dem Publikumsverkehr gewidmet sind (Straßenbahnen, [Vergnügungs-]Parks, Kinos, Theater), oder auch Leistungen, die typischerweise ohne Ansehen der einzelnen Person erbracht werden (so das Essen im Restaurant, das Konto bei einer Bank)“.64 Auch im Licht dieser restriktiven Auslegung ist die Regelung mithin einschlägig. Nun könnte man denken: Wenn das zivilrechtliche Benachteiligungsverbot des § 19 AGG jede Diskriminierung verhindern will, die „willkürlich und ohne sachlichen Grund“ vorgenommen wird, dann sollte darunter auch die Kontokündigung der Sparkasse gegenüber dem NPD-Landesvorstand fallen, ist darin doch eine Benachteiligung des Sparkassenkunden aufgrund seiner Weltanschauung zu sehen. So einfach ist die Sache allerdings nicht. Denn die Anwendbarkeit des AGG scheitert schlicht daran, dass der persönliche Anwendungsbereich dieses Gesetzes nicht eröffnet ist: Der Schutzbereich des AGG ist nämlich auf natürliche Personen beschränkt, zu denen politische Parteien nicht gehören, gleichviel ob sie als nicht rechtsfähige Vereine oder als (rechtsfähige) eingetragene Vereine des bürgerlichen Rechts organisiert sind. Würde man mithin den im Jahre 1999 spielenden Fall der Kündigung des Girokontos des NPD-Landesvorstands durch die Sparkasse in die Zeit nach Inkrafttreten des AGG verlegen, so würde das neue privatrechtliche Antidiskriminierungsrecht dem NPD-Landesverband als Kläger nichts nützen; es käme nach wie vor auf das Verwaltungsprivatrecht an. VIII. Fallabwandlung Nun ließe sich freilich der Kontokündigungsfall dahingehend abwandeln, dass es sich bei dem gekündigten Kontoinhaber um Herrn N, den NPD-Landesvorsitzenden, als Privatperson und bei dem Girovertrag um dessen Privatkonto gehandelt haben mag. Die begründungslose Kündigung durch die Sparkasse als Anstalt des öffentlichen Rechts (oder inzwischen aufgrund der Änderungen im Bankenorganisations63 64

BT-Drucks. 16/1780, S. 32 u. 42. MüKo-BGB/Thüsing, 6. Auflage 2012, § 2 AGG, Rn. 37.

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recht: als Einpersonen-AG des Landes) kann ja auch in diesem Fall durch Presse- und Fernsehberichte über die politischen Aktivitäten des Herrn N motiviert gewesen sein. Wie ist jetzt zu entscheiden? Hilft jetzt das AGG? Liegt nicht eine Diskriminierung aufgrund der Weltanschauung des Herrn N vor? Selbst jetzt hilft das „reine Privatrecht“ mit seinem AGG nicht weiter. Denn § 19 AGG nimmt ja nicht in toto auf die Diskriminierungsgründe des § 1 AGG Bezug. Nach der ursprünglichen Fassung des § 19 AGG des Gesetzesentwurfs der Bundesregierung sollte zwar noch eine „Benachteiligung wegen eines in § 1 genannten Grundes bei der Begründung, Durchführung und Beendigung zivilrechtlicher Schuldverhältnisse“65 als unzulässig angesehen werden, so dass auch eine Ungleichbehandlung aufgrund einer Weltanschauung „verboten“ gewesen wäre. Die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses präsentierte diesbezüglich jedoch einen Änderungsvorschlag zu § 19 AGG, wonach in dessen Absatz 1 nach dem Wort „Benachteiligung“ die Wörter „wegen eines in § 1 genannten Grundes“ durch die Wörter „aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, wegen des Geschlechts, der Religion, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität“ ersetzt wurden.66 Gerade eine Ungleichbehandlung aufgrund einer Weltanschauung ist damit im Ergebnis von § 19 AGG ausgeklammert worden. Damit erfasst das AGG in seinem § 19 ein Diskriminierungsmerkmal nicht, das es nach den Grundsätzen des Art. 3 Abs. 3 GG aber eigentlich mitumfassen sollte, um Ungleichbehandlungen nicht unnötig zuzulassen. Bemerkenswert sind die Gründe für diese abweichende Empfehlung durch den Rechtsausschuss, der es ausweislich der einschlägigen Bundestags-Drucksache nicht als sachgerecht ansah, einen Schutz für das Merkmal Weltanschauung zu etablieren. So heißt es dort: „Zwar ist der Begriff ,Weltanschauung‘ eng zu verstehen als eine mit der Person des Menschen verbundene Gewissheit über bestimmte Aussagen zum Weltganzen sowie zur Herkunft und zum Ziel menschlichen Lebens, die auf innerweltliche Bezüge beschränkt ist und die allgemeine politische Gesinnung gerade nicht erfasst. Gleichwohl besteht die Gefahr, dass z. B. Anhänger rechtsradikalen Gedankenguts aufgrund der Vorschrift versuchen, sich Zugang zu Geschäften zu verschaffen, die ihnen aus anerkennenswerten Gründen verweigert wurden. Aus diesem Grund soll der zivilrechtliche Schutz des AGG sich nicht auf das Merkmal Weltanschauung beziehen.“67 Offensichtlich sollte mithin insoweit eine Differenzierung bei zivilrechtlichen Massengeschäften von Gesetzes wegen zugelassen werden. In der Tat musste der Bundesgerichtshof im Jahr 2012 in einem (rein privatrechtlichen) Fall, in dem es um die (als zulässig angesehene) Erteilung eines Hausverbots für den Vorsitzenden einer rechtsradikalen Partei ging, feststellen, dass „der Gesetzgeber 65

BT-Drucksache 16/1780, S. 10; Die identische Formulierung fand sich auch bereits im einschlägigen Gesetzentwurf (BT-Drucksache 15/4538), welcher in der 15. Wahlperiode diskutiert worden war, jedoch der Diskontinuität verfiel; ebenso auch in BT-Drucksache 16/297. 66 BT-Drucksache 16/2022, S. 6. 67 BT-Drucksache 16/2022, S. 13 (zu Nummer 4, zu Buchstabe a).

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bewusst davon Abstand genommen hat, das Diskriminierungsverbot auf Benachteiligungen wegen politischer Überzeugungen zu erstrecken“, was auch im Einklang mit den der Regelung zugrunde liegenden Richtlinien stehe.68 In unserer Fallabwandlung hätte der Privatmann und NPD-Landesvorsitzende Herr N mithin nur unter Heranziehung von Grundsätzen des Verwaltungsprivatrechts eine Chance, die Kontokündigung als unwirksam feststellen zu lassen. Und eine unliebsame politische Partei, die eine Stadthalle anmieten möchte, käme mit dem AGG gleichfalls nicht zum Zuge, sondern braucht nach wie vor das Verwaltungsprivatrecht: Bei der Vermietung kann sich eine GmbH, deren Geschäftsanteile sich im Eigentum der Stadt befinden, nicht auf die Privatautonomie berufen, wenn eine gesellschaftlich umstrittene Partei für einen Parteitag eine Stadthalle anmieten möchte.69 IX. Schlussbetrachtung Diese Beispiele zeigen, dass mit dem Inkrafttreten des AGG zwar eine gewisse Marginalisierung des Verwaltungsprivatrechts eingetreten ist, dass aber immer noch ein Anwendungsbereich für die „Ergänzung, Überlagerung und Modifizierung“ des Privatrechts durch das öffentliche Recht übrig bleibt, wenn die öffentliche Hand in privatrechtlicher Organisations- und/oder Handlungsform agiert. Letztlich hat das AGG nur in Teilbereichen zu einer Zurückdrängung, aber keineswegs zu einer Entbehrlichkeit des Verwaltungsprivatrechts geführt. Man bedenke: Das AGG kommt ohnehin nur bei „Massengeschäften“ zur Anwendung, dazu gehört zwar gewiss die (verweigerte) Kontoeröffnung bei einer Bank oder Sparkasse bzw. die Kündigung des Girovertrags. Wie sieht es aber beispielsweise mit der (verweigerten) Vermietung einer kommunalen Stadthalle durch eine StadthallenGmbH an eine Privatperson aus, die dort beispielsweise die Versammlung der (dem Stadtrat unliebsamen) Scientology-Sekte durchführen möchte? Nach der Legaldefinition in § 19 Abs. 1 Nr. 1 Fall 1 AGG ist als Massengescha¨ ft „jedes Rechtsgescha¨ ft“ zu verstehen, „das typischerweise ohne Ansehen der Person zu vergleichbaren Bedingungen in einer Vielzahl von Fa¨ llen zustande kommt“.70 Regelmäßig findet wohl eine Einzelfall-Entscheidung über eine derartige Stadthallen-Vermietung statt. Wohl nur in Ausnahmefällen, in denen etwa eine „automatische“ Vergabe von Sälen oder Räumen einer Stadthalle im Wege einer Online-Buchung nach Verfügbarkeit stattfindet, kann man von einem „Massengeschäft“ sprechen. Vor allem aber hat das AGG selbst durch die Ausklammerung der „Weltanschauung“ in seinem § 19 dafür gesorgt, dass es lediglich eine „gebremste“ Marginalisierung des Verwaltungsprivatrechts zu bewirken vermag. Gewiss ließe sich hinterfragen, ob man bei 68

BGH, Urteil vom 9. 3. 2012 ¢ V ZR 115/11, NJW 2012, 1725 (1725), Rn. 9. BVerwG, Beschluss vom 21. 07. 1989 – 7 B 184/88, NJW 1990, 134 (134 – 136); anders, wenn bereits per Widmungssatzung alle politischen Parteien von der Benutzung ausgeschlossen sind: OVG Bautzen, Beschluss vom 12. 4. 2001 – 3 BS 10/01, NVwZ 2002, 615 (615). 70 Siehe auch: Erman/Armbrüster, 14. Auflage 2014, § 19 AGG, Rn. 14. 69

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der Angehörigkeit zu einer bestimmten Partei überhaupt von einer Frage der „Weltanschauung“ sprechen kann, denn nach dem Bundesverwaltungsgericht versteht sich eine Weltanschauung als „ein subjektiv verbindliches Gedankensystem, das sich mit Fragen nach dem Sinnganzen der Welt und insbesondere des Lebens der Menschen in dieser Welt befasst und das zu sinnentsprechenden Werturteilen führt“.71 Diese Bedenken kommen übrigens auch in den Gesetzesmaterialien zum AGG zum Ausdruck, wonach der Begriff der „Weltanschauung“ „eng zu verstehen“ sein soll und „die allgemeine politische Gesinnung gerade nicht erfasst“.72 Es wäre möglicherweise eher zielführend gewesen, „ausdrücklich politische Überzeugungen vom Merkmal der Weltanschauung auszuschließen, anstatt das Merkmal Weltanschauung [im AGG] ganz zu streichen“.73 Die verabschiedete und nunmehr geltende Gesetzesfassung hat jedenfalls zur Folge, dass auch Gruppierungen, die sich wie die ScientologySekte nicht als politische Organisationen, sondern als Religionsgemeinschaften verstehen, aus dem Schutzbereich des AGG herausfallen können. So sollen es etwa „einige deutsche Banken“ abgelehnt haben, „für Scientology Girokonten einzurichten oder weiterzubetreiben“.74 Der weltanschauliche Charakter von Scientology ist freilich selbst fragwürdig. Bisher hat sich weder das BVerfG noch der EuGH dazu erklärt, ob Scientology als Religionsgemeinschaft anerkannt werden muss, da bislang nicht klar sei, ob die „weltanschaulichen Lehren nur als Vorwand für die Verfolgung wirtschaftlicher Ziele dienen“.75 Jedenfalls hat das AGG nur zu einer (von ihm selbst immanent) „gebremsten“ Marginalisierung des Verwaltungsprivatrechts geführt, so dass immer wieder Anlass bestehen kann, bei einem Verwaltungshandeln in privatrechtlicher Kontraktionsform eine Grundrechtsverletzung zu prüfen und dabei etwa an Art. 3 Abs. 1 GG (Willkürverbot), an Art. 4 Abs. 1 GG (Glaubensfreiheit) oder an Art. 8 GG (Versammlungsfreiheit) zu denken. Selbst im Bereich des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes als der immer wieder betonten Domäne des Verwaltungsprivatrechts ist es keineswegs gelungen, ja war es nicht einmal beabsichtigt, das Verwaltungsprivatrecht mehr als nur „gebremst“ zu marginalisieren.

71

BVerwG, Urteil vom 09. 02. 1992 – 6 C 5/91, NVwZ 1992, 1192 (1192). BT-Drucksache 16/2022, S. 13. 73 So MüKo-BGB/Thüsing, Band I, 6. Auflage 2012, § 19 AGG, Rn. 132. 74 Zuck: Scientology – na und, NJW 1997, 697 (698). 75 Eichen, Erläuterungen zum Deutschen Bundesrecht, SoldGG, Zu §1, Abschnitt II Nummer 3, Rn. 13; BAG, Beschluss vom 22. 03. 1995 – 5 AZB 21/94, NJW 1996, 143 (146); BeckOK BGB/Fuchs, Edition 33, 01. 09. 2014, § 1 AGG Rn. 12. 72

Shared-Service-Center und Ressortprinzip Von Ulli Meyer1, Saarbrücken Verwaltungsrechtliche wie verwaltungspraktische Fragen haben den Jubilar stets interessiert. Das sogenannte und damals „Neue Steuerungsmodell“ und seine Bedeutung für die Kommunalverwaltung war vor einigen Jahren daher ein Thema, das uns beide umtrieb. In dankbarer Erinnerung an diese intensive Zeit und die Bereitschaft des Jubilars, auch über dieses Thema hinaus mit Rat und für einen wissenschaftlichen Gedankenaustausch zur Verfügung zu stehen, ist der nachfolgende Beitrag zu einer derzeit noch neuen Entwicklung und ihrer Vereinbarkeit mit dem verfassungsrechtlich vorgegebenen Ressortprinzip dem Jubilar gewidmet. I. Verschlankung der Verwaltung durch Shared-Service-Center (SSC) Bundesweit sind Shared-Service-Center (SSC) in aller Munde. Sie gelten als neues Mittel, um interne Verwaltungsabläufe zu verschlanken und kostengünstiger zu erbringen. Der Grundgedanke eines SSC bei Landesverwaltungen ist klar: Die Ministerien und nachgeordneten Behörden sollen gemeinschaftlich technische und einfache administrative Serviceaufgaben aus den Bereichen IT, Personal, Haushalt und Organisation auf ein Dienstleistungszentrum übertragen. Die Sachentscheidung selbst soll beim zuständigen Ministerium verbleiben. Zentralisiert werden soll die IT-technische und verwaltungstechnische Abwicklung von Sachentscheidungen der Ressorts; grundlegende Fragen der Stellenbewirtschaftung, wie Einstellung, Abordnung, Versetzung sowie die Begründung und Beendigung von Dienst- und Arbeitsverhältnissen sollen weiterhin beim Fachressort angesiedelt sein. Die IT soll hinsichtlich ressortspezifischer Anwendungen weiterentwickelt werden, strategische Planungen und Steuerungen, die Erbringung der Rechenleistung selbst sowie die Anwendungsbetreuung könnte zentralisiert werden. Für den Bereich des Haushaltes würde dies ebenfalls bedeuten, dass die technische Abwicklung von Buchungen zentralisiert wird, das Ressort bewirtschaftet die Haushaltsstellen, stellt die Haushaltsanmeldungen an den Finanzminister auf und vollzieht den Haushalt (Zuordnung von Ausgabe und Ausgabentitel).

1 Der Verfasser ist Leiter der Abteilung „Organisation, Personal und Haushalt“ der Staatskanzlei des Saarlandes. Der Aufsatz gibt seine persönliche Auffassung wieder. Ein besonderer Dank gilt Herrn Christian Georg Wilhelm für seine Unterstützung.

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Angesichts dieser primär ökonomisch orientierten Logik ist zu fragen, inwiefern eine solche Zentralisierung von bisher gängig als Ressortaufgaben angesehenen Aufgaben der Zentralabteilungen nach der saarländischen Landesverfassung möglich ist, insbesondere ob dies mit dem Ressortprinzip nach Artikel 91 Abs. 2 der Landesverfassung des Saarlandes (SLVerf) vereinbar ist. II. Das Ressortprinzip und seine Reichweite nach der Saarländischen Verfassung 1. Ressortprinzip und politische Verantwortlichkeit Das in Art. 91 SLVerf verankerte Ressortprinzip fand sich bereits im wortgleichen Art. 93 Abs. 2 der Verfassung des Saarlandes von 1947. Die Verfassungskommission hat sich damals an Art. 56 WRV orientiert.2 Im Rahmen der Verfassungsreform im Jahre 1956, die aufgrund des Beitritts des Saargebiets zur Bundesrepublik Deutschland erfolgte, nahm der Verfassungsgeber die in den anderen Bundesländern vorhandenen Verfassungsnormen zum Ressortprinzip und insbesondere auch den Art. 65 S. 2 GG nochmals in den Blick.3 Anzunehmen ist deswegen, dass der saarländische Verfassungsgeber dem Ressortprinzip einen ähnlichen Sinngehalt beimessen will, wie dies der parlamentarische Rat und die Verfassungsgeber der anderen Flächenländer getan haben.4 Der sehr ähnliche Wortlaut zu Art. 65 S.2 GG und die geschichtliche Herkunft lassen damit darauf schließen, dass Art. 91 Abs. 2 SLVerf weitestgehend wie Art. 65 S.2 GG auszulegen ist. Das Ressortprinzip gewährt dem einzelnen Minister innerhalb der Regierung einen verfassungsrechtlich garantierten gegenständlich abgrenzbaren Tätigkeitsbereich mit bestimmten Sachzuständigkeiten5 Die Festlegung des Geschäftsbereichs an sich erfolgt durch die Ministerpräsidentin aufgrund ihrer Geschäftsverteilungskompetenz nach Art. 91 Abs. 1 S. 2 SLVerf. Der Rahmen und die Leitlinien des Ressorts werden ebenfalls durch die Ministerpräsidentin aufgrund ihrer Richtlinienkompetenz gemäß Art. 91 Abs. 1 SLVerf festgelegt. Die Richtlinienkompetenz ist damit zugleich Schranke des Ressortprinzips6. Sie gewährt der Regierungschefin unter anderem die Möglichkeit gegenüber den Ministern auch in einzelnen, die Richtlinien ihrer Politik betreffenden Fragen, Anweisungen zu treffen7 und damit ihre Staatsleitungsbefugnis tatsächlich auszuüben. Ein unmittelbares Hineinregieren in das Ministerium, etwa durch Weisungserteilung gegenüber

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Schranil, Die Verfassung des Saarlandes, 1952, S. 126. Fischer, Jbl. 1967, 157 (157). 4 Fischer, Jbl. 1967, 157 (157). 5 Schenke, in: Bonner Kommentar Grundgesetz, 108. Lieferung Oktober 2003, Art. 65 Rn. 83. 6 Koch, Das Ressortprinzip 2005, S. 260. 7 Mager, in: Münch/Kunig Grundgesetz Kommentar, 6. Auflage 2012, Art. 65 Rn. 11. 3

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den Beamten des jeweiligen Ministeriums, ermöglicht sie indes nicht.8 Dem Ressortminister kommt vielmehr das alleinige Recht der Ressortleitung zu. Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des Art. 91 Abs.2 SLVerf, der von „selbständigem Leiten“ spricht. Der Minister steht an der Spitze der Weisungspyramide gegenüber sämtlichen Beschäftigten seines Ministeriums und den nachgeordneten Behörden.9 Dieses monokratisch-hierarchische System ermöglicht unter anderem eine Abgrenzung von politischen Verantwortlichkeiten innerhalb des Kollegiums der Landesregierung. Die politische Kontrolle der Regierungsarbeit durch das Parlament wird hierdurch erst möglich.10 Anders als bei einer Entscheidung eines Kollegiums, die aufgrund ihrer kollektiven Verantwortung insbesondere bei geheimer Abstimmung schnell zu einer faktischen Verantwortungslosigkeit führt, findet sich in diesem monokratischen System keine Möglichkeit, sich hinter bzw. in der Mehrheit zu „verstecken“. Der einzelne Minister kann für Fehler in seinem Zuständigkeitsbereich unmittelbar politisch verantwortlich gemacht werden.11 Die Verfassungskommission von 1947 hatte dieses Ziel in dem heute nicht mehr mit diesem Inhalt vorhandenen Art. 93 Abs. 3 SLVerf ausdrücklich festgeschrieben. Der Landesregierung wurde gegenüber dem Landtag ausdrücklich die Gesamtverantwortung und jedem Minister ausdrücklich die Einzelverantwortung für seinen Geschäftsbereich zugewiesen. Die gesetzessystematische Nähe zur damals in Art. 93 Abs. 2 a.F. SLVerf geregelten Ressortkompetenz zeigt den Zusammenhang, den die Verfassungskommission zwischen der politischen Verantwortung und der Ressortkompetenz der Minister zum Ausdruck bringen wollte. Art. 93 Abs. 3 a.F. wurde in der Verfassungsreform aus dem Jahre 1979 nur deswegen nicht in den neuen Art. 91 SLVerf übernommen, weil man ihn angesichts der klaren Kompetenzverteilung aus Art. 91 Abs. 1 und Abs. 2 SLVerf für nunmehr entbehrlich erachtete.12 Ressortkompetenz und politische Verantwortung müssen folglich stets in Zusammenhang gesehen werden. Je mehr rechtlichen Einfluss der einzelne Ressortminister hat, desto mehr politische Verantwortung hat er zu tragen. Auf dieser Grundlage beruhend muss die verfassungsrechtlich eingeräumte Verantwortung des einzelnen Ressortministers gegenüber dem Landtag auch Einfluss auf die Reichweite seiner Ressortkompetenz haben. Die Verfassung des Saarlandes sieht die Landesminister in einer relativ hohen Verantwortung gegenüber dem Parlament. Dies zeigt sich zunächst an Art. 88 Abs. 2 SLVerf, der im Gegensatz zu Art. 67 GG ein Misstrauensvotum des Parlaments gegenüber einzelnen Ministern und nicht wie im Bund nur gegenüber dem Regierungschef zulässt. Diese unmittelbare politische Verantwortung der Landesminister gegenüber 8 Hermes, in: Dreier GG Kommentar, 2. Auflage 2006, Art. 65 Rn. 31; Schröder, in: Mangoldt/Klein/Starck Kommentar zum GG, 6. Auflage 2010, Art. 65 Rn. 30; Mager (Fn. 7), Art. 65 Rn. 11. 9 Herzog, in: Maunz/Dürig GG-Kommentar, 69. Ergänzungslieferung 2013, Rn. 58 f. 10 Koch (Fn. 6). S.287. 11 Koch (Fn. 6), S.287. 12 Stelkens, in: Wendt/Rixecker Verfassung des Saarlandes Kommentar, 2009, Art. 91 Rn. 1.

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dem Landtag führt zu einer größeren demokratischen Legitimation der Landesminister. Dies zeigt auch Art. 87 Abs. 1 S.2 SLVerf, der sowohl für die Ernennung als auch für die Entlassung der Landesminister zusätzlich zur Entlassungsentscheidung der Ministerpräsidentin die Zustimmung des Landtages fordert. Die verfassungsrechtlich relativ starke Stellung der saarländischen Landesminister muss mithin zu einem relativ weiten Wirkungsbereich der Ressortkompetenz der Minister in der Verfassung des Saarlandes führen. 2. Einschränkungen des Ressortprinzips - Personal Die durch Art. 91 Abs. 2 SLVerf dem einzelnen Minister eingeräumte grundsätzlich weite Leitungskompetenz, die praktisch alle organisatorischen Entscheidungen umfasst,13 muss ihre Grenze dort finden, wo andere speziellere Verfassungsnormen die Sachzuständigkeit einem anderen Verfassungsorgan, etwa der Landesregierung oder dem Landtag, zuweisen.14 Dies betrifft etwa die Ernennung der Beamten, die nach Art. 92 SLVerf grundsätzlich durch die Landesregierung zu ernennen sind. Gerade im Personalbereich wird somit die Ressorthoheit nur eingeschränkt gewährleistet. Die Entscheidung, welche Beamten ernannt werden, trifft – in der verfassungsrechtlichen Grundsatzsituation – nicht das Fachressort, sondern die Landesregierung als Kollegialorgan. Damit kann die als Teil des Ressortprinzips qualifizierte Personalhoheit des Landesministers somit nach der saarländischen Verfassung lediglich die Auswahl, Anstellung, Beförderung und Entlassung der Beschäftigten im öffentlichen Dienst umfassen. Bei Beamten sind solche Personalentscheidungen der Landesminister hingegen eingeschränkt.15 - Organisation Eine Durchbrechung erfährt das Ressortprinzip weiterhin durch Art. 112 SLVerf. Diese Norm, die sich mit gleichem Wortlaut bereits in Art. 116 a.F. der Verfassung von 1947 befand, sieht vor, dass die Organisation der allgemeinen Staatsverwaltung und die Regelungen der Zuständigkeiten durch Gesetz zu erfolgen haben. Die Einrichtung der Behörde im Einzelnen obliegt nach Art. 112 S.2 SLVerf dann dem Kollegialorgan Landesregierung. Der Wortlaut „allgemeine Staatsverwaltung“ verdeutlicht bereits, dass die Regelung nicht die Organisation der ministeriellen Ebene erfassen will. Dies wird auch durch die systematische Stellung der Vorschrift im 7. Abschnitt der Verfassung mit der Überschrift „Verwaltung und Beamte“ deutlich.16 Letztlich würde die Geschäftsverteilungskompetenz des Art. 91 Abs. 1 S. 2 SLVerf 13

Vgl. Herzog (Fn. 9), Art. 65 Rn. 60. Vgl. Schröder (Fn. 8), Art. 65 Rn. 28. 15 Zur Personalhoheit auf Bundesebene siehe: Schenke (Fn. 5), Art. 65 Rn. 90; Achterberg, in: Isensee/Kirchhof Handbuch des Staatsrechts, 1987, Band II § 52 Rn. 35. 16 Böhmer, in: Wendt/Rixecker, Verfassung des Saarlandes, Saarbrücken, 2009, Art. 112 Rn. 4. 14

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ins Leere laufen, würde man Art. 112 SLVerf auch für die Ebene der Landesregierung anwenden. Eine solche Auslegung würde zu einer Widersprüchlichkeit der Regelungen der Verfassung führen und kann deswegen nicht dem Willen des Verfassungsgebers entsprechen. Die Enquete-Kommission für Verfassungsfragen hielt eine Klarstellung, dass Art. 112 SLVerf die Regelung des Art. 91 Abs. 1 S. 2 SLVerf unberührt lasse, für nicht erforderlich.17 Die Ressortkompetenz der Minister erfasst damit nicht die Organisation der unterhalb der Ministerialebene angesiedelten Landesverwaltungen, da diese Kompetenz dem Landtag und der Landesregierung durch Art. 112 SLVerf zugewiesen ist. Von Art. 112 S.1 SLVerf speziell umfasst ist die Errichtung, Änderung und Auflösung von Behörden.18 Unter der in die Kompetenz der Landesregierung fallende Errichtung im Einzelnen gemäß Art. 112 S.2 SLVerf versteht man hingegen die Konkretisierung der Behörde – dazu gehören unter anderem die Bestimmung des Sitzes der Behörde, die Entscheidung über die Errichtung von Außenstellen und die Regelung der Behördenstruktur sowie der interne Geschäftsverteilungsplan und vorbehaltlich des Haushaltsrechts – die Ausstattung der einzelnen Behörde mit Personal und Sachmitteln, die sie benötigt um die ihr zugewiesen Aufgaben zu erledigen.19 Die in der Literatur zum Grundgesetz dargestellte Organisationshoheit, die als Annexkompetenz zur Ressortkompetenz besteht, kann daher auf der Ebene des Saarlandes lediglich das Recht des Ministers umfassen, sein Ministerium in Abteilungen und Referate zu gliedern, diese auszugestalten und aufzulösen, sofern keine gesetzliche Grundlage, z. B. durch das Landesorganisationsgesetz, besteht.20 Im Vergleich zum Grundgesetz ist damit die Reichweite des Ressortwesens bezüglich der Organisationsrechte des Geschäftsbereichs geringer. III. Beeinträchtigung des Ressortprinzips durch die Verwaltungsumstrukturierungen Die Errichtung einer SSC Behörde als allgemeine Verwaltungsbehörde unter der Fachaufsicht eines Ministeriums als solche verletzt das Ressortprinzip der Minister nicht. Diese Organisationskompetenzen sind nach Art. 112 SLVerf vielmehr ausdrücklich dem Landtag und der Landesregierung zugewiesen. Art. 112 SLVerf verdrängt die Ressortkompetenz als speziellere Verfassungsnorm auch für den geplanten Fall, dass sämtliche Serviceaufgaben der Mittel- und Unterbehörden auf eine einheitliche SSC Behörde übertragen werden. Dieser Vorgang der Verwaltungsumgestaltung führt lediglich zu einer Änderung der Zuständigkeiten auf der Ebene der all17

Böhmer (Fn. 16), Art. 112 Rn. 5. Böhmer (Fn. 16), Art. 112 Rn. 12. 19 Böhmer (Fn. 16), Art. 112 Rn. 17. 20 Zur Organisationshoheit auf Bundesebene Schenke (Fn. 5), Art. 65 Rn. 89; Brockmeyer, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein Kommentar zum Grundgesetz, 11. Auflage, 2008, Art. 65 Rn. 19; Achterberg (Fn. 15), § 52 Rn. 35. 18

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gemeinen Staatsverwaltung, die gemäß Art. 112 S. 1 SLVerf durch Gesetz zu erfolgen hat, wobei es dem Landesgesetzgeber offen steht, diese Entscheidungskompetenz durch eine Verordnungsermächtigung auf die Landesregierung zu übertragen.21 Die Versetzung von Beamten und sonstigen Beschäftigten des öffentlichen Dienstes von den nachgeordneten Behörden in die SSC Behörden führt zu einer Ausstattung der SSC Behörde mit Personalmitteln, weshalb dieser Vorgang als Einrichten der Behörde im Einzelnen nach Art. 112 S. 2 SLVerf verstanden werden muss. Allerdings betrifft die Überleitung von Aufgaben einer obersten Landesbehörde in eine Behörde, die nicht der Fachaufsicht des eigenen Ministeriums unterliegt, die Ressortkompetenz des übertragenden Ministers. Dies beruht darauf, dass der Ressortminister nach der Übertragung keine Weisungsbefugnis gegenüber den Beschäftigten der SSC Behörde haben wird, die nunmehr die Aufgaben auch seines Ministeriums erfüllen, weswegen er seine ihm durch Art. 91 Abs. 2 SLVerf eingeräumte Ressortleitungsbefugnis nicht mehr in vollem Umfang ausüben kann. Die Ressortkompetenz ist freilich dann nicht tangiert, wenn die Fachaufsicht über die jeweilige SSC Behörde bei dem die Aufgabe übertragenden Ministerium im Hinblick auf die übertragenen Aufgaben verbleibt. IV. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung der Einschränkung des Ressortprinzips Dem Minister ist es grundsätzlich im Rahmen seiner Ressortkompetenz möglich, einzelne Aufgaben zu delegieren. Diese Gestaltungsmöglichkeit des Ressortministers muss freilich dort ihre Grenze finden, wo das Ressortprinzip und die Geschäftsverteilung als solche ausgehöhlt werden würden. Dem Wortlaut des Art. 91 Abs. 2 SLVerf „selbstständiges Leiten“ kann nicht nur eine Befugnis zur Leitung des Ressorts durch den Minister entnommen werden, ihm ist gerade auch eine Pflicht zur Ressortleitung zu entnehmen.22 Für ein solches Verständnis des Art. 91 Abs. 2 SLVerf spricht zudem der bereits dargestellte Zweck des Verfassungsgebers, mit dem Ressortprinzip die Zuweisung politischer Verantwortung gegenüber dem Parlament zu ermöglichen. Würde den Minister keine Verpflichtung zur Leitung des Ressorts treffen, könnte er auch nicht für Fehlverhalten durch „Nichtstun“ politisch verantwortlich gemacht werden. Im Widerspruch zu dieser Leitungspflicht würde jedoch eine Befugnis stehen, sämtliche Aufgaben in unbeschränktem Umfang auf andere delegieren zu können, ohne dabei eine Kontrollmöglichkeit zu behalten. Die Grenze der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit muss zumindest dann erreicht sein, wenn ein faktisch selbstständiges „Leiten“ des Ministeriums nach der Übertragung der Aufgabe für den Minister nicht mehr möglich ist. Ein solcher Fall ist aber nur denkbar, wenn wesentliche Aufgaben übertragen werden. Nur der Minister, der wesentliche Aufgaben und damit vor allem Entscheidungsbefugnisse aus der Hand 21

Böhmer (Fn. 16), Art. 112 Rn. 13. Vgl. auch Stern, das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, 2. Auflage 1984, § 22 III 7. 22

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gibt, verliert die Möglichkeit der tatsächlichen Einflussnahme auf seinen Verantwortungsbereich und begibt sich damit in eine Situation, in der er seine Leitungspflicht aus Art. 91 Abs. 2 SLVerf nicht mehr ausüben kann. Die Übertragung einer reinen Hilfsaufgabe kann in der Regel schon mangels rechtlicher und politischer Erheblichkeit nicht zu einem Verlust von Leitungsmöglichkeiten des Ministers führen.23 Von einer unwesentlichen Hilfsaufgabe wird man damit zumindest solange sprechen können, wie solange die Letztentscheidungsbefugnis in der Sache, z. B. welcher Beamte ernannt wird oder welche Haushaltsstelle für eine Ausgabe verwendet wird, beim Ressort verbleibt. Diese Einordnung der Aufgaben führt zu einer Sicherung des Kernbereichs an Überwachungs- und Entscheidungskompetenzen für den Ressortminister. Dieser Kernbereich an Kompetenzen muss auch als Spiegelbild zur politischen Verantwortlichkeit des Ministers gegenüber dem Landtag erhalten bleiben. Ebenfalls unzulässig wäre eine in rechtlicher Hinsicht endgültige und nicht rückholbare Übertragung einer Aufgabe, denn hierdurch würde das Ressortprinzip ebenfalls ausgehöhlt. Dem Minister muss es zumindest rechtlich möglich bleiben, die Kompetenzen wieder an sich zu ziehen. Insbesondere für Amtsnachfolger ist die Möglichkeit der Rücknahme von erheblicher Bedeutung. Die Ressortkompetenz kann nur mit dem Willen des jeweiligen Ressortministers eingeschränkt werden, daher muss dem Amtsnachfolger auch die Wiederherstellung der vollen Ressortkompetenz durch die Rücknahme der Aufgaben stets möglich bleiben. V. Zwischenergebnis Das Ressortprinzip nach Art. 91 Abs. 2 SLVerf wird nur in dem Fall tangiert, dass Aufgaben aus den obersten Landesbehörden auf eine SSC Behörde übertragen werden und dabei auch die Fachaufsicht über die Aufgabenwahrnehmung der SSC Behörde auf ein anderes Ministerium übergehen soll. Selbst in diesem Fall ist die geplante Maßnahme mit dem Ressortprinzip jedoch dann vereinbar, wenn die Übertragung von lediglich technischen und einfachen administrativen und damit nicht wesentlichen Aufgaben durch einen nicht endgültigen Rechtsakt des Ressortministers selbst erfolgt. VI. Sonderproblematik der Übertragung von Serviceaufgaben aus der Justizverwaltung Art. 92 GG sichert die rechtsprechende Gewalt durch Richter, während Art. 97 GG die Unabhängigkeit der Richter gewährleistet. Diese Normen sind damit Ausprägungen des allgemeinen Gewaltenteilungsprinzips nach Art. 20 Abs.3 GG.24 Die ordnungsgemäße Ausübung der rechtsprechenden Gewalt durch Richter und Gerichte bedingt indes eine Verwaltungsorganisation, die durch die Justizver23

Zum gleichen Ergebnis kommen auch Maier/Gebele, DVP 2007, 270 (275). Morgenthaler, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 2. Auflage 2013. Art. 92 Rn. 1. 24

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waltung ausgeübt wird. Die Justizverwaltung als Teil der Exekutive übt damit lediglich eine Ermöglichungs- und Hilfsfunktion zur Gewährleistung der Funktionsfähigkeit der Dritten Gewalt und zur richterlichen Unabhängigkeit aus.25 Die Justizverwaltung weist daher im Gegensatz zur sonstigen Verwaltung eine Sonderstellung auf. Traditionell wird die Justizverwaltung vom Justizministerium ausgeübt, wobei man darunter das Ministerium versteht, das typischerweise für die Angelegenheiten der Rechtspflege zuständig ist.26 Einer Ansicht in der Literatur zufolge27 verbietet das Ressortprinzip des Justizministers von Verfassung wegen für die Justiz eine Zentralisierung der IT-Planungs-, Gestaltungs- und Durchführungsverantwortung bei einer ressortfremden Einrichtung. Der Justizminister könne seine umfassende Verantwortung für die Funktionsfähigkeit der Rechtsprechung, die er durch seine Unterstützungs- und Hilfsfunktion zu gewährleisten hat, aufgrund seiner Ressortleistungsverantwortung in diesem Bereich nicht abgeben. Die EDV-Ausstattung und Organisation in der Justiz nehme für die Effektivität der Rechtschutzgewähr eine zu wesentliche Funktion ein.28 Dieser Ansicht ist zumindest nicht vollumfänglich zuzustimmen. Sicherlich ist es zutreffend, dass die Ressortkompetenz des Justizministers diesen dazu verpflichtet, durch Ausübung seiner umfassenden Sachentscheidungsbefugnis eine unabhängige und funktionsfähige Rechtsprechung zu gewährleisten. Es kann daraus allein aber nicht der Schluss gezogen werden, dass schon die Übertragung von Serviceaufgaben aus dem IT-Bereich im Allgemeinen zu einer Leitungspflichtverletzung des Justizministers führen. Vielmehr muss die geplante Aufgabenübertragung konkret in den Blick genommen werden. Es ist auch in diesem Bereich an dem oben dargestellten Grundsatz festzuhalten und danach zu fragen, ob die konkreten zu übertragenden Aufgaben als so wesentlich zu qualifizieren sind, dass sie die Leitungspflicht des Justizministers auch im Hinblick auf seine verfassungsrechtliche Verpflichtung zur Gewährleistung einer funktionsfähigen und unabhängigen Rechtsprechung faktisch aushöhlen. Wird aber durch die konkrete Ausgestaltung der Verwaltungsstruktur in das SSC sichergestellt, dass die richterliche Unabhängigkeit durch Gewährleistung des im Justizbereich besonders sensiblen Datenschutzes gewährleistet ist, und dass auch ein Funktionieren der IT der Justiz gegeben ist, so muss die Übertragung von Serviceaufgaben aus diesem Bereich auch verfassungsrechtlich zulässig sein. Eine ähnliche Ansicht vertritt auch der BGH, der in einem Urteil als oberstes Richterdienstgericht zu der Frage, ob die Übertragung von technischen Serviceaufgaben der IT im Rechtsprechungsbereich in ein SSC im Allgemeinen die richterliche Unabhängigkeit beeinträchtigen kann, befunden hat, dass dies auch dann nicht der Fall ist, wenn das SSC nicht der unmittelbaren Fachaufsicht des Justizressorts unter-

25

Vgl. auch Berlit, JurPC Web-Dok. 201/2009, Abs. 3. Vgl. NWVerfGH, NJW 1999, 1243. 27 Vgl. Berlit, JurPC Web-Dok. 201/2009. 28 Berlit, JurPC Web-Dok. 201/2009, Abs. 24 ff. 26

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steht.29 Eine theoretische technische Zugriffsmöglichkeit der SSC Mitarbeiter auf sensible richterliche Dokumente sei allein nicht ausreichend, um eine Verletzung der richterlichen Unabhängigkeit annehmen zu können. Die richterliche Arbeitsweise werde nicht beeinträchtigt. Jedenfalls sei dies solange der Fall, wie die Überlassung der Verwaltung des EDV-Netzes an die SSC Behörde zum Schutz vor einer unzulässigen inhaltlichen Kontrolle richterlicher Dokumente durch weitreichende Auflagen gesichert wird. Diese Auflagen sehen etwa vor, dass Mitarbeiter der SSC Behörde nur dann auf richterliche Dokumente inhaltlich Zugriff nehmen dürfen, wenn dies z. B. bei Reparaturen oder Neuinstallationen für das EDV-Netz betriebsnotwendig ist. Richterliche Dokumente dürfen ferner weder an den Minister der Justiz, noch an den Finanzminister als dort zuständige Fachaufsichtsbehörde, noch an sonstige Dritte weitergegeben werden. Außerdem ist die Weitergabe sogenannter Metadaten richterlicher Dokumente an Unbefugte unzulässig. Die Gewährleistung eines angemessenen Datensicherheitsstandards durch die Schaffung einer ausdifferenzierten Rechtezugriffsverwaltung stellt somit die richterliche Unabhängigkeit hinreichend sicher. Das Funktionieren der IT der Justiz kann durch die Schaffung von Service-Level-Vereinbarungen sichergestellt werden, indem etwa bestimmte Reaktionszeiten, Leistungsumfang und Schnelligkeit der Bearbeitung durch die SSC zugesichert werden. Wenn durch solche Vorgaben die besonderen Erfordernisse, die Art. 92 und Art. 97 GG von der Justizverwaltung fordern, gewährleistet werden können, besteht kein Grund, dem Justizministerium eine freiwillige Übertragung der Aufgaben mit dem Argument zu verweigern, das Ressortprinzip sei verletzt. Eine verfassungsrechtlich zulässige Gestaltung könnte auch in der Weise vorgenommen werden, dass die Fachaufsicht über die SSC Behörde nach der Übertragung, zumindest was den Bereich der spezifischen Aufgabenübertragung aus dem IT-Bereich der Justizverwaltung angeht, bei dem Justizressort verbleibt. Die letzte Gestaltungsmöglichkeit würde das Ressortprinzip des Justizministers schon nicht tangieren und stellt daher die verfassungsrechtlich sicherste Lösung dar. Eine ähnliche Verwaltungskonstruktion sieht das Land Hessen vor. Durch § 1 DV-VerbundG wurde die Hessische Zentrale für Datenverarbeitung als zentraler Dienstleister für die Informations- und Kommunikationstechnik für alle Behörden, Gerichte und sonstigen öffentlichen Stellen des Landes Hessen eingerichtet. Dieser Landesbetrieb untersteht grundsätzlich der Fachaufsicht des Finanzministeriums. Lediglich soweit Aufgaben der Justiz übernommen werden, untersteht er der Fachaufsicht des Justizministeriums. VII. Tatsächliche Umsetzungsmöglichkeiten Im Saarland wurde durch das Gesetz zur Errichtung des Landesamtes für Zentrale Dienste (LZDG) bereits eine SSC Behörde eingerichtet. § 2 Abs. 2 und Abs. 3 LZDG sehen Verordnungsermächtigungen für die obersten Landesbehörden vor, nach denen 29

BGH, NJOZ 2012, 787.

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im Einvernehmen mit dem Ministerium der Finanzen weitere Aufgaben auf das Landesamt für Zentrale Dienste übertragen werden können. Im Rahmen dieser Verordnungsermächtigungen wäre es denkbar, sämtliche Serviceaufgaben nachgeordneter Behörden des Landes als auch solche der obersten Landesbehörden auf das Landesamt für Zentrale Dienste zu übertragen. Diese Gestaltung wahrt sowohl die verfassungsrechtlichen Zuständigkeiten des Gesetzgebers nach Art. 112 Abs.1 SLVerf, da dieser seine Gesetzgebungskompetenz bereits durch den Erlass der Verordnungsermächtigung ausgeübt hat, als auch die Ressortkompetenz des Ministers, da dieser durch Erlass der Verordnung einen eigenen Rechtsakt zur Übertragung der Serviceaufgaben vornimmt. § 3 Abs. 1 LZDG räumt dem Ministerium der Finanzen die Fach- und Dienstaufsicht über das Landesamt für Zentrale Dienste ein, soweit nichts anderes bestimmt ist. VIII. Fazit Es bleibt festzuhalten, dass die Übertragung von Serviceaufgaben auf eine zentrale SSC Behörde grundsätzlich mit dem Ressortprinzip nach Art. 91 Abs. 2 SLVerf vereinbar ist. Betroffen ist die Ressortkompetenz lediglich dann, wenn Aufgaben der obersten Landesbehörden auf eine SSC Behörde übertragen werden und die SSC Behörde nicht der Fachaufsicht des übertragenden Ressorts untersteht. Eine solche Übertragung ist jedoch auch dann mit dem Ressortprinzip vereinbar, soweit die Übertragung durch einen nicht endgültigen Rechtsakt des Ressortministers selbst erfolgt. Die Errichtung der SSC-Behörden als Behörden der allgemeinen Staatsverwaltung nach Art. 112 Abs.1 SLVerf muss grundsätzlich durch Gesetz erfolgen, wobei es denkbar ist, das Landesamt für Zentrale Dienste als SSC-Behörde zu nutzen. Den obersten Landesbehörden ist es möglich, Aufgaben durch Verordnung aufgrund der Verordnungsermächtigung des § 2 Abs. 3 LZDG auf das Landesamt für Zentrale Dienste zu übertragen. Die Übertragung von Serviceaufgaben der Justizverwaltung aus dem Bereich der Datenverarbeitung ist zumindest dann verfassungsrechtlich zulässig, wenn durch spezielle Sicherheitsstandards und Verwaltungsvereinbarungen die Unabhängigkeit und Funktionsfähigkeit der Rechtsprechung gesichert wird.

Die französischen Übersetzungen der Commentaries von William Blackstone Ende des 18. Jahrhunderts Ein Kapitel aus der Geschichte der kontinentalen Entdeckung des englischen Common Law Von Filippo Ranieri, Saarbrücken I. Einleitung 1. Problemstellung und rechtshistorischer Hintergrund Dieser Beitrag1 will ein relativ wenig untersuchtes Kapitel der europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte aus den Jahrzehnten zwischen Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts näher beleuchten. Er will insbesondere die zahlreichen Übersetzungen analysieren, die in jenen Jahren die Commentaries on the Laws of England von William Blackstone2 – ein zentraler Meilenstein in der Geschichte 1

Der Autor war bis 2009 Inhaber des Lehrstuhls für Europäisches Zivilrecht und Neuere Europäische Rechtsgeschichte an der Universität des Saarlands. Er leitet dort zurzeit die Forschungsstelle für Europäisches Zivilrecht und das von der DFG geförderte Forschungsprojekt „Zur Instrumentalisierung des englischen Rechts in der deutschen Germanistik“. Der vorliegende Beitrag ist im Rahmen dieses Projekts entstanden. Die vorliegende Untersuchung sei hier dem Jubilar in Dankbarkeit für die zahlreichen freundschaftlichen und kollegialen Gespräche und für die kollegiale Verbundenheit gewidmet, die der Verfasser während der gemeinsamen Jahre an der Saarbrücker Fakultät dankbar erleben durfte. 2 Blackstone, William (1723 – 1780): Er lehrte seit 1758 englisches Recht in Oxford und hatte ein Richteramt am Court of Common Pleas inne. In seinen berühmten Werken An Analysis of the Laws of England [1st ed. Oxford 1756] und Commentaries on the Laws of England [1 ed. Oxford 1765 – 1769], unternahm er nach naturrechtlichen Vorbildern den Versuch, eine Beschreibung der englischen Rechtspraxis (Common Law, Equity und Statute Law) zu geben. Siehe aus dem immensen Schrifttum zu ihm und seinem Werk, W. S. Holdsworth, Some Aspects of Blackstone and his Commentaries, in: Cambridge Law Journal 4 (1930 – 1932), S. 261 ff.; D. Kennedy, The Structure of Blackstone’s Commentaries, in: Buffalo Law Review 28 (1979), S. 205 ff.; S. F. C. Milsom, The Nature of Blackstone’s Achievement, in: Oxford Journal of Legal Studies (1981), S. 1 – 12 sowie in: ders., Studies in the History of the Common Law, London Ronceverte 1985, S. 197 – 208; M. Lobban, Blackstone and the Science of Law, in: Historical Journal 30 (1987), S. 311 – 335; Alan Watson, The Structure of Blackstone’s Commentaries, in: Yale Law Journal 97 (1987 – 1988), S. 795 ff.; John W. Cairns, Blackstone, an English Institutist: Legal literature and the rise of the nation state, in: Oxford Journal of Legal Studies, 4 (1984), S. 318 ff., insb. S. 339 – 360; John H. Baker, An Introduction to English Legal History, 3rd ed., London 1990 [4th ed. 2002],

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des Common Law – in Frankreich bekannt machten und dadurch erstmals die Kenntnis des englischen Rechts dort ermöglichten. Damit soll zugleich ein weiteres Kapitel aus der Geschichte der kontinentalen Entdeckung des englischen Common Law Ende des 18. Jahrhunderts erschlossen werden, die der Verfasser bereits in einigen früheren Studien zu rekonstruieren versucht hat. 2. Gang der Darstellung Der vorliegenden kleinen Studie liegt eine allgemeinere Frage zugrunde. Seit wann und unter welchen kulturellen und wissenschaftshistorischen Rahmenbedingungen entwickelten die kontinentalen Juristen ein spezifisches Interesse für das englische Common law? Beleuchtet werden sollen hier insoweit die Wege und die Rahmenbedingungen der „kontinentalen Entdeckung“ des damaligen englischen Rechts. In früheren Studien3 hat der Verfasser dieses Beitrags bereits die Arbeitshypothese formuliert, dass gerade die deutschen Professoren des „Ius germanicum“ und die Vertreter der frühen deutschen Germanistik diejenige waren, die Ende des 18. Jahrhunderts erstmals auf dem Kontinent ein systematisches Interesse für das damalige englische Recht zeigten. Die vorliegende Untersuchung will die verwandte Frage klären, seit wann und unter welchen kulturellen und wissenschaftshistorischen Voraussetzungen sich damals auch die Juristen in Frankreich mit der andersartigen Wirklichkeit des englischen Common law befasst haben. Das Thema scheint bis heute ebenfalls kaum Interesse geweckt zu haben,4 obwohl damit eine zentrale S. 219 – 222; R. D. Stacey, Sir William Blackstone and the Common Law. Blackstone’s Legacy to America, (ACW) 2003; Wilfrid Prest, William Blackstone. Law and Letters in the Eighteenth Century, Oxford 2008; Wilfrid Prest (Ed.), Blackstone and his Commentaries. Biography Law History, Oxford 2009; Wilfrid Prest (Ed.), Re-Interpreting Blackstone’s Commentaries. A Seminal Text in National and International Contexts, Oxford 2014; Hans Christof Kraus, Englische Verfassung und politisches Denken im Ancien Régime 1689 – 1789, München 2006, S. 178 – 185; Filippo Ranieri, Europäisches Obligationenrecht, Ein Handbuch mit Texten und Materialien, 3. Aufl., Wien New York 2009, insb. S. 74, Anm. 133. 3 Siehe Filippo Ranieri, Eine frühe deutsche Übersetzung der „Commentaries on the Law of England“ von William Blackstone. Zugleich ein Beitrag zur Instrumentalisierung des Common law in der deutschen Germanistik des 19. Jahrhunderts, in: T. Chiusi/Th. Gergen/H. Jung (Hg.), Das Recht und seine historischen Grundlagen, Festschrift für Elmar Wadle zum 70. Geburtstag, Berlin 2008, S. 875 – 899; Filippo Ranieri, Eine Begegnung mit dem Common Law an der Universität Göttingen Mitte des 18. Jahrhunderts. Zur „Commentatio iuris exotici historica de iure communi Angliae. Of the Common Law of England“ von Christian Hartmann Samuel Gatzert, in: M. Wittinger/R. Wendt/G. Ress (Hg.), Verfassung-Völkerrecht-Kulturgüterschutz. Festschrift für Wilfried Fiedler zum 70. Geburtstag, Berlin 2011, S. 931 – 953. 4 Siehe dazu die bibliographischen Hinweise bei Antonio Padoa Schioppa, I „philosophes“ e la giuria penale, in: Nuova rivista storica 70 (1986), S. 107 ff., insb. S. 123; Catherine Spices Eller, The William Blackstone Collection in the Yale Law Library. A Bibliographical Catalogue (Yale Law Library Publications, N.6), Yale University 1938, insb. S. 72 – 74; zuletzt Tillet, La Constitution anglaise (Anm. 5), S. 445 – 449; John Emerson, Did Blackstone get the Gallic Shrug?, in: Prest (Ed.), Blackstone and his Commentaries (Anm. 2), S. 185 – 198, insb. S. 186 – 187 und S. 192; Michel Morin, Blackstone and the Birth of Quebec’s Legal Culture 1765 – 1867, in: Prest, Re-Interpreting (Anm. 2), S. 105 – 124, insb. S. 107 ff.

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Frage der jüngeren europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte berührt wird, nämlich die historische Begegnung der englischen und der kontinentalen Rechtskultur. Wir werden hier übrigens auch bemerkenswerte Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich feststellen. Die damaligen deutschen Vertreter der frühen Germanistik glaubten im englischen Recht eine Quelle des „Ius germanicum“ suchen und finden zu können. Für die damaligen anglophilen französischen Beobachter des englischen Rechts stand dagegen vielmehr die vermeintliche politische Vorbildfunktion Englands im Vordergrund. Aus diesem hier kurz skizzierten Forschungstand ergeben sich zugleich auch der Gang und die Schwerpunkte der folgenden Ausführungen. Ein erster Abschnitt wird die französischen anglophilen England-Reisenden vorstellen, die während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das Werk von William Blackstone und dessen ersten Übersetzungen in Frankreich bekannt machten. Es wird hier insbesondere erforderlich werden, Biographie und Werk dieser ersten Übersetzer im Einzelnen näher zu beleuchten. Ein zweiter Abschnitt wird sich mit dem Einfluss dieser Übersetzungen befassen, insbesondere bei den rechtspolitischen Debatten zum englischen Jury-Prozess anlässlich der Revolutionsgesetzgebung. Ein dritter Abschnitt wird sich dann mit den späteren Übersetzungen befassen, die das Werk von William Blackstone während der napoleonischen Zeit und wenige Jahre danach noch erfuhr. Ein abschließender Forschungsausblick wird am Ende die Wirkungsgeschichte dieser Übersetzungsliteratur zu skizzieren versuchen. II. Die französischen England-Reisenden und die erste Begegnung der Commentaries 1. Élie de Beamont und seine Verbindungen mit William Blackstone Mitte des 18. Jahrhunderts kennt Frankreich ebenso wie das damalige Deutschland eine starke Anglophilie seiner intellektuellen Eliten. Ein zentrales Thema zahlreicher Streitschriften beschäftigt dabei den politischen Diskurs: die englische Verfassung.5 Bei vielen der damaligen Beobachter hatte damals England eine Vorbildfunktion. Es gab Lob für die vermeintliche dortige Herrschaft der Gesetze, für den hohen Grad der sozialen Mobilität, für die Pressefreiheit und den „public spirit“, aber auch für die Ministerverantwortlichkeit und für die Existenz politischer Oppo5 Dazu allgemein Laurence L. Bongie, David Hume Prophet of the Counter-Revolution, Oxford 1965, 2sd ed. Indianapolis 2000, insb. S. 16 – 20; Darline Gay Levy, The ideas and careers of Simon-Nicolas-Henri Linguet: a study in eighteenth century French politics, Urbana Illinois 1980; Kraus, Englische Verfassung (Anm. 2), S. 71 – 165; S. 245 – 258 und S. 261 – 264 (zum Pariser Anwalt Simon Nicolas Henri Linguet [1736 – 1794]); Edouard Tillet, La Constitution anglaise, un modèle politique et institutionnel dans la France des lumières (Collection d’histoire des idées politiques. Centre d’études et de recherches d’histoire des idées et des institutions politiques 18), Aix-en-Provence 2001, S. 107 ff. sowie S. 446 ff.; Edmond Dziembowski, The English political model in eighteenth-century France, in: Historical Research. The Bulletin of the Institute of Historical Research, LXXIV, 184 (2001), S. 151 – 171.

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sition. Erwähnenswert scheint insbesondere die anglophile Haltung der in Bedrängnis geratenen französischen Hugenotten gewesen zu sein, die in großer Anzahl zu den damaligen England-Besuchern und -Bewunderern zählten. Zu diesen Reisenden gehört auch ein der ersten französischen Korrespondenten von William Blackstone, der französische Anwalt Jean-Baptiste Jacques Élie de Beaumont (1732 – 1786).6 Dieser stammte aus einer alten protestantischen Familie der Normandie und exerzierte seit Mitte des 18. Jahrhunderts als Anwalt, zuerst am Parlement de Normandie und später in Paris. Berühmt wurde er als Strafverteidiger im „Affaire Calas“, wo er in einem Kriminalverfahren das die damalige Öffentlichkeit erschütterte, den Freispruch einer bedrängten Familie von Kalvinisten aus Toulouse erreichte und von Voltaire als der „philosophe de l’innocence opprimée“ öffentlich gefeiert wurde.7 Wahrscheinlich durch Vermittlung gerade desselben Voltaire, der selbst bekanntlich zwischen den Jahren 1726 und 1728 in England gelebt hatte,8 unternahm Beaumont im Oktober 1764 eine lange englische Reise. Über dieselbe sind wir sehr gut informiert, da seine Tagebücher dazu publiziert wurden.9 Die Reise führte unseren Autor nach Oxford, wo er die Ehrendoktorwürde erhielt,10 und nach London, wo er Bekanntschaft mit Lord Mansfield und mit William Blackstone machte.11 Mit diesem scheint Beaumont eine enge Beziehung geknüpft zu haben. Sie unterhielten offenbar eine rege Korrespondenz untereinander. Man hat deshalb die Vermutung formuliert, dass die Idee einer französischen Übersetzung der Commentaries möglicherweise gerade anlässlich dieser Begegnung geboren wurde.12 Jedenfalls äußert Blackstone Jahre später in einem Brief Ende Mai 1775 an Beaumont seinen Unmut über die zahlreichen Übersetzungsfehler, die er bei der ersten französischen Ausgabe der Commen6

Zur Person vgl. Joseph-Marie Quérard (1797 – 1865) (Ed.), La France littéraire ou Dictionnaire bibliographique des savants et gens de lettres de la France, III, Paris 1829, S. 15; Louis-Gabriel Michaud (1773 – 1858) (Ed.), Biographie universelle, ancienne et moderne, XIII, Paris 1815, S. 17 – 18; Jean-François Hamel/René Gautier, Dictionnaire des personnages remarquables de la Manche, Bd. I, Marigny 2001. 7 Siehe Jean-Baptiste Jacques Élie de Beaumont (1732 – 1786), Mémoire pour dame Anne Rose Cabibel, veuve Calas, et pour ses enfants sur le renvoi aux requêtes de l’Hôtel au Souverain, ordonné par arrêt du Conseil du 4 juin 1764, Paris (: L. Cellot) 1765; dazu Alix Winter, Europäische Öffentlichkeit in der Epoche der Aufklärung. Das Medienereignis „Affäre Calas“ als Beispiel frühneuzeitlicher Kulturverflechtung, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 15 (2013), S. 28 – 48. 8 Siehe Francois-Marie Arouet, Voltaire (1694 – 1778), Letters on the English or Lettres Philosophiques [kritische Ausgabe: Nicholas Cronk (Ed.), Letters Concerning the English Nation (Oxford World’s Classics), Oxford 2009]; allgemein dazu Nicholas Cronk (Ed.), The Cambridge Companion to Voltaire. Cambridge New York 2009, und hier cap. 5, S. 79 ff. John Leigh, Voltaire and the Myth of England. 9 Siehe Voyages anciens. Mœurs pittoresques. Un Voyageur français en Angleterre en 1764. Élie de Beaumont, in: Revue Britannique. Paris 1895, Heft 5, S. 349 – 362 sowie 1895, Heft 6, S. 75 – 114. 10 Siehe Voyages anciens (Anm. 9), 1895, Heft 6, S. 76 – 77 sowie S. 96 – 103. 11 Siehe Voyages anciens (Anm. 9), 1895, Heft 5, S. 362. 12 So Prest, William Blackstone (Anm. 2), S. 309.

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taries aus der Feder von Auguste Pierre Damiens de Gomicourt feststellen musste, die, wie wir sehen werden, zwischen den Jahren 1774 – 1775 erscheinen wird.13 2. L’Observateur français à Londres und die erste Übersetzung von Auguste Pierre Damiens de Gomicourt Zu diesem Milieu von anglophilen Schriftstellern und kritischen Publizisten gehört auch der erste französische Übersetzer von Blackstone, der bereits genannte Auguste Pierre Damiens de Gomicourt (1723 – 1790). Biographische Daten zu ihm14 sind schwer ermittelbar, da er zwar eine Vielzahl von Werken hinterlassen hat, diese aber meistens anonym oder unter einem Pseudonym zum Druck gab. Er stammte wohl aus einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie aus der nordfranzösischen Stadt Amiens. Als Anwalt in Paris veröffentlichte er einige verfassungspolitische Druckschriften die ihn im Jahre 1769 in Ungnade bei der königlichen Zensur brachten, so dass er nach Brüssel fliehen musste. Hier wirkte er bis 1772 in den Diensten des einflussreichen Verlegers Jean Louis de Boubers, wo später auch die Übersetzung der Commentaries erscheinen wird.15 Im Jahr der Flucht begann er dort mit der Veröffentlichung des meinungsbildenden Periodikums Observateur français à Londres, das sich rasch als Organ der damaligen anglophilen französischen Publizisten entwickelte.16 In dieser Zeitschrift, von welcher acht und zwanzig Bände bis zum Jahr 1773 erscheinen werden, wurden auch zahlreiche Auszüge aus dem Werk von Blackstone veröffentlicht. So erscheint etwa im Jahre 1772, in der dritten Lieferung eine „Lettre sur les lois d’Angleterre (…) extrait du chapitre des Commentaires de M. Blackstone, qui traite de ces lois“.17 Der Erfolg dieser Veröffentlichungen und der immer wieder formulierte Wunsch anderer anglophilen Leser scheinen unseren Autor dazu bewo-

13 Siehe Wilfrid Prest (Ed.),The letters of Sir William Blackstone: 1744 – 1780 (Selden Society supplementary series vol. 14), London 2006, S. 152; dazu Emerson, Did Blackstone (Anm. 4), S. 187 – 188. 14 Zur Person vgl. Quérard (Ed.), La France littéraire (Anm. 6), II, Paris 1828, S. 376; Michaud (Ed.), Biographie universelle (Anm. 6), Supplément, Bd. 65, Paris 1838, S. 516 – 517; zuletzt H. De Groote, L’auteur du „Voyageur dans les Pays-Bas Autrichiens“, in: Revue belge de philologie et d’histoire, Tome 26, fasc. 1 – 2, 1948, S. 118 – 135. 15 Jean Louis de Boubers (1731 – 1804) war einer der einflussreichsten Verleger der Aufklärungszeit; vgl. zu ihm Frédéric Barbier (Ed.), Lumières du nord: imprimeurs, libraires et „gens du livre“ dans le nord au XVIIIe siècle (1701 – 1789): dictionnaire prosopographique (Histoire et civilisation du livre 25), Genève 2002, S. 219 ff., zur Übersetzung von Blackstone S. 225. 16 Siehe L’Observateur français à Londres ou Lettres sur l’Etat présent de l’Angleterre relativement à ses forces, à son commerce et à ses mœurs, I-XXVIII, Paris 1769 – 1773 [vorh. Paris Bibl. Nat.: Ars., 88 H 2675 – 2676; Bibl. Nat.: Nd 84, 1769 à 1773]. 17 Vgl. L’Observateur français (Anm. 16), 1772, S. 329 ff.; so auch z. B. L’Esprit des journaux, tome VIII, partie II, du 28 février 1774, S. 123 ff. „Dissertation sur le crime de haute-trahison, par M. Blackstone“, übernommen aus L’Observateur français, 1773.

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gen zu haben, die „Commentaires sur les loix angloises de M. Blackstone“18 endgültig fertig zu stellen und zwischen den Jahren 1774 – 1776 in Druck zu geben.19 Diese französische Ausgabe blieb allerdings insgesamt recht unbefriedigend. So stellte sich bald heraus, dass der Übersetzer weite wichtige Abschnitte des Originals ausgelassen und manche Textpassage sprachlich missverstanden hatte. Wie wir soeben gesehen haben, missfiel sie selbst Blackstone, der die französische Sprache immerhin nur unzureichend beherrschte.20 „Cette traduction – heißt in einer Bibliographie von 1820 – n’est pas estimée; on en désire une plus exacte et plus élégante“.21 „Cette traduction“ – heißt es bei einem anderen Rezensenten22 – „est malheureusement très défectueuse sous tous les rapports […] Elle est ni exacte ni française“. Die Verbreitung dieser ersten Übersetzung scheint jedoch, trotz ihrer zahlreicher Mängel, beachtlich gewesen zu sein. So schrieb etwa der Abbé André Morellet, einer der bekanntesten Publizisten jener Jahrzehnte,23 im Oktober 1774 an Lord Shelburne, um sich ein Exemplar des englischen Originals der Commentaries senden zu lassen.24 Ob er dies erhalten hat wissen wir nicht. In denselben Jahren wurde diese französische Ausgabe der Commentaries übrigens auch in Deutschland literarisch rezipiert und positiv besprochen.25 Diese erste französische Ausgabe von William Blackstone wird jedenfalls eine beachtliche Rolle spielen, als man sich bei den rechtspolitischen Debatten wäh18 Siehe A. P. Damiens de Gomicourt (1723 – 1790), Commentaires sur les loix angloises [sic] de M. Blackstone. Traduits de l’Anglois par M. D. G., sur la quatrième édition d’Oxford [Commentaries on the Laws of England, in four Books, 4th Edition, Oxford 1770], I–VI, Bruxelles (:J. L. de Boubers) 1774 – 1776 [vorh. UB Tübingen; UB Mannheim; UB Leipzig; Paris Bibl. Nat. (zwei Exempl.); Library of Congress]; dazu Eller, The William Blackstone Collection (Anm. 4), Nr. 179; Emerson, Did Blackstone (Anm. 4), S. 186. 19 „Ces extraits réfléchis et raisonnés faisaient désirer l’ouvrage entier: c’était une entreprise difficile que leur auteur seul était peut-être capable d’exécuter avec succès, a la quelle il a été souvent exhorté, et dont le public doit être bien aise qu’il se soit chargé“, so AntoineAlexandre Barbier (1765 – 1825), Dictionnaire des ouvrages anonymes et pseudonymes, 2 éd., I, Paris 1822, S. 194; dazu Emerson, Did Blackstone (Anm. 4), S. 186. 20 So Voyages anciens (Anm. 9), 1895, Heft 5, S. 362; Prest, William Blackstone (Anm. 2), S. 308 – 309. 21 So Antoine-Alexandre Barbier (1765 – 1825), Examen critique et complément des dictionnaires historiques les plus répandus: depuis le dictionnaire de Moréri jusqu’à la biographie universelle inclusivement, I, Paris 1820, S. 325. 22 So André-Marie-Jean-Jacques Dupin (1783 – 1865), Lettres sur la profession d’avocat, et bibliothèque des livres de droit, qu’il est le plus utile d’acquérir et de connaître, 4eme éd., II, Paris 1818, S. 533. 23 André Morellet (1727 – 1819) war ein Ökonom, Enzyklopädist und als Schriftsteller Mitglied der Académie française; er stand in Korrespondenz mit Gelehrten aus ganz Europa und gilt als einer der letzten „philosophes“ der französischen Aufklärung. 24 Siehe Lettres de l’Abbé Morellet de l’Académie française à Lord Shelburne 1772 – 1803, avec introduction et notes par Lord Edmond Fitzmaurice, Paris 1898, lettre du 20 octobre 1774, S. 39 f., insb. S. 45.; dazu Emerson, Did Blackstone (Anm. 4), S. 185 – 186. 25 Eine anonyme Anzeige der französischen Übersetzung der Commentaries von A. P. Damiens de Gomicourt erschien im Jahre 1775 in: Literarische Nachrichten von den Werken der besten Schriftsteller, Wien, v. 5. 4. 1775, S. 23 – 30.

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rend der Revolutionsjahre immer wieder auf das Vorbild der englischen Rechts- und Staatsverfassung berief. III. Der englische Jury-Prozess als demokratischer Mythos der Revolutionsjahre 1. Die Teilübersetzung des Abbé Gabriel François Coyer Auf der Grundlage der Bearbeitung von de Gomicourt erscheint im Jahre 1776 aus der Feder von Gabriel François Coyer (1707 – 1782) eine weitere französische Ausgabe des Vierten Buches der Commentaries zum englischen Kriminalrecht.26 Der Beginn der französischen Übersetzung des Werkes von Blackstone durch Damiens de Gomicourt – schreibt er im Vorwort – habe seine Ungeduld auf den Rest des Werkes so gesteigert, dass er sich entschlossen habe, selbst das Kriminalrecht von Blackstone gleich auf Französisch herauszugeben. Nach Ansicht zeitgenössischer Beobachter beschränkte er sich jedoch offenbar darauf, die Bearbeitung von de Gomicourt zu plagiieren. Gabriel François Coyer war ein bekannter anglophiler Publizist und ein einflussreicher Vertreter der damaligen französischen Aufklärung.27 Er hatte als Jesuitenzögling begonnen (1728 – 1736), jedoch die geistliche Laufbahn später abgebrochen und sich als Privatlehrer und einflussreicher Schriftsteller und Übersetzer betätigt. Unzählige Druckschriften, zum Teil auch im Europäischen Ausland wiederum übersetzt, gehen auf ihn zurück. Er hatte England bereist und dort William Blackstone persönlich kennengelernt. Die englische Gesellschaftsverfassung lieferte ihm die Folie für eine immer wieder formulierte Kritik gegen das wirtschaftliche und politische Gebaren des zeitgenössischen französischen Adels.28 In diesem Zusam-

26 Siehe [Gabriel François Coyer (1707 – 1782)], Commentaire sur le code criminel d’Angleterre traduit de l’Anglais, de G. Blackstone, Paris (: Knapen) 1776 [Übersetzung von Blackstone, Commentaries, IV. Of public wrongs; vorh. Paris Bibl. Nat.: Tolbiac-Rez-dejardin-magasin F-27376 – 27377 sowie UB Tübingen]; dazu Eller, The William Blackstone Collection (Anm. 4), Nr. 180; Emerson, Did Blackstone (Anm. 4), S. 186 – 187; Morin, Blackstone (Anm. 4), S. 108; Tillet, La Constitution anglaise (Anm. 4), S. 448. 27 Zu Person und Werk siehe L. S. Gordon, Gabriel-François Coyer et son œuvre en Russie, in: Revue des études slaves 42 (1963), S. 67 – 82; Leonard Adams, Coyer and the Enlightenment (Studies on Voltaire and the eighteenth century 123), Banbury 1974; Christian Cheminade, L’abbé Gabriel François Coyer, 1707 – 1782. Un philosophe républicain et réformateur au XVIIIe siècle, Bordeaux 1989; Edmond Dziembowski, Gabriel-François Coyer, JacobNicolas Moreau. Écrits sur le patriotisme, l’esprit public et la propagande au milieu du XVIIIe siècle (Rumeur des Âges), La Rochelle 1997; Jay M. Smith, Nobility Reimagined: The Patriotic Nation in Eighteenth-Century France, Ithaca 2005, S. 107 – 113; Kraus, Englische Verfassung (Anm. 2), S. 274 – 276. 28 Siehe etwa Gabriel François Coyer, Nouvelles observations sur l’Angleterre, Paris 1779; [Gabriel François Coyer], La Noblesse commerçante, Londres, et se trouve à Paris, (: Duchesne) 1756; dazu Steven L. Kaplan/Cynthia J. Koepp (ed.), Work in France: Representations, Meaning, Organization, and Practice, Ithaca 1986, Introduction, S. 18; Ulrich Adam, Nobility and modern monarchy. J.H.G. Justi and the French debate on commercial nobility at the beginning of the seven years war, in: History of European Ideas 29 (2003), S. 141 – 157.

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menhang ordnet sich wohl auch diese französische Teilbearbeitung von Blackstone ein. Die rechtspolitische Ausstrahlung der englischen Justiz- und Staatsverfassung die die oben genannten französischen Übersetzungen und Bearbeitungen von Blackstone bezeugen, fand übrigens, gerade auf der Grundlage dieser Publikationen, auch jenseits der französischen Grenzen eine beachtenswerte Ausbreitung. So waren eben diese französischen Übersetzungen die Grundlage für die ausführlichen Informationen über das Werk von Blackstone, die am Ende des 18. Jahrhunderts der spanische Publizist Cristóbal Cladera (1760 – 1816) im Madrider Periodikum „Espíritu de los mejores diarios literarios que se publican en Europa“29 sukzessiv veröffentlichte.30 Sie werden eine beträchtliche Rolle bei den Debatten des frühspanischen Konstitutionalismus spielen.31 In denselben Jahren wurde die französische Teilbearbeitung zum englischen Kriminalrecht von Blackstone durch Gabriel François Coyer auch in Polen rezipiert. So wurde im Jahre 1786 eine polnische Übersetzung dieser Arbeit von Coyer vom polnischen Gelehrten Teodor Ostrowski (1750 – 1802) in Warschau publiziert.32 Erwähnt sei hier ferner, dass einige Jahre später, im Jahre 1813, noch während der napoleonischen Zeit, auf Grundlage wohl der bereits genannten französischen Teilübersetzung des Abbé Coyer, auch eine italienische Bearbeitung in zwei Bänden der Darstellung von Blackstone zur englischen Strafjustiz in Mailand veröf-

29 Siehe Espiritu de los mejores diarios literarios que se publican en Europa, […] dedicado á los Literatos y Curiosos de España, Madrid (: Antonio Espinosa, imprenta de Josef Herrera) 1787 – 1791; dazu Eulogio Varela Hervías, Espíritu de los Mejores Diarios Literarios que se publican en Europa, Madrid 1787 – 1791 [Nachdruck Madrid 1966] Madrid (: Sección de Cultura, Artes Gráficas Municipales in Madrid); Maria Dolores Saiz, Historia del periodismo en España. 1. Los orígenes. El siglo XVIII, Madrid 1983, S. 192 ff.; Siegfried Jüttner, Espíritu de los mejores diarios literarios que se publican en Europa (1787 – 1791) Índices (onomástico y de fuentes, de obras y de toponímico) (Europäische Aufklärung in Literatur und Sprache Bd. 22), Frankfurt a.M. u.a 2009. 30 So Joaquín Varela Suanzes, El debate sobre el sistema británico de gobierno en España durante el primer tercio del Siglo XIX, in: Javier Alvarado (Ed.), Poder, Economía y Clientelismo, Madrid, 1997, S. 97 – 124, insb. Anm. 11. 31 Dazu Varela Suanzes, El debate (Anm. 30), S. 97 ff. 32 Siehe Teodor Ostrowski (1750 – 1802), Prawo kryminalne angielskie przez Wilhelma Blakstona zebrane a przez X. Teodora Ostrowskiego S. P. wytłómaczone i uwagami do prawa polskiego stosownemi pomnoz˙one, W Warszawie (: w drukarni J. K. Mci i Rzeczypospolitey u XX. Scholarum Piarum. Za pozwoleniem Zwierzchnos´ci) (1786); dazu Zbigniew Zdrójkowski, Teodor Ostrowski (1750 – 1802) pisarz dawnego prawa sa˛dowego (proces, prawo prywatne i karne). Jego projekty reformy prawa karnego w Polsce oraz ich zwia˛zek z europejskim ruchem humanitarnym (Dawni polscy pisarze prawnicy,1.), Warszawa 1956, S. 195; W. M. Bartel, Knowledge of the English Criminal Law in Poland at the Turn of the Eighteenth and Nineteenth Centuries, in: Richard Eales/David Sullivan (Ed.), The Political Context of Law: Essays on Legal History, London 1987, S. 103 – 118, insb. S. 105 – 106; W. Uruszczak, Teodor Ostrowski (1750 – 1802), in: Michael Stolleis (Hg.), Juristen: ein biographisches Lexikon von der Antike bis zum 20. Jahrhundert, München 2001, S. 481 – 482.

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fentlicht wurde.33 Es handelt sich um eine Teilübersetzung, auf der Grundlage der französischen Vorlage, von Buch IV. der Commentaries, im Original als „Of Public Wrongs“ betitelt. Insgesamt werden darin die Kapitel 1 – 33 des englischen Originals auf Italienisch wiedergegeben, wobei allerdings etliche Anmerkungen ausgelassen oder durch eigene Anmerkungen des Übersetzers ersetzt werden. Die Anlage zu Buch IV. im englischen Original wird dabei vollständig ausgelassen.34 Als Übersetzer und Bearbeiter fungierte hier Antonio Ascona, ein junger Mailänder Anwalt, der auch während der darauffolgenden Jahrzehnte der österreichischen Zeit in Lombardei-Venetien zahlreiche juristische Übersetzungen und sonstige Veröffentlichungen publizieren sollte.35 Interesse für die englische Staats- und Gerichtsverfassung scheint übrigens in denselben Jahren auch in Sizilien bestanden zu haben, die damals, anders als die gesamte übrige italienische Halbinsel, nicht unter französischer Herrschaft stand. Eine Darstellung der englischen Staats- und Rechtsverfassung, die sich ganz offenkündig auf eine französische Druckschrift aus der Revolutionszeit stützt, wurde im Jahre 1812 in Palermo vom sizilianischen Anwalt und Historiker Giuseppe Emmanuele Ortolani zum Druck gegeben.36 Die französische Vorlage war ihrerseits eine Übersetzung einer amerikanischen Druckschrift aus dem Jahre 1787,37 die im Jahre 1789 in Frankreich zu Beginn der Revolutionszeit übersetzt und mit ausführlichen Anmerkungen, unter anderem von Jean Antoine Condorcet, publiziert worden 33 Siehe Comentario sul Codice Criminale d’Inghilterra di Guglielmo Blackstone. Prima versione italiana, I-II, Milano (:dalla tipografia Buccinelli) 1813; das Werk erschien in der Reihe „Raccolta dei classici criminalisti“ [ein Exemplar ist vorh. in Biblioteca F. Ruffini del Dipartimento di Scienze giuridiche dell’Università degli studi di Torino]. 34 Zum Werk siehe M. T. Napoli, La cultura giuridica europea in Italia. Repertorio delle opere tradotte nel secolo XIX (Storia e diritto. Studi e testi Bd. 3), I-III, Napoli 1986, I, S. 191 und II, S. 40, Nr. 142; Eller, The William Blackstone Collection (Anm. 4), Nr. 184. 35 Siehe A. Ascona, Delle sostituzioni e dei fedecommessi secondo i principi generali del Codice civile universale austriaco e del diritto romano, Milano (: Pirotta) 1823; A. Ascona, Della morte civile e dei suoi effetti, Milano (: Giovanni Silvestri) 1823; A. Ascona, Della giurisprudenza dei giudicati ad uso di quelli che li pronunciano e di coloro che li citano, Milano (: Giovanni Silvestri) 1829. 36 Siehe Giuseppe Emanuele Ortolani (1758 – 1828), Compendio della costituzione d’Inghilterra e dell’origine delle sue leggi estratto dalla biblioteca dell’uomo pubblico e dal francese in volgar lingua ridotto con nuove aggiunte, e note, Palermo (: per le stampe del Solli, a spese di Rosario Abate) 1812 [ein Exemplar der Druckschrift ist vorh. in Biblioteca Nazionale di Napoli: LP.20411]; zum Verfasser vgl. V. Palizzolo Gravina, Il blasone in Sicilia: ossia Raccolta araldica, Palermo 1871 – 1875, S. 289; C. Bajamonte, Due periodici palermitani dell’800: L’Iride e L’indagatore, in: Percorsi di critica: un archivio per le riviste d’arte in Italia dell’Ottocento e del Novecento, R. Cioffi / A. Rovetta (Hg.), Milano 2007, S. 150; M. Condorelli, La cultura giuridica in Sicilia dall’illuminismo all’unita` (Studi risorgimentali 14), Catania 1982, S. 34; Napoli, La cultura giuridica (Anm. 34), I, S. 134 – 135 und II, S. 36, Nr. 128. 37 Siehe Observations on Government; including some Animadversions on Mr. Adams’s Defence of the Constitution and Government of the United States of America (…), New York 1787; als Verfasser der seltenen Druckschrift aus der amerikanischen Revolutionszeit wurde lange Zeit William Livingston (1723 – 1790) genannt; neuerdings bestehen keine Zweifel, dass als Verfasser John Stevens (1749 – 1838) gelten soll.

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war.38 Diese französische Bearbeitung stützte sich unter anderem auf einigen Kapiteln der Commentaries von Blackstone und wurde wiederum vom italienischen Übersetzer kommentiert. 2. Blackstone und die englischen Laiengerichte in den Debatten der Revolutionszeit Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts kennt die französische Publizistik eine breite und heftige Debatte über die Reformbedürftigkeit der damaligen Strafjustiz.39 Diese Debatte wird einige Jahrzehnte später zu den großen Reformen der Gerichtsverfassung und des Strafprozessrechts während der Revolutionszeit führen.40 Eines der beherrschenden Themen bei den damaligen Diskussionen war die immer wieder formulierte Bewunderung für die vermeintliche Gerechtigkeit und Effizienz der englischen Laiengerichtsbarkeit. Mit der Veröffentlichung seit 1748 des „Esprit des lois“ machte Montesquieu gerade dieses Thema in der französischen Debattierkultur allgegenwärtig.41 Die Institution der englischen Jury sollte in der französischen Publizistik der darauffolgenden Jahrzehnte als Symbol der englischen Freiheiten gefeiert und als Vorbild gepriesen werden. Wir begegnen darin einem wichtigen Aspekt der bereits erwähnten damaligen französischen Begeisterung für die englische Staatsverfas38

Siehe Examen du Gouvernement d’Angleterre, comparé aux Constitutions des ÉtatsUnis. Où l’on réfute quelques assertions continues dans l’ouvrage de M. Adams, intitulé: Apologies des Constitutions des États-Unis d’Amérique, et dans celui de M. Delolme, intitulé: De la Constitution d’Angleterre. Par Un Cultivateur de New-Jersey. Ouvrage traduit de l’Anglois [par M. Fabre], et accompagné de Notes [par Dupont de Nemours, Condorcet et J.-A. Gauvain Gallois], à Londres; et se trouve a Paris, Chez Froullé (…) 1789; [ein Exemplar dieser äußerst seltenen Druckschrift befindet sich in der Bibliothèque Nationale Paris, Tolbiac FB.28508]; die Anmerkungen von Marie Jean Antoine, Marquis de Condorcet (1743 – 1794) befinden sich auf S. 67 – 242 und stehen im Zusammenhang mit den damaligen Debatten zur Verkündung der Menschen- und Bürgerrechte durch die französische Nationalversammlung; dazu vgl. I. McLean/F. Hewitt (Ed.), Condorcet. Foundations of Social Choice and Political Theory, translated and edited, Cheltenham 1994, insb. S. 86; K. M. Baker, The Idea of a Declaration of rights, in: G. Kates (Ed.), The French Revolution. Recent debates and new controversies, London 1998, S. 103 – 106 und S. 137. 39 Siehe allgemein zum Thema Antonio Padoa Schioppa, I „philosophes“ (Anm. 4), S. 107 – 146. 40 Allgemein dazu Bernard Schnapper, Le jury français aux XIXème et XXème siècles, in: Antonio Padoa Schioppa (Hg.), The Trial Jury in England, France, Germany: 1700 – 1900 (Vergleichende Untersuchungen zur kontinentaleuropäischen und anglo-amerikanischen Rechtsgeschichte 4) Berlin 1987, S. 165 – 239 sowie in B. Schnapper, Voies nouvelles en histoire du droit. La justice, la famille, la répression pénale (XVIème-XXème siècles). Publications de la faculté de droit et des sciences sociales de Poitiers, Paris 1991, S. 241 – 312; Roberto Martucci, La Costituente e il problema penale in Francia (1789 – 1791). I. Alle origini del processo accusatorio: i decreti Baumetz (Università di Macerata. Facoltà giuridica), Milano 1984; Antonio Padoa Schioppa, La giuria penale in Francia. Dai „Philosophes“ alla Costituente (Studi e ricerche), Milano 1984; Antonio Padoa Schioppa, La giuria all’Assemblea Costituente francese, in: Antonio Padoa Schioppa (Hg.), The Trial Jury, S. 75 – 163; Emerson, Did Blackstone (Anm. 4), S. 188 – 191. 41 Dazu im Einzelnen Padoa Schioppa, I „philosophes“ (Anm. 4), S. 108 – 113.

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sung. Zentral scheint hier gerade die Rolle gewesen zu sein, die die oben erwähnten ersten Übersetzungen aus den Commentaries als Informationsquelle dabei spielten. „D’autre part“, – schreibt in diesem Zusammenhang ein französischer Rechtshistoriker – „grâce à la traduction en français de Blackstone, on croyait connaitre les institutions anglaises et on traçait du jury de ce pays une image très idéalisé,42 comme le montrent de mieux en mieux les études récentes sur la justice anglaise du XVIII siècle“.43 Diese französischen Übersetzungen von Blackstone halfen also dabei, den politischen Mythos der gerechten englischen Strafjustiz bei der französischen Öffentlichkeit aufzubauen. Die ersten Revolutionsjahre kennen in der Tat eine ganze Reihe von Teilbearbeitungen der Commentaries, gewidmet meistens dem Strafprozess und der Laienjustiz. Sie übernehmen meistens Abschnitte der zitierten Übersetzungen von Damiens de Gomicourt und von Gabriel François Coyer. So erscheinen im Jahre 1790 die „Recherches sur les cours et les procédures criminelles d’Angleterre“ von Raymond de Verninac de Saint Maur (1762 – 1822).44 Das Werk besteht aus der Wiedergabe, nach einer langen Einführung, von vierzehn Kapiteln aus dem Vierten Buch der Commentaries von Blackstone, auf der Grundlage der französischen Bearbeitung von Coyer. Der Autor, ein Jurist, der als Conseiller au Chatelet firmiert, war während der Revolutionsjahre als eifriger Republikaner bekannt. Man begegnet ihm noch in der napoleonischen Zeit als Diplomat. Zwei Jahre später, erscheint aus der Feder von Claude François Blanc, offenbar ebenfalls ein Jurist und eifriger Revolutionsteilnehmer, „Du Jury en matière civile et criminelle traduit de Blackstone“.45 Im Jahre 1801 wird schließlich „Des Lois de police et criminelles de l’Angleterre […] ouvrage traduit de l’anglais de Blackstone, avec des notes“ publiziert.46 Der Autor, 42 Zum tatsächlichen Zustand der damaligen englischen Kriminaljustiz siehe neuerdings John M. Beattie, Crime and the Courts in England 1660 – 1800, Oxford 1986. 43 So Bernard Schnapper, Le jury criminel, in: Robert Badinter (Hg), Une autre Justice 1789 – 1799. Contributions à l’histoire de la justice sous la Révolution française, Paris 1989, S. 149, insb. S. 150. 44 Siehe Raymond de Verninac de Saint Maur (1762 – 1822), Recherches sur les cours et les procédures criminelles d’Angleterre: extraites des Commentaires de Blackstone, sur les loix angloises: précédées d’un discours sur les principales dispositions de ces procédures, et sur l’abolition de la peine de mort, Paris (: chez Maradan) 1790; dazu Barbier, Dictionnaire des ouvrages anonymes (Anm. 19), III, Paris 1824, S. 126; Biographie des hommes vivants: ou, Histoire par ordre alphabétique de la vie publique de tous les hommes qui se sont fait remarquer par leurs actions ou leurs écrits, V, Paris (: Michaud) 1819, S. 502 – 503; Quérard (Ed.), La France littéraire (Anm. 6), I, Paris 1827, S. 345. 45 Siehe Claude François Blanc, Du Jury en matière civile et criminelle, traduit de Blackstone, Paris (: Ravier) (1792) [Paris Bibl. Nat.: Tolbiac-Rez-de-jardin-magasin F29553]; dazu Nicolas Toussaint/LeMoyne Desessarts (Ed.), Les siècles littéraires de la France ou Nouveau dictionnaire historique, critique et bibliographique, I, Paris An. VIII [1800], S. 269; Emerson, Did Blackstone (Anm. 4), S. 191. Zur Person des Verfassers ist keine nähere Information zu ermitteln. 46 Siehe Antonin Baptiste Nicolas Ludot (1760 – 1822), Des Lois de police et criminelles de l’Angleterre: des divers modes d’y instruire les procès des prévenus; et spécialement de l’institution du jury en matière criminelle, ouvrage traduit de l’anglais de Blackstone, avec des notes, Paris (: imprimerie de Hacquart) 1801; [Paris Bibl. Nat.: Tolbiac-Rez-de-jardin-maga-

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Antonin-Baptiste-Nicolas Ludot (1760 – 1822), ist auch ein Jurist und mehrfach als politischer Protagonist bei der Gesetzgebung der Revolution nachgewiesen. Seit 1793 begegnet man ihm in jenen Jahren als Mitglied des Nationalkonvents, später des Rats der Fünfhundert sowie der gesetzgebenden Versammlung des Tribunats. Bei diesem Druckwerk handelt es sich wiederum um eine französische Bearbeitung der Kapitel 18 – 33 des Vierten Buches der Commentaries, an welcher der Übersetzer eigene Bemerkungen und Anmerkungen hinzufügte. IV. Die französische Begegnung mit dem englischen Common Law 1. Die Einführungen und Teilübersetzungen von A. M. Joguet und M. P. Daligny Auch nach den Revolutionsjahren scheint das Interesse für das englische Recht in Frankreich weiter zu bestehen. Aus der napoleonischen Zeit sind hier zwei kleine Druckschriften zu erwähnen. Im Jahre 1803 erscheint aus der Feder von AndréMarie de Joguet (1766-ca.1830) unter dem Titel „Analyse des lois Anglaises: précédée d’un discours préliminaire sur l’étude des lois“ die französische Übersetzung der „An Analysis of the Laws of England, with An Introductory Discourse on the Study of the Laws of England“ von William Blackstone.47 Zur Person des Verfassers sind nur wenige sichere Angaben möglich. Er scheint im Jahre 1766 in Bordeaux geboren worden zu sein. Seine Familie gehörte zum damaligen kleinen Adel aus der Gironde. Es handelt sich um die für die Zeit typische noblesse de robe. So scheint ein Vorfahr von ihm im Jahre 1747 ein reicher Kaufmann aus Bordeaux und später, durch Amtskauf, königlicher Sekretär am Parlament von Bordeaux gewesen zu sein.48 Sein Vater Guillaume Ignace de Joguet war Ende des 18. Jahrhunderts „Conseiller-Maitre ordinaire en la chambre de comptes“ zu Bordeaux.49 Im Juli 1785 finden wir den Versin-F-29554]; dazu Eller, The William Blackstone Collection (Anm. 4), Nr. 181; Emerson, Did Blackstone (Anm. 4), S. 191. 47 Siehe André-Marie de Joguet (1766-ca.1830), Analyse des lois Anglaises: précédée d’un discours préliminaire sur l’étude des lois, traduite de l’anglais de William Blackstone [W. Blackstone, An Analysis of the Laws of England, 1st ed. with An Introductory Discourse on the Study of the Laws of England, 1756], Paris (: Leblanc) An XI-1803 [Paris Bibl. Nat.: Tolbiac-Rez-de-jardin–magasin F-29551]; dazu Quérard (Ed.), La France littéraire (Anm. 6), IV, Paris 1830, S. 227; Intelligenzblatt der Allgemeinen Literatur-Zeitung, Nr. 180, v. 16. 11. 1805, S. 1482; Emerson, Did Blackstone (Anm. 4), S. 191. 48 Siehe die Nachweise in: Coutumes du ressort du parlement de Guyenne: avec un commentaire, II, Bordeaux (: chez les Frères Labottière) 1769, S. 78 ff.; Sixte de Joguet (†1758), Observations pour le sieur de Joguet, secrétaire du roi au parlement de Bordeaux, contre les sieurs Peixotte et d’Egmont, négociants à Bordeaux, Bordeaux (: imp. de C. Osmont) 1747. 49 Zahlreiche biographische Nachrichten bei Georges François Marquis De Bièvre, Le Marquis de Bièvre. Sa Vie, Ses Calembours, Ses Comédies, 1747 – 1789, Paris 1910, S. 103 – 104; Mireille Touzery, La dernière taille [Abolition des privilèges et technique fiscale d’après

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fasser als Lizenziat der Rechte an der Pariser Rechtsfakultät.50 Die Revolutionsjahre brachten die Familie offenbar wirtschaftlich schwer in Bedrängnis. Während der Jahre 1793 – 1796 scheinen Vater und Sohn, wohl wegen des Vorwurfs der versuchten Emigration, mehrfach inhaftiert gewesen zu sein.51 Im Jahre 1802 versuchte unser Autor in der Tat zu emigrieren.52 Wie viele andere adlige Zeitgenossen scheint er sich jedoch dann mit den neuen Zeiten arrangiert zu haben. Die Übersetzung widmete er bezeichnenderweise dem Mitglied des Direktoriums Charles François Lebrun. Zugleich bewarb er sich beim Direktorium um eine Anstellung.53 So ist er zwischen den Jahren 1802 und 1814 als napoleonischer Unterpräfekt des Departements Gironde mehrfach nachgewiesen.54 Nach der Restauration begegnen wir ihn noch im Jahre 1820, diesmal als strammer Legitimist, bei einer journalistischen Auseinandersetzung.55 Beim Werk von Joguet handelt es sich nur um eine Übersetzung. Als Motivation nennt der Verfasser im Vorwort seine ursprüngliche Absicht, das englische Recht anhand einer einfachen Einführung näher kennenzulernen. „Ce motif m’a déterminé“ – schreibt er – „à en entreprendre la traduction pour mon seul usage“. Sie nun durch diese Veröffentlichung allgemein zugänglich zu machen, „peut être“ fügt er hinzu – „de quelqu’utilité par la méthode et la précision d’ont l’original est un modèle“. „Notes explicatives“ für den französischen Leser finden sich darin, entgegen der Ankündigung, nicht. Die Übersetzung selbst erfolgt nicht wörtlich und le rôle de Janvry pour les derniers mois de 1789 et pour 1790], in: Histoire & Mesure, 1997, Bd. XII, n. 1 – 2. Varia, S. 93 – 142, insb. S. 97 – 127 sowie S. 141 ff. 50 Nachgewiesen ist seine juristische Disputation an der Ecole de droit zu Paris unter dem 20 Juli 1785; vgl. dazu Veronique Meyer, Les thèses des collèges et des universités à Poitiers au XVII et XVIII siècles. Soutenances, éditions, illustrations, in: Revue historique du CentreOuest. La société des antiquaires de l’Ouest, Bd. IV, 2005, S. 7 – 161. 51 Siehe De Bièvre, Le Marquis (Anm. 49), S. 104, Anm. 1; Touzery, La dernière taille (Anm. 49), S. 118 – 119. 52 Vgl. den Nachweis in Centre historique des Archives Nationales. Demandes de passeports (1793 – 1818), F/7/3564 à 3580. Index des noms de personnes, Paris 2001, S. 93. 53 Dazu Procès-verbal des séances du Tribunat, Nivôse An XII, Paris [1802], S. 36; Archives nationales (Paris). Sous-série AF/III. Les Archives du Directoire, II: Intérieur, Bureau des nominations et notes personnelles, Inventaire, Paris 2009, S. 563 [Joguet, A. M., homme de lettres d’Eaubonne (Seine-et-Oise), demande d’emploi: AF/III/303, dossier 1195, pièces 256 – 257]; zu diesem Opportunismus vgl. De Bièvre, Le Marquis (Anm. 49), S. 104, Anm. 1; Touzery, La dernière taille (Anm. 49), S. 119; Michel Figeac, Destins de la noblesse bordelaise (1770 – 1830). Fédération historique du Sud-ouest. Recherches et travaux d’histoire sur le Sudouest de la France, Bordeaux 1996, I, S. 486. 54 Vgl. Almanach national de France An XII de la République, présenté au Premier Consul, Paris (: par Testu), Paris 1803, S. 334; Louis Bergeron u. a. (Hg.), Grands notables du Premier Empire. 13, Gironde (École des hautes études en sciences sociales, Centre de recherches historiques), par Jean Valette et Jean Cavignac, Paris (: CNRS) 1986, S. 51; Claude Martin, Ces sous-préfectures oubliées: aux temps où les sous-préfets étaient aux champs, Paris 1999, S. 435. 55 Siehe Journal des débats politiques et littéraires, v. 18 Septembre 1820, S. 3 – 4; dazu Artur McCalla, A Romantic Historiosophy. The Philosophy of History of Pierre-Simon Ballanche (Brill’s Studies in Intellectual History), Leiden 1998, S. 117; Agnes Kettler, Lettres de Ballanche a Madame Recamier 1812 – 1845, Paris 1996, S. 502.

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vereinfacht da und dort das englische Original. Sie ist auch, wie wir sehen werden, nicht frei von Ungenauigkeiten. Zehn Jahre nach der Arbeit von Joguet erscheint aus der Feder von Maurice Parfait Daligny (1776 – 1851)56 die kleine Schrift „Règles du droit anglais, ou, Analyse raisonnée des Commentaires de Blackstone“. Zur Person des Verfassers lässt sich nur wenig ermitteln.57 Er stammte aus Tours und seine Jugend war offenbar von den Revolutionsereignissen geprägt. Nach einem Studium der Medizin verließ er Frankreich für die Kolonie von Santo Domingo und einen längeren Besuch der nordamerikanischen Vereinigten Staaten. Erst im Jahre 1808 finden wir ihn in der französischen Stadt Angers wieder, wo er in die damalige Justizverwaltung eintrat. Ebendort machte er, Anhänger offenbar der Restauration, nach 1814 Karriere in der französischen Justiz. Daligny war ein juristischer Autodidakt. Noch Jahre später konnte er zu diesen Jahren schreiben: „en l’absence de toute institution d’enseignement sur le droit, je fus [à Saint-Domingue] mon seul et pauvre professeur dans la bibliothèque d’un homme de loi“.58 In Nordamerika scheint sein Interesse für das englische Recht geweckt worden zu sein: „Aux États-Unis où un Français naturalisé (…) eut la patience de (1’) initier dans les chemins de la jurisprudence anglaise que [sic] les Américains n’avaient pas eu ni le temps ni les moyens peut-être de secouer le joug“.59 So schreibt der Verfasser selbst im Vorwort seiner Druckschrift „d’offrir ce fruit d’un cours d’études que les circonstances singulières me mirent, il y a quelques années, à même d’entreprendre dans une contrée régie par les lois anglaises“.60 Das Werk von Blackstone sei, so Daligny weiter, für englische Leser geschrieben worden, die die Eigentümlichkeiten des englischen Rechts bereits kennen. Sein Werk wolle dagegen die Prinzipien des englischen Rechts nach der, den französischen Leser gut bekannten Legalordnung des Code civil vorstellen. „Mon seul objet“ – schreibt er – „a été d’offrir, dans la langue de notre droit et dans l’ordre des matières du Code Napoléon, les principes de la législation anglaise“.61 Die Darstellung erfolgt in der Tat genau nach der Gliederung der drei Bücher des Code civil.

56 Siehe Maurice-Parfait Daligny (1776 – 1851), Règles du droit anglais, ou, Analyse raisonnée des Commentaires de Blackstone: en ce qui touche les lois purement civiles de l’Angleterre, Paris (: Imprimerie de Mame, frères) 1813 [Paris Bibl. Nat.: Tolbiac-Rez-dejardin–magasin F-33068]. 57 Zur Person vgl. Jacques Xavier Carré de Busserolle (1823 – 1904), Dictionnaire géographique, historique et biographique d’Indre-et-Loire et de l’ancienne province de Touraine, I, Tours 1878, S. 448 – 449 mit Angaben zu seinen zahlreichen Druckschriften; Vincent Bernaudeau, Les magistrats de la cour d’appel d’Angers: entre méritocratie et autoreproduction d’une compagnie judiciaire de province (1848 – 1883), in: Annales de Bretagne et des pays de l’Ouest, Bd. 105, Heft 4, 1998, S. 69 – 83. 58 So Bernaudeau, Les magistrats (Anm. 57), S. 79. 59 So Bernaudeau, Les magistrats (Anm. 57), S. 79. 60 So Daligny, Règles (Anm. 56), Avant-Propos, S. V. 61 So Daligny, Règles (Anm. 56), Avant-Propos, S. VIII.

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2. Die zweite Übersetzung der Commentaries durch Nicolas Maurice Chompré Im Jahre 1822 erscheint die letzte französische Übersetzung der Commentaries. Es handelt sich um ein Werk aus der Feder von Nicolas Maurice Chompré (1750 – 1825).62 Zur Person des Autors ist wenig bekannt.63 Er war wohl kein Jurist. Zwischen den Jahren 1777 – 1786 ist er bei der königlichen Finanzverwaltung, später als französischer Diplomat und Mitglied des Conseil des prises, nachgewiesen. Während der Revolutionszeit war er bei der Katasterverwaltung. Als Schriftsteller war Chompré offenbar sehr produktiv. Die Pariser Bibliothèque Nationale weist von ihm elf Titel, meistens Übersetzungen aus dem Italienischen und dem Englischen, nach. Seine französische Bearbeitung der Commentaries scheint, auch nach einhelliger Ansicht der Zeitgenossen, weit besser und zuverlässiger als alle vorherigen Übersetzungen gewesen zu sein. Sie erfolgte auf der Grundlage der fünfzehnten englischen Auflage der Commentaries, die im Jahre 1809 der englische Richter und Rechtsgelehrte Edward Christian64 mit ergänzenden Anmerkungen besorgt hatte. 3. Das damalige Verständnis und Missverständnis des englischen Common Law Es ist klar geworden, dass alle bisher genannte französische Übersetzer und Bearbeiter der Commentaries von Blackstone vor allem von ideologischen und politischen Motiven geleitet waren. In ihrer anglophilen Begeisterung für die damalige englische Staats- und Rechtsverfassung als vermeintlicher Ort der bürgerlichen Freiheiten, sahen sie darin ein Modell für das zeitgenössische Frankreich. Bezeichnenderweise war kaum einer von ihnen als Jurist beruflich tätig. Die Frage liegt nah, was alle diese französischen Autoren von den Eigentümlichkeiten des damaligen engli62 Siehe [Nicolas Maurice Chompré (1750 – 1825)], Commentaires sur les lois anglaises par M. Blackstone. Avec des notes d’Edward Christian. Trad. de l’anglais sur la 15. éd. [Commentaries on the Laws of England, with the Last Corrections and with Notes and Additions by Edward Christian, 15th ed. 4 vols. London 1809], Paris (: Bossange), I-VI, 1822 – 1823 [UB Tübingen; Paris Bibl. Nat.: Tolbiac-Rez-de-jardin-magasin F-29542 – 29547]; dazu Eller, The William Blackstone Collection (Anm. 4), Nr. 182; Emerson, Did Blackstone (Anm. 4), S. 192; Morin, Blackstone (Anm. 4), S. 108. 63 Dazu Charles-Théodore Beauvais/Antoine-Alexandre Barbier (Ed.), Biographie universelle classique: ou, Dictionnaire historique portatif, I, Paris 1829, S. 625; Dictionnaire biographique universel et pittoresque, I, Paris 1834, S. 94; vgl. von ihm auch Émile Lizé/Élisabeth Wahl (Ed.), Inédits de correspondances littéraires – G.T. Raynal (1751 – 1753), N.M. Chompré (1774 – 1780) – textes établis et annotés, (Correspondances littéraires érudites, philosophiques, privées ou secrètes), Paris Genève, III, 1988. 64 Edward Christian (1758 – 1823) war ein bekannter englische Anwalt und Richter; er wirkte auch als Professor der Rechte an der Universität Cambridge; zu Person und Werk vgl. William Prideaux Courtney, Christian Edward, in: Dictionary of National Biography, X, London 1887, S. 276 – 277; Michael H. Hoffeimer, The Common Law of Edward Christian, in: The Cambridge Law Journal 53 (1994) S. 140 – 163.

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schen Common Law wirklich verstanden haben.65 Wir müssen feststellen, dass eine Antwort hier mehr als ernüchternd ausfallen muss. Die prozessualen Eigenarten der Kasuistik des englischen Fallrechts scheinen ihnen völlig unzugänglich gewesen zu sein. Einige wenige Beispiele werden hier ausreichen müssen. Die Prinzipien des englischen Vertragsrechts finden sich bei Daligny, gemäß der Gliederung des Code civil, im ersten Kapitel des dritten Titels des dritten Buches seiner Schrift. Die gesamte Darstellung fällt äußerst knapp aus und besteht nur aus drei Seiten.66 „Les règles des contrats et obligations en matière personnelle et mobilière“ – schreibt er67 – „sont évidemment empruntées du droit romain“. Es folgt ein kurzer Hinweis auf das prozessuale System der Writs. „La rigueur de ces formes, et aussi leur étrangeté“, – wird dabei angemerkt68 – „mettent souvent obstacle à l’application des règles de l’équité dans toute leur étendue“. Auch die Übersetzung von Joguet bleibt in dieser Hinsicht mehr als unpräzis. Bei Blackstone69 heißt es etwa „A Deed, in general, is the solemn Act of the Parties; being, usually, a Writing sealed and delivered“.70 Joguet übersetzt dies mit „Un contrat en général est l’acte solemnel des parties, étant ordinairement un’ écrit scellé et délivré“.71 Der Unterschied im Common Law zwischen deed und contract72 scheint also Joguet hier nicht klar gewesen zu sein. Die Ungenauigkeit bei der Wiedergabe der spezifischen Sprache des Common Law wird treffend belegt von den Schwierigkeiten dieser französischen Übersetzer mit der Lehre der „Consideration“ im damaligen englischen Vertragsrecht. Es sei kurz daran erinnert, dass die „action of Assumpsit“ als allgemeine Vertragsklage im historischen Common Law des 16 – 18. Jahrhunderts keinesfalls jedem formlosen Versprechen eine prozessuale Durchsetzbarkeit verschaffte. Auch die englischen Juristen sprachen damals von der Regel „ex nudo pacto actio non oritur“. Als „nudum pactum“ wurde jedoch nicht, wie im kontinentalen Civil Law, eine formlose Vereinbarung verstanden sondern eine Vereinbarung ohne eine ausreichende „Consideration“. Die Gerichtspraxis entwickelte nämlich seit dem 16. Jahrhundert eine Reihe von objektiven Kriterien, anhand derer entschieden werden kann, inwieweit ein Versprechen als prozessual durchsetzbar anzusehen ist. Man spricht seitdem im englischen Vertragsrecht von der Notwendigkeit einer „Consideration“.73 William Blackstone 65 Diese Frage wird aufgeworfen, aber unbeantwortet gelassen von Emerson, Did Blackstone (Anm. 4), S. 197. 66 Siehe Daligny, Règles (Anm. 56), S. 89 – 91. 67 So Daligny, Règles (Anm. 56), Avant-Propos, S. 89. 68 So Daligny, Règles (Anm. 56), Avant-Propos, S. 89. 69 Siehe die Ausgabe Blackstone, An Analysis (Anm. 2), 5th ed., Oxford 1762. 70 So Blackstone, An Analysis (Anm. 2), II, chap. 14, § 6, S. 56. 71 So Joguet, Analyse (Anm. 47), S. 101. 72 Dazu Ranieri, Europäisches Obligationenrecht (Anm. 2), S. 68 Anm. 121. 73 Consideration (engl.): von lat. considerare; Gegenversprechen, Gegenleistung. Für den Vertragsschluss kommt es im Common Law nicht darauf an, ob jemand sich in einer bestimmten Form verpflichtet, sondern ob seitens des Vertragspartners ein Gegenversprechen (consideration) abgegeben wird. Ein Vertrag wird nämlich erst dann konstitutiv wirksam,

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behandelt ausführlich das Problem in seinen Commentaries. Folgender Auszug gibt in exemplarischer Weise die klassische Sicht des Common Law zu unserem Thema am Ende des 18. Jahrhunderts wider. „(…) a man cannot be compelled to perform“, – schreibt Blackstone – „but upon good and sufficient consideration; as we shall see under our next division. IX. A Contract, which usually conveys an interest merely in action, is thus defined: an agreement, upon sufficient consideration, to do or not to do a particular thing“. (…) „It is an agreement, upon sufficient consideration“. (…) „This thing, which is the price or motive of the contract, we call the consideration: and it must be a thing lawful in itself, or else the contract is void. A good consideration, we have before seen, is that of blood or natural affection between near relations; (…) This consideration may sometimes however be set aside, and the contract become void, when it tends in it’s consequences to defraud creditors or other third persons of their just rights. But a contract for any valuable consideration, as for marriage, for money, for work done, or for other reciprocal contracts, can never be impeached at law; and, if it be of a sufficient adequate value, is never set aside in equity: for the person contracted with has then given an equivalent in recompense, and is therefore as much an owner, or a creditor, as any other person. (…).“74 Wie wurde dieser recht schwierige englische Rechtstext überhaupt übersetzt? Haben unsere französischen Autoren das Problem verstanden? Bereits in seiner Analysis of the Laws of England spricht Blackstone von einer „good and sufficient Consideration“.75 Joguet gibt dies missverständlich mit „Une bonne et suffisante compensation“ wieder.76 Das Wort „compensation“ für das englische „consideration“ wird hier übrigens kursiv gedruckt, als ob der Verfasser selbst hier über die Ungenauigkeit seiner Übersetzung im Klaren war. An anderer Stelle seiner Analysis of the Laws of England heißt es bei Blackstone nämlich, „A Contract is an Agreement, upon sufficient Consideration, to do or not to do a particular Thing“.77 Joguet überträgt dies mit „Un contrat est un consentement, d’après un motif suffisant, de faire ou de ne pas faire une chose

wenn der Versprechensempfänger einer Leistung eine wie auch immer geartete „Gegenleistung“ verspricht bzw. erbringt. Zur Geschichte der Bezeichnung und dieser Lehre grundlegend E. Bucher, England und der Kontinent. Zur Andersartigkeit des Vertragsrechts. Die Gründe, und zu Consideration, in: Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaft 2006, S. 164 ff., insb. S. 179 ff.; James Gordley, Consideration, in: Elgar Encyclopedia of Comparative Law, J. M. Smits (Ed.), 2006, chapter 16. Siehe ferner zum Thema Max Rheinstein, Die Struktur des vertraglichen Schuldverhältnisses im anglo-amerikanischen Recht (Beiträge zum ausländischen und internationalen Privatrecht Bd. 5), Berlin/Leipzig 1932, S. 56 ff.; David Ibbetson, Consideration and the Theory of Contract in Sixteenth Century Common Law, in: J. Barton (Ed.), Towards a General Law of Contract (Comparative Studies in Continental and AngloAmerican Legal History. Vergleichende Untersuchungen zur kontinentaleuropäischen und angloamerikanischen Rechtsgeschichte, Bd. 8), Berlin 1990, S. 67 ff.; Ranieri, Europäisches Obligationenrecht (Anm. 2), S. 75 – 83 sowie S. 87 – 91. 74 So Blackstone, Commentaries (Anm. 2), Bd. II (1766), Kap. 30, S. 442 ff. 75 So Blackstone, An Analysis (Anm. 2), II, chap. 14, § 6, S. 56. 76 So Joguet, Analyse (Anm. 47), S. 101. 77 So Blackstone, An Analysis (Anm. 2), II, chap. 21, § 2, S. 68.

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déterminé“.78 Also die englische Consideration wird hier vom Übersetzer wiederum anders verstanden, nämlich als ein Motiv der Vertragsschließenden. Demgemäß wird der weitere Text von Blackstone, „The Consideration of Contracts is, 1. A good Consideration. 2. A valuable Consideration“,79 so widergegeben „Le motif d’un contrat doit être, 1. bon; 2. valable“.80 Damiens de Gomicourt überträgt bei seiner ersten Übersetzung der Commentaries die ober zitierte Stelle von Blackstone mit „C’est un accord sur une considération suffisante (…) La chose changée qui est le prix ou le motif du contrat, c’est ce que nous appelons considération“.81 Nicolas Maurice Chompré scheint hier weit problembewusster gewesen zu sein. Bereits im Vorwort zu seiner Übersetzung macht er auf die Schwierigkeit aufmerksam, die technische Sprache des Common Law auf Französisch widerzugeben.82 „J’ai adopté de préférence, – schreibt er83 – (…) l’emploi assez fréquent de termes anglais, après les avoir définis, avec le secours de Blackstone lui-même, ou des dictionnaires de jurisprudence anglaise“. Die erwähnte Stelle von Blackstone lautet dann bei ihm wie folgt, „En second lieu, les actes doivent être fondés sur de bons et suffisants motifs, de bonnes et valables considérations“.84 In einer Anmerkung wird dies so erläutert: „Par ce mot considération, la législation anglaise désigne le motif, quel qu’il soit, d’une vente ou concession; une somme d’argent, une obligation contractée, un devoir à remplir, l’affection entre proches parents, ce sont autant de considérations bonnes ou valables“.85 V. Forschungsausblick Die Übersetzung von Nicolas Maurice Chompré scheint das letzte bedeutsame Werk zum englischen Recht in der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts gewesen zu sein.86 Dies scheint nicht überraschend zu sein. Seit den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts entwickelt sich das französische Privatrecht in der Tradition des Code civil zunehmend autoreferentiell. Das damalige französische privatrechtliche Schrifttum ist nämlich weitestgehend auf die Kodifikation bezogen. Auch der spezifische rechtspolitische Hintergrund, dem im 18. Jahrhundert das allgemeine Interesse für das Werk von William Blackstone zugrunde lag, hatte sich nunmehr erledigt.87 Hier können wir übrigens den beachtlichen Unterschied zu Deutschland er78

So Joguet, Analyse (Anm. 47), S. 121. So Blackstone, An Analysis (Anm. 2), II, chap. 21, § 4, S. 56. 80 So Joguet, Analyse (Anm. 47), S. 121. 81 So de Gomicourt, Commentaires (Anm. 18), III, S. 349. 82 Siehe Chompré, Commentaires (Anm. 62), I, Préface, S. XI. 83 So Chompré, Commentaires (Anm. 62), I, Préface, a. a. O. 84 So Chompré, Commentaires (Anm. 62), I, S. 169. 85 So Chompré, Commentaires (Anm. 62), a. a. O. 86 Das Werk von Ernest Lehr (1835 – 1919), Elements de droit civil anglais, Paris 1885, zählt wohl nicht dazu, da der Verfasser ein Schweizer Professor in Lausanne war. 87 Zur damaligen Entfremdung der französischen Rechtskultur zum englischen Recht siehe Emerson, Did Blackstone (Anm. 4), S. 192 – 194. 79

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kennen, wo die Vertreter des germanistischen Zweiges der Historischen Rechtsschule im englischen Recht weiterhin eine wichtige Erkenntnisquelle bei der Rekonstruktion des Deutschen Privatrechts sahen.88 Erst im 20. Jahrhundert, bei der Geburt der modernen Rechtsvergleichung, wird das Interesse für das englische Recht auch in Frankreich wieder neu entstehen, aber unter völlig veränderten Kultur- und wissenschaftspolitischen Rahmenbedingungen. So publiziert Luc Henry Dunoyer im Jahre 1927 eine Doktoratsarbeit mit dem Titel „Blackstone et Pothier“.89 Erwähnenswert ist hier vor allem, dass diese Untersuchung damals von Henri Lévy-Ullmann (1870 – 1947) angeregt worden war. Dieser gründete zusammen mit Henri Capitant im Jahre 1931 das „Institut de droit comparé“ an der Pariser Universität und war ein weltbekannter Rechtsgelehrter und gilt heute als ein einer der Väter der modernen französischen Rechtsvergleichung. Seine Monographie „Le système juridique de l’Angleterre“90 zu den Quellen des Englischen Rechts wurde damals von einem berühmten zeitgenössischen englischen Kollegen als „the best of all introductions to the study of the English legal systems“ gefeiert.91

88

Nachweise bei Ranieri, Eine frühe deutsche Übersetzung (Anm. 3), S. 878 – 882. Siehe Luc Henry Dunoyer, Blackstone et Pothier. Thèse pour le doctorat en droit (sciences juridiques) (Collection d’études théoriques et pratiques de droit étranger, de droit comparé et de droit international n. 7), Paris 1927; dazu Emerson, Did Blackstone (Anm. 4), S. 197 – 198. 90 Siehe Henri Lévy-Ullmann, Le système juridique de l’Angleterre, Paris 1928 [Nachdruck Paris 1999]; engl. als: The English Legal Tradition: Its Sources and history, translated from the French by M. Mitchell and revised and edited by Frederic M. Goadby, D.C.L., with a foreword by Sir W. S. Holdsworth, London 1935; zu Person und Werk vgl. Le´on Julliot de La Morandie`re/Marc Ancel (Ed.), L’Oeuvre juridique de Le´vy-Ullmann: Contribution a` la doctrine moderne sur la science du droit et le droit compare´ (Travaux et recherches de l’Institut de droit compare´ de l’Universite´ de Paris, n.12), Paris (: Centre franc¸ ais de droit compare´) 1955. 91 So W. S. Holdsworth, Foreword (Anm. 90), S. VII. 89

Minderheit und Kontrolle Die Enquête in den Zeiten der Großen Koalition: Eine Skizze Von Roland Rixecker, Saarbrücken I. Szenario Zu den prägenden Elementen der freiheitlich-demokratischen Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland gehört das Recht auf Bildung und Ausübung einer parlamentarischen Opposition.1 „Her majesty’s most loyal opposition“ ist allerdings verfassungsgeschichtlich und verfassungsrechtlich eher ein Weistum der angelsächsischen Verfassungstradition als des deutschen Verfassungsrechts. Niemand hat im deutschen Verfassungsrecht so recht Gewissheit darüber gefunden, so scheint es ausweislich seiner führenden Werke2, wer unter dem Grundgesetz (und den Verfassungsgesetzen der deutschen Länder) Träger der Rechte der Opposition sein soll und was ihr – institutioneller oder funktioneller3 – Gehalt ist. Solange ihr Bestand als solcher allerdings nicht – durch der Dämmerung der Weimarer Republik entsprechende staatsstreichartige Maßnahmen oder Verfassungsvergewaltigungen – in Frage gestellt worden ist, hat bislang anscheinend niemand unter dieser Entbehrung gelitten. Das kann sich ändern. Im 18. Deutschen Bundestag, dessen Wahlperiode die Jahre 2013 bis 2017 umfasst, sind 631 Abgeordnete vertreten. 311 Abgeordnete gehören der Fraktion der CDU/CSU an, 193 der Fraktion der SPD, 64 Abgeordnete der Fraktion Die Linke und 63 der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Die Bundesregierung wird getragen von einer „Großen Koalition“ der Fraktionen von CDU/CSU und SPD, also von 504 Abgeordneten oder 79,87 % der Mitglieder des Parlaments. „Die Opposition“ hat also eine parlamentarische Stärke von 20,13 %. Diese überwältigende Mehrheit der die Regierung tragenden Mitglieder des Deutschen Bundestages hat sehr rasch die Frage aufgeworfen4, ob und wie die ihr gegenüber stehende Minderheit überhaupt wahrnehmbar sein kann und welche Befugnisse ihr zur Kontrolle der von der Mehrheit des Parlaments getragenen Regierung zuste1

BVerfGE 2,1,13 – SRP. Vgl. nur u. a. Jarass/Pieroth, GG, Art. 20 Rdn. 15, 13. Auflage, München, 2014; v. Mangoldt/Klein/Starck/Achterberg/Schulte, GG, Band 2, Art. 42 Rdn. 45, 6. Auflage, München, 2010; Dreier, in: ders., GG, Band 2, Art. 20 D Rdn. 81, 3. Auflage, Tübingen, 2013. 3 Vgl. Huber, Handbuch des Staatsrechts Band III, § 47 Rdn. 48 ff. 4 Vgl. nur u. a. Greven, Zeit-online vom 2. 12. 2013, Schwarz-Rot bedroht die Demokratie. 2

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hen können. Ihre Beantwortung ist nicht zuletzt deshalb schwierig, weil sie weder auf unschwer übertragbare judikative Erkenntnisse noch auf vertiefte literarische Stellungnahmen zurückgreifen kann. Daher soll auch im Folgenden nur eine Skizze eines Problems gezeichnet werden, das die parlamentarische Praxis und das Parlamentsrecht künftig stärker beschäftigen mag und eine grundsätzliche Debatte um die Voraussetzungen und Reichweiten von Minderheitskontrollrechten auslösen kann. Die gesellschaftliche Fragmentierung, die Heterogenität der Lebensentwürfe, die Fragilität der parteipolitischen Zuneigungen und eine von ein wenig idealistischen oder gar fundamentalistischen demokratischen Hoffnungen begleitete Zersplitterung der Parlamente kann nämlich – ganz gegen die sie begleitenden und tragenden Erwartungen – zu einer faktischen Minderung des Gewichts von Minderheitenrechten und damit gleichzeitig zu einer faktischen Stärkung einer kontrollresistenteren Exekutive führen. Von besonderer Bedeutung ist dabei das Enquêterecht des Parlaments. Mit den Möglichkeiten der Konstituierung eines Untersuchungsausschusses, seinen Befugnissen und seinen im Wesentlichen auch von einer parlamentarischen Minderheit beeinflussbaren und gestaltbaren, mit gewissermaßen inquisitorischen Befugnissen gestützten Recherchen vermag er Missstände effektiv aufzudecken, ihre Ursachen aufzuklären, Verantwortlichkeiten zuzuordnen und Besserung vorzuschlagen5. Das Grundgesetz (Art. 44 Abs. 1 GG) spricht bekanntlich – von seinem historischen Vorbild, der Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. 08. 1919 im Quorum abweichend – davon, dass der Deutsche Bundestag das Recht und auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder die Pflicht hat, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen. Die Norm begründet also neben dem fast selbstverständlichen Recht des Parlaments, sich in einem spezifischen, mit Vollstreckungsbefugnissen ausgestatteten Verfahren der „Selbstbeschaffung“ von Informationen6 eine verfassungsrechtliche Befugnis (auch) einer qualifizierten Minderheit, Kontrolle auszuüben. Das „Ausführungsgesetz“ zu Art. 44 Abs. 1 GG, das Gesetz zur Regelung des Rechts der Untersuchungsausschüsse des Deutschen Bundestages (PUAG), im Wesentlichen eine in Gesetzesform gegossene Geschäftsordnung des Parlaments, definiert die Minderheitenrechte näher: Neben der Wiederholung des Rechts eines Viertels der Mitglieder des Deutschen Bundestages, die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zu verlangen (§ 1 Abs. 1 PUAG), werden vor allem die Einsetzung eines Ermittlungsbeauftragten (§ 10 Abs. 1 PUAG), die Pflicht zur Erhebung von Beweisen (§ 17 Abs. 2, 3 PUAG) und die Möglichkeit, bei einer Ablehnung von Ersuchen um Informationsbeschaffung durch die Bundesregierung das Bundesverfassungsgericht um eine Entscheidung zu ersuchen (§ 18 Abs. 3 PUAG), davon abhängig gemacht, dass (wenigstens) das grundgesetzliche Einsetzungsquorum das Verlangen vertritt. Das bedeutet, vereinfacht gesagt: Nach herkömmlichem Verfassungs- und Ge5 Vgl. Dreier/Morlok, Band 2, Art. 44 Rdn. 8 ff., 3. Auflage, Tübingen, 2013; v. Münch/ Kunig/Versteyl, Band 1, Art. 44 Rdn. 1 ff., 6. Auflage, München, 2012. 6 Dreier/Morlok, Band 2, Art. 44 Rdn. 12, 3. Auflage, Tübingen, 2013.

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schäftsordnungsgesetzesrecht hängt das Kontrollrecht eines Untersuchungsausschusses von seiner Verteidigung durch 1/4 der Abgeordneten des Parlaments oder ihrer Repräsentanten im Untersuchungsausschuss ab, ist dann aber auch grundsätzlich Behinderungen der Mehrheit gegenüber wehrfähig.7 Fraglich ist, ob das auch in den Zeiten einer (besonders) großen Koalition, die die Opposition quantitativ auf ein geringeres als das Viertelquorum zurückgedrängt hat, für die geringere Minderheit gleichfalls gilt: Gibt es eine Mathematik der Verfassung, nach der ein Viertel auch ein Fünftel (oder vielleicht noch weniger) sein kann oder gar muss? II. Rechte 1. Verfassungsrechtliche Fragen Das Grundgesetz gewährt das Minderheitenenquêterecht nur einem bestimmten Quorum der Mitglieder des Deutschen Bundestages: einem Viertel (Art. 44 Abs. 1 GG). Das sind gegenwärtig 158 Abgeordnete. Die die Bundesregierung nicht tragenden Fraktionen erreichen diese Zahl nicht. In den Bundesländern ist das – in Erinnerung an das Quorum der Weimarer Reichsverfassung – zum Teil anders: Die Verfassungen von Bayern (Art. 25), Brandenburg (Art. 72), Hessen (Art. 92), Niedersachsen (Art 27), Nordrhein-Westfalen (Art. 41), Rheinland-Pfalz (Art.91), Sachsen (Art. 54), Schleswig-Holstein (Art. 18) und Thüringen (Art. 64), also von neun der sechzehn Bundesländer, sehen ein Fünftel als Einsetzungs- und damit notwendigerweise auch als Quorum der Verfahrensbeeinflussung vor. Aber auch dort ist selbstverständlich denkbar, dass „die Opposition“ ein solches Quorum nicht erreicht. Sprechen Verfassungen oder Gesetze von einem bestimmten Quorum, das eine Entscheidung tragen muss, so liegt es nahe anzunehmen, dass entscheidend auch wirklich nur dieses Quorum ist. Zahlenverhältnisse sind (anders als Rechtsverhältnisse) einer Interpretation schwer zugänglich. Aber kann sich nicht doch, weil auch große Mehrheiten irren und sich fehlsam verhalten können (und es vielleicht gerade weil sie große Mehrheiten sind, häufiger tun), aus den demokratiestaatlichen Grundsätzen zum Status der „parlamentarischen Opposition“ Anderes ergeben? Müssen die Grundrechenarten zurücktreten, wenn es um das Recht auf Bildung und Ausübung der Opposition als eines zentralen Elements von Demokratie geht?

7 Vgl. nur u. a. BVerfGE 49, 70 ff. – Untersuchungsausschuss Gewerbebau SchleswigHolstein.

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2. Verfassungsgesetzliche Garantien der Opposition Was aber dieses „obskure Objekt der Begierde“ verfassungspolitischen Vertrauens darein, dass alles gut werden kann, ist – die Opposition8 – und was seine Befugnisse sind, ist dunkel. Das erlaubt zunächst einen Blick auf die Verfassungen der Bundesländer, jenen gelegentlichen Werkstätten von Versuchen verfassungspolitischer Innovation. Sie bieten, was den Schutz der Opposition betrifft, ein buntes Bild: Einige von ihnen deklarieren „die Opposition“ oder jedenfalls die die Regierung nicht tragenden Fraktionen „als“ Opposition“ zum wesentlichen Bestandteil der parlamentarischen Demokratie (Art. 55 der Verfassung des Landes Brandenburg; Art. 24 Abs. 1 der Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg; Art. 85b der Verfassung für RheinlandPfalz; Art. 40 der Verfassung des Freistaats Sachsen; Art. 12 der Verfassung des Landes Schleswig-Holstein). Sie garantieren durchweg ausdrücklich oder inzident das Recht auf Bildung und Ausübung der Opposition (Art. 78 der Verfassung der Freien Hansestadt Bremen). Manche erwähnen deren Aufgabe, die „Regierung“ oder ihr Programm öffentlich kritisch zu bewerten (Art. 24 Abs. 1 der Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg). Einige gewährleisten der „Opposition“ ein Recht auf Chancengleichheit (Art. 19 Abs. 3 der Niedersächsischen Verfassung; Art. 40 der Verfassung des Freistaats Sachsen; Art. 48 der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt; Art. 59 der Verfassung des Freistaats Thüringen) – und, nicht zu unterschätzen, versprechen eine adäquate finanzielle Ausstattung –, andere schrecken davor zurück und sprechen von „politischer“ Chancengleichheit (Art. 34 der Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern; Art. 59 der Verfassung des Landes Schleswig-Holstein). Der Blick auf das, was dieses „Recht auf (politische) Chancengleichheit“ meint, ernüchtert jedoch. Verfassungsrechtlich jedenfalls soll es sich im Wesentlichen um eine „Staatszielbestimmung“, besser wohl: einen Verfassungsauftrag, handeln, der keine konkreten verfassungsrechtlichen Befugnisse generieren soll.9 Gewiss ist, dass eine Verfassung nicht – im Sinne einer gewissermaßen institutionellen Garantie – versprechen kann, dass, Wahlen hin, Wahlen her, Koalitionsverhandlungen hin oder her, in jedem Parlament eine Opposition vorhanden ist: Das Recht auf Bildung und Ausübung der Opposition verbietet weder eine Allparteienregierung noch garantiert es Minderheiten, dieselben Befugnisse ausüben zu dürfen, wie sie der Mehrheit zukommen: Das Recht auf Chancengleichheit ist, nicht anders als im Recht der po-

8 Vgl. zu einem Mindeststandard von Minderheitenrechten BVerfGE 70, 324 ff. – Haushaltskontrolle der Nachrichtendienste. 9 Vgl. Linck/Baldus/Lindner/Poppenträger/Ruffert, Die Verfassung des Freistaats Thüringen, Baden-Baden, 2013 Art. 59 Rdn. 13 ff.; Litten/Wallerath/Wiegand-Hoffmeister, Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern, Baden-Baden 2007, Art. 26 Rdn. 6; Caspar/ Ewer/Nolte/Waack, Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, Kiel 2006, Art. 12 Rdn. 4, 11, 16.

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litischen Parteien10, ein Recht abgestuften Wirkungsgrades. Die landesverfassungsrechtliche appellative Seligsprechung von Opposition ist also nicht geeignet, die Wunderheilungskräfte eines quorenindifferenten Enquêterechts freizusetzen. Die Frage, ob in Zeiten übermächtiger, die Bundesregierung tragender parlamentarischer Mehrheiten deren Kontrolle – vor allem durch das wirkungsvollste Instrument eines Untersuchungsausschusses – durch eine Mikroopposition verfassungsrechtlich möglich oder gar geboten ist, genießt in der verfassungsjuristischen Diskussion keine besondere Aufmerksamkeit. Substantiell hat, soweit ersichtlich, dazu in neuerer Zeit bislang lediglich Pascale Cancik Stellung genommen.11 Ihre Argumentation geht davon aus, dass von Verfassungs wegen die für die Ausübung der Rechte der Opposition relevanten Wirkungsmöglichkeiten garantiert sein müssen. Das Enquêterecht gehöre aber zur Grundausstattung einer parlamentarischen Opposition. Daher sei es erforderlich, die quantitative Qualifikation der Minderheit, die dieses Instrument zu nutzen imstande wäre, nach der je existierenden Minderheit zu bestimmen. Wenn Art. 44 Abs. 1 GG von einem Viertel der Mitglieder des Parlaments spreche, sei das, so kann Pascale Cancik verstanden werden, nur eine verfassungsgesetzliche Obergrenze. Das ist vereinzelt aber sympathisch. In der Tat fragt sich, ob aus der dem Demokratieprinzip inhärenten Gewährleistung des Rechts auf Bildung und Ausübung von Opposition und den ihr im Kern zuzusprechenden Kontrollbefugnissen ein Mehrwert erzeugt werden kann. Wenn eine „Opposition“ einer „Regierung“ Stand halten soll, wenn gar eine übermächtige parlamentarische Mehrheit am Missbrauch ihrer Macht gehindert werden soll, muss dann nicht – völlig unabhängig von verfassungsgesetzlich definierten Schwellenwerten – die jeweilige Minderheit auch in den Stand gesetzt werden, der Mehrheit auf die Finger zu schauen? Die aus einzelnen verfassungsgesetzlichen Schutzversprechen abgeleiteten und durch Zusammenschau erhöhten „Oppositionsrechte“ gewönnen auf diese Weise einen „überschießenden“ Gehalt. „Opposition“, wer immer das ist, verfügte plötzlich über eine von der politischen Realität unabhängige, prinzipiengeleitete Waffenfähigkeit. Das mag ein verfassungspolitischer Wunsch sein, Verfassungsrecht ist es nicht. Knüpft die Verfassung konkrete Kontrollrechte an bestimmte institutionelle Gegebenheiten, an organisatorische Verfestigungen oder an Quoren, so bestimmt die Verfassung, was „Opposition“ ist und was sie darf. Minderheitenrechte durch Interpretation zu konstruieren hat seinen Reiz, überzeugt aber – leider – nicht so recht. Völlig zutreffend wird allerdings darauf verwiesen, dass dem Vorschlag gewissermaßen fließender Minderheitenrechte nicht entgegengehalten werden kann, die in10

Vgl. nur u. a. Lenski, Parteiengesetz, § 5 Rdn. 18 ff. m.w.N., Baden-Baden, 2011. Cancik, Wirkungsmöglichkeiten parlamentarischer Oppositionen im Falle einer qualifizierten Großen Koalition, NVwz 2014, 18 ff.; vgl. i.Ü. allg. dies., Oppositionsregelungen als Anspruchsvoraussetzungen, AöR 123 (1998), 623 ff.; Schneider, Das Parlamentsrecht im Spannungsfeld von Mehrheitsentscheidung und Minderheitenschutz, FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, II, S. 627 ff. 11

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terpretatorische Reduktion von Einsetzungsminderheiten sei missbrauchsanfällig und gefährde die Arbeitsfähigkeit des Parlaments12: Sowohl die faktischen Grenzen einer Instrumentalisierung der Missbrauchsenquete als auch die Befugnisse von parlamentarischen Mehrheiten und des typischen Kontrollobjekts „Regierung“ stehen dem entgegen. Und wenn man akzeptiert, dass das demokratische Prinzip die Legitimation von Mehrheitsentscheidungen trägt, so bedeutet das lange nicht, dass es das Maß und das Gewicht von Minderheitenrechten zugleich zu beschneiden gebietet. Dennoch ist die These, die verfassungsrechtlichen Befugnisse von Minderheiten müssten sich der tatsächlichen Menge einer jeweiligen Minderheit anpassen, nicht haltbar. Zum einen lässt der Wortlaut der Verfassung schwerlich einen Interpretationsspielraum. Das Viertelquorum des Art. 44 Abs. 1 GG lässt (und die Fünftelquoren der Verfassungen mancher Bundesländer lassen) in gar keiner Weise erkennen, dass damit nur Höchstgrenzen gemeint sein sollen. Schon verfassungshistorisch spricht alles dagegen. Die Verfassungssystematik, die sehr genau auf regulative Quoren achtet, zeigt keine Ansätze eines beweglichen Systems. Und ein – durchaus verständlicher – Appell an den Zweck der Kontrollbefugnisse einer Minderheit, ihrem mächtigeren Gegenstück keine freie Hand und nicht durch schlichte politische Verträge „plein pouvoir“ zu gewähren, muss sich die – rational nicht zu beantwortende – Frage nach der Grenze stellen: Soll ein Einsetzungsquorum, das in Art. 44 Abs. 1 GG nur eine Höchstgrenze angeordnet sieht, auch einmal ein Zehntel oder im verfassungspolitischen Ernstfall der einzige und letzte oppositionelle Abgeordnete sein dürfen, der das Licht anmachen darf? Verfassungsdogmatisch gilt es im Übrigen zu bedenken: Natürlich gehört der Schutz der Minderheitsrechte, der Schutz von „Opposition“, zu den grundlegenden Prinzipien der parlamentarischen Demokratie: Auch dem einzigen und letzten oppositionellen Abgeordneten darf nicht das Rederecht, nicht das Antragsrecht und nicht das Stimmrecht genommen werden.13 Sein abwehrrechtlicher Status ist mehrheitsresistent. Das Maß der ihm zustehenden Kontrollbefugnisse ist indessen nicht von abwehr- sondern von teilhaberechtlicher Qualität. Das, was „an sich“ ein Recht des gesamten Parlaments ist, zu dessen Ausübung dem Parlament gewissermaßen exekutive Befugnisse verliehen werden, wird im Interesse transparenter und gebundener Herrschaft auch auf eine Minderheit übertragen. Wie eine solche Teilhabe möglich ist, wie sie wirken kann, ist aber – naturgemäß – abhängig von dem Gewicht, das sie in die Waagschale werfen kann. Man kann das Grundgesetz und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auswringen so tüchtig man will. Aus einem Viertel wird nicht weniger. Gewiss: Die Rechte von Minderheiten sind zu bewahren und auch verfassungsgerichtlich bewehrt: Aber sie bewegen sich im Rahmen ihrer Gewährleistungen und sind – als Prin-

12

Cancik, NVwZ 2014, 18, 21/22. Vgl. zu den Beteiligungsrechten von Gruppen BVerfGE 96, 264 ff. – Grundmandatsklausel. 13

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zip – nicht geeignet, die Kräfte von Minderheiten beliebiger Größe wuchern zu lassen. 3. Gnadenweise Gewährung? Der 18. Deutsche Bundestag hat – verdienstvollerweise – versucht, die Rechte der Minderheit durch Regelungen seiner Geschäftsordnung zu stärken. Nunmehr bestimmt § 126a GOBT – soweit die Vorschrift das Enquêterecht betrifft – in zweierlei Hinsicht Neues: Zum einen setzt der Deutsche Bundestag auf Antrag von 120 Mitgliedern des Deutschen Bundestages – das ist etwas weniger als die Stärke der die Bundesregierung nicht tragenden Fraktionen – einen Untersuchungsausschuss gemäß Art. 44 Abs. 1 GG ein. Die Zahl der Mitglieder des Untersuchungsausschusses wird nach dem durch den Deutschen Bundestag beschlossenen Verteilverfahren so bestimmt, dass die Fraktionen, die nicht die Bundesregierung tragen, gemeinsam ein Viertel der Mitglieder stellen. Das bedeutet, vereinfacht gesagt: Das parlamentarische Geschäftsordnungsrecht gewährt einem von der Verfassung abweichenden Minderheitsquorum ein Untersuchungsausschusseinsetzungsrecht. Und es organisiert eine Ausschussminderheit, die – abweichend von den strengeren Vorgaben des Grundgesetzes und des Gesetzes über parlamentarische Untersuchungsausschüsse (PUAG) – rechtlich in der Lage ist, das Vorgehen des Untersuchungsausschusses zu beeinflussen. Minderheitenrechte werden folglich autonom (und damit natürlich jederzeit revidierbar) binnenregulativ bewilligt: Das grundgesetzliche Viertel darf auch ein parlamentsrechtliches Fünftel sein. Das ist zunächst ein spannender politischer Vorgang: Die Macht der Opposition ergibt sich nicht nur aus der nur mit qualifizierter Mehrheit änderbaren Verfassung. Sie beruht eine Wahlperiode lang auf der vornehmen Selbstbescheidung – oder härter: Gnade – einer mit einfacher Mehrheit handlungsfähigen Versammlung von Abgeordneten, die – an sich – keinen verfassungsgesetzlichen Anlass sehen müssen, sich (oder besser, die von ihnen getragene Bundesregierung) der Kontrolle durch grundgesetzlich nicht geschützte Wenige zu unterwerfen. Die Mehrheit verbeugt sich vor dem verfassungspolitischen Anliegen der Minderheit. Es ist allerdings auch ein rechtlich spannender Vorgang. Niemand wird sich daran stören, dass die eine Bundesregierung tragende Mehrheit die Kontrolle der Exekutive auch einer verfassungsrechtlich nicht vorgesehenen Minderheit erlaubt. Sie könnte sie ja auch in jedem Einzelfall beschließen.14 Das ist indessen nur ein Teil (wenn auch der größte) des Problems und noch kein abschließender Teil seiner Lösung. Einsetzungsminderheiten und sie repräsentierende Ausschussminderheiten können bewirken, dass Grundrechtseingriffe erfolgen. Die Erlaubnis dazu folgt aus dem Grundgesetz. Wenn die Erlaubnis dazu künftig aus § 126a GOBT folgt, wird ihre richterliche Kontrolle (§§ 17 Abs. 4, 18 Abs. 4 PUAG) möglicherweise die Frage zu beantworten haben, ob das Geschäftsordnungsrecht überhaupt die erforderliche Rechtsgrundlage für einen solchen Eingriff bieten kann. 14

Vgl. Cancik, NVwZ 2014, 18, 21 zur erlaubten Selbstbindung.

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III. Wirkliche Fragen und mögliche Antworten Andere Fragen sind indessen, so wichtig die Grundrechte der von einem parlamentarischen Untersuchungsverfahren Betroffenen sind, vordringlicher. Rechte, die einer Minderheit eingeräumt werden, tragen nicht, wenn sie im Ernstfall nicht durchgesetzt werden können. Mit den Befugnissen der von Art. 44 Abs. 1 GG und den Vorschriften des PUAG genannten qualifizierten Minderheit hat sich die Verfassungsrechtsprechung immer wieder befasst. 1. Parteifähigkeit im Organstreitverfahren Dabei gehört zu den Selbstverständlichkeiten, dass die Einsetzungsminderheit in einem Organstreitverfahren, in dem es um das Untersuchungsrecht des Parlaments geht, parteifähig ist: das Grundgesetz selbst stattet sie mit eigenen Rechten aus.15 Die in der Verfassungsrechtsprechung gelegentlich angesprochene Frage, ob auch eine oder mehrere Fraktionen des Deutschen Bundestages, deren Abgeordnetenzahl in der Summe die Einsetzungsminderheit ergibt oder übertrifft, das Untersuchungsrecht des Parlaments vor dem Bundesverfassungsgericht verteidigen können, ist eine Scheinfrage: Das Grundgesetz und das PUAG gewähren die Befugnis, die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zu beantragen und durchzusetzen, immer nur einem bestimmten Quorum von Abgeordneten, nicht einer oder mehreren Fraktionen. Es ist folglich allein eine Auslegungsfrage, ob mit einer Parteibezeichnung „Fraktion der X“ auch die Abgeordneten gemeint sind, die sich zu ihr zusammengeschlossen haben.16 In den Zeiten der „qualifizierten großen Koalition“17 kann sich die Parteifähigkeit einer „Mikroopposition“ zwar nicht aus Art. 44 Absatz 1 GG ergeben. Sie folgt indessen, weil § 63 BVerfGG die Parteifähigkeit im Organstreitverfahren auch aus der Verleihung von Rechten durch die Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans abzuleiten erlaubt, aus § 126 a GOBT: Die GOBT bestimmt also nicht nur materiell-rechtlich, dass 120 der Mitglieder des Deutschen Bundestages, die sich zu einer geschäftsordnungsrechtlichen Einsetzungsminderheit zusammengeschlossen haben, Partei eines Organstreits sein können, sondern hat auch verfassungsprozessrechtlich zur Folge, dass diese 120 Abgeordneten, solange die Regelung zum Zeitpunkt der behaupteten Verletzung des von § 126 a GOBT gewährten Rechts in Kraft steht, fähig sind, Antragsteller eines Organstreitverfahrens zu sein.

15 Vgl.u.a. BVerfGE 124, 78 ff. – BND-Untersuchungsausschuss; 113, 113, 121 – VisaUntersuchungsausschuss; 105, 197, 220 – Parteispenden-Untersuchungsausschuss; 67, 100, 126 – Flick-Untersuchungsausschuss; Lechner/Zuck, BVerfGG, § 63, Rdn. 13, 6. Auflage, München, 2011. 16 BVerfGE 96, 223, 229. 17 Cancik, a. a. O.

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2. Antragsbefugnis im Organstreitverfahren Die Parteifähigkeit ist aber nur die erste zu überwindende Hürde für die neue Minderheit. Nach § 64 BVerfGG sind nur diejenigen im Organstreitverfahren Beteiligten antragsbefugt, die geltend machen können, dass sie in eigenen, ihnen durch die Verfassung selbst gewährten Rechten verletzt oder unmittelbar gefährdet sind18, oder dass wenigstens das Organ, dem sie angehören, in eigenen, ihm durch die Verfassung selbst gewährten Rechten verletzt oder unmittelbar gefährdet ist. Das bedeutet, dass Rechte, die die Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans, wie die GOBT, verleiht, eine Antragsbefugnis im Organstreitverfahren nicht rechtfertigen können, solange sie nicht Ausdruck einer von der Verfassung selbst gewährten Befugnis sind. Da die von § 126 a GOBT neu konzipierte geschäftsordnungsrechtliche Einsetzungsminderheit ihre verfassungsrechtliche Legitimation aber lediglich auf solches Geschäftsordnungsrecht und nicht auf das Grundgesetz stützen kann, kann sie in eigenen Rechten, die die Verfassung ihr einräumt, nicht verletzt oder unmittelbar gefährdet sein. Dazu verhilft ihr auch nicht die Berufung auf Rechte der ihr angehörenden einzelnen 120 Abgeordneten. Um deren Rechte geht es bei der Enquête – solange nicht Rede-, Antrags-oder Stimmrechte des einzelnen Abgeordneten beschnitten worden sein sollen – nicht. Also kommt es darauf an, ob und unter welchen Bedingungen die geschäftsordnungsrechtlichen neuen Minderheiten im Parlament und im Ausschuss plausibel machen können, dass verfassungsrechtliche Befugnisse der Institutionen, als deren Teilorgan sie sich konstituiert haben, verletzt oder unmittelbar gefährdet sein können. Das ist einfach zu entscheiden in Fällen, in denen beanstandet wird, Maßnahmen der Bundesregierung, beispielsweise die Verweigerung der Herausgabe von Dokumenten oder der Erteilung von Auskünften, widerstritten dem verfassungsmäßigen Untersuchungsrecht des Parlaments in seiner Gesamtheit.19 Viel schwieriger zu entscheiden ist die Frage, ob Maßnahmen der Mehrheit des Untersuchungsausschusses selbst verfassungsmäßige Rechte der oppositionellen Minderheit im Untersuchungsausschuss verletzen können.20 „Verfassungsmäßige Rechte“ einer lediglich durch eine geschäftsordnungsrechtliche Regelung konstituierten Minderheit gibt es aber ohnehin nicht, sie bleiben Geschäftsordnungsrecht. Allerdings sieht § 126 a Abs. 1 Satz zwei GOBT vor, dass die Zahl der Mitglieder des Untersuchungsausschusses so bestimmt wird, dass die Fraktionen, die nicht die Bundesregierung tragen, gemeinsam ein Viertel der Mitglieder stellen. Nun hat die Verfassungsrechtsprechung bislang die Rechte der Einsetzungsminderheit nach Art. 44 Abs. 1 GG dadurch vervollständigt, dass die durch das Enquêtequorum in den Untersuchungsausschuss entsandten Abgeordneten als Repräsentanten der Ein18 Vgl. nur BVerfGE 130, 367; 118, 277; Lechner/Zuck, BVerfGG, § 64 Rd.4,10, 6. Auflage, München, 2011. 19 BVerfGE 105, 197 ff., 220 – Parteispenden-Untersuchungsausschuss. 20 BVerfGE 105, 197 ff., 220; 96, 223 – Plutonium-Untersuchungsausschuss.

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setzungsminderheit und der ihr grundgesetzlich verliehenen Rechte betrachtet worden sind. Damit stellt sich die Frage, ob eine parlamentsautonome Regelung, nach der Fraktionen, die nach ihrer Mitgliederzahl kein Viertel der Abgeordneten des Deutschen Bundestages umfassen, allein dadurch, dass die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages ihnen das Recht gewährt, ein Viertel der Mitglieder des Untersuchungsausschusses zu stellen, dieser Minderheit auch die verfassungsmäßigen Rechte einer größeren Einsetzungsminderheit verschafft. Kann also die GOBT fingieren, dass ein Viertel der Mitglieder eines Untersuchungsausschusses nicht nur tatsächlich ein Fünftel der Mitglieder des Deutschen Bundestages, sondern auch rechtlich, jedenfalls verfassungsprozessrechtlich, das grundgesetzliche Quorum von einem Viertel repräsentiert? Bei aller Sympathie für Versuche, Mikrooppositionen zu stärken: Das geht nicht. Wenn die Verfassung und das Gesetz inquisitorische Rechte einem Viertel der Mitglieder des Deutschen Bundestages verleiht, so gilt das diesem Viertel. Die Verfassung konstituiert es – im Interesse von Transparenz und Kontrolle – als wehrfähiges Teilorgan des in seinem Gebaren auf Mehrheiten angewiesenen Parlaments. Einsetzungsminderheiten sind also begrenzte, verfassungsgesetzlich erlaubte Ausnahmen von dem Prinzip, dass Eingriffe in Rechte der demokratischen (mehrheitlichen) Legitimation bedürfen. Aus alledem ergibt sich, dass § 126 a GOBT ein durchaus wichtiger Schritt zur Ergänzung von Minderheitenrechten im Parlament in den Zeiten einer „qualifizierten großen Koalition“ bewirkt. Vollkommenheit erreicht die Vorschrift nicht. Sie will sie wohl auch nicht erreichen und muss es – auf der Grundlage der geltenden Verfassung – auch nicht. Daraus folgt weiterhin: Das Recht auf Bildung und Ausübung einer parlamentarischen Opposition zählt weiterhin zu den grundlegenden Rechten der repräsentativen Demokratie. Art und Maß ihrer Rechte werden aber auch in ihrer Durchsetzungskraft allein durch die Verfassung bestimmt. Wer Mikrooppositionen besser schützen will, muss nach einer Änderung der Verfassung und einer Erweiterung von Minderheitenrechten streben. Verfassungsinterpretation allein kann das nicht bewirken, ohne beliebig zu werden. IV. Eine Wendtsche Moral von der Geschichte? Das alles klingt ein wenig depressiv. Der wohlwollende Betrachter erkennt, dass verfassungsgesetzliche Regeln zuweilen der Vollkommenheit der Welt entgegenstehen. Der wohlwollende Betrachter erkennt, dass die Lebendigkeit der repräsentativen Demokratie durchaus von Transparenz und von der Kontrolle durch Minderheiten abhängt, die nicht allzu klein sein dürfen. Der wohlwollende Betrachter erkennt die Schattenseiten des Mehrheitsprinzips, die offenbaren, dass eine Mehrheit Macht auch über Minderheiten bedeutet, und dass die Begrenzung dieser Macht von Regeln abhängig ist, die der Disposition der Mehrheit nicht beliebig unterworfen sein dürfen. Das kann zur Frage führen, ob das Verfassungsrecht nicht auf andere Weise ein wenig

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dazu beitragen kann, dass das Problem solcher Mehrheitsmacht nicht entsteht. Ketzerisch gefragt: Ist die Lebhaftigkeit, ist die Ernsthaftigkeit von Diskursen, nicht auch davon abhängig, dass sie nicht allzu bunt sind? Ziel der repräsentativen Demokratie ist es, in der kontroversen Debatte einer Pluralität von Ideen Wege zu entdecken, die zum gemeinen Wohl führen können. Sie lebt also von der Polarität wechselnder Mehrheiten und Minderheiten, von dem Meinungsstreit unterschiedlich mächtiger gesellschaftlicher und sie repräsentierender parlamentarischer Gruppen. Das funktioniert aber nur, wenn die Mehrheit Entscheidungen zu treffen vermag, die das Gemeinwesen gestalten können. Und das funktioniert nur, wenn auch die Minderheit kein Waisenkind des Verfassungsrechts ist, sondern ihre Aufgaben – Kritik und Kontrolle – auszuüben imstande ist, gewissermaßen ihre Stimme wirksam zu erheben vermag. Beides könnte voraussetzen, dass die parlamentarische Repräsentation des Souveräns kein Pfingsterlebnis ist, bei dem die Zahl der Zungen das Gehör überfordert. Rudolf Wendt hat auf die verschiedenen Funktionen von Sperrklauseln im Wahlrecht aufmerksam gemacht.21 Er hat betont, dass Sperrklauseln nicht einfach abschätzig als Prämie auf den Machtgewinn betrachtet und korrigiert werden sollten, sondern weiterreichende Bedeutung haben. Sie dienen der Funktionsfähigkeit des Parlaments. Zu ihr gehört aber neben dem Vorhandensein einer machtvollen Regierungsmehrheit auch das Vorhandensein einer machtvollen Oppositionsminderheit. Es gibt also „Umwege“, Minderheitenschutz zu bewirken, in dem man starke Minderheiten sichert. Sie führen nicht durch Gärten, in denen alle Blumen blühen. Aber vielleicht kann man auch im Verfassungsrecht nicht alles haben.

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Wendt, Sperrklauseln im Wahlrecht, FS Meinhard Schröder, 2012, 431.

Verfahrene Verfahren Von Helmut Rüßmann, Saarbrücken Wer Verfahrensrecht lehrt, tut gut daran, selbst praktische Erfahrungen in Verfahren zu sammeln. Der Jubilar hat das Zeit seines reichhaltigen beruflichen Lebens getan als Gutachter und Rechtsvertreter in verfassungsrechtlichen und verwaltungsrechtlichen (einschließlich steuerrechtlichen) Streitigkeiten wie als Richter am Verfassungsgerichtshof des Saarlandes.1 Als Zivilrechtler versuchte und versuche ich, es ihm gleichzutun. 20 Jahre versah ich die Aufgaben eines Richters am Oberlandesgericht im zweiten Hauptamt neben meiner Professur für Bürgerliches Recht, Zivilprozessrecht und Rechtsphilosophie.2 Doch wurde ich auch schon früh mit alternativen Streitbeilegungsverfahren zur richterlichen Streitentscheidung konfrontiert.

I. Alternative Streitbeilegungsverfahren Es begann mit Einigungsstellenverfahren nach dem Betriebsverfassungsrecht, setzte sich fort mit schiedsrichterlichen Verfahren in nationalen und internationalen Auseinandersetzungen und mündete sogar in die Tätigkeit eines Schiedsstellenvorsitzenden in einem mir eher fremden, dem Jubilar vielleicht näher liegenden Rechtsbereich der Krankenhausfinanzierung. Als echte Alternative zur richterlichen Streiterledigung mag von all diesen Verfahren nur die schiedsrichterliche Streiterledigung angesehen werden. Denn sie führt zu einer für die Streitbeteiligten verbindlichen Entscheidung, dem Schiedsspruch, der in seinen Wirkungen in § 1055 ZPO einem rechtskräftigen gerichtlichen Urteil gleichgestellt ist. Darüber hinaus bietet ein Schiedsverfahren, wenn es in der deutschen Prozesskultur3 betrieben wird, einen großartigen Rahmen für phantasievolle Konfliktbereinigungen im Vergleichswege. Meine ersten Erfahrungen mit Schiedsverfahren im gesellschaftsrechtlichen Bereich des deutschen Mittelstandes ließen mich schnell zu der Einschätzung kommen, dass 1

Derzeit als Vizepräsident des Verfassungsgerichtshofs. Zehn Jahre am Hanseatischen Oberlandesgericht in Bremen und nach meiner Berufung an die Universität des Saarlandes im Jahre 1987 weitere zehn Jahre am Saarländischen Oberlandesgericht. 3 Deutsche Richter und Schiedsrichter fühlen sich durch § 278 Abs. 1 ZPO angehalten, auf eine gütliche Beilegung des Rechtsstreits hinzuwirken. Der Prozesskultur des common law liegt eine solche Einflussnahme der Richter und Schiedsrichter fern. Vgl. zu den unterschiedlichen Prozesskulturen auch Stürner, Rolf, Parteiherrschaft versus Richtermacht. Materielle Prozessleitung und Sachverhaltsaufklärung im Spannungsfeld zwischen Verhandlungsmaxime und Effizienz, ZZP 123 (2010), 147 – 161. 2

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ein Kooperationsabkommen ohne Schiedsabrede für den Fall einer rechtlichen Auseinandersetzung ein Kunstfehler sei. Nur von einem privaten Schiedsgericht, besetzt mit weitgehend selbst ausgewählten Experten, kann man erwarten, dass es zu Verhandlungen in ungewöhnlicher Länge und zu ungewöhnlichen Zeiten bereit ist und Lösungsvorschläge entwickelt, die das Antragskorsett eines gerichtlichen Verfahrens sprengen und zugleich den Interessen der beteiligten Parteien besser gerecht werden als eine rechtlich korrekte Bescheidung der Anträge. In meinem ersten Schiedsverfahren ging es in den Anträgen um Zahlungsansprüche von Ärzten in einer Gemeinschaftspraxis. Am Ende eines langen Verhandlungstages stand die gemeinsam getragene Auflösung der Zusammenarbeit mit einer Regelung sämtlicher Ausgleichsbeziehungen. In meinem zweiten Schiedsverfahren ging es in den Anträgen um die Wirksamkeit von Beschlüssen in einer GmbH. Am Ende eines langen Verhandlungstages stand die Übertragung eines Gesellschaftsanteils auf den dann verbleibenden Alleingesellschafter. In die Gesellschaft und das von ihr betriebene Unternehmen kehrte Frieden ein. Doch nicht immer fügt es sich so glücklich. Bei einer Auseinandersetzung über die Lastenverteilung in einem Gemeinschaftsunternehmen meinte eine Gesellschaft, jahrelang Opfer von Fehlallokationen des Materialverbrauchs im Gemeinschaftsunternehmen gewesen zu sein. Ihren Ausgleichsanspruch bezifferte sie zunächst mit 5,5 Mill. DM. Am Ende eines langen Verhandlungstages stand ein Vergleichsangebot von 4,5 Mill. DM, das zu großen Teilen von einem nicht am Schiedsverfahren beteiligten Dritten getragen wurde. Das Ergebnis hätte sich in die Reihe der glücklichen Lösungen durch Schiedsverfahren einfügen können. Doch der Kläger lehnte ab. Er wollte den vollen Betrag haben. Es schlossen sich über drei Jahre viele weitere Verhandlungstage mit umfangreichen Beweisaufnahmen an. Alle Bemühungen des Schiedsgerichts um eine einvernehmliche Lösung im Interesse der immer noch wirtschaftlich erfolgreichen Kooperation der an dem Gemeinschaftsunternehmen beteiligten Gesellschaften scheiterten. Auch der Schiedsspruch, der einen Ausgleich von etwa vier Mill. DM (bei einem inzwischen allerdings erweiterten Klageantrag) vorsah, konnte keinen Frieden stiften. Die bis dahin nicht öffentliche Auseinandersetzung wurde in einem Aufhebungsverfahren beim Oberlandesgericht öffentlich gemacht. Der Kläger sah das Schiedsgericht durch Betrug getäuscht. Das Oberlandesgericht lehnte die Aufhebung des Schiedsspruchs ab. Das wollte der Schiedskläger durch den Bundesgerichtshof korrigieren lassen, nahm am Ende aber das Rechtsmittel zum Bundesgerichtshof zurück. Der Schiedsspruch hatte Bestand. Aber alle Vorteile eines Schiedsverfahrens waren dahin. Was ließ den Kläger so unerbittlich auf vollem Ausgleich bestehen? Wirtschaftliche Gründe waren es nicht. Der Bestand seines Unternehmens hing nicht von dem Ausgleich ab. Es muss die persönliche Betroffenheit gewesen sein, das Gefühl, jahrelang von einem Partner betrogen worden zu sein, der auch das Schiedsgericht betrogen haben musste, wenn dies nicht die Überzeugung von dem Betrug gewinnen konnte. Nüchterne wirtschaftliche Rationalität hat da keine Chance. Sie hätte das

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Verfahren am Ende des ersten Verhandlungstages mit dem angebotenen Vergleich beendet. II. Ein verfahrenes Verfahren vor dem Bundesgerichtshof Nüchterne wirtschaftliche Rationalität scheint auch nicht die Leitidee in einer Auseinandersetzung gewesen zu sein, die zum Teil parallel in gerichtlichen und schiedsgerichtlichen Verfahren geführt wurde und in ihrem höchst vorläufigen Ende in eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 18. Juni 2014 mündete.4 Die Entscheidung lässt den schiedsverfahrensrechtlichen Betrachter an einer Reihe interessanter schiedsverfahrensrechtlicher Fragen teilhaben, ihn aber auch an der Klugheit der Streitbeteiligten zweifeln. Was war geschehen? 1. Der Grundkonflikt Eine Golfanlage sollte errichtet werden. Die Idee dazu entstand in den 90iger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Der Schiedskläger pachtete im Jahre 1996 Liegenschaften zum Betrieb einer Golfanlage. Gleichzeitig schloss er mit dem Verpächter im Hinblick auf die zu errichtenden Gebäude einen Erbbaurechtsvertrag. In der Folgezeit führten die Parteien längere Verhandlungen über eine Zusammenarbeit. Am 23. Oktober 2000 schlossen sie einen Kooperationsvertrag nebst Vereinbarung zum Kooperationsvertrag sowie einen Schiedsvertrag und unter dem 11. Mai 2001 einen notariellen Unterpacht- sowie Untererbbaurechtsvertrag. Später kam es zu Unstimmigkeiten zwischen den Parteien, die dazu führten, dass der Schiedsbeklagte unter anderem den Kooperationsvertrag am 21. April 2010 persönlich und am 29. September sowie am 1. Dezember 2011 durch seine Verfahrensbevollmächtigten fristlos kündigte. 2. Das Schiedsverfahren Der Schiedskläger hat im Schiedsverfahren Klage erhoben (unter anderem) mit dem Ziel, die Unwirksamkeit der Kündigungen feststellen zu lassen. Der Schiedsbeklagte hat die Unzuständigkeit des Schiedsgerichts geltend gemacht sowie hilfsweise eine Zahlungswiderklage erhoben. Am 9. November 2012 hat das Schiedsgericht in einem Zwischenentscheid nach § 1040 Abs. 1 Satz 3 ZPO seine Zuständigkeit bejaht und durch Teil-Schiedsspruch vom gleichen Tag die Unwirksamkeit der Kündigungen festgestellt sowie über einige weitere Sachanträge des Schiedsklägers zum Nachteil des Schiedsbeklagten entschieden. 3. Ein Verfahren vor den staatlichen Gerichten Parallel zum Schiedsverfahren befasste sich auch ein staatliches Gericht mit der Wirksamkeit der Schiedsvereinbarung. Eine GmbH, deren Geschäftsführer der 4

III ZB 89/13.

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Schiedsbeklagte ist, hatte den Schiedskläger aus abgetretenem Recht des Schiedsbeklagten auf Auszahlung von Meldegebühren verklagt, die im Jahre 2006 anlässlich der Durchführung verschiedener Turniere auf der Golfanlage vereinnahmt worden waren. Der Schiedskläger hatte sich gegen diese Klage vor dem Landgericht mit der Einrede der Schiedsvereinbarung gewehrt. Das Landgericht hielt die Schiedsvereinbarung für durch die fristlose Kündigung des Schiedsbeklagten vom 21. April 2010 hinfällig, entschied in der Sache und wies die Klage durch Urteil vom 26. August 2011 ab. Das Urteil wurde rechtskräftig. Es ist indessen falsch. Die Schiedsvereinbarung erweist sich bei genauerer Prüfung als wirksam. Das Landgericht hätte nicht in der Sache entscheiden dürfen. Der entscheidende Fehler des Landgerichts liegt in der Verkennung der Eigenständigkeit der Schiedsvereinbarung.5 Eine Kündigung des Kooperationsvertrages aus wichtigem Grunde führt zur Kündigung auch der Schiedsvereinbarung nur, wenn die Gründe für die Kündigung ein Festhalten an der Schiedsvereinbarung als unzumutbar erscheinen lassen. Völlig zu recht führt insoweit der Bundesgerichtshof aus:6 „Der Schiedsvertrag stellt eine eigenständige Vereinbarung dar, die unabhängig vom Hauptvertrag ist (vgl. auch § 1040 Abs. 1 Satz 2 ZPO). Zwar kann auch ein Schiedsvertrag als Dauerschuldverhältnis aus wichtigem Grund fristlos gekündigt werden (vgl. etwa Senat, Urteile vom 12. November 1987 – III ZR 29/87, BGHZ 102, 199, 202 f und vom 10. März 1994 – III ZR 60/93, NJW-RR 1994, 1214, 1215; Schwab/Walter a. a. O. Kap. 8 Rn. 11; MüKoZPO/Münch a. a. O. § 1029 Rn. 128 ff). Die Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Vertragsverhältnisses muss sich dabei aber gerade auf das Schiedsverfahren und den mit dem Schiedsvertrag verbundenen Ausschluss der staatlichen Gerichtsbarkeit beziehen. Unerheblich ist insoweit grundsätzlich, ob ein wichtiger Grund zur Kündigung der Verträge besteht, auf die sich die Schiedsabrede bezieht, das heißt der kündigenden Partei die Fortsetzung dieser Vertragsbeziehungen unzumutbar ist. Der Umstand, dass der Schiedsbeklagte durch das Verhalten des Schiedsklägers – insbesondere die Äußerungen von dessen verstorbenem Präsidenten – die Vertrauensgrundlage für eine weitere Zusammenarbeit als zerstört und sich hierdurch wie durch weitere (behauptete) Vertragsverletzungen persönlich und geschäftlich als geschädigt ansieht beziehungsweise – worauf das Landgericht G. in seinem Urteil vom 26. August 2011 abgestellt hat – die Geschäftsbeziehung zerrüttet sei, ist deshalb für die Frage der Kündigung des Schiedsvertrags nicht entscheidungserheblich. Denn insoweit ist nicht ersichtlich, warum nicht – wie ursprünglich vereinbart (§ 1 Satz 2 des Schiedsvertrags: ,Dies gilt auch für Streitigkeiten über die Wirksamkeit, Durchführung und Beendigung der gesamten vertraglichen Beziehung, einzelner Vertragsbestimmungen oder etwaiger Nachträge.‘) – das Schiedsgericht statt der staatlichen Gerichte über die Streitigkeiten der Parteien im Zusammenhang mit den Kündigungen der die Golfanlage betreffenden Verträge entscheiden sollte. Es lag insoweit kein wichtiger Grund vor, der es dem Schiedsbeklagten unzumutbar gemacht hätte, seine Streitigkeiten mit dem Schiedskläger von einem Schiedsgericht entscheiden zu lassen.“

5

In der englischen Diskussion auch „doctrine of separability“ genannt. Vgl. Gary Born, International Commercial Arbitration, 2014, Chapter 3; Margaret Moses, The Principles and Practice of International Commercial Arbitration, 2. Edition, 2012, Chapter 2, A 2. 6 Beschluss vom 18. Juni 2014 – III ZB 89/13 – juris Rn. 21.

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4. Bindungswirkung der falschen Entscheidung Dem ist nichts hinzuzufügen. Allerdings war die falsche Entscheidung des Landgerichts vom 26. August 2011 rechtskräftig geworden, und die Frage ist, ob das Schiedsgericht angesichts dieser Entscheidung noch seine Zuständigkeit hätte annehmen dürfen, wie es das durch den Zwischenentscheid vom 9. November 2012 getan hatte. Die Antwort lautet ja. Rechtskräftige Entscheidungen staatlicher Gerichte binden nicht nur die staatlichen Gerichte, sondern auch die Schiedsgerichte. Sie binden allerdings nur im Rahmen der objektiven und subjektiven Grenzen der Rechtskraft. Hier gab es weder eine objektiv rechtskräftige Feststellung der Unwirksamkeit der Schiedsvereinbarung, noch waren die subjektiven Voraussetzungen für eine Bindung gewahrt. Während die Prozessabweisung wegen entgegenstehender Schiedsabrede zur rechtskräftigen Feststellung einer wirksamen Schiedsabrede führt, setzt eine Sachentscheidung, in der implizit das Nichtbestehen einer Schiedsabrede angenommen wird, für die rechtskräftige Feststellung des Nichtbestehens der Schiedsabrede einen Zwischenfeststellungsantrag nach § 256 Abs. 2 ZPO voraus. Ohne einen solchen Antrag und ohne ein entsprechendes Urteil bleibt die Annahme des Nichtbestehens einer Schiedsabrede bloßes Begründungselement, das nicht der Rechtskraft fähig ist. Subjektiv kommt hinzu, dass nur eine der Parteien des landgerichtlichen Verfahrens an dem Schiedsverfahren beteiligt war, der Schiedskläger als Beklagter des landgerichtlichen Verfahrens. Der Schiedsbeklagte war nicht an dem landgerichtlichen Verfahren beteiligt. Zwar ging es in dem Verfahren um Ansprüche, die der Schiedsbeklagte abgetreten hatte. Der vom Zessionar geführte Prozess bindet aber nicht den Zedenten. Dieser ist Rechtsvorgänger, aber nicht Rechtsnachfolger des Zessionars. Eine Erstreckung der Rechtskraft kennt das deutsche Recht nur für und gegen den Rechtsnachfolger (§ 325 Abs. 1 ZPO). Eine Bindungswirkung jenseits der Rechtskraftwirkung für die Entscheidung über die Unwirksamkeit einer Schiedsvereinbarung, wie sie das Oberlandesgericht Frankfurt als Vorinstanz des hier besprochenen BGH-Beschlusses angenommen hatte mit dem durchaus anerkennenswerten Ziel der Vermeidung widersprechender Entscheidungen über die Wirksamkeit von Schiedsvereinbarungen, kennt das geltende deutsche Recht nicht. Der Bundesgerichtshof belässt es bei einer Schilderung des Streitstands und begnügt sich mit dem Hinweis, dass die Bindung in jedem Fall an den subjektiven Voraussetzungen scheitere:7 „Fällt das angerufene staatliche Gericht ein Sachurteil, weil es die Schiedsvereinbarung für unwirksam hält, so muss – wie selbstverständlich – jedes andere staatliche Gericht oder auch ein Schiedsgericht die Rechtskraft dieser Entscheidung (hier: Abweisung der Klage auf Auszahlung der Meldegebühren) beachten. Ob die lediglich in den Gründen wiedergegebene Auffassung des staatlichen Gerichts, die Schiedsvereinbarung sei unwirksam, eine wei7

Beschluss vom 18. Juni 2014 – III ZB 89/13 – juris Rn. 18.

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tergehende Bindung entfaltet, ist streitig (verneinend etwa Stein/Jonas/Schlosser a. a. O.; bejahend etwa Triebel/Coenen, BB Beilage 2003 Nr. 5, S. 2, 7; wohl auch BeckOK ZPO/Wolf/ Eslami, § 1032 Rn. 22 mwN; siehe allgemein zur Frage, ob einem Sachurteil rechtskraftfähige Aussagen über Zulässigkeitsfragen entnommen werden können: verneinend MüKoZPO/Gottwald, a. a. O. § 322 Rn. 171; Musielak, ZPO, 11. Aufl., § 322 Rn. 45; bejahend Stein/Jonas/Leipold a. a. O. § 322 Rn. 134). Selbst wenn man die Frage bejahen und insoweit sogar annehmen wollte, dass die Bindungswirkung auch zukünftige Rechtsstreitigkeiten zwischen den Parteien über andere, im Vorprozess nicht streitgegenständliche, aber unter die Schiedsvereinbarung fallende Ansprüche erfasst, kann vorliegend nicht von einer solchen Wirkung ausgegangen werden. Denn diese kann jedenfalls grundsätzlich nicht auf Personen erstreckt werden, die nicht Parteien des staatlichen Verfahrens waren oder deren Rechtsnachfolger sind. Dies ist weder dem Wortlaut des § 1032 Abs. 1 ZPO noch der Entstehungsgeschichte der Norm (vgl. hierzu BT-Drucks. 13/5274 S. 37 f) zu entnehmen. Dass eine solche Bindung einander widersprechende Entscheidungen verhindern und damit für die Zukunft eine sichere Abgrenzung zwischen staatlicher und schiedsgerichtlicher Zuständigkeit schaffen würde, rechtfertigt es jedenfalls nicht, eine am Verfahren nicht beteiligte Person (wie hier den Zedenten einer Forderung) an dort ohne ihre (seine) Mitwirkung getroffene Feststellungen im Hinblick auf andere, nicht abgetretene Ansprüche zu binden.“

5. Die Einschaltung des Oberlandesgerichts in das Schiedsverfahren Doch wie kommt das Oberlandesgericht Frankfurt überhaupt ins Spiel? Es geht um seine besondere Rolle im Schiedsverfahrensrecht für Schiedsverfahren, die ihren Sitz im Bezirk des Oberlandesgerichts haben. Wir erinnern uns: Das Schiedsgericht hatte am 9. November 2012 in einem Zwischenentscheid seine Zuständigkeit bejaht und durch Teil-Schiedsspruch vom gleichen Tag die Unwirksamkeit der Kündigungen festgestellt sowie über einige weitere Sachanträge des Schiedsklägers zum Nachteil des Schiedsbeklagten entschieden. In einer Besonderheit des deutschen Schiedsverfahrensrechts sieht § 1040 Abs. 3 Satz 2 ZPO vor, dass der Zwischenentscheid zur Überprüfung durch das staatliche Gericht gestellt werden kann. In anderen Ländern muss man mit der Überprüfung der Zuständigkeit des Schiedsgerichts bis zum Verfahren über die Vollstreckbarkeitserklärung oder zur Aufhebung des in der Sache ergehenden Schiedsspruchs warten. Aber auch in Deutschland hindert das frühzeitige Überprüfungsverfahren nicht den Fortgang und gegebenenfalls den Abschluss des Schiedsverfahrens (§ 1040 Abs. 3 Satz 3 ZPO). Von der Möglichkeit des frühzeitigen Überprüfungsverfahrens nach § 1040 Abs. 3 ZPO machte der Schiedsbeklagte Gebrauch. Er verlangte die Feststellung der Unwirksamkeit der Schiedsvereinbarung und damit die Unzuständigkeit des Schiedsgerichts. Zuständig für diese Entscheidung war nach § 1062 ZPO das Oberlandesgericht. Aber auch der Schiedskläger brauchte das Oberlandesgericht, um den Schiedsspruch, soweit er den Schiedsbeklagten verurteilte, für vollstreckbar zu erklären (§ 1060 ZPO). Das Oberlandesgericht vereinigte beide Verfahren zu einem Verfahren, wies durch Beschluss vom 26. September 2013 den Antrag auf Vollstreckbarerklärung zurück und stellte fest, dass die Schiedsvereinbarung unwirksam sei, und deshalb alle Entscheidungen des Schiedsgerichts als unzulässig aufzuheben seien.

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Die maßgebliche Begründung sah es in der Bindung an die rechtskräftige Entscheidung des Landgerichts zur Unwirksamkeit der Schiedsvereinbarung. Diese Begründung ist – wie oben aufgezeigt – falsch und hatte mit Recht vor dem Bundesgerichtshof keinen Bestand. 6. Das Rechtsschutzbedürfnis für das Überprüfungsverfahren nach § 1040 Abs. 3 Satz 2 ZPO Der Schiedsbeklagte hatte aber noch einen weiteren Grund für die Unwirksamkeit der Schiedsvereinbarung geltend gemacht, der nur vor dem Hintergrund einer durch persönliche Betroffenheit begründeten Verbohrtheit erklärlich ist. Bevor wir uns diesem Grund zuwenden, müssen wir noch ein Problem lösen, das sich das deutsche Recht mit der Eröffnung der frühzeitigen Überprüfungsmöglichkeit des Zwischenentscheids des Schiedsgerichts durch das staatliche Gericht bei gleichzeitiger Möglichkeit der Fortsetzung des schiedsgerichtlichen Verfahrens ergibt (§ 1040 Abs. 3 ZPO). Wie soll verfahren werden, wenn das Schiedsverfahren endet, bevor das staatliche Gericht über die Wirksamkeit der Schiedsvereinbarung entschieden hat? Diese Frage hat der Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 30. April 2014 entschieden.8 Es entfällt das Rechtsschutzbedürfnis für eine Entscheidung über die Zuständigkeit des Schiedsgerichts, wenn das Schiedsgericht seine Tätigkeit durch eine Entscheidung in der Sache beendet hat. Ob das Schiedsgericht seine Zuständigkeit zu Unrecht angenommen hat, wird nur noch im gegen den endgültigen Schiedsspruch gerichteten Aufhebungsverfahren nach § 1059 ZPO9 oder im Verfahren über die Vollstreckbarerklärung nach § 1060 Abs. 2 ZPO geprüft. Im konkreten Fall gab es einen Schiedsspruch in der Sache, weil das Schiedsgericht am selben Tag, an dem es den Zwischenentscheid nach § 1040 Abs. 3 Satz 1 ZPO gefällt hatte, auch einen Schiedsspruch in der Sache erlassen hatte. Auf den ersten Blick hätte man erwarten können, dass das Verfahren nach § 1040 Abs. 3 Satz 2 ZPO am fehlenden Rechtsschutzbedürfnis hätte scheitern sollen. Indessen beschloss die Sachentscheidung das Schiedsverfahren nicht endgültig. Es handelte sich um einen Teilschiedsspruch. Weitere Teile standen noch zur Entscheidung aus. In einer solchen Situation bleibt das Rechtsschutzbedürfnis an einer Entscheidung nach § 1040 Abs. 3 Satz 2 ZPO solange bestehen, wie noch ein Teil offen und das Schiedsverfahren damit noch nicht beschlossen ist. In den Worten des Bundesgerichtshofs:10 „Das Oberlandesgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass der Antrag zulässig ist und dem Schiedsbeklagten insoweit nicht das Rechtsschutzinteresse fehlt. Zwar entfällt das Rechtsschutzinteresse für einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung gegen einen Zwischenentscheid, mit dem sich ein Schiedsgericht für zuständig erklärt hat, wenn vor der Entscheidung des staatlichen Gerichts ein abschließender Schiedsspruch in der Hauptsache er8

BGH vom 30. April 2014 – III ZB 37/12. Aufhebungsgrund nach § 1059 Abs. 2 Nr. 1 a) ZPO. 10 BGH, Beschluss vom 18. Juni 2014 – III ZB 89/13 –, juris Rn. 6. 9

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lassen worden ist (vgl. Senatsbeschluss vom 19. September 2013 – III ZB 37/12, SchiedsVZ 2013, 333 f m.w.N.). Im vorliegenden Fall ist das Schiedsverfahren aber noch nicht beendet. Hat das Schiedsgericht lediglich über Teile des Streitgegenstands entschieden, führt dies nicht zur Unzulässigkeit eines Antrags nach § 1040 Abs. 3 Satz 2 ZPO, da die in diesem Verfahren zu treffende Feststellung über die Zuständigkeit Wirkung auch auf das beim Schiedsgericht noch anhängige Verfahren hat.“

7. „Undurchführbarkeit“ der Schiedsvereinbarung wegen Besetzungsproblemen des Schiedsgerichts? Der Schiedsbeklagte machte in einem weiteren Grund geltend, dass der Schiedsvertrag „undurchführbar“ und damit unbeachtlich sei. Er sei daran gehindert, eine ganz bestimmte Person, den Richter am Landgericht Dr. B., als Schiedsrichter zu benennen, weil diesem die Genehmigung nach § 40 Abs. 1 Satz 1 DRiG verweigert werde, wonach einem Richter die Nebentätigkeit als Schiedsrichter nur genehmigt werden darf, wenn die Parteien des Schiedsvertrages ihn gemeinsam beauftragen oder wenn er von einer unbeteiligten Stelle benannt ist. Wegen der teilweisen „Undurchführbarkeit“ sei die Schiedsvereinbarung entsprechend dem Rechtsgedanken des § 139 BGB insgesamt hinfällig. Das ist – mit Verlaub – abwegig, und man fragt sich, wie die Rechtsvertreter des Schiedsbeklagten diesen Standpunkt ernsthaft bis zum Bundesgerichtshof vortragen und geltend machen konnten. Waren sie durch einen persönlich stark betroffenen und eventuell uneinsichtigen Auftraggeber gezwungen? Mit dem Schiedsverfahrens-Neuregelungsgesetz vom 22. Dezember 1997 (BGBl. I S. 3224) gibt das deutsche Schiedsverfahrensrecht diesem Standpunkt selbst dann keinen Raum, wenn eine Schiedsvereinbarung eine ganz bestimmte Person als Schiedsrichter bezeichnet und diese Person für das Amt nicht zur Verfügung steht. Zwar enthielt vormals die Zivilprozessordnung Regelungen, wonach sich Mängel bei der Bildung des Schiedsgerichts auf die Wirksamkeit des Schiedsvertrags auswirkten: § 1025 Abs. 2 ZPO aF: „Der Schiedsvertrag ist unwirksam, wenn eine Partei ihre wirtschaftliche oder soziale Überlegenheit dazu ausnutzt, den anderen Teil … zur Annahme von Bestimmungen zu nötigen, die ihr im Verfahren, insbesondere hinsichtlich der Ernennung oder Ablehnung der Schiedsrichter, ein Übergewicht über den anderen Teil einräumen.“ § 1033 Nr. 1 ZPO aF: „Der Schiedsvertrag tritt außer Kraft, sofern nicht für den betreffenden Fall durch eine Vereinbarung der Parteien Vorsorge getroffen ist: 1. wenn bestimmte Personen in dem Vertrag zu Schiedsrichtern ernannt sind und ein Schiedsrichter stirbt oder aus einem anderen Grund wegfällt oder die Übernahme des Schiedsrichteramtes verweigert …“.

Doch hat der Gesetzgeber 1997 diese Bestimmungen ersatzlos gestrichen und dadurch verdeutlicht, dass die Schiedsvereinbarung grundsätzlich unabhängig von der Wirksamkeit oder Durchführbarkeit der vertraglichen Vereinbarungen der Parteien

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über die Bildung des Schiedsgerichts ist.11 Dementsprechend ist der Bundesgerichtshof12 im Fall einer unzulässigen Beschränkung des Schiedsrichterernennungsrechts einer Partei nicht von der Unwirksamkeit der Schiedsvereinbarung ausgegangen. Genauso wenig hat der Bundesgerichtshof13 einen Schiedsvertrag als undurchführbar angesehen, in dem die Parteien irrtümlich die Zuständigkeit eines nicht existierenden institutionellen Schiedsgerichts bestimmt hatten; vielmehr hat er die von der Vorinstanz im Wege ergänzender Vertragsauslegung begründete Zuständigkeit eines anderen Schiedsgerichts gebilligt. Eine Unwirksamkeit der Schiedsvereinbarung kann deshalb regelmäßig nicht unter Hinweis auf § 139 BGB damit begründet werden, dass Bestimmungen der Parteien über die Bildung des Schiedsgerichts fehlen beziehungsweise unwirksam oder undurchführbar sind.14 Der Schiedsbeklagte übersieht, dass zwischen der Schiedsvereinbarung (§§ 1029 ff. ZPO; § 1 des Schiedsvertrags im konkreten Fall) und der Bildung des Schiedsgerichts (§§ 1034 ff. ZPO; §§ 2 und 3 des Schiedsvertrags) zu unterscheiden ist. Die Wirksamkeit einer Schiedsvereinbarung setzt nicht voraus, dass die Parteien sich über die Modalitäten der Schiedsrichterbestellung verständigen. Fehlt eine solche Abrede, greifen die gesetzlichen Bestimmungen. Nichts anderes gilt, wenn die Parteien eine solche Abrede getroffen haben, diese aber aus bestimmten Gründen undurchführbar oder unwirksam ist. Im konkreten Fall kommt hinzu, dass das zwischen den Parteien vereinbarte Schiedsrichterbestellungsverfahren gar nicht undurchführbar war. Die Parteien hatten in § 1 Satz 1 ihrer Schiedsabrede vereinbart, dass alle Streitigkeiten zwischen ihnen aus dem Vertragsverhältnis unter Ausschluss des ordentlichen Rechtswegs durch ein Schiedsgericht entschieden werden. Bezüglich der Zusammensetzung des Schiedsgerichts war in § 2 Abs. 1 bestimmt, dass dieses aus drei Personen – zwei Beisitzern und einem Obmann als Vorsitzenden – besteht, wobei jede Partei einen Beisitzer ernennt (§ 2 Abs. 2 Satz 1) und diese beiden Beisitzer dann den Obmann bestellen (§ 2 Abs. 2 Satz 2). Nur bezüglich dessen Person enthielt die Schiedsvereinbarung in § 2 Abs. 2 Satz 2 eine inhaltliche Vorgabe insoweit, als der Obmann die „Befähigung zum Richteramt“, das heißt die erste und zweite juristische (Staats-) Prüfung (§ 5 DRiG) erfolgreich abgelegt haben muss. Vor dem Hintergrund dieser Regelung ging auch der Hinweis des Schiedsbeklagten auf den Beschluss des Kammergerichts15 vom 6. Mai 2002 fehl. Dort hatten die Parteien des Schiedsvertrags bestimmt, dass die Schiedsrichter „Richter in einem mit Wirtschaftsrecht befassten Senat an einem Oberlandesgericht oder am Bundesgerichtshof“ sein müssten. Insoweit war das Kammergericht davon ausgegangen, dass die Parteien dieses Schiedsvertrags aufgrund § 40 Abs. 1 Satz 1 DRiG nicht in der Lage seien, jeweils einseitig einen solchen Schiedsrichter zu benennen, so wie es der Vertrag bezüglich der Bei11

Vgl. auch den Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks. 13/5274, S. 34, 39, 43. Urteil vom 1. März 2007 – III ZR 164/06, SchiedsVZ 2007, 163 Rn. 16. 13 Beschluss vom 14. Juli 2011 – III ZB 70/10, NJW 2011, 2977 Rn. 1 ff. 14 Vgl. OLG Koblenz OLGR 2008, 568, 569 f; KG MDR 2011, 952; OLG Frankfurt NJWRR 2010, 788, 789; siehe auch Zöller/Geimer, ZPO, 30. Aufl., § 1029 Rn. 11, 31, 60. 15 KG Beschluss vom 6. Mai 2002 – 23 Sch 01/02, SchiedsVZ 2003, 185. 12

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sitzer vorsah. Hiervon unterschied sich der vom Schiedsbeklagten unterzeichnete Schiedsvertrag aber grundlegend. Er enthielt keine inhaltlichen Vorgaben für die Person der von den Parteien jeweils einseitig zu benennenden Beisitzer, insbesondere keine Festlegung dergestalt, dass es sich um Berufsrichter handeln müsste. Dementsprechend war das Verfahren der Schiedsrichterbestellung nicht undurchführbar. Solange die Möglichkeit besteht, einen Schiedsrichter zu benennen, ist das vereinbarte Bestellungsverfahren nicht hinfällig. Eine Anwendung des § 139 BGB scheidet aus. Folgerichtig hatte das Oberlandesgericht, nachdem der Schiedsbeklagte keinen anderen (als den Richter am Landgericht Dr. B.) Schiedsrichter benannt hatte, auf Antrag des Schiedsklägers zum beisitzenden Schiedsrichter auf Seiten des Schiedsbeklagten den Richter am Oberlandesgericht Dr. Bu. bestellt. Dem stand § 40 Abs. 1 Satz 1 DRiG nicht im Wege, weil es jetzt nicht mehr um eine einseitige Bestellung durch eine Partei ging. Anschließend ist – nach Bestimmung des Obmanns durch die beiden Beisitzer – das Schiedsverfahren durchgeführt worden. 8. Schlussbemerkung Schiedsverfahrensrechtlich war alles in Ordnung. Auch hat der Bundesgerichtshof das verfahrene Verfahren verfahrensrechtlich souverän und korrekt in den Griff bekommen. Und doch mag man die Frage aufwerfen, ob das Schiedsverfahren noch ein geeignetes Konfliktbewältigungsverfahren ist, wenn persönliche Betroffenheit eines der Beteiligten zu irrationalen Verhaltensweisen bis hin zur Guerilla-Taktik16 gegen das Schiedsverfahren neigt. Dem ausgleichenden Wesen des Jubilars liegt solche Taktik fern. Ich danke für zwei Dekaden fruchtbarer kollegialer Zusammenarbeit. Ad multos annos!

16 Zur Guerilla-Taktik Waincymer, Jeffrey, Guerilla tactics in arbitration, Festschrift für Helmut Rüßmann, 2013, 955 – 974.

Die Offenlegung der Bezüge von Sparkassenvorständen im Internet* Von Helmut Siekmann, Frankfurt am Main I. Ausgangspunkt Die Offenlegung der Bezüge des Führungspersonals börsennotierter Unternehmen ist schon vor einiger Zeit Gegenstand intensiver Diskussionen gewesen.1 Nicht zuletzt hat diese Frage auch die „Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex“2 intensiv beschäftigt.3 Die anhaltende Diskussion hat dazu geführt, dass der Gesetzgeber nicht länger auf die Ergebnisse der viel gepriesenen Selbstregulierung warten mochte; vor allem weil eine Reihe von Unternehmen *

Teile der Abhandlung beruhen auf einer Stellungnahme für den Haushalts- und Finanzausschuss des Landtags Nordrhein-Westfalen vom 10. Februar 2014, LT-Stellungnahme 16/ 1429; veröffentlicht als IMFS Working Paper Series No. 77 (2014). Diese Stellungnahme ist im Landtag eingehend diskutiert worden, Haushalts- und Finanzausschuss, Ausschussprotokoll Apr 16/475 der Sitzung vom 13. Februar 2014, S. 8 – 29. 1 Baums, Company Law Reform in Germany, The Journal of Corporate Law Studies, Vol. 3, 2003, S. 181 ff. 2 Auf ihrer Homepage beschreibt sich die Kommission selbst wie folgt: „Die Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex ist eine von der Bundesministerin der Justiz im September 2001 eingesetzte Kommission. Die Regierungskommission besteht aus Vertretern von Vorständen und Aufsichtsräten kapitalmarktorientierter Unternehmen und deren Stakeholdern [!]. Daher gehören der Regierungskommission auch Vertreter der institutionellen Investoren und der Privatanleger, der Wissenschaft (Wirtschaftswissenschaften, Rechtswissenschaften), der Wirtschaftsprüfer und Vertreter eines Gewerkschaftsbundes an. Die Mitglieder der Regierungskommission werden vom Bundesministerium der Justiz für Verbraucherschutz berufen, wobei die Regierungskommission Vorschläge unterbreiten kann.“ Durch die Bezugnahme auf den von der Kommission erlassenen Kodex in § 161 Abs. 1 Satz 1 AktG ist sie als Einrichtung (mittelbar) vom Gesetzgeber anerkannt, obwohl der von Ihr geschaffene Kodex schon aus verfassungsrechtlichen Gründen keine unmittelbare Rechtsverbindlichkeit erlangen kann. Ihre praktische Bedeutung für gute Unternehmensführung ist angesichts der Erklärungsverpflichtung nach § 161 Abs. 1 Satz 1 AktG („comply or explain“) jedoch nicht als gering zu erachten. 3 Ihr Ergebnis war die Änderung der ursprünglichen Anregung Nr. 4.2.4. Satz 2 Deutscher Corporate Governance Kodex in eine Empfehlung; dazu Ringleb, in: Ringleb/Kremer/Lutter/ v. Werder, Kommentar zum Deutschen Corporate Governance Kodex, 5. Aufl. 2014, Rdn. 772; zuvor mit einem eigenem Gesetzesvorschlag Baums, Vorschlag eines Gesetzes zur Verbesserung der Transparenz von Vorstandsvergütungen, ZIP 2004, S. 1877 ff. Die Regelung gehörte zu den umstrittensten Regelungen des Kodex überhaupt, Leuering/Simon, Offene Fragen zur Offenlegung der Vorstandsvergütung, NZG 2005, S. 945.

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den Empfehlungen des Kodex nicht nachgekommen sei.4 Er erließ im Jahre 2005 eine bindende gesetzliche Regelung5, die das in § 161 AktG vorgesehene „weiche“ Steuerungsverfahren nach englischem Vorbild teilweise desavouierte.6 Dieses Gesetz entspricht zum Teil einer Empfehlung der EU-Kommission,7 bleibt aber insgesamt dahinter zurück.8 Es änderte und ergänzte verschiedene Vorschriften des HGB, welche Informationspflichten betreffen, für börsennotierte Aktiengesellschaften. Das Gesetz musste schon bald nachgebessert werden, da sich die Betroffenen als außerordentlich findig erwiesen, die gesetzgeberischen Intentionen zu umgehen und zu unterlaufen.9 Der Wunsch nach Transparenz wuchs noch einmal, als dem Personal von Finanzinstituten, vor allem von Banken, außerordentlich üppige Zuschläge („boni“) zu ihren ohnehin nicht knapp bemessenen Gehältern trotz eklatanter Fehlleistungen zugebilligt wurden; selbst bei Instituten, die nur mit Steuermitteln vor dem Untergang bewahrt wurden. Ob diese Honorierungspraxis hauptursächlich für die Entstehung der seit Mitte 2007 andauernden Bankenkrise gewesen ist, wie weite Teile der Medien und der Politik lange Zeit behauptet haben, ist indes nicht so sicher. Dafür war das Geschehen zu komplex. Einen Beitrag dürfte es aber durchaus geleistet haben;10 4 Begründung des Regierungsentwurfs vom 31. Mai 2005, BT-Drucks. 15/5577, S. 5: „Entsprechenden Anforderungen des auf dem Prinzip der freiwilligen Selbstverpflichtung beruhenden Corporate Governance Kodex entzieht sich nach wie vor eine nicht unbeachtliche Zahl von Unternehmen. Dem soll mit Schaffung einer gesetzlichen Verpflichtung begegnet werden“. Auch der Rechtsausschuss hielt die Einführung einer gesetzlichen Pflicht für „erforderlich und sachgerecht“, da „eine nicht unbeachtliche Zahl von Unternehmen der entsprechenden Empfehlung des Kodex nicht nachkomm[e]“, Beschlussempfehlung und Bericht, BT-Drucks. 15/5860, S. 9. 5 Gesetz über die Offenlegung der Vorstandsvergütungen (Vorstandsvergütungs-Offenlegungsgesetz – VorstOG) vom 3. August 2005, BGBl I S. 2267; dazu: Baums, Zur Offenlegung von Vorstandsvergütungen, ZHR Bd. 169 (2005), S. 299 ff.; Fleischer, Das Vorstandsvergütungs-Offenlegungsgesetz, DB 2005, S. 1611 ff.; Spindler, Das Gesetz über die Offenlegung von Vorstandsvergütungen – VorstOG, NZG 2005, S. 689 ff.; Thüsing, Das Gesetz über die Offenlegung von Vorstandsvergütungen, ZIP 2005, S. 1389 ff.; van Kann, Das neue Gesetz über die Offenlegung von Vorstandsvergütungen, DStR 2005, S. 1496 ff.; krit. Marsch-Barner, Aktuelle Rechtsfragen zur Vergütung von Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern einer Aktiengesellschaft, Festschrift für Volker Röhricht zum 65. Geburtstag, 2005, S. 401. 6 Das gilt, auch wenn der (federführende) Rechtsausschuss in seinem Bericht betonte, dass „das bewährte Prinzip der freiwilligen Selbstverpflichtung im Zusammenhang mit dem Deutschen Corporate Governance Kodex“ nicht „in Frage“ gestellt werde, BT-Drucks. 15/ 5860, S. 9. 7 Vom 14. Dezember 2004, 2004/913/EG, ABl. L 385/55. 8 Spindler (oben Fn. 5), S. 689 Fn. 5. 9 Gesetz vom 31. Juli 2009, BGBl. I S. 2509. 10 Ebenfalls differenzierend: Financial Stability Forum, FSF Principles for Sound Compensation Practices, 2 April 2009, S. 1; Siebert, Why did the bankers behave so badly?, VOX 18 May 2009, unter besonderer Berücksichtigung typisch männlicher Eigenschaften; Sinn, Kasono-Kapitalismus, 2. Aufl. 2009, S. 306 f.; Siekmann, Die Neuordnung der Finanzmarktaufsicht, Die Verwaltung, 43. Bd. (2010), S. 95 (107 f.).

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zumindest indirekt, indem Menschen mit einer spezifischen Persönlichkeitsstruktur in die entscheidenden Positionen gelockt worden sind und auf die dadurch gesetzten Anreize reagiert haben. Hauptzweck der gesetzlichen Regelungen über die Offenlegung von Vergütungen war die Information der Anleger, des internationalen Kapitalmarkts einschließlich der Anlageaspiranten. Sie ist bewusst nicht auf den Kreis der Aktionäre beschränkt.11 Es sollte aber auch die Feststellung erleichtert werden, ob die Bezüge der einzelnen Vorstandsmitglieder „den Anforderungen des § 87 Abs. 1 AktG“ entsprechend in einem „angemessenen Verhältnis zu den Aufgaben des Vorstandsmitglieds und zur Lage der Gesellschaft stehen“.12 Die in diesem Bereich herrschenden Informationsasymmetrien sollten überwunden und rationale, wohl informierte Entscheidungen ermöglicht werden. Dies dient nicht nur dem Schutz der Investoren, sondern erhöht auch die Effizienz der Märkte. Allerdings wurde die Regelung zur Disposition der Eigentümer gestellt. Die Hauptversammlung sollte mit qualifizierter Mehrheit von der individuellen Offenlegung absehen können,13 so dass zunächst die Information der Aktionäre im Vordergrund gestanden hat.14 Deutlich komplexer stellt sich die Situation in öffentlichen Unternehmen dar. Zumindest dann, wenn ein solches Unternehmen von einem Träger öffentlicher Verwaltung beherrscht wird oder im Alleineigentum (Trägerschaft) der öffentlichen Hand steht („öffentliches Unternehmen“15), spielt die Information der Märkte keine oder 11 Gesetzesbegründung (oben Fn. 4), S. 5: „Die Angabe im Anhang zum Jahresabschluss oder im Lagebericht macht die Offenlegung allerdings über den Kreis der Aktionäre hinaus der Öffentlichkeit zugänglich. Dies erklärt und rechtfertigt sich durch die typischerweise anonyme Aktionärsstruktur bei börsennotierten Aktiengesellschaften mit häufig weltweiter Streuung des Anteilsbesitzes.“ 12 Gesetzesbegründung (oben Fn. 4), S. 1, 5. 13 Gesetzesbegründung (oben Fn. 4), S. 5. 14 van Kann (oben Fn. 5), S. 1496 f. 15 Definition des öffentlichen Unternehmens in diesem Sinne bei Siekmann, Corporate Governance und öffentlich-rechtliche Unternehmen, Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie, 15. Bd. (1996), S. 282 (287 f.); ders., Die rechtliche Regulierung öffentlicher Banken in Deutschland, in: Scherzberg/C ¸ an/Dog˘an, Das Recht der öffentlichen Unternehmen und der öffentlich-rechtlichen Banken, 2012, S. 65 (72 f.) m.w.N. Die europarechtliche Einordnung „öffentlicher“ Unternehmen orientiert sich mit ähnlichem Ergebnis an der Transparenzrichtlinie (Art. 2 Richtlinie 80/723/EWG über die Transparenz der finanziellen Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und den öffentlichen Unternehmen, ABl. 1980 L 195/35) und stellt darauf ab, ob „die öffentliche Hand aufgrund Eigentums, finanzieller Beteiligung, Satzung oder sonstiger Bestimmungen, die die Tätigkeit des Unternehmens regeln, unmittelbar oder mittelbar einen beherrschenden Einfluss ausüben kann“ (Jung, in: Calliess/Ruffert, EUV/ AEUV, 4. Auflage 2011, Art. 106, Rdn. 13 m.w.N.; Wernicke, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art. 106, Rdn. 25 [März 2011]). Der EuGH hatte sich jedoch gegen eine Allgemeingültigkeit dieser Abgrenzung ausgesprochen und festgestellt, dass sie nur für die Zwecke der Transparenzrichtlinie gelte (EuGH, Urteil vom 6. Juli 1982, Rs. 188 – 190, Slg. 1982, 2545 [2578], Rdn. 24). Entscheidendes Kriterium sollte aber letztlich sein, ob der Staat die verselbständigte Einheit, die wirtschaftliche Tätigkeit ausübt, ohne Rückgriff auf hoheitliche Maßnahmen durch seine Beteiligung oder Trägerschaft steuern kann (Jung,

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nur eine deutlich geringere Rolle. Das Kapital wird nicht in einem marktmäßig organisierten Verfahren zur Verfügung gestellt. Auch auf der Nachfrageseite fehlt häufig die disziplinierende Kraft des marktmäßigen Wettbewerbs. Das öffentliche Unternehmen wird im Bereich eines rechtlich abgesicherten oder „natürlichen“ Monopols tätig. Nicht selten besteht Anschluss- und Benutzungszwang. Die Kontrolle durch die Träger öffentlicher Unternehmen (Kapitalgeber, Gesellschafter, Eigentümer) ist regelmäßig ebenfalls schwach ausgeprägt, da Leitungspositionen als „Beute“ für verdiente Politiker oder deren Mitarbeiter betrachtet werden sowie nicht selten die gleiche Parteizugehörigkeit auf beiden Seiten anzutreffen ist.16 Schwierig ist auch die Kontrolle der Erfüllung des öffentlichen Auftrags, den das öffentliche Unternehmen zu erfüllen hat. Auch hier bestehen beträchtliche „PrincipalAgent-Probleme“, die bei privaten Unternehmen in dieser Form nicht anzutreffen sind.17 Da es sich letztlich um Vermögen der Allgemeinheit handelt, besteht – anders als bei der Aktiengesellschaft – ein nicht zur Disposition stehendes Interesse der Öffentlichkeit an Transparenz. Wenn eine öffentliche Aufgabe unmittelbar durch die öffentliche Verwaltung erfüllt wird, besteht weitgehende Transparenz im Hinblick auf die Verantwortungsund Befehlsstränge und die gezahlten Gehälter. Der Vorgesetzte hat umfassende Informationsansprüche und darf Einzelweisungen erteilen. Er ist – an der Spitze – den Volksvertretungen und (begrenzt) auch der Öffentlichkeit auskunfts- und rechenschaftspflichtig. Sobald dieselbe Aufgabe aber von einem öffentlichen Unternehmen erfüllt wird, soll all das nicht mehr gelten. Betriebsgeheimnisse oder gar Persönlichkeitsrechte der (früheren) Amtswalter stehen nun angeblich entgegen.18 Zur Verteidigung einer (begrenzten) Entscheidungsfreiheit öffentlicher Unternehmen lässt sich Rdn. 13; Wernicke, Rdn. 26). Der Rückgriff auf die Transparenzrichtlinie zur Abgrenzung ist auch schon zu finden bei Siekmann, Wirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand und ökonomische Analyse der Rechts, in: Stober/Vogel (Hrsg.), Wirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand, 2000, S. 103 (125), mit weiteren Einzelheiten. 16 Im Einzelnen ist eine differenzierende Betrachtung der Beziehung zwischen Träger und öffentlichem Unternehmen, namentlich seinem Management, angezeigt. Es handelt sich um eine eher „symbiotische“ Beziehung, deren Ausgestaltung sehr viel mehr als in privatwirtschaftlich agierenden Unternehmen von den handelnden Personen und den jeweiligen politischen Kräfteverhältnissen geprägt ist, vgl. Schleifer/Vishny, Politicians and Firms, The Quarterly Journal of Economics, Bd. 108 (1994), S. 995 – 1025; Siekmann, Jahrbuch (oben Fn. 15), S. 302 – 306; zu pauschal und ohne hinreichende Analyse Abromeit, Öffentlicher Zweck und öffentliche Kontrolle. Ansätze zu einer Theorie der öffentlichen Unternehmung, PVS 1985, S. 290; s.a. Machura, Die Kontrolle öffentlicher Unternehmen, 1993, S. 52 – 77. 17 Deutlich bereits das preußische Oberverwaltungsgericht in einer Entscheidung aus dem Jahre 1904 für gemeindliche Unternehmen, prOVG 46, 154 (156); zust. Köttgen, Verwaltungsrecht der öffentlichen Anstalt, VVDStRL Heft 6 (1926), S. 105 (114); weitere Einzelheiten bei: Siekmann, Wirtschaftliche Betätigung (oben Fn. 15), S. 129 f., 133 ff.; ders., Die Erweiterung der Unternehmensmitbestimmung in privatrechtlich organisierten öffentlichen Unternehmen, ZögU, Bd. 27 (2004), S. 394 (406 – 408). 18 Siekmann, Eine stabile Geld-, Währungs- und Finanzordnung, 2013, S. 934 ff.; ferner S. 783 f., 791, 931.

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allerdings anführen, dass die Verselbständigung der Aufgabenerfüllung in einer gesonderten Einheit nur Sinn macht, wenn eigene Handlungsspielräume geschaffen werden und nicht alle Details des operativen Geschäfts in der Volksvertretung oder Öffentlichkeit diskutiert werden.19 Sonst hätte man auch darauf verzichten können, zumal auch noch steuerliche Nachteile damit verbunden sein können. Es muss allerdings ein Mindestmaß von Aufsicht, Kontrolle und Transparenz gewahrt bleiben; unabhängig von der Rechtsform, in der das öffentliche Unternehmen organisiert ist.20 Vor allem, da der eigentliche Grund für eine Ausgliederung nicht selten ist, dass sehr viel höhere Gehälter für die Entscheidungsträger gezahlt werden dürfen als in der unmittelbaren Verwaltung und dass weisungs- und kontrollfreie Räume, geschaffen werden; auch wenn das regelmäßig nicht publik gemacht wird. Das gilt vor allem, wenn Privatrechtssubjekte speziell zur Erfüllung einer bisher von der Verwaltung unmittelbar erfüllten öffentlichen Aufgabe gegründet werden. Unabhängig von der Gesellschaftsform bewirkt allein diese Tatsache eine Ausdünnung von Kontrolle und einen Verlust von Transparenz. Schon der Umstand, dass wesentliche Teile des Rechtsregimes („governance“) in einem Vertrag stehen, der fast immer vertraulich behandelt wird, und nicht im Gesetzblatt veröffentlicht wird, führt zu diesem problematischen Ergebnis. Die Kontrolle durch externe Wirtschaftsprüfer soll ausreichen,21 auch wenn deren Berichte den Volksvertretungen vorenthalten werden und die Defizite dieser Kontrolle nicht erst seit der gegenwärtigen Krise offen-

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Klar benannt bereits von: Amonn, Privatwirtschaftliche Einnahmen, in: Handbuch der Finanzwissenschaft, Bd. 1, 1926, S. 334 (351); Richter, Verwaltungsrecht der öffentlichen Anstalt, VVDStRL Heft 6 (1929), S. 69 (79, 96 f.); später ähnlich: Keller, Die Eigenwirtschaft öffentlicher Gemeinwesen, in: Handbuch der Finanzwissenschaft, Bd. 2, 1956, S. 161 (192 f.); näher: Breuer, Die öffentlichrechtliche Anstalt, VVDStRL Heft 44 (1986), S. 211 (228 – 231); Gersdorf, Öffentliche Unternehmen im Spannungsfeld zwischen Demokratieprinzip und Wirtschaftlichkeitsprinzip, 2000, S. 405, 407. 20 BVerfGE 98, 145 (161); BayVerfGH, Urteil v. 26. Juli 2006 – Vf. 11-IVa.05, S. 48; Püttner, Die öffentlichen Unternehmen, 2. Aufl. 1985, S. 135 – 138; Gersdorf, (oben Fn. 19), S. 187 ff., 237 ff., 246; Breuer, (oben Fn. 19), S. 239 f.; Siekmann (oben Fn. 18), S. 925 f. Der Staatsgerichtshof für Bremen hat ebenfalls deutlich die besonderen Transparenzerfordernisse für öffentliche Unternehmen aus dem Gesichtspunkt demokratischer Kontrolle betont, allerdings speziell für privatrechtlich organisierte Unternehmen, die mit hoheitlichen Aufgaben beliehen worden sind, NVwZ 2003, S. 81 (83 f.); teilweise anders VGH Mannheim, NVwZRR 1990, S. 320 (321); allerdings ohne Problembewusstsein. 21 Anhörung zum Gesetzentwurf zur Umstrukturierung der Landesbank Nordrhein-Westfalen zur Förderbank des Landes Nordrhein-Westfalen und zur Änderung anderer Gesetze, LTDrucks. 13/4578, Protokoll der 76. Sitzung des Haushalts- und Finanzausschusses am 13. Februar 2004, Ausschussprotokoll 13/1143; dagegen die Präsidentin des Landesrechnungshofs Scholle (S. 210, 18, 23 f.) und der Sachverständige Siekmann (S. 10, 54 f.); ebenso in den schriftlichen Stellungnahmen des Landesrechnungshofs (Vorlage 13/2453, S. 2, Vorlage 13/2527, S. 12) und des Sachverständigen Siekmann (Zuschrift 13/3744, S. 15); allg. ebenfalls in diesem Sinne: Knöpfle, in: v. Arnim (Hrsg.), Finanzkontrolle im Wandel, 1989, S. 259 ff.; Harms, ZögU 1998, S. 87 (89 ff.); Degenhart, VVDStRL Heft 55 (1996), S. 190 (220 f.).

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kundig sind.22 Soweit vorhanden, wird von den Entscheidungsträgern auch die Kontrolle durch Aufsichtsbehörden hingenommen. Dies ist indes nicht verwunderlich, da namentlich bei Sonderaufsichtsbehören die Gefahr des (zu) großen Verständnisses für das Verhalten der Beaufsichtigten besteht („capture“), das gelegentlich sogar politisch gewünscht ist. Einzig gefürchtet ist – soweit erkennbar – die Kontrolle durch Rechnungshöfe23 und wohl auch durch Angehörige der Opposition in den Parlamenten. Sie wird mit allen politisch und rechtlich zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpft;24 ein einigermaßen sicheres Indiz für deren Wirksamkeit. II. Kreditinstitute als Anstalten des öffentlichen Rechts Ursprünglich gab es in Deutschland eine große Vielfalt von Kreditinstituten in der Rechtsform der Anstalt des öffentlichen Rechts auf allen Ebenen des gegliederten Staatswesens: Zentralstaat (Reich, Bund), Länder und Kommunen. Beispiele sind die vielen verschiedene Spezialkreditinstitute des Bundes und der Länder, die Landesbanken (Girozentralen), die öffentlich-rechtlichen Hypothekenbanken, ebenfalls auf Bundes- und Landesebene, sowie die kommunalen Sparkassen.25 Ihr Marktanteil betrug im Endkundengeschäft deutlich mehr als 50 %26 und, wenn man die sehr effizienten Bankdienste der Post (Sondervermögen des Bundes) hinzurechnet, mehr als 22 VerfGH NRW, NWVBl. 2012, 107 (109 f.); m. Anm. Tuschl, NWVBl 2012, S. 165; zuvor bereits Siekmann (oben Fn. 18), S. 768 ff. 23 Stellungnahme des Vorsitzenden des Vorstandes der Landesbank von Nordrhein-Westfalen in der Anhörung zum NRW.Bank Gesetz im Landtag von Nordrhein-Westfalen. 24 Beispiele: Bekämpfung der Kontrolle durch Parlamentarier dokumentiert durch das Organstreitverfahren wegen Informationen über Steinkohlesubventionen und ihre Verwendung durch die Ruhrkohle AG, VerfGH NRW, NWVBl. 1996, 291 (295); Einzelheiten bei Siekmann (oben Fn. 18), S. 915 ff.; Bekämpfung der Kontrolle durch den Rechtshof von Nordrhein-Westfalen dokumentiert durch das Organstreitverfahren zwischen dem Landesrechnungshof und der Landesregierung wegen der Kontrolle der NRW.BANK, VerfGH NRW, NWVBl. 2012, S. 107; Einzelheiten bei Siekmann (oben Fn. 18), S. 757 ff.; s.a. BVerwGE 139, 87 (102 f.). 25 Überblick bei Siekmann, Regulierung (oben Fn. 15), S. 74 – 94. 26 Wählt man als Bezugsgröße Einlagen und aufgenommene Kredite, ist von einem Gesamtvolumen von 655 234 Mio DM im Oktober 1974 auszugehen. Davon entfielen auf die Girozentralen 44 189 Mio DM, die Sparkassen 238 009 Mio DM und die öffentlich-rechtlichen Grundkreditanstalten 33 902 Mio DM. Zusammen waren das 316 100 Mio DM, die einem Anteil von 48,24 % entsprechen. Hinzu kommen noch die Kreditinstitute mit Sonderaufgaben, auf die 46 962 Mio DM entfiele. Der Anteil Institute in öffentlicher Trägerschaft ist nicht offen ausgewiesen, betrug aber sicher mehr als die Hälfte, so dass weitere 24 000 Mio DM hinzukommen und der Gesamtanteil auf 51,9 % steigt. Die Primärdaten für diese Berechnung sind dem Monatsbericht der Deutschen Bundesbank vom Januar 1975, S. 32*, entnommen. Wählt man die Anzahl der Institute oder der Zweigstellen als Bezugsgrößen, kommen noch sehr viel höhere Anteile zustande. Entsprechendes gilt für die Anzahl der Kunden. Etwas kleinere Anteile gibt Seikel für 1994 an, stützt sich dabei aber auf Daten des Deutschen Sparkassenund Giroverbandes, die vermutlich die Spezialkreditinstitute der öffentlichen Hand nicht berücksichtigen (Wie die Europäische Kommission Liberalisierung durchsetzt, Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Discussion Paper 11/16, S. 10).

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zwei Drittel.27 Hinzu kamen und kommen die genossenschaftlich organisierten Kreditinstitute mit einem Anteil von etwa 30 % am Privatkundengeschäft. Diese spezielle Architektur des Bankwesens hatte dafür gesorgt, dass Bevölkerung und Wirtschaft in Deutschland fast ein halbes Jahrhundert kostengünstig und ohne Insolvenzrisiken mit den wirklich notwendigen Finanzdienstleistungen versorgt wurden. Die Leistungen wurden in unbegrenzter Höhe mit höchst möglicher Sicherheit und ohne die modernen „Folterinstrumente“, wie Restrukturierungsfonds, „bailin“, Einlagensicherungsfonds, Abwicklungsregime, SEPA-Formulare und ohne für die Steuerzahler sehr kostspielige Bankenrettungsaktionen erbracht. Ein großer Teil dieser Institute wurde materiell privatisiert (negative Beispiele: Deutsche Pfandbriefanstalt – DePfa, Bankdienste der Post) oder lediglich in private Rechtsformen überführt (Mehrzahl der Landesbanken). Die Sparkassen sind in Deutschland mit Ausnahme der Hamburger Sparkasse AG28, der Sparkasse Bremen AG29 und der Sparkasse zu Lübeck AG30 sowie zweier kleiner Sparkassen in Schleswig-Holstein31 weiterhin als Anstalten des öffentlichen Rechts organisiert.32 Anstaltslast und Gewährträgerhaftung wurden allerdings weitgehend beseitigt.33 Anstalten des öffentlichen Rechts sind Teile der öffentlichen Verwaltung. Die Eingliederung in die öffentliche Verwaltung ist „für den Anstaltsbegriff unerlässlich“.34 Das ergibt sich aus den Prinzipien des allgemeinen Verwaltungsrechts, das im Bereich des Verwaltungsorganisationsrechts im Wesentlichen immer noch ungeschrieben ist. Punktuelle Regelungen finden sich aber sowohl auf Bundes- wie auf Landesebene in Gesetzen, welche Organisation und Tätigkeit einzelner juristischer Personen des öffentlichen Rechts (Kreditanstalt für Wiederauf-

27 Oktober 1974 Einlagen in Höhe von 21 851 Mio DM, die einen Anteil von 3,33 % ausmachen; Quelle wie vor. 28 Bis 2002: Juristische Person alten hamburgischen Rechts. 29 Bis 2004: Wirtschaftlicher Verein. 30 Bis 31. Oktober 2004: Stiftung. 31 Bordesholmer Sparkasse AG (bis 2006: Wirtschaftlicher Verein), Sparkasse Mittelholstein AG. Die Spar- und Leihkasse zu Bredstedt AG (bis 31. 12. 2003: Stiftung) wurde 2013 von der Nord-Ostsee Sparkasse übernommen. Die Frankfurter Sparkasse wurde am 1. Juli 2007 von einer Aktiengesellschaft (AG) in eine rechtsfähige Anstalt des öffentlichen Rechts umgewandelt, § 1 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes zur Errichtung der Frankfurter Sparkasse als Anstalt des öffentlichen Rechts (Fraspa-Gesetz) vom 14. Mai 2007 (GVBl. I S. 283) und in die Landesbank Hessen-Thüringen eingegliedert. 32 Die Sparkasse Westholstein mit Sitz in Itzehoe ist zwar eine „freie“ Sparkasse, hat also keinen kommunalen Träger, ist aber als rechtsfähige Anstalt des öffentlichen Rechts organisiert; weitere Einzelheiten bei Siekmann (oben Fn. 18), S. 68 f., 76 ff. 33 Dies geschah in Umsetzung der Verständigungen mit der EU-Kommission, die Anstaltslast und Gewährträgerhaftung als Beihilfe ansah, Schreiben vom 8. Mai 2001, SG (2001) D/288482. Die Verständigungen sind lediglich in einem Schreiben der Kommission vom 27. März 2001 – C (2002) 1286 – niedergelegt, Verständigung I, S. 6, Verständigung II, S. 10. 34 Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Erster Band, 1973, S. 502.

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bau – KfW35, Bundesanstalt für Finanzmarkstabilisierung – FMSA36, Landesbank NRW37, NRW.Bank38) oder Gruppen von Einrichtungen (Sparkassen, Rundfunkanstalten) regeln. Management und Kautelarjurisprudenz, aber auch Unternehmensberater und (andere) Ökonomen, haben die Anstalt des öffentlichen Rechts gerne als eine Art öffentlich-rechtliche Gesellschaft mit beschränkter Haftung39 betrachtet, die man, je nach verfolgtem Ziel, flexibel einsetzen kann, um auf diese Weise als unbequem empfundene Regeln des Gesellschaftsrechts zu umgehen oder zu unterlaufen. Wenn es aber um Beachtung strengerer haushaltsrechtlicher Vorgaben, einschließlich der Rechnungsprüfung, für diesen Bereich ging, schlüpften sie gerne wieder in die Rolle des Wirtschaftsunternehmens, das selbstverständlich nicht der Finanzkontrolle unterliegt, Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse auch gegenüber seinem Träger wahren darf und im Wesentlichen keiner effektiven Kontrolle und Anleitung unterliegt.40 Zudem sollen die allgemeinen Persönlichkeitsrechte des Managements einen deutlich höheren Schutz genießen als die der Verantwortlichen in den Trägergemeinwesen. Diese überaus problematische Entwicklung ist aus verschiedenen Gründen nur sehr schwer wieder rückgängig zu machen, auch wenn sie mit grundlegenden Prinzipien demokratischer Kontrolle und Verantwortlichkeit im öffentlichen Sektor kaum zu vereinbaren ist. Gesteigerte Transparenz sowohl gegenüber der Öffentlichkeit als auch gegenüber den Repräsentanten des Volkes kann jedenfalls einen Teil der nachteiligen Effekte ausgleichen.

35 Gesetz über die Kreditanstalt für Wiederaufbau vom 5. November 1948 (WiGBl. S. 123) in der Fassung der Neubekanntmachung vom 23. Juni 1969 (BGBl. I S. 573), zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 4. Juli 2013 (BGBl. I S. 2178). 36 Die Errichtung der FMSA erfolgte aufgrund des § 3a des Gesetzes zur Errichtung eines Finanzmarktstabilisierungsfonds (Finanzmarktstabilisierungsfondsgesetz – FMStFG) vom 17. Oktober 2008 (BGBl. I S. 1982); nähere Regelungen zu Organisation und Tätigkeit der FMSA finden sich in der Satzung der Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung, Anlage zur aufgrund des § 3a Abs. 6 FMStFG ergangenen Verordnung vom 21. Februar 2011 (BGBl. I S. 271), Geltung ab 26. Februar 2011. 37 Gesetz zur Errichtung der Landesbank Nordrhein-Westfalen und zur Umwandlung der Westdeutschen Landesbank Girozentrale vom 2. Juli 2002 (GV. NRW. S. 284). 38 Gesetz über die NRW.BANK (NRW.BANK G) vom 16. März 2004, GV. NRW. S. 126. 39 Krit. bereits Siekmann, Die verwaltungsrechtliche Anstalt – eine Kapitalgesellschaft des öffentlichen Rechts?, NWVBl. 1993, S. 361 – 370. 40 VerfGH NRW, Urteil v. 13. Dezember 2011 – Az. 11/10, NWVBl. 2012, S. 107; Tuschl, Das Urteil des Verfassungsgerichtshofs zur Rechnungshofkontrolle der NRW.BANK (Anmerkung), NWVBl. 2012, S. 165 – 169.

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III. Erhöhung der Transparenz im Hinblick auf die Vergütung von Sparkassenvorständen in Nordrhein-Westfalen Paradigmatisch sind die Bemühungen in Nordrhein-Westfalen zur Erhöhung der Transparenz im Hinblick auf die Honorierung des Leitungspersonals von kommunalen Sparkassen. Schon Ende 200941 wurde § 19 Abs. 6 (§ 19 Abs. 5 a.F.) des Sparkassengesetzes Nordrhein-Westfalen (SpkG)42 dahingehend geändert, dass die Träger der Sparkassen darauf hinzuwirken haben, „dass die für die Tätigkeit im Geschäftsjahr gewährten Bezüge jedes einzelnen Mitglieds des Vorstands, des Verwaltungsrates und ähnlicher Gremien unter Namensnennung, aufgeteilt nach erfolgsunabhängigen und erfolgsbezogenen Komponenten sowie Komponenten mit langfristiger Anreizwirkung, im Anhang zum Jahresabschluss gesondert veröffentlicht werden“.43 Diese „Hinwirkungspflicht“ wurde jedoch in nennenswertem Umfang missachtet. Ein Sparkassenvorstand wehrte sich vor den Zivilgerichten gegen die anstehende Veröffentlichung seiner Bezüge. Daraufhin erließ das OLG eine einstweilige Anordnung, die eine solche Veröffentlichung untersagte.44 Zur Begründung stellte das Gericht im Wesentlichen darauf ab, dass eine wirksame Rechtsgrundlage für die Veröffentlichung fehle. § 19 Abs. 6 SpkG sei mangels Kompetenz des Landes nichtig, da der Bund im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung die Materie abschließend in §§ 285 S. 1 Nr. 9 lit. a, 286 Abs. 4, 340 a HGB geregelt habe. Dennoch wurde am 8. Oktober 2013 der Entwurf eines „Gesetzes zur Offenlegung der Bezüge von Sparkassenführungskräften im Internet“ im Landtag von Nordrhein-Westfalen eingebracht.45 Dieser Entwurf versucht, die Materie erneut und wirksamer zu regeln und schlägt dafür die Schaffung eines neuen Abschnitts im Sparkassengesetz „D. Transparenz“ vor. Er enthält im Wesentlichen folgende inhaltliche Anordnungen: - die Schaffung eines elektronischen Informationsregisters durch die Sparkassenverbände 41 Neufassung des § 19 Abs. 5 SpkG durch Artikel 3 des Gesetzes vom 17. Dezember 2009 (GV. NRW. S. 950), in Kraft getreten am 31. Dezember 2009. 42 Sparkassengesetz Nordrhein-Westfalen (SpkG) vom 18. November 2008, in Kraft getreten am 29. November 2008, Artikel 1 des Gesetzes zur Änderung aufsichtsrechtlicher, insbesondere sparkassenrechtlicher Vorschriften vom 18. November 2008 (GV. NRW. S. 696), zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 16. Juli 2013 (GV. NRW. S. 490), in Kraft getreten am 27. Juli 2013. 43 Die Vorgängervorschrift des § 19 Abs. 5 SpkG lautete wie folgt: „Die Bezüge der einzelnen Vorstandsmitglieder sind im Geschäftsbericht der Sparkasse individualisiert auszuweisen. Die Vertretung des Trägers kann auf der Grundlage eines einstimmig gefassten Beschlusses festlegen, auf eine individualisierte Ausweisung im Sinne von Satz 1 zu verzichten.“ 44 OLG Köln, Urteil v. 9. 6. 2009 – Az. 15 U 79/09. 45 LT-Drucks. 16/4165.

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- Gewährleistung freien („barrierefreien“) Zugangs zu diesem Register - Maschinenlesbarkeit der darin enthaltenen Informationen - Pflicht zur Veröffentlichung der Bezüge der Vorstände der Sparkassen sowie ihrer Verwaltungs- und Aufsichtsräte - Pflicht zur Veröffentlichung der Jahresberichte der Sparkassen in diesem Register.

IV. Rechtliche Bewertung 1. Ausgangspunkt – der öffentliche Auftrag der Sparkassen Das Sparkassengesetz bezeichnet die Sparkassen zwar als Wirtschaftsunternehmen (§ 1 Abs. 2 SpkG), doch erkennt das Gesetz aus gutem Grund immer noch an, dass sie einen öffentlichen Auftrag zu erfüllen haben (Überschrift von § 2 und § 2 Abs. 3 SpkG). Dieser öffentliche Auftrag ist keine bloße Arabeske, sondern wesentlicher Grund und Rechtfertigung für die Existenz der Sparkassen in kommunaler oder staatlicher Trägerschaft.46 Aus den Prinzipien des allgemeinen Verwaltungsorganisationsrechts folgt, dass die Rechtsform der Anstalt des öffentlichen Rechts nur verwendet werden darf, wenn die Einrichtung eine öffentliche Aufgabe zu erfüllen hat.47 Das ist auch der Hintergrund der Regelung in § 21 LOG. Der Gehalt von § 2 Abs. 2 SpkG ist jedoch so allgemein und unsubstantiiert, dass er diese Anforderungen kaum erfüllt. Eine Kontrolle, ob und in welchem Ausmaß der Auftrag erfüllt worden ist, kann anhand dieser Vorgaben nicht durchgeführt werden. Die Anordnung eines (begrenzten) Kontrahierungszwanges (§ 5 SpkG) weist allerdings in die richtige Richtung und vermag die Existenz der Einrichtungen zu rechtfertigen. Unabhängig von der Rechtsform bestehen erhebliche Zweifel, ob ein öffentliches Unternehmen errichtet werden darf, dessen Hauptzweck darin liegt, Gewinne für den Haushalt des Trägergemeinwesens zu erwirtschaften.48 Zwar ist in § 2 Abs. 3 Satz 2 46 Vgl. nur VGH Baden-Württemberg, Betriebs-Berater 1994, S. 1957; Janson, Rechtsformen öffentlicher Unternehmen in der Europäischen Gemeinschaft, 1980, S. 37 – 41; Thiemeyer, Öffentliche Bindung von öffentlichen Unternehmen, 1983; Siekmann, Jahrbuch (oben Fn. 15), S. 295 f.; noch strenger Gersdorf (oben Fn.19), S. 491, der von einer grundsätzlichen Unzulässigkeit der wirtschaftlichen Betätigung der öffentlichen Hand ausgeht, wenn nicht die Erfüllung der Aufgabe von Verfassungs wegen zu gewährleisten sei; Becker, Grenzenlose Kommunalwirtschaft, DÖV 2000, S. 1032; Mann, in: Tettinger/Erbguth/Mann, Besonderes Verwaltungsrecht, 9. Aufl. 2007, Rdn. 301. 47 Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 16. Aufl. 2006, § 23 Rdn. 46 f. 48 Püttner (oben Fn. 20), S. 131; Ehlers, Interkommunale Zusammenarbeit in Gesellschaftsform, DVBl. 1997, S. 137 (142); Hellermann, Örtliche Daseinsvorsorge und gemeindliche Selbstverwaltung, 2000, S. 207; Hösch, Der öffentliche Zweck als Voraussetzung kommunaler Wirtschaftstätigkeit, Gewerbe Archiv, 2000, S. 1 (3); Pagenkopf, Einige Betrachtungen zu den Grenzen für privatwirtschaftliche Betätigung der Gemeinden – Grenzen für die Grenzzieher?, Gewerbe Archiv, 2000, S. 177 (180); Brenner, Gesellschaftsrechtliche Ingerenzmöglichkeiten von Kommunen auf privatrechtlich ausgestaltete Unternehmen, AöR

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SpkG vorgesehen, dass die Gewinnerzielung nicht Hauptzweck des Geschäftsbetriebs der Sparkasse ist, doch ist die Formulierung zu schwach und wird in der Praxis, wenn stolz die steigenden Gewinne vorgerechnet werden, nicht hinreichend ernst genommen. Die Ausschüttung von Gewinnen legt den Nutzern der Anstalt eine überflüssige Steuerlast auf und ist ein Zeichen dafür, dass die Dienstleistungen zu teuer angeboten werden. Eine rein erwerbswirtschaftliche Tätigkeit des Staates und der Kommunen, ohne Verfolgung eines öffentlichen Zwecks, stößt jedenfalls auf erhebliche (verfassungs-)rechtliche Bedenken.49 Eine Sparkasse hat für die Bevölkerung und die Wirtschaft im Gebiet ihres Trägers möglichst kostengünstige Bankdienstleistungen zu erbringen, aber nicht einen Beitrag zur Finanzierung des Haushalts einer Gebietskörperschaft zu leisten. Erst recht gehört es nicht zu ihren Aufgaben, kulturelle oder soziale Zwecke zu fördern. Sparkassenstiftungen sind im Hinblick auf den Auftrag und die Funktion einer Bank in kommunaler Trägerschaft problematisch. Vor allem in der gegenwärtigen Situation nach den Erfahrungen mit dem Verhalten von privatrechtlichen und privatwirtschaftlichen Kreditinstituten und der Diskussion über die Beteiligung von Gläubigern an den Verlusten von Banken in der Krise („bail-in“)50 ist ein sicheres Kreditinstitut, das vornehmlich eine öffentliche Dienstleistung zu erbringen hat, wichtiger denn je. Der in Deutschland weitgehend fehlende oder völlig falsch konzipierte Verbraucherschutz in Finanzdingen wäre eine wesentliche Aufgabe für ein kommunales Unternehmen. Er war ursprünglich auch einer der wesentlichen Gründe für die Schaffung der ersten kommunalen Sparkassen zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Diese Ausrichtung wäre wieder dringender denn je, vor 127 (2002), S. 222 (238); weitere Nachweise bei Siekmann, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 7. Aufl. 2014, vor Art. 104a Rdn. 136 – 138. 49 Ehlers, Verwaltung in Privatrechtsform, 1984, S. 92 ff.; ders., Die wirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand in der Bundesrepublik Deutschland, JZ 2000, S. 1089 (1091); Gersdorf (oben Fn. 19), S. 500: „verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen“; Höfling, Finanzmarktregulierung – Welche Regelungen empfehlen sich für den deutschen und europäischen Finanzsektor?, Verhandlungen des 68. Deutschen Juristentages, Bd. I Gutachten, Teil F, 2010, S. F27; gegen Verfassungswidrigkeit aber: Emmerich, Das Wirtschaftsrecht der öffentlichen Unternehmen, 1969, S. 86 ff., 119: „Das Grundgesetz enthält – von wenigen Ausnahmen abgesehen – keine Aussagen über die Zulässigkeit öffentlicher Unternehmen“; zurückhaltend auch Storr, Der Staat als Unternehmer, 2001, S. 103 – 152. 50 Zu einem (vorläufigen) Abschluss gekommen durch: die Regelung in Art. 43 – 58 Richtlinie 2014/59/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Festlegung eines Rahmens für die Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen und zur Änderung der Richtlinie 82/891/EWG des Rates und der Richtlinien 2001/24/EG, 2002/47/EG, 2004/25/EG, 2007/36/EG, 2011/35/EU, 2012/30/EU und 2013/36/EU sowie der Verordnung (EU) Nr. 1093/2010 und (EU) Nr. 648/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. vom 12. Juni 2014, L 173/190; die Regelung in Art. 27 Verordnung (EU) Nr. 806/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung einheitlicher Vorschriften und eines einheitlichen Verfahrens für die Abwicklung von Kreditinstituten und bestimmten Wertpapierfirmen im Rahmen eines einheitlichen Abwicklungsmechanismus und eines einheitlichen Abwicklungsfonds sowie zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1093/2010, ABl. vom 30. Juli 2014, L 225/1.

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allem seit die effizienten, kostengünstigen und absolut sicheren Bankdienste der Post verschwunden sind. Die Postbank AG, mittlerweile zur Deutschen Bank gehörend, erfüllt diese Aufgaben (der Daseinsvorsorge) nicht. Genossenschaftliche Einrichtungen vermögen nur zum Teil diese Lücke zu füllen. Diese Besonderheiten der kommunalen Sparkassen müssen hinreichend bei der rechtlichen Beurteilung von Kompetenzproblemen und Fragen von Aufsicht, Transparenz und Kontrolle beachtet werden. 2. Gesetzgebungszuständigkeit des Landes Fraglich ist, ob die vorgeschlagenen Regelungen in die Gesetzgebungszuständigkeit des Landes fallen. Die Länder haben nach Art. 70 Abs. 1 GG das Recht der Gesetzgebung, soweit das Grundgesetz nicht dem Bund Gesetzgebungsbefugnisse verleiht. Es besteht danach eine Residualkompetenz der Länder; falsch ist die Bezeichnung als Zuständigkeitsvermutung. Für die Annahme einer Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes ist eine ausdrückliche Regelung erforderlich. Im Bereich einer konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit sind zudem die mehrfach verschärften Anforderungen von Art. 72 GG zu beachten. Die vorgeschlagene Regelung könnte in das Gebiet der konkurrierenden Gesetzgebung nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG fallen. Dabei ist nach den üblichen Auslegungsmitteln zu bestimmen, wie weit der Begriff des Bankwesens in Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG reicht und ob die Regelungen des Bundes in diesem Bereich abschließend und erschöpfend sind. Für die Auslegung kommen dem herkömmlichen Verständnis und der vom Verfassunggeber vorgefundenen Rechtslage ein erhebliches Gewicht zu. Das dort genannte Bankwesen umfasst zwar auch die kommunalen Sparkassen, doch bedeutet das nicht, dass die Länder von der Regelung aller Fragen, die ihre Sparkassen betreffen, ausgeschlossen sind. Vielmehr wird traditionell zwischen dem „formellen“ Sparkassenrecht (Sparkassenverfassungsrecht, Sparkassenorganisationsrecht) und dem „materiellen“ Sparkassenrecht (Wirtschafts- und Geschäftsführung) unterschieden. Nur das „materielle“ Sparkassenrecht soll in das Gebiet der konkurrierenden Gesetzgebung fallen.51 Das OLG Köln rechnete schon die alte Regelung zur Veröffentlichung von Bezügen (§ 19 Abs. 5 SpkG a.F.) zum „materiellen“ Sparkassenrecht.52 Es stützte seine Argumentation schwergewichtig darauf, dass der Bundesgesetzgeber die Veröffentlichung von Vorstandsbezügen als Teil der vorgeschriebenen Rechnungslegung (Bilanz und Geschäftsbericht) erschöpfend und abschließend geregelt habe.53 Es hande-

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BVerwGE 75, 292 Rdn. 33. OLG Köln, Urteil v. 9. 6. 2009 – Az. 15 U 79/09 Textnr. 23. 53 OLG Köln, Urteil v. 9. 6. 2009 – Az. 15 U 79/09 Textnr. 26.

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le sich um eine umfassende und lückenlose Regelung, die es dem Landesgesetzgeber verwehre, in diesem Bereich tätig zu werden.54 Zwar kann dem Gericht insoweit gefolgt werden, dass die systematische Einordnung einer Vorschrift innerhalb eines Gesetzes für die Auslegung nicht (allein) ausschlaggebend sein kann, doch verkennt es, dass der Bund jedenfalls nur Mindestanforderungen (neu) statuiert hat. Das ergibt sich schon daraus, dass (nur) für börsennotierte Aktiengesellschaften strengere Anforderungen eingeführt worden sind,55 da die Regeln des Corporate Governance Kodex zu dieser Frage als nicht hinreichend angesehen wurden.56 Schon diese (nachträgliche) Verschärfung zeigt, dass der Gesetzgeber die Grundregeln nur als Mindestanforderungen angesehen hatte. Im Übrigen sollte ursprünglich die Formulierung weiterer Anforderungen für börsennotierte Unternehmen der gemischtrechtlichen „Regierungskommission Deutscher Corporate Governance“ überlassen bleiben. Da der Gesetzgeber aber mit Verfahren und Ergebnis der Kommission in diesem Punkt nicht zufrieden war, hat er die für erforderlich gehaltene Verschärfung selbst vorgenommen; nicht aber weil er seine Regelung als eine umfassende und lückenlose Bearbeitung der Materie ansah. Das hat das OLG nicht hinreichend erkannt. Da Sparkassen keine börsennotierten Unternehmen sind, bestand kein Grund, für diese zum Schutz ihrer Eigentümer ähnliche Veröffentlichungspflichten vorzusehen. Auch wenn Anstaltslast und Gewährträgerhaftung weitgehend beseitigt worden sind,57 besteht möglicherweise eine (faktische) Einstandspflicht der Trägerkörperschaft für ihre Sparkassenanstalt. Die Einstandspflicht ist aber unbestritten immer eine Domäne des „formellen“ Sparkassenrechts gewesen und fällt damit in die Gesetzgebungskompetenz der Länder. Zudem zeigt die Berufung in der Gesetzesbegründung auf die „Vergütungs- und Kontrollhierarchie in der Aktiengesellschaft“58 und die Beschränkung auf börsennotierte Gesellschaften, dass sonstige Organisationsformen nicht in den Regelungsbereich der neuen Vorschrift fallen sollten. Dies gilt vor allem auch, weil das Informationsbedürfnis zum Schutz der Eigentümer für die „sonstigen am geregelten Markt tätigen Unternehmen“ als wesentlich geringer eingeschätzt wurde.59 Das Eigenkapital der Sparkassen wird aber auf völlig andere Weise aufgebracht als bei Aktiengesellschaften, gleich ob börsennotiert oder nicht. Sein Schutz durch Information und Transparenz ist schlicht nicht geregelt worden und ist deshalb offen für gesetzgeberische Maßnahmen der Länder, selbst wenn man sie nicht zum „formellen“ Sparkassenrecht rechnen will. Diese Zusammenhänge hat das OLG Köln grundlegend verkannt. 54

OLG Köln, Urteil v. 9. 6. 2009 – Az. 15 U 79/09 Textnr. 23. Oben Abschnitt I. 56 Nachweise oben Fn. 3 und 4. 57 Oben S. 1299. 58 Gesetzesbegründung (oben Fn. 4), S. 7. 59 Gesetzesbegründung (oben Fn. 4), S. 5 – 7. 55

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Für die Auslegung ist schließlich wichtig, dass dem Gesetzgeber bei Schaffung von Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG bekannt war, dass entsprechend einer langen Tradition Regelungen im Sparkassenrecht der Länder enthalten waren, die sich auch auf die Geschäftsführung auswirken. Schon die Zweckbestimmung einer Sparkasse und ihr öffentlicher Auftrag haben erhebliche Relevanz für die Geschäftspolitik des Instituts; ganz zu schweigen vom bereits erwähnten Kontrahierungszwang, den das OLG ebenfalls nicht hinreichend würdigt. Die Regelung des Kontrahierungszwangs wäre kompetenzrechtlich kaum akzeptabel, wenn man das „materielle“ Sparkassenrecht so weit verstünde wie das OLG Köln. Zum Sparkassenorganisationsrecht gehören schließlich auch alle Vorschriften, die dazu dienen, Transparenz und Kontrolle der Geschäftsführung eines öffentlichen Unternehmens zu verbessern, um die klar erkennbaren Gefahren für die öffentlichen Haushalte abzuwehren. Das ist eindeutig eine Frage des Landesorganisations- und Kommunalrechts.60 Das gilt erst recht für öffentliche Unternehmen, die als Anstalten des öffentlichen Rechts organisiert sind.61 Derartige Regelungen gehören zum „formellen“ Sparkassenrecht, das in die Gesetzgebungskompetenz der Länder fällt, unabhängig davon, wie sie im Detail ausgestaltet sind. Für ihre Zuordnung zur Gesetzgebungskompetenz der Länder kommt es nicht darauf an, ob sie in ein bundesgesetzlich geregeltes Werk der Rechenschaftslegung (Bilanz, Jahresbericht) eingebaut sind oder nicht. Davon ausgehend können Veröffentlichungspflichten als Teil des „formalen“ Sparkassenrechts angesehen werden. Auch die Wahrung eines einheitlichen Rechts- und Wirtschaftsraums erfordert keine einheitliche Regelung der Pflicht zur Veröffentlichung von Vergütungen der Organwalter. Die Besonderheiten des Landesorganisations- und Kommunal(-wirtschafts-)rechts lassen durchaus abweichende Regelungen zu; erfordern sie wohl sogar. Die divergierenden Regelungen der Sparkassengesetze der Länder haben sich nicht als schädlich erwiesen. Die Vielfältigkeit und die regionale Anbindung der Sparkassen haben mit dazu beigetragen, dass sie sich als stabiler erwiesen haben, als manche einheitlich „regulierte“ Großbank. Variabilität und Flexibilität sorgen unter bestimmten Umständen für Gefahrenresistenz. Aber selbst wenn man eine Zugehörigkeit der Veröffentlichungspflichten zum Gebiet des Bankwesens bejaht, ist fraglich, ob eine abschließende Regelung des Bundes, die ein Tätigwerden der Länder ausschließen würde, den Erfordernissen von Art. 72 Abs. 2 GG genügte. Es ist zu bezweifeln, dass ein bundesgesetzlicher Ausschluss von weitergehenden Anforderungen an die Publizität zur Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse erforderlich wäre. 60 BayVGH, NVwZ 1996, S. 822; BayVerfGH, Urteil v. 26. 7. 2006 – Az. Vf. 11-IVa-05, S. 48, der ausdrücklich auch Aufsicht und Kontrolle für „gemischtwirtschaftliche“ Unternehmen bejaht, wenn sie von der öffentlichen Hand „beherrscht“ werden. Dabei haben bundesrechtlich geregelte Geheimhaltungspflichten auch im Verfassungsraum der Länder nicht „zwangsläufig“ Vorrang (S. 50); im Grundsatz ebenso BVerfGE 98, 145 (161). 61 Darstellung der Erfordernisse der „Anstaltsaufsicht“ im Einzelnen bei Siekmann, Regulierung (oben Fn. 15), S. 100 ff.

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Dies gilt vor allem, wenn man die Sonderrolle, welche die Sparkassen im deutschen Kreditwesen spielen, hinreichend würdigt. Die erheblichen Unterschiede im Kommunalrecht und im Kommunalwirtschaftsrecht bedürfen keiner Vereinheitlichung. Im Gegenteil dürften sie in ihrer Gesamtheit zum unantastbaren Kernbereich der Selbstverwaltungsgarantie der Kommunen nach Art. 28 Abs. 2 GG gehören. Im Hinblick auf die Entscheidung des OLG Köln ist schließlich zu beachten, dass sie im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ergangen ist. Nur deshalb durfte das Gericht – ausnahmsweise – ein förmliches Gesetz des Landes vorläufig als unwirksam behandeln, obwohl es – ausführlich begründet – für entscheidungserheblich gehalten wurde. Diese Durchbrechung des Verwerfungsmonopols (nicht: Prüfungsmonopols, wie das Gericht schreibt) wird vom Bundesverfassungsgericht jedoch nur zugelassen, wenn damit die Hauptsache nicht vorweggenommen wird und andernfalls der Zweck des Rechtsschutzes im Eilverfahren vereitelt würde.62 Das mag in dem zu entscheidenden Fall noch gegeben sein. Im Hauptsacheverfahren muss die Sache dann aber zwingend dem Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 1 GG zur Entscheidung vorgelegt werden.63 Nur dieses Gericht ist zu einer bindenden Feststellung der Verfassungswidrigkeit befugt. Die Entscheidung des OLG Köln entfaltet über die Prozessparteien hinaus keinerlei Bindungswirkung. Der Landesgesetzgeber ist nicht gehindert, die Kompetenzfrage anders zu beurteilen, und sollte das auch. Im Ergebnis ist die Kompetenz des Landes für eine gesetzliche Regelung der Veröffentlichung von Bezügen zu bejahen. Das dürfte selbst dann gelten, wenn eine Publizierung in den bundesrechtlich geregelten Rechenschaftsinstrumenten vorgeschrieben wird. 3. Verletzung von Grundrechten Die Pflicht zur Veröffentlichung von Vergütungen dürfte als Eingriff in das Recht der informationellen Selbstbestimmung, das aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG64 abzuleiten ist, zu beurteilen sein. Die Regelung schmälert die durch das Grundrecht geschützte „Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden“.65 Der Einzelne soll selbst in der Lage sein, über die „Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten“ zu bestimmen.66

62

BVerfGE 46, 43 (51); 86, 382 (389). BVerfGE 86, 382 (389). Zulässig wäre aber auch eine Vorlage im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, BVerfGE 46, 43 (51). 64 Grundlegend BVerfGE 65, 1 (41, 43); 80, 367 (373); 84, 239 (279); 118, 168 (183). 65 BVerfGE 80, 367 (373); 103, 21 (33); 128, 1 (42). 66 BVerfGE 65, 1 (43); 117, 202 (228); 118, 168 (184); 128, 1 (42). 63

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Mit der Regelung wird aber ein von der Verfassung gebilligter Zweck verfolgt. Die Transparenz der Vergütung im Bereich der öffentlichen Wirtschaft ist ein akzeptables gesetzgeberisches Ziel. Dies folgt nicht zuletzt aus der besonderen Aufgabenstellung kommunaler Sparkassen. Sie ist auch für die öffentliche Meinungsbildung in Bezug auf solche Unternehmen wichtig.67 Dies gilt unabhängig von der Rechtsform, in der sie organisiert sind. Die Regelung ist im Hinblick auf das angestrebte Ziel auch geeignet und erforderlich. Insbesondere hat sich eine an das Trägergemeinwesen gerichtete bloße Hinwirkungspflicht, wie sie in § 19 Abs. 6 SpkG geregelt wurde, im Hinblick auf die angestrebten Ziele als unzureichend erwiesen. Zur Umsetzung der Hinwirkungspflicht sind grundsätzlich die Instrumente der Kommunalaufsicht nach §§ 119 ff. GO NRW68 und nicht die der Sparkassenaufsicht nach §§ 39 ff. SpkG einzusetzen. Allerdings ist der Tatbestand von § 19 Abs. 6 SpkG so weich formuliert, dass nicht einfach zu erkennen ist, wann eine Rechtsverletzung der Trägerkörperschaft vorliegt, gegen die aufsichtsrechtlich vorgegangen werden kann. Hinzu kommt die enge persönliche Verquickung zwischen den maßgebenden Personen auf der Seite der Träger und dem Management öffentlicher Unternehmen. Diese hat vor allem im Bereich öffentlicher Banken schon zu einigen Problemsituationen geführt.69 Eine klare Rechtspflicht zur Veröffentlichung würde für die Durchsetzung des gesetzgeberischen Ziels deutliche Vorteile bringen. Für die Aufsicht, aber auch die interessierte Öffentlichkeit, wäre leicht festzustellen, wann ein rechtswidriges Unterlassen vorliegt. Auch eine Erhöhung des politischen Drucks anstelle einer gesetzlichen Regelung ist nicht zielführend, da echte hoheitliche Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur auf einer „gesetzlichen Grundlage“ erfolgen dürfen, „aus der sich die Voraussetzungen und der Umfang der Beschränkungen klar und für den Bürger erkennbar“ ergeben.70 Der Gesetzgeber muss den Zweck einer Informationserhebung „bereichsspezifisch und präzise“ bestimmen.71 Bedenken könnten allenfalls im Hinblick auf die Angemessenheit, die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, bestehen. Bei der erforderlichen Abwägung ist zu berücksichtigen, dass die Veröffentlichung der persönlichen Bezüge ein gewichtiger Eingriff ist. Die engere Privatsphäre oder Intimsphäre ist allerdings nicht betroffen. Auf der anderen Seite stehen öffentliche Belange von erheblichem Gewicht, da die Vergütung des Führungspersonals sowohl in der Privatwirtschaft als auch im Bereich 67 Das ist ein Gesichtspunkt, den auch das BVerfG akzeptiert, Kammerbeschluss vom 25. 2. 2008 – Az. 1 BvR 3255/07 Textnr. 24. 68 Gemeindeordnung für das Land Nordrhein-Westfalen (GO NRW), in der Fassung der Bekanntmachung vom 14. Juli 1994 (GV. NRW. S. 666), zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 19. Dezember 2013 (GV. NRW. S. 878). 69 Vgl. Siekmann (Fn. 15), S. 107 f. 70 BVerfGE 65, 1 (44); 84, 239 (279 f.); 113, 29 (50); 118, 168 (186 f.). 71 BVerfGE 113, 29 (50); 118, 168 (186 f.).

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der öffentlichen Verwaltung zu Recht Gegenstand einer breiten Diskussion geworden ist.72 Dies gilt in besonderem Maße für die Entscheidungsträger in Kreditinstituten. Die Vergütungspraxis der Banken war sicher nicht der Hauptgrund für Entstehung und Verlauf der gegenwärtigen Krise, die im Kern eine Bankenkrise war und immer noch ist, doch war sie zumindest eine problematische Begleiterscheinung, möglicherweise auch eine Mitursache. Das mag für die Sparkassen nur bedingt gelten, doch stellt jedes Kreditinstitut eine potentielle Gefahr für die Finanzstabilität dar, so dass es Gründe für besonders hohe Transparenzanforderungen gibt. Hinzu kommt, dass die Sparkassen als Instrument zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben eine Sonderstellung einnehmen. Bei der Diskussion, ob und in welchem Ausmaß sie ihren öffentlichen Auftrag erfüllen und ob der erstrebte Nettonutzen für die Bevölkerung und die Wirtschaft des Trägergebietes erreicht wird, spielt die Vergütung der Inhaber der Leitungsämter eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Die Sparkassen sind eben nicht eine Bank wie jede andere; sonst wäre ihr Zweck verfehlt. Die Veröffentlichung der Bezüge ist daher im Ergebnis als verhältnismäßig im engeren Sinne zu beurteilen, zumal die Veröffentlichung der gesetzlich geregelten Bezüge von Richtern, Polizeipräsidenten, Ministern und des Bundespräsidenten auch nicht als unangemessene Beeinträchtigung gewertet wird.73 Sparkassen sind als Anstalten des öffentlichen Rechts, auch wenn sie vom Gesetz als Wirtschaftsunternehmen bezeichnet werden, Teile der (leistenden) Verwaltung. Nicht nur für Amtsträger in leitender Position ist dort die individuelle Besoldung sehr transparent. 4. Verletzung von verfassungsrechtlichen Grundprinzipien Eine Verpflichtung zur Veröffentlichung von Bezügen im Rahmen von laufenden Vertragsverhältnissen könnte als unzulässiger Eingriff in vertragliche Beziehungen zu werten sein. Art. 1 section 10 clause 1 der U.S.-Bundesverfassung verbietet den „states“ Eingriffe in vertragliche Beziehungen, die zu einer Beeinträchtigung der Ausgeglichenheit vertraglicher Verpflichtungen führen. Eine derartige „contract clause“ gibt es im deutschen Verfassungsrecht aber nicht. Eingriffe durch den Gesetzgeber sind als solche zulässig, müssen aber das aus dem Rechtsstaatsprinzip fließende Rückwirkungsverbot beachten, das auch im amerikanischen Verfassungsrecht deutlich von der „contract clause“ unterschieden wird.74

72 BVerfG, Kammerbeschluss v. 25. 2. 2008 – Az. 1 BvR 3255/07 – Textnr. 39: Veröffentlichung der Vergütung von Vorstandsmitgliedern einer gesetzlichen Krankenkasse. 73 Im Ergebnis hat auch das BVerfG die Verfassungsbeschwerde der Krankenversicherungsvorstände mangels Erfolgsaussicht nicht zur Entscheidung angenommen, Kammerbeschluss v. 25. 2. 2008 – Az. 1 BvR 3255/07 Textnr. 16. 74 Article 1 section 9 clause 3 U.S. Constitution (Bundesebene), Article 1 section 10 clause 1 U.S. Constitution (Landesebene).

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Rückwirkend auferlegte (gesetzliche) Belastungen sind verfassungsrechtlich grundsätzlich unzulässig,75 wenn die gesetzliche Regelung nachträglich ändernd in abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Tatbestände eingreift („echte“ oder „retroaktive“ Rückwirkung).76 Gesetzliche Regelungen, die jedoch lediglich auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte, vor allem auch Rechtsbeziehungen, (nur) für die Zukunft einwirken und damit zugleich die betroffene Rechtsposition nachträglich entwerten („unechte“ oder „retrospektive“ Rückwirkung),77 sind grundsätzlich auch unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes zulässig.78 Sie müssen allerdings den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes genügen. Die „Veränderungsgründe“ müssen überwiegen.79 Ob die Einführung einer Veröffentlichungspflicht von Bezügen, die sich auch auf bestehende Anstellungsverträge bezieht, eine „echte“ („retroaktive“) Rückwirkung darstellt, ist zweifelhaft. Die vertragliche Beziehung stellt noch keinen in der Vergangenheit abgeschlossenen Sachverhalt dar. Der Vertrag läuft noch. Allerdings wird den Betroffenen die (theoretische) Möglichkeit genommen, davon Abstand zu nehmen, in ein Dienstverhältnis einzutreten, das mit derartigen Publizitätspflichten belastet ist. Das Bundesverfassungsgericht nimmt nur selten eine „echte“ („retroaktive“) Rückwirkung an. Vor allem im Umwelt- und Steuerrecht sind in großem Umfang nachträgliche Belastungen unbeanstandet eingeführt worden, welche die ursprüngliche Abwägung oder Kalkulation empfindlich gestört haben. Das gilt nicht zuletzt auch für die Einführung von Umweltzonen, welche den Wert noch gut brauchbarer Kraftfahrzeuge massiv beeinträchtigt haben oder sogar die vorzeitige Verschrottung erzwungen haben, obwohl großzügigere Übergangsregelungen den gesetzlichen Zweck kaum beeinträchtigt hätten. Die Verhältnismäßigkeit der Regelung ist bereits bejaht worden.80 Ein kurzfristiges Inkrafttreten von Veröffentlichungspflichten für zukünftige Rechnungsperioden dürfte danach mit dem rechtsstaatlichen Rückwirkungsverbot zu vereinbaren sein. 5. Landesorganisationsrecht Die Organisation der Landesverwaltung im engeren Sinne ist in NRW im Landesorganisationsgesetz – LOG geregelt. Für die kommunale Ebene und sonstige recht75 BVerfGE 122, 374 (394); Darstellung der Rechtsprechung einschließlich der Ausnahmen von dem Verbot bei Sachs, in: ders., Grundgesetz, 7. Aufl. 2014, Art. 20 Rdn. 133 f. 76 Grundlegende Unterscheidung bereits in BVerfGE 11, 139 (145 f.); vgl. später u. a. BVerfGE 122, 374 (394). 77 Grundlegend für die Abgrenzung BVerfGE 11, 139 (146). 78 BVerfGE 122, 374 (394). 79 BVerfGE 94, 64 (86); 122, 374 (394) st. Rspr. 80 Oben S. 1307 ff.

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lich selbständige Einrichtungen des Landes gilt es jedoch nur, soweit seine Geltung ausdrücklich angeordnet ist, § 1 Abs. 1 LOG. Nach § 21 LOG i.V.m. § 19 Abs. 1 LOG wirken die Anstalten des öffentlichen Rechts bei der Landesverwaltung mit. Diese Regelung fixiert im Kern nur Prinzipien des (ungeschriebenen) Allgemeinen Verwaltungsrechts. Deshalb ist es nicht entscheidend, ob ihre Geltung ausdrücklich auf die kommunale Ebene erstreckt worden ist oder nicht. Zwar ist das Sparkassenrecht des Landes lex specialis, das dem LOG vorgeht, doch ist nicht sicher, ob und in welchem Ausmaß sich der Landesgesetzgeber über Prinzipien des Allgemeinen Verwaltungsrechts hinwegsetzen darf. Das hängt davon ab, ob die betreffende Regel des ungeschriebenen Verwaltungsrechts Bundesrecht ist oder Landesrecht. Eine solche Durchbrechung ist aber in einer landesrechtlichen Vorschrift, die zur Veröffentlichung von Gehältern zwingt, nicht ersichtlich. Insoweit kann dem Allgemeinen Verwaltungsrecht, gleich welcher Stufe, keine Vorgabe entnommen werden 6. Veröffentlichungsmedium Davon ausgehend, dass der Landesgesetzgeber eine Veröffentlichungspflicht vorsehen darf, fällt auch die Festlegung des Veröffentlichungsmediums in seine Kompetenz. Ob die Schaffung eines neuen Registers zweckmäßig ist, steht auf einem anderen Blatt. Wenn allerdings aus Effizienzgründen eine Veröffentlichung im Bundesanzeiger vorgeschrieben wird – in Abweichung von dem vorgeschlagenen § 42b des Gesetzentwurfs vom 8. Oktober 2013 –81 müsste näher geprüft werden, ob das Land auf ein Veröffentlichungsorgan des Bundes einseitig zugreifen dürfte. Möglicherweise kommt aber eine vertragliche Absprache mit dem Bund in Betracht. Allerdings genügt der elektronische Bundesanzeiger gegenwärtig nicht den Anforderungen an einen „barrierefreien“ Zugang. Er ist, wie viele offizielle elektronische Medien in Deutschland, für die interessierte Öffentlichkeit nur schwer zugänglich. Insoweit ist die Veröffentlichungspraxis der EU wesentlich bürgerfreundlicher. Gesetzentwurf der Fraktion der Piraten82 Artikel 1 Nach § 42 Sparkassengesetz wird ein neuer Abschnitt ,D. Transparenz‘ mit folgenden Paragraphen eingefügt. Die Übergangs- und Schlussvorschriften erhalten dadurch den Buchstaben E. „§ 42a Elektronisches Informationsregister (1) Die Sparkassenverbände sind verpflichtet, ein elektronisches Informationsregister zu führen.

81 82

Landtag Nordrhein-Westfalen, LT-Drucks. 16/4165. Landtag Nordrhein-Westfalen, LT-Drucks. 16/4165.

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(2) Sparkassenverbände und Sparkassen haben durch ihre jeweilige Internetseite barrierefreien Zugang zum elektronischen Informationsregister zu gewährleisten. (3) Die Sparkassen sind verpflichtet, Informationen über die Bezüge ihrer Vorstände und Verwaltungs- bzw. Aufsichtsräte in dem elektronischen Informationsregister der Sparkassenverbände zu veröffentlichen. Welche Informationen veröffentlicht werden müssen, richtet sich nach § 65 a Absatz 1 Satz 1 und 3 der Landeshaushaltsordnung. § 42b Maschinenlesbarkeit (1) Die im elektronischen Informationsregister enthaltenen Informationen sind zusätzlich in einer maschinell verarbeitbaren Form zu veröffentlichen. Die Jahresberichte der Sparkassen sind ebenso maschinell verarbeitbar in das elektronische Informationsregister einzustellen. Artikel 2 Inkrafttreten § 42a und § 42b treten 6 Monate nach Verkündung dieses Gesetzes in Kraft. Dr Joachim Paul Monika Pieper Dietmar Schulz Michele Marsching und Fraktion“.

„In Vielfalt geeint“ im Europäischen Grundrechtsschutz? Von Torsten Stein, Saarbrücken I. Einleitung In Vielfalt geeint war als „Leitspruch“ und eines der „Symbole der Union“ in Art. I-8 des am Ende gescheiterten Entwurfs einer Verfassung für Europa1 enthalten. Die „Symbole“ wurden dann überwiegend gestrichen, um aus dem gescheiterten Verfassungsentwurf den (inhaltlich zu ca. 90 % identischen) Vertrag von Lissabon2 zu schmieden. Aber als ungeschriebenes Motto gilt der ehemalige Leitspruch wohl immer noch. Und über mangelnde Vielfalt kann man sich beim europäischen Grundrechtsschutz sicherlich nicht beklagen. Die „Landschaft“ ist hier in den zurückliegenden Jahren nicht übersichtlicher geworden. Aber auch geeint? In vielen Ländern dieser Welt wären die Menschen froh, wenn es einen (nationalen oder internationalen) Katalog fundamentaler Menschenrechte gäbe, der nicht nur auf dem Papier der Verfassung oder in der Sammlung völkerrechtlicher Verträge ihres Landes stünde, sondern dessen Schutz und Einhaltung ihnen auch tatsächlich von unabhängigen Richtern garantiert würde. Die Bürger der Europäischen Union scheinen da ein wahres Luxusproblem zu haben, ihre Grund- und Menschenrechte werden gleich von vier Katalogen und den entsprechenden gerichtlichen Instanzen geschützt: Durch die Grundrechtskataloge der nationalen Verfassungen, durch die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten des Europarates, durch die in freier Rechtsfindung durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften formulierten allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts und nun auch noch durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Charta). Dem fünften Katalog, dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, der zumeist innerstaatlich anwendbar ist, fehlt das internationale Gericht, aber Individualbeschwerden sind möglich, sofern das entsprechende Protokoll in Kraft ist. Ist das wirklich Luxus oder verbindet sich damit auch ein Problem? Mit der parallelen Geltung der nationalen Grundrechtskataloge und des bisherigen „europäischen“ Grundrechtsschutzes hatten sich die Gerichte arrangiert. Die Ergänzung um die „EU-Grundrechte-Charta“ stellt die Gerichte aber vor die Frage, ob es dadurch einen „Mehrwert“ gibt oder eher ein Chaos. Die folgenden Ausführungen 1 2

ABl. 2004 C 310, S. 1. ABl. 2010 C 83, S. 13 (konsolidierte Fassung).

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sind daher in erster Linie der (nicht mehr so) neuen „Grundrechte-Charta“ und ihrer Einpassung in das bisherige System gewidmet. II. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union Die „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“, zunächst nur „feierlich“ und damit eben rechtlich unverbindlich auf dem Gipfel von Nizza proklamiert3, sollte als Teil II des „Vertrages über eine Verfassung für Europa“4 rechtliche Verbindlichkeit erlangen. Das ist, wie schon gesagt, zusammen mit dem gesamten Verfassungsvertrag nach dem negativen Ausgang der Referenden in Frankreich und den Niederlanden gescheitert. Der Vertrag von Lissabon stellt die rechtliche Verbindlichkeit jetzt her, aber nicht durch Inkorporation in einen der beiden Verträge5, sondern über Art. 6 des Unionsvertrages, der insgesamt wie folgt lautet: 1. „Die Union erkennt die Rechte, Freiheiten und Grundsätze an, die in der Charta der Grundrechte vom 7. Dezember 2000 in der am 12. Dezember 2007 in Straßburg angepassten Fassung niedergelegt sind; die Charta der Grundrechte und die Verträge sind rechtlich gleichrangig. Durch die Bestimmungen der Charta werden die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten der Union in keiner Weise erweitert. Die in der Charta niedergelegten Rechte, Freiheiten und Grundsätze werden gemäß den allgemeinen Bestimmungen von Titel VII der Charta, der ihre Auslegung und Anwendung regelt, und unter gebührender Beachtung der in der Charta angeführten Erläuterungen, in denen die Quellen dieser Bestimmungen angegeben sind, ausgelegt. 2. Die Union tritt der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten bei. Dieser Beitritt ändert nicht die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten der Union. 3. Die Grundrechte, wie sie in der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, sind als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts.“ Es wird noch darauf einzugehen sein, ob „erkennt an“ etwa eine bewußt schwächere Garantie bedeuten soll. Die Vertragsparteien der Europäischen Konvention

3

ABl. 2000 C 364, S. 1. Fn. 1. 5 „Vertrag über die Europäische Union“ und „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“, Fn 2. 4

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zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten von 19506 „sichern“ dagegen die darin enthaltenen Rechte und Freiheiten „zu“. Jedenfalls Polen und das Vereinigte Königreich haben da (wenn wohl auch aus unterschiedlichen Gründen) weniger den „Mehrwert“ gesehen als vielmehr Probleme, und deshalb wurde dem Vertrag von Lissabon ein Protokoll beigefügt „über die Anwendung der Charta der Grundrechte auf Polen und das Vereinigte Königreich“, das nach reichlich gewundenen Eingangserwägungen7 bestimmt: Artikel 1 1. Die Charta bewirkt keine Ausweitung der Befugnis des Gerichtshofs der Europäischen Union oder eines Gerichts Polens oder des Vereinigten Königreichs zu der Feststellung, dass die Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die Verwaltungspraxis oder -maßnahmen Polens oder des Vereinigten Königreichs nicht mit den durch die Charta bekräftigten Grundrechten, Freiheiten und Grundsätzen in Einklang stehen. 2. Insbesondere – und um jeden Zweifel auszuräumen – werden mit Titel IV der Charta keine für Polen oder das Vereinigte Königreich geltenden einklagbaren Rechte geschaffen, soweit Polen bzw. das Vereinigte Königreich solche Rechte nicht in seinem nationalen Recht vorgesehen hat. Artikel 2 Wird in einer Bestimmung der Charta auf das innerstaatliche Recht und die innerstaatliche Praxis Bezug genommen, so findet diese Bestimmung auf Polen und das Vereinigte Königreich nur in dem Maße Anwendung, in dem die darin enthaltenen Rechte oder Grundsätze durch das Recht oder die Praxis Polens bzw. des Vereinigten Königreichs anerkannt sind.

Damit gilt die Charta für diese beiden Mitgliedstaaten nicht „bei der Durchführung des Rechts der Union“, was für alle anderen gemäß Art. 51 Abs. 1 der Charta der Fall sein soll. Die Tschechische Republik hatte (etwas zu spät) gefordert, auch unter dieses Protokoll zu kommen, und der Europäische Rat vom Oktober 2009 hat ein Protokoll beschlossen, das dies ermöglicht und dem nächsten Beitrittsvertrag (das war dann Kroatien) beigefügt werden sollte8. Die Slowakei hat das auch gefordert, später aber zurückgezogen; soweit ersichtlich, ist das Protokoll bezüglich der Tschechischen Republik dem Beitrittsvertrag mit Kroatien auch nicht beigefügt worden.9 In Vielfalt geeint? Was hat diese Staaten veranlasst, sich der völligen Geltung der Charta im Inland zu entziehen? Das mag zumindest im Fall des Vereinigten Königreiches mit „Geburtsfehlern“ der Charta zusammenhängen, die sie von Anfang an 6 Mit allen zwischenzeitlich angenommenen (Zusatz-)Protokollen Neubekanntmachung in BGBl 2010 II, S. 1199. 7 Protokoll Nr. 30 zum Vertrag von Lissabon. 8 Bulletin Quotidien Europe, Europe Documents Nr. 2526, 13. 10. 2009. 9 Abl. EU Nr. L 112 vom 24. 4. 2012. Vgl. dazu T. Stein, The Protocol Exemptions from the Internal Applicability of the Charter of Fundamental Rights of the European Union: Regrettable, Unnecessary, Ineffective, Understandable? in: Jürgen Bröhmer, The Protection of Human Rights at the Beginning of the 21st Century (2012), S. 53 ff.

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hatte; für die Tschechische Republik waren es eindeutig die nach wie vor angewandten Benesˇ-Dekrete. III. Die „Geburtsfehler“ der Grundrechtecharta Ein „Geburtsfehler“ der Charta war sicherlich, dass schon bei ihrer Ausarbeitung feststand, dass sie nicht verbindlich sein sollte. Abgesehen davon, dass man sich dabei an das Jahr 1948 erinnert fühlte, in dem eine unverbindliche „Universelle Erklärung der Menschenrechte“10 noch als etwas Wagemutiges und Revolutionäres erschien, über die die Entwicklung aber längst hinweggegangen war, öffnete das den Weg zur Aufnahme aller möglichen gut gemeinten Versprechen11, aus denen nie und nimmer einklagbare Rechte werden konnten und für deren Realisierung der Union in manchen Fällen schlicht die Zuständigkeit fehlte.12 Manche haben diese „Wünschbarkeiten“ bezeichnet als „Grundrechtliche Antworten auf moderne Herauforderungen“,13 andere weniger freundlich als „leere Versprechungen“, „Dekorationsstück im Schaufenster“ oder „Pomp and Circumstances“.14 Befördert wurde diese Orgie an gut gemeintem durch die Tatsache, dass die Charta erstmals nicht durch eine Regierungskonferenz mit Augenmaß für das Machbare, sondern durch einen „Konvent“ unter zusätzlicher Beteiligung der breiten Öffentlichkeit erarbeitet wurde, auch wenn der Vorsitzende (der ehemalige deutsche Bundespräsident Herzog) manches Unerfüllbare am Ende rausgestrichen hat. Dennoch blieb die Charta ein buntes Sammelsurium von Rechten, Freiheiten und Grundsätzen mit sehr unterschiedlicher Gewährleistungsintensität, und der Unionsbürger, dem das alles „sichtbar gemacht“ werden und seine „Identifikation mit Europa stärken“ sollte, konnte wählen zwischen „hat das Recht“, „wird geschützt“, „wird gewährleistet“, „wird geachtet“, „wird anerkannt“, „wird berücksichtigt“, „muß sichergestellt werden“ oder „die Union anerkennt und achtet nach dem Gemeinschaftsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gewohnheiten“. Derselbe Unionsbürger kannte aber seit langem „harte“ Grundrechte, die er auch –

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Resolution 217 (III) der Vollversammlung der Vereinten Nationen vom 10. 12. 1948. Vgl. T. Stein, „Gut gemeint …“, Bemerkungen zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, in: Festschrift für Helmut Steinberger (2002), S. 1425 ff. 12 Vgl. dazu N. Philippi, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (2002), S. 31 f. 13 Th. Oppermann, Europarecht, damals in der 3. Aufl. 2005, S. 151; in der jüngsten 6. Aufl. (Oppermann/Classen/Nettesheim, 2014) wird dann etwas nüchterner gesprochen von „rechtspolitischem Gewicht“ (S. 14) und „weniger inhaltlichen und mehr sozial-psychologischen Gründen“ (S. 266). 14 Tettinger in FAZ vom 26. 8. 2000, S. 6; Hort in FAZ vom 8. 12. 2000, S. 3; Trechsel in NZZ vom 13./14. 1. 2001, S. 61. 11

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national und am Ende auch international – zu Gericht tragen konnte. Insofern war dieses „sichtbar machen“ eigentlich recht albern. IV. Die Wirkung der Grundrechtecharta vor und nach Lissabon Als lediglich „feierliche Erklärung“ konnte die Grundrechtecharta eine strikte Rechtsbindung nicht erzeugen, zumal auf dem Gipfel von Nizza der Vorschlag keine Annahme fand, sie wenigstens in Art. 6 Abs. 2 des Unionsvertrages mit aufzunehmen neben den dort genannten (auch nicht im Wortlaut verbindlichen) Grundrechtsquellen. Das hat den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) dem Vernehmen nach veranlaßt, für geraume Zeit die Charta mit keinem Wort in seinen Urteilen zu erwähnen. Nach einiger Zeit fand sie aber Urteile unterstützende Erwähnung seitens der Generalanwälte15 und des EuGH16 selbst, sowie auch durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)17. Seit der Vertrag von Lissabon in Kraft getreten ist, gilt: „Die Charta der Grundrechte und die Verträge sind rechtlich gleichrangig“, das heißt sie wird zu „Primärrecht“, das auch den EuGH bindet. Das allein wäre schon ein Fortschritt, weil es einen Zustand beendete, der eine Anomalie im Rechtsleben darstellt. Gemeint ist damit, dass der EuGH beim Grundrechtsschutz an keine einzige Norm wirklich gebunden war, sondern jeweils das „Gemeinschaftsgrundrecht“ erst selbst „findet“ (um nicht zu sagen „erfindet“), bevor er es auf einen konkreten Fall anwendet, auch wenn er sich dabei jedenfalls formal auf die Quellen in Art. 6 Abs. 2 des Unionsvertrages bezieht. Nun kennen wohl alle Rechtsordnungen „Richterrecht“, aber doch nur – bei grundsätzlicher Rechtsunterworfenheit der Gerichte – für jene Ausnahmefälle, in denen der Gesetzgeber eine unabsichtliche Lücke im Gesetz gelassen hat. Zu dieser Anomalie gehörte auch, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber seinerzeit nicht durch Änderung einer Grundrechtsnorm eingreifen konnte, wenn er die Auslegung oder Anwendung eines Grundrechtes durch den EuGH für nicht (mehr) akzeptabel hielte. Solange der EuGH an keine Norm gebunden war, die der Gesetzgeber ändern konnte, fiel diese Möglichkeit, die jeder nationale Gesetzgeber – wenn auch nur mit verfassungsändernder Mehrheit – hätte, aus. All das wäre hinzunehmen, wenn damals der tatsächliche Schutz der Grundrechte durch den EuGH eine eindrucksvolle Bilanz aufzuweisen hätte. Davon kann man eigentlich nicht sprechen, jedenfalls soweit der Grundrechtsschutz gegen Rechtsakte 15

Z. B. Generalanwalt Tizziano in der Rs. C-173/99 (BECTU), Slg 2001, I-4881. Rs. C-540/03 (Parlament ./. Rat), Slg. 2006, I-5769. 17 EGMR, Urteil vom 11. 7. 2002 (Goodwin), RJD 2002. Siehe dazu einige der Stimmen aus der Literatur der damaligen Zeit: S. Alber, Die Selbstbindung der europäischen Organe an die Europäische Charta der Grundrechte, EuGRZ 2001, S. 349 ff.; Ch. Calliess, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Fragen der Konzeption, Kompetenz und Verbindlichkeit, EuZW 2001, S. 261 ff. 16

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der Gemeinschaft gemeint ist.18 Das hat damit zu tun, dass der EuGH sich lange als „Motor der Integration“ verstand, den Gemeinschaftsorganen einen sehr weitgehenden Ermessungsspielraum zubilligte und jedem legitimen Interesse der Gemeinschaft im Zweifel Vorrang vor den Interessen des Individuums einräumte und dies als Grundrechtsschranke ausreichen ließ.19 Insbesondere aber lag das daran, dass der EuGH – vielleicht dazu verführt durch eine missverständliche Passage im „Solange II“-Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts20 – eine sehr verkürzte Verhältnismäßigkeitsprüfung durchführte: Er ließ die Geeignetheit einer Maßnahme zur Erreichung eines legitimen Gemeinschaftsinteresses ausreichen und prüft nur noch, ob der Wesensgehalt des in Frage stehenden Grundrechts gewahrt ist; Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne blieben unerwähnt.21 Unter diesem Aspekt ist es uneingeschränkt zu begrüßen, dass die Grundrechtecharta mit dem Vertrag von Lissabon echte Rechtsverbindlichkeit auch für den EuGH bekam; aber da bleiben eine Reihe von offenen Fragen und Problemen, zu denen auch gehört, ob der EuGH denn wirklich an die Charta und nur an die Charta gebunden ist. V. Offene Fragen „… die Charta der Grundrechte und die Verträge sind rechtlich gleichrangig“ (Art. 6 Abs. 1 Unionsvertrag in der Fassung von Lissabon). Das bedeutet zunächst, dass die Verträge selbst nicht am Maßstab der Grundrechtecharta überprüft werden können. Das machte Sinn, solange die Grundrechtecharta als Teil II des „Vertrages über eine Verfassung der Europäischen Union“ Bestandteil eines einheitlichen Verfassungstextes war und entsprach insoweit auch den mitgliedstaatlichen Verfassungstraditionen, bei denen die Diskussion über „verfassungswidriges Verfassungsrecht“ eine eher theoretische ist. Es mag auch Sinn machen im Hinblick auf den neuen „Vertrag über die Europäische Union“ (EUV); aber muss das notwendig auch für den zweiten „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ (AEUV) gelten mit seinen sehr detaillierten, eher einfachen Gesetzen als einer Verfassung ähnelnden Bestimmungen, die durchaus als solche Grundrechte einschrän18

Vgl. U. Everling, Will Europe slip on Bananas?, CMLR 1996, S. 401 ff. Strenger ist der EuGH bei Einschränkungen der Grundfreiheiten durch Maßnahmen der Mitgliedstaaten; vgl. dazu T. Schilling, Bestand und allgemeine Lehren der bürgerschützenden allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts, EuGRZ 2000, S. 43. 19 Siehe K. Ritgen, Grundrechtsschutz in der Europäischen Union, ZRP 2000, S. 371 ff. 20 In seinem „Solange II“-Urteil (BVerfGE 73, 339) hatte das BVerfG seine eigene Prüfungskompetenz solange ausgesetzt, wie der EuGH einen „dem Grundgesetz im wesentlichen gleichzuachtenden, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte beachtenden Schutz“ gewährleiste. 21 Siehe dazu T. Stein „Bananen-Split?“, EuZW 1998, S. 261 ff. U. Kischel, Die Kontrolle der Verhältnismäßigkeit durch den Europäischen Gerichtshof EuR 2000, S. 380 ff. versucht den Nachweis, dass in Wirtschaftsverwaltungssachen auch das BVerfG dem Gesetzgeber einen weiteren Gestaltungsspielraum einräume, hält aber auch die Prüfung durch den EuGH für bedenklich.

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ken können und die in der Masse22 gegebenenfalls im „vereinfachten Änderungsverfahren“ einen anderen Inhalt bekommen können? „Die Union erkennt die Rechte, Freiheiten und Grundsätze an, die in der Charta niedergelegt sind“. „Anerkennen“ klingt sehr zurückhaltend gegenüber Formulierungen wie „sichern zu“ oder „die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht“.23 Das ist fraglos eine Konsequenz der Tatsache, dass die Charta echte Grundrechte, die binden, vermischt mit Grundsätzen, die als solche nicht einklagbar sind und die z. B. Herdegen mit Blick auf Titel IV der Charta („Solidarität“) und die „weiche Unverbindlichkeit der sozialen Verheißungen“ zu Recht „Verfassungspoesie“ nennt24. Vielleicht hätte man im Text von Art. 6 Abs. 1 des Unionsvertrages hier differenzieren müssen: echte Grundrechte zusichern und „Grundsätze“ anerkennen. Aber die eigentlich offenen Fragen sind die folgenden: 1. Gilt die Charta oder gelten die „allgemeinen Grundsätze“? Art. 6 des Unionsvertrages in der Fassung von Lissabon hat nicht nur einen Abs. 1 („Charta“), sondern auch einen Abs. 3, der in der Sache den vorherigen Art. 6 Abs. 2 des Unionsvertrages von Nizza wiedergibt und ohne Entscheidung über den Rang die Grundrechte den bisherigen „allgemeinen Grundsätzen“ aus EMRK und mitgliedstaatlichen Verfassungstraditionen der Charta zur Seite stellt25. Weiß26 nennt das „mehrschichtigen Grundrechtsschutz in der EU“, bezweifelt zwar die Sinnhaftigkeit der Fortführung der allgemeinen Rechtsgrundsätze als Rechtsquelle, begrüßt das dann aber als „Reminiszenz und Hommage an die Entstehung des europäischen Grundrechtsschutzes durch Richterrecht“ und Wiedergabe der unterschiedlichen Entstehungs- und Legitimationsschichten des Europäischen Einigungsprozesses“. Aber die entscheidende Frage ist doch: was gilt für den EuGH? Woran ist er wirklich gebunden? In der Erklärung Nr. 1 zu den Bestimmungen der Verträge von Lissabon (Erklärung zur Grundrechtecharta) heißt es in Abs. 127: „Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die rechtsverbindlich ist, bekräftigt die Grundrechte, die durch die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantiert werden und die sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben.“

22 Siehe Art. 48 Abs. 6 des Unionsvertrages („Dritter Teil“, d. h. alle Bestimmungen über die internen Politikbereiche der Union). 23 So Art. 1 Abs. 3 des deutschen Grundgesetzes. 24 M. Herdegen, Europarecht, 15. Aufl., S. 168. 25 Diesen „allgemeinen Grundsätzen“ aus der bisherigen Rechtsprechung des EuGH entgehen auch Polen und das Vereinigte Königreich mit Protokoll Nr. 30 nicht. 26 W. Weiß, Grundrechtsquellen im Verfassungsvertrag, ZEuS 2005, S. 323 (346). 27 Fn. 2; auch in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV Kommentar, 4. Aufl., S.3071.

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Wer also ist die „Mutter aller Grundrechte“? Die Charta oder die letztlich normungebundene Rechtsprechung des EuGH? Art. 6 Abs. 1, Unterabs. 3 des Unionsvertrages (Lissabon) bestimmt, dass die Charta-Grundrechte „unter gebührender Beachtung der in der Charta angeführten Erläuterungen“ auszulegen sind. Was aber liest man z. B. in der Erläuterung zu Art. 16 der Charta („Unternehmerische Freiheit“)28: „Dieser Artikel stützt sich auf die Rechtsprechung des Gerichtshofes“ (mit Beispielen)29. Mehr Freiheit dazu, auch die Charta nicht wörtlich zu nehmen, kann man dem EuGH eigentlich nicht geben, und es fällt nicht leicht, der Feststellung von Weiß30 zu folgen, die Befürchtung, der EuGH könne versucht sein, über den so legitimierten Rückgriff auf allgemeine Rechtsgrundsätze die Bedeutung von Charta-Rechten einzuschränken, sei unbegründet. 2. Was gilt für die Mitgliedstaaten? Nach Art. 51 Abs. 1 der Grundrechtecharta gilt sie nicht nur für die Organe und Einrichtungen der Union, sondern auch für die Mitgliedstaaten „ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“. In mittlerweile ständiger Rechtsprechung hatte der EuGH entschieden, dass die von ihm als allgemeine Rechtsgrundsätze gefundenen Grundrechte dann zu beachten sind, wenn die Mitgliedstaaten „im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts handeln“.31 Das klingt deutlich umfassender als „bei der Durchführung“, und der EuGH hat das auch schon ausgedehnt auf einen Fall, in dem er eigentlich die Anwendung des Gemeinschaftsrechts vorher verneint hatte32 und hat „Gemeinschaftsgrundrechte“ formuliert, die nicht überall auf Zustimmung gestoßen sind.33 Da nun Charta und allgemeine Rechtsgrundsätze offenbar ranggleich nebeneinander stehen (wenn die Rechtsgrundsätze nicht sogar entscheidend bleiben), hat Cremer darin (noch für die „Verfassung“) sogar einen „programmierten Verfassungskonflikt“ gesehen34, weil die bisherige Rechtsprechung des EuGH angesichts der wesentlich zurückhaltenden Formulierung in Art. 51 Abs. 1 28 „Die unternehmerische Freiheit wird nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten anerkannt“ (schwach genug als Rechtsgarantie). Die Erläuterungen finden sich im Abl. C 301, S. 17 vom 14. 12. 2007. 29 Dazu, dass die „Erläuterungen“ als solche keine normative Verbindlichkeit haben, s. Th. Kingreen, Art. 52 Charta, Rz. 42 f., in: Calliess/Ruffert (Fn. 27). 30 Fn. 26. 31 Vgl. nur EuGH, Rs. 5/88 (Wachauf), Slg. 1989, S. 2609; Rs. C-260/89 (ERT), Slg. 1991, I-2925; aus neuerer Zeit Rs. C-112/00 (Schmidberger), Slg. 2003, I-5659. 32 Rs. C-71/02 (Karner), Slg. 2004, I-3024. 33 Rs. C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I-9981. Siehe dazu Lüder Gerken u. a., „Mangold“ als ausbrechender Rechtsakt (2009), passim. 34 Der überwiegend gleiche Sachverhalt wie in „Mangold“ ist mittlerweile auch vom Bundesverfassungsgericht entschieden worden, allerdings anders, als es sich in einem Interview seines damaligen Präsidenten las („das kann zu einem grundsätzlichen Konflikt führen“ Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. 7. 2007, S. 5). Honeywell, BverfGE 126, 286; siehe dazu T. Stein, Zwischenruf: Arreviderci Karlsruhe, ZRP 2010, S. 265.

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der Charta von nationalen Verfassungsgerichten als „ausbrechender Rechtsakt“ angesehen und ihr die Gefolgschaft verweigert werden könnte.35 Aber selbst wenn es nicht zu einem solchen Konflikt käme, wann führen die Mitgliedstaaten denn Unionsrecht durch? Bei der Anwendung unmittelbar geltender Verordnungen mag das ebenso deutlich sein, wie beim Vollzug von Entscheidungen oder der Zugrundelegung ausnahmsweise „unmittelbar“ anwendbarer Richtlinien. Aber was ist mit nationalem Umsetzungsrecht, das auf einer Richtlinie beruht, die vielleicht noch einen inhaltlichen Umsetzungsspielraum beließ oder Anlaß war zur Änderung nur von Teilen eines schon lange geltenden Gesetzes? Muß die Verwaltung dann jedes Mal prüfen, ob der anzuwendende Gesetzesartikel ein „alter“ ist (nationale Grundrechte) oder ein „richtlinienumsetzender“ (Charta)? Im Zweifel werden die nationalen Behörden und Gerichte das tun, was sie schon immer gegenüber internationalen Menschenrechtsinstrumenten getan haben: Sie werden sich auf den Standpunkt stellen, der von der eigenen Verfassung vorgegebene Grundrechtsschutz sei intensiver, weil durch die nationale Rechtsprechung wesentlich dogmatisierter und ausgefeilter36, und werden anwenden, was sie kennen und sich dabei auf den letzten Halbsatz von Art. 53 der Charta berufen. Diese „Gemengelage“37 wäre vermeidbar gewesen. 3. Welche rechtliche Bedeutung haben die „Grundsätze“? Zunächst einmal ist festzustellen, dass die Grundrechtecharta nicht deutlich zwischen Rechten, Freiheiten und Grundsätzen unterscheidet. Mit Ausnahme der Kapitel I (Würde des Menschen) und VI (Justizielle Rechte) findet sich in allen anderen Kapiteln eine bunte Mischung aus allen drei, zum Teil sogar in einem und demselben Artikel38. Gehäuft finden sich bloße Grundsätze in den Kapiteln III (Gleichheit) und IV (Solidarität). Herdegen39 hat das schon richtig beschrieben, auch damit, dass die Charta die sozialen Sehnsüchte „gewissermaßen in homöopathischer Dosis“ befriedige. Aber ist das alles so unverbindlich? Sicherlich wird kein Kind einklagen können, dass seine Meinung in einer seinem Alter und Reifegrad entsprechenden Weise berücksichtigt wird (Art. 24 der Charta), oder ein Rentner seinen Anspruch auf verbil35 W. Cremer, Der programmierte Verfassungskonflikt: Zur Bindung der Mitgliedstaaten an die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, NJW 2003, S. 1452 ff. 36 Vgl. P.-C. Müller-Graff, Europäische Verfassung und Grundrechtscharta, Integration 2000, S. 34 ff (42); siehe auch J. P.Terhechte, Konstitutionalisierung und Normativität der europäischen Grundrechte (2011), passim. 37 Oppermann (Fn. 13 in der 3. Aufl.) sprach davon, dass die Charta das „verästelte Grundrechtsgeflecht“ der EG/EU um eine weitere Variante bereichere. J. Dutheil de la Rochère sagt dazu „not contradictory, but excessively cumulative, and therefore unable to promote a clear idea of the ambition of the Union for the individual (The EU and the Individual: Fundamental Rights in the Draft Constitutional Treaty, CMLRev. 2004, 345 [350]). 38 Vgl. Art. 13: „Kunst und Forschung sind frei. Die akademische Freiheit wird geachtet.“ Gemäß Art. 5 Abs. 3 des deutschen Grundgesetzes sind auch Wissenschaft und Lehre frei. 39 Fn. 24.

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ligte Theaterkarten vor Gericht durchzusetzen vermögen40. Aber Art. 51 Abs. 1 der Charta gibt den Organen und Einrichtungen der Union ebenso wie den Mitgliedstaaten auf, sich „an die Grundsätze zu halten und deren Anwendung zu fördern“. Und wenn Fischer41 damit Recht hätte, dann wären alle außer dem EuGH bei der Auslegung der „Grundsätze“ gemäß Art. 6 Abs. 1, Unterabs. 3 Unionsvertrag (Lissabon) an die der Charta beigefügten Erläuterungen gebunden. Die lassen einen aber hier eher im Stich, denn gerade bei solchen Grundsätzen heißt es oft nur, die entsprechende Bestimmung „stütze sich auf“ oder „lehne sich an“ an Artikel der Europäischen Sozialcharta des Europarates42 oder der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer43, die beide als solche nicht rechtlich wirklich bindend sind. Nicht umsonst scheuen viele nationalstaatliche Verfassungen – mit Ausnahme vielleicht der Länder des romanischen Rechtskreises –44 die Aufnahme sogenannter „Staatszielbestimmungen“, denn sie sind Wachs in den Händen der Gerichte, die mit ihrer Hilfe „harten“ Grundrechten oder auch nur einfachgesetzlich eingeräumten Rechten alle möglichen Auslegungen geben können. Auch der EuGH hat die Europäische Sozialcharta wiederholt bei der Auslegung des Gemeinschaftsrechts herangezogen.45 4. Die verpasste Chance Das Scheitern des „Verfassungsvertrages“ und die anschließende „Reflexionsphase“ (die weitgehend ungenutzt blieb) hätten die Chance geboten, auch die Grundrechtecharta einer kritischen Durchsicht zu unterziehen und von unerfüllbaren Versprechen zu säubern. Man hätte erwägen können, ob es nicht ausreicht, für die Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft bzw. Union einen verbindlichen Grundrechtskatalog zu formulieren mit ausschließlich einklagbaren Rechten, orientiert an der Menschenrechtskonvention des Europarates und allenfalls ergänzt um Rechte für das Wirtschaftsleben, die in dieser Konvention etwas zu kurz kommen. Dafür hätte man auf das Folterverbot und das Verbot der Todesstrafe verzichten können, denn die Union wird kaum in die Lage kommen, jemanden zu foltern oder hinzurichten. Man hätte auf die parallele Weitergeltung der „allgemeinen RechtsgrundsätzeGrundrechte“ verzichten können, die nur Verwirrung stiftet und Zweifel daran weckt, wie weit der EuGH denn nun wirklich einmal an Grundrechtsnormen gebunden ist. Und man hätte darauf verzichten sollen, die Charta auch für die Mitgliedstaaten verbindlich zu machen „bei der Durchführung des Gemeinschaftsrechts“. Die haben alle schon einen nationalen Grundrechtskatalog, sind gebunden an die Menschenrechts40 Art. 25 der Charta: „Die Union anerkennt und achtet das Recht älterer Menschen auf ein würdiges und unabhängiges Leben und auf Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben“. 41 K. H. Fischer, Der Vertrag von Lissabon (2008), S. 116. 42 BGBl 1964 II, S. 1262. 43 Sie ist nur eine „Erklärung“; KOM (89) 248 endg. 44 So Herdegen (Fn. 24). 45 Jürgen Kalb, in: Jan Bergmann, Handlexikon der Europäischen Union, 4. Aufl. 2012, S. 823.

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konvention des Europarates und darüber hinaus an den UN-Pakt über bürgerliche und politische Rechte aus dem Jahre 1966;46 einen vierten Katalog (Charta) und einen fünften (allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts) brauchen die nicht wirklich. Sicherlich: dann würden für Polen und das Vereinigte Königreich als Konsequenz des opt out-Protokolles47 innerstaatlich keine wie immer gearteten EU-Grundrechte gelten, aber doch die Konvention des Europarates, die die bisherige Rechtsprechung des EuGH maßgeblich geprägt hat.48 Würde eine – abgespeckte – Grundrechtecharta nur für die Organe und Einrichtungen der Union gelten, fände die Union sich in der gleichen Situation wie ihre Mitgliedstaaten, sofern sie dann auch gemäß Art. 6 Abs. 2 Unionsvertrag (Lissabon) der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten beitritt: Grundrechtsschutz wird zunächst am Maßstab eines eigenen Kataloges gewährleistet, und wenn es dabei zu „Betriebsunfällen“ kommt, kann das vom Straßburger Gerichtshof gerügt werden49. Das wäre transparent und für die Bürger „sichtbar“.50 Nur dann wäre wohl auch richtig, dass „die parallele Existenz von künftig drei unterschiedlichen Grundrechtskategorien in der EU …kaum zu einer quantitativen und qualitativen Verdreifachung des europäischen Grundrechtsschutzes führen wird, weil inhaltlich die verschiedenen Grundrechtstypen weitgehend übereinstimmen“, wie Pache/Rösch meinen.51 Aber die Devise nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages war: So wenig wie möglich ändern, allenfalls ein paar zu „staatsähnliche“ Symbole opfern. Dabei kam es dann auch niemand in den Sinn, aus der grundsätzlich zu begrüßenden Grundrechtecharta ein sinnvolles und handhabbares Instrument zu machen, das in der Anwendung am Ende dann nicht doch eher zu Verwirrung als zu einem einheitlichen Grundrechtsschutz führen würde. Irgendwie kann man die Engländer verstehen, die das ihren Gerichten nicht antun wollten, nachdem sie erst 1999 mit dem „Human Rights Act“ die Menschenrechtskonvention des Europarates in das nationale Recht übernommen haben52. 46 Dieser Pakt hat zwar kein so intensives gerichtliches Kontrollsystem, ist aber in den meisten Vertragsstaaten innerstaatlich direkt anwendbar (BGBl. 1973 II S. 1534; nachfolgende Fakultativ-/Zusatzprotokolle in BGBl. 1992 II S. 1247 und BGBl. 1992 II S. 391). 47 Oben Fn.7. 48 Zu Divergenzen zwischen der Rechtsprechung des EuGH und des Straßburger Menschengerichtshofes vgl. Philippi (Fn. 12), S. 65 ff. Siehe auch K. Brummer, Konkurrenz um Menschenrechte in Europa: die EU und der Europarat, integration 1(08), S. 65 ff. 49 Darauf ist noch zurückzukommen. 50 Zum Beitritt der Europäischen Union zur Straßburger Menschenrechtskonvention siehe auch das Protokoll Nr. 8 zu Art. 6 Abs. 2 Unionsvertrag, Fn. 2 und in Calliess/Ruffert (Fn. 27) S. 3040. 51 Pache/Rösch, Europäischer Grundrechtsschutz nach Lissabon – die Rolle der EMRK und der Grundrechtecharta in der EU, EuZW 2008, S. 519 ff. 52 ILM 38 (1999), S. 464.

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VI. Vielfalt oder Einheitlichkeit? Im Augenblick überwiegt die Vielfalt: Nicht nur das deutsche Bundesverfassungsgericht hält nach wie vor an seinem Anspruch fest, in Grundrechtsangelegenheiten das letzte Wort zu haben53, auch andere nationale Verfassungsgerichte, obwohl sie diese Entscheidungsbefugnis an den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) für Belange des Gemeinschaftsrechts delegieren, sofern dieser ein der nationalen Verfassungstradition entsprechendes Schutzniveau gewährleistet54. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), der grundsätzlich der „Solange II“- Doktrin des Bundesverfassungsgerichts folgt, behält sich eine eigene Prüfung anhand der Straßburger Menschenrechtskonvention vor, und zwar nicht nur dann, wenn der Grundrechtsschutz durch den EuGH generell unter ein bestimmtes Niveau absinkt, wie es das deutsche Bundesverfassungsgericht gesagt hat, sondern auch in hinreichend gravierenden Einzelfällen55. Im Übrigen hält sich der EGMR für unmittelbar zuständig für die Überprüfung eines Rechtsaktes der Europäischen Union, wenn der EuGH darüber nicht entscheiden kann, weil es sich um Primärrecht handelt56, oder aber der EuGH im Vorabentscheidungsverfahren (Art. 267 AEUV) nicht angerufen wurde57. Wie käme man zu mehr Einheitlichkeit? Der EuGH scheint jedenfalls entschlossen, den Geltungsbereich der Grundrechtecharta auszuweiten bzw. seiner früheren Rechtsprechung zu den Allgemeinen Grundsätzen anzupassen (1). Und vielleicht ergibt sich mehr inhaltliche Einheitlichkeit nach dem Beitritt der Europäischen Union zur EMRK (2). 1. Der neue (alte) Geltungsbereich der EU-Grundrechtecharta Der 26. Februar 2013 war in dieser Hinsicht ein bedeutender Tag, an dem der EuGH seine Urteile in den Rechtssachen Melloni58 und Åkerberg Fransson59 verkündete. In Melloni ging es um die Frage, ob ein in Spanien inhaftierter Italiener, der in Italien in Abwesenheit verurteilt worden war, nach Italien ausgeliefert werden müsste, obwohl nach der spanischen Verfassung das nur möglich wäre, wenn eine Wie53

Vgl. die Urteile „Solange I“ (BVerfGE 37, 271); „Solange II“ (BVerfGE 73, 339); „Maastricht“ (BVerfGE 89, 155); selbst in seiner allerersten Vorlage an den EuGH zum OMTBeschluss der Europäischen Zentralbank (2BvR 2728/13) deutet das BVerfG an, der Vorabentscheidung des EuGH nicht unbedingt zu folgen. 54 Oskar Josef Gstrein, Der geeinte Menschenrechtsschutz im Europa der Vielfalt – Zum Verhältnis der Luxemburger und Straßburger Gerichtshöfe nach dem Beitritt der Europäischen Union zur Europäischen Menschenrechtskonvention, ZEuS 2012, S. 445 (452). 55 EGMR, Nr. 45036/98, Bosphorus (NJW 2006, S. 197). 56 EGMR, Matthews, EuZW 1999, S. 308, wo es um die Direktwahlakte ging. 57 Michaud v. France, Nr. 12323/11; EGMR vom 6. 12. 2012. 58 Rs. 399/11, ECLI:EU:C:2013: 107; NJW 2013, S.1215. 59 Rs. 617/10, ECLI:EU:C:2013:105; NVwZ 2013, S. 561.

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deraufnahme des Verfahrens stattfinden würde, was in Italien nicht vorgesehen war. Der EuGH legt Art. 53 der Grundrechtecharta (Schutzniveau nach nationalen Verfassungen) im Lichte der jüngsten Rahmenbeschlüsse über den „Europäischen Haftbefehl“ (2002/584 und 2009/299) aus, hält Art. 53 für nicht anwendbar, wenn damit die Geltung einer sekundärrechtlichen EU-Norm verhindert würde und sieht die Auslieferung auch für vereinbar mit den justiziellen Garantien in Art. 47 und 48 der Charta. Da erstaunt schon, dass den Charta-Garantien so einfach eine Auslegung gegeben wird, die offenbar nichts anderes zum Ziel hat, als die Geltung sekundären Unionsrechts zu retten60. In Åkerberg Fransson ging es auch um ne bis in idem61, aber vorrangig um die Frage des Anwendungsbereiches der Charta nach ihrem Art. 51, der das bekanntlich für die Mitgliedstaaten „ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“ vorsieht. In der Sache ging es bei dem schwedischen Ausgangsverfahren um die Hinterziehung von (mehr) Einkommenssteuer und (weniger) Mehrwertsteuer, aber die Tatsache, dass die Mitgliedstaaten einen bestimmten Anteil ihrer Mehrwertsteuer an die Europäische Union abführen, genügt dem EuGH, um seine Zuständigkeit und die Anwendbarkeit der Charta zu bejahen; irgendeine der EU-Mehrwertsteuer-Richtlinien war nicht betroffen. Der EuGH legt damit Art. 51 der Charta so aus, wie seine frühere Rechtsprechung zu den Allgemeinen Grundsätzen62 ; „Durchführung des Unionsrechts“ soll als „Anwendungsbereich des Unionsrechts“ gelesen werden, wobei „keine Fallgestaltungen denkbar seien, die vom Unionsrecht erfasst würden, ohne dass die Grundrechte anwendbar wären“63 ; salopp gesagt: Es genügt auch nur der Hauch einer Verbindung zum Unionsrecht und der EuGH ist zuständig und die Charta anwendbar. Die Väter und Mütter der Grundrechtecharta haben wohl bewusst „Durchführung des Unionsrechts“ enger verstanden und formuliert64; die (nicht verbindlichen) „Erläuterungen“65 eiern da etwas rum und verweisen sowohl auf die Rechtssache ERT66, als auch auf ein Urteil des EuGH, in dem jener selbst von der „Durchführung“ spricht67. 60

Der Grundsatz ne bis in idem scheint beim EuGH insgesamt nicht sehr hoch gewertet zu werden; vgl. Rs C-129/14 PPU, Zoran Spasic, Urteil vom 27. 5. 2014, ECLI:EU:C:2014:586. 61 Hier ging es um die Frage, ob eine Steuernachzahlung, die schon eine Art Strafzuschlag enthielt, ein nachfolgendes Strafverfahren ausschließen würde, was der EuGH verneinte. 62 Siehe oben Fn. 31. 63 Rdz. 21 des Urteils. 64 Siehe dazu eingehend Daniel Thym, Die Reichweite der EU-Grundrechte-Charta – Zu viel Grundrechtsschutz?, NVwZ 2013, S. 889, sowie Oskar Josef Gstrein/Sebastian Zeitzmann, Die „Åkerberg Fransson“ – Entscheidung des EuGH – „Ne bis in idem“ als Wegbereiter für einen effektiven Grundrechtsschutz in der EU?, ZEuS 2013, S.239. 65 Fn. 28. 66 Siehe oben Fn. 31. 67 Rs. C- 292/97, Urteil v. 13. 4. 2000; Karlsson u. a.; Slg. 2000 I – 2737.

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Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat auf die Åkerberg Fransson-Entscheidung ziemlich allergisch reagiert und in seinem kurz danach verkündeten Urteil zur Antiterrordatei68 recht ausführlich dargelegt, warum der Sachverhalt seiner Entscheidung allenfalls periphere Berührungspunkte zu europäischen Normen habe, und daher weder ein Anlass zur Vorlage an den EuGH, noch für die Geltung der Grundrechtecharta gegeben sei. Den EuGH hat das offenbar nicht beeindruckt, denn sechs Tage später verkündete er sein (Kammer-)Urteil in der Rechtssache Pfleger u. a., demzufolge nach der Konfiszierung von nicht konzessionierten Glücksspielautomaten in Österreich die EU- Grundrechtecharta anwendbar sein soll, weil der Betreiber zwar ein Österreicher, die Automaten aber vermeintlich (!) einem tschechischen Eigentümer gehörten69. Im Bericht der Europäischen Kommission über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union im Jahr 201370 heißt es im Fazit: „Dies verdeutlicht, dass die Charta zunehmend enger in die nationalen Rechtssysteme eingebunden ist. In diesem Zusammenhang spielt das Urteil in der Rechtssache Akerberg Fransson eine wichtige Rolle für die weitere Bestimmung der Anwendung der Charta durch nationale Richter, auch wenn sich die Rechtsprechung dazu ständig weiterentwickelt und vermutlich zunehmend an Präzision gewinnen wird“. Man könnte ja einer gewissen Vereinheitlichung des Grundrechtsschutzes in der EU durch eine breitere Anwendung der Grundrechtecharta durchaus etwas abgewinnen, aber der Umgang mit dem Grundsatz ne bis in idem seitens des EuGH wirft dann doch Zweifel auf, ob wir nicht da wieder ankommen, wo wir schon mal waren71, sofern der EuGH mittels Vorabentscheidungen zunehmend Gelegenheit bekommt, die Charta einzusetzen und auszulegen. 2. Der Beitritt der EU zur EMRK Die Idee eines Beitritts der (damaligen) Europäischen Gemeinschaften zur EMRK ventilierte die Europäische Kommission schon im Jahre 1974 nach dem „Solange I“ Urteil des Bundesverfassungsgerichts72, um dem Vorwurf entgegenzutreten, Europa hätte keinen Grundrechtskatalog. Diese Überlegungen stießen alsbald an ihre Grenzen, denn weder die Satzung des Europarates noch die EMRK ließen das zu; es konnten nur Staaten beitreten. Zwanzig Jahre später wurde der EuGH um ein abstraktes73 Gutachten über die Möglichkeit zum Beitritt ersucht. Die Antwort war nicht überraschend: Es bedürfe dazu einer seinerzeit nicht vorhandenen primärrechtlichen Grundlage; die „Flexibiltätsklausel“ (heute Art. 351 AEUV) reiche dafür nicht aus. 68

BVerfG, Urteil vom 24. 4. 2013, 1 BvR 1215/07, BeckRS 2013, 49916, ab Rnz. 88. Rs. C – 390/12, Urteil vom 30. 4. 2014, ECLI:EU:C:2014:281. 70 Bericht vom 14. 4. 2014, COM (2014) 224 final. 71 Siehe oben IV., ab Fn.18. 72 Fn. 53. 73 „Abstrakt“ deshalb, weil es noch gar keinen Entwurf eines irgendwie gearteten Beitrittsabkommens gab; der EuGH hat das Gutachten dennoch abgegeben; Gutachten 2/94, Slg. 1996, I -1759. 69

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Nicht überraschend, weil der EuGH schon in seinem Gutachten74 zum Vertrag über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) und den EWR-Gerichtshof deutlich gemacht hatte, dass er sich an das Gebot hielt: „Du sollst keine anderen Götter neben mir haben“. Mit Art. 6 Abs. 2 EUV (Lissabon) und dem 14. Protokoll zur EMRK75 waren dann auf beiden Seiten die „primärrechtlichen“ Voraussetzungen gegeben; die konkreten Beitrittsbedingungen und Regeln für das künftige Verhältnis wurden dann zunächst im kleineren Kreis („7 + 7“) – und als da keine Einigung erzielbar war – im Rahmen der 47 Mitgliedstaaten des Europarates (darunter alle EU Mitgliedstaaten) und der Europäischen Kommission („47 + 1“) ausgehandelt und dem Lenkungsausschuss für Menschenrechte des Europarates vorgelegt76. Damit der Beitritt vollzogen werden konnte, waren noch eine ganze Reihe von Schritten notwendig: Der EuGH musste in seinem von der Kommission beantragten Gutachten77 „grünes Licht“ geben, und alle Mitgliedstaaten des Europarates und die EU selbst mussten es ratifizieren. Zur Überraschung vieler hat der EuGH in seinem Gutachten vom 18. Dezember 2014 entschieden, dass die Übereinkunft über den Beitritt der EU zur EMRK nicht mit Art. 6 Abs. 2 EUV vereinbar sei. Darauf ist noch zurückzukommen; zunächst soll aber im Überblick auf diese jetzt vom EuGH verworfene Übereinkunft eingegangen werden, um zu verstehen (oder auch nicht), was den EuGH zu seiner Entscheidung veranlasst hat. Warum bedurfte es eines zwölf Artikel, verschiedene Erklärungen und eingehende Erläuterungen umfassenden Abkommens (das insgesamt als „Paket“ angenommen werden muss), und nicht nur eines Schreibens: „Die Europäische Union tritt der EMRK bei“? Schon in Protokoll Nr. 8 zu Art. 6 Abs. 2 EUV (Lissabon) heißt es, dass in der Übereinkunft über den Beitritt dafür Sorge getragen werde, dass die besonderen Merkmale der Union und des Unionsrechts erhalten bleiben, und dass der Beitritt die Zuständigkeiten der Union und die Befugnisse ihrer Organe unberührt lässt. Kurz gesagt: es ging darum, die Besonderheiten der EU zu berücksichtigen, aber den Eindruck zu vermeiden, sie nehme eine bevorzugte Sonderstellung gegenüber den anderen Vertragsparteien ein78. In der Sache will man möglichst vermeiden, dass der EGMR sekundäre Rechtsakte der EU auslegt und über ihre Verein74

Gutachten 1/91, Slg. 1991, I – 6079. BGBl. 2006 II, S. 138; CETS No. 194; entscheidend ist hier der neue Art. 59 Abs. 2: „Die Europäische Union kann dieser Konvention beitreten“. 76 Final Report to the CDDH, 47+1(2013)008rev2, Strasbourg, 10 June 2013. 77 Gutachten 2/13, ABl. 2013 C Nr. 260, S. 32. 78 Dazu gibt es mittlerweile eine Fülle von Veröffentlichungen; vgl. beispielhaft Walter Obwexer, Der Beitritt der EU zur EMRK: Rechtsgrundlagen, Rechtsfragen und Rechtsfolgen, EuR 2012, S. 115; Oskar Josef Gstrein, Der geeinte Menschenrechtsschutz im Europa der Vielfalt – Zum Verhältnis der Luxemburger und Straßburger Gerichtshöfe nach dem Beitritt der EU zur EMRK, ZeuS 2012, S. 445; Jörg Polakiewicz, EU law and the ECHR: Will the European Union’s accession square the circle?, European Human Rights Law Review 2013, S. 592. 75

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barkeit mit der EMRK entscheidet, bevor die Luxemburger Gerichte darüber befunden haben. Dafür hat man sich ein „Über-Kreuz-Beteiligungsverfahren“ oder „Mitbeschwerdegegner-Verfahren“79 (englisch: co-respondent) ausgedacht: Richtet sich eine Beschwerde vor dem EGMR gegen einen oder mehrere Mitgliedstaaten der EU, und geht es nicht nur um einen rein nationalen Vollzugsfehler, sondern erscheinen die EU-Verträge oder EU-Rechtsakte von der möglichen Konventionswidrigkeit betroffen, insbesondere wenn sie nur dadurch hätte vermieden werden können, dass eine Verpflichtung/Bindung nach EU-Recht missachtet worden wäre, dann kann die EU als „co-respondent“ dem Verfahren beitreten, entweder auf Einladung des EGMR oder auf (stattgegebenem) eigenen Antrag. Umgekehrt und unter denselben Voraussetzungen ist das ebenfalls vorgesehen: Beschwerdegegner kann künftig die EU selbst sein; Mitgliedstaaten könnten dann „co-respondents“ werden, ebenso wie Mitgliedstaaten der Konvention, aber nicht der EU (z. B. in Anti-Dumping-Verfahren). Art. 35 Abs. 1 EMRK ist durch das Beitrittsübereinkommen nicht geändert worden, die Luxemburger EU-Gerichte sind also nicht zu den „zu erschöpfenden innerstaatlichen Rechtsbehelfen“ dazu gekommen. Richtet sich eine Beschwerde gegen die EU direkt, werden eigentlich immer vorher die Luxemburger Gerichte gesprochen haben, außer wenn sie eine Maßnahme unter der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik beträfe; da fehlt dem EuGH die Zuständigkeit, aber nicht dem EGMR80. Aber ansonsten würde Straßburg ohne die vorherige Befassung der Luxemburger Gerichte die Beschwerde wahrscheinlich abweisen81. Aber um Fälle wie „Michaud“82 zu vermeiden, sieht Art. 3 Abs. 6 des Beitrittsübereinkommens vor, dass der EuGH vom EGMR Gelegenheit bekommt, sich zu den involvierten Rechtsfragen in möglichst kurzer Frist zu äußern, sofern die EU „co-respondent“ geworden ist. Die Äußerung des EuGH ist für den EGMR nicht bindend, aber die Parteien vor ihm können dazu Stellung nehmen. Ganz spannend hätte die Frage werden können, wie der EGMR entscheiden würde, wenn er gegen eine abgewiesene Klage gemäß dem vom Gericht und dem EuGH sehr restriktiv gehandhabten Art. 263 Abs. 4 AEUV angerufen und in der 79 Art. 3 Abs. 2 bis 4 des Beitrittsübereinkommens und entsprechende Änderung von Art. 36 EMRK. 80 Siehe T. Stein, Der Beitritt der Europäischen Union zur EMRK im Hinblick auf mögliche Konsequenzen für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, Festschrift für Eckart Klein, 2013, S. 655. 81 Die Frage wäre dann vielleicht, ob nach einer Entscheidung des Gerichts noch Rechtsmittel zum EuGH eingelegt werden müssten. Denkbar wäre natürlich auch, dass der EGMR dem EuGH nur gemäß Art. 3 Abs.6 des Beitrittsübereinkommens Gelegenheit zur Äußerung gibt. Aber wenn das Gericht zunächst zuständig ist, das in diesem Artikel nicht vorkommt? Könnte es übergangen werden? 82 Fn. 57. Der nationale Rechtsweg war erschöpft, aber eine Vorlage an den EuGH (Art. 267 AEUV) unterblieb.

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Sache durchaus Grundrechtsprobleme sehen würde. Ungeklärt scheint auch das Verhältnis zwischen Art. 33 EMRK, der statt von einer „Staatenbeschwerde“ jetzt von „Inter-Party cases“ spricht und damit die EU einbezieht, und Art. 3 des Protokolls Nr. 8 zum Lissabonner Vertrag, demzufolge Art. 344 AEUV (Streitigkeiten unter EU-Mitgliedstaaten über die EU-Verträge nur vor dem EuGH) durch das Beitrittsübereinkommen unberührt bleiben soll. All das ist im Augenblick Geschichte. Während die Generalanwältin Kokott in ihrer Stellungnahme83 das Beitrittsübereinkommen für mit den EU-Verträgen vereinbar ansah, sofern in völkerrechtlich verbindlicher Weise bestimmte Klarstellungen zu einzelnen Absätzen des Art. 3 des Übereinkommens vorgenommen würden (was sich wohl mit entsprechenden Erklärungen in einer Schlussakte hätte bewerkstelligen lassen), hat der EuGH es in seinem Gutachten in toto verworfen.84 Sein wesentliches Monitum ist, dass das Übereinkommen in einer Reihe von Bestimmungen die besonderen Merkmale und die Autonomie des Unionsrechts nicht sicherstellt, als da sind: Die unterschiedlichen Fassungen von Art. 53 EMRK und Art. 53 Grundrechte Charta (was das mit dem angesprochenen „gegenseitigen Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten“ zu tun hat, erschließt sich nicht unmittelbar); die Sorge, dass Art. 344 EUV nicht beachtet werden könnte; die Sorge, dass das im 16. Zusatzprotokoll zur EMRK vorgesehene „advisory opinion“-Verfahren vor dem EGMR mit Art. 267 AEUV kollidieren könnte; nicht ausreichende Modalitäten im Mitbeschwerdegegner-Mechanismus zur Gewährleistung der besonderen Merkmale des Unionsrechts; und schließlich die Tatsache, dass ein unionsexternes Organ (der EGMR) über einzelne Aktionen der Union im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (und – nicht erwähnt – wohl auch über Aktionen im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik) entscheiden könne, wo dem EuGH die Zuständigkeit fehlt. Letzteres ist allersdings schon heute so, wenn Beschwerden gegen diese von den Mitgliedstaaten ausgeführten Aktionen beim EGMR landen. Man kann sich des Eindrucks nicht ganz erwehren, dass der EuGH hier etwas Druck auf die Mitgliedstaaten machen will, ihm künftg im Wege der Vertragsänderung auch hier die Zuständigkeit zu geben. VII. Fazit Wird es künftig mehr Einheitlichkeit im europäischen Grundrechtsschutz geben? Durch ein weiteres Ausgreifen des EuGH in den „Anwendungsbereich des Unionsrechts“ (Åkerberg Fransson) eher nicht, denn da bräuchte er entsprechende Vorlagen der nationalen Gerichte nach Art. 267 AEUV, von denen man nicht vorhersagen kann, was da kommt.

83 84

ECLI:EU:C:2014:2475; bisher nur auf der Website des EuGH. ECLI:EU:C:2014:2454; bisher nur auf der Website des EuGH.

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Durch den Beitritt der EU zur EMRK wäre das schon eher vorstellbar gewesen, denn danach hätte der EGMR, wenn er angerufen wird, das letzte Wort in allen denkbaren Konstellationen: Beschwerden gegen Rechtsakte der EU, gegen Urteile der europäischen Gerichte und gegen rein nationale Vollzugfehler bei der Umsetzung von EU-Recht. Aber der EuGH wollte sich nicht auf einer Stufe mit den nationalen Höchstgerichten wiederfinden. Allerdings mag der Schuss auch nach hinten losgehen. Der EGMR war bereit, den EuGH in ganz anderem Maße vor seinen Entscheidungen zu beteiligen, als er das gegenüber nationalen Höchstgerichten je getan hat. Jetzt mag er ohne Beteiligung des EuGH seine Rechtsprechung in den Fällen fortsetzen, in denen der EuGH nicht angerufen wurde oder werden konnte (Matthews und Michaud)85, und er mag Ernst machen mit der Aussage in Bosphorus86, sich auch mal Einzelfälle anzuschauen. Mit dem Gutachten 2/13 ist eine große Chance vertan worden, auch für die Entwicklung einer engeren Zusammenarbeit zwischen EuGH und EGMR. Ob und wann sie noch einmal wiederkommt, ist sehr unklar. Zwar verpflichtet Art. 6 Abs. 2 EUV die Kommission, den Beitritt weiter anzustreben; aber für die Realisierung braucht es nicht nur zwei unterschiedliche europäische Organisationen und deren Gerichte, sondern auch 47 Staaten, von denen die 19 nicht der EU angehörenden die Lust verloren haben könnten, da noch einmal von vorne anzufangen, zumal auch mittlerweile der eine oder andere Mitgliedstaat der EU dem Vorhaben skeptisch gegenüber steht.87

85

Oben Fn. 56 und 57. Oben Fn. 55. 87 Vgl. Helene Bubrowski, „Wieder von vorne“, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3. 1. 2015, S. 8. 86

Eine bislang kaum bekannte Schrift Siebenpfeiffers Von Elmar Wadle, Saarbrücken Seit geraumer Zeit unterstützt die „Siebenpfeiffer-Stiftung“, die 1989 unter maßgeblicher Beteiligung des Saarpfalz-Kreises in Homburg gegründet wurde, die Erforschung von Werk und Wirkung des Philipp Jakob Siebenpfeiffer (1789 – 1845). Viele seiner Schriften wurden bereits gesammelt und als Zeugnisse seiner politischen Arbeit vorgestellt. Eine seiner gedruckten Veröffentlichungen ist bislang noch kaum bekannt, nämlich das 1832 erschienene Buch mit dem Titel „Bürgermuth nach dem französischen bearbeitet von Siebenpfeiffer“. Diese Schrift soll hier präsentiert und – soweit möglich – genauer beschrieben werden. Siebenpfeiffers Text enthält nicht nur eine Teilübersetzung des französischen Vorbildes, deshalb soll zunächst dieses Buch vorgestellt werden, freilich nur in einer angemessenen Übersicht (I). Im zweiten Teil dieses Beitrages wird versucht, die „Ergänzungen“ und „Veränderungen“ darzustellen, die Siebenpfeiffer hinzugefügt hat (II.). Im dritten Teil wird darauf hingewiesen, dass schon vor Siebenpfeiffer ein anderer deutscher Übersetzer den französischen Text korrekt ins Deutsche übertragen hat (III.). I. Hyacinthe Corne (1802 – 1887) hat während seiner Tätigkeit im öffentlichen Dienst zahlreiche Bücher publiziert; diese Werke sind in französischen Nachschlagewerken zu finden (1). Zu seinen frühen Schriften gehört der Titel „Du Courage Civil et de l’éducation propre à inspirer des vertus publiques“; dieses Buch ist zum ersten Mal 1828 im Pariser Verlag J.-P. Gayert erschienen. (1) Bereits in: Nouvelle biographie générale depuis les temps le plus reculés jusqu’a nos jours …, Publiée par M. M. Firmin Didot Frères sous la direction de M. Le Dr. Hoefer, Tome Onzienne, Paris 1856, Sp. 845 f.; später in : Grand Dictionaire universel de XIX. siècle, Paris 1869 Bd. 50 S. 150; Cataloque général des livres imprimés de la Bibliothèque Nationale, Auteurs, Tome XXXII, Paris 1929, S. 302 ff.; Der Inhalt der Schrift von Corne kann hier nur in Kürze vorgestellt werden und zwar durch einen Blick auf die „Table des matières“. Sie lautet: Préface. S. IX Introduction. S. 3 1re Partie. De la nature du courage civil et de sa rareté S. 7

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Chapitre Ier. De l’orgine du courage civil, de ses principes et des effets S. 9 Chapitre II. De la rareté du courage civil, et des effet de son absence, relativement à la societè et à l’individu S. 29 IIe Partie. Des causes morales et politques de la rareté du courage civil S. 49 Chapitre Ier. Des causes de la rareté du courage civil, inhérentes à sa nature meme S. 51 Chapitre II. Des causes de la rareté du courage civil, inhérentes à l’organisation politique des États modernes S. 77 Chapitre III. Des causes de la rareté du courage civil, inhérentes à l’état moral de la société S. 95 IIIe Partie. Des remédes aux causes de la rareté du courage civil S. 111 Chapitre Ier. Considérations générales sur les moyens de perfectionnement social S. 113 Chapitre II. Remèdes aux causes de la rareté du courage civil, inhérentes à sa nature même . – Progrès nouveaux de la science sociale S. 117 Chapitre III. Remèdes aux causes de la rareté du courage civil, inhérentes à l’organisation politique des États modernes S. 123 Section Ire. De la nécessité de réparer la perte du patriotisme antique S. 123 Section II. De la nature et des effets de l’Esprit public S. 127 Section III. De la nécessité d’une education civique S. 136 Section IV. Des moyens d’éducation civique S. 153 Chapitre IV. Remèdes aux causes de la rareté du courage civil, inhérentes à l’état moral de la société. – Sanction religieuse à donner aux vertus publiques S. 211 Conclusion S. 227 Notes S. 233 Gesamtverzeichnis des deutschsprachigen Schrifttums (GV), 1700 – 1910, Bd. (München/ New York/London/Paris 1981) S. 23.

II. 1832 konnte Siebenpfeiffer seine Abhandlung mit dem Titel „Bürgermuth, nach dem französischen bearbeitet“ präsentieren (2). Der neue deutsche Text umfasst 119 Seiten, ist mithin wesentlich kürzer als das französische Vorbild. Siebenpfeiffers Buch enthält keine „Table des matières“; den Inhalt kann man aber anhand der Überschriften im Text zusammenstellen. (Erster Teil) S. 3 – 20) Erstes Kapitel. Vom Ursprung des Bürgermuths, seinen Prinzipien und Wirkungen S. 3 – 12 Zweites Kapitel. Von der Seltenheit des Bürgermuths und den Wirkungen davon auf die Gesellschaft und die Individuen S. 12 – 20 Zweiter Teil (ohne Titel) S. 20

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Erstes Kapitel. Von den Ursachen der Seltenheit des Bürgermuths, welche in seiner Natur selbst liegen S. 20 – 37 Zweites Kapitel. Von den Ursachen der Seltenheit des Bürgermuths, die den modernen Staatseinrichtungen ankleben S. 37 – 61 Drittes Kapitel. Mittel gegen die Ursachen der Seltenheit des Bürgermuths, welche mit der Staatseinrichtung zusammenhängen S. 61 – 112 Das Buch ist wahrscheinlich in Zweibrücken gedruckt worden. Erster Abschnitt. Nothwendigkeit den verlorenen Patriotismus der alten zu ersetzen S. 61 – 63 Zweiter Abschnitt. Natur und Wirkungen des Gemeingeistes S. 63 – 67 Dritter Abschnitt. Nothwendigkeit der Bürger – Erziehung S. 68 – 79 Vierter Abschnitt. Von den Mittels der Bürgererziehung S. 79 – 112 § 1 Unterricht der Schule (Historischer Unterricht – Philosophischer Unterricht) S. 81 – 102 § 2 Hauserziehung S. 102 – 112 Viertes Kapitel. Mittel gegen die Seltenheit des Bürgermuths, sofern die Ursachen in dem moralischen Zustande der Gesellschaft liegen. Religiöse Heiligung der öffentlichen Tugenden S. 112 – 119

Auch die Struktur der Arbeit ist stark verändert. Während Corne eine „Introduction“ vorangestellt hatte und drei „Parties“ folgen ließ, nämlich: „de la nature du courage civil, et de sa rareté“ – „Des causes morales et polithiques de la rareté du courage civil“ – „Des causes morales e polithiques de la rareté de courage civil“. Jede „Partie“ enthält zwei, drei oder vier „chapitres“; die vorletzte „chapitre“ ist zudem in vier „Section“ untergliedert. Als Abschluß folgen eine „Conclusion“ und zahlreiche „Notes“. Das Buch von Siebenpfeiffer ist weniger deutlich strukturiert. In einem ersten, fast drei Seiten umfassenden Text stellt der Homburger Landrat den Autor Corne und dessen Werk vor und fügt hinzu: „Die Schrift ist wirklich ausgezeichnet und der Gegenstand fast von doppeltem Interesse für Deutschland“. Danach wirft Siebenpfeiffer einen kurzen und zugleich kritischen Blick auf die „Vorrede“ und die „Einleitung“ in der Schrift von Corne. Die Vorrede wird in zehn Zeilen vorgestellt; der Text geht nur auf den wesentlichen Inhalt des Vorbildes ein: „Kaum sind wir zum öffentlichen Leben geboren: die Institutionen sind, die öffentlichen Sitten aber noch zu erschaffen. Der Bürgermuth muß die Seele dieses neuen Lebens sein. Forschen nach den Mitteln, um die frischen Gemüther zu durchdringen von dieser Kraft, die allein die bürgerliche Lebensfähigkeit verbürgt, heißt wenigstens für ein großes Interesse arbeiten“.

Die „folgende Einleitung“ des Textes von Corne wird als „merkwürdig“ bewertet, da sie meint: „die gesellschaftliche Vervollkommnung kann nicht vollendet der Hand eines Geschlechts hervorgehen, sondern ist das große Werk der Zeit; von Jahrhundert

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zu Jahrhundert schreitet es fort … Klagen wir darum das Werk nicht an, weil es nicht vollendet ist“. Eine derartig langsame Entwicklung kann Siebenpfeiffer nicht begrüßen; er übernimmt einen Satz von Corne nur mit einer deutlichen Kritik: „Durch freie Institutionen zur Bürgerwürde (die Deutschen haben erst einige Hoffnung dahin zu gelangen!) erhoben, bedürfen wir jetzt … des Bürgermuths.“ Positiv begrüßt er den folgenden Satz von Corne „Wer Andere zu bessern sucht, arbeitet mindestens an seiner eigenen Besserung. In seiner Jugend von Tugend sprechen, scheint für die ganze Lebenszeit eine Bürgschaft gegen die eigene Schwäche zu gewähren.“ Siebenpfeiffer fügt hinzu: „Sehr wahr!“ Nach diesen grundsätzlichen Überlegungen geht Siebenpfeiffer auf die Gedanken Cornes ein, die er in zwei „Theilen“ beschreibt (S. 3): „Der e r s t e Theil, der wie gesagt von der Natur und Seltenheit des Bürgermuths handelt, zerfällt in zwei Abschnitte; im ersten untersucht der Verfasser Ursprung, Prinzipien und Wirkungen des Bürgermuths; im zweiten handelt er von der Seltenheit und deren Folgen in Beziehung auf die Gesellschaft und die Einzelnen. Der z w e i t e Theil zerfällt in drei Abschnitte; nemlich: von den, der Natur des Bürgersch Einrichtung entspringenden Ursachen, und von jenen, die dem moralischen Zustand der Gesellschaft angehören. Aus diesen Abschnitten theilen wir Folgendes, Zusätzen, Weglassungen und Abänderungen für unseren Zweck, mit.“

Dies bedeutet: Siebenpfeiffer übersetzt aus der Arbeit von Corne nur jene Teile, die er für seinen Zweck gebrauchen kann. Im ersten Kapitel des ersten Teils geht es Siebenpfeiffer vor allem darum, die Kampfmut von der Tugend zu unterscheiden (S. 4): „In Mitte der verwickelten Staatsverhältnisse ward der Kampfmuth, jetzt zur Vertheidigung der Gesammtheit verwendet, zum K r i e g e r m u t h; die Tugend aber, im Bürgerkreise gegen den Eigennutz und zu Gunsten der edelsten Prinzipien der Moral und öffentlichen Wohlfahrt ringend, war zum – B ü r g e r m u t h“.

Siebenpfeiffer weiß, wie schwer es ist, diesen „Bürgermuth“ genauer zu beschreiben. Er versucht, den Unterschied zwischen „Kampfmuth“ und „Bürgermuth“ näher zu erklären (S. 5): „Nicht so einfach dem Prinzip nach, manichfaltiger in seiner Anwendung, lässt der Bürgermuth sich nicht leicht und scharf bezeichnen; oft verwechselt man ihn mit den hohen Tugenden, womit er einerlei Quelle hat, oft nennt man so die Hochherzigkeit und die Beharrlichkeit. So, dem Heldenmuth entgegengesetzt, nennt man oft Bürgermuth jede Seelenkraft, die sich auf innere Anstrengung bezieht, Charakterfestigkeit, die durch die Kränkungen der Menschen und die Schläge des Geschicks sich stählt, oder jene Selbstentsagung, womit der Mann mit stoischem Gleichmuth seinen Rang aufgibt, und seinen Ruhm, und mit heitrer Stirne dem Tod entgegentritt“.

Er nennt dann noch „erhabene Beispiele“, nämlich Sokrates, Epictet und Christus. Siebenpfeiffer fügt hinzu: „Allein sie sind nicht der Bürgermuth.“ Diese Menschen,

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„die den Gipfel der Seelengröße bezeichnen, die der Stolz der Geschichte sind, als ewige Muster der Nachahmung glänzen! Allein sie sind nicht der Bürgermuth“. Siebenpfeiffer sieht in dem „Bürgermuth“ mehr als eine „vertheidigende Tugend“ (S. 6): „Die Ausdauer, welche die großen Charaktere gegen die Gebrechlichkeit der Menschheit und die Niederbeugung der Widerwärtigkeiten und des Unglücks schützt, ist nur eine Kraft des Widerstands, eine vertheidigende Tugend. Der Bürgermuth hingegen fordert Entschluß und Bewegung nach außenwärts, er setzt eine freie Wahl zwischen dem Sittengebot und dem persönlichen Interesse voraus, und einen Kampf, um für die Stimme des Gewissens sich zu entscheiden. So, im vollen Umfang genommen, wirkt der Bürgermuth im Kreise der Gesellschaft, wo die Tugend ringt mit einem großen Hinderniß oder einem mächtigen Interesse. Er kann schon in bloßer Redlichkeit liegen, aber nur dann, wenn der Bruch eines Sittengesetzes großen Vortheil oder einem großen Unglück zu entziehen verspricht, und man dennoch widersteht.“

Am Ende des ersten Kapitels (S. 11 f.) faßt Siebenpfeiffer seine Sicht des „Bürgermuths“ zusammen: „Alle öffentlichen Tugenden würden in dieser einen, dem Bürgermuth, neue Stärke finden. So würde der Kriegersinn die edle Waffe nicht mehr als eine Bahn zu persönlicher falschen Ehre, sondern als eine Bürgerpflicht betrachten, und ein Krieg selbst würde nur für die Rechte des Vaterlandes geführt werden, nicht für Ehrgeiz eines Fürsten, oder aus lächerlichem Nationalhaß; nie würde der Soldat vergessen, dass er Bürger ist, nie würde er seinen Degen zu den Füßen eines Menschen legen, wie groß oder glänzend der auch sei, sondern ihn nur für Freiheit und Gesetz und Vaterland weihen.

Darf nun auch kein Volk hoffen, jemals das Ideal eines solchen Zustandes zu erreichen, so soll es gleichwohl aus allen Kräften dahin streben. Vorzüglich aber ist diese Pflicht eines Volks, das eben erst in ein freieres, bürgerliches Dasein eintritt, oder gar ein solches erst erringen will. Prüfen wir darum jetzt, ohne Furcht und ohne Haß, den öffentlichen Zustand, um zu erkennen, wovon die Reform des öffentlichen Geistes ausgehe, wohin er trachten soll, um die fruchtbarste aller Tugenden, den Bürgermuth zu erwecken, zu stärken und in lebendige Thätigkeit zu setzen.“ Im zweiten „Theil“ (S. 20) folgt ein weiteres Kapitel mit dem Titel: „Von den Ursachen der Seltenheit des Bürgermuths, welcher in seiner Natur selbst liegen“: Zu den Gründen schreibt Siebenpfeiffer (S. 20 f.): „Der Bürgermuth ist eine Tugend, die nur strenge Pflichten auflegt; fast immer kämpft er für ein Gebot des Gewissens gegen die mächtigsten persönlichen Interessen …“ … „Eine so herbe Tugend kann nicht anders als starke Feinde sich in unserem Herzen selbst erziehen, und die Leidenschaften sind stets bereit, der Selbstsucht die Pflicht zu opfern. Dort sitzt die Furcht, die, um zu erhalten, die Knechtschaft übernimmt; dort der Ehrgeiz, der um zu erwerben, sich biegt und wendet. Der Furcht erscheint der Bürgermuth als die größte Gefahr; dem Ehrgeiz als das stärkste Hinderniß: beide wissen vor dem Richterstuhl des Bewusstseins die triftigsten Vorstellungen einschmeichelnd vorzutragen, um zu siegen.“

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Über die nachfolgenden Teile der Arbeit kann hier nicht in Einzelheiten berichtet werden. Es bleibt jedoch der Eindruck, dass Siebenpfeiffer sein Vorbild immer wieder kritisch überprüft und verändert. So heißt es in einer Fußnote (S. 46) zu dem Abschnitt „Von den Ursachen der Seltenheit des Bürgermuths, die der moralischen Ordnung angehören“: „In diesem Kapitel werden wir besonders oft abweichen von unserm Verfasser, weil er Frankreich im Auge hatte, wir aber Deutschland, wo der moralische Zustand sehr verschieden ist, und meine Ansichten von Moral und Religion nicht ganz mit jenen des Verfassers übereinstimmen …“.

Später schreibt Siebenpfeiffer über die Situation in England (S. 65): „Zu dieser Schilderung Englands, die ich ziemlich treu dem Verfasser nachgeschrieben, doch eine Bemerkung! Englands Gefahr liegt in seiner ausgearteten Verfassung, in den verderblichen Wirkungen derselben, indem fast alle Macht in den Händen derer ist, die von den ungeheuersten Missbräuchen leben, indeß die Massen darben, und wodurch das Land stets am Rand einer furchtbaren Umwälzung steht“.

Einige Seiten später meint der Autor zum Dritten Abschnitt „Nothwendigkeit der Bürger-Erziehung“ (S. 68): „(Diesen Abschnitt theilen wir fast wörtlich mit. Die Leser werden finden, daß der Verfasser wesentlich dieselben Ideen und Ansichten hat, die wir bisher in unsrer Zeitschrift vertheidigt.)“.

Diese Beispiele mögen genügen, um festzustellen, dass Siebenpfeiffer sich nicht auf eine Übersetzung des Textes von Corne beschränkt hat; er veränderte den Inhalt im Sinne seiner eigenen politischen Sicht. III. Siebenpfeiffer hat offenbar nicht gewusst, dass bereits 1830 eine genauere Übersetzung von Corne’s Arbeit in Preußen erschienen war, nämlich die von dem „Geheim-Secretär“ Alexander August Mützell. Dieses Buch mit dem Titel „Bürgersinn, Bürgertugend und von den Mitteln, den Bürgersinn zu beleben“ ist 1830 sowohl in Potsdam und als auch in Berlin gedruckt worden. Diese ältere „Übersetzung“ ist besser gelungen als jene Siebenpfeiffers. Man kann dies schon durch einen Vergleich mit dem Inhaltsverzeichnis erkennen. „Inhalt und analytische Uebersicht der Gestände“ lauten: Vorrede S. III Einleitung S. 1 Erster Theil Von der Beschaffenheit des Bürgersinns und der Bürgertugend, so wie von ihrer Seltenheit. Erstes Kapitel. Vom Ursprunge des Bürgersinns, seinen Grundsätzen und seinen Wirkungen S. 4

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Zweites Kapitel. Von der Seltenheit des Bürgersinnes und der Bürger-Tugend, desgleichen von den Wirkungen seiner Abwesenheit in Ziehung auf die Gesellschaft und ihre einzelnen Mitglieder S. 18 Zweiter Theil. Von den moralischen und politischen Ursachen der Seltenheit des Bürgersinns und der Bürgertugend Erstes Kapitel. Von den Ursachen der Seltenheit des Bürgersinnes und der Bürgertugend, welche mit seiner Beschaffenheit selbst zusammenhängen S. 34 Zweites Kapitel. Von den Ursachen der Seltenheit des Bürgersinns und der Bürgertugend, welche mit der politischen Organisation der neuen Staaten zusammenhängen S. 54 Drittes Kapitel. Von den Ursachen der Seltenheit des Bürgersinns und der Bürgertugend, im Zusammenhange mit dem sittlichen Zu-Stande der Gesellschaft S. 67 Dritter Theil. Von den Mitteln gegen die Ursachen der Seltenheit des Bürgersinns und der Bürgertugend Erstes Kapitel. Allgemeine Betrachtungen über die Mittel zur gesellschaftlichen Vervollkommnung S. 79 Zweites Kapitel. Mittel gegen die Ursachen der Seltenheit des Bürgersinns und der Bürgertugend, welche der menschlichen Natur selbst Anhängen. Neue Fortschritte der gesellschaftlichen Wissenschaften S. 82 Drittes Kapitel. Mittel gegen die Ursachen der Seltenheit des Bürgersinns und der Bürgertugend, welche der politischen Organisation der neuen Staaten anhängen Erster Abschnitt. Von der Nothwendigkeit, den Verlust der Vaterlandsliebe, wie sie im Alterthume bestand, wiederherzustellen… S. 86 Zweiter Abschnitt. Von der Natur und en Wirkungen des Geheimgeistes … S. 89 Dritter Abschnitt. Von der Nothwendigkeit einer bürgerlichen Erziehung … S. 96 Vierter Abschnitt. Von den Mitteln zur bürgerlichen Erziehung S. 110 § 1. Unterricht in der Schule § 2. Häusliche Unterweisung Viertes Kapitel. Mittel gegen die Ursachen der Seltenheit des Bürgersinns und der Bürgertugend, welche von dem moralischen Zustande der Gesellschaft abhängen. – Religiöse Sanktion, welche den öffentlichen Tugenden ertheilt werden muß … S. 152 Schluß S. 154 Anmerkungen S. 163

Die in Preußen erschienene Übersetzung entspricht dem französischen Vorbild besser als die spätere Schrift Siebenpfeiffers. Ob und wie diese ältere „Übertragung“ das politische Geschehen in Deutschland beeinflusst hat, ist im heutigen Stand der Forschung schwer zu sagen. Vielleicht gelingt es eines Tages anderen Autoren, die sich auf bislang unbekannte Quellen stützen können.

Schriftenverzeichnis I. Selbständige Veröffentlichungen Die Gebühr als Lenkungsmittel. Schriften zum Wirtschaftsverfassungs- und Wirtschaftsverwaltungsrecht, Bd. 9, 170 S., Hamburg 1975 (Dissertation) Regionalisierte Erfassung der raumwirksamen Mittel nach französischem Recht. Verfahrensablauf und Erfahrungen aus der Sicht der räumlichen Entwicklung des Staatsgebiets sowie Fragen der Übertragbarkeit der Methodik oder ihrer Teile unter Berücksichtigung der deutschen Verfassungs- und Gesetzeslage. Untersucht im Auftrag des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau. Als Typoskript vervielfältigt: Bonn 1976 (zus. mit Karl Heinrich Friauf) Eigentum am Unternehmen. Legitimation und Funktion des privaten Produktiveigentums in Rechtsprechung und Rechtslehre. Schriftenreihe „Grundlagen – Eigentum und Politik“, 103 S., Köln 1977 (zus. mit Karl Heinrich Friauf) Les transferts de propriété imposés par la puissance publique dans le cadre de l’aménagement des villes. Als Manuskript gedruckt: 1977 (zus. mit Karl Heinrich Friauf) Zur Zulässigkeit eines baurechtlichen „Denkmalschutzes“ für Arbeiterwohnsiedlungen. Ökologische Forschungen, Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft für Wohnungswesen, Städteplanung und Raumordnung an der Ruhr-Universität Bochum, Bd. 4, 88 S., Bochum 1980 (zus. mit Karl Heinrich Friauf) Rechtsfragen der Kreisumlage. Schriftenreihe des Landkreistages Nordrhein-Westfalen, Bd. 1, VI, 56 S., Köln 1980 (zus. mit Karl Heinrich Friauf) Eigentum und Gesetzgebung. Schriften zum Wirtschaftsverfassungs- und Wirtschaftsverwaltungsrecht, Bd. 24, XIV/440 S., Hamburg 1985 (Habilitationsschrift) Reform der Unternehmensbesteuerung aus europäischer Sicht. Vorträge, Reden und Berichte aus dem Europa-Institut der Universität des Saarlandes, hrsg. von Georg Ress, Nr. 201, 51 S., Saarbrücken 1991 Umsatzsteuerverteilung zwischen Bund und Ländern: Anwendung des Deckungsquotenverfahrens und die Frage getrennter Regelkreise beim Familienleistungsausgleich. Rechtsgutachtliche Stellungnahme für die Mitgliedsländer der Finanzministerkonferenz, 90 S., Heidelberg 2002

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II. Aufsätze in Zeitschriften, Beiträge zu Sammelwerken und Kommentaren Rechtsfragen des Genehmigungsverfahrens von Kraftwerken. 11. Vortragsveranstaltung des Instituts für Energierecht an der Universität Köln, DVBl. 1978, S. 42 – 44 Zur Verfassungsmäßigkeit der Übertragung der planungsschadensrechtlichen Reduktionsklauseln des Bundesbaugesetzes auf die klassische Enteignung, DVBl. 1978, S. 356 – 362 Das Mitbestimmungsgesetz als Überschreitung der gesetzgeberischen Regelungsbefugnis, NJW 1978, S. 2369 – 2375 Les instruments juridiques de la politique foncière des villes, in: Les instruments juridiques de la politique foncière des villes. Etudes comparatives portant sur quatorze pays occidentaux sous la direction de Michel Fromont. Institut de droit comparé de l’Université de Dijon, Brüssel 1978, S. 21 – 67 (zus. mit Karl Heinrich Friauf) Der Garantiegehalt der Grundrechte und das Übermaßverbot. Zur maßstabsetzenden Kraft der Grundrechte in der Übermaßprüfung, AöR 104 (1979), S. 414 – 474 Zustandekommen, Inhalt und Fehlerhaftigkeit von Verwaltungsakten. Unter besonderer Berücksichtigung der spezialgesetzlichen Regeln und deren Verhältnis zum allgemeinen Verfahrensrecht, JA 1980, S. 25 – 34 Rücknahme und Widerruf von Verwaltungsakten in Spezialgesetzen und im Verwaltungsverfahrensgesetz, JA 1980, S. 85 – 93 Besteuerung und Eigentum, NJW 1980, S. 2111 – 2118 Staatsrechtslehrertagung 1983 in Köln. Bericht, NJW 1984, S. 780 – 783 Berufsfreiheit als Grundrecht der Arbeit, DÖV 1984, S. 601 – 610 Artikel „Kreisumlage“, in: Handwörterbuch zur Kommunalpolitik, hrsg. von Rüdiger Voigt, Opladen 1984, S. 300 – 302 Artikel „Steuerrechtswissenschaft“, in: Lexikon des Rechts: Steuer- und Finanzrecht, hrsg. von Franz Klein, Neuwied u. a. 1986, S. 418 – 421 (= Ergänzbares Lexikon des Rechts. Gruppe 6, Steuer- und Finanzrecht); 2. Aufl. 1993, S. 487 – 490 Die Bewertung nichtnotierter Anteile an Kapitalgesellschaften und das Stichtagsprinzip im Erbschaftsteuerrecht, StuW 1987, S. 18 – 34 Zur Vereinbarkeit der Gewerbesteuer mit dem Gleichheitssatz und dem Prinzip der Besteuerung nach Leistungsfähigkeit, BB 1987, S. 1257 – 1265 Abschaffung und Ersetzung der Gewerbesteuer aus verfassungsrechtlicher und verfassungspolitischer Sicht, BB 1987, S. 1677 – 1685 Die Einheit der Verwaltung als Rechtsproblem, Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter 1987, S. 33 – 41 Empfiehlt es sich, das Einkommensteuerrecht zur Beseitigung von Ungleichbehandlungen und zur Vereinfachung neu zu ordnen?, DÖV 1988, S. 710 – 723 Der Gleichheitssatz, NVwZ 1988, S. 778 – 786 Die Zukunft der Gewerbesteuer, in: Die Zukunft der Gewerbesteuer, Schriftenreihe des Wirtschaftsrates der CDU, Bd. 43, Bonn 1989, S. 8 – 13

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Beteiligung des Bundes an den Kosten der Jugendhilfe?, in: Finanzierung von Jugendhilfe. Kolloquium der Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe und des Deutschen Jugendinstituts, hrsg. von der Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe, 1989, S. 25 – 37 Finanzhoheit und Finanzausgleich, in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV: Finanzverfassung – Bundesstaatliche Ordnung, hrsg. von Josef Isensee und Paul Kirchhof, Heidelberg 1990, § 104 (S. 1021 – 1089) Finanzverfassung und Art. 7 Einigungsvertrag, in: Klaus Stern (Hrsg.): Deutsche Wiedervereinigung, Die Rechtseinheit, Bd. 1, Eigentum – Neue Verfassung – Finanzverfassung, Köln u. a. 1991, S. 213 – 234 Reform der Unternehmensbesteuerung aus europäischer Sicht (wie oben I), StuW 1992, S. 66 – 80 Karl Heinrich Friauf sechzig Jahre, StuW 1992, S. 94 – 99 Artikel 5 GG (Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Rundfunkfreiheit, Freiheit der Kunst, Wissenschaft, Forschung und Lehre), in: Ingo von Münch/Philip Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 4. Aufl., München 1992, S. 349 – 450 Der verfassungsrechtliche Rahmen der Schwerbehindertenabgabe, Zeitschrift für Sozialreform 1992, S. 541 – 560 Steuerreform durch Tarifbegrenzung für gewerbliche Einkünfte als Rechtsproblem – Sicherung des Wirtschaftsstandorts Deutschland durch Senkung des Spitzensteuersatzes ausschließlich für gewerbliche Einkünfte?, Finanz-Rundschau 1993, S. 1 – 8 Neuorientierung der Aufgaben- und Lastenverteilung im „sozialen Bundesstaat“, Staatswissenschaften und Staatspraxis 1993, S. 56 – 77 Haushaltsrechtliche Probleme der Kapitalbeteiligung Privater an öffentlichen Infrastrukturinvestitionen, in: Privatisierung öffentlicher Aufgaben – Private Finanzierung kommunaler Investitionen, Symposium des Instituts für Kommunalrecht der Universität Osnabrück am 15. September 1993/4. Bad Iburger Gespräche, hrsg. von Jörn Ipsen, Köln u. a. 1994, S. 37 – 62. Abgedruckt auch in: Die Gemeindekasse 1994, S. 1 – 11, 33 – 42 Haushaltsrechtliche und gemeindewirtschaftsrechtliche Hemmnisse der kommunalen Aufgabenerfüllung, Der Landkreis 1994, S. 263 – 269. Zweitveröffentlichung: Haushaltsrechtliche und gemeindewirtschaftsrechtliche Hemmnisse der kommunalen Aufgabenerfüllung, in: Stärkung der kommunalen Handlungs- und Entfaltungsspielräume. Professorengespräch 1994 des Deutschen Landkreistages, hrsg. von Hans-Günter Henneke, Schriften zum deutschen und europäischen Kommunalrecht, Bd. 1, Stuttgart. u. a. 1996, S. 115 – 136 Finanzierungsverantwortung für gesetzgeberisch veranlaßte kommunale Aufgaben, Kurier 1/ 1995 (Hrsg. Landkreistag Sachsen-Anhalt), S. 13 f. Familienbesteuerung und Grundgesetz, in: Die Steuerrechtsordnung in der Diskussion, Festschrift für Klaus Tipke zum 70. Geburtstag, hrsg. von Joachim Lang, Köln 1995, S. 47 – 69 Artikel 14 (Eigentum, Erbrecht und Enteignung), 15 (Sozialisierung/Überführung in Gemeineigentum) und 143 (Abweichungen von Bestimmungen des Grundgesetzes im Beitrittsgebiet) GG, in: Grundgesetz, Kommentar, hrsg. von Michael Sachs, München 1996, S. 482 – 528, 528 – 534, 1947 – 1959

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Finanzverfassung im Spannungsfeld zwischen Zentralstaat und Gliedstaaten – Ausgewogene Aufgaben-, Lasten- und Einnahmenverteilung als Grundbedingung eines funktionierenden Föderalismus, in: Finanzverfassung im Spannungsfeld zwischen Zentralstaat und Gliedstaaten, hrsg. von Werner W. Pommerehne und Georg Ress unter Mitarbeit von Horst Henning Jank, Schriften des Europa-Instituts der Universität des Saarlandes – Sektion Wirtschaftswissenschaft, Bd. 1, Baden-Baden 1996, S. 17 – 33 Spreizung von Körperschaftsteuersatz und Einkommensteuerspitzensatz als Verfassungsproblem, in: Staat – Wirtschaft – Steuern: Festschrift für Karl Heinrich Friauf, hrsg. von Rudolf Wendt u. a., Heidelberg 1996, S.859 – 888 Finanzierungsverantwortung für gesetzgeberisch veranlaßte kommunale Aufgaben, in: Verfassungsstaatlichkeit: Festschrift für Klaus Stern, hrsg. von Joachim Burmeister, München 1997, S. 603 – 626 The Taxation of Land Property and Land Property Transactions, in: The Public Concept of Land Ownership: Reports and Discussions of a German-Korean Symposium held in Seoul on October 7 – 9, 1996/ Bernd von Hoffmann, Myong-Chan Hwang (eds.), Comparative and International Law Studies, Vol. 43, Frankfurt am Main u. a. 1997, S. 157 – 172 (zus. mit Bridget E. von Trützschler Mahoney) Die rechtliche Problematik der Beschaffung steuerlich relevanter Informationen gegen Bezahlung, DStZ 1998, S. 145 – 155 New Developments in German Land Taxation, in: Developments in Land Law: Reports and discussions of a German-Korean symposium held in Berlin and Trier on July 21 – 24,1997/ Bernd von Hoffmann, Myong-Chan Hwang (eds.) Comparative and International Law Studies, Vol. 50, Frankfurt am Main u. a. 1999, S. 156 – 171 (zus. mit Bridget E. von Trützschler Mahoney) Artikel 14 (Eigentum, Erbrecht und Enteignung), 15 (Sozialisierung/Überführung in Gemeineigentum) und 143 (Abweichungen von Bestimmungen des Grundgesetzes im Beitrittsgebiet) GG, in: Grundgesetz, Kommentar, hrsg. von Michael Sachs, 2. Aufl., München 1999, S. 588 – 639, 639 – 645, 2235 – 2247 Das Studium des Steuerrechts an der Universität des Saarlandes, Steuer und Studium 1999, S. 438 – 439 (zus. mit Peter Bilsdorfer) Finanzhoheit und Finanzausgleich, in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV: Finanzverfassung – Bundesstaatliche Ordnung, hrsg. von Josef Isensee und Paul Kirchhof, 2. Aufl., Heidelberg 1999, § 104 (S. 1021 – 1089) Artikel 5 GG (Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Rundfunkfreiheit, Freiheit der Kunst, Wissenschaft, Forschung und Lehre), in: Ingo von Münch/Philip Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 5. Aufl., München 2000, S. 383 – 478 § 4 Bundesanstalt Post-Gesetz (zus. mit Gregor Schneider), in: Postrecht der Bundesrepublik Deutschland, Kommentar zum Postneuordnungsrecht (Hrsg. Klaus Stern), Heidelberg 2000 §§ 11, 14 Bundesanstalt Post-Gesetz, in: Postrecht der Bundesrepublik Deutschland, Kommentar zum Postneuordnungsrecht (Hrsg. Klaus Stern), Heidelberg 2000 20 – 22 Bundesanstalt Post-Gesetz (zus. mit Michael Elicker), in: Postrecht der Bundesrepublik Deutschland, Kommentar zum Postneuordnungsrecht (Hrsg. Klaus Stern), Heidelberg 2000

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§§ 6 – 9 Satzung der Deutsche Post AG (zus. mit Michael Elicker und Nicole Lassotta), in: Postrecht der Bundesrepublik Deutschland, Kommentar zum Postneuordnungsrecht (Hrsg. Klaus Stern), Heidelberg 2000 §§ 10 – 12 Satzung der Deutsche Post AG (zus. mit Heike Jochum), in: Postrecht der Bundesrepublik Deutschland, Kommentar zum Postneuordnungsrecht (Hrsg. Klaus Stern), Heidelberg 2000 § 23 Satzung der Deutsche Post AG (zus. mit Michael Elicker), in: Postrecht der Bundesrepublik Deutschland, Kommentar zum Postneuordnungsrecht (Hrsg. Klaus Stern), Heidelberg 2000 §§ 3 – 8, 10, 16 Postumwandlungsgesetz (zus. mit Michael Elicker), in: Postrecht der Bundesrepublik Deutschland, Kommentar zum Postneuordnungsrecht (Hrsg. Klaus Stern), Heidelberg 2000 § 11 Postumwandlungsgesetz (zus. mit Andreas Schulz), in: Postrecht der Bundesrepublik Deutschland, Kommentar zum Postneuordnungsrecht (Hrsg. Klaus Stern), Heidelberg 2000 Artikel 115 GG (Kreditaufnahme, Gewährleistungsübernahme), in: Hermann von Mangoldt, Friedrich Klein, Christian Starck (Hrsg.), Das Bonner Grundgesetz, Kommentar, Bd. 3, 4. Aufl., München 2001, S. 2142 – 2174 Staatsverschuldung und intertemporäre Lastengerechtigkeit, DVBl. 2001, S. 497 – 504 (zus. mit Michael Elicker) Für die volle Einbeziehung der kommunalen Finanzkraft in den Länderfinanzausgleich, DÖV 2001, S. 762 – 771 (zus. mit Michael Elicker) Darf ein Land seine Kommunen in die Verschuldung zwingen? Grundsätzliche Anmerkungen aus Anlaß des erneuten Verfassungsstreits um die Finanzierung des öffentlichen Personennahverkehrs in Sachsen-Anhalt, VerwArch. 93 (2002), S. 187 – 216 (zus. mit Michael Elicker) Die Prüfung disziplinarrechtlicher Maßnahmen im Bereich der Nachfolgeunternehmen der deutschen Bundespost durch die Bundesanstalt für Post und Telekommunikation, Zeitschrift für Beamtenrecht 2002, S. 73 – 79 (zus. mit Michael Elicker) Artikel 14 (Eigentum, Erbrecht und Enteignung), 15 (Sozialisierung/Überführung in Gemeineigentum) und 143 (Abweichungen von Bestimmungen des Grundgesetzes im Beitrittsgebiet) GG, in: Grundgesetz, Kommentar, hrsg. von Michael Sachs, 3. Aufl., München 2003, S. 607 – 666, 666 – 672, 2509 – 2522 Staatskredit und Rücklagen. Grundsätzliche Anmerkungen aus Anlaß des Streits um die Verfassungsmäßigkeit der Haushalte 2001 und 2002 des Landes Nordrhein-Westfalen, VerwArch. 95 (2004), S. 471 – 497 (zus. mit Michael Elicker) Die Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik und ihre Umsetzung in der Bundesrepublik Deutschland, DVBl. 2004, S. 665 – 675 (zus. mit Michael Elicker) Finanzierungsbedingungen und -notwendigkeiten kommunaler Aufgabenerfüllung in der Sozialpolitik, in: Die Kommunen in der Sozialpolitik. Professorengespräch 2003 des Deutschen Landkreistages, hrsg. von Hans-Günter Henneke, Schriften zum deutschen und europäischen Kommunalrecht, Bd. 20, Stuttgart u. a. 2004, S. 191 – 208

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Fortbestand der Steuerfreiheit für die Fortbildungstätigkeit der Handwerkskammern?, DStZ 2004, S. 339 – 407 (zus. mit Michael Elicker) Das Recht am eigenen Bild als strafbewehrte Schranke der verfassungsrechtlich geschützten Kommunikationsfreiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG, Archiv für Presserecht 2004, S. 181 – 190 Die „eigene“ Finanzausstattung der Länder im System der Steuerverteilung und des Finanzausgleichs, in: Gedächtnisschrift für Joachim Burmeister, hrsg. von Klaus Stern und Klaus Grupp, Heidelberg 2005, S. 457 – 475 Handwerkskammern und berufliche Bildung, in: Internationale Gemeinschaft und Menschenrechte: Festschrift für Georg Ress zum 70. Geburtstag, hrsg. von Jürgen Bröhmer u. a., Köln u. a. 2005, S. 1353 – 1372. Zweitveröffentlichung: Handwerkskammern und berufliche Bildung, in: Winfried Kluth (Hrsg.), Jahrbuch des Kammer- und Berufsrechts 2004, BadenBaden 2005, S. 325 – 352 Vertrauensschutz und Entschädigungsansprüche in der staatlichen Krankenhausbauförderung, Bayerische Verwaltungsblätter 2005, 741 – 745 (zus. mit Heike Jochum) Artikel 115 (Kreditaufnahme, Gewährleistungsübernahme), in: Hermann von Mangoldt, Friedrich Klein, Christian Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Auflage, München 2005, S. 1471 – 1501 Haushaltsnotlagen im Bundesstaat, Wirtschaftsdienst 2006, 299 – 308 (zus. mit Wolfgang Förster) Rechtsmißbrauch und Vertrauensschutz im Subventionsrecht. Eine Analyse am Beispiel der Einschaltung eines verbundenen Unternehmens in die Projektabwicklung, Recht der Internationalen Wirtschaft 2006, 372 – 378 (zus. mit Michael Elicker) Wie weit reicht die Zweckbindung der Abwasserabgabe? Zur Finanzierung von Gewässerrenaturierung und Abwassermengenreduzierung, Natur und Recht 2006, 333 – 341 (zus. mit Heike Jochum) „True-Sale“-Verbriefung von Forderungen der öffentlichen Hand und Haushaltsrecht von Bund, Ländern und Gemeinden, der gemeindehaushalt 2006, 251 – 255 (zus. mit Michael Elicker) Die Besteuerung von Kammer-Bildungsdienstleistungen, in: Jahrbuch des Kammer- und Berufsrechts 2005, hrsg. von Winfried Kluth, Baden-Baden 2006, S. 154 – 180 Zur Frage der Verfassungsmäßigkeit der Umsetzung der Luxemburger Beschlüsse zur Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, in: Jahrbuch des Agrarrechts, Bd. VII, hrsg. von Christian Callies u. a., Schriften zum Agrar-, Umwelt- und Verbraucherschutzrecht, Bd. 53, Baden-Baden 2006, S. 21 – 54. Neuordnung der Finanzbeziehungen im Bundesstaat, in: Festschrift für Heike Jung zum 65. Geburtstag, hrsg. von Heinz Müller-Dietz u. a., Baden-Baden 2007, S. 1085 – 1108 Artikel 14 (Eigentum, Erbrecht und Enteignung), 15 (Sozialisierung/Überführung in Gemeineigentum) und 143 (Abweichungen von Bestimmungen des Grundgesetzes im Beitrittsgebiet) GG, in: Grundgesetz, Kommentar, hrsg. von Michael Sachs, 4. Aufl., München 2007, S. 582 – 639, 639 – 645, 2458 – 2472

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Rechtsschutz gegen wirtschaftliche Betätigungen von Gemeinden, in: Wirtschaft und Gesellschaft im Staat der Gegenwart. Gedächtnisschrift für Peter J. Tettinger, hrsg. von Jörg Ennuschat u. a., Köln, Berlin, München 2007, S. 335 – 354 Wirksame Verschuldungsgrenzen für Bund, Länder und Kommunen und Entlastungsventile auf der Einnahmen- und Ausgabenseite, Der Landkreis 2008, 188 – 195 Wirksame Verschuldungsgrenzen für Bund, Länder und Kommunen und Entlastungsventile auf der Einnahmen- und Ausgabenseite, in: Kommunen in der Föderalismusreform I und II. Professorengespräch 2008 des Deutschen Landkreistages, hrsg. von Hans-Günter Henneke, Schriften zum deutschen und europäischen Kommunalrecht, Bd. 33, Stuttgart u. a. 2008, S. 109 – 131 Finanzhoheit und Finanzausgleich, in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VI: Bundesstaat, hrsg. von Josef Isensee und Paul Kirchhof, 3., völlig neubearbeitete und erweiterte Aufl., Heidelberg 2008, § 139 (S. 875 – 963) Belastende Analogie im Steuerrecht? Rechtsgeschichtliche Hintergründe einer ungelösten Streitfrage, in: Das Recht und seine historischen Grundlagen. Festschrift für Elmar Wadle zum 70. Geburtstag, hrsg. von Tiziana J. Chiusi, Thomas Gergen und Heike Jung, Berlin 2008, S. 1203 – 1222 Artikel 12 (Gleichheit vor dem Gesetz), Artikel 18 (Eigentum und Erbrecht), Artikel 51 (Eigentum und Enteignung), Artikel 52 (Sozialisierung), Artikel 105 (Haushaltsplan), Artikel 106 (Rechnungslegung, Rechnungshof), Artikel 107 (Haushaltsüberschreitungen) und Artikel 108 (Kreditaufnahme) Verfassung des Saarlandes, in: Rudolf Wendt/Roland Rixecker (Hrsg.), Verfassung des Saarlandes, Kommentar, hrsg. von den Mitgliedern des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes, Saarbrücken 2009 (auch Abruf unter: http://www.verfassungsgerichtshof-saarland.de/kommentar), S. 131 – 145, 187 – 196, 332 – 340, 341 – 347, 592 – 604, 605 – 608, 609 – 614, 615 – 625 Artikel 14 (Eigentum, Erbrecht und Enteignung), 15 (Sozialisierung/Überführung in Gemeineigentum) und 143 (Abweichungen von Bestimmungen des Grundgesetzes im Beitrittsgebiet) GG, in: Grundgesetz, Kommentar, hrsg. von Michael Sachs, 5. Aufl., München 2009, S. 589 – 647, 647 – 652, 2495 – 2509 Die Besteuerung von Ehe und Familie in Deutschland, in: Festschrift für Gerhard Käfer, hrsg. von Helmut Rüßmann, Saarbrücken 2009, S. 457 – 474 The German Experience of Parliamentary Government and Development of Fundamental Human Rights, in: Dynamic Changes in the Global Era and a New Constitutional Order. Proceedings of International Academic Conference Commemorating the 61st Anniversary of the Korean Constitution, National Assembly of Korea, Seoul 2009, S. 86 – 109 Zur steuerstrafrechtlichen Verantwortlichkeit des steuerlich vertretenen Unternehmers oder Geschäftsführers, wistra 2009, 329 – 331 (zus. mit Michael Elicker) Die Erstellung und Verwendung von Prüfungsaufgaben für Berufsausbildungsprüfungen im Bereich der Industrie- und Handelskammern, Gewerbearchiv 2010, 7 – 15 Die Rüge der Verletzung im Grundgesetz verbürgter Rechte vor den Landesverfassungsgerichten, Niedersächsische Verwaltungsblätter 2010, 150 – 153 Finanzmarktregulierung – Welche Regelungen empfehlen sich für den deutschen und europäischen Finanzsektor?, DVBl. 2010, 1001 – 1009 (zus. mit Steffen Lampert)

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Artikel 115 (Kreditaufnahme, Gewährleistungsübernahme, Schuldenbremse), in: Hermann von Mangoldt, Friedrich Klein, Christian Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 6. Auflage, München 2010, S. 1647 – 1681 Zur Steuerfreiheit von Sanierungsgewinnen, in: Verfassung – Völkerrecht – Kulturgüterschutz: Festschrift für Wilfried Fiedler zum 70. Geburtstag, hrsg. von Michaela Wittinger, Rudolf Wendt und Georg Ress, Berlin 2011, S. 823 – 837 Verfassungskonforme Auslegung und die Umsetzung europäischer Verträge und sonstiger Vorgaben in nationales Recht in Deutschland, in: Europäische Integration und Globalisierung: Festschrift zum 60-jährigen Bestehen des Europa-Instituts der Universität des Saarlandes – Rechtswissenschaft, hrsg. von Werner Meng, Georg Ress und Torsten Stein, Baden-Baden 2011, S. 625 – 637 Artikel 14 (Eigentum, Erbrecht und Enteignung), 15 (Sozialisierung/Überführung in Gemeineigentum) und 143 (Abweichungen von Bestimmungen des Grundgesetzes im Beitrittsgebiet) GG, in: Grundgesetz, Kommentar, hrsg. von Michael Sachs, 6. Aufl., München 2011, S. 596 – 656, 656 – 662, 2589 – 2603. Der bundesstaatliche Finanzausgleich – Karl Heinrich Friaufs Beitrag zum Finanzausgleich aus dem Jahre 1984 aus heutiger Sicht –, in: Kommentierte Verfassungsrechtsdogmatik: Festgabe für Karl Heinrich Friauf aus Anlass seines 80. Geburtstages, hrsg. von Wolfram Höfling, Köln 2011, S. 199 – 218 Rechtsschutz privater Konkurrenten gegen wirtschaftliche Betätigungen der Gemeinden, in: Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis: Band 2: Kommunale Wirtschaft, hrsg. von Thomas Mann und Günter Püttner, 3. Auflage, Berlin u. a. 2011, S. 75 – 103 Artikel 5 GG (Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Rundfunkfreiheit, Freiheit der Kunst, Wissenschaft, Forschung und Lehre), in: Ingo von Münch/Philip Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 6. Aufl., München 2012, S. 421 – 541 Die Weiterentwicklung der „Neuen Formel“ bei der Gleichheitsprüfung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Festschrift für Klaus Stern zum 80. Geburtstag, hrsg. von Michael Sachs und Helmut Siekmann, Berlin 2012, S. 1553 – 1568 Sperrklauseln im Wahlrecht?, in: Dynamik und Nachhaltigkeit des Öffentlichen Rechts. Festschrift für Meinhard Schröder zum 70. Geburtstag, hrsg. von Matthias Ruffert, Berlin 2012, S. 431 – 456 Der Finanzausgleich im föderalen System der Bundesrepublik Deutschland, in: Ines Härtel (Hrsg.), Handbuch Föderalismus – Föderalismus als demokratische Rechtsordnung und Rechtskultur in Deutschland, Europa und der Welt, Bd. II: Probleme, Reformen, Perspektiven des deutschen Föderalismus, Berlin und Heidelberg 2012, § 41 ( S. 389 – 423) Umwandlung einer Gaststätte zur Diskothek, Jura 2012, 314 – 319 (zus. mit Veris-Pascal Heintz) Die gerechte Besteuerung von Ehe und Familie und sonstigen Wirtschaftsgemeinschaften, in: Festschrift für Helmut Rüßmann, hrsg. von Jürgen Stamm, Saarbrücken 2013, S. 1067 – 1091 Verfassungsorientierte Gesetzesauslegung, in: Verfassungsstaatlichkeit im Wandel. Festschrift für Thomas Würtenberger zum 70. Geburtstag, hrsg. von Dirk Heckmann, Ralf P. Schenke und Gernot Sydow, Berlin 2013, S. 123 – 135

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Länderfinanzausgleich, in: Leitgedanken des Rechts. Festschrift für Paul Kirchhof zum 70. Geburtstag, hrsg. von Hanno Kube, Rudolf Mellinghoff u. a., Heidelberg 2013, S. 1561 – 1570 Zulässigkeit und Grenzen der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle der Wirtschafts- und Haushaltsführung der IHK Frankfurt, insbesondere der Bildung von Rücklagen durch die Kammer, sowie Begrenzung der Finanzkontrolle seitens des Landesrechnungshofs durch die Selbstverwaltungsbefugnis und Haushaltsautonomie der Kammer, WiVerw 2013/1, 5 – 57 The Principle of ,Ultima Ratio‘ and/or the Principle of Proportionality, Oñati Socio-legal Series [online], 3 (1), 2013, p. 81 – 94. Available from: http://ssrn.com/abstract=2200873 Deutsches und Europäisches Steuerrecht als Schwerpunkt des Studiums der Rechtswissenschaften an der Universität des Saarlandes, Ritsumeikan Law Review. International Edition. No. 30, June 2013, p. 237 – 243 Spezielle Gleichheitsrechte, in: Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, hrsg. von Detlef Merten und Hans-Jürgen Papier, Bd. V: Grundrechte in Deutschland: Einzelgrundrechte II, Heidelberg 2013, § 127, S.1015 – 1055 Angemessene Finanzausstattung der Kommunen und finanzielle Leistungsfähigkeit des Landes, in: Beharren. Bewegen. Festschrift für Michael Kloepfer zum 70. Geburtstag, hrsg. von Claudio Franzius, Stefanie Lejeune, Kai von Lewinski u. a., Berlin 2013, S. 735 – 750 Artikel 14 (Eigentum, Erbrecht und Enteignung), 15 (Sozialisierung/Überführung in Gemeineigentum) und 143 (Abweichungen von Bestimmungen des Grundgesetzes im Beitrittsgebiet) GG, in: Grundgesetz, Kommentar, hrsg. von Michael Sachs, 7. Aufl., München 2014, S. 602 – 667, 668 – 674, 2618 – 2631 Grundrechtliches Verbot der polizeilichen Anordnung der Entnahme einer Blutprobe durch den Arzt und Unverwertbarkeit von deren Ergebnissen? in: Keio-Tage 2014: Medizinrechtliches Symposium an der Universität des Saarlandes, Iurisprudentia Saraviensis, Band 7, hrsg. von Annemarie Matusche-Beckmann, Saarbrücken 2015, S. 169 – 180 Zur finanzverfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Finanzierung der Lärmsanierung an den Straßen in kommunaler Baulast durch den Bund, in: Festschrift für Friedhelm Hufen zum 70. Geburtstag, hrsg. von Max-Emanuel Geis, Markus Winkler und Christian Bickenbach, München 2015, S. 251–261 Zur Umsetzung der Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, in: Liber Amicorum für Torsten Stein zum 70. Geburtstag, hrsg. von Christian Callies, Baden-Baden 2015, S. 886 – 900

III. Herausgeberschaften Staat – Wirtschaft – Steuern: Festschrift für Karl Heinrich Friauf zum 65. Geburtstag, hrsg. zus. mit Wolfram Höfling, Ulrich Karpen und Martin Oldiges, Heidelberg 1996 Landesrecht Saarland (zus. mit Hans-Peter Freymann und Holger Kröninger), 16. Aufl., BadenBaden 2007 Verfassung des Saarlandes, Kommentar (zus. mit Roland Rixecker), hrsg. von den Mitgliedern des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes, 2008 (auch Abruf unter: http://www.verfassungs gerichtshof-saarland.de/kommentar)

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Schriftenverzeichnis

Landesrecht Saarland. Textsammlung (zus. mit Hans-Peter Freymann und Holger Kröninger), 17. Aufl., Baden-Baden 2009 Landesrecht Saarland. Textsammlung (zus. mit Hans-Peter Freymann und Holger Kröninger), 18. Aufl., Baden-Baden 2010 Verfassung – Völkerrecht – Kulturgüterschutz: Festschrift für Wilfried Fiedler zum 70. Geburtstag, hrsg. zus. mit Michaela Wittinger und Georg Ress, Berlin 2011 Landesrecht Saarland. Textsammlung (zus. mit Hans-Peter Freymann und Holger Kröninger), 19. Aufl., Baden-Baden 2012 Landesrecht Saarland. Textsammlung (zus. mit Hans-Peter Freymann und Holger Kröninger), 20. Aufl., Baden-Baden 2013 Landesrecht Saarland. Textsammlung (zus. mit Hans-Peter Freymann und Holger Kröninger), 21. Aufl., Baden-Baden 2015

IV. Buchbesprechungen Schmidt-Bleibtreu/Klein: Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl., Neuwied und Berlin 1970, in: Juristische Analysen (JurA) 1970, S. 677 – 678 Grupp, Alfred: Grundfragen des Rundfunkgebührenrechts. Beiträge zum Rundfunkrecht, Heft 27, Frankfurt 1983, in: NVwZ 1984, S. 569 – 570 Scholz, Rupert: Konkurrenzprobleme bei behördlichen Produktkontrollen. Schriftenreihe Recht – Technik – Wirtschaft, Bd. 29, Köln u. a. 1983, in: NVwZ 1986, S. 733 Wiegel, Klaus: Verfassungsrechtliche Probleme einer staatlichen Investitionslenkung. Schriften zum Öffentlichen Recht, Bd. 412, Berlin 1982, in: AöR 111 (1986), S. 639 – 640 Schenke, Wolf-Rüdiger: Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Tätigkeit des Vermittlungsausschusses. Dargestellt am Beispiel des 2. Haushaltsstrukturgesetzes. Schriften zum Öffentlichen Recht, Bd. 466, Berlin 1984, in: AöR 111 (1986), S. 621 – 624 Häberle, Peter: Verfassungsschutz der Familie – Familienschutz im Verfassungsrecht. Heidelberger Forum, Bd. 27, Heidelberg 1984, in: AöR 113 (1988), S. 298 – 300 Kapp, Reinhard: Kommentar zum Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetz, 10. Aufl., Köln 1989, in: GmbH-Rundschau 1990, S. 193 Stober, Rolf: Grundrechtsschutz der Wirtschaftstätigkeit. Öffentliches Recht in der Verwaltungs-, Beratungs- und Wirtschaftspraxis, Köln 1989, in: AöR 115 (1990), S. 658 – 660 Steuerrecht und Verfassungsrecht, hrsg. von Karl Heinrich Friauf. Veröffentlichungen der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft, Bd. 12, Köln 1989, in: Die Verwaltung 24 (1991), S. 421

V. Stellungnahmen Stellungnahme zu steuerrechtlichen und verfassungsrechtlichen Fragen des Standortsicherungsgesetzes, Deutscher Bundestag, 12. Wahlperiode, Finanzausschuß, Stenographisches Protokoll der öffentlichen Anhörung von Sachverständigen vom 3. 3. 1993

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Stellungnahme zum verfassungsrechtlichen Rahmen einer Beteiligung der Gemeinden am Umsatzsteueraufkommen, Deutscher Bundestag, 13. Wahlperiode, Rechtsausschuß, Stenographisches Protokoll der Anhörung von Sachverständigen vom 28. 4. 1995 Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. März 2012 über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion, Bundesrat, Ausschuss für Fragen der Europäischen Union, 625. Sitzung, Stenographische Niederschrift der öffentlichen Anhörung von Sachverständigen vom 25. 4. 2012

Verzeichnis der Autoren Prof. em. Dr. Hans Herbert von Arnim ehem. Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Kommunalrecht und Haushaltsrecht, und Verfassungslehre, Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Steffen Augsberg Professur für Öffentliches Recht, Justus-Liebig-Universität Gießen Prof. em. Dr. Peter Badura vormals Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Rechts- u. Staatsphilosophie, Ludwig-Maximilians-Universität München Prof. Dr. Roberto Bartone Richter am Finanzgericht des Saarlandes Prof. Dr. Joxerramon Bengoetxea Universität des Baskenlandes Prof. em. Dr. Herbert Bethge ehem. Lehrstuhl für Staats- u. Verwaltungsrecht sowie Wirtschaftsverwaltungsrecht und Medienrecht, Universität Passau Prof. Dr. Dieter Birk Institut für Steuerrecht der Westfälischen-Wilhelms-Universität Münster Honorar-Prof. Dr. Guido Britz Direktor des WIE (Institut für Wirtschaftsstrafrecht, Internationales und Europäisches Strafrecht), Universität des Saarlandes Prof. Dr. Jina Cha Professor, Korea University, Korea Prof. Dr. Tiziana J. Chiusi Lehrstuhl für Zivilrecht, Römisches Recht und Europäische Rechtsvergleichung, Universität des Saarlandes Prof. Dr. Philippe Cossalter Lehrstuhl für Französisches Öffentliches Recht, Universität des Saarlandes Prof. Dr. Christoph Degenhart Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht sowie Medienrecht, Universität Leipzig Prof. Dr. Dieter Dörr Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht, Medienrecht, Johannes Gutenberg Universität Mainz, Direktor des Mainzer Medieninstituts Prof. Dr. Michael Elicker Staatsrechtslehrer an der Universität des Saarlandes und Rechtsanwalt in Luxemburg

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Verzeichnis der Autoren

Prof. em. Dr. Wilfried Fiedler Forschungsstelle Internationaler Kulturgüterschutz, Universität des Saarlandes Prof. Dr. Jutta Förster Richterin am Bundesfinanzhof München Prof. em. Dr. Karl Heinrich Friauf, LL.M. (Harvard) Institut für Staatsrecht, Universität zu Köln Prof. Dr. Dr. Thomas Gergen, M.A., Maître en droit Professur für Internationales und vergleichendes Zivil- und Wirtschaftsrecht mit Immaterialgüterrecht an der European University for Economics and Management, Luxemburg; Leiter Forschungsbereich Immaterielle Wirtschaftsgüter (Chambre de commerce) Prof. Dr. Klaus Grupp Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Universität des Saarlandes Prof. Dr. Annette Guckelberger Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Universität des Saarlandes Ass. iur. Yvonne Gutting Wiss. Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Deutsches und Europäisches Prozess- und Arbeitsrecht sowie Bürgerliches Recht, Universität des Saarlandes Dr. Adrian Hans Leiter Lektorat Steuerrecht Verlag C. H. Beck OHG, München Prof. Dr. Johannes Hellermann Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Finanz- und Steuerrecht, Universität Bielefeld Prof. Dr. Hans-Günter Henneke Geschäftsführendes Präsidialmitglied Deutscher Landkreistag Berlin Prof. Dr. Maximilian Herberger vormals Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Rechtstheorie und Rechtsinformatik, Direktor des Instituts für Rechtsinformatik, Universität des Saarlandes Prof. Dr. Wolfram Höfling, MA Institut für Staatsrecht, Universität zu Köln Prof. Dr. Peter M. Huber Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Staatsphilosophie, Forschungsstelle für das Recht der europäischen Integration, Ludwig-Maximilians-Universität München Prof. Dr. Friedhelm Hufen o. Professor für Öffentliches Recht, Staats- und Verwaltungsrecht, Johannes Gutenberg Universität Mainz Prof. Dr. Dres. h.c. Makoto Ida Professur für Strafrecht, Keio-Universität in Tokyo, Japan Prof. Dr. Jörn Ipsen Institut für Kommunalrecht und Verwaltungswissenschaften, Universität Osnabrück; Präsident des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs a. D.

Verzeichnis der Autoren

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Prof. em. Dr. Dres. h.c. Josef Isensee Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Prof. Dr. Heike Jochum, Mag. rer. publ. Professur für Öffentliches Recht und Steuerrecht, Direktorin des Instituts für Finanz- und Steuerrecht, Universität Osnabrück Prof. em. Dr. Dr. h.c. Heike Jung Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Kriminologie und Strafrechtsvergleichung, Universität des Saarlandes Prof. em. Dr. Ulrich Karpen Seminar für Öffentliches Recht und Staatslehre der Universität Hamburg Prof. Dr. Jan Henrik Klement Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht, Universität des Saarlandes Prof. em. Dr. Michael Kloepfer Humboldt-Universität zu Berlin, Juristische Fakultät, Forschungsplattform Recht (FPR) Prof. Dr. Hanno Kube, LL.M. (Cornell) Institut für Finanz- und Steuerrecht, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Prof. i.R. Dr. Jörg-Detlef Kühne Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Verfassungsgeschichte, Leibniz Universität Hannover Prof. Dr. Heinz Kußmaul Betriebsw. Institut f. Steuerlehre u. Entrepreneurship, Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Betriebswirtschaftliche Steuerlehre, Universität des Saarlandes Prof. Dr. Steffen Lampert Professur für Öffentliches Recht und Internationales Steuerrecht, Institut für Finanz- und Steuerrecht, Universität Osnabrück Prof. Dr. Moris Lehner Lehrstuhl für Öffentliches Wirtschafts- und Steuerrecht im Institut für Politik und Öffentliches Recht, Ludwig-Maximilians-Universität München Prof. em. Dr. mult. Dr. h.c. Walter Leisner Universität Erlangen-Nürnberg Prof. Dr. Wolfgang Löwer Professur für Öffentliches Recht und Wissenschaftsrecht, Rheinische Friedrich-WilhelmsUniversität Bonn Prof. em. Dr. Siegfried Magiera, M. A. (Political Science) Jean-Monnet-Lehrstuhl für Europarecht ad personam, Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. iur. Dr. rer. publ. Dr. h.c. mult. Michael Martinek Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung, Institut für europäisches Recht Universität des Saarlandes Dipl.-Jur. Till Meickmann Wiss. Mitarbeiter und Forschungsreferent am Institut für Finanz- und Steuerrecht, Universität Osnabrück

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Verzeichnis der Autoren

Prof. o. em. Dr. iur. Dr. rer. pol. Detlef Merten Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer Ministerialdirigent Dr. Ulli Meyer Leiter der Abteilung A (Organisation, Personal und Haushalt), Staatskanzlei des Saarlandes Prof. em. Dr. Jörg Manfred Mössner Institut für Finanz- und Steuerrecht, Universität Osnabrück Dr. Anke Morsch Staatssekretärin Ministerium der Justiz, Saarland Prof. Dr. Sebastian Müller-Franken Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Philipps-Universität Marburg Prof. Dr. Christoph Ohler Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Europarecht, Völkerrecht und Internationales Wirtschaftsrecht, Friedrich-Schiller-Universität Jena Prof. em. Dr. Dr. h.c. Hans-Jürgen Papier Institut für Politik und Öffentliches Recht, Ludwig-Maximilians-Universität München; Präsident des Bundesverfassungsgerichts a. D. Dr. Friedrich Petry Fachanwalt für Steuerrecht, ACADA Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, Jena Prof. em. Dr. Dr. h.c. Rainer Pitschas Professur für Verwaltungswissenschaft, Internationale Beziehungen und Öffentliches Recht, Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. em. Dr. Dr. h.c. Günter Püttner Staats- und Verwaltungsrecht, Öffentliches Wirtschaftsrecht, Eberhard Karls Universität Tübingen Prof. em. Dr. Filippo Ranieri Forschungsstelle für Europäisches Zivilrecht/Droit civil européen, Universität des Saarlandes Prof. Dr. Roland Rixecker Präsident des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes und des Saarländischen Oberlandesgerichts Dipl.-Kffr. Andrea Rolle Wiss. Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insb. Bankbetriebslehre, Universität des Saarlandes Prof. em. Dr. Wolfgang Rüfner Öffentliches Recht und Kirchenrecht, Universität Köln Prof. em. Dr. Dr. h.c. Helmut Rüßmann Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Zivilprozessrecht und Rechtsphilosophie, Universität des Saarlandes Prof. Dr. Michael Sachs Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht, Mitdirektor des Instituts für Deutsches und Europäisches Wissenschaftsrecht, Universität zu Köln

Verzeichnis der Autoren

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Prof. em. Dr. Wolf-Rüdiger Schenke Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Universität Mannheim Prof. em. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Prof. em. Dr. Friedrich E. Schnapp ehem. Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht mit besonderer Berücksichtigung des Sozialrechts; Geschäftsführender Direktor des Instituts für Sozialrecht, Ruhr-Universität Bochum Prof. Dr. Friedrich Schoch Institut für Öffentliches Recht, Universität Freiburg i. Br. Prof. em. Dr. Rupert Scholz Institut für Politik und Öffentliches Recht, Ludwig-Maximilians-Universität München Prof. em. Dr. Meinhard Schröder Institut für Umwelt- und Technikrecht, Universität Trier Christian Schwarz, M.Sc. Wiss. Mitarbeiter am Betriebsw. Institut f. Steuerlehre u. Entrepreneurship, Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Betriebswirtschaftliche Steuerlehre, Universität des Saarlandes Prof. Dr. Dr. h.c. Helmut Siekmann Professur für Geld-, Währungs- und Notenbankrecht, Institute for Monetary and Financial Stability (IMFS) an der Goethe-Universität Frankfurt Prof. em. Dr. Hartmut Söhn Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht, insbesondere Finanz- und Steuerrecht, Universität Passau Prof. Dr. Alain Steichen Partner Bonn, Steichen und Partner, Luxemburg Prof. em. Dr. Torsten Stein Lehrstuhl für Europarecht und europäisches öffentliches Recht, Direktor des Europa-Instituts, Universität des Saarlandes Prof. em. Dr. Udo Steiner Bundesverfassungsrichter a.D., Universität Regensburg Prof. Dr. Ulrich Stelkens Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere deutsches und europäisches Verwaltungsrecht, Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Rudolf Streinz Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Europarecht, Ludwig-Maximilians-Universität München Prof. em. Dr. Elmar Wadle Forschungsstelle Geschichte des Geistigen Eigentums, Universität des Saarlandes Prof. Dr. Maximilian Wallerath ehem. Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Sozialrecht und Verwaltungslehre, Universität Greifswald

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Verzeichnis der Autoren

Prof. Dr. Gerd Waschbusch Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insb. Bankbetriebslehre, Universität des Saarlandes Prof. Dr. Rainer Wernsmann Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht, insbesondere Finanz- und Steuerrecht, Universität Passau Prof. Dr. Stephan Weth Lehrstuhl für Deutsches und Europäisches Prozess- und Arbeitsrecht sowie Bürgerliches Recht, Universität des Saarlandes Prof. Dr. Joachim Wieland Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Finanz- und Steuerrecht, Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Michaela Wittinger Professur für Öffentliches Recht (insbesondere Staats- und Europarecht), Hochschule des Bundes für Öffentliche Verwaltung, Fachbereich Bundeswehrverwaltung, Mannheim Prof. em. Dr. Thomas Würtenberger Universität Freiburg, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Forschungsstelle für Hochschulrecht