Apostolat und Familie: Festschrift für Opilio Kardinal Rossi zum 70. Geburtstag [1 ed.] 9783428446711, 9783428046713


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German Pages 598 Year 1980

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Apostolat und Familie: Festschrift für Opilio Kardinal Rossi zum 70. Geburtstag [1 ed.]
 9783428446711, 9783428046713

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APOSTOLAT UND FAMILIE Festschrift für Opilio Kardinal Rossi zum 70. Geburtstag

Apostolat und Familie Festschrift für Opilio Kardinal Rossi zum 70. Geburtstag

herausgegeben

von

Herbert Schambeck

DUNCKER & HUMBLOT / BERLIN

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der übersetzung, für sämtllche Beiträge vorbehalten @ 1980 Duncker & Humblot, Berlln 41 Gedruckt 1980 bei Berllner Buchdruckerei Union GmbH., Berlln 61 Printed in Germany ISBN 3 428 04671 4

INHALTSVERZEICHNIS

Herbert Schambeck Zueignung ...... ...... ........ . ............... ... .... . ............

IX

Antonio Kardinal Samore Würdigung ................. . ..................... . ........ . ......

XI

Mutter Teresa Durch Liebe zum Frieden .. .. ...... .. .......... . .................. XIII

I. Apostolat PaulMikat ChI1istliche Weltverantwortung in einer veränderten gesellschaftlichen Situation ..................... . ....................................

3

Wolfgang Waldstein Zum Begriff des christlichen Apostolats

19

Audomar Scheuermann Der Laie in der Kirche

51

Rosemary Goldie Teilnahme der Laien an der Arbeit des Zweiten Vaticanums

77

J ohannes Hirschmann Entwicklung im Laienapostolat der Kirche nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil ...... .... ........ .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 99 Eugeniusz Weron Johannes Paul 11. über das Laienapostolat. Grundriß einer Lehre .... 111 J ohannes Schasching Soziallehre der Kirche unter Papst Johannes Paul 11............. . ... 129

VI

Inhaltsverzeichnis

Bartolomeo Sorge Das Problem des Katholischen Verbandswesens .......... . . . .. . .... 135 Hans Walther Kaluza Das christliche Apostulat und die katholischen Verbände . . . . .. .... .. 153 Friedrich Kronenberg Partner in Kirche und Gesellschaft. Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken . ....................... .. ............... . ........ 167 Robert Prantner Das christliche Apostolat und die Orden ........ . ............ . ...... 177 AloisMock Gedanken zum Stellenwert der persönlichen Verantwortung in der Politik . . ........ .. .......... .. .. . ...... .. .......... ... ... .. ........ 193 J osef Müller Das Apostolat und die Arbeiterschaft ... . .. .. .. . ... . .. . . . .... . ..... 201 Wilhelm Korab Der Akademiker und das Apostolat ..... . .... ... . . .......... . . . .. ... 213 Pia Maria Plechi Verkündigung. Laienbildung und Massenmedien . . . .. ..... . . . ...... . 221 Robert Prantner Kirchliche Finanzförderung im Dienste des Apostolats ..... . .. . . .... 233 ShinAnzai Apostolat im Missionsland Japan .......... . ... . ....... . .. . . .. ...... 259 Gustav Voss Gedanken über Schul'apostolat und Familie aus japanischer Sicht . . .. 271 Jessie TelLis-Nayak Christliches Apostolat in Indien .. .. .... . ... .. . . ...... . .... . . . . . .... 279 Heribert Franz Köck Christliches Apostolat und internationale Ordnung ... . .. . ..... .. . ... 295

Inhaltsverzeichnis

VII

H. Familie Franz Kardinal König Ehe und Familie. Die angemessene Lebensform .. ... ......... . ...... 321 Walter Kirchschläger Der Laie in Familie und Gemeinde - gel'e btes Zeugnis. überlegungen zu Leben und Aufgabe des Laien aus der Sicht des Neuen Testaments 329 Johannes Messner Die Familie der Zukunft ... .. ...... . .... . . . ... . . ..... . .. . ... . ..... . 351 Alfons Fleischmann Die Familie in naturrechtlicher Sicht . . . . . .. ... . . .. ... , . . . . . . . . . . . . .. 367 Rudolf Weiler Zum Verhältnis von Familie und Staat ......................... . ... 385 Herbert Schambeck Der Schutz der Familie in den Grundrechten ........ . ............ . . 393 Ehrentraud und WiHi Hagleitner Ehe und Familie - Herausforderung für Kirche, Staat und Gesellschaft ..................... . ........................................ 411 Gottfried Roth Die Familie in pastoralmedizinischer Sicht . . . . .. .. .... ... . . ......... 427 Johannes Schasching Vaterlose Gesellschaft?

. . . ... ..... . ... . ..... . ........ .. ............ 437

Ernst Kolb t Das Recht auf Leben ... . .. .. .......................... . ............ 451 Heribert Berger Die inhumane Gesellschaft ... ..... . ....... . ............. . . . ........ 457 Hans Franc Behinderung ist eine Form des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 465

VIII

Inhaltsverzeichnis

Wendel'in Ettmayer Der Einfluß der katholischen Soziallehre auf die Familienpolitik in Österreich ......................................................... 475 OttoHerz Die Familie im Lichte der jüdisch-christlichen Ökumene ............ 501 Helmuth Schattovits Die Situation der Familie in Europa und die Entwicklung und Zukunft der europäischen Region der Internationalen Union der Familienorganisationen (EIUFO) .... ... .............................. . .. 511 Marie Mignon Mascarenhas und Alfred Mascarenhas Die Christen und das Familienleben im modernen Indien . ...... . . ... 529 Augustine Ndeukoya Die Familie und ihr Apostolat im Tanzanien von heute .............. 539 DavidRegan Die Familie und ihre Pastoral in Brasilien .................. .. , . .... 547 James T. McHugh Bevölkerungspolitik: Die moralische Seite des Problems ... ... ...... 557

Lebenslauf .... . ..................................... . ................. 571 Herausgeber- und Mitarbeiterverzeichnis ........ . . . .................... 575

ZUEIGNUNG

Das mitverantwortliche Denken und Handeln des Einzelnen zählt zu den Erfordernissen unserer Zeit im öffentlichen und privaten Leben. Diese Notwendigkeit ist vom Glauben her für den einzelnen Menschen in einem besonderen Maß gegeben, denn er ist mit aufgerufen, an der Heilssendung der Kirche teilzunehmen und ein Bekenntnis abzulegen, das es nicht vorzureden, sondern vorzuleben gilt, um glaubwürdig zu sein. Die römisch-katholische Kirche hat in einer beachtenswerten Kontinuität in den letzten Jahrzehnten besonders auf diese Einzelverantwortung hingewiesen und den Anspruch im Apostolat deutlich gemacht, mit dem sie Klerus und Laien in gleicher Weise zur Mitarbeit aufruft. Die Kirche in der Welt von heute verlangt den Einsatz möglichst vieler Menschen zur Gestaltung der zeitlichen Ordnung nach dem Anspruch des Evangeliums. Auf diese Weise kann ein Beitrag zum Frieden und damit zur Ordnung in der Welt dur:ch die Kirche über den Kreis ihrer Gläubigen hinaus wirksam werden. Zu den Hauptanliegen des Apostolats zählt heute die Familie. Sie gibt dem Menschen den ersten Ansatz zur Entfaltung seiner Persönlichkeit: sie ist der Kern der menschlichen Gesellschaft und die Voraussetzung des Staates. In der Familie ist dem Einzelnen die Selbstfindung und das Sozialerleben in gleicher Weise gegeben, in ihr kann das Wort Gottes eine besondere Verwirklichung erfahren. Die Aufgaben des Apostolats und der Familie sind in ihrer Erfüllung heute nicht leichter, sondern schwieriger geworden, wobei diese Probleme in jedem Staat und jedem Kontinent verschieden sind; sie zu bedenken ·ist in einer Zeit notwendig, die sich in einem zunehmenden Maße um das Gemeinwohl der Völkergemeinschaft bemüht. Dieser Zeitverantwortung gegenüber Apostolat und Familie sieht sich dieses Buch verpflichtet, das Autoren aus dem europäischen und außereuropäischen Raum vereint, die, ohne vom Thema, seinen Problemen und verschiedenen örtlichen Verhältnissen her den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, literarische Beiträge zu einem römisch-katholischen Sozialverständnis erbringen.

x

Zueignung

Dieses Werk ist dem Präsidenten des päpstlichen Laienrates und des päpstlichen Familienkomitees OpiZio Kardinal Rossi gewidmet, der in diesem Jahr seinen 70. Geburtstag feiert. Die Initiative zu diesem internationalen Sammelband ist von Österreich ausgegangen, wo OpHio Rossi nach vielfältiger Tätigkeit als päpstlicher Diplomat in verschiedenen europäischen und südamerikanischen Staaten von 1961 bis 1976 als Apostolischer Nuntius in allgemeiner Anerkennung Bleibendes zum Verhältnis von Kirche und Staat und damit auch zur Seelsorge geleistet hat. Mit diesen literarischen Beiträgen zu seinem neuen Arbeitsgebiet wollen Herausgeber und Autoren dieses Buches ihm ihre dankbare Verehrung bekunden. Sie freuen sich, dieses Buch am Vorabend der Bischofssynode 1980 vorlegen zu können, der Papst Johannes Paul H. die Familie als Thema gestellt hat. Die Veröffentlichung dieses Buches war Herrn Senator E. h. Professor Dr. Johannes Broermann, dem Inhaber des Verlages Duncker & HumbIot, ein persönliches Anliegen; ihm ist nicht nur für sein Interesse schon an der Konzeption des Werkes, sondern auch für sein Bemühen um dessen rechtzeitige Fertigstellung zu danken. Bedanken möchte ich mich auch bei meiner Frau EZisabeth und bei Herrn Univ.-Prof. Dr. Heribert P. Köck für ihre mannigfache Hilfe bei der redaktionellen Arbeit an dieser Festschrift. Wien, im Juli 1980

Herbert Schambeck

WÜRDIGUNG Es ist mir eine Freude, den hochwürdigsten Herrn Kardinal Opilio Rossi anläßlich seines siebzigsten Geburtstages meiner herzlichen Freundschaft zu versichern. Ich wH! sogleich darauf hinweisen, daß Kardinal Opilio Rossi und ich aus derselben Diözese, Piacenza, stammen. Obgleich in New York geboren, wohin die Familie, um Arbeit zu finden, ausgewandert war, stammt Kardinal Opilio Rossi aus demselben Tal wie ich; sein Vaterhaus ist nur wenige Kilometer von meinem Heimatdorf entfernt. Wir sind schon sehr früh einander begegnet. Ich erinnere mich, wie er 1921 ins Seminar eintrat, während ich das Knabenseminar verließ, um das Collegio Alberoni in Piacenza zu besuchen, wohin mir der junge Opilio fünf Jahre später folgte. Wir verbrachten also drei Jahre in demselben Institut für Priesterausbildung, auch wenn wir nicht zur selben Gruppe gehörten; mein Studiengefährte von Oktober 1916 bis zur Priesterweihe war hingegen der ältere Bruder des Kardinals, Monsignore Giuseppe Rossi, noch heute ein eifrig tätiger und sehr frommer Pfarrer. Die Vorsehung fügte es, daß Monsignore Opilio und ich einen ähnlichen Lebensweg gingen. Nach einer kurzen Zeit des Dienstes im Staatssekretariat (damals hieß es "Staatssekretariat Seiner Heiligkeit") arbeitete er in verschiedenen Päpstlichen Vertretungen, wo er sehr nützliche und vielfältige Erfahrungen erwarb; seine hervorstechenden Gaben waren: Bescheidenheit, Ernsthaftigkeit bei der Arbeit, priesterlicher Geist, der ihn auch hinter den Büropapieren Seelen finden ließ. Er hat übrigens keine Gelegenheit versäumt, auch direkt das Seelsorgsamt auszuüben. Im Jahr 1947, auf dem Weg über Paris zur Apostolischen Delegation in Washington, traf ich mit Msgr. Opilio Rossi und Msgr. Silvio Oddi, heute ein weiterer Kardinal aus Piacenza, am Sitz der Apostolischen Nuntiatur zusammen, die damals von Exzellenz Msgr. Giovanni Roncalli geleitet wurde: von dieser Begegnung bewahre ich noch eine mir wertvolle Fotografie: Kardinal Rossi hat noch den lächelnden Gesichtsausdruck von damals; nur die Farbe der Haare hat sich geändert.

XII

Würdigung

Dann kam die Zeit seiner Tätigkeit als Missionschef in Quito in Ekuador, in Santiago de Chile und in Wien. Überall wurde er geachtet. bewundert und geliebt. Überall hat er den Papst in Liebenswürdigkeit vertreten: durch die Vornehmheit seiner Haltung, die Würde seines Lebens, das genaue Studium der Situationen und Probleme, durch seine bewundernswerte Heiterkeit und beispielhafte Bescheidenheit. Dieser letztgenannte Charakterzug ist es wohl vor allem, der ihn so liebenswert, so überzeugend und so erfolgreich macht. Im Jahr 1976 erfolgte die Erhebung zur Kardinalswürde und dann die Betrauung mit dem Amt - das er jetzt ausübt - des Präsidenten des Päpstlichen Laienrates und des Familienkomitees: zwei Aufgaben von großer Bedeutung, in denen er sich durch seine Ausgeglichenheit und seinen Pflichteifer auszeichnet. Ich sagte, daß ich echte Freude empfinde, dieses Zeugnis abzulegen und mich dem Zeugnis des Herausgebers und der Autoren dieses Buches anzuschließen. Mit ihnen wünsche ich dem Freund Kardinal Opilio Rossi: der Herr möge ihn der Kirche noch viele Jahre erhalten, reich an vorzüglichen Werken und erleuchtet von christlicher Weisheit. Ad multos felicesque annos!

Antonio Kardinal Samore

DURCH LIEBE ZUM FRIEDEN* Von Mutter Teresa Wir sind hier zusammengekommen, um Gott für den Friedensnobelpreis zu danken. Ich glaube aber, es wäre schön, wenn wir zuerst gemeinsam das Gebet des Hl. Franz v. Assisi sprechen. Wir beten es jeden Tag nach der Hl. Kommunion, und es überrascht mi.ch immer wieder, daß dieses Gebet für unsere Zeit genauso paßt wie für die Menschen vor fast 800 Jahren, als der Hl. Franz v. Assisi diese Worte formte: Herr, mach mich zum Werkzeug deines Friedens, Daß ich Liebe bringe, wo Haß ist, Daß ich verzeihe, wo Schuld ist, Daß ich vereine, wo Zwietracht herrscht, Daß ich Wahrheit bringe, wo Irrtum ist, Daß ich den Glauben bringe, wo Zweifel ist, Daß ich Hoffnung bringe, wo Verzweiflung ist, Daß ich Licht bringe, wo Finsternis ist, Daß ich Freude bringe, wo Leid ist. Herr, hilf, daß ich lieber tröste, als getröstet zu werden, verstehe, als verstanden zu werden, liebe, als geliebt zu werden; denn, da wir uns selbst vergessen, finden wir, da wir verzeihen, erhalten wir Vergebung, da wir sterben, erwachen wir zum ewigen Leben. Amen. Laßt uns Gott danken für dieses Geschenk des Friedens, das uns daran erinnert, daß wir erschaffen wurden, um diesen Frieden zu leben, und daß J esus Mensch geworden ist, um den Armen diese frohe Botschaft zu bringen. Er, der Gott ist, ist Mensch geworden, uns gleich in allem, bis auf die Sünde, und er verkündete sehr klar, daß er gekommen ist, um die frohe Botschaft zu bringen. Diese Botschaft lautete: Friede allen, die guten Willens sind. - Und das ist etwas, was wir alle

* Ansprache, gehalten anläßlich der Entgegennahme des Friedensnobelpreises am 11. Dezember 1979 in Oslo. übertragen aus dem Englischen von Elisabeth Schambeck, Wien. © Nobelstiftung 1980.

XIV

Mutter Teresa

brauchen - den Frieden des Herzens. Und Gott liebte die Welt so sehr, daß er seinen Sohn hingab, und er gab ihn der Jungfrau Maria. Und was tat sie mit ihm? Sobald er in ihr Leben gekommen war, eilte sie sofort, diese frohe Botschaft weiterzugeben. Und als sie in das Haus ihrer Base kam, das Kind - das ungeborene Kind - das Kind im Leib der Elisabeth, es hüpfte vor Freude. Es war dieses kleine, ungeborene Kind, das zum ersten Verkünder des Friedens wurde. Es erkannte den Friedensfürst, es erkannte, daß Christus gekommen war, um dir und mir die frohe Botschaft zu bringen. Und wie wenn das nicht genug gewesen wäre, - es war nicht genug, Mensch zu werden - er starb am Kreuz, um diese größere Liebe zu zeigen, und er starb für dich und für mich und für den Leprakranken und für den Mann, der verhungert, und das nackte Wesen, das auf der Straße liegt, nicht nur in Calcutta, sondern in Afrika und New York, und London, und Oslo, und verlangt, daß wir einander lieben, wie er jeden von uns liebt. Und wir lesen das im Evangelium sehr klar: liebt, wie ich euch geliebt habe - wie ich euch liebe, - wie der Vater mich geliebt hat, liebe ich euch -. Und weil ihn der Vater so geliebt hat, schenkte er ihn uns, und sosehr wir einander lieben, auch wir müssen uns einander schenken. Es genügt nicht, wenn wir sagen: Ich liebe Gott, aber ich liebe meinen Nachbarn nicht. Der Hl. Johannes sagt: Der ist ein Lügner, der sagt, er liebe Gott, liebt aber seinen Nachbarn nicht. Wie kann man Gott lieben, den man nicht sieht, wenn man seinen Nachbarn nicht liebt, den man sieht, den man berührt, mit dem man lebt. Und so ist es sehr wichtig für uns zu erkennen, daß Liebe, wenn sie echt sein soll, weh tun muß. Es schmerzt Jesus, uns zu lieben. Und um sicher zu sein, daß wir seine große Liebe nicht vergessen, verwandelte er sich in das Brot des Lebens, um unseren Hunger nach seiner Liebe zu stillen. Unseren Hunger nach Gott, denn wir wurden für diese Liebe geschaffen. Wir wurden erschaffen als sein Ebenbild. Wir wurden erschaffen, um zu lieben und geliebt zu werden. Und dann wurde er Mensch, damit es uns möglich wurde zu Heben, wie er uns geliebt hat. Er ist der Hungrige, der Nackte, der Obdachlose, der Kranke, der Gefangene, der Einsame, der Unerwünschte, und er sagt: ihr tatet es mir. Hungrig nach unserer Liebe. Und das ist der Hunger, den du und ich finden müssen; er kann sogar in unserem eigenen Hause sein. Ich werde es nie vergessen. Als ich einmal Gelegenheit hatte, ein Heim zu besuchen, wo Söhne und Töchter ihre alten Eltern hingegeben und vielleicht vergessen haben. Ich ging hin und ich sah, in diesem Heim hatten sie alles, schöne Dinge, aber jeder schaute zur Türe hin. Und ich sah nicht einen Einzigen mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Und ich wandte mich an die Schwester und fragte: Wie ist das? Wieso gibt es das, daß die Leute, die hier alles haben, alle zur Türe schauen, - warum lächeln

Durch Liebe zum Frieden

xv

sie nicht? Ich bin es so gewöhnt, bei unseren Menschen ein Lächeln zu sehen, sogar die Sterbenden lächeln, und sie sagte: Das ist fast jeden Tag so. Sie warten, sie hoffen, daß der Sohn oder die Tochter sie besuchen kommen. Es tut ihnen weh, daß man sie vergessen hat. - Und seht, da muß die Liebe kommen. Genau diese Armut kommt auch in unser eigenes Heim, durch das Fehlen der Liebe. Vielleicht ist in unserer Familie jemand, der sich einsam fühlt, der sich krank fühlt, der Sorgen hat, und das sind schwere Tage für jeden. Sind wir da, sind wir da und nehmen ihn an, ist die Mutter da, um das Kind anzunehmen? Ich war erstaunt, im Wohlstand soviele junge Menschen den Drogen verfallen zu sehen, und ich versuchte herauszufinden, warum - warum ist das so, - und die Antwort war: weil niemand in der Familie ist, der sie annimmt. Vater und Mutter sind zu beschäftigt, sie haben keine Zeit. Junge Eltern sind in irgend einer Institution, und das Kind geht zurück auf die Straße und kommt in Gefahr. Wir sprechen vom Frieden. Vieles bricht den Frieden, aber ich halte die Abtreibung für den größten Zerstörer des Friedens heute, denn sie ist direkter Krieg, direktes Töten, direkter Mord durch die Mutter selbst. Und wir lesen in der Hl. Schrift, denn Gott sagt es sehr klar: selbst wenn eine Mutter ihr Kind vergessen könnte - ich werde dich nicht vergessen - ich habe dich in meine Hand geschrieben. - Wir sind in Seine Hand geschrieben, Ihm so nahe, daß das ungeborene Kind in die Hand Gottes geschrieben ist. Und das ist es, was mich so besonders bewegt, der Anfang dieses Satzes, - selbst wenn eine Mutter vergessen könnte, - etwas was eigentlich unmöglich ist - aber, selbst wenn sie vergessen könnte, - ich werde dich nicht vergessen. Und heute haben wir die meisten Mittel, und der größte Zerstörer des Friedens ist die Abtreibung. Und wir, die wir hier stehen - unsere Eltern haben uns gewollt. Wir würden nicht hier sein, wenn unsere Eltern uns das angetan hätten. Unsere Kinder, wir wollen sie, wir lieben sie, - aber was ist mit den Millionen? Viele Menschen sind sehr beunruhigt wegen der Kinder in Indien, wegen der Kinder in Afrika, wo viele sterben, an Unterernährung, Hunger usw., aber Millionen sterben vorsätzlich durch den Willen der Mutter. Und das ist es, was den Frieden heute am meisten zerstört. Denn, wenn eine Mutter ihr eigenes Kind töten kann, was hindert mich, dich zu töten und dich, mich zu töten; da ist der Weg nicht mehr weit. Und darum bitte kh in Indien, bitte ich überall: vergessen wir nicht auf das Kind. Und dieses Jahr, das das Jahr des Kindes ist: was haben wir für das Kind getan? Zu Beginn des Jahres sagte ich: Bemühen wir uns in diesem Jahr, daß jedes einzelne Kind, geboren und ungeboren,

XVI

Mutter Teresa

gewollt ist. - Und nun ist dieses Jahr zu Ende. Haben wir die Kinder zu "gewollten" gemacht? Wir bekämpfen Abtreibung durch Adoption. Wir haben Tausende Leben gerettet, wir haben Nachrichten gesandt an alle Kliniken, an die Spitäler, Polizeistationen: bitte, tötet kein Kind, wir nehmen das Kind. - So, zu jeder Tages- und Nachtstunde gibt es immer jemanden, der zu den vielen 'l edigen Müttern, die wir haben, kommt und sagt: wir wollen für dich sorgen, wir wollen dein Kind aufnehmen, wir werden ein Zuhause für das Kind finden. Und wir haben eine große Nachfrage von Familien, die keine Kinder haben, das ist Gottes Segen auf uns. Und wir machen auch etwas anderes, das sehr schön ist - wir lernen unseren Bettlern, unseren Leprakranken, den Bewohnern unserer Elendsviertel, den Menschen der Straße, - natürliche Familienplanung. Und allein in Calcutta haben wir in sechs Jahren - nur in Calcutta - um 61 273 Babys weniger von den Familien, die sonst welche gehabt hätten, nur weil sie, aus Liebe zueinander, diesen natürlichen Weg der Enthaltsamkeit, der Selbstkontrolle, gehen. Wir lehren sie das Temperaturmessen, was sehr schön und sehr einfach ist, und unsere armen Menschen verstehen das. Und wissen Sie, was sie mir gesagt haben: Unsere Familie ist gesund, unsere Familie ist eine Gemeinschaft, wir können ein Baby haben, wann immer wir wollen. - So klar, diese Menschen auf der Straße, diese Armen, und ich glaube, wenn diese Menschen so handeln können, wie viel eher wir und all die anderen, die die Mittel und Wege kennen, ohne daß Leben zerstört wird, das Gott in uns geschaffen hat. Die armen Menschen sind wahrhaft große Menschen. Sie können uns so viel Gutes lehren. Vor einiger Zeit kam einer von ihnen, um für etwas zu danken und sagte: Ihr, die ihr die Keuschheit erwählt habt, könnt uns am besten die Familienplanung lernen. Denn sie ist nichts anderes als Selbstkontrolle aus gegenseitiger Liebe. - Ich glaube, das ist ein ganz wunderbarer Satz. Und das sagen Menschen, die vielleicht nichts zu essen haben, vielleicht keine Wohnung, wo sie leben können, aber sie sind große Menschen. Die Armen sind wunderbare Menschen. Eines Abends gingen wir hinaus und holten vier Menschen von der Straße herein. Einer von ihnen, eine Frau, war in einem ganz schrecklichen Zustand - und ich sagte zu den Schwestern: Ihr sorgt für die anderen Drei, ich kümmere mich um diese, die am ärgsten dran war. So tat ich für sie alles, was meine Liebe tun kann. Ich legte sie in ein Bett, und da erschien auf ihrem Gesicht ein so wunderbares Lächeln. Sie nahm meine Hand, sagte nur ein Wort: - Danke - und starb. Ich konnte nicht anders, ich mußte vor ihr mein Gewissen erforschen, und ich fragte mich, was ich an ihrer Stelle gesagt hätte. Und meine Ant-

Durch Liebe zum Frieden

XVII

wort war sehr einfach. Ich hätte versucht, ein bißchen Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, ich hätte gesagt, daß ich hungrig bin, daß ich sterbe, daß mir kalt ist, daß ich Schmerzen habe oder so ähnlich. Aber diese Frau gab mir viel mehr, - sie gab mir ihre dankbare Liebe. Und sie starb mit einem Lächeln auf ihrem Gesicht. Wie dieser Mann, den wir aus dem Rinnsal neben der Straße aufhoben, halb zerfressen von Würmern, und ins Heim brachten. "Ich habe gelebt wie ein Tier auf der Straße, aber ich werde sterben wie ein Engel, geliebt und umsorgt." Und es war so wunderbar, die Größe dieses Mannes zu sehen, der so sprechen konnte, der so sterben konnte, ohne jemanden zu beschuldigen, ohne jemanden zu verfluchen. - Wie ein Engel-, das ist die Größe unserer Menschen. Und deshalb glauben wir, was Jesus gesagt hat: Ich war hungrig - ich war nackt - ich war heimatlos - ich war ungewollt, ungeliebt, unbeachtet - und ihr tatet

es mir. Ich glaube, wir sind keine eigentlichen Sozialarbeiter. Wir leisten Sozialarbeit in den Augen der Menschen, aber wir sind eigentlich Kontemplative im Herzen der Welt. Wir berühren den Leib Christi 24 Stunden des Tages. Wir leben 24 Stunden in seiner Gegenwart sowie auch Sie, - Sie und ich.

Versuchen Sie, diese Gegenwart Gottes in Ihre Familie zu bringen, denn eine Familie, die zusammen betet, bleibt zusammen und hält zusammen. Und ich glaube, wir brauchen keine Gewehre und keine Bomben, um zu zerstören, damit Friede wird - kommt einfach zusammen, liebt einander, bringt einander diesen Frieden, diese Freude, diese Kraft eurer Gegenwart. Und es wird uns gelingen, all das Böse, das in der Welt ist, zu bezwingen. Es gibt soviel Leid, soviel Haß, soviel Elend, - beginnen wir in unserer Familie, mit unserem Gebet, mit unseren Opfern. Liebe beginnt in der Familie, und es kommt nicht darauf an, wieviel wir tun, sondern wieviel Liebe in unserem Tun ist. Es liegt bei Gott dem Allmächtigen - es ist nicht so wichtig, wieviel wir tun, denn Er ist ewig, sondern mit wieviel Liebe wir etwas tun. Wieviel wir Ihm tun, in der Person, der wir dienen. Vor einiger Zeit hatten wir in Calcutta große Schwierigkeiten, Zucker zu bekommen, und ich weiß nicht, wie diese Nachricht zu den Kindern gelangte. Ein kleiner Bub von vier Jahren, ein Hindubub, ging nach Hause und sagte zu seinen Eltern: Ich will drei Tage keinen Zucker essen, ich will meinen Zucker Mutter Teresa für ihre Kinder geben. Nach drei Tagen brachten ihn sein Vater und seine Mutter zu unserem Haus. Ich hatte sie vorher noch nie gesehen. Und dieser Kleine, der kaum meinen Namen aussprechen konnte, wußte genau, warum er gekommen war. Er wußte, daß er seine Liebe teilen wollte.

XVIII

Mutter Teresa

Und das ist es, warum ich von Ihnen allen soviel Liebe empfangen habe. Seit ich hier angekommen bin, bin ich nur von Liebe umgeben, von wirklich, wirklich verstehender Liebe. Ich fühle, daß jeder in Indien, jeder in Afrika, für Sie jemand ganz Besonderer ist. Und ich fühle mich ganz zu Hause. Ich fühle im Konvent mit den Schwestern wie in Calcutta mit meinen eigenen Schwestern. So vollständig bin ich hier zu Hause, gerade hier. Und so spreche ich hier mit Ihnen. Ich möchte, daß Sie die Armen hier finden, in Ihrem eigenen Haus zuerst. Und beginnen Sie dort mit der Liebe. Seien Sie die frohe Botschaft für Ihre eigenen Leute. Und fragen Sie nach Ihrem Nachbarn nebenan-wissen Sie, wer er ist? Ich hatte ein ganz besonderes Erlebnis mit einer Hindufamilie mit acht Kindern. Ein Herr kam zu unserem Haus und sagte: Mutter Teresa, da gibt es eine Familie mit acht Kindern, die haben schon so lange nichts zu essen - tun sie etwas. - So nahm ich etwas Reis und ging sofort hin. Und ich sah die Kinder - der Hunger glänzte in ihren Augen. Ich weiß nicht, ob sie jemals Hunger gesehen haben. Ich habe ihn oft gesehen. Und die Mutter nahm den Reis, sie teilte den Reis und sie ging hinaus. Als sie zurückkam, fragte ich sie: Wohin sind sie gegangen, was haben sie gemacht? - Und sie gab mir eine sehr einfache Antwort: Sie sind auch hungrig. - Und das fiel mir so auf, sie wußte und sie wußte auch, wer sie waren, eine Moslemfamilie, - sie wußte. Ich brachte an diesem Abend keinen Reis mehr, denn ich wollte, daß sie die Freude des Teilens, des Anteilnehmens erleben sollten. Und da waren diese Kinder, strahlend vor Freude; sie teilten die Freude ihrer Mutter, weil sie die Liebe hatte zu geben. Und sehen Sie, dort beginnt Liebe -

zu Hause.

Ich bin sehr dankbar für das, was ich hier empfangen habe. Es war für mich ein ungeheuer großes Erlebnis, und ich gehe zurück nach Indien und werde Ihre Liebe mitbringen können. Und ich weiß gut, daß Sie nicht aus Ihrem überfluß gegeben haben, sondern Sie haben gegeben, bis es Sie geschmerzt hat. So lassen Sie uns Gott danken, daß wir diese Möglichkeit hatten, uns kennenzulernen, und dieses Wissen voneinander hat uns einander sehr nahe gebracht. Und wir werden nicht nur den Kindern von Indien und Afrika helfen können, sondern auch den Kindern der ganzen Welt, denn, wie Sie wissen, gibt es unsere Schwestern in der ganzen Welt. Mit diesem Preis, den ich als Friedenspreis erhalten habe, werde ich versuchen, vielen Menschen ein Zuhause zu schaffen. Denn ich glaube, daß die Liebe zu Hause beginnt, und wenn wir ein Zuhause für die Armen schaffen können - wird sich die Liebe mehr und mehr ausbreiten. Und wir werden durch diese Liebe Frieden bringen können und

Durch Liebe zum Frieden

XIX

wir werden für die Armen die frohe Botschaft sein. Den Armen in unserer eigenen Familie, den Armen in unserem Land und in der Welt. Damit wir das vollbringen können, muß unser Leben mit Gebet erfüllt sein. Es muß von Christus erfüllt sein, damit wir verstehen können, damit wir Anteil nehmen können. Weil es heute soviel Leid gibt - ich glaube, daß die Passion Christi immer und überall wieder neu durchlebt wird - sind wir da, um diese Passion mitzuleiden, um die Leiden der Menschen mitzuleiden, in der ganzen Welt, nicht nur in den armen Ländern. Aber ich fand heraus, daß die Armut des Westens viel schwerer zu beseitigen ist. Wenn ich einen Menschen von der Straße auflese, hungrig, gebe ich ihm einen Teller Reis, ein Stück Brot. Er ist zufrieden. Ich habe ihn zufriedengestellt. Ich habe diesen Hunger beseitigt. Aber ein Mensch, der ausgeschlossen ist, der sich unerwünscht, ungeliebt, verfolgt fühlt - ein Mensch, der aus der Gesellschaft ausgestoßen wurde - diese Armut ist so schmerzlich und so groß, sie zu beseitigen ist viel schwieriger. Unsere Schwestern arbeiten auch mitten unter solchen Menschen im Westen. So müssen Sie alle für uns beten, damit wir die frohe Botschaft sein können. Wir können das aber nicht ohne Sie, Sie müssen auch hier in Ihrem Lande etwas tun. Sie müssen die Armen kennenlernen. Vielleicht haben die Menschen hier materielle Güter, alles, aber schauen wir in unser eigenes Zuhause. Wie schwer fällt es uns manchmal, uns zuzulächeln, wie schwer fällt es uns manchmal zu erkennen, daß das Lächeln der Anfang der Liebe ist. Und so wollen wir einander immer mit einem Lächeln begegnen, denn das Lächeln ist der Anfang der Liebe. Und wenn wir einmal begonnen haben, einander zu lieben, wollen wir natürlich auch etwas tun. Und so beten Sie für unsere Schwestern und für mich, für unsere Brüder und für unsere Mitarbeiter in der ganzen Welt. Daß wir unserer Aufgabe treu bleiben, Ihn zu lieben, Ihm in den Armen zu dienen. Was wir bis jetzt getan haben, war nur möglich, weil Sie uns mit ihren Gebeten und Gaben geholfen haben und helfen. Aber ich möchte nicht, daß Sie nur von Ihrem Überfluß geben, ich möchte, daß Sie geben, bis es Ihnen weh tut. Vor einiger Zeit bekam ich 15 Dollar von einem Mann, der seit zwanzig Jahren gelähmt ist. Das einzige, was er bewegen kann, ist seine rechte Hand. Das einzige, was ihm Freude macht, ist das Rauchen. Unc1 er sagte mir: Ich rauche seit einer Woche nicht und ich schicke ihnen dieses Geld. - Es muß für ihn ein schreckliches Opfer gewesen sein. aber schauen Sie, wie wunderbar, wie er teilte. Mit diesem Geld kaufte ich Brot und gab es denen, die hungrig sind. Und es war Freude auf beiden Seiten, bei ihm durch das Geben, bei den Armen durch das Empfangen.

xx

Mutter Teresa

Es ist ein Geschenk Gottes an uns, daß wir unsere Liebe mit anderen teilen können. Und laßt es sein, wie es für Jesus war. Laßt uns einander lieben, wie er uns geliebt hat. Laßt uns Ihn mit ungeteilter Liebe lieben. Und laßt die Freude, Ihn und einander zu lieben, in unseren Herzen bleiben und mit allen teilen, mit denen wir in Berührung kommen. Und diese ausstrahlende Freude ist eine reale, denn wir haben keinen Grund, nicht glücklich zu sein, denn Christus ist mit uns. Christus ist in unseren Herzen, Christus ist in den Armen, die wir treffen, Christus ist in dem Lächeln, das wir schenken und dem Lächeln, das wir empfangen. Nehmen wir uns vor: kein Kind soll ungewollt sein, und wir wollen einander immer mit einem Lächeln begegnen, besonders dann, wenn das Lächeln schwer wird. Ich werde es nie vergessen: vor einiger Zeit kamen vierzehn Professoren aus Amerika von verschiedenen Universitäten. Und sie kamen nach Calcutta und in unser Haus. Dann sprachen wir über ihren Besuch im Haus für die Sterbenden. Wir haben in Calcutta ein Haus für die Sterbenden, wo wir mehr als 36 000 Menschen nur aus den Straßen von Calcutta aufgelesen haben. Und aus dieser großen Zahl sind mehr als 18 000 einen schönen Tod gestorben. Sie sind einfach heimgegangen zu Gott. Und diese Professoren kamen in unser Haus, und wir sprachen von Liebe, von Mitleid, und dann bat mich einer von ihnen: "Mutter, bitte sagen sie uns etwas, was wir tun sollen." - Und ich sagte ihnen: "Lächelt euch zu, nehmt euch in eurer Familie Zeit füreinander." Und dann fragte mich ein anderer: "Sind sie verheiratet?" und ich sagte: "Ja, und ich finde es manchmal sehr schwer, Jesus anzulächeln, denn er kann manchmal sehr viel verlangen." Das ist wirklich so - und da kommt dann die Liebe, wenn es schwer wird, und wir können sie Ihm mit Freude schenken. Und ich sage es noch einmal, weil ich glaube, daß es wichtig ist. Unser Leben ist schön, weil Jesus mit uns ist und weil er uns liebt. Wenn wir uns darauf besinnen, daß Gott uns liebt, und wenn wir jede Gelegenheit ergreifen, andere zu lieben wie ER uns liebt, nicht in großen Dingen, sondern in kleinen Dingen, mit großer Liebe, dann wird Norwegen eine Quelle der Liebe werden. Und wie schön ist es, daß hier ein Zentrum des Friedens geschaffen wurde. Daß von hier die Lebensfreude der zukünftigen Kinder strömt. Wenn Sie ein brennendes Licht für den Frieden in der Welt werden, dann ist der Friedensnobelpreis wirklich ein Geschenk des norwegischen Volkes. Gott segne Sie!

I. Apostolat

CHRISTLICHE WELTVERANTWORTUNG IN EINER VERÄNDERTEN GESELLSCHAFTLICHEN SITUATION Von Paul Mikat Das Thema "Christliche Weltverantwortung in einer veränderten gesellschaftlichen Situation" kann in verschiedener Weise angegangen und behandelt werden: 1. Im Mittelpunkt der Überlegungen kann die Frage nach Begründung

und Inhalt christlicher Weltverantwortung stehen; diese wäre dann vom Subjekt her (- nämlich von dem oder den Christen -) und auf das Objekt hin (- nämlich auf "die Welt" -) zu untersuchen. Dabei käme es dann vor allem darauf an, die Frage nach der christlichen Sicht der Welt zu stellen sowie danach zu fragen, in welchen theologischen Sinnhorizont die Forderung nach christlicher Weltverantwortung einzubeziehen ist.

2. Im Mittelpunkt der Darlegungen kann aber auch die Frage nach den gesellschaftlichen, politischen und rechtlichen Bedingungen für die Aktualisierung christlicher Weltverantwortung in der konkreten geschichtlichen Situation stehen. Dabei ist vornehmlich nach dem Verhältnis von Staat und Gesellschaft zu fragen, nach den Spannungs- und Konfliktfeldern, für die ausgleichende Entspannungslösungen gefunden werden müssen, und die, jedenfalls seitens der Christen, in christlicher Weltverantwortung durchzustehen und zu bewältigen sind. Die hier aufgezeigten thematischen Alternativen akzentuieren jeweils das Element der Zeitbezogenheit, also die Bedeutung der Veränderung des gesellschaftlichen und staatlichen Gefüges 'in unserer Gegenwart. Es liegt nahe, daß der Jurist (- und auch der Politiker -) mehr der zweiten Alternative zuneigt und seine Darlegungen auf die gesellschaftlichen, politischen und rechtlichen Bedingungen für die Aktualisierung individueller und korporativer christlicher Weltverantwortung konzentriert. Im folgenden soll dabei "Welt" begrifflich als "Gesamtheit von Staat und Gesellschaft", und "Christen" sowohl im individuellen Sinn als l'

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auch als gesellschaftlicher Sektor des gesellschaftlich-politischen Gesamtsystems (z. B. auch als organisierte Kirchlichkeit) verstanden werden. Nicht dem Inhalt, der Begründung und der Bedeutung christlicher Weltverantwortung, nicht den für die Stellung der Kirche und der Christen in und zur Welt entscheidenden theologischen Kategorien wenden wir uns zu, sondern den "Bedingungen dieser Welt", und somit zielen unsere Ausführungen auf die "weltliche Seite" der umfassenden Thematik. Aus diesem Grunde aber seien einige Vorbemerkungen gestattet, für deren nähere Erläuterung hier nicht der Ort ist, die lediglich deutlich machen sollen, daß auch wir die in unserem Beitrag angesprochenen Probleme nicht für die aus christlicher Sicht zentralen Fragestellungen halten. 1. Der von uns oben skizzierte Ansatz für unsere Ausführungen darf nicht als Indifferenz oder gar Abwertung der durch die Glaubensentscheidung bedingten und von ihr begründeten christlichen Weltverantwortung mißdeutet werden. Für uns ist es außer Frage, daß es eine vom Glauben her gebotene Verpflichtung zur Mitgestaltung dieser Welt, die Gottes Schöpfung ist, gibt, und es gibt sie auch und gerade in einer pluralistischen Gesellschaft. Aber wir meinen, daß in einer 'Zeit, in der innerhalb der Kirchen Tendenzen zu verzeichnen sind, die einzig das gesellschaftliche Engagement der Kirche und der Christen als eigentlichen christlichen Auftrag begreifen, nicht deutlich genug betont werden kann, daß die Kirche dieser Welt auch ihre Verkündigung schuldet, also die Botschaft von Tod und Auferstehung ihres Herrn und daß christliche Weltverantwortung nur insofern "christlich" ist, als sie darum weiß, wie andererseits aber auch der Weltdienst der Kirche und der Christen unaufgebbar ist. Es gibt ein unaustauschbares und unaufgebbares "Proprium" der Kirche, das sie unverkürzt zur Geltung zu bringen hat; sie kann und darf Verkündigung, Kult und Weltdienst nicht trennen, diese gehören zusammen und bedingen einander. Die Beachtung dieses Prinzips wird allerdings, wie wir glauben, die eigentliche Stärke bei der Wahrnehmung christlicher Weltverantwortung sein. Je geistlicher, je gläubiger und auch dem Kult wieder verpflichteter die Kirche wird, aber auch wie sachgerechter und engagierter sie in der Gesellschaft wirkt, je unverwechselbarer sie wieder Kirche wird, desto stärker wird sie in ihrem "Weltdienst" sein. Der spirituelle Verlust bedingt den Verlust an christlicher Präsenz in der Gesellschaft, er reiht die Kirche ein in eine von vielen gesellschaftlichen Gruppen, in denen der Glaube zur Disposition steht, wie denn auch andererseits Mangel an Sachgerechtigkeit oder Beschränkung auf ein Engagement nur im inner kirchlichen Bereich ebenfalls christliche

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Weltverantwortung und christliche Präsenz in der Gesellschaft schwächt. Weltverantwortung und Weltdienst der Christen sind nach unserer überzeugung ohne ihre geistliche Fundierung, und das heißt ohne ihre christologische Verortung zur Ohnmacht verurteilt. 2. Es ist heute schon nahezu eine Binsenwahrheit, daß die Normalsituation der Kirche und der Christen in der Welt von heute die Situation der Diaspora ist. Damit hängt auch zusammen, daß in der Auseinandersetzung um die konkrete Gestaltung der Ordnung von Staat und Gesellschaft Konfliktfelder zwischen "Christen" und "Welt" wieder stärker erkennbar werden. Christen sind Bürger sowohl der gesellschaftlich-staatlichen wie der kirchlichen Welt, sie sind und bleiben diejenigen, deren "eigentliches Staatswesen", wie es in Phil. 3, 20 heißt, "im Himmel ist". Beiden Bürgergemeinschaften können unterschiedliche Wertordnungen zugrundeliegen, deren jeweils aktuelle Verwirklichung zu Zielkonflikten führen kann. 3. Der Konflikt ist in der Geschichte in unterschiedlichen Formen ausgetragen und entschieden worden. Daß die Christen und die Kirche - unbeschadet der Möglichkeit des Konflikts - eine verantwortliche Mitgestaltungsverpflichtung haben, ja daß es zur verantwortlichen Mitgestaltungspflicht gehören kann, Konflikte mit entgegenstehenden säkularen Kräften auszutragen und durchzustehen, ist Folge der vorausgesetzten Glaubensentscheidung und eines genuin christlichen W el tverständnisses. 4. In verschiedenen historischen Phasen hat das Bestreben, die christ... liche Weltverantwortung gesellschaftlich und politisch wahrzunehmen, unterschiedliche Verwirklichung erfahren. Unterordnung unter die weltliche Potestas, Identifikation von Kirche und Staat in einem institutionalisierten überpersonalen Ordosystem oder auch antagonistische Konkurrenz haben die wechselvolle Geschichte geprägt. An die Stelle geschichtlich überholter Verhaltensweisen muß heute die freie, partnerschaftliche Mitwirkung im Gesamtgefüge von Staat und Gesellschaft treten, das entscheidend von den Strukturgesetzen eines industriegesellschaftlichen Kooperationsprozesses bestimmt wird. 5. Weite Kreise - auch der Kirche und dem Christentum fernstehende - sowohl in unserem Staat wie in anderen Staaten fordern heute geradezu von den Christen eine aktive verantwortliche Mitwirkung bei der Verwirklichung innerstaatlicher und internationaler sozialer Gerechtigkeit, bei der Sicherung des Friedens in der Welt, bei der Grundlegung menschlichen Zusammenlebens und bei der Verwirklichung von Würde und Freiheit des Menschen. Die Christen und die

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Paul Mikat Kirche postulieren somit nicht nur für sich einen Öffentlichkeitsauftrag, sondern dieser wird ihnen - wenigstens im freiheitlich demokratischen Rechstaat - auch von der Öffentlichkeit zugesprochen. Das ist sicherlich zu begrüßen, darf jedoch ebenfalls nicht dazu verleiten, das "christliche Proprium" zu verkürzen. Bei der Wahrnehmung ihres Auftrags muß die Kirche damit rechnen, daß sie "Ärgernis" und "Torheit" zugleich ist und bleibt, aber nicht zuletzt ist die Tatsache, ob sie Ärgernis und Torheit in der Welt ist, Kriterium dafür, ob Kirche und Christen ihren Welt auftrag als christlichen Weltauftrag wahrnehmen. Allgemeiner Beifall ist für Kirche und Christen kein Maßstab, eher Anlaß zur Frage, ob und wie sie ihren Herrn vor der Welt bezeugen.

I. Wenn in unserem Thema die "veränderte gesellschaftliche Situation" angesprochen wird, so könnte es naheliegen, zunächst einen ausführlichen historischen Aufriß zu geben. Doch es mag der Hinweis genügen, daß christliche Weltverantwortung von der christlichen Frühzeit an bis in unsere Gegenwart hinein stets eingebettet war in die spannungsvolle Dialektik des Verhältnisses von Kirche und Staat, eingebettet in eine wechselvolle, nicht selten durch Machtpolitik und Gewaltanwendung bestimmte Geschichte. Bis in die Neuzeit hinein, bis zur Säkularisierung des modernen Staates war christliche Weltverantwortung eingebunden in eine soziotranszendente Ordoidee, lag ihr die Vorstellung zugrunde, Staat und Gesellschaft nach vorgegebenen christlichen Prinzipien gestalten zu können. Die Entwicklung des politischen Gemeinwesens zum freiheitlich-demokratischen Verfassungs staat, die Anerkennung von Grundrechten und hier insbesondere eine ausgreifende Garantie der Religionsfreiheit, haben der christlichen Weltverantwortung neue Dimensionen eröffnet. In der Bundesrepublik werden Möglichkeiten und Grenzen christlicher Weltverantwortung heute entscheidend bestimmt durch ein neues Verständnis von Staat und Gesellschaft, das (- und das wollen wir ausdrücklich anmerken -) noch in vielfacher Hinsicht der verfassungstheoretischen Durchdringung und Präzisierung bedarf, und das trotz seiner Bedeutung für die gegenwärtige politische Praxis angesichts totalitärer ideologischer Tendenzen nicht als gesichert und unbestritten für die Zukunft angesehen werden kann. 1. Die heutige Erscheinung des demokratischen Staates mit den ihn gestaltenden Kräften läßt sich nicht allein in rechtlichen Kategorien darstellen. Wenn Georg Jellinek noch eine soziologische und eine ju-

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ristische Seite des Staates unterscheiden konnte, so ist heute die Staatssoziologie und politische Soziologie infolge der Eigengesetzlichkeit der sozialen Wirklichkeit so eng mit der normativen Ordnung verknüpft, daß die Sozialstruktur, soweit sie in innerem Zusammenhang mit der Rechtsordnung steht, nicht mehr aus der Ontologie des Staates fortgedacht werden kann. In ihrer Auswirkung auf den Staat wird die Sozialstruktur vornehmlich durch die Gesellschaft geprägt, wobei wir im folgenden unter Gesellschaft die Gesamtheit der Menschen in ihren familiären, sozialen, kulturellen und weltanschaulichen Bindungen und Verbindungen innerhalb eines Gesellschafts- und Kulturbereiches verstehen. In dem Maße, in dem sich Staat und Gesellschaft gegenseitig durchdringen, vermag die Gesellschaftsordnung die staatliche Ordnung zu bestätigen und wegen ihrer übereinstimmenden Geltung zu stärken oder aber auch durch entgegenwirkende Kräfte zu schwächen. a) Das deutsche Staatsdenken war lange durch die Antinomie von Staat und Gesellschaft beherrscht, die heute noch zum Teil nachwirkt. Geistesgeschichtlich geht der Begriff der Gesellschaft als bürgerliche Gesellschaft auf Hegels Auffassung des Spannungsverhältnisses von Staat und Gesellschaft zurück. Für Hegel ist die Gesellschaft ein "System der Bedürfnisse", während der Staat das auf dem vernünftigen Willen einer Allgemeinheit beruhende Gemeinwesen ist, das die "Wirklichkeit der sittlichen Ideen" verkörpert. In der Gesellschaft wird für Hegel die Ganzheit des Menschseins verwirklicht, aber auch zugleich entzweit, da sie auf die Verwirklichung der Bedürfnisse durch Arbeit beschränkt ist; für Hegel ist also ebenso wie für Adam Smith die Gesellschaft wesentlich "Arbeitsgesellschaft". Auf diese Weise geriet der Begriff der Gesellschaft in der Folge der deutschen idealistischen Staatsauffassung, die in ihren verschiedenen Ausformungen den Staat prinzipiell immer als sittliche Notwendigkeit rechtfertigte, ganz in den Bereich der materiellen Daseinsbefriedigung des Menschen, dem er noch heute vielfach zugeordnet wird und damit als Ausdruck des "Materiellen" und "Profanen" dem "Ideellen" und "Religiösen" in Staat und Kirche gegenübergestellt wird. b) Zu einem positiveren, wenn auch noch stärker vom Staat geschiedenen Verständnis der Gesellschaft führte die ältere liberalistische Staatsauffassung. Sie verstand unter "Gesellschaft" einen politischen Begriff im Zuge der politischen Emanzipation des Bürgertums. Das Bürgertum wandte sich damals unter dem Einfluß der Aufklärung und der französischen Revolution gegen den Staat, der auf Grund der bis zum Ende des alten Reiches noch lebendigen Patrimonialtheorie mit der ständisch-feudalen Ordnung gleichgesetzt wurde. Jetzt berief man

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sich auf das "natürliche Recht" zur Entfaltung der Person und forderte eine gleichberechtigte Beteiligung an der politischen Willensbildung. Der Begriff der bürgerlichen Gesellschaft hatte damit eine politische, gegen den Staat gerichtete Bedeutung bekommen. Wichtig war der liberalistischen Gesellschaftsauffassung die Begrenzung der staatlichen Gewalt auf bestimmte Staatszwecke, die der Gesellschaft einen staatsfreien Raum schuf, in dem die ungehinderte und volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit erwartet wurde. War der Staat auf den Schutz von Eigentum, Leben und Freiheit oder - wie es unter der Nachwirkung von Kant auch gesehen wurde - auf die Wahrung der Rechtsordnung beschränkt, so durfte er Aufgaben der Wohlfahrtspflege oder Kulturpflege grundsätzlich nicht übernehmen. Wissenschaft und Kunst, Wirtschaft und Wohlfahrt waren Angelegenheiten der Gesellschaft, in der das Bürgertum des 19. Jahrhunderts eindrucksvolle Leistungen erbracht hat. c) Der Gegensatz von Staat und Gesellschaft wirkt schließlich in der positivistischen Auffassung vom Staat bis in die Gegenwart fort. Sie sieht im Anschluß an die organische Staatstheorie den Staat als Persönlichkeit mit eigener WiIlensmacht an, die dem Staatsbürger mit überlegener Machtfülle als Staatsgewalt gegenübertritt. Das Wesen der Staatsgewalt liegt im Herrschen, genauer: im Beherrschen; der Staat existiert im Befehl. Das Verhältnis des Einzelnen zum Staat drückt sich in der Unterwerfung unter die Staatsgewalt aus und erschöpft sich hierin: Es ist das von sittlich-ethischen Inhalten freie "allgemeine GewaltverhäItnis", das den Einzelnen mit Willens- - und was hierbei das gleiche ist - mit Rechtsrnacht verpflichtet, soweit nicht Grundrechte und Gesetze als Selbstbindung des Staates dem Einzelnen einen staatsfreien Raum gewähren. Da die Staatsgewalt hiernach hoheitlichE Verwaltung ist, die durch das Merkmal des Eingriffs in Freiheit und Eigentum bestimmt ist, erscheint der Staat zwangsläufig als ein Machtapparat, der durch Bürokratie und Militär verkörpert wird. Dem geschlossenen Herrschaftsbereich der staatlichen Gewalt setzt der Positivismus den privaten Bereich der Gesellschaft gegenüber. In ihm gibt es im Rechtssinn keine Herrschaft, sondern nur den staatsfreien und, soweit es sich um die gesellschaftlichen Bindungen handelt, den auf dem Boden der Gleichordnung, also privatrechtlich geregelten Lebensbereich. Der gesellschaftliche Raum ist autonom und gestattet weder eine staatliche Leitung noch Ordnung. Gegenständlich gehörten zu ihm alle Bereiche menschlichen Lebens, die für eine hoheitliche Regelung durch den Staat nicht in Betracht kamen. Auf diese Weise wird die einheitliche Lebensordnung des Staates nach ihrem Gegenstand und in ihrer Rechtsform in zwei geson-

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derte Bereiche, nämlich den hoheitlichen Bereich staatlicher Verwaltung und den privatrechtlichen Bereich nichtstaatlicher Tätigkeit, geschieden, wobei im staatlichen Bereich der Zwang, im privatrechtlichen Bereich die Freiheit herrscht. Diese positivistische Auffassung, die durch ihre abstrakte Begrifflichkeit für den Juristen immer wieder bestechend ist, wirkt, wenngleich in mannigfachen Modifikationen, bis heute im deutschen Staatsund Verwaltungsrecht fort. Auf sie geht es vor allem zurück, wenn der Staat in Deutschland zum Teil noch immer vielfach mit dem Beamtenapparat, in dem sich die staatliche Herrschaftsgewalt sichtbar verkörpert, gleichgesetzt wird. Wenngleich seit dem 1. Weltkrieg soziologische und politische Vorstellungen in der Staatslehre zunehmend Beachtung finden, gibt es doch erst seit einigen Jahren staatstheoretische Konzeptionen, die Staat und Gesellschaft - letztere in ihrer heutigen Erscheinung - als pluralistische Gesellschaft in der gegenseitigen Bedingtheit begreifen. Vielfach hat es den Anschein, als ob Staat und Gesellschaft noch immer beziehungslos nebeneinander oder gar gegeneinander stehen. 2. In der Staatswirklichkeit haben sich auf Grund der Ordnungsvorstellungen des Grundgesetzes und der soziologischen Wirklichkeit Staat und Gesellschaft längst auf vielfache Weise durchdrungen und sind voneinander abhängig geworden. Die politische und soziale Entwicklung zwingen zu der Erkenntnis, daß in einem System isolierter hoheitlicher Verwaltung der Staat nicht mehr funktionsfähig und die Gesellschaft nicht lebensfähig ist. Die Gesellschaft ist auf Grund der hochentwickelten Form der menschlichen Lebensvorgänge im wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bereich überhaupt nicht mehr imstande, ihre Aufgaben ohne staatliche Hilfe zu erfüllen. Die Wirtschaft konnte nach 1945 nur durch weitgehende staatliche Interventionen mit einem komplizierten System von Sonderabgaben und Subventionen, von Ordnungs- und Lenkungsmaßnahmen wieder aufgebaut werden und ist auch jetzt und künftig zur Aufrechterhaltung eines stabilen und sozial gerechten Wirtschaftssystems auf staatliche Interventionen und Subventionen angewiesen. Für den Bereich der sozialen Ordnung hat das Grundgesetz den Schutz und die Förderung des sozialen Lebens ausdrücklich als staatliche Aufgabe anerkannt. Die Sozialstaat-Klausel des Art. 20 GG bestätigt, daß der früher freie "gesellschaftliche Raum" nicht mehr als aus sich heraus existenzfähig angenommen wird, sondern bei den sehr differenzierten wirtschaftlichen und technischen Lebensvorgängen das Funktionieren und die Freiheit des sozialen Bereichs nur mit staatlicher Hilfe gewährleistet werden kann. Auch hier ist das Wirken des Staates zur Voraus-

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setzung der Existenz der Gesellschaft geworden. So haben z. B. das Ende der Familienausgleichskasse und der Übergang ihrer Aufgaben auf die staatliche Arbeitsverwaltung vor Jahren schon gezeigt, wie sehr es den Sozialpartnern an der Möglichkeit fehlt, ihren Bereich ohne staatliche Hilfe zu ordnen. Sogar im Rahmen des Tarifvertragssystems, das als echter Anwendungsfall autonomer Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens angesehen werden kann, wird der Staat durch die Schlichtungsverhandlungen beim Scheitern der Tarifpartner an der Selbstgestaltung des gesellschaftlichen Bereichs beteiligt. Für den Bestand der Kultur als geistige Lebensform der staatlichen Gemeinschaft wäre es ihr Ende, zumindest das Ende ihrer Freiheit, wenn der Staat sie sich selbst überließe. Statuiert das Grundgesetz auch keinen besonderen Auftrag des Staates auf dem Gebiet der Kültur, betont es vielmehr in einer Art spätliberalistischen Freiheitsdenkens nur die Freiheit von Wissenschaft und Kunst, so ist es doch heute ganz unbestritten eine der wichtigsten Aufgaben des Staates, die Kultur als gemeinsames Gut des Volkes zu pflegen und zu fördern. Im Menschen ist der Wille zur Kultur angelegt, die ihm zur Entfaltung seiner Persönlichkeit und zum Bewußtwerden seiner geistigen Existenz verhilft. Im Schaffen wie im Aufnehmen von Wissenschaft, Bildung und Kunst verwirklicht sich der Mensch als geistiges Wesen. Es gehört daher zur Entfaltung der freien Persönlichkeit (vgl. Art. 2 GG), wenn der Staat die Kultur schützt und fördert. Ernst Rudolf Huber hat in seiner Wilhelmshavener Antrittsvorlesung 1957 zutreffend darauf hingewiesen, daß eine freie Kultur keine sich selbst überlassene Kultur sein könne. Die Verantwortung des Staates für die Kultur verlangt, daß er sie vor jeder Beeinflussung sachfremder geistiger oder wirtschaftlicher Art zu schützen und sie zugleich im Interesse der geistigen, aber auch der wirtschaftlichen Existenz des Volkes zu fördern hat. Die kulturpolitische Verantwortung des Staates führt ihn aber wiederum in immer weitere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens: War es im vorigen Jahrhundert zunächst nur das Schulwesen, das der Staat den gesellschaftlichen Kräften, vornehmlich der Kirche abnahm, so ist dem Staat seit dem Ersten Weltkrieg weitgehend die Förderung der Forschung, auch unabhängig von der Unterhaltung der Universitäten, und die Förderung der Kunst zugefallen. Die kulturpolitischen Aufgaben des Staates sind weitgehend an die Stelle der freien gesellschaftlichen Initiative getreten. Bei dieser weitgehenden staatlichen Durchdringung der früher von staatlichem Einfluß freigehaltenen menschlichen Bereiche kann die Gefahr einer Verstaatlichung des gesellschaftlichen Lebens nicht verkannt werden. Das Vordringen des Staates darf daher nicht ohne staat-

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liche Selbstbeschränkung zum Schutze der vorhandenen gesellschaftlichen Kräfte, aber auch nicht ohne Beschränkung der gesellschaftlichen Sonderinteressen geschehen. Die Gefahr des Sozialstaates liegt darin, daß die menschlichen und gemeinschaftlichen Kräfte gelähmt werden können, daß die Entscheidungsfreiheit und Verantwortungsbereitschaft des Einzelnen und der Gemeinschaft unter staatlichem Dirigismus absterben können, wohlgemerkt: "können", nicht jedoch zwangsläufig "müssen". Eine solche Auswirkung der staatlichen Tätigkeit wäre mit dem Gebot der Wahrung der Menschenwürde (Art. 1 GG) letztlich unvereinbar. Der Grundentscheidung des Staates für eine freiheitliche Demokratie entspricht die Vorstellung vom verantwortlichen Staatsbürger, dem der Staat die Freiheit gibt, sich entsprechend seinen Anlagen und seinen gesellschaftlichen Bindungen zu entfalten. Im vielzitierten Begriff vom "mündigen Bürger" liegt allerdings nicht nur die Abkehr von jeder Form obrigkeitsstaatlichen Denkens, sondern ebenso auch die Verantwortung des freien Bürgers für Staat und Gesellschaft beschlossen. Und so sehr es um den Schutz der menschlichen Freiheit vor immer möglichen Übergriffen staatlicher Gewalt geht, so sehr geht es aber auch um den Schutz des Staates vor unberechtigten Ansprüchen der gesellschaftlichen Sonderinteressen. Hieran wird der Wandel des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft weiterhin deutlich. Staat und Gesellschaft sind nur lebensfähig, wenn der mündige Bürger zugleich ein verantwortlicher Bürger ist, und das gleiche gilt für das Verhältnis von Staat und Gesellschaft: Die Gesellschaft ist im Verhältnis zum Staat nicht nur eine freie, sondern auch eine verantwortliche Gesellschaft. Daher ist auch die Beteiligung der in den sogenannten Verbänden verkörperten gesellschaftlichen Kräfte an der staatlichen Willensbildung nicht nur ein Recht, sondern zugleich eine an dem Gemeinwohl ausgerichtete Pflicht. Es ist ein ungeschriebener, teilweise auch geschriebener Grundsatz, daß Regierung und Parlament bei der Vorbereitung von Vorschriften für bestimmte Lebensbereiche die Verbände, die diesen Bereich repräsentieren, vorher hören. Da die staatlichen Organe hierbei die volle Handlungsfreiheit behalten, liegt die gelegentlich beklagte Beschränkung der staatlichen Autorität durch die Verbände jedenfalls nicht in dieser Anhörung. Sie ist vielmehr richtig gehandhabt - eine durchaus wertvolle Hilfe für die staatlichen Organe zur Gewinnung des notwendigen Sachwissens. Bedenklicher wird die Einwirkung der organisierten gesellschaftlichen Kräfte auf die staatlichen Organe, wenn sie auf die staatliche Entscheidung Einfluß zu nehmen suchen. Auch dies wird man indes nicht als schlechthin unzulässig ansehen können, denn wenn sich die staatliche Ordnungs-

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funktion heute grundsätzlich auf die Gesamtheit der gesellschaftlichen Lebensbeziehungen erstreckt, so verlangt die oft unmögliche Unvereinbarkeit aller gesellschaftlichen Interessen eine Entscheidung, die nur noch politisch getroffen werden kann. Die Besinnung auf die Bedeutung des Politischen in der Staatslehre hat ihm eine ziemlich übereinstimmende Bedeutung in der Theorie der staatlichen Ordnung zugewiesen. Ulrich Scheuner warnt mit Recht vor der Annahme, daß in der heutigen Staats ordnung technische Sachnotwendigkeiten politische Entscheidungen ersetzen könnten. Je mehr der Staat dem Einzelnen die Sorge und Verantwortung für seinen Lebensbereich abnimmt, desto feinmaschiger wird das Netz der Interessen, in dem sich die staatliche Verwaltung, aber auch der Gesetzgeber, bei ihren Maßnahmen bewegen. Nach dem Bundesverfassungsgericht ist es verfassungsrechtlich an sich nicht zu beanstanden, daß Interessentengruppen auf die Mitglieder des Parlaments Einfluß nehmen. Erheben sie den Anspruch auf Beteiligung bei der staatlichen Willens bildung, so muß allerdings von ihnen auch verlangt werden, daß sie die Gesetzmäßigkeit staatlichen Handeins berücksichtigen und ihr Gruppeninteresse dem Gemeinwohl unterordnen. Absolute Grenze ist der Druck oder Zwang auf staatliche Organe, wie er etwa mit dem politischen Streik ausgeübt wird. Daß in dem staatlichen Meinungsbildungsprozeß die Homogenität der einzelnen gesellschaftlichen Gruppen eine nicht unbeträchtliche Rolle spielt, bedarf sicherlich keiner näheren Begründung. Auch die Kirche wird darauf zu achten haben, im Gesamt der pluralistischen Gesellschaft ihre eigene Homogenität zu wahren. Unter diesem Gesichtspunkt gewinnt auch der ökumenische Gedanke (- unbeschadet seiner schwierigen theologischen Implikationen -) besondere gesellschaftsrelevante Gewichtigkeit. Stärkung der ökumenischen Bemühungen, Zusammenarbeit und (- wo immer es möglich ist -) übereinstimmende Aussagen der christlichen Kirchen gehören zur christlichen Weltverantwortung und sind unerläßlich für die christliche Präsenz in der Gesellschaft. 3. Mit dieser Hinwendung des Staates zur Gesellschaft und umgekehrt haben sich beide Bereiche im demokratischen Staatswesen so durchdrungen, daß von einem echten Dualismus nicht mehr die Rede sein kann. Verzichtet man auf eine Verabsolutierung des Staatszwecks als Selbstverwirklichung des Staates und sieht seine Rechtfertigung und seinen Sinn in der Ordnung der menschlichen Gesellschaft zur Verwirklichung des Gemeinwohls, so hat der Staat der Gesellschaft gegenüber eine dienende Funktion, die ihn nicht der Autorität entkleidet, sondern seiner Autorität eine neue Sinnfülle gibt. So wie im Bereich der politischen Willensbildung die moderne Demokratie nicht auf einem Rousseau'schen Gemeinwillen beruht, der den

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Mehrheitswillen absolut setzt, sondern alle politischen überzeugungen und Interessen grundsätzlich als gleichwertig anerkannt werden, so gelten in der heutigen Demokratie auch alle gesellschaftlichen Kräfte prinzipiell als gleichrangig. Der Staat gibt ihnen den Raum zur Entfaltung frei und beschränkt sich weitgehend darauf, die Gruppeninteressen zur Wahrung des Gemeinwohls in eine einheitliche - vom Gesamtund nicht vom Einzelinteresse bestimmte - Willensbildung einzubeziehen. Er übt die Autorität, ohne die eine menschliche Gemeinschaft nicht bestehen kann, im Interesse der Gesellschaft aus, jedoch nur in dem zur Wahrung des Gemeinwohls notwendigen Umfang. Nicht durch Herrschaft über die Gesellschaft, sondern durch Ordnung, durch Ausgleich und Zusammenführung der auseinanderstrebenden gesellschaftlichen Kräfte mit der allerdings unverzichtbaren Möglichkeit auf letztverbindliche Entscheidung wird heute das Verhältnis des Staates gegenüber der Gesellschaft gekennzeichnet. Der Staat muß den Pluralismus der gesellschaftlichen Kräfte und Werte anerkennen. Er darf für seine staatlichen Entscheidungen Wertvorstellungen der stärksten Gruppe nicht einfach als absolut gültig übernehmen oder zugrunde legen, vielmehr hat er sie grundsätzlich auf das Maß zurückzuführen, das auch für andere Gruppen annehmbar ist und damit den allgemeinen Wertvorstellungen der Gesellschaft entspricht. Eine solche für den demokratischen Rechtsstaat unabdingbare Haltung fordert auch von den starken gesellschaftlichen Kräften die stete Bereitschaft zum Ausgleich und zum Verzicht auf die Durchsetzung ihrer für idealtypisch gehaltenen Vorstellungen. Auch diejenige politische Partei, die in einem Parlament über die absolute Mehrheit verfügt, ist verpflichtet, die Vorstellungen der politischen Minderheit nicht nur bei den Beratungen eines Gesetzes zu berücksichtigen und zu erwägen, sondern immer auch darum bemüht zu sein, möglichst viel von diesen Vorstellungen mit ihren Vorstellungen zu einem tragfähigen und verantwortbaren Komprorniß zu vereinen. Die Vorstellung, daß die Kirche die Welt noch nach einem vorgefaßten, zeitlosen Ordnungsbild gestalten könne, ist nicht mehr zeitgemäß. Die Welt der Gegenwart ist weder geistig noch politisch das mittelalterliche Corpus Christianum, sondern das offene Feld für alle geistigen und politischen Kräfte, die sich nach einer der Herrschaft der Kirche entzogenen Eigengesetzlichkeit entfalten. Die Kirche muß die Säkularisation, in die sie hineingestellt ist, sehen und sich mit ihren Aufgaben und Gestaltungsformen darauf einrichten. Zutreffend weist AZfons Auer darauf hin, daß das Ereignis der Säkularisierung ein so intensiver, von klaren Tendenzen geleiteter und wenigstens dem Großteil der in unserem Raum lebenden Menschen bewußt gewordener Prozeß ist, daß man ihn sicherlich zu den "Zeichen der Zeit" rechnen

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kann und muß. Selbst in Ländern mit einer konfessionell homogenen Bevölkerung stehen die Menschen der Kirche nicht mehr nur als Glieder von Kirche und Staat gegenüber, sondern als Personen, die neben dieser Gliedschaft in eine Vielzahl von politischen, wirtschaftlichen, geistigen Bindungen und Verbindungen hineingestellt sind. Vermag in den sogenannten katholischen Ländern die gemeinsame Glaubenshaltung noch einen Einfluß auf die Gesamthaltung der Gesellschaft und des Staates auszuüben, so entfällt diese Möglichkeit in den konfessionell gemischten Ländern, in denen die Gesellschaft sich aus Gruppen verschiedener Konfessionen und Weltanschauungen zusammensetzt, und der demokratische Staat zur Wahrung der Freiheit seiner Bürger sich nur konfessionell und weltanschaulich neutral verhalten darf. Hier hat sie in brüderlicher, offener und gleichberechtigter Partnerschaft mit den verschiedensten Gemeinschaften zusammenzuleben, mit Gläubigen und Nichtgläubigen, mit Christen und Nichtchristen. Negiert die Kirche diese Vielfalt der Kräfte mit ihrem jeweils eigenen materiellen oder ideellen Verständnis und beansprucht sie, daß ihre sittlichen Maßstäbe ohne Rücksicht auf entgegenstehende Auffassungen absolut gelten, so wird sie unglaubwürdig. Für eine innerweltliche Herrschaft über alle Sach- und Gewissensfragen hat die Kirche keine Vollmacht. Sie kann vielmehr ihre Auffassungen und Forderungen nur nach den Gesetzen der Gesellschaft in freier Auseinandersetzung mit den anderen Kräften des gesellschaftlichen Lebens geltend machen, darf aber darauf vertrauen, daß das aus christlicher Sicht gebotene Verhalten, das ja nicht der Vernunft und den sachgerechten Notwendigkeiten widerspricht, als gleiche Möglichkeit auch im Nichtchristen lebt und die christliche Forderung vielfach als "allgemein-vernünftig" erscheinen läßt. Zu Recht sagt Karl Rahner: "Die Kirche hat nicht die Macht, die Respektierung ihrer Prinzipien in der Welt zu erzwingen. Sie kann sie nur dem guten Willen der Menschen anbieten und ihre Gläubigen in aller Eindringlichkeit ermahnen, daß jeder Christ an seinem Platz mutig und gegen den eigenen Egoismus und die eigene Kurzsichtigkeit kritisch ankämpfend dafür arbeitet, daß aus diesen Prinzipien Leben und Tat werden." Aber selbst wenn die Kirche die Möglichkeit hätte, mit Hilfe des Staates die Respektierung ihrer Prinzipien in dieser Welt gewaltsam zu erzwingen - sie dürfte von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch machen, wollte sie nicht ihr Selbstverständnis verleugnen. Die Tatsache, daß es in der Kirchengeschichte Zeiten gegeben hat, in denen sie von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, stellt alles andere denn eine Legitimation dar.

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11. So wenig sich das Problem von Möglichkeiten und Grenzen christlicher Weltverantwortung in den Rahmen des jeweiligen Verhältnisses von Kirche und Staat fügen läßt, so wenig kann übersehen werden, daß die Bedingungen für die Aktualisierung der christlichen Weltverantwortung wesentlich auch vom System des staatlichen Religionsrechts bestimmt werden, in dem das hier nicht zu behandelnde Verhältnis von Kirche und Staat ohne Zweifel eine zentrale Rolle spielt. Bezieht man christliche Weltverantwortung nicht nur auf das sachgerechte Handeln von Christen im gesellschaftlich-politischen Bereich, in den einzelnen irdischen Sachfeldern, sondern auch auf die Möglichkeit, daß Christen als Einzelne und korporativ ihre ·christliche Wertvorstellung in den gesamtgesellschaftlichen Meinungsbildungsprozeß einbringen können, daß religiöse Interessen nicht nur private sondern auch öffentliche Relevanz haben, dann allerdings gewinnt das staatliche Religionsrecht für die Aktualisierung christlicher Weltverantwortung erhebliche Bedeutung. Es würde den uns hier gesetzten Rahmen sprengen, würden wir auch nur den Versuch unternehmen, auf aktuelle Einzelprobleme des staatlichen Religionsrechts einzugehen. Wir müssen uns vielmehr darauf beschränken, lediglich auf gesellschaftliche Wandlungsprozesse aufmerksam zu machen, die auf diesem Felde ihren Niederschlag finden und aus denen für die Aktualisierung christlicher Weltverantwortung wichtige Konsequenzen zu ziehen sind. Die Gesamtheit der rechtlichen Normen, die die religiösen Interessen in einem säkularisierten Gesellschafts- und Staatsgebilde wie der Bundesrepublik berücksichtigen und gegenüber den profanen gesellschaftlichen Kräften und staatlichen Einrichtungen abgrenzen, können wir als staatliches "Religionsrecht" bezeichnen. Kirchen und Religionsgemeinschaften genießen in der Bundesrepublik in vielfältiger Weise eine Stellung, die profanen gesellschaftlichen Gruppen nicht gewährt ist und die sich heute von unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Kräften her der Kritik ausgesetzt sieht. Es wird nicht nur das geltende staatliche Religionsrecht ganz oder teilweise als problematisch empfunden, sondern es werden auch ältere staatstheoretische und kirchenpolitische Positionen wieder belebt, wie z. B. die Forderung nach strikter Trennung von Kirche und Staat oder die These, Religion sei Privatsache. Das findet zunächst seinen Niederschlag nicht in offiziellen staatlichen Reaktionen, als vielmehr in Äußerungen extrem antitranszendental eingestellter Gruppen, für die religiöse Interessen ausschließlich private Interessen sind und die - gleichsam in einem ungeschichtlichen reaktionären Rückgriff auf kirchenfeindliche Vorstellungen des 19.

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Jahrhunderts - in der strikten Trennung von Kirche und Staat die Forderung des Tages sehen. Der Anachronismus einer solchen Haltung angesichts des gewandelten Verständnisses von Staat und Gesellschaft liegt auf der Hand, aber vieles von dem, was sich heute fortschrittlich gebärdet, ist nichts anderes als ungeschichtlicher Rückgriff in die Arsenale der Geschichte. Mag man auch einschlägige politisch-theoretische Entwürfe wie das kürzlich vorgelegte "Kirchenpapier" der Jungdemokraten, als intellektuelles Theoretisieren ohne Realitätsbezug bewerten und sich in dieser Meinung durch die strikte Zurückweisung dieses Papiers durch den FDP-Bundesvorstand bestätigt sehen, so wird man dennoch nicht ohne weiteres übersehen dürfen, daß derartige Positionsbestimmungen symptomatischen Charakter für den Wandel der Auffassungen von dem eingangs skizzierten Verhältnis zwischen "Welt" einerseits und "Christen" andererseits haben. Hier wie anderenorts verbinden sich in der polemischen Auseinandersetzung ältere kirchenfeindliche und kulturkämpferische Positionen mit neuen Reflexionen, die aus einer mehr oder weniger ahistorischen Einschätzung von Stellung, Funktion und Wesen der Kirchen in der modernen Industriegesellschaft erwachsen sind. Der soziale und kulturelle Wandel der Gegenwart zwingt zur Frage, ob der bisherige Kanon religionsrechtlicher und religionsrechtlich relevanter Regelungen ohne tiefgreifende Veränderungen in die (und durch die) achtziger Jahre kommen wird. Die Veränderungen können, so scheint es derzeit, einschneidend sein, und es wird zumindest auch die Gefahr gesehen werden müssen, daß die Beseitigung eines bisher guten Zustandes für die Kirchen innerhalb des Staats- und Gesellschaftssystems der Bundesrepublik sogar in das Gegenteil, nämlich in die Zurückdrängung der Kirchen in eine gesellschaftliche Inferiorität mittels machtpolitischer Maßnahmen führen kann. Bei einer solchen Entwicklung, die wir hier keineswegs als zwangsläufig ansehen wollen, für deren Möglichkeit es jedoch hinreichend ernstzunehmende Anzeichen gibt, wird aktive "christliche Weltverantwortung" sich verstärktem Widerstand säkularer oder gar polemisch anti kirchlicher Kräfte gegenübersehen. Denn diejenigen gesellschaftlichen und politischen Gruppen, die die Kirche aus dem öffentlichen Leben in zunehmendem Maße eliminieren wollen, sehen die Wahrnehmung des Verkündigungsauftrags und sogar schon die aus christlicher Weltverantwortung geleisteten sozialen Dienste häufig als unzulässige Einflußnahme und als Behauptung materieller Interessen der Kirchen innerhalb der entideologisierten Gesellschaft an. Wenn in diesem Zusammenhang immer wieder nach dem Abbau der privilegierten Stellung der Kirchen gerufen wird, so muß allerdings

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angemerkt· werden, daß in der Diskussion .um dieses' :Problem . meist eine genaue Bestimmung dessen, was als "kirchliChes Privileg"anzusehen ist, unterbleibt. Daß die Berufung auf. geschichtlich Überkommene Legitimationen der kirchlichen Stellung im Staats.,.. tindGesellschaftsgefüge heute nicht mehr ausreicht, haben auch wir vor Jahren schon mehrfach dargelegt. Ja, wir sind der Auffassung, daß die Beschränkung auf geschichtliche Legitimation ungeschichtlich ist, weil sie die unverkennbare Besonderheit der Gegenwart als einer individuellen Phase im Geschichtsprozeß verkennt und weil sie für die Kirchen die Gefahr in sich birgt, daß die Ablehnung des durch die gesellschaftliche Situation nicht mehr gedeckten Überkommenen zugleich die Ablehnung einer Präferenz für die Kirchen zur Folge hat. Aber andererseits muß ja auch gefragt werden, ob nicht bestimmte kirchliche Rechtspositionen, die für die Aktualisierung christlicher Weltverantwortung (gerade als korporativer Verantwortung) bedeutsam sind, heute unabhängig von ihrem historischen Entstehungsgrund eine neue gesellschaftspolitische Legitimation durch die Veränderungen erfahren haben, die im Verhältnis unseres modernen freiheitlich-demokratischen Staatswesens zur Gesellschaft, das wir oben skizziert haben, zu verzeichnen sind. Wenn der Staat mit den Kirchen Konkordate oder Kirchenverträge abschließt, wenn er die kulturelle oder sozialkaritative Betätigung der Kirchen unterstützt (- z. B. Kindergärten, Krankenhäuser, Altenheime, Heilund Pflegeanstalten oder weiterführende Schulen in konfessioneller Trägerschaft staatlich subventioniert -), so wird man all das sicherlich nicht mehr unter dem Begriff "Privilegien" fassen können. Es liegt im gesamtgesellschaftlichen Interesse, daß es nicht zu einem geschlossenen staatsmonopolistischen System kommt, in dem alle Aufgaben, die früher ganz oder teilweise von gesellschaftlichen Kräften wahrgenommen wurden, heute vom Staat in eigener Regie betrieben werden. Im Interesse einer freien Gesellschaft muß konsequenterweise gefordert werden, daß der Staat die Tätigkeit der gesellschaftlichen Gruppen durch personelle und finanzielle Hilfen unterstützt und daß er zugunstell. der gesellschaftlichen Kräfte Selbstbeschränkung übt. Er eröffnet damit auch der individuellen und korporativen Wahrnehmung religiöser Interessen notwendige Freiheitsräume, die nicht nur von privater sondern von "öffentlicher", von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung sind. Wir haben bereits früher wiederholt darauf hingewiesen, daß die Präsenz der Kirche in der Gesellschaft entscheidend davon abhängig ist, ob und wie die Gläubigen als bewußte existentielle Gläubige in der Gesellschaft präsent sind. Aktualisierung der christlichen Weltverantwortung vollzieht sich stets in konkreten, gegenwärtigen geschichtlichen Situationen und hat sich in ihnen zu bewähren, unabhängig davon, wie die rechtlichen Voraussetzungen und politischen Gegeben2 Festschrift Rossl

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heiten sind. Das enthebt aber nicht der Notwendigkeit, nach freiheitlichen religions- und staatskirchenrechtlichen Lösungen zu suchen, die gleichzeitig große Bedeutung für die Sicherung der gesamtgesellschaftlichen Freiheit haben.

ZUM BEGRIFF DES CHRISTLICHEN APOSTOLATS Von Wolfgang Waldstein Das Zweite Vatikanische Konzil hat unter den insgesamt 17 Dokumenten auch ein Dekret verabschiedet, welches das christliche Apostolat thematisch behandelt, nämlich das Dekret über das Apostolat der Laien (Apostolicam actuositatemJ1. Es mag nun ein durch die Textgeschichte bedingter Zufall sein, daß dieses Dekret in der selben Sitzung des Konzils verabschiedet wurde, in der vorher die Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung promulgiert worden war2 • Auch wenn dieses zeitliche Zusammentreffen von den Vätern wohl nicht beabsichtigt war, so ist es als Tatsache für den Begriff des christlichen Apostolats dennoch sehr bedeutungsvoll. Es unterstreicht nämlich augenfällig den engen Zusammenhang zwischen Apostolat und Offenbarung. Die Offenbarung wiederum, die für das christliche Apostolat maßgeblich ist, wurde von Christus seiner Kirche anvertraut3 • Dieses 1 Acta Apostolicae Sedis (künft. abgek. zit.: AAS) 58 (1966) 837 - 864; im folgenden wird die Ausgabe im Lexikon für Theologie und Kirche, Das Zweite Vatikanische Konzil Bd. II (1967) 585 - 701, benützt. Auch die anderen Konzilsdokumente werden, falls nichts anderes vermerkt ist, nach dieser Ausgabe in den Bänden I - III (abgek. LThK mit Angabe des Bandes) und in der dort gebotenen übersetzung zitiert. Dabei werden für die Bezeichnung der Dokumente die in LThK III 735 angegebenen Abkürzungen verwendet (in alphabetischer Reihenfolge): AA = Apostolicam actuositatem, Dekret über das Apostolat der Laien; AG = Ad gentes, Dekret über die Missionstätigkeit der Kirche; CD = Christus Dominus, Dekret über die Hirtenaufgabe der Bischöfe in der Kirche; DH = Dignitatis humanae, Erklärung über die Religionsfreiheit; DV = Dei verbum, Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung; GE = Gravissimum educationis, Erklärung über die christliche Erziehung; GS = Gaudium et spes, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute; IM = Inter mirifica, Dekret über die sozialen Kommunikationsmittel; LG = Lumen gentium, Dogmatische Konstitution über die Kirche; OT = Optatam totius, Dekret über die Ausbildung der Priester; PO = Presbyterorum Ordinis, Dekret über Dienst und Leben der Priester; UR = Unitatis redintegratio, Dekret über den Ökumenismus. 2 Dies war die Sitzung vom 18. November 1965. Vgl. zur Textgeschichte von AA Klostermann, LThK II 601, zu DV Ratzinger, LThK II 503, wo Ratzinger auch darauf hinweist, daß zum "Incipit" dieser Konstitution "Dei Verbum" das "Explicit" (die letzten Worte) "manet in aeternum" tritt, womit die Unwandelbarkeit der Offenbarung durch alle Zeiten besonders unterstrichen wurde. 3 Vgl. DV 7 ff.; LG 3 ff. und bes. 8; UR 2, auch 4 Abs. 5 und 6; so auch schon Leo XIII. in seinem Rundschreiben Satis cognitum vom 29. Juni 1896,

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"anvertraute Gut"4, das große "Erbgut der Wahrheit und der Sitten"5, ist seinerseits die Grundlage der apostolischen Sendung der Kirche 6 • Auch wenn das Dekret über das Apostolat der Laien einem speziellen Bereich des Apostolats gilt, so hat es doch den Anlaß geboten, auch allgemeine Aussagen über das christliche Apostolat zu treffen. So wird zu Beginn des ersten Kapitels eine Umschreibung des Begriffes des christlichen Apostolats ganz allgemein gegeben, wenn es dort heißt: "Dazu ist die Kirche ins Leben getreten: sie soll zur Ehre Gottes des Vaters die Herrschaft Christi über die ganze Erde ausbreiten und so alle Menschen der heilbringenden Erlösung teilhaftig machen, und durch diese Menschen soll die gesamte Welt in Wahrheit auf Christus hingeordnet werden. Jede Tätigkeit des mystischen Leibes, die auf dieses Ziel gerichtet ist, wird Apostolat genannt; die Kirche verwirklicht es, wenn auch auf verschiedene Weise, durch alle ihre Glieder; denn die christliche Berufung ist ihrer Natur nach auch Berufung zum Apostolat 7 ." Im zweiten Kapitel wird dies noch mit folgender Aussage näher präzisiert: "Die Sendung der Kirche geht auf das Heil der Menschen, das im Glauben an Christus und in seiner Gnade erlangt wird. Das Apostolat der Kirche und aller ihrer Glieder ist darum vor allem darauf gerichtet, die Botschaft Christi der Welt durch Wort und Tat bekanntzumachen und ihr seine Gnade zu vermitteln 8 ." Schon diese Aussagen zum Begriff des christlichen Apostolats machen deutlich, wie komplex die mit ihnen gegebenen Implikationen sind. Es vor allem 615 ff. (bis 638; zitiert nach der Ausgabe in: Heilslehre der Kirche, Dokumente von Pius IX. bis Pius XII., deutsche Ausgabe von A. Rohrbasser, Paulusverlag Freiburg Schweiz 1953; die . Zahlen bezeichnen die in dieser Ausgabe fortlaufende Zählung der Abschnitte der verschiedenen Dokumente von Pius IX. bis Pius XII.); bes. auch Paul VI. in seiner Enzyklika Ecdesiam suam, AAS 56 (1964) 609, 616 ff. und 626 ff., deutsche Ausgabe Paulus Verlag Recklinghausen (1964) 3, 9 ff., wo Paul VI. 11 ff. die Enzykliken Satis cognitum von Leo XIII. und Mystici Corporis von Pius XII. besonders hervorhebt, und 16 ff. (künft. wird die Enzyklika mit Seiten angabe der genannten deutschen Ausgabe zit.). Vgl. auch bes. die Adhortatio Apostolica von Paul VI. vom 8. Dezember 1975 Evangelii nuntiandi 6 ff., in: Nachkonziliare Dokumentation Bd. 57 (1976) 40 ff., und jetzt vor allem das Apostolische Schreiben von Papst Johannes Paul II. vom 16. Oktober 1979 Catechesi tradendae 5 ff. H. Schambeck konnte mit guten Gründen eine "Kontinuität der Pontifikate seit Pius XII." feststellen, Deutsche Ausg. des L'Osserv. Romano vom 9. 2. 1979, S. 11. Das machen die hier genannten Dokumente bes. deutlich. ~ 1 Tim 6, 20, worauf Paul VI. in Ecdesiam suam 19 bezugnimmt. 5

Ecdesiam suam 19.

Vgl. Matth 28, 18 - 20; Markus 16, 15: "Gehet hin in alle Welt und verkündet die Heilsbotschaft allen Geschöpfen"; Luk 24, 47; Jo 20, 21; dazu LG 8 Abs. 2. Zahlreiche weitere Hinweise in den ob. Anm. 3 angegebenen Dokumenten. 7 AA 2 (Hervorh. von mir), zum weiteren Text unten I bei Anm. 16 ff. ~ AA 6 Abs. 1. G

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ist daher im Rahmen dieses kurzen Beitrages unmöglich, das im Begriff enthaltene Wesen des christlichen Apostolats, seinen Inhalt und seine Formen auch nur annähernd voHständig darzustellen. Ferdinand Klostermann hat 1962 eine 1195 Seiten umfassende, bewundernswerte Untersuchung über "Das christliche Apostolat" vorgelegt, und dennoch feststellen müssen, daß er verschiedenen Fragen im Rahmen seiner Darstellung nicht nachgehen konntet. Die Darstellung des Begriffes des Apostolats wird aber heute noch dadurch erschwert, daß alle Gegebenheiten, die schon nach den eben zitierten Aussagen des Konzils für das Wesen, den Inhalt und die Formen des Apostolats bestimmend sind, nämlich Christus, Offenbarung, Kirche, und die anderen, die damit zusammenhängen, von der nachkonziliaren Theologie vielfältigen und tiefgehenden UmdeutWlgen und Infragestellungen Wlterzogen wurden, die nicht selten bis zur expliziten Bestreitung der kirchlichen Lehre reichen 10. Diese theologischen Lehrmeinungen sind ihrerseits wiederum weitgehend durch die seit dem vorigen Jahrhundert hervorgetretenen philosophischen Strömungen bedingt, vor allem durch den Positivismus im weitesten Sinne, den Neukantianismus, den Existenzialismus und den "kritischen Rationalismus". Heute wird niemand bestreiten können, daß es im Zuge der Rezeption dieser und anderer Systeme in die Theologie im ganzen nicht zu jenem Prozeß gekommen ist, in dem man "den Wahrheitsgehalt festhalten, die Irrtümer aber in ihren Wurzeln erkennen und widerlegen" hätte müssen l l . Daher sind die in diesen Systemen enthaltenen Irrtümer großteils und in breitem Strom in die Theologie eingedrungen. Sie haben dazu geführt, daß es heute kaum eine Glaubenswahrheit gibt, die nicht "unter dem Vorwand einer neuen Wissenschaft"!2 angefochten wäre. 9 F. Klostermann, Das christliche Apostolat (1962; künft. abgek. zit.: Klostermann mit Seitenang.) 36 ff. 10 Vgl. etwa nur die Hinweise in der Declaratio der Kongregation für die Glaubenslehre Mysterium Ecclesiae vom 24. Juni 1973, AAS 65 (1973) 396, wo gesagt wird, daß die Kongregation "nonnullas veTitates ad mysterium Ecclesiae pertinentes et hodie negatas aut in peTiculum adductas" klarstellen möchte. Papst Paul VI. hat mehrfach auf die um sich greifenden Irrtümer hingewiesen; vgl. etwa u. Anm. 134. Zu einigen markanten Lehren dieser Art. vgl. E. Hesse, Mit kirchlichem Imprimatur ... , Una Voce-Korrespondenz (künft. abgek. zit.: UVK) 8 (1978) 231- 249, wo das mit "Druckerlaubnis des Ordinariates Graz-Seckau" erschienene' Sammelwerk "Die heißen Eisen von Abis Z" kritisch analysiert wird. Vgl. ferner etwa L. Scheffczyk, die "Botschaft des Glaubens. Ein katholischer Katechismus" unter theologischem Aspekt, Münchner Theologische Zeitschrift 30 (1979) 37 - 48. Auch Papst Johannes Paul 11. hat mehrfach, besonders auch in Catechesi tradendae 52, 59 und 63, auf die Gefahren der Entstellung der Wahrheit hingewiesen. 11 Vgl. OT 15 Abs. 2. 12 Vgl. Paul VI., Enzyklika Mysterium fidei vom 3. September 1965, deutsche Ausgabe Paulus Verlag Recklinghausen (1965) 7. Der ganze weitere

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Es liegt auf der Hand, daß eine Auseinandersetzung mit diesen Problemen hier erst recht nicht möglich ist. Auf einzelne Aspekte wird im betreffenden Zusammenhang einzugehen sein. Diese Probleme im ganzen aufzuarbeiten, ist sicher eine der wichtigsten Aufgaben für die Zukunft der Kirche. Für die Klärung des Begriffes des christlichen Apostolats aber will ich mich hier auf jene Lehraussagen der Kirche selbst stützen, "die nicht an eine bestimmte Kulturform, nicht an eine bestimmte Phase wissenschaftlichen Fortschritts noch an diese oder jene theologische Schule gebunden sind"13, sondern die immer gültige Lehre der Kirche enthalten. Ich bin mir dessen durchaus bewußt, daß schon die Berufung auf die "immer gültige Lehre der Kirche" im heutigen "Meinungsklima" in der Regel nicht mit einer günstigen Aufnahme rechnen darf14 • Eric Voegelin hat jedoch zum Phänomen des Text ist überaus wichtig und heute besonders lesenswert. Paul VI. sagt dort (8): "Das Erste Vatikanische Konzil lehrt, daß man in den heiligen Dogmen ,immer an der Bedeutung festhalten muß, die die heilige Mutter Kirche einmal für gültig erklärt hat, und es ist nicht erlaubt, von dieser Bedeutung abzugehen unter dem Vorwand und im Namen eines tieferen Verständnisses' (Const. dogm. ,De Fide cath.' c. 4)." Papst Johannes Paul 11. spricht in Catechesi tradendae 34 von der Notwendigkeit des Schutzes "vor ideologischen und politischen Systemen oder Vorurteilen, die sich als wissenschaftlich ausgeben, aber den wahren Sinn der Darstellung nur entstellen würden". L. Scheffczyk, Die nachkonziliare Kritik an den Krisenerscheinungen in der Kirche - ein Grund zur Spaltung? (Vortrag vor der Katholischen Akademie in Bayern am 24. Oktober 1976) 12, hat darauf hingewiesen, daß Theologen heute im Begriffe sind, sich ein "förmliches Lehramt" zu arrogieren, welches dem authentischen Lehramt der Kirche übergeordnet sein soll. Dadurch würde aber die Kirche in ihrem Wesen verändert und "zu einer Kirche der Fachleute und Experten in der Theologie" umstrukturiert. Weil aber, wie Scheffczyk weiter sagt, "die Experten ... selten einer Meinung sind" und weil "ferner nach modernem Wissenschafts verständnis die Theologie mit Theorien, Hypothesen und kritischen Infragestellungen arbeiten muß, kämen wir in der Kirche auf einem solchen Grund niemals zu Gewißheit in der Wahrheit oder zur Trennung von Wahrheit und Irrtum". Inzwischen ausführlich Scheffczyk, Die Theologie und die Wissenschaften (1979) bes. 15 ff. 13 Vgl. Mysterium fidei 8. 14 So wurde nach Pressemeldungen zum Besuch Papst Johannes Paul II. in den USA in "liberalen Katholikenkreisen ... erklärt", daß die dort erfolgten "Feststellungen und Ermahnungen des Papstes der notwendigen Reform der Kirche in Amerika nicht dienlich seien" (Salzburger Nachrichten v. 5. Okt. 1979, S. 1; vgl. auch etwa die in Time vom 15. Okt. 1979 S. 35 zusammengestellten statements verschiedener Persönlichkeiten in den USA). Dabei wird offensichtlich unter "notwendiger Reform" genau das verstanden, was bereits Paul VI. in Ecclesiam suam 20 f. als irrige Vorstellung von Reform zurückgewiesen hat, nämlich die Meinung, "daß die Reform der Kirche hauptsächlich in der Anpassung ihrer Gesinnungen und ihrer Sitten an jene der Welt bestehen müsse". Vgl. auch dort 10, wo Paul VI. von "der Denkart der diesseitigen Welt" spricht, die "viele verleiten kann, die sonderbarsten Gedankengänge anzunehmen, fast als ob die Kirche jemals sich selbst verleugnen und ganz neue und ungeahnte Lebensformen annehmen müsse". Ferner braucht nur an die Reaktionen auf die Enzyklika Humanae vitae erinnert zu werden; dazu etwa F. Holböck, Der Aufstand gegen den Vater, hrsg. vom Erzb. Ordinariat Salzburg (1969). Vgl. auch den Kommentar von

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"Meinungsklimas" allgemein eine überaus beachtenswerte Feststellung getroffen, die es verdient, hier wiedergegeben zu werden: "Die Freiheit des Denkens erwacht dann wieder zum Leben, wenn das ,Meinungsklima' nicht länger eine in ihren parteilichen Bestrebungen zum Mitläufertum drängende, massive soziale Realität ist, sondern wenn es an den Ort einer pathologischen Entstellung des Daseins gewiesen wird, die man mit den Kriterien der"Vernunft erforschen sollte15." Auf der Grundlage der immer gültigen Lehre der Kirche also, auf die sich auch das Zweite Vatikanische Konzil stützt und die es weiter entfaltet hat, will ich im folgenden versuchen, zunächst 1. das im Begriff enthaltene Wesen des christlichen Apostolats kurz zu umschreiben, 2. den wesentlichen Inhalt des Apostolats aufzuzeigen, 3. einen überblick über die verschiedenen Formen des Apostolats zu geben, und schließlich 4. auf der Grundlage der so gewonnenen Ergebnisse den Begriff des christlichen Apostolats zusammenfassend darzustellen. Weil der mit dieser Festschrift Geehrte, Seine Eminenz OpiZio Kardi-

nal Rossi, Präsident des Päpstlichen Rates für die Laien ist, liegt es

für mich als Laien um so mehr nahe, in den ihm in dankbarer Verehrung und Verbundenheit gewidmeten Ausführungen vor allem auf das Laienapostolat einzugehen.

I. Das Wesen des christlichen Apostolats Bereits aus den oben zitierten Aussagen des Konzils geht hervor, daß es sich beim christlichen Apostolat um eine "Tätigkeit des mystischen Leibes" Christi handelt mit dem Ziel, "die Herrschaft Christi über die ganze Erde" auszubreiten "und so alle Menschen der heilbringenden Erlösung teilhaftig" zu machen. Der mystische Leib Christi aber ist die Kirche, die von Christus gegründet wurde und von ihm die Sendung zu diesem Apostolat erhielt18 • Wie das Konzil in übereinstimmung mit Hans Urs von Balthasar zum Schreiben Papst Johannes Pauls II. an die Priester (Herder 1979) 53, wo er die Reaktionen auf dieses Schreiben resümiert; dazu u. Anm. 137. 15 über klassische Studien, in: Scheidewege, Vierteljahresschrift für skeptisches Denken 3 (1973) 239 f. Paul VI. sagt in diesem Sinne in Ecclesiam suam 20: "wieviel vermag die Mode auch im Reiche des Geistes, das autonom und frei sein sollte und einzig darauf bedacht, der Wahrheit und der Autorität bewährter Meister zu folgen!". Bereits Voegelin hatte jedoch bemerkt, daß es an den Universitäten "immer wieder junge Menschen mit genügend innerer Spürkraft" gibt, "um den Bemühungen ihrer auf ,Anpassung' drängenden ,Erzieher' zu widerstehen" (aO. 239). Auch haben die jüngsten Papstbesuche in Irland und den USA gezeigt, daß sich mehr Menschen als gewöhnlich vermutet nach der befreienden Wahrheit sehnen, und zwar auch dann, wenn sie unbequem ist und dem Meinungsklima entgegenläuft. 11 Vgl. die oben Anm. 3 und 6 angegebenen Belege; dazu Mysterium Ecclesiae (ob. Anm. 10) 1.

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der gesamten Lehre seit den Aposteln weiter sagt, verwirklicht die Kirche dieses Apostolat, "wenn auch auf verschiedene Weise, durch alle ihre Glieder; denn die christliche Berufung ist ihrer Natur nach Berufung zum Apostolat"17. Mit der Bezugnahme auf den mystischen Leib Christi tritt die göttiiche und sakramentale Dimension der Kirche hervor18 , deren Wesen und Ordnung die natürliche, "auf den Kreis der sichtbaren Erscheinungen" beschränkteU Dimension grundsätzlich übersteigt. Es ist längst erkannt worden, daß ein Wissenschaftsbegriff, der sich auf jenen Kreis von Erkenntnisgegenständen beschränkt, der mit den "sichtbaren Erscheinungen" angesprochen ist, und das ist im weitesten Sinne der positivistische Wissenschaftsbegriff, wie Karl Larenz es formuliert, "zum mindesten für eine ganze Gruppe von Wissenschaften, für die historischen Wissenschaften und die Geisteswissenschaften, nicht ausreicht. Der tiefere Grund dafür ... ist darin zu sehen, daß auch der positivistische Wirklichkeitsbegriff zu eng ist"20. Nun ist es aber, wie schon erwähnt, vor allem seit dem Konzil unter anderem zu einer ausgedehnten Spätrezeption des positivistischen Wissenschaftsbegriffs in die Theologie gekommen, Das mußte für das Verständnis des Wesens und der Ordnung der Kirche verhängnisvolle Auswirkungen haben. Wenn der positivistische Wissenschaftsbegriff schon für die Erkenntnis natürlicher Gegebenheiten im Bereich der historischen Wissenschaften und der Geisteswissenschaften nicht ausreicht, kann er dem Verständnis des Wesens der Kirche und der Ordnung ihres Lebens erst recht nicht angemessen sein. Vielmehr wird auf diesen Grundlagen vor allem die für das Wesen der Kirche fundamentale Tatsache, daß Christus Gottes Sohn ist21 und wesensgleich mit dem Vater 22 weitgehend uminterpretiert, verdunkelt, ja offen geleugnet 23 • AA 2 (ob. bei Anm. 7). In LG 1 wird gesagt: "Die Kirche ist ja in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit." Vgl. auch LG 7 und die Enzyklika Pius' XII. Mystici Corporis (Rohrbasser, ob. Anm. 3) 752 - 846. 19 Enzyklika Pius' X. vom 8. September 1907 Pascendi Dominici gregis 4 (D~r Agnostizismus); vgl. auch GS 19 Abs. 2. 20 Methodenlehre der Rechtswissenschaft (31975) 126. Allgemein J. Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit (21976) 33 f., 70 ff. und öfter unter verschiedenen Gesichtspunkten; ders. Leib und Seele (1973) XV - LXXVI sowie 45 ff., 79, 89 und öfter. Auch W. Waldstein, Entscheidungsgrundlagen der klassischen römiS,chen Juristen, in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, htsg. von H. Temporini und W. Haase, II 15 (1976) 10 - 29 mit weiteren Hinweisen. 21 Vgl. LG 7 Abs. 1. 22 So die Symbola fidei bei Denzinger-Schönmetzer, Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum (34 1967; künft. abgek. zit.: DS) 40 ff., bes. ausdrücklich 42 (0f.l00UO'lO'V Tii> 1tUTQl) , ebenso 44, 17

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Alle diese Erscheinungen sind nicht neu. Es darf hier daran erinnert werden, daß etwa auch der Arianismus, eine der für die Kirche gefährlichsten Irrlehren, in der bereits die Wesensgleichheit des Sohnes mit dem Vater geleugnet wurde, ihre Entstehung ebenfalls der Wissenschaftstheorie ihrer Zeit jedenfalls mitverdankt. Arius ist, wie besonders John Henry Newman eindrucksvoll nachweisen konnte, durch eine falsche Anwendung der aristotelischen Syllogistik in die Irre geführt worden, indem er das beschränkte Erkenntnismittel des logischen Schließens, dessen Anwendung in seinen Grenzen natürlich berechtigt und wichtig ist, zum Maßstab der Wirklichkeit erhoben hat 24 • Newmans Schilderung der damaligen Lage wirkt auf weite Strecken und in vieler 46, 48, 50 (lateinische Fassung: homousion Patri) und 51; ähnlich 55. Alle Symbola gehen davon aus, daß der Vater und der Sohn die gleiche göttliche Natur haben. 23 Besonders deutlich tritt dies bei G. Hierzenberger, Der Magische Rest, Ein Beitrag zur Entmagisierung des Christentums (1969) 234 ff., hervor, der dort von einem "Prozeß der Divinisierung Jesu von Nazareth" spricht, der "bereits kurze Zeit nach dem Tode Jesu in der Urgemeinde in Jerusalern" eingesetzt habe. Aus den Ausführungen im ganzen geht hervor, daß Jesus also in Wahrheit nicht Gottes Sohn und nicht wesensgleich mit dem Vater sei, sondern daß die göttlichen "Attribute Jesu in den Evangelien ... nachträglich Jesus in den Mund gelegt" wurden und Ausdruck dafür sind, "daß in der Gestalt Christi ein neuer Mythos aufgebaut wurde, ...... Nicht so explizit, aber ähnlich F. J. Schierse S. J., dazu Hesse, UVK 8 (1978) 232, der darauf hinweist, daß auch die Christologie von H. Küng ähnliche Wege geht. Vgl. dazu auch die Rede von Papst Johannes Paul H. in Puebla am 28. 1. 1979 I, 4 (L'Osserv. Rom., Wochenendausgabe in deutscher Sprache vom 2.2.1979, S. 1 und 8 ff.); ferner den Kommentar von H . U. v. Balthasar zum Schreiben des Papstes an die Priester S. 56, wo die Wirkung des "verdünnten, mehrfach filtrierten Jesusbildes" auf die Theologiestudenten aufgezeigt wird. Vgl. jetzt auch· die "Erklärung der Kongregation für die Glaubenslehre über einige Hauptpunkte der theologischen Lehre von Prof. Hans Küng" vom 15. Dezember 1979, abgedr. in: L'Osserv. Rom., Wochenendausg. in deutscher Sprache vom 4.1.1980; weitere Dokumentation in der Ausg. vom 18. 1. 1980, S. 8 f.; dort 9 f. die außerordentlich beachtenswerte Silvesterpredigt von Kardinal Ratzinger zu den Fragen, um die es im Falle Küng geht. Das Ausmaß der Probleme und die Auswirkungen der Lehren von Küng, von denen schon vor vielen Jahren mit recht gesagt worden war, daß sie sich wie ein "Steppenbrand" ausbreiten, ist in den Reaktionen auf die Erklärung der Glaubenskongregation sichtbar geworden. Die verschiedenen Aktionen für Küng zeigen, wie weit die von ihm und anderen betriebene Entfremdung vom katholischen Glauben bereits fortgeschritten ist. Es ist ein Grund zu großer Dankbarkeit, daß die Entscheidung der Glaubenskongregation, die in der Tat "vor allem von den Gläubigen erwartet worden" war, nun "eine schon zu lange Wartezeit" beendet hat (vgl. den Kommentar in der genannten Ausg. vom 18. 1. 1980, S. 8 f.). 24 J. H. Newman, The Arians of the Fourth Century (Neuausgabe 1968) 28 ff. Newman sagt dort, daß in einer Auseinandersetzung mit seinem Bischof "Arius being well skilled in dialectics sharply replied to the bishop, ... , and went on to argue that ,if the Father begat the Son, certain conclusions would follow,' and so proceeded. His heresy, thus founded in a syllogism, spread itself by instruments of a kind red character .... ". Newman weist ferner (31) darauf hin, daß ein Schriftsteller des vierten Jahrhunderts "calls AristoUe the Bishop of the Arians".

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Hinsicht wie eine Darstellung der heutigen Situation. Dieselben Formen der überheblichkeit jener, die allein dem wissenschaftlichen Fortschritt verpflichtet zu sein wähnen. Dieselben Formen der Propaganda für die neuen Ideen. Ja, dieselben Formen der Einschüchterung derer, welche die neuen Ideen nicht annehmen wollten. Sie wurden der Rückständigkeit, Unwissenheit25 oder Starrköpfigkeit geziehen. Alles das mit dem Ergebnis, daß der damalige Weltepiskopat "faktisch auf seiten des Arianismus stand"26. Will man aber das Wesen des christlichen Apostolats erfassen, wird man vom wahren Wesen der Kirche ausgehen müssen. Dieses Wesen ist durch Christus selbst konstituiert und durch die göttliche Offenbarung in Schrift und Tradition27 erklärt. Das authentische Lehramt der Kirche 28 hat dieses Wesen weiter definiert und klargestellt "gemäß der Offenbarung selbst, zu der zu stehen und nach der sich zu richten alle gehalten sind"29. Darüber hinaus haben durch alle Jahrhunderte unzählige große Geister und Heilige dieses Wesen weiter zu erhellen versucht. Die dabei gewonnenen wahren Erkenntnisse sind nach angemessener Prüfung auch stets vom Lehramt der Kirche dankbar aufgenommen worden 30 • Nur auf diesen Grundlagen konnte auch das Konzil das Wesen der Kirche neuerlich darstellen. Trotz der umfassenden Erklärungen des Konzils wurde es jedoch bereits nach wenigen Jahren nötig, eine besondere Erklärung der Kongregation für die Glaubenslehre "zum Schutz der katholischen Lehre von der Kirche gegen ver'3 So hat etwa H. Haag nach einer Ansprache Pauls VI. vom 15. November 1972, in welcher er die kirchliche Lehre über den Teufel klar in Erinnerung rief, erklärt, die Ansprache des Papstes stelle einen "Rückfall ins tiefste Mittelalter" dar. In der Papstansprache finde sich "eine bunte Aneinanderreihung der Schriftstellen, wie sie sich bei uns kein Student des ersten Semesters leisten dürfte. Und aufgrund solcher Pseudoexegese wird der halben Kirche der wahre Glaube abgesprochen ... ", abgedruckt in: Der Fels 4 (1973) 70 f. In der Schwäbischen Zeitung vom 1. Februar 1973, S. 3, hat Haag seine Stellungnahme nochmals unter der überschrift verteidigt: "Ein fragwürdiges Papstwort stiftet Verwirrung." Ähnliche Äußerungen von Theologen könnten in großer Zahl angeführt werden, auch zu den Ansprachen und Schreiben des gegenwärtigen Heiligen Vaters (ob. Anm. 14). 26 Vgl. Scheffczyk in dem ob. Anm. 12 angeführten Vortrag S. 13; dazu Newman, über das Zeugnis der Laien in Fragen der Glaubenslehre, Polemische Schriften (IV. Band der ausgewählten Werke, 1959) 271 ff.; die Ausführungen sind überaus aktuell; dazu u. Anm. 107 . • 7 In DV 9 heißt es: "Die Heilige überlieferung und die Heilige Schrift sind eng miteinander verbunden und haben aneinander Anteil." Dies wird im weiteren Text noch näher ausgeführt. Dazu auch DV 7 und jetzt Cate-

chesi tradendae 27. '8 LG 25 Abs. 1. .9 LG 25 Abs. 4.

30 Man braucht dazu nur die in Dokumenten des kirchlichen Lehramtes zitierten Schriften anerkannter Theologen zu betrachten.

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schiedene heutige Irrtümer"31 herauszugeben. Ihre Anfangsworte Mysterium Ecclesiae greifen den Titel des ersten Kapitels der Dogmatischen Konstitution des Konzils über die Kirche auf3 2 • Um das Wesen der Kirche angemessen darstellen zu können, müßte diese gesamte Lehre entfaltet werden, was in diesem Rahmen unmöglich ist. Die wenigen fundamentalen Aussagen, die im folgenden herausgehoben werden sollen, sind jedoch im Gesamtzusammenhang dieser Lehre zu sehen und können nur so richtig verstanden werden. über den mystischen Leib Christi sagt nun das Konzil: "Gottes Sohn hat in der mit sich geeinten menschlichen Natur durch seinen Tod und seine Auferstehung den Tod besiegt und so den Menschen erlöst und ihn umgestaltet zu einem neuen Geschöpf (vgl. Gal 6, 15; 2 Kor 5, 17). Indem er nämlich seinen Geist mitteilte, hat er seine Brüder, die er aus allen Völkern ·zusammenrief, in geheimnisvoller Weise gleichsam zu seinem Leib gemacht 33 ."

Dem "mystischen Leib Christi" werden die Menschen "durch die Taufe ... eingegliedert"34, durch ein Sakrament also, durch welches sie "auf geheimnisvolle und doch wirkliche Weise mit Christus ... vereint werden"35. Diesen seinen mystischen Leib, die Kirche, hat Christus selbst "mit hierarchischen Organen ausgestattet", indem er dem Petrus "und den übrigen Aposteln ... ihre Ausbreitung und Leitung anvertraut" hat36 . Die "göttliche Sendung, die Christus den Aposteln anvertraut hat", wird also in seinem "hierarchisch geordneten"37 mystischen Leib und durch diesen Leib, die Kirche, verwirklicht. Damit die Apostel die ihnen übertragene Leitungsaufgabe erfüllen konnten, sind sie "mit einer besonderen Ausgießung des herabkommenden Heiligen Geistes von Christus beschenkt worden (vgl. Apg 1, 8; 2, 4; Jo 20, 22 - 23). Sie hinwiederum übertrugen ihren Helfern durch die Auflegung der Hände die geistliche Gabe (vgl. 1 Tim 4, 14; 2 Tim 1, 6 bis 7), die in der Bischofsweihe bis auf uns gekommen ist"38. Und weiter sagt das Konzil: 31 AAS 65 (1973) 396 - 408. Am Ende (408) wird der Zweck der Erklärung nochmals klargestellt und gesagt, daß die Lehre von der Kirche in Erinnerung gerufen wird, "damit in der heutigen Verwirrung der Geister (ut in hodierna mentium perturbatione) klargestellt werde, was der Glaube und die Lehre sei, welche die Christen hochhalten sollen". 32 Das erste Kapitel ist mit "De Ecclesiae Mysterio" überschrieben. 33 LG 7 Abs. 1. Im weiteren Text wird die Lehre entfaltet; vgl. auch Mystici Corporis (ob. Anm. 18) 763 ff. 34 AA 3 Abs. 1. 35 LG 7 Abs. 2. 36 LG 8 Abs. 1 und 2; auch unten bei Anm. 71 zu Eph 4, 11 ff., ferner bes. LG 18 ff. 37 LG 20 Abs. 1. ~8 LG 21 Abs. 2.

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"Die Bischöfe haben also das Dienstamt in der Gemeinschaft zusammen mit ihren Helfern, den Priestern und den Diakonen, übernommen. An Gottes Stelle stehen sie der Herde vor, deren Hirten sie sind, als Lehrer in der Unterweisung, als Priester im heiligen Kult, als Diener in der Leitung39 ." Das "hierarchische Priestertum", das "durch das Weihesakrament" begründet wird, unterscheidet sich, wie das Konzil mehrfach und nachdrücklich betont hat, vom gemeinsamen "Priestertum der Gläubigen .. . dem Wesen und nicht bloß dem Grade nach"40. Als "Laien" bezeichnet das Konzil im Sinne der ständigen Lehre der Kirche "alle Christgläubigen . " mit Ausnahme der Glieder des Weihestandes und des in der Kirche anerkannten Ordensstandes, ... , die, ... , des priesterlichen, prophetischen und königlichen Amtes Christi auf ihre Weise teilhaftig" sind 41 • Dies alles hat Klostermann etwa im Kapitel: "Die Träger der apostolischen Werke und Aufgaben"42 noch klar gesehen. In dem nur fünf Jahre später erschienenen Kommentar zum Dekret über das Apostolat der Laien wird jedoch bereits "die bloße Gegenüberstellung von Hierarchen und Nichthierarchen, Klerikern und Nichtklerikern, die man eben Laien nennt", problematisiert und polemisch mit einer Gliederung des Staatsvolkes "je nach Vorliebe für eine Gruppe etwa in Beamte und Nichtbeamte, Ärzte und Nichtärzte, Arbeiter und Nichtarbeiter" verglichen. Dabei greift Klostermann einen Vorschlag positiv auf, "den rein künstlichen, nicht dem Leben entnommenen Ausdruck ,Laie', der durch die Bedeutung ,Nichtfachmann' ohnedies reichlich kompromittiert ist, überhaupt fallen zu lassen und einfach von Christen zu sprechen". Und er fügt hinzu: "Zweifellos sind wir noch immer zu sehr von der mittelalterlichen Zweiteilung des Gottesvolkes beeinflußt"43. Klostermann geht dabei über die Tatsache hinweg, daß laicus vom griechischen Wort Aaix6~ (von Aa6~, Volk) abgeleitet ist, was so viel wie einer aus dem Volke bedeutet. Der Begriff wird bereits in der Patristik und in den Konzilien von Nicaea (325) und Chalcedon (451) zur Abgrenzung von den presbyteri oder derici verwendet44 . Besonders aufschlußreich LG 20 Abs. 3. LG 10 Abs. 2; vgl. auch CD 4 und 28 ff. sowie PO 1 ff.; ferner OT 8 ff., Mysterium Ecdesiae (ob. Anm. 10) 6 Abs. 1, vor allem das Rundschreiben Pius' XII. vom 20. November 1947 Mediator Dei et hominum (Rohrbasser, ob. Anm. 3) 212 - 214, 243 - 245 und 279 - 283, und das Schreiben von Papst Johannes Paul 11. an die Priester zum Gründonnerstag 1979 (Deutsche Ausgabe des L'Osservatore Romano v. 13. 4. 1979, Beilage) 3 und 4. 41 LG 31 Abs. 1. 42 Das christliche Apostolat 922 ff.; auch 117 f. 43 LThK 11 611. 44 Conc. Nic. can. 22 (Mansi 11 703); Conc. Chalc. can. 2 (Man si VI 1225); vor allem Tert. praescr. 41, 6; 1 Clem. 40, 5 (PG 9, 57 A) und viele andere; "gI. die Nachweise bei G. W. H. Lampe, A Patristic Greek Lcxicon (1961) 970. 39 40

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ist eine Stelle aus den Constitutiones Apostolorum,in welcher gesagt wird, daß Christ zu werden in unserer Macht liegt, und Christen sind Kleriker und Laien (laici) in gleicher Weise. Aber Apostel oder Bischof oder Priester zu sein, liegt nicht in unserer Macht, sondern das steht bei Gott, der die Gnadengaben (charismata) austeilt45 . Laie ist also überhaupt nicht ein Begriff für eine "Zweiteilung des Gottesvolkes" , sondern bezeichnet einfach das Glied · des Gottesvolkes. Und erst recht nicht kann dabei von einer "mittelalterlichen Zweiteilung" gesprochen werden. Bischof, und allgemeiner presbyter oderdericus, wird man durch besondere Berufung Gottes und durch Handauflegung 46 . Jeder Priester aber wird durch die besondere Berufung und Gnadengabe Gottes "aus den Menschen genommen und für die MenSchen eingesetzt"47. Daß ein so hervorragender Fachmann wie Klostermann, der das alles wissen muß, dennoch zu den zitierten Aussagen gelangen konnte, ist schwer zu begreifen. Das ist auch nicht allein durch den oben angedeuteten Wissenschaftsbegriff zu erklären. Denn hier liegt nicht nur eine Verkennung der von Christus gestifteten, sakramentalen und hierarchischen Ordnung der Kirche vor, sondern vielmehr eine Entstellung, die ihre Wurzeln ohne Zweifel in jenem "Konzils-Ungeist" hat, von dem Ratzinge1' mit Recht sagte, daß er "vom Konzil zu trennen und ebenso zu verabschieden wie dieses zu behalten ist"48. 45 Const. Apost. 8, 1, 21 (ed. Funk, Didascalia et constitutiones apostolorum 1905, Neudruck 1964). An die dort getroffenen Aussagen knüpfen auch LG 18 fi. und AA 3 Abs. 4 an. 46 Daher zählt das Konzil von Nicaea in dem ob. Anm. 44 zitierten can. 22 auch die diaconissas zu den Laien, weil sie, im Gegensatz zu den presbyteri, die Handauflegung nicht erhalten. 47 So Papst Johannes Paul 11. in seinem Schreiben an die Priester 3 unter Bezugnahme auf Hebr 5, l;vgl. dazu den Kommentar von H. U. v. Balthasar (ob. Anm. 14) 56 ff. 48 Regensburger Bistumsblatt vom 9. Nov. 1975 (Nr. 45) 7, abgedruckt in Theologisches (Beilage der "Offerten-Zeitung für die kath. Geistlichkeit Deutschlands", hrsg. von W. Schamoni)69 (1976) 1852. Vgl. auch den unten bei Anm. 134 wiedergegebenen Text. Paul VI. hatte in Ecdesiam suam 19 f. und an anderen Stellen vor diesen Gefahren nachdrücklich gewarnt. Als Auswirkung dieses Konzils-Ungeistes muß es auch angesehen werden, daß Klostermann im Vorwort zu dem ob. Anm. 23 angeführten Buch von Hierzenberger erklärt: "Um es kurz zu sagen: Ich begrüße die Veröffentlichung dieses Werkes: ... " (dort 7); eine weitere Konsequenz dieses Weges ist die im Wiener Kurier vom 27. Juni 1976, S. 5, erschienene Reportage über den Konzilstheologen Klostermann unter der überschrift: "Nicht utopisch: Pfarrer auf Zeit mit Frau und Kind", wo auch eine Aussage aus Klostermanns Buch "Müssen die Priester aussterben?" (1976) wiedergegeben ist. Alle diese Thesen weisen, trotz der gemachten Einschränkungen, in die Richtung eines Priesterbildes, das vom katholischen weit entfernt ist. Vgl. dazu auch Paul VI., Ansprache an den römischen Klerus vom 10. 2. 1978, Deutsche Ausg. des L'Osserv. Rom. vom 24. 2. 78, S. 1 f. S. 2 sagt er: "Ein Entsakralisierungsprozeß hat das Amtspriestertum ergriffen, um seinen Weiterbestand zu zerstören ......

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Mit diesem "Konzils-Ungeist", der sich selbst gerne als "Geist des Konzils" darstellt49 , mag folgende erstaunliche Tatsache zusammenhängen: Während das Konzil den Ausdruck "Apostolat" überaus häufig gebraucht50 , ist er aus der modernen theologischen Literatur so gut wie vollständig verschwunden 51 • Ein hervorragender Kenner der heutigen Lage in der Theologie meinte, diese Tatsache sei wohl damit zu erklären, daß der Begriff des Apostolats "zu hierarchisch, zu kirchlich und zu fromm" sei, als daß er in den Vorstellungen der Mehrzahl der heutigen Theologen Raum finden könnte. Wie dem auch sei, so kann jedenfalls christliches Apostolat als "Tätigkeit des mystischen Leibes" Christi nur ausgeübt werden von den Gliedern des wirklichen Leibes Christi, wie Christus selbst ihn in geheimnisvoller Weise begründet hat52 • Klostermann hatte das Wesen jeglichen Apostolats daher sicher zutreffend als "ein Apostolat der Teilhabe an" der Sendung Jesu 53 umschrieben, welche "die liebende 49 Der Konzilstheologe P. S. Tromp SJ sagte treffend, "daß man künstlich einen sogenannten Geist des Konzils geschaffen hat, der im Grunde nur das ist, was einige Mitglieder und Periti des Konzils gewünscht haben, aber nicht erreichen konnten. Den wirklichen Geist findet man unverbrüchlich in den Glaubensaussagen des Konzils, die von der überragenden Mehrheit der Väter approbiert wurden". Den vorgeblichen "Geist des Konzils" entlarvt er als eine neue Mythologisierung, als eine "Mythologisierung des Zweiten Vatikanischen Konzils" (wiedergeg. in: Osterr. Klerus-Blatt 1968, Nr. 1, S. 5 f.). Ein anderer anerkannter Konzilstheologe, J. Ratzinger (vgl. vorige Anm.), stellt fest, daß die "Erfahrungen des nachkonziliaren Jahrzehnts ... dazu verhelfen" können, "Geist und Ungeist deutlicher zu scheiden, als es damals geschah". 50 Nach dem Index terminologicus in LThK III 735 f. kommen die Begriffe Apostolatus und Apostolicitas, Apostolicus und Apostolus in insgesamt 267 Artikeln verteilt auf alle Konzilsdokumente vor. Die Begriffe werden in einem Artikel oft auch mehrmals gebraucht. Der Begriff Apostolatus selbst kommt in 92 Art. verteilt auf 13 von 17 Konzilsdokumenten vor. 51 In der ausführlichen Literaturangabe im Handbuch der Pastoraltheologie I (hrsg. von F. X. Arnoldt, K. Rahner, V. Schnurr, L. M. Webert und F. Klostermann, 21970) 157 ff. ist außer dem ob. Anm. 9 angeführten Buch von Klostermann und seinem Kommentar zu AA, LThK II 587 ff., nur noch ein Aufsatz von K. Rahner in: Schriften zur Theologie III (61964) 339 - 373 über das Laienapostolat angeführt, der thematisch vom Apostolat handelt. In der ebenfalls umfangreichen Literaturangabe zum Art. Apostel/Apostolatl Apostolizität von F. Mildenberger in TRE (Theologische Realenzyklopädie) III (1978) 477 ist noch angeführt ein Aufsatz von K. Rahner, Maria und das Apostolat, in: Sendung und Gnade, Beitr. zur Pastoraltheol. (1966). Vgl. ferner H. F. Köck, Pius XII. und das Apostolat der Laien, in: Pius XII. zum Gedächtnis, hrsg. von H. Schambeck (1977) 427 - 443. Köck ist aber Jurist und nicht Theologe, zudem ergab sich das Thema aus dem Werk Pius' XII. 52 In LG 7 Abs. 1 heißt es "mystice constituit". 53 Klostermann 1131 sagt wörtlich: "Jegliches Apostolat außer dem Jesu ist ein Apostolat der Teilhabe an seinem Apostolat." Schon 1112 ff. hatte er vom "Apostolat .Tesu" gesprochen. Ich möchte dieser Ausdrucksweise nicht folgen, obwohl in Hebr 3, 1 der Ausdruck (moa'wAo; in Bezug auf Jesus verwendet wird, AA 29 Abs, 3 wird aber gesagt: "Vor allem muß der Laie

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Nachfolge Jesu" voraussetzt 54 • Nachfolge Jesu aber bedeutet Selbstheiligung. Daher bemerkt Klostermann auch mit Recht, daß die Päpste in diesem 'Zusammenhang "oft auf die Verbindung von Selbstheiligung und Apostolat hingewiesen" und "wiederholt vor dem ,Fieber des Aktivismus'" gewarnt haben55 • "Wenn aber die Kirche ein Leib ist", sagt Pius XI!., "so muß sie etwas Einziges und Unteilbares sein"56. "In dieser einen und einzigen Kirche Gottes sind" nun leider "schon von den ersten Zeiten an Spaltungen entstanden, die der Apostel aufs schwerste tadelt und verurteilt"57. Jede "Spaltung widerspricht aber ganz offenbar dem Willen Christi, sie ist ein Ärgernis für die Welt und ein Schaden für die heilige Sache der Verkündigung des Evangeliums vor allen Geschöpfen"58. Als "Tätigkeit des mystischen Leibes" setzt christliches Apostolat im eigentlichen Sinne daher die Einheit mit jenem Leibe voraus, den Christus in seiner Kirche gebildet hat und "die wir im Glaubensbekenntnis als die eine, heilige, katholische und apostolische bekennen"59. Dies hat Christus selbst in vielfacher Weise bekräftigt60 . Die schmerzliche Tatsache der Spaltungen und ihrer Folgen hat jedoch das Konzil auch zu Erklärungen darüber genötigt, in welchem Verhältnis zur Kirche und ihren Aufgaben jene Menschen stehen, "die jetzt in solchen" infolge der Spaltungen von der Kirche getrennten "Gemeinschaften geboren sind und in ihnen den Glauben an Christus erlangen" und denen "die Schuld der Trennung nicht zur Last gelegt werden" kann61 . Es wird zunächst betont: "die katholische Kirche betrachtet sie als Brüder, in Verehrung und Liebe"62. Gleichwohl führt kein Weg an der Tatsache der schmerzlichen Trennung vorbei. Daher muß das Konzil, nach der Hervorhebung der tatsächlich vorhandenen oder möglichen Gemeinsamkeiten die Feststellung treffen: lernen, die Sendung Christi und der Kirche zu erfüllen". Auch sonst wird von der Sendung Christi gesprochen. Ich will daher diesen Ausdruck beibehalten. 54 Klostermann 1137; vgl. auch den weiteren Text dort; dazu AA 3; 4 und 10 Abs. 2; LG 33 Abs. 2. 55 Klostermann 533; zu den dort angeg. Belegen noch Piul> Xl., Mit brennender Sorge (Rohrbasser, ob. Anm. 3) 891; auch LG 39 und 41 Abs. 7 sowie AA3. 58 Mystici corporis (Rohrbasser) 784; dazu Satis cognitum 608 ff.; LG 8 Abs. 2; UR 1 und 2 sowie AG 6 Abs. 6. 57 UR 3 Abs. 1. 58 UR 1 Abs. 1. 59 LG 8 Abs. 2; vgl. auch 26 Abs. 1 und CD 11; ferner AA 19 Abs. 2 und die Symbola DS (Anm. 22) 1; 2 und 42 - 46. 60 Vor allem Joh 15, 1 - 16; dort 5 sagt Jesus: "ohne mich könnt ihr nichts tun"; vgl. auch AA 4 Abs. 1. 81 UR 3 Abs. 1. 82 UR 3 Abs. 1.

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"Dennoch erfreuen sich die von uns getrennten Brüder, sowohl als einzelne wie auch als Gemeinschaften und Kirchen betrachtet, nicht jener Einheit, die Jesus Christus all denen schenken wollte, die er zu einem Leibe und zur Neuheit des Lebens wiedergeboren und lebendig gemacht hat, jener Einheit, die die Heilige Schrift und die verehrungswürdige Tradition der Kirche bekennt. Denn nur durch die katholische Kirche Christi, die das allgemeine Hilfsmittel des Heiles ist, kann man Zutritt zu der ganzen Fülle der Heilsmittel haben. Denn einzig dem Apostelkollegium, an dessen Spitze Petrus steht, hat der Herr, so glauben wir, alle Güter des Neuen Bundes anvertraut, um den einen Leib Christi auf Erden zu konstituieren, welchem alle völlig eingegliedert werden müssen, die schon auf irgendeine Weise zum Volk:. Gottes gehören 63 . "

In welchem Sinne christliches Apostolat von jenen ausgeübt werden kann, die dem "einen Leib Christi auf Erden" noch nicht "völlig eingegliedert" sind, bedürfte einer gesonderten Untersuchung, die den Rahmen dieses Beitrages bei weitem sprengen würde. Das Konzil hat über "die gemeinsame Pflicht zum christlichen Zeugnis"64 gesprochen und in diesem Zusammenhang von der "Zusammenarbeit der Katholiken mit anderen Christen"65. Es steht auch völlig außer Zweifel, daß es gerade in der heutigen Zeit und besonders in den Ländern, in denen das christliche Bekenntnis grausam verfolgt wird, viele Zeugnisse heroischen christlichen Lebens der "von uns getrennten Brüder" gibt 66 . In vielen Bereichen gibt es zweifellos auch fruchtbare Zusammenarbeit In der Verteidigung gemeinsamer Grundwerte und im Bemühen um die "Durchdringung und Vervollkommnung der Ordnung der zeitlichen Dinge mit dem Geiste des Evangeliums"67. Aber gerade alle diese Möglichkeiten lassen das Fehlen der vollen Einheit um so schmerzlicher in das Bewußtsein treten. Denn von dem einen Christus sollten Glieder des einen Leibes Christi künden, und nicht Glieder eines zerstückelten Leibes. Diese Einheit ist gewiß auf rein natürlicher Ebene weder zu UR 3 Abs. 5 (Hervorh. von mir). AA 27 Abs. 1. 65 AA 27 Abs. 1. 6e Man braucht nur an die ungezählten Blutzeugen und Verfolgten der "Kirche des Schweigens" zu denken, oder etwa an S. Kourdakow, Vergib mir Natascha (deutsch: Frankfurt/Main 1975). Kourdakow war aus einem kommunistischen Aktivisten zum Christen geworden. Danach riskierte er sein Leben bei der Aufgabe, in Kanada über das SchiCksal der Christen in der UdSSR zu berichten. In der Folge hat er es auch verloren. Unter den zahlreichen Zeugnissen ragen die Werke von A. Solschenizyn hervor. Ein besonders großartiges Zeugnis für das "Erbgut der .Wahrheit und der Sitten" (ob. bei Anm. 5) hat der evangelische Arzt Dr. Siegfrieg Ernst (Ulm) , Mitglied der Evangelischen Landessynode, in seinem Offenen Brief an Prof. Dr. Hans Küng vom 17. Nov. 1979 abgelegt, in dem er auf Küngs Artikel "Bilanz - Ein Jahr Johannes Paul 11." die gebührende Antwort gibt (abgedr. in Timor Domini Nr. 4, Dez. 1979, S. 3 f.). a7 AA 2 Abs. 2. 63

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erhoffen noch durch äußerliche Konstruktionen herbeizuführen68 • Sie kann nur von Christus selbst geschenkt werden nach Maßgabe der "inneren Bekehrung"69 zu ihm. Von ihm sagt der hl. Apostel Paulus: "Er ist es auch, der die einen ,gab' 7°als Apostel, andere als Propheten, andere als Evangelisten, andere als Hirten und Lehrer, um die Heiligen heranzubilden zur Ausführung ihres Dienstes, zum Aufbau des Leibes Christi, bis wir alle hingelangen zur Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes"71. Die Einheit des Glaubens ist jedoch nur in der Einheit der Wahrheit möglich 72 • Daher ist es für das Wesen des Apostolats von entscheidender Bedeutung, daß wahre Einheit nicht um den Preis einer Verkürzung der Wahrheit erreicht werden kann. Das unterstreicht das Konzil nachdrücklich, indem es feststellt: "Nichts ist dem ökumenischen Geist so fern wie jener falsche Irenismus, durch den die Reinheit der katholischen Lehre Schaden leidet und ihr ursprünglicher und sicherer Sinn verdunkelt wird 73 ."

Mit der "Reinheit der katholischen Lehre" ist jedoch bereits der zweite Aspekt berührt, der nun zu untersuchen ist, nämlich der Inhalt des Apostolats.

11. Zum wesentlichen Inhalt des christlichen Apostolats Wenn das Wesen des christlichen Apostolats als "Tätigkeit des mystischen Leibes" Christi in einer Teilhabe an der Sendung Jesu besteht74 , so muß auch sein Inhalt mit dem Inhalt der Sendung Jesu übereinstimmen. Jesus bezeugt nun selbst von sich: 68 Vgl. etwa Satis cognitum (Rohrbasser) 613. Dagegen K. Rahner, Ist Kircheneinigung dogmatisch möglich? Theologische Quartalschrift 153 (1973) 103 - 118, mit Thesen, die der Lehre der Kirche, auch des Zweiten Vatikanischen Konzils, geradewegs zuwiderlaufen und eine Lösung durch eine äußerliche Konstruktion unter Außerachtlassung der Frage der Wahrheit anstreben. Solchen Vorstellungen ist auch Papst Johannes Paul 11. wiederholt, besonders auch in Catechesi tTadendae 32 f. entgegengetreten, indem er von der "vollen Einheit in der ganzen Wahrheit" spricht und sich gegen "einen billigen Irenismus" wendet, "der durch Auslassungen und Nachgeben in der Lehre zustandekommt". Vgl. auch UR 11 Abs. 1 (u. bei Anm. 73). 69 UR 7 Abs. 1; ähnlich Papst Johannes Paul 11., Catechesi tTadendae 32 Abs.5. 70 Die Übersetzung der Jerusalemer Bibel setzt das Wort "gab" unter Anführungszeichen. Vulgata: dedit für EÖWXEV. 71 Eph 4, 11 - 13. 72 Joh 17, 14 - 24; Eph 4, 14 - 16; UR 2 und viele andere, auch AA 2 (ob. bei Anm. 7). 73 UR 11 Abs. 1; vgl. dazu . den u. bei Anm. 97 wiedergeg. Text aus

Ecclesiam suam. 14

Vgl. ob. bei Anm. 7 und 1.

3 Festschrift Rossl

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"Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, um für die Wahrheit Zeugnis abzulegen. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme75 ." Daher hat Christus seine Kirche "als ,Säule und Feste der Wahrheit' errichtet", "durch die Er Wahrheit und Gnade auf alle ausströmt"76. Wie das Konzil an anderer Stelle sagt, ist "nach dem Willen Christi ... die katholische Kirche die Lehrerin der Wahrheit"; und weiter: "ihre Aufgabe ist es, die Wahrheit, die Christus ist, zu verkündigen und authentisch zu lehren, zugleich auch die Prinzipien der sittlichen Ordnung, die aus dem Wesen des Menschen selbst hervorgehen, autoritativ zu erklären und zu bestätigen. Ferner sollen die Christen bemüht sein, in Weisheit wandelnd vor den Außenstehenden, ,im Heiligen Geist, in ungeheuchelter Liebe, im Wort der Wahrheit' (2 Kor 6, 6 - 7), mit der Tapferkeit der Apostel bis zur Hingabe des Blutes das Licht des Lebens mit allem Freimut zu verbreiten. Denn der Jünger hat gegenüber Christus, dem Meister, die ernste Pflicht, die von ihm empfangene Wahrheit immer vollkommener kennenzulernen, in Treue zu verkünden und kraftvoll zu verteidigen unter Ausschluß aller Mittel, die dem Geist des Evangeliums entgegengesetzt sind. Zugleich wird er von der Liebe Christi gedrängt, den Menschen, die in Irrtum und Unwissenheit in den Dingen des Glaubens befangen sind, in Liebe, Klugheit und Geduld zu begegnen"77. Diese Wahrheit ist aber nicht nur eine theoretische, sondern "die Heilswahrheit"78. Daher sagt das Konzil weiter: "Das Erlösungswerk Christi zielt an sich auf das Heil der Menschen, es umfaßt aber auch den Aufbau der gesamten zeitlichen Ordnung. Darum besteht die Sendung der Kirche nicht nur darin, die Botschaft und Gnade Christi den Menschen nahezubringen, sondern auch darin, die zeitliche Ordnung mit dem Geist des Evangeliums zu durchdringen und zu vervollkommnen7o." Dabei ist die Aufgabe der Verkündigung und der Vermittlung der Gnade, der "Dienst des Wortes und der Sakramente", "zwar in besonderer Weise dem Klerus anvertraut, an ihm haben aber auch die Laien ihren bedeutsamen Anteil zu erfüllen, damit sie ,Mitarbeiter der Wahrheit' (3 Jo 8) seien"80. Joh 18, 37. LG 8 Abs. 1 (übersetzung aus der Ausg. im Paulus Verlag, LThK hat: "so gießt er durch sie Wahrheit und Gnade auf alle aus") und 2; vgl. auch DV 7 Abs.1. 77 DH 14 Abs. 3 und 4; vgl. auch GS 28 (u. bei Anm. 106). 78 GS 28 Abs. 2; die Ausg. im Paulus Verlag übers.: "heilbringende Wahrheit". 79 AA 5. 80 AA 6 Abs. 1; auch 16 Abs. 4; zum Begriff Laie ob. bei Anm. 41 - 46. Papst Johannes Paul I1. hat in Catechesi tradendae 48 betont, daß die Predigt "den geweihten Amtsträgern vorbehalten bleiben" soll, was im Hinblick auf viele Mißbräuche wichtig ist. 75

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Wenn man diese Aussagen betrachtet - zu denen noch überaus zahlreiche ähnliche angeführt werden müßten81 - , dann muten sie angesichts der heutigen Realität wie eine Botschaft aus einer anderen Welt an. Und sie sind es. Sie sind eben Inhalt und Ausfluß der göttlichen Offenbarung an die Welt durch Christus. Aber unter dem Einfluß des oben angedeuteten Wissenschaftsbegriffes und der verschiedenen philosüphischen Strömungen gilt heute mehr denn je: ,,(Das Wort) war das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet; es kam in die Welt. Er war in der Welt, und die Welt ist durch ihn geworden, und die Welt hat ihn nicht erkannt. Er kam in sein Eigentum, und die Seinigen nahmen ihn nicht auf82." Auf der Grundlage eines püsitivistischen Agnüstizismus, Skeptizismus, Histürismus (Histürizismus)83, Relativismus, Süziülügismus, Psycholügismus und zahlreicher ähnlicher Strömungen ist zunächst im Zuge der "Entmythülogisierung" unternümmen würden, die Hl. Schrift ihres übernatürlichen Ursprungs zu entkleiden. In der weiteren Fülge sind al'le Bereiche der Verkündigung vün diesen Ideen erfaßt würden84, so. daß heute etwa Versuche, die genuin christliche Verkündigung wiederherzustellen, vün nüminell "kathülischen Theülügen" schärfstens angegriffen werden und höhnender Ablehnung ausgesetzt sind85 • Diese Strömungen lehnen im allgemeinen so. etwas wie objektive Wahrheit grundsätzlich ab 8ß • Gleichwohl nehmen sie aber für ihre Auf81 In 102 Artikeln des Konzils ist von der Wahrheit die Rede, sie allein ist auch die einzig gültige Grundlage aller Aussagen des Konzils. 82 Joh 1, 9 - 11. Alle, die wirklich Christus nachfolgen wollen, werden irgendwie dasselbe erfahren. Vgl. auch Joh 3, 19 und 17, 14; LG 8 Abs. 4 und 42 Abs. 2; viele andere Stellen weisen noch darauf hin. 83 Zu den beiden Begriffen G. Scholtz, Historisches Wörterbuch der Philosüphie III (1974) 1141 ff. mit zahlreichen Hinweisen. 84 Einen überblick über diesen Einfluß bietet das ob. Anm. 10 angeführte Sammelwerk "Die heißen Eisen von Abis Z"; dazu die ebenfalls in Anm. 10 angegebene Analyse von E. Hesse, vgl. dort 242 ff. die Zusammenfassung und den Nachweis des Widerspruchs zum Konzil. Diese Vorgänge werden seit Jahren dokumentiert, aber bisher ohne sichtbare Wirkung. Hoffentlich gelingt es dem jetzigen Hl. Vater, diesen Zustand in der Kirche zu ändern; vgl. u. Anm. 133. 85 Vgl. etwa nur die üb. Anm. 10 angeführte Untersuchung von Scheffczyk. Ähnlich sah die Kritik an einem österreichischen Entwurf zu einem Glaubensbuch aus. In der Auseinandersetzung um die österreichischen Glaubensbücher wurde in der Tat deutlich, daß die Methode als Vorwand zur Veränderung des Inhalts des Glaubens benützt wird. Sie entsprechen daher weithin weder den Richtlinien des Allgemeinen Katechetischen Direktoriums von 1971 noch jenen des jetzigen Papstes in Catechesi tradendae. Weitgehend ähnlich dürfte die Situation fast überall in der westlichen Welt sein. Vgl. auch die vatikanische Stellungnahme "Fehlschlag oder Erfolg?" zu: Neues Glaubensbuch - Der gemeinsame christliche Glaube, Deutsche Ausg. des L'Osservatore Romano vom 18. (1) u. 25. Mai (2) 1979, S. 9 (1) u. 11 (2).

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stellungen in Anspruch, daß sie als allein wissenschaftliche und allein wahre Erkenntnisse anzusehen seien87 • Eine Auseinandersetzung mit diesen für die Gegenwart so verhängnisvollen Strömungen ist in diesem Rahmen naturgemäß nicht möglich 88 • Die Päpstliche Bibelkommission hat jedoch im Jahre 1964 in einer von Papst Paul VI. approbierten Instruktion "Über die historische Wahrheit der Evangelien" zu den mit diesen Strömungen zusammenhängenden Problemen so grundlegende Aussagen getroffen, daß der entscheidende Absatz hier wiedergegeben werden soll. Im Rahmen der Ausführungen über den "Wert der rationalen Hermeneutik" heißt es: "Wo es nötig erscheint, darf der Ausleger fragen, welche gesunden Elemente die ,formgeschichtliche Methode' enthält, die er zu einem volleren Verständnis der Evangelien mit Recht benützen könnte. Doch möge er dabei umsichtig vorgehen, da mit dieser Methode oft nicht zu billigende philosophische oder theologische Prinzipien offensichtlich verquickt sind, die sowohl die Methode als auch die literarischen Schlußfolgerungen nicht selten verderben. Manche Vertreter dieser Methode weigern sich nämlich, durch vorgefaßte rationalistische Meinungen89 verführt, die Existenz einer übernatürlichen Ordnung und das aufgrund von Offenbarung im eigentlichen Sinne erfolgte Eingreifen eines persönlichen Gottes in der Welt, sowie die Möglichkeit und Existenz von Wundern90 und Prophezeiungen anzuerkennen. Andere gehen von einem falschen Begriff des Glaubens aus, als sei diesem selbst an der historischen Wahrheit nichts gelegen, ja als könne man ihn mit dieser nicht zusammenbringen. Andere leugnen gleichsam apriori die historische Bedeutung und Anlage der Offenbarungszeugnisse. Andere schließlich schätzen die Autorität der Apostel, sofern sie Zeugen Christi sind, ferner ihr Amt und ihren Einfluß in der Urgemeinde gering und übertreiben zugleich die schöpferische Kraft dieser Gemeinde. Dies alles widerstreitet nicht nur der katholischen Lehre, sondern entbehrt auch der wissenB6 Das wird klar in GS 19 Abs. 2 ausgesprochen. Die philosophischen Wurzeln dieser Ablehnung analysiert J. Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit (21976). Voegelin (ob Anm. 15) 239 hat im Hinblick auf die heute weithin herrschenden philosophischen Vorstellungen ein Wort A. N. Whiteheads: "Die moderne Philosophie ist ruiniert", noch verdeutlicht und gesagt: "Das Leben der Vernunft, die unerläßliche Bedingung für persönliche und gesellschaftliche Ordnung, ist zerstört." Auf diesen Grundlagen konnte auch der Auftrag des Konzils in OT 15 praktisch nicht erfüllt werden. 87 Vgl. dazu etwa nur W. Waldstein, Wissenschaftliche Erkenntnis und präpositives Recht, in: Dimensionen des Rechts, Gedächtnisschrift für Rene Marcic (1974) 390 ff. 88 Das ist überhaupt eine Aufgabe, die einzelne Forscher heute nicht mehr bewältigen können. Es wird dies eine der wichtigsten Aufgaben für die Zukunft der Kirche sein. 89 Vielfach handelt es sich einfach um den historischen Positivismus oder sonst eine positivistische Richtung. 90 Vgl. dazu etwa nur W. Schamoni, Wunder sind Tatsachen (21976), der in den Heiligsprechungsprozessen durch ein überaus genaues Verfahren bis in unsere Gegenwart sicher bezeugte Wunder in einer großen Zahl, und dennoch nur in einer kleinen Auswahl aus dem vorhandenen Material, dokumentiert.

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schaftlichen Grundlage und hat mit den rechten Prinzipien der historischen Methode nichts zu tun91 ." Es liegt auf der Hand, daß eine Verkündigung, die auf den hier eindeutig verworfenen Grundlagen aufbaut, mit christlichem Apostolat nur insoferne etwas zu tun haben kann, als sie ihm diametral entgegenwirkt. Statt der christlichen Heilsbotschaft wird die Gleichförmigkeit mit dieser Welt verkündet92 , und das so, als wäre gerade das der richtig verstandene Inhalt der christlichen Botschaft93 • Unter diesen Voraussetzungen kann natürlich auch von der Erfüllung der Aufgabe keine Rede sein, "die zeitliche Ordnung mit dem Geist des Evangeliums zu durchdringen und zu vervollkommnen". Daher meint man vielfach sogar, Ideologien an die Stelle des Geistes des Evangeliums setzen zu müssen, die mit diesem Geist vollkommen unvereinbar sind und ihre Unmenschlichkeit tausendfältig bewiesen haben und noch immer beweisen94 • Dennoch wagt man im Namen der christlichen Botschaft so zu 91 Abgedruckt in: Theologie der Gegenwart in Auswahl 7 (1964) 199 f. Die Richtigkeit der von der Bibelkommission getroffenen Feststellungen ist inzwischen in überraschender Weise durch die Bücher des ehern. anglikanischen Bischofs John A. T. Robinson, Redating the New Testament (1975) und Can we Trust the Gospels (1976) bestätigt worden, dazu L. Boyer, Ein Erdbeben in der historischen Kritik des Neuen Testaments, Theologisches (ob. Anm. 48) 95 (1978) 2658 ff. Vgl. ferner GS 19 Abs. 2 und 3. 92 Vgl. Ecclesiam suam 20 (Text ob. in Anm. 14), auch 10, wo Paul VI. den Einfluß des Modernismus erwähnt und dann eingeht auf die "Irrtümer, die auch im Inneren der Kirche selbst um sich greifen und in die jene fallen, die nur eine teilweise Kenntnis ihrer Natur und ihrer Sendung haben und nicht genügend die Dokumente der göttlichen Offenbarung und die Verlautbarungen des von Christus selbst eingesetzten Lehramtes beachten". Vgl. auch Röm 12,2: "Werdet dieser Welt nicht ähnlich; sondern wandelt euch um durch einen neuen Geist, ... " (übers. Storr; Jerusalemer Bibel: "Paßt euch nicht dieser Weltzeit an, ... "). 93 Hier spielt vor allem der von Paul VI. zurückgewiesene "Vorwand einer neuen Wissenschaft" (Mysterium fidei 7) eine entscheidende Rolle. So wird etwa die Telephonseelsorge in der Bundesrepublik Deutschland und in Österreich unter dem Vorwand einer neuen und "anerkannten" Wissenschaft auf der Grundlage eines Buches von H. Harsch, Theorie und Praxis der nondirektiven Gesprächsführung (31976), betrieben. Damit wird das Wort "Seelsorge" für etwas in Anspruch genommen, was im Grunde ein rein innerweltlicher psychologischer Beratungsdienst ist, auf dessen Probleme hier nicht eingegangen werden kann; vgl. auch u. Anm. 134. 94 Eine eingehende Analyse bei K. Bockmühl, Marxismus als innerweltliche Religion (1977) 5 ff. und 10 ff.; zum "Methoden-Papier" der "Calama"Gruppe Theologisches 111 (Juli 1979; ob. Anm. 48) 3271 ff. Man braucht nur den Archipel Gulag von A. Solschenizyn zu lesen, um sich das Grauenhafte dieser Ideologie zu vergegenwärtigen, die hinter jenem System steht. Und ausgerechnet auf diese Ideologie greift die von europäischen Professoren entwickelte und nach Lateinamerika exportierte "Theologie der Befreiung" zurück. Papst Johannes Paul II. hat sie in seiner Rede in Puebla I mit der "Wahrheit, die von Gott kommt", konfrontiert, die allein "frei machen" (Joh 8, 32) kann, und dann in III, 6 ff. die wahre Befreiung näher behandelt. Das Konzil hat bereits zum Atheismus als solchem, wozu natürlich auch der Marxismus gehört (und jeder Versuch, das zu bestreiten, ist entweder un-

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tun, als könne man gerade nur von diesen Ideologien einen Fortschritt der Menschlichkeit erwarten. Dagegen hat das Konzil klar gesagt, daß "auch in der irdischen Gesellschaft eine menschlichere Weise zu leben gefördert wird" durch jene "Heiligkeit", die aus dem Leben in der Wahrheit erwächst und nach der zu streben das Konzil nachdrücklich aufruftu5 • Zum wahren Inhalt des Apostolats hat Papst Paul VI. in seiner ersten Enzyklika Ecclesiam suam, in klarer Erkenntnis aller drohenden Gefahren, auf die er eindringlich hingewiesen hat, unter anderem folgende wichtige Feststellung getroffen: "Die Kunst des Apostolates ist ein Wagnis. Die Sorge, den Brüdern näherzukommen, darf nicht zu einer Abschwächung oder Herabminderung der Wahrheit führen. Unser Dialog kann uns nicht von der Verpflichtung gegenüber unserem Glauben entbinden96 • Das Apostolat darf keinen doppeldeutigen Kompromiß eingehen bezüglich der Prinzipien des Denkens und Handeins, die unser christliches Bekenntnis kennzeichnen. Der Irenismus und der Synkretismus sind im Grunde nichts anderes als Formen des Skeptizismus hinsichtlich der Kraft und des Inhalts des Wortes Gottes, das wir verkünden wollen. Nur wer der Lehre Christi vollkommen treu ist, kann eh erfolgreicher Apostel sein. Und nur wer die christliche Berufung ganz lebt, kann gegen die Ansteckung der Irrtümer, mit denen er in Berührung kommt, gefeit sein97 ."

Dies alles gilt natürlich in erster Linie für jene, denen "der Dienst des Wortes" "in besonderer Weise ... anvertraut" ist, aber auch für die Laien, insoferne sie als "Mitarbeiter der Wahrheit" an der Verkündigung teilnehmenu8 • redlich oder er beruht auf sträflicher Unwissenheit), erklärt: "Die Kirche kann, in Treue zu Gott wie zu den Menschen, nicht anders, als voll Schmerz jene verderblichen Lehren und Maßnahmen, die der Vernunft und der allgemeinen menschlichen Erfahrung widersprechen und den Menschen seiner angeborenen Größe entfremden, mit aller Festigkeit zu verurteilen, wie sie sie auch bisher verurteilt hat" (GS 21 Abs. 1). Dagegen hat Papst Johannes Paul H. bes. in seiner Rede in Puebla IH, 1 ff., die Soziallehre der Kirche mit "den Sozialzykliken der letzten Päpste" (IH, 4) als die christliche Antwort auf die Probleme herv.orgehoben; vgl. auch H. Schambeck, Populorum Progressio und das Zweite Vaticanum, FS für Goetz Briefs (1968) 587 ff. 95 LG 40 Abs. 2. 96 Faktisch herrscht heute aber weithin schon ein anderer Glaube (vgl. die Hinweise ob. Anm. 10). 97 Ecclesiam suam 32 f. (Hervorh. von mir). Jetzt hat Papst Johannes Paul H. dasselbe mehrfach und besonders in Catechesi tradendae betont. 98 Vgl. ob. bei Anm. 80; ferner AA 6 Abs. 2; GS 28 Abs. 2; PO 4 Abs. 1 und jetzt Catechesi tradendae an zahlreichen Stellen, bes. 14; 19 ff.; 26 ff. In 30 sagt der Papst: "Damit die Opfergabe seines Glaubens vollkommen sei, hat jeder Jünger das Recht, ,das Wort des Glaubens' nicht verstümmelt, verfälscht oder verkürzt zu empfangen, sondern voll und ganz, in all seiner Macht und Kraft." Was aus diesem Recht seit dem Konzil geworden ist, das können alle jene bezeugen, die sich bemühen, wirklich aus der Wahrheit des Glaubens zu leben. Nur in seltenen Ausnahmefällen wird heute diesem Recht voll entsprochen.

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Zum Inhalt des christlichen Apostolats gehört also unabdingbar die Verkündigung der Wahrheit, wie Christus sie geoffenbart hat und wie die Kirche sie lehrt. Wenn die Verkündigung sich aber nicht nach dieser Wahrheit richtet, sondern nach den angeblichen oder wirklichen Erwartungen der Menschen, nach dem, wovon man glaubt, daß es "ankommt" oder das man "unter dem Vorwand einer neuen Wissenschaft"99 als dem "modernen Menschen" allein angemessen und zumutbar erachtet, dann ist sie gewiß kein christliches Apostolat, mag sie noch so sehr im subjektiv guten Glauben erfolgen 100 • Vielmehr untergräbt sie den christlichen Glauben und verbreitet Irrtum statt Wahrheitl° 1• Das haben schon die Apostel immer wieder und eindringlich klargestelltl° 2 • Das hat auch das Konzil in Übereinstimmung mit früheren Konzilien mehrfach betont 103 • Zum Inhalt des Apostolats gehört daher auch die Auseinandersetzung mit "dem Irrtum, der immer zu verwerfen ist", auch wenn "dem Irrenden, der seine Würde als Person stets behält", "Achtung und Liebe ... zu gewähren" sind104 • Das Konzil ruft auch die Laien besonders zur Mitarbeit auf an dieser für das Apostolat so wichtigen Aufgabe, indem es sagt: "Da sich aber in dieser unserer Zeit neue Fragen erheben und schwerste Irrtümer verbreitet werden, die die Religion, die sittliche Ordnung, ja die menschliche Gesellschaft selbst von Grund aus zu verkehren trachten, ist es dieser Heiligen Synode ein ernstes Anliegen, die Laien, jeden nach seiner Begabung und Bildung, zu ermutigen, im Geist der Kirche noch eifriger bei der Herausarbeitung, Verteidigung und entsprechenden Anwendung der christlichen Grundsätze auf die Probleme unserer Zeit ihren Beitrag zu leisten 105 ." 99

Mysterium fidei 7.

Vgl. auch PO 4 Abs. 1. Vgl. die ernste Warnung Pius' XI. in der Enzyklika Casti connubii (Rohrbasser) 1691 und die Mahnung Pauls VI. in Humanae vitae 28. Besonders markant hat das Tert. praescr. 41, 6 - 42, 2 formuliert. In 42, 2 sagt er: 100

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Hanc magis gloriam captant si stantibus ruinam, non si iacentibus eleuationem operentur. Quoniam et opus eorum non de suo propria aedificio uenit sed de ueritatis destructione, nostra suffodiunt ut sua aedificent.

102 So etwa 2 Joh 7 ff.; 2 Petr 2; auch 1, 16 und 20 f.; besonders Gal 1, 6 ff. vgl. dazu und zu anderen Stellen Papst Johannes Paul H., Rede in Puebla I, 3 und andere; 1 Kor 1, 10 - 12 und 15, 12 -19; 2 Kor 11, 4; Kol 2, 8; 2 Thess 3, 6; 1 Tim 1, 6 und 6, 3 - 5; 2 Tim 4, 3 f.: "Es kommt ja eine Zeit, da man die gesunde Lehre nicht ertragen mag, ... "; ohne Zweifel ist jetzt eine solche Zeit, vgl. auch den weiteren Text; 1 Joh 2, 18 f. und 22 f., auch 4, 1 - 6; lud 3 - 23; ferner Apg 20, 28 - 31. Wenn man alle diese Texte aufmerksam betrachtet, kann deren Aktualität für die heutige Zeit nicht übersehen werden. Auch Christus selbst hat natürlich vor Irrlehrern gewarnt, vgl. nur Matth 7, 15 f., aber gerade diejenigen, die es angeht, werden gewiß nicht zugeben, daß es Christus selbst ist, der das sagt. 103 So etwa in AA 6 Abs. 4 (Text u. bei Anm. 105) und 31 Abs. 2; auch 7 Abs. 3; ferner GS 19 Abs. 2 und 3, sowie 28; OT 15 Abs. 2 und viele andere. 104 GS 28 Abs. 1 und 2. 105 AA 6 Abs. 4.

Wolfgang Waldstein Diese Ermutigung durch das Konzil ist heute besonders wichtig, weil die Vorstellung sehr verbreitet ist, es sei in höchstem Maße lieblos, anzunehmen, daß jemand irre, oder gar davon zu sprechen. Niemand könne sich einbilden, selbst die Wahrheit zu haben. Die Vertreter solcher Auffassungen sind sich vielleicht dessen nicht bewußt, daß sie damit im Grunde die Wahrheit der Offenbarung Christi und die Wahrheit der Lehre der Kirche leugnen. Wenn aber das Wort Gottes, das die Kirche nach dem Willen Christi lehrt und das wir angenommen haben, nicht die Wahrheit wäre, würde jedes Apostolat vollkommen hinfällig. Dann gäbe es bestenfalls unendliche Formen der Propaganda für eigene, subjektive Auffassungen. Nur wer "die heilbringende Wahrheit" selbst zutiefst aufgenommen hat, kann auch vom Wunsch beseelt sein, dieses kostbare Gut anderen mitzuteilen. Und dann ist es gerade die wahre Liebe zu den anderen Menschen, die ihn dazu drängt. Das hat auch das Konzil nachdrücklich unterstrichen, indem es sagt: " ... , die Liebe drängt die Jünger Christi, allen Menschen die heilbringende Wahrheit zu verkünden"106. Welche Bedeutung dem "Zeugnis der Laien in Fragen der Glaubenslehre" bereits in anderen Krisenzeiten der Kirche zugekommen ist, hat Newman besonders für die arianische Krise höchst eindrucksvoll aufgezeigt107 . 108 GS 28 Abs. 2 (zur Übers. ob. Anm. 78). Diese Grundintention kommt jetzt besonders in Catechesi tradendae zum Ausdruck. 107 In dieser Schrift (ob. Anm. 26) 273 sagt Newman, "daß damals die Funktionen der ,Ecclesia docens' zeitweilig aufgehört hatten. Die Bischöfe als Ganzes versagten in ihrem Glaubensbekenntnis. Sie äußerten sich verschieden, einer gegen den anderen; nach Nicäa gab es nichts, was festes unveränderliches oder stetiges Zeugnis genannt werden könnte, und das fast sechzig Jahre lang. Es gab unzuverlässige Kirchenversammlungen und treulose Bischöfe; Schwäche, Angst vor den Folgen, Verführung, Trug, Wahnvorstellungen herrschten endlos, hoffnungslos und fast bis in die letzten Winkel der katholischen Kirche hinein. Die vergleichsweise wenigen, die gläubig blieben, wurden verunglimpft und ins Exil getrieben; die übrigen waren entweder Betrüger oder Betrogene". Und in jenen Tagen wurde, wie Newman dort 271 sagt, "die der unfehlbaren Kirche anvertraute göttliche Tradition weit mehr durch die Gläubigen als durch den Episkopat verkündet und aufrechterhalten". Das war jedoch nur wegen der damaligen Katechese möglich. Newman 272 sagt, wenn die Christen "nicht, wie der heilige Hilarius sagt, vom Augenblick ihrer Taufe an im orthodoxen Katechismus unterrichtet gewesen wären, hätten sie niemals den Abscheu, den sie gezeigt haben, vor der glaubensfeindlichen arianischen Lehre empfinden können". Zur heutigen Glaubenskrise kommt jedoch gerade das Fehlen einer wirklichen Glaubensunterweisung hinzu. Welcher durchschnittliche Katholik wäre heute etwa fähig, die in dem ob. Anm. 10 genannten und mit kirchlichem Imprimatur erschienenen Sammelwerk enthaltenen Irrtümer und Heterodoxien zu erkennen oder gar zu widerlegen? Oder die von heutigen Startheologen wie Küng, Haag und anderen verbreiteten? Auf diesem Hintergrund ist Catechesi tradendae sozusagen ein Jahrhundertdokument, das seine segensvolle Wirkung erst entfalten wird können, wenn die Voraussetzungen dafür, die heute weithin zerstört sind, allmählich wieder aufgebaut werden konnten.

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IH. Die verschiedenen Formen des Apostolats Das "hierarchische Apostolat", die Sendung der Apostel selbst, "das Evangelium ... allen zu predigen als die Quelle jeglicher Heilswahrheit und Sittenlehre und ihnen so göttliche Gaben mitzuteilen", sowie die Sendung ihrer Nachfolger, denen sie "ihr eigenes Lehramt übertragen" haben 108, kann hier nicht dargestellt werden. Ebensowenig kann das vielfältige Apostolat der Priester einbezogen werden, die mit den Bischöfen "in der priesterlichen Würde verbunden und Kraft des Weihesakramentes nach dem Bilde Christi, des höchsten und ewigen Priesters (Hebr 5, 1 - 10; 7, 24; 9, 11 - 28), zur Verkündigung der Frohbotschaft, zum Hirtendienst an den Gläubigen und zur Feier des Gottesdienstes geweiht und so wirkliche Priester des Neuen Bundes" sind 109 • Im folgenden kann nur versucht werden, in wenigen Zügen einen Überblick über die wichtigsten Formen des Laienapostolats zu geben. Die erste Form, auf die einzugehen sein wird, gilt aber für Kleriker und Laien in gleicher Weise. Das Dekret über das Apostolat der Laien enthält ein ganzes Kapitel mit der Überschrift: "Verschiedene Formen des Apostolates"l1o. An der Darstellung der verschiedenen Formen fällt auf, daß die von Pius XII. vorgenommene terminologische Einteilung in ein "Apostolat im weiteren Sinne" einerseits und ein "Laienapostolat im strikten Sinne" andererseits, das "den Charakter eines offiziellen Laienapostolats" trägt1 11 , vom Konzil nicht aufgenommen wurde, so sehr es im übrigen sachlich seinen Darlegungen folgt. Vielmehr hat das Konzil die verschiedenen Formen des Apostolats zunächst nach dem Gesichtspunkt geordnet, ob die Laien "ihre apostolische Tätigkeit als einzelne ausüben" oder "sich dabei ... zu verschiedenen Gemeinschaften oder Vereinigungen zusammenschließen "112. 108 DV 7 Abs. 1 und 2; die hier entscheidende Aussage in Abs. 2 ist in LThK mit "ihr eigenes Lehramt überliefert" (Hervorh. von mir) m. E. irreführend übersetzt. Der latein. Text lautet: "suum ipsorum locum magisterii tradentes", daher ist "übertragen" in der übers. der Ausg. im Paulus Verlag I zutreffender. Vgl. auch LG 25; zum "hierarchischen Apostolat" Pius XII., Ansprache an den zweiten Weltkongreß des Laienapostolates am 5.10.1957, in: Soziale Summe Pius XII., hrsg. von A.-F. Utz und J.-F. Groner III (1961); künft. abgek. zit.: Utz / Groner) 5982 ff. und 5995; auch Paul VI., Allocutio vom 14.9. 1964, in: Sacrosanctum Oecumenicum Concilium Vaticanum II, Constitutiones Decreta Declarationes (1966) 950. 109 LG Abs. 1; vgl. auch den Brief des Papstes an die Priester 3 und 4; auch Catechesi tradendae 48. 110 AA Kap. IV, 15 - 22. Vgl. auch GE 11 Abs. 1, wo von den "schwierigen Aufgaben im geistigen Apostolat" ("apostolatus intellectualis") die Rede ist; auch IM 17 ff. . 111 Utz / Groner III 5995 - 5999; dazu Köck (ob. Anm. 51) 428 f. 112 AA 15; vgl. auch AA 9.

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Ein weiterer Einteilungsgesichtspunkt; der sich mit dem ersten teil-· weise überschneidet, ergibt sich daraus, daß "das Apostolat der Laien, je nach seinen verschiedenen Formen und Inhalten, verschiedenartige Beziehungen zur Hierarchie" zuläßt113 • Dazu wird im fünften Kapitel, das von der Ordnung des Laienapostolats handelt, grundsätzlich gesagt: "Das Apostolat der Laien muß, ob es nun vom Einzelnen oder in Gemeinschaft ausgeübt wird, in rechter Weise in das Apostolat der Gesamtkirche eingeordnet sein. Ja die Verbindung mit denen, die der Heilige Geist dazu bestellt hat, die Kirche Gottes zu leiten (vgl. Apg 20, 28), ist ein wesentliches Element des christlichen Apostolates I14 ." Diese Verbindung kann nun von der allgemeinen, die sich aus der Gliedschaft am mystischen Leibe Christi ergibt, über ein ausdrückliches Mandat bis zu einer besonderen Sendung reichen, kraft deren "dann die Laien bei der Ausübung ihres Amtes ~oll der höheren kirchlichen Leitung" unterstehen116 • Dies ist der Fall "etwa bei der Unterweisung in der christlichen Lehre, bei gewissen liturgischen Handlungen und in der Seelsorge", bei Aufgaben also, "die enger mit den Ämtern der Hirten verbunden sind " 116. In diesen Fällen handelt es sich um eine direkte Mitarbeit am "hierarchischen Apostolat"117. Von den verschiedenen einzelnen Formen des Apostolats stellt das Konzil jenes an die Spitze, das nach der Terminologie Pius' XII. zum Kern des Apostolats "im weiteren Sinne" gehören würde. Es sagt dazu: "Das von jedem Einzelnen zu übende Apostolat, das überreich aus einem wahrhaft christlichen Leben strömt (vgl. Jo 4, 14), ist Ursprung und Voraussetzung jedes Apostolates der Laien, auch des gemeinschaftlichen. Es kann durch nichts ersetzt werden. Zu diesem immer und überall fruchtbringenden, aber unter bestimmten Umständen einzig entsprechenden und möglichen Apostolat sind alle Laien, wo immer sie stehen, gerufen und verpflichtet, auch wenn ihnen Gelegenheit oder Möglichkeit fehlt, in Vereinigungen mit anderen zusammenzuarbei ten118. " Als eine "besondere Form" dieses Apostolats wird im weiteren Text in erster Linie hervorgehoben "das Zeugnis des ganzen Lebens eines AA 24 Abs. 2; dazu auch AA 19 - 20. AA 23 Abs. 1; heute können sich aus Gründen, die mit den von Newman (ob. Anm. 107) dargestellten nicht unähnlich sind, daraus schwerwiegende Probleme ergeben, die hier nicht näher erörtert werden können. 115 AA 24 Abs. 5. 116 AA 24 Abs. 5. 117 Zum Verhältnis der Laien "zum hierarchischen Apostolat" Pius XI!., Utz / Groner 5984; ferner AA 20 Abs. 1, LG 33 Abs. 2 - 4 und AG 21. 118 AA 16 Abs. 1- 2; auch Abs. 3 -7; dazu AA 17; und H. Schambeck, Kirche - Staat - Gesellschaft (1967) 95 ff.: "Der einzelne in Kirche, Staat und Gesellschaft"; auch ders., Politik und Weltanschauung, Wissenschaft und Weltbild 21 (1968) 40 ff. 113

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Laien, das aus Glaube, Hoffnung und Liebe entspringt". Darall schließen sich die vielfältigen Formen an, die aus der jeweiligen Lebenslage, dem Stand, Beruf und der jeweiligen Begabung folgen, die im einzelnen auch nur aufzuzählen unmöglich ist. Schon in dem grundlegenden Art. 4 des Dekrets über das Laienapostolat hatte das Konzil festgestellt: "Ein vollendetes Vorbild eines solchen geistlichen und apostolischen Lebens ist die seligste Jungfrau Maria, die Königin der Apostel." Und es sagt weiter: "Während sie auf Erden ein Leben wie jeder andere verbrachte, voll von Sorge um die Familie und von Arbeit, war sie doch immer innigst mit ihrem Sohn verbunden und arbeitete auf ganz einzigartige Weise am Werk des Erlösers mit; jetzt aber, in den Himmel aufgenommen, ,sorgt sie in ihrer mütterlichen Liebe für die Brüder ihres Sohnes, die noch auf der Pilgerschaft sind und in Gefahren und Bedrängnissen weilen, bis sie zur seligen Heimat gelangen'. Alle sollen sie innig verehren und ihr Leben und ihr Apostolat ihrer mütterlichen Sorge empfehlenllD . " Unter den gemeinschaftlichen Formen des Apostolats wird zuerst die "Familiengemeinschaft" genannt120 • Ihre Bedeutung für das Apostolat wird jedoch bereits im dritten Kapitel behandelt, das die verschiedenen Bereiche des Apostolats darstellt. Dort heißt es von der Familie: "Der Schöpfer aller Dinge hat die eheliche Gemeinschaft zum Ursprung und Fundament der menschlichen Gesellschaft bestimmt und durch seine Gnade zu einem großen Geheimnis in Christus und seiner Kirche (vgl. Eph 5, 32) gemacht. Darum hat das Apostolat der Eheleute und Familien eine einzigartige Bedeutung für die Kirche wie für die menschliche Gesellschaft. Die christlichen Eheleute sind füreinander, für ihre Kinder und die übrigen Familienangehörigen Mitarbeiter der Gnade und Zeugen des Glaubens. Ihren Kindern sind sie die ersten Künder und Erzieher des Glaubens. "121

An anderer Stelle wird gesagt, daß "die ganze Familie und ihr Gemeinschaftsleben geradezu eine Schule des Apostolates werden" SOIl122. Diesem Apostolat kommt heute ohne Zweifel besondere Bedeutung zu. Wie gerade der Besuch von Papst Johannes Paul 11. in den USA deutlich werden ließ, ist nach den Berichten der überwiegende Teil der Katholiken nicht mehr bereit, die vom Papst neuerlich bellD AA 4 Abs. 10 mit Bez. auf LG 62 Abs. 1; dazu LG 65, der Brief des Papstes an die Priester 11 und Catechesi tradendae 73. In diesem Zusammenhang besonders bemerkenswert ist der Aufsatz des evangelischen Theologen Ulrich Wickert, Maria und die Kirche, in: Theologie und Glaube 68 (1978) 384 - 407. Seine Darlegungen können hier nicht im einzelnen gewürdigt oder gar wiedergegeben werden. Sie verdienen es aber, von allen Katholiken aufmerksam gelesen und beherzigt zu werden. 120 AA 18 Abs. 1. 121 AA 11 Abs. 1, vgl. auch den weiteren Text dort; ferner GS 47 Abs. 1 und 48 ff. sowie Catechesi tradendae 68. 122 AA 30 Abs. 2.

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kräftigten sittlichen Grundlagen einer christlichen Ehe anzunehmen l23 • Dasselbe dürfte auch in Europa zutreffen. Man braucht nur an die Reaktionen auf die Enzyklika Humanae vitae oder ähnliches zu denken. Unter dem Einfluß der "high-magie" einer "quality-of-life ethie", die den Menschen "la dolce vita" verspricht1 24, wird die angebliche Befreiung von allen sittlichen "Zwängen" gepredigt. Eines der sicher weithin nicht gewollten und sogar bekämpften, aber dennoch folgerichtigen Ergebnisse dieses "Fortschritts" ist, daß menschliches Leben wohl bereits millionenfach in den Abfallkübeln von Kliniken und Ordinationen endet. Der Zusammenhang zwischen Empfängnisverhütung und Abtreibung ist seit jeher gesehen worden (Aug. nupt. et eoneup. 15, PL 44, 423; dazu Casti connubii 1698). Wenn auch die Abtreibung wohl von allen kirchlichen Institutionen immer abgelehnt wurde, so darf doch nicht übersehen werden, daß gleichzeitig von nahezu allen die mit der Umgehung oder Ablehnung von Humanae vitae zusammenhängende sittliche Haltung seit vielen Jahren propagiert worden ist. Die manipulierte Meinungsbildung versuchte auf allen Ebenen die Auffassung zu verbreiten, die Kirche könne dem "modernen Menschen" gegenüber nur "glaubwürdig" sein, wenn sie sich diesem "Fortschritt" gegenüber öffne 125 • "Glaubwürdig" wäre die Kirche sohin, wenn sie die Botschaft Christi den Erwartungen der heutigen Menschen soweit anpaßt, daß sie "annehmbar" wird, und die Menschen das lehrt, was sie hören wollen. Eine größere Perversion des Begriffes der Glaubwürdigkeit kann man sich schwer vorstellen: Uminterpretation, die auf einen Verrat der Wahrheit hinausläuft, soll "glaubwürdig" machen. Demgegenüber hat der Papst klargestellt, worin · die apostolische Aufgabe der Kirche besteht: Die Wahrheit, "sei es gelegen oder ungelegen"126, zu 123 Vgl. etwa den Bericht in den Salzburger Nachrichten vom 6. 10.1979, S. 2. Für Österreich hatte das Rupertusblatt vom 18.4. 1976, S. 22, bereits das, was der Papst jetzt bekräftigt hat, zu den "früheren, strengeren Auffassungen" gerechnet, an die sich noch ein "kleiner Teil hält", während ein "Großteil der Katholiken ... bereits seinen eigenen Weg dabei gefunden" habe. Wohin dieser "eigene Weg" aber führt, wird nicht gesagt (vgl. etwa den in der vom Katholischen Familienverband herausgegebenen Monatszeitung Ehe und Familie, Juli/August 1976, S. 11, abgedruckten "Kommentar von Bischof Wechner zum ÖSV-Text über Empfängnisregelung"). 124 So R. Byrn, America (1973) 511; abgedruckt bei W. Waldstein, FS Hans Lechner (1978) 251 Anm. 35. 125 Einzelheiten dieser seit Jahren praktizierten Phraseologie hier zu dokumentieren ist weder möglich noch nötig. Sie wird sich in den sich bereits abzeichnenden Angriffen gegen den jetzigen Papst und gegen Bischöfe, die ihrer Pflicht gemäß handeln, in einem neuen Ansturm artikulieren. Vgl. etwa nur die Erklärungen von E. Schillebeeckx, abgedruckt in UVK (ob. Anm. 10) 9 (1979) 242 ff. Dort 247 sagt er, daß Rom als "Instanz . . . eine auslaufende Sache" ist. 128 Vgl. die Enzyklika RedemptoT hominis (vom 4. März 1979) 16 letzter Abs. (dort bei Anm. 110) mit Hinweis auf 2 Tim 4, 2.

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verkünden. Christus selbst hat, als "viele von seinen Jüngern" seine "Rede ... hart" fanden, sogar "die Zwölf" gefragt: "Wollt auch ihr weggehen?", worauf Simon Petrus antwortete: "Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte ewigen Lebens"127. Für diejenigen Familien, die eben aus diesem Grunde aus der christlichen Wahrheit leben wollen, haben die Erklärungen des Papstes daher gerade im jetzigen Zeitpunkt eine kaum hoch genug einzuschätzende Bedeutung 128 . Nach der Familiengemeinschaft werden vom Konzil alle weiteren Formen des gemeinschaftlichen Apostolats genannt, "wie in Pfarrei und Bistum, die selbst ein Ausdruck des Gemeinschaftscharakters des Apostolates sind, aber auch in freien Gruppierungen", zu denen sich die Laien "zusammenschließen wollen"129. Besonders wichtig ist, was das Konzil grundsätzlich über die verschiedenen möglichen Vereinigungen sagt: "Die Vereinigungen sind sich nicht selbst Zweck, sollen vielmehr der Erfüllung der Sendung der Kirche an der Welt dienen. Ihre apostolische Kraft hängt von ihrer Gleichförmigkeit mit den Zielen der Kirche ab sowie vom christlichen Zeugnis und vom evangelischen Geist ihrer einzelnen Mitglieder und der ganzen Vereinigung1so ." 121 Joh 6, 60 ff. Time vom 22. 10. 79, S. 48 weist in einem Kommentar zur "hard line" des gegenwärtigen Papstes, die viele aus der Kirche treiben werde, mit Recht auf das biblische Beispiel Gideons hin (Richter 7, 1 ff.), der mit 30 000 Mann gegen Midian auszog. Nach der im Auftrag des Herrn an das Heer gerichteten Aufforderung: "Wer Furcht hat und zittert, der kehre um!" (Richter 7, 3), kehrten 20000 um. Von den restlichen 10000 wählte der Herr durch ein Zeichen nur 300 aus, die mit Gottes Hilfe den Sieg über Midian errangen (Richter 7, 7 ff.). Die heute weit verbreitete "Denkart der diesseitigen Welt" (Ecclesiam suam 10) läßt den Glauben an Gott und seine Allmacht soweit schwinden, daß man die 30000 lieber hat mit allen, die nicht glauben oder schwach sind, als 300, die mit ganzem Herzen Gott dienen. Daher unterstreicht der Papst in seinem Brief an die Priester 10 im Zusammenhang mit dem Zölibat die Bedeutung des Glaubens der Kirche "an ihren Meister, der ja auch der ,Herr der Ernte' und der ,Spender der Gnadengabe' ist". Und der Papst fügt bei: "Wir dürfen diesen Glauben und diese Zuversicht nicht unsererseits durch menschliche Bedenken und durch unsere Kleingläubigkeit schwächen." Man braucht sich nur zu vergegenwärtigen, was einzelne Heilige in der Kirche zu vollbringen vermochten, um zu sehen, wie weit die "menschlichen Bedenken" vom Geist Christi entfernt sind. 128 Es ist aber ebenso vorauszusehen, daß sie bei all denen, welche die christliche Wahrheit längst gegen "die Weisheit dieser Welt" (1 Kor 3, 19) eingetauscht haben (vgl. auch u. Anm. 134), zunehmend Widerstand auslösen werden. Dafür sind die ob. Anm. 125 angeführten Erklärungen von E. Schillebeeckx kennzeichnend. Dort bes. 247 f. geht es allerdings nicht einmal mehr um Widerstand, sondern vielmehr einfach um die Ignorierung der Entscheidungen oder Aussagen des Papstes: "Man kümmert sich nicht um das, was Rom will. Wenn dies x-mal passiert, ist Rom ausgebootet, . .. ". m AA 18 Abs. 1. 130 AA 19 Abs. 2.

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Diese Kriterien gelten zusammen mit anderen in erhöhtem Maße für jene "Aktionen und Vereinigungen", die "den Namen Katholische Aktion erhalten haben"181. Die Einzelheiten über die vielfältigen Formen, in denen "Katholische Aktion" möglich ist, können hier nicht dargestellt werden. Das Konzil hat aber grundsätzlich verlangt, daß bei allen diesen Formen vier "Merkmale zusammentreffen und gleichzeitig bejaht werden", nämlich: "a) Das unmittelbare Ziel dieser Organisationen ist das apostolische Ziel der Kirche, ... b) Die Laien arbeiten in der ihnen eigentümlichen Weise mit der Hierarchie zusammen, ... c) Die Laien handeln vereint nach Art einer organischen Körperschaft, ... d) Die Laien, die sich freiwillig anbieten oder zum Wirken und zur direkten Mitarbeit mit dem hierarchischen Apostolat eingeladen werden, handeln unter der Oberleitung der Hierarchie selbst. Diese kann die Mitarbeit auch durch ein ausdrückliches Mandat bestätigen 182 ." Es kann nun leider keinem Zweifel unterliegen, daß seit dem Konzil bei nahezu allen diesen Organisationen an die Stelle der "Gleichförmigkeit mit den Zielen der Kirche" das mehr oder minder explizite Bestreben getreten ist, die Ziele der Kirche den vom Zeitgeist beherrschten Zielen der Organisationen anzupassen138. Daher konnten diese Werke auch nicht die vom Konzil angestrebte "apostolische Kraft" entfalten. Vielmehr haben sie entscheidend zu jener Entwicklung beigetragen, von der Joseph Ratzinger zehn Jahre nach dem Konzil folgendes feststellen mußte: AA 20 Abs. 1. AA 20 Abs. 2. 133 Einzelheiten sind seit vielen Jahren tausendfältig dokumentiert. Diese Dokumentationen können bereits Bibliotheken füllen, dennoch sind sie so gut wie nicht zur Kenntnis genommen worden. Erwähnt seien nur Bischof Dr. R. Graber, Athanasius und die Kirche unserer Zeit (1973) und die umfangreiche Dokumentation in den Zeitschriften Theologisches (ob. Anm. 48), Der Fels (seit 1970 10 Jahrg.), UVK (ob. Anm. 10, 1979 9. Jahrg.) und in Österreich Entscheidung, Blätter katholischen Glaubens (bisher 79 Hefte). Besonders aufschlußreich für die heutige Lage ist die Dokumentation über IDOC (Internationales Zentrum für Information und Dokumentation über die Conziliare Kirche), 1966 in Rom gegründet, in: Nune et semper, Eine katholische Korrespondenz, H. 9 (April 1968) 15 ff.; weitere Einzelheiten H. 13 (Nov./Dez. 1968) 32 ff. und H. 15 (März/April 1969) 37 f. Nach eigener Aussage war IDOC etwa imstande, den weltweiten Sturm gegen Humanae vitae zu entfachen. Als Selbstdarstellung sind die ob. Anm. 125 angeführten Erklärungen von Schillebeeckx überaus wichtig. Sie lassen Ziele und Methoden der neuen "Reformation" klar erkennen. "1

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"Es ist unbestreitbar, daß die letzten zehn Jahre für die katholische Kirche weitgehend negativ verlaufen sind. Statt der erhofften Erneuerung haben sie einen fortschreitenden Prozeß des Verfalls mit sich gebracht, der sich weitgehend im Zeichen der Berufung auf das Konzil abgespielt und dieses damit immer mehr diskreditiert hat. Es muß klar gesagt werden, daß eine wirkliche Reform der Kirche eine eindeutige Abkehr von den Irrwegen voraussetzt, deren katastrophale Folgen mittlerweile unbestreitbar sind134 ." Was das Konzil über den Ökumenismus gesagt hat, nämlich: "Es gibt keinen echten Ökumenismus ohne innere Bekehrung"135, das gilt erst recht für jede Form des christlichen Apostolats. Diese Tatsache hat Papst Johannes Paul H. bereits mehrfach hervorgehoben, besonders auch in seinem Schreiben an alle Priester der Kirche zum Gründonnerstag 1979 136 . Auch die Reaktion einer breiten Öffentlichkeit, oder wohl zutreffender: der Manipulatoren der öffentlichen Meinung, auf dieses Schreiben wirft ein Schlaglicht auf die gegenwärtige Lage 137 • Um so mehr ist eine wahre Bekehrung zur Wahrheit vonnöten, sollen die verschiedenen Formen des christlichen Apostolats in unserer Zeit ihre "apostolische Kraft" wiedergewinnen.

IV. Ergebnisse für den Begriff des christlichen Apostolats Bereits aus dieser im gegebenen Rahmen notwendigerweise unvollständigen Untersuchung lassen sich für den Begriff des christlichen Apostolats immerhin folgende Ergebnisse festhalten: Christliches Apostolat ist zunächst in einem grundlegenden und allgemeinen Sinne jede "Tätigkeit des mystischen Leibes" Christi, die darauf gerichtet ist, "alle Menschen der heilbringenden Erlösung teil134 Ob. Anm. 48; vgl. auch die Adhortatio Apostolica von Paul VI. zum fünften Jahrestag des Konzilsendes, AAS 63 (1971) 99, wo Paul VI. sagt, daß "fundamentale Geheimnisse des katholischen Glaubens mehr und mehr mit Schweigen übergangen werden, während sich gleichzeitig eine Tendenz manifestiert, auf psychologischen und soziologischen Grundlagen ein Christentum neu zu errichten, das sich von der ungebrochenen apostolischen Tradition ablöst und aller religiösen Elemente entraten möchte" (Orig. lateinisch). Zahlreiche ähnliche und eindringliche Mahnungen sind so gut wie unbeachtet geblieben. "Man kümmert sich nicht" (ob Anm. 128) darum. 135 UR 7 Abs. 1. 136 Dort 10: "Tag für Tag müssen wir uns bekehren"; auch Catechesi tradendae 5 und 52. 137 H. U. v. Balthasar mußte in seinem Kommentar zu diesem Schreiben (ob. Anm. 14) 53 feststellen, daß man auf das Schreiben des Papstes "weithin mit einem sauertöpfischen Mißmut, mit der Feststellung, hier werde Traditionellstes aufgewärmt und Modernstes mißachtet, reagiert, und schlimmer: daß man in der Art eines Sexualneurotikers dort, wo der Papst ein weiträumiges Bild des Wesens katholischen Priestertums entwirft, wie gebannt auf das Kapitel über den Zölibat starrt und beleidigt feststellt, hier werde einmal mehr, und aufs Ganze gesehen zu spät, eine schon dreiviertel unterminierte Festung zu restaurieren versucht".

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haftig" zu machen und dadurch "die gesamte Welt in Wahrheit auf Christus" hinzuordnen. Zur Mitwirkung daran sind, "wenn auch auf verschiedene Weise", alle Glieder des mystischen Leibes, der Kirche, berufen, "denn die christliche Berufung ist ihrer Natur nach eine Berufung zum Apostolat"138. Man kann in diesem Sinne das Wesen jeglichen Apostolats als "ein Apostolat der Teilhabe an" der Sendung Jesu selbst bezeichnen139. Daher setzt christliches Apostolat im eigentlichen Sinne voraus, daß man Glied des wirklichen Leibes Christi ist, so wie Christus selbst ihn geheimnisvoll begründet und "hierarchisch geordnet"140 hat. In diesem Leibe hat jedes Glied die ihm gemäß dieser Ordnung zukommenden Aufgaben, je nach den besonderen Gnadengaben, die einem jeden zugeteilt werden 141 . Weil aber Christus nur einen mystischen Leib begründet hat, widersprechen Spaltungen "ganz offenbar dem Willen Christi". Sie sind zudem "ein Ärgernis für die Welt und ein Schaden für die heilige Sache der Verkündigung des Evangeliums vor allen GeschÖpfen"142. Dem Willen Christi entspricht ohne Zweifel die Einheit in der Wahrheit 14s . Daraus folgt aber, daß es dem Willen Christi ebenso widerspricht wie auch dem Wesen des Apostolats, wenn man versucht, die so schmerzlichen Spaltungen durch einen "falschen Irenismus" zu beheben, "durch den die Reinheit der katholischen Lehre Schaden leidet und ihr ursprünglicher und sicherer Sinn verdunkelt wird"144. Daher gehört es ferner zum wesentlichen Inhalt des christlichen Apostolats, daß es mit Christus Zeugnis gibt für die reine und unverkürzte Wahrheit, deren Lehrerin "nach dem Willen Christi ... die katholische Kirche" ist145 • Von den Aposteln angefangen, ist das zu allen Zeiten in der Kirche grundsätzlich selbstverständlich gewesen. So betont etwa auch Papst Paul VI. die Verpflichtung gegenüber der Wahrheit und sagt: "Nur wer der Lehre Christi vollkommen treu ist, kann ein erfolgreicher Apostel sein. Und nur wer die christliche Berufung ganz lebt, kann gegen die Ansteckung der Irrtümer, mit denen er in Berührung kommt, gefeit sein". Mit der Verkündigung der Wahrheit ist daher auch die Auseinandersetzung mit "dem Irrtum, der immer zu verwerfen ist", untrennbar verbunden146. Das heute weithin 138 139 140 141 142 143

144 145

HS

Bei Anm. 7. Bei Anm. 53. Bei Anm. 33 - 40. Bei Anm. 45. Bei Anm. 58. Joh 17, 17 ff. Bei Anm. 73. Bei Anm. 75 - 80. Bei Anm. 97 und 104 f .

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herrschende "Meinungsklima" repräsentiert jedoch ganz andere Vorstellungen. Unter "dem Vorwand einer neuen Wissenschaft", einer "induktiven Methode" und unter zahllosen anderen Vorwänden meint man, daß die Vorstellung von der Verkündigung einer objektiven, "deduktiven"147 Wahrheit längst überholt sei. Statt dessen müsse man sich nach den - vermeintlichen oder wirklichen, wer soll es entscheiden? - Erwartungen des "modernen Menschen" richten. Gerade darin bestünde der richtig verstandene Inhalt der christlichen Botschaft14B . Die Auswirkungen dessen, was in dieser Hinsicht besonders seit dem Konzil von theologischen Fakultäten, von den Kanzeln (oder vielmehr Ambonen), durch Religionsbücher, im Religionsunterricht und durch unzählige andere der Kirche unterstehende Einrichtungen verbreitet wurde, können heute im vollen Ausmaß gewiß noch nicht abgesehen werden. Auch die jüngsten Reaktionen auf die weltweiten Bemühungen des gegenwärtigen Heiligen Vaters, die Verkündigung der christlichen Wahrheit wieder herzustellen, zeigen einerseits, wie weit die Entfremdung von dieser Wahrheit bei einem sehr großen Teil derjenigen bereits fortgeschritten ist, die sich noch zur katholischen Kirche bekennen 149. Andererseits hat sich gleichzeitig gezeigt, wie sehr sich die Menschen auch unserer Zeit nach der Verkündigung der Wahrheit sehnen. Daher werden schließlich die vielfältigen Formen des christlichen Apostolats ihre "apostolische Kraft" nur dann wiedergewinnen und entfalten können, wenn sie unzweideutig der Wahrheit und damit "der Sendung der Kirche an der Welt dienen"15o. Nur dann können auch die Erwartungen allmählich erfüllt werden, die das Konzil an die Entfaltung der verschiedenen Formen des Apostolats für die Reform der Kirche und die Erneuerung des christlichen Lebens geknüpft hat. Es muß jedoch klar gesehen werden, daß die Bedingungen dafür weithin erst wieder hergestellt werden müssen und "daß eine wirkliche Reform der Kirche eine eindeutige Abkehr von den Irrwegen voraussetzt, deren katastrophale Folgen mittlerweile unbestreitbar sind"151. Was das Konzil von den verschiedenen Formen des Apostolats der Laien sagt, nämlich, daß "Ursprung und Voraussetzung jedes Aposto147 Das "Einpauken von Dogmen" ist immer wieder als ein geradezu menschenunwürdiges Verfahren diffamiert worden. Damit wurde von der Tatsache abgelenkt, daß die Dogmen ja nichts anderes sind als der vom Lehramt der Kirche authentisch festgelegte Inhalt des katholischen Glaubens. Den soll man aber eben nicht mehr kennenlernen. Vgl. dag. Catechesi tradendae 6; 21; 26 ff.; 49 f.; 52; 55; 58 ff. und 61; auch Scheffczyk, Die Theologie und die Wissenschaften (1979) 259. 148 Bei Anm. 93 und 99 - 101. 149 Bei Anm. 82 und 85; ferner den Hinweis Anm. 128. 150 Bei Anm. 130, auch 114. 151 Bei Anm. 134.

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lates ... , auch des gemeinschaftlichen", ein "wahrhaft christliches Leben" ist, gilt sicher ganz allgemein. Ebenso allgemein gilt, daß ein "vollendetes Vorbild eines solchen geistlichen und apostolischen Lebens ... die seligste Jungfrau Maria, die Königin der Apostel" ist 152 • Ein "wahrhaft christliches Leben" ist aber ohne ständige "innere Bekehrung" nicht möglich. Papst Johannes PauZ 11. hat das in seinem Schreiben an alle Priester klar ausgesprochen: "Deshalb müssen wir uns alle Tag für Tag bekehren153 ." Das bedeutet aber nichts anderes als jene Selbstheiligung, zu der das Konzil "alle Christgläubigen" nachdrücklich aufruft, indem es "Die allgemeine Berufung zur Heiligkeit in der Kirche" besonders unterstreicht 154 • In dem Maße, in dem diese Berufung ernstgenommen wird, kann auch das Ziel jeglichen Apostolats, sei es der Einzelnen, der Familien oder der vielfältigen Gemeinschaften, mit Gottes Hilfe immer mehr erreicht werden, daß nämlich "alle Menschen der heilbringenden Erlösung teilhaftig" werden und "die gesamte Welt in Wahrheit auf Christus hingeordnet" wird 155 •

152 153 1:04 150

Bei Anm. 118 f. Anm. 136. Anm.55. Bei Anm. 7.

DER LAIE IN DER KIRCHE Von Audomar Scheuermann Was der Wandel der Zeit in den seelsorglichen Aufgaben, im kirchlichen Verkündigungs- und Verwaltungsbereich, in der Struktur der Teilkirchen und den Willensbildungsprozessen den Laien an Rechten und Pflichten neu hat zufließen lassen, - was insbesondere die Aussagen des Ir. Vatikanischen Konzils als Teilhabe des Laien am Amt J esu Christi ins allgemeine Bewußtsein gefördert haben, das scheint ein Bruch mit überkommenen Traditionen zu sein. Das geltende kirchliche Gesetzbuch, der seit 1918 verbindliche Codex Iuris Canonici, behandelt, so meint Oskar Köhler 1, bei seiner Überbetonung der hierarchischen Ordnung den Laien fast geringschätzig, eine Folge vielleicht der schlechten Erfahrungen, die die Kirche im Laufe der Zeit mit den Laien gemacht hat. Ein anderer meint: noch wirke die von Gratian überlieferte Auffassung (c.7 C XII qu.l) nach, daß der Laie als Christ zweiten Ranges beurteilt werde und weitgehend ausgeschlossen sei2 • Der Wortgebrauch "lehrende und herrschende Kirche" scheine Ausdruck dieser Minderberechtigung zu sein 3 • Vereinfachungen dieser Art verkennen einen sehr komplexen Sachverhalt. Dieser muß in seinem historischen Schicksal und in der Vermengung dessen, was göttliche Stiftung und menschliche Verwirklichung zustande gebracht haben, offengelegt werden. I. Der Begriff "Laie" So jedenfalls wird der Laie in der Kirche von Anfang an nicht verstanden. Klerus und Laien bilden zusammen das Volk Gottes. Das Neue Testament kennt keinen Unterschied zwischen K'l erus und Laien 4 • Der Unterschied aber zwischen ihnen ist unausweichlich vorgegeben, wenngleich im Neuen Testament die Gesamtheit des Volkes Gottes, auch Der Laie im kath. Kirchenrecht, in: Stimmen der Zeit 146, 1949/50, 43 f. Otto Ter Reegen, Die Rechte des Laien, in: Concilium 4, 1968, 568 - 574. 3 Hans Heimerl, Der Laienbegriff der Kirchenkonstitution des Vat. II, in: Concilium 2, 1966, 215 f. 4 Yves Congar, Der Laie. Entwurf einer Theologie des Laientums, 3. Aufl. Stuttgart 1964, 22. I

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"die Heiligen" genannt (PhiI. 1, 1), im Vordergrund steht. Ein Gegensatzbewußtsein hat es von Anfang an in den Gemeinden nicht gegeben. Der Klerus hat seinen Namen von xAiieo~, d. h. Los, Anteil; Hieronymus (t 420) sagt, dieser Name käme daher, weil Anteil des Klerikers der Herr ist und er selbst ein Teil des Herrn, weil er vom Herrn wie durch ein Los den Seinen zugezählt worden ist. Das aber ist schon eine spätere Erklärung. Ursprünglich ist auch unter diesem Begriff das ganze christliche Volk im Anschluß an Deut. 4, 20; 9, 29 verstanden. Bald aber wird dieser Begriff reserviert für die Bezeichnung derer, die "Anteil am Dienstamt" (Apg. 1, 17) haben5 • Klerus ist schon bei Origenes (t ca. 254) der stehende Terminus für die Kirchendiener zum Unterschied von denen, die nicht in diese Aufgabe gerufen sind; ihr Kennzeichen ist die Weihe durch Handauflegung. In einer anderen Begründung sagt Hieronymus, der Kirchendiener sei das besondere Eigentum des Herrn (c.5 C XII qu.1) und umgekehrt sei der Herr selbst das Los dieses Kirchendieners 8 • Ebenso wie xAijeo~ hat auch das Stammwort },ao~ des Begriffes "Laie" (das Wort "laicus" kommt in der ganzen hI. Schrift nicht vor) ursprünglich die Gesamtheit des Volkes Gottes bezeichnet zum Unterschied von den Nichtgetauften7 , das Volk der Glaubenden also. Schon sehr bald aber hat dieses Wort die spezifische Bedeutung von "Gemeinde der Nichtkleriker", Gemeinschaft der Laien, erhalten8 • Schon Clemens von Rom (t 101) hat in seinem Brief an die Gemeinde von Corinth vom ävbe{J)lto~ AULXO~ im Gegensatz zu den {EeEi:~ gesprochen; es ist das erste Mal, daß der Begriff "laicus" auftaucht', der in ganz klarer Weise abgrenzt: vom Bischof, Priester und Diakon sind die Gläubigen unterschieden, die nicht in tätiger Funktion an der Gestaltung des Gottesdienstes mitwirken1o , die nur als Empfangende an der Eucharistie teilnehmenl l , die im Volke Gottes kein Dienstamt am Altar oder in der Seelsorge haben 12 • Laien bilden die bei der Eucharistiefeier anwesende Gemeinde, die dem Leiter der Liturgie mit dem Amen antworten13 • Mög5 Hans-Erich Feine, Kirchl. Rechtsgeschichte der kath. Kirche, 4. Aufl. Köln 1964,49 f. 8 Hieronymus Ep. 52,5; Heinrich Flatten, LThK VI2, 337; Congar, 23, Anm. 6 7 Congar, 2l. 8 Michael Schmaus, Der Glaube der Kirche. Handbuch kath. Dogmatik, München 1970, Bd. 2, 44, 46. g J. B. Bauer, Die Wortgeschichte von "laicus": Zeitschr. für kath. Theologie 81, 1959, 224 ff.; Congar, 22. 10 Willibald M. Pöchl, Geschichte des Kirchenrechts, Bd. 1, 2. Aufl. Wien 1960,62. 11 Schmaus, 46. 1% Congar, 25.

Der Laie in der Kirche

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licherweise ist der abschätzige Ruch, der dem Begriff "Laie" eignet, schon in den Anfängen spürbar. Wenn heute mit diesem Wort der Unkundige, der Nichtsachverständige bezeichnet wird 14, so eignete vielleicht diesem Begriff in der geistlichen Atmosphäre des Frühchristlichen die Kennzeichnung des Profanhaften: "laicus" ist das Attribut des Profanen, des Nichtgeweihten 15 • Jedenfalls aber ist der Laie in den frühesten Zeiten der Christ mit seinem besonderen Standort: nicht das kirchliche Dienstamt, vielmehr der weltliche Dienst, zeitweise unter die geradezu weltflüchtige Zielvorstellung des Idealismus der Ganzhingabe der Märtyrer und der jungfräulich Lebenden gestellt l6 , ist sein Wirkraum. Clemens von Alexandrien (t vor 215) selbst ein Laie, verweist um die Wende des 2. zum 3. Jahrhundert den Laien in die Aufgabe, Christus zu bezeugen im weltlichen Leben, in der Ehe, im Gebrauch des Besitzes, in Essen und Trinken, in Bad und Sport, Kleidung und Schmuck, Kosmetik und Fröhlichkeit17 • Johannes Chrysostomus (t 407) gilt als der Prediger christlicher Laienvollkommenheit; alle stehen unter dem gleichen Gesetz Christi, christliche Vollkommenheit besteht in der aus dem Glauben wachsenden Liebe 18 •

11. Der Laie in der christlichen Frühzeit Stärker als die Unterscheidung ist in der alten Kirche das Einheitsbewußtsein. Die Unterscheidung muß gemacht werden, weil sie vorgegeben ist. Es ist durch gar nichts bewiesen, wenn behauptet wird, Klerus und Volk würden erst seit dem Ende des 1. Jahrhunderts unterschieden19 ; die Unterscheidung wird vielmehr deutlich in dem bereits erwähnten Clemensbrief. Wie man einem Gegensatzbewußtsein entgegenzuwirken bemüht war, beweist das Wort von Origenes: "Wisset. daß kein Kleriker notwendigerweise gerettet werden wird; denn mehr als ein Kleriker wird verlorengehen und mehr als ein Laie wird selig gepriesen werden." In seiner orthodoxen Zeit hat Tertullian (t um 220) daran Anstoß genommen, daß bei den Häretikern einer heute Priester 13 Michael Schmaus, Kath. Dogmatik, Bd. III, 1, 3. - 5. Auf!. München 1958, 730; Gerard Philips, Der Laie in der Kirche. Eine Theologie des Laienstandes, Salzburg 1955, 23 f. 14 Heinrich Keller / Oswald von Nell-Breuning, Das Recht der Laien in der Kirche, Heidelberg 1950, 23. 15 Plöchl, 62. 16 Kar! Rahner, Laienheiligkeit im christlichen Altertum, in: Stimmen der Zeit 135, 1939, 234 - 238. 17 Rahner, 240 ff. 18 Rahner, 246 f. 19 So Feine, 49 f.

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und morgen Laie sein könne; wie er dann aber selbst zum Häretiker wurde, hat er die Unterscheidung zwischen dem ordo und der plebs als von der Kirche bestimmt bezeichnet. Cyprian von Karthago (t 258) spricht von der "societas c1eri et plebis"20. Das Kirchenvolk, soweit es vom Klerus unterschieden war, die Laienschaft also, steht von den Anfängen an in hohem Ansehen. Laien haben als Bekenner und Blutzeugen die Ehre des Christentums gemehrt21 • Es war nicht ungewöhnlich, daß Bischöfe aus den Laien gewählt wurden. Eine besondere Stellung haben die Jungfrauen eingenommen und die Aszeten, die sich zu den evangelischen Räten bekannten. Aus letzteren entwickelte sich das Mönchtum. Schon in der apostolischen Zeit hatten neben den Amtsträgern, den Bischöfen, Presbytern und Diakonen die Charismatiker eine herausragende Stellung. Das waren Leute, die mit besonderen Gnadengaben ausgestattet waren. Paulus spricht von ihnen in Rö 12, 6 - 8 und 1 Cor 12, 6 -11 und nennt die Gaben des Geistes, der Weisheit, der Erkenntnis, des Glaubens, der Wunderkraft, der Prophetie, der Unterscheidung der Geister, der Sprachen und der Auslegung der Sprachen. Das wichtigste Charisma ist die Gabe der Prophetie. Diesen Charismatikern kam in den liturgischen Versammlungen zu, Dank zu sagen. Amtliche Funktionen aber haben sie niemals innegehabt22 • Auch Frauen spielten im Gemeindeleben eine bedeutende Rolle. Es sei hingewiesen auf Apg. 9, 36 - 41: die Jüngerin Tabitha; auf Rö 16, 1: die "Schwester Phöbe, die im Dienste der Gemeinde zu Kenchreä steht"; auf 1 Tim 5, 9 - 16: die in der Gemeinde tätigen Witwen. Frauen hatten unter der Bezeichnung Diakonissen eine besondere Stellung; als solche wurden Jungfrauen und Witwen ausgewählt, die vor allem in der kirchlichen Armen- und Krankenfürsorge tätig waren, aber im 3. Jahrhundert sicherlich auch schon zu einzelnen sakralen Diensten zugelassen waren, wie es die Assistenz bei der Frauentaufe, die überbringung der Eucharistie, die Aufsicht über den den Frauen reservierten Teil in den Gottesdiensträumen waren. Auch wenn ihnen der Dienst in irgendwelcher liturgischer Form übertragen wurde, so ist doch durch c. 19 des Konzils von Nizaea (325) erklärt, daß Diakonissen nicht dem Klerikalstand, sondern den Laien zuzuzählen sind. Spätere Weihespendungen durch Handauflegung haben die These aufkommen lassen, die Diakonissen gehörten dem Klerikalstand an. Doch ist das Amt in der Texte bei Congar, 22 f., Anm. 4 und 6. Rahner, 245 f. 22 Siehe Joseph Gewiess / Karl Rahner, Art. Charisma, in: LThK 112 10251030; J. Danielou, Geschichte der Kirche, Bd. I: Von der Gründung der Kirche bis zu Gregor dem Großen, Einsiedeln 1963, 137 f. Zur Laienpredigt in dieser 7.eit: Schmaus, Dogmatik III, 1,589; ders., Glaube der Kirche, Bd. 2, 121. 20

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abendländischen Kirche, je mehr die Kirche dem Missionsstadium entwuchs, abgekommen23 • Gläubigkeit und religiöse Kraft des Laienturns der ersten Jahrhunderte werden besonders deutlich in dem seit dem Jahr 250 entstehenden Mönchtum. Ursprünglich sind alle Mönche Laien, die nun allerdings gerade nicht den Weltdienst als ihre Aufgabe sehen, sondern die Weltflucht. Ihr religiöses Lebensideal wirkt wieder sehr stark zurück auf die Gesamtkirche: einerseits übernehmen die Kleriker von ihnen Kieidung und Tonsur; später, als Kleriker beginnen, mit ihrem Bischof in einer Kommunität zu leben, übernehmen sie sogar das Gemeinschaftsleben. Andererseits aber wird der asketische Rigorismus des Mönchtums geradezu als Vorbild des Christenlebens gefeiert, so daß der ideale Christ im Mönch gesehen wurde, eine Entwicklung, die von den Laien nicht unwidersprochen hingenommen wurde und von der Karl Rahner sagt, die Hochblüte des altchristlichen Mönchtums habe möglicherweise die Ausbildung eines religiösen Ideals für den Christen, der in der Welt lebt, gehemmt24 • In der frühen Kirche haben die Laien eine sehr starke Stellung bei der Bischofswahl. Schon bei der Wahl des Apostels Matthias (Apg. 1, 15. 26: ca. 120 Brüder) und bei der Bestellung der ersten 7 Diakone (Apg. 6, 1: die Wahlversammlung der "multitudo discipulorum wirken sie mit. Ende des 1. Jahrhunderts wird gemäß dem 1. Clemensbrief (44, 3) der Vorsteher unter Zustimmung der ganzen Gemeinde eingesetzt, allerdings auch betont, daß aus diesem Einsetzungsrecht keineswegs das Recht der Gemeinde auf Abberufung des Vorstehers aus seinem Dienst abgeleitet werden dürfe. Es ist zwar nicht erkennbar, ja sogar unwahrscheinlich, daß die Zustimmung der Gemeinde für die Amtseinsetzung konstitutiv gewesen wäre. U

)

Dennoch bedeutet diese Zustimmung der Laien, daß der Kandidat von seiten der Gemeinde das Zeugnis für seine Befähigung und Eignung erlangt haben muß. So ist es für das 3. Jahrhundert mehrfach nachgewiesen, daß die vom Volk erteilte Zustimmung eines der Elemente der Bischofserhebung neben dem göttlichen Urteil und der Zustimmung der Mitbischöfe (wohl der Bischöfe der umliegenden Diözesen) ist. Vereinzelt ist im 4. Jahrhundert sogar bezeugt, daß die Ausschaltung des Volkes oder sein negatives Urteil die Einsetzung eines Bischofs verhindert. Je mehr sich aber die hierarchische Verfassung festigte und die zu groß gewordenen Gemeinden die Volkswahl er2S Plöchl, 69; Michael Schmaus, Der Glaube der Kirche, Bd. 2, 437 f.; Hans Heimerl, Kirche, Klerus und Laien. Unterscheidungen und Beziehungen, Wien 1961, 47 f. !4 Rahner, 239, 243 - 246; Congar, 25, 28.

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schwerten, um so mehr trat seit der konstantinischen Zeit die Mitwirkung der Gemeinde in den Hintergrund; die synodale Gesetzgebung befaßte sich damit kaum25 • Es handelt sich bei diesem Mitbestimmungsrecht des Volkes keineswegs um eine Wahlim Sinn der heutigen Demokratie, sondern um eine irgendwie bekundete Zustimmung der Mehrheit des Volkes zu dem BischQf, der schließlich immer deutlicher aber durch die Zustimmung der Mitbischöfe in sein Amt kommt.

IIL Von Konstantin bis Gregor VII. In dieser Periode bröckeln die Rechte der Laien mehr und mehr ab. Es war aber nicht die Kirche, die diesen Teil ihrer Glieder aus ihrem Einfluß zurückdrängen wollte .. Vielmehr hat die politische Repräsentanz des Volkes Rechte für sich in Anspruch genommen, die ursprünglich angestammte Gliedschaftsrechte der Getauften waren. In der Zeit der Verfolgung und beträchtlich darüber hinaus hat in den Gemeinden das Einheitsbewußtsein überwogen; zudem waren diese ja weitgehend überschaubare Stadtgemeinden. Ungeachtet der besonderen Stellung der Kleriker ergaben sich keine Gegensätzlichkeiten, da ja der . Klerus Überwiegend der Gemeinde entstammte und seine Mitglieder unter Mitwirkung der Gemeinde ins Amt berufen worden waren. Dies änderte sich, seit die Kirche im Staat nach Konstantin eine völlig neue Stellung erlangt hatte. Die Bischöfe wurden stärker in die übergeordneten Zusammenschlüsse der kirchlichen Hoheitsträger eingebunden und sie übernahmen nunmehr auch im bürgerlichen Bereich Verwaltungs- und Gericlltsbefugnisse. Das trägt schon in der einzelnen Teilkirche bei, daß der Bischof vom Volk abgesondert war. So entsteht allmählich seit dem 5. Jahrhundert bei Klerikern und Laien ein Klassenbewußtsein. Das Erstarken des Mönchtums fördert den Gegensatz zwischen denen, die in der Welt leben, und denen, die die Welt verlassen haben. Wenn Rahner berichtet26 , dem Prediger Johannes Chrysostomus hätten seine Hörer entgegengehalten: "Wir sind doch keine Mönche!", dann wird ein Spannungsfeld besonderer Art sichtbar. Au.ch dies hat mitgeholfen, daß Klerus und Hierarchie vom 'Volk abgesondert werden; es regt sich der Widerspruch gegen die Vorstellung, die mönchische Aszese sei der einzige Weg zum Heil. Mag schließlich Gegenstand der Reform Gre25 Zum Ganzen siehe Hubert Müller, Der Anteil der Laien an der BischofswahL Ein Beitrag zur Geschichte der Kanonistik von Gratian bis Gregor IX., Amsterdam 1977, 10 - 13. %8 Rahner, 243.

Der Laie inder Kirche

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gors VII. (1073 - 1085) die Befreiung der Kirche von weltlicher, insbesondere staatlicher Bevormundung sein, - in dieser Reform kulminiert jedenfalls, was schon mit dem 5. Jahrhundert begonnen hat: im Selbstverständnis der Kleriker und der Laien werden die Unterschiedlichkeiten bewußter. So konnte mitunter zu beobachten sein, daß Kirche und Kleriker identifiziert wurden und, wenn von Kirche die Rede war, die Laien gar nicht mehr mitgemeint waren27 • Diese Entwicklung kann an der Mitwirkung der Laien bei der Bestellung des Bischofs abgelesen werden. Am Anfang ist es noch so, daß

Papst Julius 1. (337 - 352) die Bestellung des Bischofs von Alexandrien für unrechtmäßig hält, weil dieser nicht durch Bischöfe, Klerus und Volk benannt worden ist. Die Synode von Ancyra (314) respektiert den Willen des Volkes so weit, daß der vom Volk nicht akzeptierte Bischof seines Amtes verlustig geht 28 • Das ändert sich zuerst in der Ostkirche, wo die Teilnahme des Volkes vom 5. Jahrhundert an auf die Teilnahme politisch einflußreicher Persönlichkeiten reduziert worden ist29 • Auffällig ist, daß schon das Nicaenum I (325) in c. 4 "De ordinatione episcoporum" nichts über die Mitwirkung des Volkes sagt30 • In der Gesetzgebung des Kaisers Justinian von 564 sind es nur mehr Klerus und vornehme Laien, die dem Metropoliten Kandidaten für das Bischofsamt vorschlagen können 31 • In der Westkirche bleibt die kanonische Bischofswahl durch Klerus und Volk bis ins 6. Jahrhundert erhalten. Bekanntestes Beispiel ist die Wahl des hL Ambrosius von Mailand durch die Gläubigen der Stadt und die Bischöfe der Provinz (374). Niemand darf gegen den Willen der Gemeinde zum Bischof bestellt werden, bestimmt Papst Coelestin 1. (422 - 432). Leo 1. (440 - 461) stellt klar, daß niemand zum Bischof eingesetzt werden soll, der nicht vom Klerus erwählt, vom Volk erbeten und von den Konprovinzialbischöfen die Zustimmung erlangt hat32 • Die weitere Entwicklung zeigt in Ost und West die gleiche Tendenz: bei der Bischofsbestellung zieht die Staatsrnacht immer mehr das Recht 27 M. D. Knowles, Geschichte der Kirche, Bd. 11: Früh- und Hochmittelalter, Einsiedeln 1971, 241. 28 Müller, 14; Peter Stockmeier, Gemeinde und Bischofsamt in der alten Kirche, in: Theol. Quartalschrift 149, 1969, 144. 29 Müller, 14 f. 30 Freilich ist hier von der ordinatio, nicht von der electio die Rede; aber das Nicaenum 11 (787) c. 111 nimmt darauf Bezug bei einer Aussage über die electio. 31 Die "primates" oder "primores civitatis", Nov. 123, 1; 137, 2, zitiert nach Müller, 16. 32 Belegstellen und weitere Beispiele s. Müller, 16 - 18.

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der Laien an sich. Die politischen Gemeinwesen verstehen sich als Kultgemeinde, ihre Repräsentanten gebrauchen das bisher den Laien zustehende Recht 33 • Im Osten wendet sich das Nicaenum II (787) gegen die kaiserlichen Eingriffe bei der Ämterbesetzung: "Jede von den Fürsten geschehene Wahl eines Bischofs oder Priesters oder Diakons ist nichtig gemäß der Regel : wenn ein Bischof mittels weltlicher Herrscher ein Diözese erhält, ist er abzusetzen und alle, die mit ihm Gemeinschaft halten, sind auszuschließen", - eine freilich im Ostreich wirkungslos gebliebene Norm. Auch im Westreich werden seit dem 6. Jahrhundert unter den Merowingern und ihren Hausmeiern die übergriffe der Staatsmacht zahlreicher, das Recht der Bischöfe und der Laien wird auf ein Vorschlagsrecht unverbindlicher Art abgeschwächt und wirkungslos bleibt, was die 3. Synode von Paris (557) sagt: "Kein Bischof soll gegen den Willen der Bürger geweiht werden, sondern nur der, den die Wahl seitens Volk und Klerus in vollkommener Freiheit verlangt. Keiner soll durch Befehl der Fürsten oder aufgrund einer Bedingung gegen den Willen des Metropoliten oder der Provinzbischöfe aufgedrängt werden"34. Vergeblich mahnt Gregor I. (590 - 604) die Könige des Frankenreiches zu kanonischem Verhalten bei der Besetzung der Bischofsstellen; Kar! der Große ernennt die Bischöfe selbständig und versteht das als Ausfluß der ihm von Gott gegebenen Gewalt 35 • Gregor VII. will das alte kirchliche Wahlrecht wieder herstellen. Die Zeit aber ist darüber hinweggegangen. In kurzer Zeit ist es dahin gekommen, daß von einer Mitwirkung des Volkes bei der Bischofswahl überhaupt nicht mehr die Rede ist 36 . Typisch ist die Entwicklung im Papstwahlrecht: die ursprüngliche Mitwirkung von Klerus und Volk von Rom wurde, was die Laien angeht, in dieser Periode von der Mitwirkung der Kaiser, der byzantinischen wie der deutschen, abgelöst, den Laienpart übernehmen römische Adelsgesch'lechter; dem entgegenzuwirken beschränkt das Papstwahldekret von 1059 das Wahlrecht auf die Kardinalbischöfe, Papst Alexander III. schränkt das Wahlrecht 1179 auf das Kardinalskollegium ein, unter Ausschluß nicht nur des übrigen Klerus, sondern auch des Kaisers und der Laien37 • Die völlige Klerikalisierung der Papstwahl blieb singulär unter den Bischofswahlen des Mittelalters. Nicht die Laien, wohl aber die Herrscher sprechen mehr oder minder entscheidend mit. Der König fühlt sich als Repräsentant des Teils der Gemeinde, der die Laien umfaßt, gestützt auf die sakrale Weihe der Königssalbung, die seit dem 9. Jahrhundert 33 34

35

:18 37

Plöchl, Bd. 1, 176; Köhler, 46 f . Zitiert nach Müller, 18. Müller, 18 ff. mit weiteren Beispielen. Müller, 22. C . 1 D XXIII; Köhler, 47 f.

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ihn zwar nicht zum Kleriker macht, aber doch über die Laienschaft erhob als "Mittler zwischen Klerus und Volk", wie es im begleitenden liturgischen Text hieß. Dies wurde noch gesteigert im Kaiserkrönungsritus, der den Gekrönten in die Klerikerschaft von St. Peter in Rom aufnahm und zum Dienst beim Pontifikalamt des Papstes befähigte38 . Die Rolle der Laien in dieser Zeit der Wende des christlichen Altertums zum Mittelalter bliebe freilich unterschätzt, wenn nicht auch ihre Mitwirkung an Synoden und Konzilien bedacht würde; diesen gehörten Laien zwar nicht als konstituierende, abstimmungsberechtigte Mitglieder an, waren aber doch zur Bekundung ihrer Zustimmung sowie zur Publizierung und Verbreitung der Beschlüsse bestimmt39 • Schließlich muß auch des zu großer Blüte gelangten Ordenswesens in dieser Zeit gedacht werden: es handelte sich ja hier weitgehend um Laien bei den Mönchen dieser frühen Epoche 40 • Noch in manchen Klöstern des Mittelalters mußten Geistliche, die nicht Mönche waren, für den Gottesdienst herangezogen werden. Wenn der Laien, dann muß in dieser Zeit des entstehenden abendländischen Mönchtums, eines Laienmönchtums, gerade auch dieser Laien gedacht werden, deren überragende Bedeutung für die Christianisierung, für die Heiligung der Welt, für Kultivierung, Bildung und Wissenschaft nicht überschätzt werden kann; Mönche waren Missions- und Bildungsträger erster Ordnung. Mönchen als Geistträgern werden, obwohl sie Laien sind, von Gläubigen die Sünden gebeichtet aus der Überzeugung, daß das Sündenbekenntnis sündentilgende Wirkung und das Gespräch mit dem von geistlicher Erfahrung erfüllten Laienmönch therapeutische Kraft habe 41 • IV. Das christliche Mittelalter seit Gratian Kirchenrechtlich, keineswegs allerdings in der kirchlichen Wirklichkeit, scheint der Laie in der Zeit des kirchlichen Mittelalters einem gewissen Argwohn zu begegnen. Bedingt ist diese Reaktion im Rechtsbereich durch das im sog. Eigenkirchenrecht lästig gewordene Laienturn: Bistümer, Kirchen, Klöster standen vielfach im Eigentum von Laien, insbesondere von Landesherren, die seit dem 7. Jahrhundert immer stärker die Obsorge für deren Gebäude und Ämter, aber auch Köhler, 47 - 49. Congar, 395 - 400. 40 Knowles, 117 f.; Congar, 24 - 26. 41 Kar! Rahner, LThK VI2, 741 f.; Schmaus, Kath. Dogmatik, Bd. IV, 1, München 1957, 599 ff.; ders., Der Glaube der Kirche, 442 f.; Hermann Tüchle, Kirchengeschichte, Bd. Paderborn 1955, 351 f.; Ludwig Eisenhofer, Handbuch der kath. Liture:ik. 2. Bd .. Freiburg 1933, 330. 38 39

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deren Einkünfte an sich zogen und Bischöfe, Äbte und Geistliche bestellten. Solcherlei Mehrung der Laienmacht wurde noch intensiviert durch das Interesse der politisch Regierenden am weltlichen Auftrag der Bischöfe, was ZUr Mitwirkung der weltlichen Herrscher bei der Einführung der Bischöfe und Prälaten in ihr Amt führte. Dies stieß auf harten Widerstand der Kirche, der schließlich zum Sieg der gregorianischen Reform führte. Das Verbot Papst Nicolaus' 11., eine Kirche aus Laienhand entgegenzunehmen 42 , wurde schließlich durchgesetzt und die königliche "investitura per anulum et baculum" verboten. Das Mißtrauen gegen die Mitbestimmung der Laien bei der Ämtervergabe war nunmehr gewachsen. Der Hl. Stuhl half sich zur Sicherung der kirchlichen Freiheit mit zahlreichen Reservationen: die Besetzung vieler Ämter wird einfach dem Papst vorbehalten 43 • Am Anfang dieser Periode steht der berühmt-berüchtigte Text von c.7 CXIl qu. 1, den Gratian einem (unbekannten) Brief des hl. Hieronymus entnommen behauptet: "Es gibt zwei Arten von Christen. Die eine Art ist für den Gottesdienst in Beschlag genommen und dient der Betrachtung und dem Gebet; sie hat sich dem Lärm des Weltlichen zu enthalten. Das sind die Kleriker und die Mönche ... Sie werden Kleriker genannt, was bedeutet: durch das Los erwählt. Sie alle hat Gott als die Seinen ausgewählt .... Die andere Art der Christen sind die Laien ... Sie dürfen zeitlichen Besitz haben, allerdings nur zur Nutznießung. Nichts ist trauriger, als des Geldes wegen Gott verachten. Diesen ist erlaubt zu heiraten, das Land zu bebauen, Recht zu sprechen, Rechtsachen anhängig zu machen, Opfergaben zum Altar zu bringen, den Zehnten zu zahlen. Auf diese Weise können sie das Heil finden, wenn sie die Laster meiden und Wohltaten üben44 ." An diesem Text ist nicht nur bemerkenswert, daß die Ordensleute den Klerikern zugerechnet werden, wiewohl sie überwiegend Laien sind, sondern vor allem, daß die Kleriker als die vollkommeneren, die Laien als die geringeren Christen erscheinen könnten, deren christliches Leben zwar auch anerkannt ist, das aber als Leben in der Welt doch eigentlich ein Kompromiß ist. Congar, der diesen Text so charakterisiert45 , zitiert einen Text aus dem Vorwort zur Summa super Decreta des Stephan von Tournai (1135 - 1203)46: "In derselben Stadt und 42 Cone Lat I 1059 c. 6: ., ... ut per laicos nullo modo quilibet clericus aut presbyter obtineat eeclesiam, nec gratis nee pretio." 43 Köhler, 49 f. 44 Schmaus, Der Glaube der Kirche, 102; Congar, 30 . . 45 Congar, 34 - 36. 46 Aus Carl Mirbt, Quellen zur Geschichte des Papsttums und des romlschen Katholizismus, 1. - 3. Auf!., n. 318; in der 4. - 6. Auf!. nicht mehr abgedruckt.

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unter einem einzigen König gibt es zwei Volksgruppen. Ihrer Verschiedenheit entsprechen zwei Lebensformen und diesen zwei HerrschGewalten eine doppelte Ordnung der Gerichtsbarkeit. Die Stadt ist die Kirche, ihr König ist Christus, die beiden Volksgruppen sind die beiden Stände der Kleriker und der Laien. Die beiden Lebensformen sind die geistliche und die weltliche, die beiden Herrsch-Gewalten sind das Priestertum und das Königtum, die beiden Gerichtsbarkeiten die göttliche und die menschliche." Niemals allerdings ist es zweifelhaft, daß diese Gruppen zu der einen Kirche gehören. In der damaligen Verwobenheit von Kirche und Reich, von Geistlichem und Weltlichem kommt es dazu, daß man zwar an der Einheit festhielt, aber eben doch von der Vorstellung lebte: Geistliche und Mönche seien das Volk, das hinter dem Papst steht, die Laien hingegen, Fürsten, Ritter, Bauern, das Volk, das hinter dem Kaiser steht 47 • Ursprünglich freilich sind in dieser geradezu naiven Vorstellung Papst und Kaiser, Kirche und Reich als Einheit gesehen worden. Je mehr sich aber die staatliche Welt verselbständigte, um so nachteiliger wirkte sich das auch auf das Einheitsbewußtsein aus. Während alle Getauften geistliche Menschen geworden sind, wird in dieser Zeit der Begriff des "Geistlichen" zur Bezeichnung der Kleriker 48 • Von hier nahm der Vorwurf von Rechtshistorikern seinen Ausgang, im Hochmittelalter seien die Laien nur noch als Regierungsobjekt in der Kirche betrachtet worden; wenn sie überhaupt noch Rechte hatten, war dies der Staatsgewalt zu verdanken 4D • In der klassischen Zeit der Kanonistik zwischen Gratian (ca. 1142) und Johannes Andreae (ca. 1348) hat viel Niederschlag gefunden, was aus dem Selbstbehauptungswi'llen der Kirche in einer gärenden Zeit verstanden werden muß, auch wenn es einseitig ist und unseren heutigen Vorstellungen nicht mehr entspricht. Aus dem Gegensatz zum unzureichend gebildeten, seelsorglich nicht sehr tätigen, verweltlichten, mitunter von politischen Mächten vereinnahmten Klerikerturn entstanden Laienbewegungen, die in ihrem sittlichen Rigorismus und ihrem Willen zur Rückkehr in die evangelische Ursprünglichkeit revolutionär und häretisch ausarteten: so seit 1100 die Katharer und verwandte Sekten, welche Hierarchie und Priestertum ablehnten, seit 1170 etwa die Anhänger des Waldes aus Lyon mit ihrer unbedingten Forderung der apostolischen Armut, die als Wanderprediger gegen die Hierarchie und die kirchliche Lehrautorität kämpften, - sie alle wie die zahlreichen sonstigen Schwärn Congar,37. 48 Schmaus, Der Glaube der Kirche, 102. oe Plöchl, Geschichte des Kirchenrechts, Bd. 2, 177 f.

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mergruppen waren im Grunde Randerscheinungen der mittelalterlichen kirchlichen Laienschaft50. Aber die christliche Laienschaft des Mittelalters ist nicht zuerst hier, sondern anderswo sichtbar. Sie hat unter Beweis gestellt, welch kirchentragendes Element sie gewesen ist und welche Wirkungsmöglichkeiten sie gehabt hat. Die Laien haben in den Ritterorden seit der Kreuzzugszeit der Sicherung der Pilger, der Armen- und Krankenpflege unter ihnen, dem Schutz der christlichen Stätten im Hl. Land und dem Glaubenskampf ihren ganzen Einsatz gewidmet. Die Laienbewegung des hl. Franz von Assisi ist von demselben Geist der Rückkehr zu den evangelischen Idealen getrieben, der andere Laienbewegungen in den Bruch mit der Kirche getrieben hat; ihr geschichtliches Verdienst ist es, zur Reformbewegung in Unterordnung "unter die Heilige Römische Kirche" geworden zu sein. In ihrem sog. Ersten Orden des hl. Franziskus hat die Zahl der Brüder in Europa sicher schon im 13. Jahrhundert 30000 erreicht51 . Durch den Dritten Orden für Weltleute ist der Franziskanerorden zu einer Ausstrahlung im Mittelalter gelangt, die gar nicht überschätzt werden kann. Diesem Aufbruch eines gegenüber dem Mönchtum neuartigen Ordenswesens haben sich die Mendikanten der verschiedenen Denominationen angeschlossen, wie z. B. die Dominikaner, Augustiner, Karmeliten, sämtliche im 13. Jahrhundert entstanden. Sie sind als Seelsorgsorden tätig gewesen und sind mit den ganz dem inneren Leben geweihten Frauen ihres jeweiligen Zweiten Ordens und der apostolischen Schar der in der Welt lebenden Männer und Frauen ihrer Dritten Orden zum Sauerteig der damaligen Welt geworden52 • Es ist eine Zeit, in der die tiefe Religiosität weiter Laienkreise allein an den riesigen Zahlen des Ordensnachwuchses ablesbar ist. Der Anteil der Laien in der Wohlfahrtspflege, im Dienst an Kranken, Alten, Armen und anderen sozial Beeinträchtigten ist bei weitem größer als derjenige kirchlicher Einrichtungen, wie es Kapitel, Klöster, Pfarreien sind. Sie haben durch den tätigen Dienst in solchen Einrichtungen, vor allem zusammengeschlossen zu pflegerischen Vereinigungen, wie derjenigen der Begarden und Beginen, oft auch als Stifter von Spitälern und ähnlichen Einrichtungen fungiert, seit dem Hochmittelalter vor al'lem auch in ihren bürgerlichen Gemeinden. Die Geschichte des deutschen Spitals - und dies kann vom ganzen europäischen Raum gesagt werden - ist im Mittelalter zu einer Ruhmesgeschichte tätigen LaienTüchle, II, 220 ff., 320 ff.; Schmaus, Der Glaube der Kirche, Bd. 2, 69. Heribert Holzapfel, Handbuch der Geschichte des Franziskanerordens, Freiburg 1909, 163 f. 52 Plöchl, Bd. 2, 230 f.; Knowles, 242 f. 50

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einsatzesgeworden53 • Es entstanden Bruderschaften als Gebetsverbrüderungen und vielfach nach Berufen gegliederte religiöse Vereinigungen, die später dann in den Zünften auch wirtschaftlichen Interessen ihrer Mitglieder dienten. Aus Laieninitiative des Mittelalters ist die Blüte neuer geistlicher Denkweisen und Andachtsformen erwachsen: die eucharistische Frömmigkeit, die Juliane von Lüttich 1246 zur Initiatorin des Fronleichnamsfestes und Gertrud von Helfta seit 1281 zur Initiatorin der Herz-Jesu-Verehrung werden ließ; die Verehrung der Menschheit Christi insbesondere durch die betende Frömmigkeit der Krippe, des Kreuzwegs und des hl. Grabs; die gesteigerte Marienverehrung, in der im Mittelalter das Fest Mariä Himmelfahrt zum Hauptfest der Gottesmutter und Rosenkranz und Angelus zum Volksgebet geworden waren54 • Die gläubige Entschlossenheit der abendländischen Christen in den Kreuzzügen, die Kraft der religiösen Bewegungen gerade in den unteren Volksschichten, der von der Kirche kaum zu bändigende Drang zur Laienpredigt und zur Erweckungsmission55 , - diese Tatsachen stehen doch überwältigender vor Augen als das, was als Mißbrauch in den Rechtstexten der damaligen Zeit abgewiesen wird. Was die BischofswahZ betrifft, bleibt auch im Mittelalter die Kanonistik lange Zeit ihrer Anerkennung der angestammten Laienrechte treu. Hubert Müller hat aufgezeigt, wie das Zusammenwirken von Klerus und Volk bei der Bischofswahl von der Kanonistik des 12. und 13. Jahrhunderts anerkannt ist, mag auch den Klerikern das eigentliche Entscheidungsrecht zuerkannt werden und die Laien auf Meinungskundgabe und Zustimmung beschränkt werden, mögen auch die Mitglieder des Klerus stark (z. B. auf die Kathedralkapitel) und die Vertreter der Laien noch stärker reduziert sein (personeU z. B. auf die Patrone, sachlich auf die Ratserteilung oder überhaupt auf den durch die Ladung erwiesenen Ehrerweis), bis schließlich Gregor IX. 1234 die Teilnahme der Laien an der Bischofswahl absolut verboten hat unter Androhung der Ungültigkeit der Wahl und Verwerfung jedweden gegenteiligen Gewohnheitsrechts56 • Selbst diese harte, bis in unsere Zeit nachwirkende Maßnahme darf keineswegs als kirchliche Laienfeindlichkeit gedeutet werden. Die ganze Entwicklung hat gezeigt, daß die Superlaien, nämlich die Herrscher und Mächtigen, zuerst die Laien des Kirchenvolkes enteignet haben und dann für das Kirchenregiment so unerträglich wurden, daß es ein Akt sa Plöchl, Bd. 2, 459; siehe auch Siegfried Reicke, Das deutsche Spital und sein Recht im Mittelalter, Stuttgart 1932, 2 Bände. 54 Gerard Philips, 61 f.; Knowles, 243, 245. M Knowles, 242 - 244 . .18 c. 56 X I, 6; Müller, 76 f., 118 f., 136 f., 154 f., 171 - 173, 201 - 203.

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der Selbstbehauptung der Kirche war, die Berufung der Bischöfe wieder in die eigene Hand zu bekommen. Beweis für die Vertrauensstellung der Laien in der mittelalterlichen Kirche ist ihre Heranziehung zur Verwaltung des 'Kirchen- und Stiftungsvermögens. Seit der Mitte des 12. Jahrhunderts erhalten Laien im gesamten europäischen Bereich verantwortliche Aufgaben in der Hütung und Verwertung dieses - in der Vorstellung der damaligen Zeit - gottgehörigen Vermögens, sei es in den Pfarreien, so daß Plöchl vom "genossenschaftlichen Zug der Pfarrgemeinden" spricht, sei es bei den Wohlfahrtsstiftungen, den piae causae. Damals ist das Amt des Kirchenpflegers oder Heiligenmeisters entstanden, das sich bis heute erhalten hat 57 • Daß die mittelalterliche Kirche auch den persönlichen Charismen Rechnung getragen hat, zeigt ihre Einstellung zur Laienpredigt. Daß angesichts vieler Exzesse der damaligen innerkirchlichen Opposition Vorsicht geboten war, ist verständlich. Soweit die Predigt der Laien aber sich unter Ausschluß dogmatischer Fragen auf das "verbum exhortationis" beschränkte, hat Papst Innozenz III. 1201 die Laienpredigt gestattet unter der Voraussetzung, daß sie vom Ortsbischof erlaubt worden ist 58 ; sie ist nicht einfachhin verboten, sondern nur, wenn sie ohne Sendung erfolgte59 • Auch die Abschaffung der Kelchkommunion für die Laien darf nicht als Minderung ihrer Rechtsstellung gedeutet werden. Mag bis ins Hochmittelalter auch den Laien die Kommunion in der Regel unter zwei Gestalten gereicht worden sein, so gab es doch immer schon Ausnahmen, wie die bloße Brotkommunion für Kranke, Gefangene, Anachoreten, die bloße Kelchkommunion für Schwerkranke und Kinder. Es sind wohl praktische Gründe, unterstützt von der immer sensibler werdenden Sorge um die auch dem geringsten Tropfen hl. Blutes geschuldete Ehrfurcht, schließlich auch die wachere theologische Erkenntnis, daß in jeder Gestalt, ob Brot oder Wein, der ganze Christus zugegen ist und ein wahres Sakrament empfangen wird, - was zusammengewirkt hat, daß die Kommunion unter zwei Gestalten im 13. Jahrhundert ohne formelle Gesetzgebung außer Übung kam und sie die Gläubigen nur unter der Brotgestalt empfingen. Der Laienkelch der Hussiten des beginnenden 15. Jahrhunderts (Calixtiner, Utraquisten) ist zum Symbol des Kampfes gegen die Kirche geworden. Der Vorwurf, die Kirche habe den Laien den Kelch entzogen, hat in den Glaubenskämpfen die Gegner bis in das 17. Jahrhundert gesammelt 60 • 57 Plöchl, Bd. 2, 179, 441 f., 449; Sebastian Schröcker, Die Verwaltung des Ortskirchenvermögens, Paderborn 1935. 68 Congar, 491. 51 Denzinger / Schönrnetzer, Enchiridion symbolorum, ed. 32, nn. 761, 796,

809.

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V. Reformation und Gegenreformation Martin Luther kam 1519 zur Erkenntnis, daß "der Glaube allein das rechte priesterliche Amt ist ... , darum alle Christen Pfaffen und Pfäffinnen seien", aber "die kirchliche Priesterschaft von der Kirchenordnung hergekommen ist und nicht in der Schrift gegründet"; folglich "sind wir alle ein Körper des Hauptes Christi, der nicht hat zweierlei Art Körper, einen weltlichen, den anderen geistlichen"; "das neutestamentliche Priestertum herrscht ganz ohne Ansehen der Personen gemeinsam in allem allein durch den Geist"61. Die Unterschiede zwischen dem Laienstand und dem Klerikalstand sind hier völlig aufgegeben, nicht nur theologisch, sondern auch verfassungsrechtlich eine grundlegende Neuerung 62 . Der Priester ist mithin völlig negiert; wenn die Gemeinde einen Gemeindeleiter hat, der durch Ordination bestellt worden ist, so ist dieser dennoch kein durch sakramentalen Ordo Bestellter. Die Reformationstheologie kennt auch keine Unterschiede in der Teilnahme des Christen am Priester-, Propheten- und Hirtenamt Christi und seiner Kirche 63 . Alle Christen sind kraft des allgemeinen Priestertums "wahrhaft christlichen Standes"; die babylonische Gefangenschaft, in der sich die unsichtbare geistige Kirche durch Menschensatzung und Sakramentenlehre befinde, müsse überwunden werden 64 • Die Reaktion auf diesen Bruch mit der kirchlichen Tradition durch die Leugnung verbindlicher Glaubenswahrheiten hat die katholische Lehre über die Kirche jahrhundertelang mitgeprägt. Daß dies insbesondere die Stellung des Laien beeinflußte, ist verständlich. Gewiß hat das Konzil von Trient (1545 - 1563) keine Bestimmungen erlassen, die bestehende Laienrechte gemindert hätten. Aber die tridentinische Reform ist nun einmal auf weiten Strecken durch die Gegnerschaft bestimmt. Das Konzil hat auf seiner 23. Sitzung vom 15. Juli 1563 bei der Lehre über das Weihesakrament erklärt: "Wenn jemand behauptet, alle Christen seien in gleicher Weise Priester des Neuen Bundes oder alle seien ohne Unterschied mit derselben geistlichen Vollmacht ausgestattet, dann heißt das nichts anderes, als Verwirrung in die kirchliche Hierarchie bringen ... gleich als wären entgegen der Lehre des hl. Pau60 Kar! Rahner Art. Kelchkommunion, in: LThK VI2 744 -746; Hermann Tüchle, Geschichte der Kirche, Bd. III: Reformation und Gegenreformation, Einsiedeln 1965, 172; Schmaus, Der Glaube der Kirche, Bd. 2, 38!}; Eisenhofer, 311 ff.; Josef Andreas Jungmann, Missarum sollemnia, 2. Bd., Wien 1949, 462,

502.

81 Zitiert nach Gerhard Krause, Art. Priestertum, allgemeines, in: Evangel. Staatslexikon, 2. Aufl. 1975, 1927 - 1933, hier 1928. 62 Plöchl, III, 50. 63 Schmaus, Der Glaube der Kirche, Bd. 2, 112 f., 147. M Tüchle, 60.

5 Festschrift Rossl

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lus alle Apostel, alle Propheten, alle Evangelisten, alle Hirten, alle Lehrer (vgl. 1 Cor 12, 29; Eph. 4, 11)65." "Außerdem lehrt die hl. Synode, daß bei der Weihe von Bischöfen, Priestern und der übrigen Rangstufen niemals die Zustimmung, Berufung oder Bevollmächtigung durch das Volk oder irgendeine weltliche Macht oder Regierung in dem Sinn erfordert ist, daß bei ihrem Fehlen die Weihe ungültig ist. Im Gegenteil entscheidet sie, daß alle, die nur vom Volk oder von einer weltlichen Macht und Regierung berufen und eingesetzt sind und zur Verwaltung des Amtes emporsteigen, und alle, die es aus eigener Vermessenheit ergreifen, nicht Diener der Kirche sind, sondern als Diebe und Räuber betrachtet werden müssen, die nicht durch das Tor eingetreten sind (vgl. Joh 10, 1)68." Hier werden die tragenden Säulen der Hierarchie plastisch herausgestellt. Dies bestimmt auch den leitenden Kirchenbegrifj. Im luthe~ rischen Verständnis ist die Kirche "Versammlung der Gläubigen, bei welcher das Evangelium rein gepredigt und die hl. Sakramente laut des Evangeliums gereicht werden"67. Das Trtdentinum hat keine Definition der Kirche gegeben. Maßgeblich aber bleibt der aus dem Geist dieses Konzils geprägte Kirchenbegriff Robert Card. Bellarmins (1542 bis 1621): "Die Kirche ist die Gemeinschaft aller Gläubigen, die durch das Bekenntnis desselben Glaubens, durch die Teilnahme an denselben Sakramenten vereinigt sind unter der Leitung der angeordneten Hirten und besonders des einen Stellvertreters Christi auf Erden, des römischen Papstes." Hier ist das sichtbare Element der Kirche herausgestellt; diese Definition ist klar gegen die These von der ecclesia abscondita der Reformatoren gerichtet68 . Mit solchen Kernsätzen ist der Weg für Gesetzgebung und Verwaltung einer langen Zukunft vorgezeichnet, so daß noch das geltende Gesetzbuch der Kirche als enttäuschend, was die Behandlung der Laien angeht, bezeichnet wird: "Die katholische Kirche ist die Kirche des Klerus ... in dem Sinn, ... daß nach ihrem Rechte die Laien mehr nur als Schutzgenossen und allein die Kleriker als Vollgenossen erscheinen. Die Laien bilden lediglich das zu leitende und zu lehrende Volk ... Das Recht der katholischen Kirche ist fast ausnahmslos geistlichen Rechts"69. Auch Mörsdorf bedauert vor dem H. Vatikanischen Konzil, daß die Denzinger, n. 1767. es Denzinger, n. 1769; zum Ganzen auch die Canones dieser Sitzung in den nn. 1771 - 1780. 85

88

Confessio Augustana VII, 1. Plöchl, III, 67, 410; Schmaus, Der Glaube der Kirche, Bd. 2, 127 f.; Phi-

69

Ulrich Stutz, Der Geist des Codex Iuris Canonici. Stuttgart 1918, 83.

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lips,30.

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Stellung der Laien, wie sie von den Päpsten Pius XI. und Pius XII., auch von den Konstitutionen der Römischen Diözesansynode von 1959 ausgesprochen worden ist, den kirchlichen Gesetzgeber noch kaum veranlaßt hat, tätig zu werden 70 • Das aber darf nicht zu unrichtigen Vorstellungen über den Laien in der kirchlichen Wirklichkeit der Neuzeit führen; denn das Leben geht der Rechtssatzung natürlicherweise immer voraus. In der Gesetzgebung mag eine antireformatorische Tendenz bestimmend gewesen sein, so daß im innerkirchlichen Rechtsbereich Laien teilweise in Passivität verbleiben 71 • Was die Laien in der Kirche wirklich gewesen sind, das wird spürbar im nachreformatorischen Neuaufschwung des Ordenswesens; Klöster und Orden rekrutieren sich doch aus dem Volke Gottes. Wie haben sich vor allem die zentralistischen Verbände seit dem 16. Jahrhundert bis heute vervielfacht! In den neu entstandenen, auf die verschiedensten Arten des Apostolats ausgerichteten klösterlichen Kongregationen - im 19. Jahrhundert, was Gründung und Ausbreitung betrifft, von beispielloser Fruchtbarkeit - ist doch die religiöse Kraft des Laientums der Kirche deutlich. Man muß auch der Intensivierung der auswärtigen Mission unter der Leitung der Propaganda-Kongregation, 1622 von Papst Gregor XV. gegründet, gedenken; sie wird in diesen Jahrhunderten in allen Weltteilen spürbar; die sog. Heidenmission bleibt in stetem Wachstum bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts. Das ist doch nur möglich gewesen dadurch, daß das christliche Volk sich zur Mitarbeit gefordert wußte und diese in Gebeten, Opfern, Spenden und Gestellung von Missionaren und Missionarinnen geleistet hat. Um etwas ganz anderes zu erwähnen: die kirchlichen Baudenkmäler im Wandel der Stile von der Renaissance und dem Barock bis in unsere Zeit zeugen doch davon, was Laien durch wirtschaftliche Leistung und handwerkliches Können an sichtbarer Präsenz der Kirche in der Welt geschaffen haben. Künstler und freiwillig mitwirkendes Volk haben eine hochwertige Kirchenmusik lebendig gemacht, angefangen von den beiden im gleichen Jahr 1594 verstorbenen Meistern Palestrina und Orlando di Lasso. Dieser Dienst für Liturgie und Gottesdienst, von Laien schöpferisch geschaffen und reproduziert, ist in Choral und Polyphonie, mit Orgel und Orchesterklang, dem Ruhme Gottes und der Erhebung des Volkes erwiesen worden. Auf ganzer Breite ist seit dem 19. Jahrhundert von Laien die Verantwortung für Gesellschaft und Politik ins Bewußtsein gerufen worden; Laien wurden um der christlichen Werte willen in der Publizistik und in den Parlamenten tätig; nur beispielhaft sei der großen 70 Klaus Mörsdorf, Die Stellung der Laien in der Kirche, in: Revue de Droit Canonique X, 1960, 214 - 234, hier 215. 11 Plöchl, 111, 411 f.

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Männer Joseph Görres (t 1848), Hermann von Mallinckrodt (t 1874), Ludwig Windthorst (t 1891) gedacht. Unübersehbar ist, wie der Glaube und die Bereitschaft zur Diakonie Laien zu Zusammenschlüssen in Vereinen religiöser, caritativer, kultureller, wissenschaftlicher und volksbildnerischer Art veranlaßten. Vom 19. Jahrhundert an beginnt auch die Zeit der sog. Laientheologie, in der Laien anfingen, sich profund theologischen Themen in ihren Publikationen zuzuwenden, die Laientheologie, "deren Ouvertüre das Papstbuch Joseph de Maistres (1753 - 1821) bildete"72; der Autor hat sich damals in der Vorrede entschuldigt, daß ein Weltmensch sich herausnimmt, über Fragen zu schreiben, die bislang ausschließlich Autoren des Priesterstandes vorbehalten schienen. Man müßte die Geschichte des innerkirchlichen Lebens vom 16. bis zum 20. Jahrhundert gegenwärtig machen können, um zu verstehen, daß man nicht an Rechtsnormen, sondern am tatsächlichen Leben die Behauptung messen muß, die Laien seien seit dem Konzil von Trient nur das zu leitende und zu lehrende Volk gewesen. Tatsächlich sind die Laien viel mehr gewesen. Die kirchliche Wirklichkeit war der Rechtsnorm längst vorausgegangen. Deshalb kann, was die Rechtsordnung unserer Gegenwart an Laienrecht fixieren wird, als natürliche Folge betrachtet werden. Was die Entwicklung der Rechtsstellung des Laien betrifft, hat bis zum Codex Iuris Canonici (1918) die Gegenreformation fortgewirkt. Aber nicht sie allein. Zusätzlich muß auch die andere Front gesehen werden, deren sich die Kirche zu erwehren hatte, die Front, die Laizismus heißt. Dieser aber ist zweifellos vorreformatorischen Ursprungs. Marsilius von Padua (t 1342/43) hat in extrem antikirchlicher Haltung gelehrt: das Eherecht gehöre völlig in die Jurisdiktion des weltlichen Herrschers, - die Kirche ist dem Staat zu unterstellen, Gesetzgebungsgewalt stehe einzig dem Volke zu, - der vom Volk zu wählende Herrscher repräsentiere die communitas perfecta fidelium, diesem stehe auch die Kirchenaufsicht zu, - er habe die Priester einzusetzen, - einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Klerikern und Laien gebe es nicht, mithin auch keine hierarchische Kirchenstruktur, weshalb auch in der Kirche die Gesetzgebungsgewalt beim Volk liege, das in einem aus Klerikern und Laien gewählten Generalkonzil, einzuberufen vom weltlichen Herrscher, die höchste Instanz seF3. Von solch extremen Thesen haben nicht nur die Reformatoren, sondern insbesondere die Landesherren gelernt. Immer mehr ziehen sie die 72

;~

Hans Maier, Revolution und Kirche, 2. Auf!. Freiburg 1965, 71. Paul Mikat, in: LThK VIP, 109 f.; Denzinger, 941 - 946.

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Kirchenhoheit an sich, je schwächer die päpstliche und die kaiserliche Macht seit dem Ausgang des Mittelalters werden. Die Kirche wird Staatsanstalt, was im Staatskirchenturn des Josephinismus, benannt nach Kaiser J oseph 11. (1765 - 1790), zu einer bemerkenswerten Blüte getrieben wurde, alles mit der grundsätzlichen Absicht, den Klerikalismus zu brechen und das Laienelement zu stützen74 • In Ländern einer reformatorischen Konfession haben die Landesherren von Anfang an das Kirchenregiment an sich gezogen, was später theoretisch damit gerechtfertigt wurde, daß die Landesfürsten in diesen Ländern an die Stelle der in ihrer Jurisdiktion suspendierten katholische Bischöfe getreten seien (Episcopalsystem). Das Volk im altchristlichen Sinn (Aao~) wird mit der politischen Wirklichkeit gleichgesetzt und gilt vom Herrscher repräsentiert. Kirchengewalt wird immer mehr verstanden als Ausfluß der landesherrlichen Territorialgewalt. Die Landesherren gelten als "Notbischöfe"; denn allein sie können die Ordnung in der Kirche sicherstellen. Das führt in der Zeit des Absolutismus zum "ius papale" des Landesherrn, der die Entscheidung auch in Glaubensdingen an sich zog (Territorialsystem). Gemildert zwar, aber doch die Kirche beeinträchtigend, hat im 19. Jahrhundert das System des landesherrlichen Summepiscopats Anerkennung gefunden, der auf der Übertragung seitens der Rechtsgenossen beruhend betrachtet wurde. Dieser Summesiscopat ist in Deutschland erst 1918 zusammengebrochen; in England und den skandinavischen Ländern ist er noch immer in den Resten des Staatskirchenturns lebendig 75 • Diese Art von Laizismus war aber nicht die einzige, mit der die Kirche zu tun hatte. Als Laizismus wurde auch die Auffassung verstanden, die Kirche habe überhaupt keinen weltlichen Einfluß, weil alles, was der WeZtordnung angehört, dem Bereich der Kirche entzogen sei. Pius XI. hat in seiner Enzyklika "Quas primas" vom 11. Dezember 1925 diese Auffassung als irrtümlich abgewiesen 76 • Laizismus erscheint noch häufiger in der Form des Antiklerikalismus und offener Kirchenfeindlichkeit, so vorwiegend in Frankreich, wo er sich zuerst gegen Klöster und kirchliche Schulen wandte, um schließlich mit Wirkung vom 1. Januar 1906 dort die radikale Trennung von Staat und Kirche zu erzwingen; daran hat die atheistische Freimaurer-Großloge des "Grand Orient de France" einen guten Anteil, von ihr stammt ja das Bekenntnis: "Der Laizismus ist für uns kein bloß objektiver Begriff, er machte unsere ganze Substanz aus." Noch heute bezeichnet sich Frankreich in Plöchl, III, 410 - 412. Karl Weinzierl, in: LThK III!, 950 f.; Hans Liermann, in: Evangelisches Staatslexikon, 2. Auf!. 1975, 1437 - 1439. 76 Denzinger, 3675 - 3679; Schmaus, Der Glaube der Kirche, 112 f.; ders., Kath. Dogmatik, Bd. IV, 1, 157; Köhler, 50 - 52. 74

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seinen Verfassungen von 1946 und 1958 als "unteilbare, laikaIe, demokratische und soziale Republik"77; in ähnlicher Weise spricht man in romanischen Ländern von "laizistischen Schulen", was jeweils bedeutet, daß das religiöse oder kirchliche Element völlig ausgeschaltet ist. All das die kirchliche Sendung Behindernde, was in dem komplexen Begriff des "Laizismus" zusammengefaßt ist und aus dem staatlichen oder gesellschaftlichen Raum kommt, hat den Argwohn der Hierarchie gegen die Laien keinesfalls gemindert. Auch diese Komponente muß zusammen mit der Abwehr der Kirchenneuerer des 16. Jahrhunderts als Ursache der kirchlichen Rechtssetzung erkannt werden. So mag die Dürftigkeit des Laienrechts im geltenden kirchlichen Gesetzbuch verstanden werden. Dieses Gesetzbuch hat ja seiner eigenen Aussage gemäß überwiegend die bis 1918 bestehende Disziplin festgehalten (c. 6). Diese Dürftigkeit zeigt sich auch in der kanonistischen Literatur78 • VI. Der Laie in der Kirche der Gegenwart Ein kirchlicher Neuansatz gewichtiger Art ist Papst Pius XI. (1922 bis 1939) zu danken, dem unermüdlichen Initiator der Katholischen Aktion, in der er die Laien zur Mitarbeit und Teilhabe am hierarchischen Apostolat der Kirche aufruft. Nach ihm sind die Laien, ohne in die Hierarchie selbst gerufen zu sein, Teilhaber an der Sendung der Kirche, in der alle Gläubigen, Bischöfe, Kleriker und Laien, kraft der Taufe und Firmung stehen, - auch die Laien, wenn diese auch nicht in den Dienstämtern stehen, für die das Weihesakrament die Befähigung gibt7 9 • Diese Impulse hat sein Nachfolger Pius XII. (1939 - 1958) intensiviert mit den besonderen Nuancierungen, daß Laien mündige Christen seien und ihr Apostolat in steter Fühlungnahme mit der Hierarchie verbleiben müsse. Die Laien sind zur Heilsaktivität im Volke Gottes verpflichtet 80 • Philips, 20 f. Klaus Mörsdorf, Lehrbuch des Kirchenrechts aufgrund des CIC, pi, Paderborn 1964, 557 - 562; die dort angegebene Literatur zu ergänzen durch Peter Schmitz, Das kirchi. Laienrecht nach dem CIC, Münster 1927; Ernst Rösser, Die Stellung der Laien in der Kirche nach dem kanon. Recht, Würzburg 1949. 79 Jacques Verscheure, in: LThK VI2 74 - 77; Congar, 593 - 621. 80 Heribert Franz Köck, Pius XII. und das Apostolat der Laien, in: Pius XII. Zum Gedächtnis, herausgegeben von Herbert Schambeck, Berlin 1977, 427443; Schmaus, Der Glaube der Kirche, Bd. 2, 106; abgesehen von den zahlreichen Reden Pius XII. sind diesbezüglich einschlägig die bei den Enzykliken "Mystici corporis" vom 29. Juni 1943 und "Mediator Dei" vom 20. November 1947. 77 78

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So ist theologisch und organisatorisch vieles vorbereitet worden, was das 11. Vatikanische Konzil in seinen grundsätzlichen Aussagen über die Laien festgestellt und der kirchlichen Gesetzgebung - die Revision des kanonischen Rechts ist gemäß Papst J ohannes XXIII. eines der diesem Konzil gesteckten Ziele - vorgegeben hat. Das Vatikanum II macht seine wichtigsten Aussagen über die Laien in der Dogmatischen Konstitution über die Kirche "Lumen gentium" vom 21. November 1964 (zitiert: Kirchenkonstitution)81 und in dem Dekret über das Laienapostolat "Apostolicam actuositatem" vom 18. November 1965 (zitiert: Laiendekret). Die Kirche ist das Volk Gottes, in dem Laien und Kleriker vereint sind. Was sie unterscheidet und worin Ungleichheit verbleibt, das ist dadurch bedingt, daß Christus verschiedene Dienstämter eingesetzt hat, deren Träger, die Kleriker, durch die Weihe mit heiliger Vollmacht ausgestattet sind82 • Das ändert nichts an der fundamentalen Gleichheit: unitas missionis - diversitas ministerii83 • "Es gibt also in Christus und in der Kirche keine Ungleichheit ... wenn auch einige nach Gottes Willen als Lehrer, Ausspender der Geheimnisse und Hirten für die anderen bestellt sind, so waltet doch unter allen eine wahre Gleichheit ... Der Unterschied, den der Herr zwischen den geweihten Amtsträgern und dem übrigen Gottesvolk gesetzt hat, schließt eine Verbundenheit ein, da ja die Hirten und die anderen Gläubigen in enger Beziehung miteinander verbunden sind84 ." Aufgrund der Taufe und der Firmung haben die Laien teil an der Sendung der Kirche: "Unter der Bezeichnung Laien sind hier alle Christgläubigen verstanden mit Ausnahme der Glieder des Weihestandes und des in der Kirche anerkannten Ordensstandes86 , d. h. die Christgläubigen, die, durch die Taufe Christus einverleibt, zum Volke Gottes gemacht und des priesterlichen, prophetischen und königlichen Amtes Christi auf ihre Weise teilhaftig, zu ihrem Teil die Sendung des ganzen christlichen Volkes in der Kirche und in der Welt ausüben86 ." Klaus Mörsdorf nennt diese Sätze die Magna Charta der Laien87 • Weil Laien soziologisch stärker als die Geistlichen im Weltdienst stehen, werden Bes. im 2. und 4. Kapitel nn. 9 -17,30 - 38. Kirchenkonstitution, n. 18. 83 Laiendekret, n. 2. 84 Kirchenkonstitution, n. 32; Pedro Lombardia, Die Rechte des Laien in der Kirche, in: Concilium 7, 1971, 588 - 592; Hans Heimerl, Laienbegriffe der Kirchenkonstitution des Vat. H, in: Concilium 2, 1966, 219 - 224. 85 Das soll nicht heißen: daß der Ordensstand dem Klerikalstand zugehört; denn Ordensleute sind sowohl Kleriker wie überwiegend Laien. Aber sie werden an dieser Stelle deswegen nicht in die Laienschaft einbezogen, weil in der Kirchenkonstitution eigens im Kapitel 6 von den Ordensleuten die Rede ist. 88 Kirchenkonstitution, n. 31. SI

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sie insbesondere an ihre Pflicht erinnert, in der Welt durch ihr Apostolat als Sauerteig zu wirken88 • Diese Verwiesenheit an die Welt ist aber nicht die einzige Aufgabe der Laien; ausdrücklich wird wiederholt die Teilhabe des Laien am Wirken der Kirche genannt. Alle Getauften nehmen teil an der Sendung Christi und der Kirche. Dieses letzte Konzil hat erstmals lehramtlich die Teilnahme aller Christen an den drei Ämtern Jesu Christi ausgesprochen 8o • Alle Getauften sind zu einem heiligen Priestertum geweiht. Das gemeinsame Priestertum der Gläubigen und das hierarchische Priestertum, letzteres zwar qualitativ unterschieden, sind Teilhabe am Priestertum Christi. Die Laien "wirken kraft ihres königlichen Priestertums an der eucharistischen Darbringung mit und üben ihr Priestertum aus im Empfang der Sakramente, im Gebet, in der Danksagung, im Zeugnis eines heiligen Lebens, durch Selbstverleugnung und tätige Liebe"90. Alle Getauften nehmen teil am Prophetenamt Christi, in dem sie Christus in Wort und Beispiel bezeugen; der Laie kann mit kanonischer Sendung das Wort verkündigen, wirkt durch Vorbild und Apostolat, vorab im Lebensstand von Ehe und Familie, allgemein in seinem Beitrag zur Evangelisation der Welt91 . Alle Getauften nehmen teil am Hirtenamt Christi; dies verwirklicht der Laie, wenn er mit Christus die Herrschaft Gottes verkündet, zur Ausbreitung des Reiches Gottes, gerade in seiner Zuständigkeit für den weltlichen Bereich beiträgt, "daß die geschaffenen Güter gemäß der Ordnung des Schöpfers und im Lichte seines Wortes durch menschliche Arbeit, Technik und Kultur zum Nutzen wirklich aller Menschen entwickelt und besser unter ihnen verteilt werden und in menschlicher und christlicher Freiheit auf ihre Weise dem allgemeinen Fortschritt dienen"92. In solcher Teilhabe an den Ämtern .Christi geschieht das Laienapostolat als "Teilhabe an der Heilssendung der Kirche selbst"93. Es muß in rechter Ordnung eingefügt sein in das Apostolat der ganzen Kirche, das den Hirten der Kirche unterstellt ist94 . Dieses Apostolat wird einzeln ausgeübt in Familie, Pfarrei, Jugend-, Sozial- und Bil87 Klaus Mörsdorf, Das eine Volk Gottes und die Teilhabe der Laien an der Sendung der Kirche, in: Ecclesia et lus. Festschrift Scheuermann, Paderborn 1968, 99 - 119, hier 105 f. 88 Laiendekret, n. 2; Kirchenkonstitution, n. 31. 89 Schmaus, Der Glaube der Kirche, Bd. 2, 107. 90 Kirchenkonstitution, n. 10, auch 34. 91 Ebd., n. 35. 92 Ebd., n. 36. 93 Ebd., n. 33 Abs. 2.

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dungsdienst 95 . Es wird aber auch in Gemeinschaft ausgeübt, mögen diese Gemeinschaften dem Vollkommenheitsstand angehören oder in irgendeiner Form des Vereinsrechts organisiert sein. Zu diesem Zweck ist den Laien gewährt, "Vereinigungen zu gründen, zu leiten und gegründeten Vereinigungen beizutreten"98. Laien können sich auch privat zu Vereinen oder Werken zusammenschließen, die irgendeinem Apostolatsziel dienen. "Durch solche Werke kann die Sendung der Kirche unter bestimmten Umständen sogar besser erfüllt werden. Deshalb werden sie auch nicht selten von der Hierarchie gelobt und empfohlen. Ein Werk aber darf sich ohne Zustimmung der rechtmäßigen kirchlichen Autorität nicht ,katholisch' nennen 97 ." Von größter Bedeutung ist das Zusammenwirken von Bischöfen, Priestern, Ordensleuten und Laien. Zu diesem Zweck sollen in den Diözesen "beratende Gremien eingerichtet werden, die die apostolische Tätigkeit der Kirche im Bereich der Evangelisierung und Heiligung, im caritativen und sozialen Bereich und in anderen Bereichen bei entsprechender Zusammenarbeit von Klerikern und Ordensleuten mit den Laien unterstützen ... Solche Gremien sollten, soweit wie möglich, auch auf pfarrlicher, zwischen pfarrlicher und diözesaner Ebene, aber auch im nationalen und internationalen Bereich geschaffen werden"98. Diese Bestimmung ist in Deutschland so vollzogen worden, daß ein eigener Laienrat, Diözesanrat geheißen, neben dem Priesterrat99 und dem Seelsorgerat100 besteht. Es kann ja außer acht bleiben, daß das Konzil die Zuständigkeit der verschiedenen Räte nicht ausreichend geklärt hat; Mörsdorf stellt mit Recht fest, daß es den Konzilsaussagen über die Räte in der Gesamtkonzeption "an der nötigen Klarheit gebricht", daß die Zuständigkeiten der verschiedenen Räte nicht klar abgegrenzt sind und die ganzheitliche Sicht fehlt10 1 • Solche Mängel sind durch die nachfolgende Gesetzgebung behebbar. Von größter Bedeutung aber ist, daß den Laien mittels dieser Gremien im beträchtlichen Maß Mitwirkungs- und Mitspracherechte gegeLaiendekret, n. 23 Abs. 1. Ebd., nn. 10 - 14. 96 Ebd., n. 19 Abs. 4. 97 Ebd., n. 24 Abs. 3. 98 Ebd., n. 26 Abs. 1 und 2. 99 Begründet durch das Dekret des Vatikanum 11 "Presbyterorum Ordinis" vom 7. Dezember 1965 über Dienst und Leben der Priester, n. 7 Abs. 1. 100 Begründet durch das Dekret des Vatikanum II "Christus Dominus" vom 28. Oktober 1964 über die Hirtenaufgabe der Bischöfe in der Kirche, n. 27 Abs. 5, in dem Klerikern, Ordensleuten und Laien unter Vorsitz des Bischofs zukommt, "alles was die Seelsorgsarbeit betrifft, zu untersuchen, zu beraten und daraus praktische Folgerungen abzuleiten". 101 Mörsdorf, (Anm. 87), 111. U4

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ben sind, die, ohne Entscheidungsrechte zu sein, tatsächlich die Stimme des Gottesvolkes stärker denn je den Hirten vernehmbar und ihnen die Mitsorge der Teilhaber an Christi Ämtern spürbar machen. Das Laiendekret des Konzils hat vorgeschrieben, daß beim Hl. Stuhl ein besonderes Sekretariat zum Dienst und zur Anregung für das Laienapostolat errichtet wird, -"ein Zentrum, das mit geeigneten Mitteln Informationen aus den verschiedenen apostolischen Unternehmungen der Laien vermitteln, Untersuchungen über die heute in diesem Bereich erwachsenden Fragen anstellen und mit seinem Rat der Hierarchie und den Laien in den apostolischen Werken zur Verfügung stehen soll. An diesem Sekretariat sollen die verschiedenen Bewegungen und Werke der ganzen Welt beteiligt sein. Dabei sollen auch Geistliche und Ordensleute mit den Laien zusammenarbeiten"102. Dieses Consilium de Laicis ist von Papst Paul VI. durch das Motuproprio "Catholicam Christi Ecc1esiam" vom 6. Januar 1967 errichtet worden 103 . Gegenwärtig ist sein Präsident Opilio Cardinal Rossi, dem diese Festschrift gewidmet ist. Die deutschen Bischöfe haben kurz nach dem Ende des Konzils auf ihrer Konferenz vom 13. - 16. Februar 1967 in Bad Honnef zur Erneuerung des Laienapostolats Grundsätze für gestufte Einrichtungen der Laienbewegung im Pfarrgemeinderat, in den Katholiken-Ausschüssen des Dekanats, der Städte, der Kreise und Bezirke, sowie im Diözesanrat der Katholiken und in der Arbeitsgemeinschaft der Diözesanräte des Landes veröffentlichtl° 4 , die mittlerweile zu einem differenzierten und gut funktionierenden System der Laienarbeit in den Gremien geführt hat. Wie hier in Deutschland ist dies auch in anderen Ländern gleichartig zur Entwicklung gekommen. Ein Gang durch die Zeit von den Anfängen der Christenheit bis heute hat die Stellung des Laien in der Kirche - skizzenhaft und mit der nicht zu vermeidenden Unvollständigkeit aufzuzeigen versuch~ Zweifellos ist für den Laien die Zeit gründlich zu Ende, in der ihm weltliche Herrscher und die Auswirkung der Gegenreformation seine Rechte in der Kirche beschränkt haben. Keine Zeit war wie die des 11. Vatikanischen Konzils von so klarer Erkenntnis des theologischen Ortes des Laien im Volke Gottes geleitet. Konzilsväter und Theologen haben als wertvollsten Gewinn den Begriff vom "Volke Gottes" eingebracht, dem alle, Kleriker wie Laien, angehören. Die leitende Konzeption ist damit dem kommenden Kirchenrecht vorgegeben. Noch ist dieser Konzilsauftrag nicht erfüllt, der revidierte Codex Iuris Canonici ist noch nicht verbindlich festgelegt, auch nicht in Teilen. Es bedürfte 102 103 104

Laiendekret, n. 26 Abs. 3. AAS 59, 1967, 25 - 28. Archiv für kath. Kirchenrecht 136, 1967, 523 ff.

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einer eigenen Studie, die in den Entwürfen (Schemata), besonders der Lex fundamentalis und des Personenrechts, das aufzeigte, was geplant und gelungener- oder mißlungenerweise vorgeschlagen worden ist. Darum soll hier nicht davon die Rede sein. Was mit dem Begriffspaar Kleriker - Laien an Vorstellung von Unterschiedlichkeit und Gegensätzlichkeit verbunden war, das ist von den Dokumenten des 11. Vatikanischen Konzils in Klarheit erhellt worden. Minderschätzung oder Falscheinschätzung des Laien sind abgebaut worden. Jetzt muß der Lehre die Rechtsordnung nachfolgen. Auch die Rechtsordnung wird dann noch manche Zeit abwarten müssen, bis das innerkirchliche Bewußtsein sie aufgenommen und ihre Ordnungskraft in die Wirklichkeit umgesetzt hat. Die Partikulargesetzgebung der Teilkirchen und Teilkirchenverbände hat, im ganzen gesehen, gute Vorarbeit geleistet. Daß im ersten Eifer oder aus mangelnder Einsicht oder aus unzulässiger übernahme demokratischer Maximen vereinzelte Exzesse vorkamen und abgewehrt werden mußten, tut dieser Feststellung keinen Eintrag 105 • Als Yves Congar 1952 seine "Jalons pour une theologie du laicat" abschloß, da witterte er den "Anbruch des Frühlings" 106. In diesen fast 30 Jahren ist das Jahr des Herrn gut fortgeschritten. Nach dem II. Vatikanischen Konzil kann der Laie in seiner Teilhabe an der Sendung Christi und der Kirche wohl kaum mehr gemindert werden. Heribert Schmitz hat unter den Tendenzen nachkonziliarer Gesetzgebung auch die pro-laikale Tendenz festgestelltl° 7 • Er sieht Ansätze zu weiteren Innovationen. Der Klärung freilich wird noch bedürfen, wie die Dienste zu unterscheiden sind, für die heilige Weihe erfordert oder nicht erfordert ist. Die Aussagen des Konzils sind Impulse, noch nicht Schlußpunkte.

lOS lVIörsdorf, (Anm. 87), 114 - 119; ders., Die andere Hierarchie. Eine kritische Untersuchung zur Einsetzung von Laienräten in den Diözesen der Bundesrepublik Deutschland, in: Archiv für kath. Kirchenrecht 138, 1969, 461 - 509. In diesem Sinne sei zustimmend auch des Einwands gedacht, der gegen den Laienrichter im Kollegium der Eheprozesse gemäß dem Motuproprio "Causas Matrimoniales" Pauls VI. vom 18. März 1971 n. V, § 1, erhoben worden ist: Winfried Aymans, Laien als kirchliche Richter? Erwägung über die Vollmacht zu geistlicher Rechtsprechung, in: Archiv für kath. Kirchenrecht 144, 1975, 3 - 20. 106 Deutsche Ausgabe, S. 748. 107 Archiv für kath. Kirchenrecht 146, 1977, 381 - 419, Nachdruck PaulinusVerlag Trier 1979, hier S. 18 - 24.

TEILNAHME DER LAIEN AN DER ARBEIT DES ZWEITEN VATICANUMS· Von Rosemary Goldie Am 18. November 1965, nach der feierlichen Verkündigung des Dekrets über das Laienapostolat, Apostolicam actuositatem, überreichte Papst Paul VI. sechs Laien - drei Männern und drei Frauen -, die am Konzil "als Hörer" teilnahmen, ein Exemplar dieses Textes. Immer wieder hat man sich zu dieser Geste geäußert. Das Dekret war - wie man mit Recht sagt - den Laien zur Durchführung übergeben worden. Aber noch etwas anderes Wichtiges kann festgestellt werden. Es war wirklich, wenn auch in begrenztem Maße, ihr Dekret, nicht nur weil es für sie war, sondern auch weil die Laien es ermöglicht und zu seiner Vorbereitung beigetragen hatten. Ohne Frage muß natürlich eine scharfe Linie zwischen dem gezogen werden, was die Konzilsdokumente den Laien, und dem, was sie dem Klerus verdanken. Das zu verwischen versuchen, würde bedeuten, das Wesentliche des Zweiten Vaticanums nicht zu begreifen. Ziel dieses Pastoral konzils war die Erneuerung des Lebens der Kirche, des täglichen Lebens des gesamten Gottesvolkes, in dem Hierarchie, Klerus und Laien "in der Verschiedenheit des Dienstes, aber in der Einheit der Sendung" (Apostolicam actuositatem, Nr. 2) miteinander arbeiten müssen. Wenn sich ein Ökumenisches Konzil zum ersten Mal ausdrücklich mit den Laien und dem Laienapostolat beschäftigt hat, so war das im wesentlichen der Tatsache zuzuschreiben, daß in den vorangegangenen Jahrzehnten Laien, Männer und Frauen, aktiv an dieser Sendung teilgenommen hatten; aber es war immer eine Beteiligung in enger Gemeinschaft und Zusammenarbeit mit den Hirten der Kirche. Das neue Bewußtsein von der christlichen Bedeutung des Lebens des Laien, das Nachdenken über die konkrete Erfahrung, die zum Ausgangspunkt der Konzilsarbeit werden sollte, kam nicht allein von den Laien. Viele Texte tragen das unverkennbare Zeichen des einen oder anderen Konzilsvaters, eines hervorragenden Theologen oder des geistlichen Leiters einer weltweiten Laienbewegung 1 • Nichtsdestoweniger ist die tatsächliche Beteiligung der Laien an der Konzilsarbeit klar erkennbar.

* Aus dem Englischen übersetzt von Sigrid Spath, Rom.

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Das Thema erschließt Historikern des Zweiten Vatikanischen Konzils, aber auch der Kirchengeschichte des vergangenen Jahrhunderts ein weites Forschungsfeld. Wir können hier nur einige wenige Hinweise geben, einige Zeichen setzen in der Hoffnung, daß man ihnen folgen wird. Es lassen sich drei Abschnitte unterscheiden: 1. Indirekte Vorbereitung auf das Zweite Vaticanum, besonders in der Arbeit der Laienbewegungen.

2. Unmittelbare Vorbereitung: Mitarbeit von Laien bei der Arbeit der Vorbereitungskommissionen und Teilnahme der Laien an der weiterreichenden Aufgabe, die ganze Kirche in einen "Konzilszustand" zu versetzen. 3. Teilnahme der Laien während der tatsächlichen Abhaltung des Konzils. Wir werden uns hauptsächlich mit der indirekten und der unmittelbaren Vorbereitung der Arbeit der Konzilskommission über das Laienapostolat befassen, die nicht nur das Dekret Apostolicam actuositatem erstellte, sondern auch mit der Theologischen Kommission bei der Abfassung des 4. Kapitels der Konstitution Lumen gentium und besonders bei der Vorbereitung der Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute mitarbeitete. I. Indirekte Vorbereitung Bei der indirekten Vorbereitung auf das Zweite Vaticanum ist die Rolle, welche die Entwicklung eines reifen christlichen Verantwortungsbewußtseins unter der Laienschaft spielte, hauptsächlich in der Arbeit der Laienbewegungen erkennbar. Diese traten nach dem Zweiten Weltkrieg sichtbarer auf den Plan2 mit der Gründung bzw. Entfaltung von nahezu 40 Internationalen Katholischen Organisationen (C. I. 0.), die fast auf allen Gebieten christlichen Einsatzes tätig waren 3, und mit den 1 Als Kommentar zu dem Dekret schrieb ein Laie: "In den letzten fünfzehn Jahren haben die Gedanken von Cardijn und Congar das gesamte Feld des Laienapostolats durchdrungen; an vielen Stellen des Dekrets erkennt man die Autorschaft wie bei einem traditionellen Motiv in einer modernen Symphonie": Derrnot H. De Trafford, in: "The Tablet", London, 15. Januar 1966. 2 Die historische Perspektive kann natürlich nicht auf das 20. Jh. beschränkt werden. Pius XII. verfolgte in seiner Ansprache an den Ersten Weltkongreß für das Laienapostolat, am 4. Oktober 1951, die Entwicklung des modernen Laienapostolats zurück bis zum Konzil von Trient, den ersten Marianischen Kongregationen und Mary Ward: vgl. Kongreßakten, Rom

1952, S. 44 - 45.

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beiden Weltkongressen für das Laienapostolat, die 1951 und 1957 in Rom abgehalten wurden und denen Regionaltagungen in den verschiedenen Kontinenten vorausgingen bzw. folgten. Der Sekretär der Vorbereitungskommission über das Laienapostolat, Msgr. Achille Glorieux4, riet, nach der Tagesordnung der Kommission befragt, die Tagungsberichte der Weltkongresse genau durchzugehen: die Berichte der zwanzig Arbeitskreise, die 1951 zusammengekommen waren, um Bereiche des Apostolats von der Katechese und der Familie bis hin zur öffentlichen Meinung und zum Ökumenismus zu studieren, und dann die Texte des zweiten Weltkongresses über das Thema "Die Laien in der Krise der modernen Welt: Verantwortlichkeit und Ausbildung". Wir können hier nicht der Geschichte der Kongresse - die auf Initiative eines Laien, Vittorino Veronese, organisiert wurden - noch jener der vt!rschiedenen internationalen Bewegungen nachgehen. Wir möchten nur das Argument hervorheben, das der Engländer Patrick Keegan vorbrachte, als er vor dem Konzil im Namen der "Hörer" sprach: das Schema über das Laienapostolat bezeichne, so sagte er, "einen Zielpunkt in der historischen Entwicklung des Laienapostolats". Es war "das Ergebnis der fortschreitenden Entdeckung der Verantwortung und Rolle der Männer und Frauen innerhalb des Gesamtapostolats der Kirche"5. Hierin liegen sowohl der Reichtum wie die Grenzen des Dekrets über die Laien. Als kurzer Abriß einer bereits langen Erfahrung konnte es nicht auch, zumindest nicht in dem Umfang, den manche gewünscht hätten, ein prophetischer Ruf nach den neuen Möglichkeiten sein, die das Konzil durch seine Erneuerung des Bildes der Kirche als Volk Gottes in Solidarität mit der ganzen Menschheit eröffnete. Die zuständigen Vorbereitungs- und Konzilskommissionen sollten monatelang darum ringen, eine Definition oder besser eine Beschreibung des "Laien" zu finden, mit der Tatsache des Laienapostolats, seinen vielfältigen Beziehungen zur Hierarchie, der Stellung der "Katholischen Aktion" innerhalb des gesamten "Laienapostolats", dem Begriff eines dem Laienstand übertragenen "Mandats" und seiner Konfrontation mit der Verantwortung jedes getauften Christen und der legitimen Selbständigkeit des Laien auf profanem Gebiet ... Das waren 3 Zur gegenwärtigen Situation der Internationalen Katholischen Organisationen und der Konferenz, die ihrer Zusammenarbeit dient, siehe: The Laity Today, "Bulletin of the Consilium de Laicis", Nr. 13, 1973. 4 Msgr. Achille Glorieux, seit 1954 kirchlicher Assistent des Ständigen Komitees für Internationale Kongresse des Laienapostolats (COPECIAL), wurde dann Sekretär der Vorbereitungskommission für das Laienapostolat, der Konzilskommission, der nachkonziliaren Kommission und, von 1967 bis 1969, des "Consilium de Laicis". 5 Diese erste Erklärung zugunsten der "Hörer" erfolgte am 13. Oktober 1964 während der 100. Generalversammlung.

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keineswegs akademische Übungen unter Theologen; sie warfen Fragen auf, welche die Laien im Laufe ihrer eigenen Erfahrungen gestellt hatten. Die Meinungsverschiedenheiten über die "Katholische Aktion", die während der Fünfziger- und frühen Sechzigerjahre heftig im Gange waren 6, scheinen heute weit zurückzuliegen; aber für viele Laien, die um ein Bewußtsein dessen kämpften, was "Kirche sein" bedeutet7 , war das eine äußerst wichtige Angelegenheit. Als auf dem Weltkongreß von 1957 Pius XII. den Laien eine "Anregung" zu überlegen gab (ein bis dahin noch nie dagewesener Schritt) bezüglich der Terminologie und der Strukturen der "Katholischen Aktion", die ihm unterbreitet worden waren 8 , erhitzten sich die Gemüter, und Probleme von welterschütternderer Bedeutung liefen Gefahr, in den zweiten Rang verwiesen zu werden9 • Die Jahre der Erfahrung und des Nachdenkens vor dem Konzil hatten freilich nicht nur dieses vielleicht allzu sehr "innerkirchliche" Interesse geweckt. Seine Früchte kann man in den für den Zweiten Weltkongreß vorbereiteten "Grundlagetexten" sehen. Die theologischen Texte über "Die Sendung der Kirche", "Das Wesen und die apostolische Berufung des Laienstandes"lo waren auf Ersuchen der für den Kongreß verantwortlichen Laien von Theologen vorbereitet worden, die auf dem Konzil eine vorrangige Rolle spielen solltenl l ; sie schufen den status quaestionis, der den Ausgangspunkt für einen Großteil der den Laien8 Vgl. Bibliographical Guide to the Lay Apostolate, Supplement zu "Lay Apostolate", Nr. 2. 1961, und zu Nr. 1, 1963. 1 Vgl. Pius XII. an das Kardinalskollegium, 20.2.1946. 8 Die "Anregung" kam, wie später bekannt wurde, von dem damaligen Weihbischof von Mecheln, Msgr. Suenens. 9 Der einzige protestantische Teilnehmer des Kongresses, Dr. Hans-Ruedi Weber vom Weltrat der Kirchen, war auf dem Dritten Weltkongreß 1967 einer der Beobachter. Als er bei der Schlußsitzung seine Eindrücke wiedergab, erwähnte er seine damalige Erfahrung "erhitzter Diskussionen .. . über die Beziehungen zwischen der Hierarchie und den Laien, zwischen Katholischer Aktion mit großem ,K' und katholischer Aktion mit kleinem ,k'. Eine solche innerkatholische Diskussion drohte die hervorragenden Dinge, die gesagt wurden, in den Schatten zu stellen ... , z. B. was über die Sendung der Kirche in der modernen Welt und die Spiritualität des Laien vorgetragen wurde". Und mit Blick auf den Kongreß nach dem Konzil fügte er hinzu: "Diesmal ... hat die Welt die Tagesordnung aufgestellt": God's People on

Man's Journey, Proceedings stolate, I, Rom 1968, S. 139.

of

the Third World Congress for the Lay Apo-

10 Laymen in the Church, Texts of the Second World Congress for the Lay Apostolate, Rom 1958, S. 211 - 231. 11 Die Texte wurden von Msgr. Emilio Guano, dem späteren Bischof von Livorno, und Msgr. Gerard Philips ausgearbeitet. Vorsitzender der Theologengruppe war Sebastian Tromp, S. J. Die Gruppe arbeitete mit der Kirchlichen Kommission von COPECIAL zusammen, zu dessen Mitgliedern auch Msgr. Pietro Pavan zählte.

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stand betreffenden Konzilsarbeit bilden12 . Der andere "Grundlagentext" über "Die Welt von heute: die Verantwortlichkeit der Laien"13, der von Laienexperten in verschiedenen Bereichen vorbereitet worden war, bot 1956 einen überblick über die damalige Situation und der damit verknüpften Seelsorgsprobleme, der in vielen Punkten die spätere Pastoralkonstitution Gaudium et spes geradezu vorwegnahm. Es ist sicher kein Zufall, wenn wir in Kapitel VI des Dekrets ApostoZicam actuositatem eine überraschende Ähnlichkeit feststellen zu dem, was die Arbeitskreise des Zweiten Weltkongresses über die "Grundausbildung für das Apostolat" sagten, eine Ausbildung, die in die Verantwortung aller christlichen Erzieher, ob in der Familie, in den Schulen, in der Pfarrei oder den Laienbewegungen, fällt. Mehr als zur Erstellung eines Vorentwurfs künftiger Konzilsdokumente - eine ungeahnte Möglichkeit zu einer Zeit, wo nur wenige Laien überhaupt klare Vorstel'lungen vom Charakter eines Ökumenischen Konzils besaßen - trugen diese von Männern und Frauen aus dem Laienstand im Bewußtsein ihrer Mitverantwortung für die Sendung der Kirche vorgenommenen Studien zweifellos zur Schaffung des Klimas bei, in welchem die Abhaltung des Konzils überhaupt erst möglich wurde. Die Verlegenheit, die zahlreiche Konzilsväter darüber empfanden, die Ansicht der Kirche über Dinge, die zunächst die Laien betreffen, ohne jeden direkten Beitrag von seiten der Laien selbst zum Ausdruck zu bringen, legte Zeugnis ab von der engen Zusammenarbeit, die in vielen Teilen der Welt bestanden hatte. Im Oktober 1967 sollte der nachkonziliare Dritte Weltkongreß der Laien auf Wunsch Papst Pauls VI. bezeichnenderweise gleichzeitig mit der ersten Bischofssynode abgehalten werden, als Zeichen der Gemeinschaft und Verbundenheit in der einen Sendung der Kirche. Aber bereits lange vor dem Konzil hatten Laienbewegungen bei ihren internationalen Zusammenkünften ein Forum geschaffen - zu dieser Zeit das einzige Forum -, wo sich das Bewußtsein der pastoralen Probleme der Gesamtkirche in gemeinsamem Nachdenken der Hierarchie, des Klerus und der Laien entwickeln konnte. Einige Bischöfe, viele der "periti" und die meisten Laien, die dann dem Konzil beiwohnten, hatten an dieser Erfahrung Anteil. 12 Vgl. R. Tucci, S. J., I laici nella crisi deI monde d'oggi: responsabilita e formazione, in: "La Civilta Cattolica", 1957, IV, S. 449 - 462. 13 Laymen Face the World, Texts, 11, S. 255 - 278. Das Thema des Kongresses wurde weiterentwickelt in dem Buch: Le monde attend l'Eglise (Paris 1957), mit Beiträgen von 21 Männern und Frauen aus dem Laienstand, die auf verschiedenen Gebieten, von der Regierung oder Wissenschaft bis zum Film, bekannt waren. Es wurden Ausgaben in 6 Sprachen veröffentlicht.

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11. Die unmittelbare Vorbereitung 1. Die Vorbereitungskommissionen

In seiner Geschichte des Dekrets über das Laienapostolat14 hebt Msgr. Achille Glorieux die Schwierigkeiten hervor, die es in den Anfangsphasen zu überwinden galt. Es gab einfach keine Präzedenzfälle für die Arbeit eines Ökumenischen Konzils über ein solches Thema. Auf rein praktischer Ebene gab es keine Kongregation oder irgendeine andere Stelle des Hl. Stuhles15, die als Ausgangsgrundlage für die Arbeit der zu Pfingsten 1960 aufgestellten Vorbereitungskommission hätte dienen können. Ein Büro, "Actio Catholica", war 1938 von Pius XI. geschaffen worden, doch dieses Zentrum für Dokumentation und Förderung, dem Kardinal Pizzardo vorstand, war praktisch nicht mehr in Kraft. Es war die Konzilskongregation, die 1959 eine erste Vorbereitungskommission "De Zaicatu cathoZico" einrichtete. Die Arbeit der Kommission18 spiegelt umfangreiches Material von seiten der Biscl1öfe der ganzen Welt zu diesem Gegenstand wider, auf Grund ihrer Befragung zur Tagesordnung für das Konzil. Sie stellt auch überlegungen an über die Dokumentation, die ihr von den beiden Weltkongressen für das Laienapostolat und den Internationalen Katholischen Organisationen zugegangen war, besonders über die Ansprachen und Botschaften Pius' XII., die für das organisierte Laienapostolat nahezu zwanzig Jahre lang bedeutsame Ereignisse dargestellt hatten.

Die Vorbereitungskommission für das Laienapostolat war in ihrer Zusammensetzung äußerst günstig für eine indirekte "Präsenz" der Laien durch Priester, die einen weiten Erfahrungshorizont in bezug auf Laienbewegungen besaßen17 • Aber das wurde als nicht befriedigend empfunden. Der Vorsitzende der Kommission, Kardinal Cento, unternahm wiederholte Anstrengungen, die Ermächtigung für direkte und offizielle Mitarbeit der Laien zu erlangen. Inzwischen vervielfältigten beide, er und Msgr. Glorieux, die Kontakte zu Laienbewegungen, und Material aus Laienquellen war sehr willkommen. Die Archive der Vorbereitungskommission enthalten eine Reihe von Dokumenten18 , die man - manchmal auf dringende Bitte hin - von In: L'Apostolat des laics, "Unam Sanctam", Paris 1970, S. 91 - 139. Das Ständige Komitee für Internationale Kongresse des Laienapostolats (COPECIAL) war 1952 von Pius XII. eingerichtet worden, war aber keine offizielle Körperschaft des Hl. Stuhles. 11 Vgl. Acta et Documenta Concilio Oecumenico Vaticano 11 apparando, 111, Typis Polyglottis Vaticanis, 1960, S. 157 - 214. 17 Msgr. Glorieux vermerkt, daß "die Mitglieder und Berater, die alle Fachleute waren, sich kaum je auf gedrucktes Material bezogen ... Die Arbeit bestand vor allem in einer Reflexion über die Wirklichkeit, die sie viele Jahre hindurch erfahren hatten": Op. cit., S. 100. 14 15

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auswärtigen Quellen erhalten hatte und die in der Regel allen Mitgliedern ausgehändigt wurden. Das erste auf diese Weise zur Verteilung gelangte Dokument war die Zusammenfassung von Antworten auf die weltweite Umfrage über die "Katholische Aktion", die 1958 in Erwiderung auf den dem Weltkongreß von 1957 erteilten "Vorsch'lag" gestartet worden war; dieses Dokument war der Kommission von COPECIAL zugegangen. Viele dieser Dokumente waren die Arbeit einer "Sondergruppe", die von der C. 1. O.-Konferenz zu diesem Zweck eingerichtet worden war. Sie betreffen z. B.: -

Das Wirken von Katholiken auf internationaler Ebene 19 • Die Stellung der Frau in Gesellschaft und Kirche. Die Schwierigkeiten von Laien, die in der Sozialarbeit tätig sind. Der Christ in der technisierten Wel t. Seelsorgsprobleme im Intellektuellenmilieu. Seelsorger und Organisationen für das Apostolat.

Nationale und internationale Sonderorganisationen legten Dokumentationen vor z. B. über die ökumenische Arbeit unter den Laien, über die "Allgemeine Katholische Aktion", über die Vinzenz von Paul-GeseIlschaft, über Kooperation im Zusammenhang mit dem Laienaposto'lat. Zusätzlich zu dem Material über die "Katholische Aktion" unterbreitete COPECIAL u. a. auch Studien z. B. über die Bedeutung der für Kleriker, die mit Laien zusammenarbeiten, üblichen Bezeichnungen ("Kaplan" - "kirchlicher Assistent" - "Moderator" usw.) und über Laien, die hauptberuflich im Dienst der Kirche tätig sind (vgl. Apostolicam actuositatem, Nr. 22). Das anspruchsvollste Projekt war jedoch 1963 die Veröffentlichung des "Überblicks über das organisierte Laienapostolat in der Welt", der die konkrete Wirklichkeit beleuchten sollte, über welche die Konzilsväter in dem ihnen vorliegenden Schema diskutierten2o• 18 Die Dokumente tragen das Zeichen "Ri E~' ("Ricerche esterne" oder "Relationes et inquisitiones externorum"). Wie die meisten der dem Konzil von Laiengruppen unterbreiteten Texte sind auch die meisten Dokumente in Französisch verfaßt. Diese Tatsache ist nicht ohne Bedeutung für den Beitrag, den der organisierte Laienstand für das Zweite Vaticanum leistete. Eine Reihe von Dokumenten verschiedener Herkunft behandeln das Thema, für das sich die betroffenen Laien in besonderer Weise verantwortlich fühlten. Für die meisten Bischöfe war das Konzil eine erste Erfahrung "internationalen Lebens" - ein Umstand, der sich in einem gewissen Mangel an Exaktheit in Bezugnahmen des Konzils auf internationale Formen des Apostolates widerspiegelt. 10 Die lateinische Fassung, De Laicorum Apostolatu organizato hodie toto in orbe terrarum diffuso (Typis Polyglottis Vaticanis 1963, S. 88), wurde am 22. Oktober 1963 in der Konzilsaula verteilt. Fassungen in Englisch, Fran-

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Rosemary Goldie 2. Die "Freiburger Tagung"

Noch ein anderes den Vorbereitungskommissionen bereitgestelltes Dokument verdient besondere Erwähnung: der Bericht über die "Freiburger Tagung". Freiburg (Fribourg) in der Schweiz ist stolz darauf, daß es schon seit langem Kirchengeschichte auf internationaler Ebene macht. Hier wurde auf Initiative des Präsidenten von Pax Romana-ICMICA, Prof. Ramon Sugranyes de Franch, am 17. Juli 1960 eine Tagung abgehalten, die ohne Zweifel zum ersten Mal - eine internationale Laiengruppe zu dem Zweck zusammenführte, zur Arbeit des Zweiten Vaticanums beizutragen21 • Der Bischof von Lausanne, Genf und Fribourg, Msgr. Charriere, übernahm den Vorsitz der Tagung. Die vertrauliche Zusammenfassung der Diskussion wird eingeleitet mit den Worten: "Die gesamte Kirche befindet sich von jetzt an im ,Zustand des Konzils'. Alle Gläubigen sind sich mehr oder weniger irgendwie dieses großen Ereignisses im Leben der Kirche bewußt ,einem Erdbeben des Christentums', wie es ein protestantischer Minister bezeichnete ... " Das Ziel, das. sieh die Organisatoren setzten, war, "ohne feste Tagesordnung in Gegenwart eines Bischofs Probleme diskutieren, von denen sie aus ihrer Lebens- und Apostolatserfahrung in der modernen Welt meinen, daß sie bei den Konzilsvätern Beachtung finden sollten". Die sich ergebende Tagesordnung schloß ein: die Stellung der Laien in der Kirche, die christliche Einheit, Beziehungen zwischen Staat und Kirche, Frieden und internationale Gemeinschaft, die Regierung der Kirche, Seelsorgsprobleme im Arbeiter- und im Intellektuellenmilieu, die Schulung von Priestern für die Arbeit mit den Laien, die Kirche in den neu entstehenden Nationen. Manche der ausgesprochenen Wünsche mögen rückblickend als zaghaft und ängstlich erscheinen (zur christlichen Einheit brachte die Gruppe die Hoffnung zum Ausdruck, "es möge nichts geschehen, was die Kluft zwischen der Katholischen Kirehe und den getrennten Gemeinschaften vergrößern würde"); andere Vorschläge hingegen nahmen nachkonziliare Reformen der Römischen Kurie vorweg; und Gesichtspunkte zur internationalen sozialen Gerechtigkeit, Erziehung, Freiheit der zösischund Spanisch waren innerhalb und außerhalb des eigentlichen Konzilsbereichs im Umlauf. 11 Von den 22 Teilnehmern waren 4 Priester, die auf internationaler Ebene tätig waren. Die Laien (zu denen auch 3 Frauen gehörten) waren auf vielen Gebieten tätig: Politik, UNESCO, Erziehung und Universität, .Jugendarbeit, Arbeiterbewegungen usw. Afrika, Asien, Nord- und Südamerika und Australien hatten je einen Vertreter; die anderen waren aus Europa.

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wissenschaftlichen Forschung, Laienmitarbeit bei der Seelsorge usw. boten eine Synthese des Denkens, die im Laufe von Jahrzehnten herangereift war und in den Dokumenten des Zweiten Vaticanum ihren Niederschlag fand.

3. "Das Klima schaffen" Ein nicht eigentlich direkter, aber nicht weniger wichtiger Beitrag zur unmittelbaren Vorbereitung wurde von Laien erbracht, die mithalfen, tatsächlich die ganze Kirche in "einen Konzilszustand" zu versetzen. Hier könnte man viel über die Arbeit von Laienjournalisten von hohem Format sagen, die die Ziele und später die Arbeit des Konzils für die denkende Öffentlichkeit interpretierten22 • Die Konferenz der Internationalen Katholischen Organisationen verfaßte nicht nur Memoranden. Mit Hilfe von Pater A. Wenger besorgte sie für ihre Mitglieder einen regelmäßigen Informationsdienst über die Konzilsvorbereitung und organisierte eine Gebetskampagne für das Jahr unmittelbar vor Eröffnung des Konzils. COPECIAL griff die Enzyklika Ad Petri Cathedram Papst Johannes XXIII. auf und unternahm eine weltweite Studie über die Einheit - unter den Menschen, unter den Christen, unter den Katholiken -, die Msgr. Gerard Philips in einem theologischen Text zusammenfaßte23 • Im Zusammenhang mit dem "Klima" für das Zweite Vaticanum wollen wir auch an die Vorbereitung erinnern, die auf Diözesanebene (z. B. in Belgien und Holland) unter begeisterter Beteiligung der Laien unternommen wurde. Die Bischöfe, die mit dem "Volk Gottes" zusammentrafen, werden sicherlich vieles notiert haben, was dann Eingang in die Konzilstexte fand. Diese Form der Einbeziehung der Laien sollte während des ganzen Konzils fortdauern. 1964 brachten in Kanada Männer und Frauen aus dem Laienstand - Hausfrauen, Universitätsprofessoren, Rechtsanwälte, Geschäftsleute, Gewerkschaftler ... - in einer Broschüre "ihre Meinung zum Ausdruck", die als Antwort auf eine 1962 von den Bischöfen ergangene allgemeine Einladung veröffentlicht wurde24 • Die im Geist eines konstruktiven Dialogs behandelten Themen reichen von politischer 2! In Frankreich hielt während der Vorbereitungsperiode Jean-Pierre Dubois-Dumee, der ·damalige Mitherausgeber der Informations Catholiques Internationales, außer Artikeln und TV-Programmen, mehr als hundert Vorträge über das Konzil vor dichtgedrängten Zuhörerscharen überall im Land. 23 Unity among Christians in a World Seeking Unity: a Gift and a Mission. Supplement zu "Lay Apostolate", Nr. 3, 1962. 24 Letter to the Bishops: Canadian Catholic Laymen Speak Their Minds, ed. P. T. Harris, Ontario 1965, S. 242.

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Freiheit, Arbeitsproblemen oder Sexualethik bis Ökumenismus und Laientheologie, mit drei Äußerungen zur "Rolle der Frauen" in Kirche und Gesellschaft. Daß diese Laien auf empfängliche Ohren stießen, geht aus dem im Februar 1965 von Msgr. Pocock, Erzbischof-Coadjutor von Toronto, verfaßten Vorwort klar hervor: " ... Die Stellungnahmen gingen uns als Brief zu einem Zeitpunkt zu, wo wir wußten, daß gleich nach unserer Rückkehr nach Rom unsere Hauptberatungen und -entscheidungen das Laienturn unmittelbar und im eigentlichen Sinn betreffen würden; wir wußten, daß wir aufgefordert würden, mit eindeutigen Worten die Haltung der Kirche gegenüber der modernen Welt darzulegen. Diese drohende Herausforderung ... vor uns, begrüßten wir die Meinungen, die in den zahlreichen uns übergebenen Stellungnahmen enthalten waren26 ." Im französischsprachigen Teil Kanadas hatte die aktive Befragung bereits früher eingesetzt. In mehr als zehn Diözesen hatten eigene Treffen stattgefunden, das erste 1961 in Montreal 2G • In der Diözese Saint-Jean kamen nach monatelanger Vorbereitung an die hundert Laien der Einladung ihres Bischofs, Msgr. Coderre, nach und fanden sich am 28. Januar 1962 zu einer Begegnung ein. Es kann also kaum ein Zufall sein, daß die kanadischen Bischöfe zu den nachhaltigsten Verfechtern einer "Entklerikalisierung" des Schemas über die Laien gehörten. Bischof Carter von Sault Ste. Marie bedauerte, daß man offiziell die Laien "zu wenig, zu spät" zu Rate gezogen habe 27 • Und während der Debatte über das "Schema 13" war es Bischof Coderre, der am 18. Oktober 1964 vor dem Konzil die erste wesentliche Erklärung zur Rolle der Frau in Gesel'lschaft und Kirche abgab.

111. Die Konzilskommissionen 1. Die Kommission für das Laienapostolat

Die Konzilskommission "für das Apostolat der Gläubigen, Presse und Kommunikation" - die das Arbeitsgebiet sowohl der Vorbereitungskommission für das Laienapostolat als des Vorbereitungssekretariates für die Presse und die Kommunikationsmittel einschloß - trat während der ersten Konzilsperiode ohne Laien zusammen. Die Fortführung der früheren Arbeit und die Beachtung der Standpunkte der Laien wurde Op. cit., S. 1. Vgl. "Laicat et Mission", Bulletin der Kanadischen Katholischen Aktion, Oktober 1962. 27 "Zu spät", um selbst die Spuren des "peccatum c1ericalismi" zu entfernen, in welchem das Schema entstanden war (9. 10. 1964). Vgl. auch die Erklärung von Msgr. Charbonneau, Bischof von Hull, am 7. Oktober 1964. !5

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jedoch durch die Ernennung von Kardinal Cento zum Vorsitzenden und Msgr. Glorieux zum Sekretär28 sowie zahlreicher Mitglieder, die bereits der Vorbereitungskommission für das Laienapostolat angehört hatten, wesentlich erleichtert. Als die Kommission am 5. Dezember 1962 zusammentrat, erläuterte der Sekretär die Schritte, die in der Vorbereitungsperiode unternommen worden waren, um die Abwesenheit von Laien in gewissem Grade wieder wettzumachen: Konsultierung, Zirkulation von Dokumenten von Laiengruppen und indirekter Kontakt durch die mit ihnen arbeitenden "periti". Als am 5. Februar 1963 ein revidiertes Schema an die Mitglieder und "periti" gesandt wurde, erhielten die Bischöfe eine zusätzliche Kopie, um die Beratung mit Laien in ihren jeweiligen Ländern zu erleichtern. Das war das Ergebnis der für das spätere "Schema 13" unternommenen Arbeit. Zuständige Laien sollten von Anfang an zu dem neuen Schema konsultiert werden; es war nur natürlich, daß die Erlaubnis auf die Arbeit ausgeweitet werden sollte, die für das Dekret über das Laienapostolat im Gange war. Zur gleichen Zeit wurde an den Leitungsausschuß von COPECIAL, der vom 26. - 28. Februar in Rom zusammentrat, ein offizielles Ersuchen um Mitarbeit gerichtet. Die der Kommission unterbreitete Zusammenfassung der Diskussionen enthielt Vorschläge zum Geist, zum Entwurf und zur Struktur des Schemas im allgemeinen und zu einer Reihe von Einzelpunkten: Beziehungen zwischen Hierarchie, Priestern und Laien; Koordination des Laienapostolats; Bildung; Katholische Aktion; Apostolat auf internationaler Ebene und im Bereich der Sozialarbeit, USW. 29 • Um Mitarbeit wurden auch die Internationalen Katholischen Organisationen durch ihre kirchlichen Assistenten ersucht30 • Kardinal Cento, der das von COPECIAL und von den C. 1. O. erhaltene Material würdigte, äußerte sich zur Konvergenz der verschiedenen Beiträge und ihrer Nützlichkeit für die Verbesserung des Schemas. 28 Der andere Sekretär war Msgr. Galletto, Sekretär der Päpstlichen Kommission für Film, Rundfunk und Fernsehen. %9 Leiter des Ausschusses war Silvio Golzio (Italien); Mitglieder: JeanPierre Dubois-Dumee (Frankreich), Marguerite Fievez (Belgien), Patrick Keegan (England), Karl zu Löwenstein (Deutschland), Claude Ryan (Kanada), Ramon Sugranyes de Franch (Spanien), Juan Vazquez (Argentinien), Martin Work (USA). Exekutivsekretärin: Rosemary Goldie. Maria Vendrik und Mieczyslaw de Habicht nahmen als Vorsitzende bzw. Generalsekretär der C.1. O.-Konferenz an der Arbeit teil. 30 Die Möglichkeit der Mitarbeit war dadurch eingeschränkt, daß die Antworten innerhalb von zwei Wochen zurückgehen mußten, wenn sie von der Kommission benützt werden sollten. Auch die Sprache mag ein Problem gewesen sein. Für COPECIAL wurde in Eile eine inoffizielle englische übersetzung angefertigt.

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2. Die Laien-Hörer Nach der Ernennung von 13 Laien als "Hörer"31 in der zweiten Konzilsperiode traf sich die Gruppe regelmäßig, um die Tagesordnungspunkte des Konzils zu studieren und Beiträge vorzubereiten. Die Kommission für das Laienapostolat, mit der sie hauptsächlich zusammenarbeiteten, ermächtigte sie, andere Laien zu Rate zu ziehen. Auf diese Weise wurde eine größere Gruppe in die Diskussionen einbezogen, was unter anderen Anregungen zum Vorschlag eines revidierten Schemas mit dem Titel "Die Teilnahme der Laien am Apostolat der Kirche" führte. Im September 1964 wurden die ersten weiblichen "Hörerinnen" Ordensfrauen und Frauen aus dem Laienstand - ernannt, und während der vierten Konzilsperiode wurde die Hörergruppe nochmals erweitert. Die meisten von ihnen waren in die Arbeit der Konzilskommission und ihrer Unterkommissionen einbezogen und das sowohl, während das Konzil tagte, als auch während der Zwischenperiode32 • Als Kardinal Cento am 6. Oktober 1964 die Relatio über das Schema des Dekrets (den Dekretsentwurf) einführte, unterstrich er den von Laien, Männern und Frauen, erbrachten Beitrag: "Denn wir haben Vorschläge, Wünsche und Anregungen von Laien beiderlei Geschlechts nicht nur gerne angenommen, sondern dann und wann erbeten33 ." Der Relator, Msgr. Hengsbach, dankte seinerseits den "Hörern", die nicht selten zur Verbesserung des Schemas beigetragen hätten, und anderen Laien, die zwar nicht offizien zum Konzil gehörten, die aber in Rom und anderswo zu Rate gezogen worden seien. Ein weiterer Beitrag der "Hörer" erfolgte durch Interventionen, die sie bei ihren regelmäßigen Treffen vorbereiteten und in der Aula vorlegten: Wir haben bereits die Erklärung erwähnt, die Patrick Keegan am Ende der Debatte über das Schema zum Laienapostolat abgab. Am 10. November 1964 wandte sich Juan Vazquez, Präsident des Internationalen Katholischen Jugendverbandes zum Thema "Die Kirche in der modernen Welt" an das Konzil, wobei er die Rolle der Laien in bezug auf die ganze Problemkette, die das "Schema 13" umfaßte, unterstrich. Am 5. November hatte James Norris, Präsident der Inter31 S. Golzio, J. Guitton, M. de Habicht, E. Inglessis, J. Larnaud, R. Manzini, J. Norris, H. Rollet, R. Sugranyes de Franch, A. Vanistendael, J. Vazquez, V. Veronese, F. Vitto. 32 Am Ende des Konzils gab es 52 "Hörer": 10 Schwestern, ein verheiratetes Ehepaar (Jose und Luz Alvarez-Icaza aus Mexiko), 28 Männer und 12 Frauen aus dem Laienstand. Eine Reihe anderer Laien wurden als Fachleute eingeladen. 33 Relatio super Schema Decreti de Apostolatu laicorum, Typis Polyglottis Vaticanis, 1964, S. 3.

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nationalen Katholischen Kommission für die Migranten, in lateinischer Sprache einen persönlichen Appell an das Konzil gerichtet, etwas angesichts des Problems der weltweiten Armut zu unternehmen. In der vierten Konzilsperiode brachte EusebeAdjakpley aus Togo am 13. Oktober 1965, am Ende der Debatte über das missionarische Wirken der Kirche, im Namen der Laienhörer die Hoffnung zum Ausdruck, daß die Konzilsdebatte vielen Laien - besonders jungen Menschen - helfen möge, sich der Berufung zu missionarischem Einsatz und ihrer eigenen Rolle, das Zeugnis christlichen Lebens als Sauerteig in die Gesellschaft zu tragen, bewußt zu werden. Er betonte auch die Bedeutung, die die Laien der ökumenischen Dimension des missionarischen Wirkens und der Zusammenarbeit mit allen Glaubenden beim Ausdruck geistlicher Werte bemessen34 •

3. Ein römisches "Sekretariat"? Ein eigenes Problem, das Gegenstand vieler Beratungen und Diskussionen unter den Laien war, bildete der - bereits in der ersten Vorbereitungsphase des Konzils aufgetauchte - Vorschlag, "beim Hl. Stuhl ... ein besonderes Sekretariat zum Dienst und zur Förderung des Laienapostolats", zu errichten (Apostolicam actuositatem, Nr. 26). Der Vorschlag sollte im Januar 1967 durch das Motuproprio CathoZicam Christi EccZesiam zur Schaffung des "Consilium de Laicis" , des "Laienrates", führen. Die Internationalen Katholischen Organisationen und ihre Konferenz einerseits, COPECIAL anderseits waren an dem Problem lebhaft interessiert, erstere wegen der Beziehungen, die zu jener Stelle des Hl. Stuhles, die das Laienapostolat auf internationaler Ebene betraf, hergestellt werden sollten, letztere deshalb, weil sie natürlich in eine solche offizielle Körperschaft aufgenommen würde. Alle, die im Februar 1963 über das von der Konzilskommission vorbereitete Schema konsultiert worden waren, wußten überdies von dem Vorschlag. Im Dezember 1963 wurde die Frage vom Leitungsausschuß von COPECIAL diskutiert und im März 1964 der Konzilskommission eine Note dazu vorgelegt. Die C. !. O.-Konferenz, die im April 1964 in Barcelona zusammentrat, richtete eine Sondergruppe zum Studium der Frage ein. Im Juni 1964 versammelte sich in Rom eine kleine Gruppe. Sie stand unter dem Vorsitz von Kardinal Cento, Msgr. Glorieux war ihr Sekre34 Die "Hörer" hatten gebeten, daß . eine der Interventionen in der Aula von einer Frau aus dem Laienstand vorgebracht werden solle; aber das wurde als "verfrüht" betrachtet.

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tär. Ihr gehörten als Mitglieder 5 Bischöfe, 2 Priester und 8 Laien an. Die Gruppe arbeitete einen Plan für das spätere "Sekretariat" aus. Der nächste Schritt war, 1965, eine weltweite Befragung der Bischofskonferenzen - und durch sie der nationalen Laienorganisationen - wie auch der internationalen Katholischen Organisationen. Nach nur zwei Monaten erhielt man Antworten von 17 Bischofskonferenzen und 36 (von 50) internationalen Körperschaften. Ein erster Bericht wurde auch von einer Sonderversammlung der C.!. O.-Konferenz vorgelegt, die am 5. und 6. Juni in Sion (Schweiz) stattgefunden hatte. Schließlich trat am 25. und 26. Juni eine Gruppe ähnlich jener, die sich im Jahr zuvor versammelt hatte, in Rom zusammen, um die Ergebnisse der Umfrage zu studieren. Ein weiterer Schritt, die Debatte während der letzten Konzilsperiode, führte zur Annahme von Nr. 26 des Dekrets über das Laienapostolat, aber die Diskussion ging, unter Einbeziehung der Laien, in der nachkonziliaren Periode und bis zur Einrichtung des "Consilium de Laicis" weiter. Allgemein gesprochen bereitete der Konzilstext den betroffenen Laien Befriedigung, auch wenn viele eine klare Aussage über den "beratenden" Charakter des "römischen Büros" gewünscht hätten, von dem sie meinten, es solle keine "leitende" Körperschaft sein. Die nachfolgende Errichtung eines "Dikasteriums" der Römischen Kurie brachten neue Aspekte, die erst jetzt selbst für viele Laien, die enger mit dieser nachkonziliaren SteHe verbunden sind, an Klarheit gewinnen. 4. Außerhalb der Konzilsaula

Als das Konzil tagte, beschränkte sich die Konsultierung der Laien natürlich nicht auf die "Hörer" und "Experten", und noch weniger auf die Konzilskommissionen und Unterkommissionen. Laien, darunter berühmte Persönlichkeiten, wurden eingeladen, selbst vor gemeinsamen Versammlungen der Bischofskonferenzen zu sprechen. Aber diese Konsultierung ging nicht immer auf die Initiative der Konzilsväter zurück. Die Einflußnahme griff rasch um sich - bei Presseinstruktionen und in den Kaffeebars, ja im gesamten "Konzilsareal" rund um St. Peter. Die C. !. O. und COPECIAL errichteten gemeinsam ein von den Sodalitäten Unserer lb. Frau in der genannten Zone gemietetes Informationszentrum. Zahlreiche Laienbewegungen entsandten Delegationen, die mit den Bischöfen zusammentreffen sollten. Von den beiden Extrempunkten im Spektrum der Laienorganisationen besuchte die Legio Mariae ihre bischöflichen Freunde aus der ganzen

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Welt, und die Internationale Allianz der hl. Johanna setzte sich unermüdlich für die Rolle der Frau in der Kirche . .. und im Dienstamt ein 35 • Auch schriftliche Beiträge von den Laienbewegungen trafen weiterhin ein oder wurden, als das Konzil voranschritt, angefordert. Die Internationale Bewegung junger christlicher Arbeiter (YCW) legte bereits in der Vorbereitungsperiode 23 Seiten mit überlegungen von Führern der Bewegung und Seelsorgern in Afrika, Asien, Nord- und Süd amerika und Europa vor. Zum Schluß wurden das Konzil und seine Kommissionen ersucht, die apostolische Rolle der Laien klar darzulegen, die Dringlichkeit des Apostolats der Arbeiter entsprechend den von Pius XI. in Quadragesima Anno gegebenen Richtlinien zu betonen und an Priester in allen Ländern zu appellieren, bei der Erziehung junger Arbeiter zum Glauben als Lebensverpflichtung mitzuhelfen. Im Februar 1963 wurde auf Ersuchen einer Reihe von Bischöfen ein weiteres Dokument (32 Seiten) vorbereitet, das Vorschläge zum Laienapostolat im allgemeinen und im ArbeitermiIieu, zum Verhältnis Priester und Laien, zur Pfarrgemeinde, zur Unterentwicklung usw. enthielt. In beiden Dokumenten bat die YCW um die Errichtung einer für die Förderung des Laienapostolats zuständigen Stelle der Zentralleitung der Kirche. Im August 1963 entwarfen die Internationale Bewegung junger christlicher Arbeiter, die Internationale Katholischer Studenten und die Internationale Landjugendbewegung (MIJARC) gemeinsam einen Text über "Spezialisierte katholische Aktion unter der Jugend" mit Vorschlägen an die Konzilsväter. Einer dieser Vorschläge betraf das ApostO'lat unter Kindern, einer der Punkte, die bei der Schlußredaktion dem Dekret über das Laienapostolat hinzugefügt wurden (Nr. 12).

5. Die Laien und "Schema 13" Am 30. Januar 1963 ersuchte die Koordinierungskommission die Kommission für das Laienapostolat, gemeinsam mit der Theologischen Kommission ein neues Schema "über die Grundsätze und den Einsatz der Kirche zur Förderung des Wohles der Gesellschaft" vorzubereiten. Das sollte das "Schema 17", später "Schema 13", und schließlich zur 3S Als besonders eifrig erwiesen sich die französischen Bewegungen der "Katholischen Sonderaktion". "Action Catholique des Milieux independants" hatte während des ganzen Konzils eine Delegation in Rom. Die Führer der französischen Bewegung für die Landjugend sagten in einem Interview für La Croix (am 20. 12. 1963) über die außergewöhnliche Gelegenheit, die das Konzil ihnen für ein Gespräch mit ihnen gewähre: "Man fühlt sich mehr zu Hause, wenn man mit den Bischöfen in Rom spricht ... Der Umstand, daß sie am Konzil teilnehmen, macht sie aufnahmefähiger. Man könnte meinen, sie befänden sich im Rückzug."

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PastQralkonstitution über die Kirche in der Welt VQn heute, Gaudium et spes, werden. In seiner Einführung zur Pastoralkonstitution 36 verfolgt Pater Tucci die einzelnen Phasen der Arbeit und zählt die beteiligten PerSQnen auf; darunter, von Anfang an, eine kleine Gruppe VQn Laien. In den ersten Monaten des Jahres 1963 wurden 5 Laien für die Abfassung des Erstentwurfes kQnsultiert. Im April 1963 nahmen 14 Laien an einem Treffen über das neue Schema teil - es war die erste offizielle Einladung dieser Art an Laien. Als im Dezember 1963 eine Unterkommission mh Msgr. GuanO', Bischof von Livorno, als Vorsitzendem eingesetzt wurde, wurde die Mitarbeit VQn Laien zu einem Teil des normalen Verfahrens. Höhepunkt der Konsultationen war das Treffen, das vom 31. Januar bis 6. Februar 1965 in Ariccia bei Rom abgehalten wurde. Zusammen mit 30 Konzilsvätern und 49 "periti" nahmen 10 Männer und 4 Frauen aus dem Laienstand sowie 2 Schwestern an der gesamten Arbeit der Tagung teil. Zwei Männer und drei Frauen wurden außerdem zu einer in der WQche darauf in Rom abgehaltenen Begegnung eingeladen, zur Revision der in Ariccia geleisteten Arbeit37 • Das zwischen den Sitzungsperioden 1964 - 65 entworfene Schema wurde dem KQnzil am 21. September 1965 vQrgelegt und bis 8. Oktober diskutiert. Die Neubearbeitung begann während der DiskussiQn und wurde von zehn UnterkommissiQnen fQrtgesetzt. Pater Tucci vermerkt, daß in allen diesen KommissiQnen Laien aktiv mitarbeiteten, "oft mit entscheidendem Einfluß, z. B. was die Kapitel über Ehe, Wirtschaftsleben und die politische Gemeinschaft" betrifft38 • Die Beteiligung der Laien war, wenn auch aktiv, SO' dQch recht spärlich. Es war selbst für die Laien, die in den KQmmissiQnen saßen (sowohl der für das Laienapostolat wie jener für das "Schema 13"), schwierig, in der Endphase 38 R. Tucci, S. J., Introduzione storico-dottrinale alla Costituzione Pastorale ,Gaudium et spes', in: "La Chiesa e il mondo contemporaneo nel Vaticano 11", Torino - Leuman, S, 17 - 134. 37 Schriftliche Beiträge von Laien spielten eine wichtige Rolle. Die Unter'kommission für das Kapitel über Kultur z. B. hatte als Laienexperten Joseph Folliet, Prof. Minoli von der Universität Modena und Prof. Swiezawski von der Kath. Universität Lublin; sie verwendete auch Material von einer Vereinigung französischer katholischer Universitätsprofessoren, von einer Gruppe von "Laureati" in Pinerolo und von Prof. Jean Ladriere von Löwen. Später kamen noch Beiträge von der Katholischen Vereinigung französischer Wissenschaftler und von der französischen "Action Catholique Ouvriere" hinzu. Im April 1965 veranstaltete die C. I. O.-Konferenz in Wien eine Tagung über "Kirche und Kultur" als Beitrag zur Konzilsarbeit. Die Tagung hatte ihre Wirkung, auch wenn die Berichte zu spät veröffentlicht wurden, um noch in der Kommissionsarbeit für "Schema 13" verwendet zu werden. 38 Vgl. Anm., S. 118.

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einen wirklichen Beitrag zu erbringen; das Arbeitstempo wurde unablässig beschleunigt, und Änderungen in den Entwürfen konnten nur durch "modi" vorgenommen werden, die in aller Eile durch einen Konzilsvater oder einen einflußreicheren "peritus" oder vielleicht durch ein rasches Gespräch hinter den "Kulissen" der Konzilsaula vorgelegt wurden ... oder in Form nachdrücklicher Zeichen der Mißbilligung, wenn ein besonders schlechter Vorschlag auf dem Tisch der Kommission zur Diskussion stand. Das erschwert es oder macht es oft unmöglich, die tatsächliche Quelle der an den Texten vorgenommenen Änderungen aufzuspüren., Um so bemerkenswerter ist es, daß die Gemischte Kommission in den beiden Faszikeln des "Textus recognitus"39 mindestens zwölfmal die von Laien vertretene Einstellung angibt - denn Beharrlichkeit. war manchmal die einizge Rechtfertigung für die Aufnahme oder den Ausschluß einer besonderen Idee 40 • Die meisten dieser Bezugnahmen betreffen den "Probleme von besonderer Dringlichkeit" behandelnden Teil H, wo man wirklich auf die Kompetenz von Laien angewiesen war. Doch bereits im Teil I, Kapitel IV, über "Die Rolle der Kirche in der modernen Welt", wird den Laienmitgliedern der Unterkommission nachdrücklich eine legitime (Nr. 43,3) Meinungsvielfalt in Dingen zugestanden, die nicht mit dem Evangelium identisch sind4 !. Im 1. Kapitel des Ir. Teils, über "Ehe und Familie"42, wünschten die Laien, daß die Familien "die Reichtümer ihres geistlichen Lebens auch anderen Familien in hochherziger Weise mitgeben" sollen (Nr. 48), und nachdrücklich wurde die letzte Verantwortung der Eltern betont, ihre "Entscheidung im Anblick Gottes zu fäHen" und so das Leben weiterzu39 Schema Constitutionis PastoraHs de Ecclesia in Munda Huius Temporis, Textus Recagnitus et Relationes, Typis Polyglottis Vaticanis, 1965, Pars I und Pars II, an die Konzilsväter am 13. bzw. 12. November verteilt.

40 Die "expensio modorum" für das Schema über das Laienapostolat vermerkt nur Anregungen von seiten der Konzilsväter. 41 "Alii tarnen fideles, non minore sinceritate ducti, ut saepius et quidem legitime accidit, aliter de eadem re iudicabunt." Die hier kursiven Worte wurden hinzugefügt. Die Anzahl der Paragraphen entspricht der des endgültigen Textes. 42 Zu der Frage über die Fruchtbarkeit in der Ehe, die soviel Aufmerksamkeit auf sich zog, trugen die Laien in der außerhalb des Konzils errichteten Päpstlichen Kommission bei. Man erhielt dazu viel Material, z. B. Address to the Second Vatican Council on the subject oi the Problems oi the FamiZy, von einer internationalen Gruppe von mehr als 150 fachlich besonders zuständigen Laien unterzeichnet und in Englisch und Französisch gedruckt. In der Schlußphase der Ausarbeitung des Schemas erregte das "Hörer"-Ehepaar Alvarez-Icaza bemerkenswertes Interesse. Als Eltern von 14 Kindern waren sie die Gründer des "Movimiento Familiar Cristiano" in Mexiko und waren, ehe sie nach Rom kamen, durch 36 Länder gereist mit der Frage: Was erwartet die Familie vom Konzil?

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geben (Nr. 50). Die Laien hätten eine umfassendere Behandlung der Familie als ganzer in der Pastoralkonstitution gewünscht 4!. Für das Kapitel H, über die Kultur, unterbreiteten die "Hörer" eine Note, die in Nr. 56 ausdrücklich ihren Niederschlag gefunden hat, wo die Notwendigkeit unterstrichen wird, die Fähigkeiten des Menschen zu Kontemplation und Staunen, "aus dem die Weisheit kommt", zu schützen. Auf die Erwähnung der Teilnahme der Frau am kulturellen Leben kommen wir später zurück". Wir hätten mehr und offenkundigere Laienbeträge zu Wirtschaftsfragen erwartet. Die Relatio über Nr. 68 ("Die wirtschaftliche Mitbestimmung; die Arbeitskämpfe") ist allerdings aufschlußreich. Zum Paragraphen über Streiks wird berichtet, daß er für die in der Gemischten Kommission vertretenen Laien, zu denen Unternehmer wie Arbeiter gehörten, annehmbar gewesen sei45 • In Kapitel V, "Die Förderung des Friedens und der Aufbau der Völkergemeinschaft", bedeutet das Fehlen einer besonderen Erwähnung der Meinung von Laien nicht Gleichgültigkeit oder Untätigkeit in bezug auf Themen wie Atomkrieg und Kriegsdienstverweigerung. Aber die Laien ~aren weithin aus Führern internationaler Organisationen viele von ihnen verfügten über beachtliche Erfahrung des Umgangs mit überstaatlichen Körperschaften - gewählt worden, und ihre Mitarbeit war besonders auf dem Gebiet internationaler Einrichtungen gefragt, mit welchen die Konzilsväter und Theologen meist weniger vertraut waren. Ihre Hilfe war besonders wirksam beim Entwurf von Nr. 90 ("Die Aufgabe der Christen in den internationalen Institutionen"). Der in Paragraph 3 enthaltene Vorschlag, "ein Organ der Gesamtkirche zu schaffen, um die Gemeinschaft der Katholiken immer wieder anzuregen, den Aufstieg der notleidenden Gebiete und die soziale Gerechtigkeit unter den Völkern zu fördern", der zur Schaffung der Päpstlichen Kommission für Friede und Gerechtigkeit ("Iustitia et Pax") führen 43 In der Arbeit für das Dekret über das Laienapostolat waren die vorzüglichen von der Vorbereitungskommission ausgearbeiteten Kapitel zunächst eliminiert worden. Später wurde der Abschnitt über die Familie Gegenstand und Ziel des Apostolats - in gekürzter Form wieder aufgenommen (vgl. Nr. 11), aber ohne direkte Mitarbeit von Laien. 44 Die Laien hatten auch beträchtlich an der Debatte teilgenommen, in der es darum ging, in dieses Kapitel das Eingeständnis des bei der Verurteilung Galileis begangenen Irrtums aufzunehmen. In der Vorbereitungsperiode richtete Pax Romana dazu eine von einer großen Gruppe prominenter Wissenschaftler unterzeichnete Petition an den Hl. Vater; und im April 1965 unterschrieben die in der Gemischten Kommission vertretenen Laien eine weitere Petition. Schließlich wurde die Frage dem 3. Kapitel des 11. Teiles zugeordnet und in Nr. 36 eine Anmerkung hinzugefügt. 45 Textus recognitus, Pars 11, S. 51.

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sollte, war bereits in der Erklärung vorweggenommen worden, die James Norris während der dritten Periode vor dem Konzil abgab. Im seI ben Kapitel begegnet man auch dem Ersuchen von Laien, das Gebet für den Frieden und besonders das ökumenische Gebet zu erwähnen (Nr. 78,4; 82,2); wie auch die Probleme "der Flüchtlinge und Auswanderer in der ganzen Welt" (Nr. 84,2). Auf ausdrücklichen Wunsch von Laien"hörern" forderte das Konzil katholische FachIeute, vor allem an den Universitäten, auf, Studien und Untersuchungen über die ernsten Bevölkerungsprobleme weiter voranzutreiben und zu entwickeln (Nr.87,2).

6. Das KonziZ und die "Rolle der Frau" Eines der Themen, zu welchen die Laien einen entscheidenden Beitrag leisteten, war zweifellos die Beteiligung der Frau am Leben der Gesellschaft und der Kirche. Das 1963 verbreitete Schema über das Laienapostolat enthielt zwei Paragraphen, je einen in bezug auf die Männer bzw. die Frauen im Apostolat. Sie wurden später weggelassen. Ihre Aufnahme - und das Prinzip getrennter Behandlung - hätte den Wünschen der Laien, wie sie später bei der Konzilsarbeit zum Ausdruck gebracht wurden, widersprochen. Das Thema über die Teilnahme der Frauen sollte erst wieder während der Diskussion über das Schema 13 ausdrücklich aufgegriffen werden, wenn man von zwei Interventionen im Zuge der Debatte über De Ecclesia absieht, in welchen Kardinal Suenens und Erzbischof Hakim die Aufmerksamkeit darauf lenkten, daß das Schema zu diesem Punkt schweigt, und vorschlugen, Frauen als Hörerinnen zum Konzil zuzulassen. Während der Debatte über "Schema 13" gab es mindestens 15 Interventionen in der dritten und 10 in der vierten Sitzungsperiode über die Frauen in Gesellschaft und Kirche, neben zahlreichen Erklärungen über Ehe und Familie, die natürlich auch die Frauen betrafen. Zwei bedeutendere Interventionen kamen von Msgr. Frotz, Weihbischof von Köln, und zwar am 29. Oktober 1964 und am 4. Oktober 1965. Die zweite Intervention spiegelt sich ganz deutlich in dem Abschnitt von Gaudium et spes, Nr. 60, wider, der sich auf die Teilnahme der Frau am kulturellen Leben bezieht; es wird berichtet46 , daß dieser Vorschlag von einem Konzilsvater und den "Hörern" ausging. Er steht sicherlich im Einklang mit den Feststellungen der von der C. I. O.-Konferenz im April 1965 organisierten Tagung "Kirche und Kultur"47. 48

Textus recognitus, Pars 11, S. 35.

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Die weiblichen Konzilshörer, Laien und Ordensfrauen, wurden im Laufe der beiden letzten Konzilsperioden und in der Arbeitskommission über Gaudium et spes wiederholt im Hinblick auf die "Teilnahme der Frauen" zu Rate gezogen. Ihre in Beratungen untereinander gewonnene feste Absicht war es, alle Erklärungen gegen ungerechte Diskriminierung zu ermutigen (vgl. Gaudium et spes, Nr. 29) und alles zu fördern, was einer besseren Zusammenarbeit zwischen Männern und Frauen48 dienlich sei, jedoch sich jedem Versuch zu widersetzen, Inhalt und Umfang der "Rolle der Frau", sei es in der Gesellschaft oder in der Kirche, genau - oder gar poetisch! - zu definieren. Von der Debatte über "Schema 13" wurde die Frage der Beteiligung der Frau am Leben der Kirche wieder in die Endfassung des Laiendekrets übernommen. Ein Satz wurde hinzugefügt - er wird zwei Konzilsvätern zugeschrieben49 - , der die Einstellung der "Hörer" widerspiegelt: "Da heute die Frauen eine immer aktivere Funktion im ganzen Leben der Gesellschaft ausüben, ist es von großer Wichtigkeit, daß sie auch an den verschiedenen Bereichen des Apostolates der Kirche wachsenden Anteil nehmen" (Apostolicam actuositatem, Nr. 9)50. Eine andere Bezugnahme auf die Frauen in Apostolicam actuositatem ist beinahe versteckt. Das Dekret (Nr. 32) fordert die Errichtung von "Dokumentations- und Studienzentren für alle Bereiche des Apostolates ... , und zwar nicht nur in theologischer, sondern auch in anthropologischer, psychologischer, soziologischer ... Richtung, damit die Möglichkeiten und Fähigkeiten der Laien, der Männer und Frauen ... , besser ausgewertet werden". Darin spiegelt sich die Auffassung der 47 Die Tagungsberichte, L'Eglise et la Culture. Quelques textes de l' Assemblee de la Conference des Organisations Internationales Catholiques, Wien, 22. - 26. April 1965, enthalten einen Vortrag, La femme et la culture, von

Maria Vendrik, einer der vom Konzil eingeladenen Laienexperten. 48 Diese Stellungnahme war zweifellos durch Kontakte mit dem Weltrat der Kirchen beeinflußt worden. Im Oktober 1965 nützte das Sekretariat zur Förderung der christlichen Einheit die Anwesenheit der weiblichen Konzils"Hörer", um in Vicarello bei Rom eine Begegnung zwischen katholischen Frauen und einer von der Abteilung für die Zusammenarbeit zwischen Männern und Frauen in Kirche, Familie und Gesellschaft beim Weltkirchenrat gebildeten Gruppe zu veranstalten. 49 Schema Decreti de Apostolatu Laicorum, Textus recognitus et Modi, Typis Polyglottis Vaticanis, 1965, S. 70. 50 Eine schriftliche Intervention von Msgr. Hallinan, Erzbischof von Atlanta, die der Presse im Oktober 1965 übergeben wurde, traf leider zu spät ein, um von der Gemischten Kommission noch berücksichtigt werden zu können. Sie schlug weitreichende Veränderungen in der Stellung der Frau in der Kirche vor und forderte, daß der vermehrte Beitrag von Frauen unter dem Punkt "Die Hilfe, welche die Kirche von der heutigen Welt erfährt" (Gaudium et spes, Nr. 44), erwähnt werden solle. Ein ähnlicher Vorschlag war von einem der "Hörer" gemacht worden.

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Hörer wieder, daß die "Rolle der Frau" weiter studiert, aber nicht voreilig definiert werden solle. Nach der Verkündigung des Dekrets Apostolicam actuositatem richteten die Laienhörer ein Schreiben an den Vorsitzenden der Kommission für das Laienapostolat, in welchem sie ihm ihre Anerkennung für die Rolle zum Ausdruck brachten, die er während des Konzils spielte. In seiner Antwort schrieb Kardinal Cento: "Ich mache kein Geheimnis daraus, daß diese Arbeit eine der glücklichsten Erinnerungen meines Lebens in mir zurücklassen wird. Zum ersten Mal waren Laien - und zwar nicht Könige oder ihre Botschafter - auf einem Konzil vertreten; sie waren nicht passiv zugegen, sondern aktiv, haben sie doch einen tatsächlichen Beitrag zur Vorbereitung unseres Schemas geleistet." Die Einzelheiten dieser Teilnahme mögen heute nur noch von historischem Interesse sein; ja, sie mag so begrenzt erscheinen, als käme ihr nicht viel mehr als ein symbolischer Charakter zu. Und doch wird es eine Erfahrung bleiben, die einen Meilenstein bezeichnet. Es ist undenkbar, daß der Beitrag von Laien - Männern und Frauen - zu einem kommenden Ökumenischen Konzil eine so große und so lang erwartete Neuheit darstellen wird, die Schlagzeilen in der Tagespresse und Plüschsessel in den ersten Reihen einer Beobachter-Tribüne verdient. Papst Paul VI., der am 20. März 1970 zu den Laienmitgliedern des "Consilium de Laicis" sprach, nannte sie seine "Experten" für das Leben und Apostolat des Gottesvolkes in der ganzen Welt. "Periti" dieser Art werden bei einem "Dritten Vaticanum"zweifellos von Anfang an vertreten sein.

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ENTWICKLUNG IM LAIENAPOSTOLAT DER KIRCHE NACH DEM ZWEITEN VATIKANISCHEN KONZIL Von J ohannes Hirschmann I. Einleitung: Laienapostolat als Thema des Zweiten Vatikanischen Konzils Die Entwicklung der Thematik des 11. Vatikanischen Konzils Bereits Papst Pius XI. und Papst Pius XII. hatten am Anfang ihres Pontifikats den Gedanken an eine Fortführung des Ersten Vatikanischen Konzils aufgegriffen. Das Zweite Vatikanische Konzil sollte ihrer Meinung nach die Vollendung des Ersten bringen. Das Thema des Ersten Vatikanischen Konzils war vor allem die Kirche gewesen. Von den umfassend vorbereiteten Texten kamen dabei aber nur wenige zur Bearbeitung und Verabschiedung. Vor allem ging es dabei um Aussagen zur Stellung des päpstlichen Dienstes in der Kirche, um den Primat und die Unfehlbarkeit des päpstlichen Lehramtes. Wäre es zu einer Vollendung des Konzils gekommen, so hätten vor allem die Fragen des Verhältnisses zwischen päpstlichem und bischöflichem Dienst in der Kirche eine Beantwortung erfahren. So blieb das dem Zweiten Vatikanischen Konzil vorbehalten. Auch andere Themen aus dem Gesamtkreis der Glaubenslehre über die Kirche waren im Ersten Vatikanischen Konzil vorbereitet, und beim Wiederaufgreifen seiner Motive war ein großer Teil der Bischöfe der Überzeugung, beim Ersten Vatikanischen Konzil vorbereitete Lehrgehalte des Kirchenverständnisses kämen nun zur Darstellung. So hätte auch ein Konzil unter Papst Pius XI. und XII. sicher vor allem jene Fragen mitaufgegriffen, die die großen kirchlichen Aufgaben betrafen, denen sich diese Päpste in ihren Rundschreiben und Ansprachen besonders widmeten. Dazu hätte sicher unter Papst Pius XI. die Frage der Laien in der Kirche gehört, der der Papst vor allem im Zusammenhang mit der Katholischen Aktion ein gut Teil seiner Aussagen gewidmet hat. Auch Papst Pius XII. hat dieses Thema aufgegriffen und in Zusammenhang mit der Erneuerung der Kirchentheologie in den zwanziger Jahren und darüber hinaus, vor allem unter dem Gesichtspunkt der paulinischen Lehre vom geheimnisvollen Leib Christi, weitergeführt. Der Papst hat diesem Thema ja eine eigene Enzyklika gewidmet. So war das Thema der Stellung und Sendung des 7'

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Laien in der Kirche bereits vorbereitet, als es dann unter Papst Johannes XXIII. zur Einberufung des Zweiten Vatikanischen Konzils kam. Zunächst aber stand diese Thematik des Laienapostolates in der Kirche in einem umfassenderen thematischen Zusammenhang. Der Papst erbat sich ja vor Beginn des Konzils thematische Hinweise vom gesamten Episkopat der Welt, und es war selbstverständlich, daß bei seinen Antworten das Thema Kirche auch wieder aufgegriffen wurde. So befaßten sich eine Reihe der in der Vorbereitungskommission aufgegriffenen Themen unter mehreren Gesichtspunkten mit Fragen der Kirche. Eine davon war die Frage nach dem "Apostolat der Gläubigen". Am Ende der ersten Sitzungsperiode stellte sich heraus, daß nicht alle zunächst aufgegriffenen Themen im Rahmen des Konzils behandelt werden konnten. Die Kardinäle Suenens, Lercaro und Montini verlangten eine stärkere Konzentration auf das Thema Kirche. Bei den zu behandelnden Themen wurde dann die Frage des Laienapostolates beibehalten. Als das Konzil selbst seine Arbeiten im Jahre 1962 begann, wurde eine Kommission mit der Bearbeitung dieser Frage beauftragt, und sie blieb bis zum Ende des Konzils und zur Verabschiedung des Dekrets über das Laienapostolat tätig. Das bedeutet nicht, daß die Frage nur im Zusammenhang mit dem Dekret über das Laienapostolat behandelt wurde. Auch die Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute befaßt sich umfassend mit den Fragen des Laienapostolates. In der dogmatischen Konstitution zur göttlichen Offenbarung, im Dekret über die Missionstätigkeit der Kirche, im Dekret über die Hirtenaufgabe der Bischöfe, im Dekret über den Dienst und das Leben der Priester, in der Konstitution über die heilige Liturgie, in der Erklärung über die christliche Erziehung, im Dekret über die sozialen Kommunikationsmittel, im Dekret über den Ökumenismus und über die Ausbildung der Priester ist an vielen Stellen auch vom Laienapostolat die Rede. In diesem Aufsatz sollen die Entwicklungen der Nachkonzilszeit im Bereich des Laienapostolates der Kirche aufgegriffen werden, die sich aus den Impulsen des Zweiten Vatikanischen Konzils ergaben. Es wird dabei kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben. Die Gesamtentwicklung ist selbstverständlich noch nicht abgeschlossen. Aber bereits einige Linien zeigen die Fruchtbarkeit der vom Konzil her kommenden neuen Anregungen.

11. Die neuen Akzente im Verständnis des Laienapostolats Die grundsätzlicheren Aussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils zur Stellung des Laien in der Kirche finden sich bereits in der Dogmatischen Konstitution über die Kirche. Bereits bei den Verhandlungen

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des Konzils war hier in der Arbeit an dem vorbereiteten Text eine wichtige Umstellung vorgenommen worden. Während zunächst an erster Stelle die Frage nach der Stellung des hierarchischen Amtes in der Kirche behandelt worden war, dann erst die Stellung der gesamten übrigen Kirche, wurde nun in zwei einleitenden Kapiteln die Gesamtlehre von der Kirche, ihrem Geheimnis und ihrem Charakter als Volk Gottes behandelt, dann erst die Lehre von der kirchlichen Hierarchie, und erst dann die Lehre von der Stellung der Laien in der Kirche. In diesem Zusammenhang ist vor allem wichtig die Betonung der einen Sendung aller Gläubigen in der Kirche, die Gesamtsendung der Kirche. Entsprechend ihrer Eigenart nehmen kirchliches Amt und Laien in unterschiedlicher Weise an dieser einen Sendung der Kirche Anteil. Die Grundlage dieser ihrer Sendung ist die Sendung des Hauptes der Kirche im Anschluß daran wird die Sendung der Laien behandelt als eine Teilnahme am königlichen Priestertum Christi, als eine Teilnahme an seiner Stellung als Hoherpriester im gemeinsamen Priestertum der Gläubigen; als Teilnahme an seiner prophetischen Verkündigung und an seinem Aufbau der Kirche in den Diensten der kirchlichen Diakonie. Nicht nur ökumenisch bedeutsam ist diese Herausstellung des gemein-: samen Priestertums. Sie ist auch für die Stellung des Laien in Verkündigung und Zeugnis sowie in Liturgie, Gottesdienst und Diakonie der Kirche von Bedeutung. Nicht weniger wichtig ist das Wieder aufgreifen der Lehre von den Charismen in der Kirche. Sie ist die Grundlage für eine Fülle von nachkonziliaren charismatischen Bewegungen in verschiedenen Teilen der Kirche geworden. Durch diese Charismen haben auch die verschiedenen Formen des Apostolates der Laien in der Kirche neue Anregungen erfahren. Bei dem Zusammenhang zwischen den Charismen und der Caritas der Kirche sind diese charismatischen Bewegungen auch von besonderer Bedeutung für den Ausbau der caritativen Dienste, zum al auch der Laien, in der Nachkonzilszeit geworden. Es geht dabei nicht bloß um den Aufbau der Gemeinden in der Caritas, sondern vor allem auch den Ausbau der universalen Kirche in der Caritas. Das Zusammenwachsen der Gesamtkirche, wie auch das der gesamten Welt, ergab ja hier eine Fülle von Wirkmöglichkeiten. Durch diese charismatischen Bewegungen kamen in die verschiedenen Formen kirchlicher Tätigkeiten, besonders der Laien, spirituelle Anstöße. Bereits das Dekret über das Laienapostolat hatte über die spirituelle Seite des Apostolats einiges Wichtige gesagt. Ausführlich hat das Konzil die Frage nach der Eigenart des Laienapostolates in der Kirche bewegt. Vollzieht es sich vor allen Dingen im Bereich des Weltauftrags der Kirche - wie eine bestimmte Richtung der Konzilsväter anzunehmen geneigt war -, oder hat es eine ebenso starke Beziehung auch zu dem

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eigentlich innerkirchlichen Vollzug ihrer Hauptdienste, der Verkündigung, des Gottesdienstes und der Diakonie? In den Aussagen des Konzils werden schließlich beide Akzente des Apostolates verhältnismäßig eng verbunden herausgestellt. Daraus ergeben sich neue Motive für die Zusammenarbeit von Hierarchie und Laien im Vollzug des kirchlichen Apostolates. Sie sollten auch ihren Niederschlag in der Erneuerung des kirchlichen Rechtes finden. Bei dieser Erneuerung sind daher die Fragen der Stellung des Laienapostolates in der Kirche zu berücksichtigen. Bei der Behandlung der Inhalte des Apostolates bestand damals eine Gefahr: etwas zu einseitig das Tätigwerden der Laien in der sich erneuernden Kirche vom Rückgang der Priesterberufe, und ganz allgemein von deren Fehlen her anzupacken. Hier vollzog sich eine wichtige Änderung des Blickwinkels, von dem aus das Apostolat der Laien gesehen wurde. Es ist notwendig, auch unabhängig von der genannten Entwicklung im Bereich des hierarchischen Apostolates zu sehen, daß beide Dienste in der Kirclle, der hierarchische und der mehr charismatisch orientierte der Laien, sich gegenseitig ergänzen. So ist auch in der ganzen Frage der Zusammenarbeit von Priestern und Laien in der Kirche durch das Konzil ein neuer Akzent gesetzt worden. Er wirkt sich in unterschiedlichen Regionen der Welt unterschiedlich aus. Er hat seine große Bedeutung vor allem in den Bereichen des Aufbaus der Gemeinden, aber auch des Verbandskatholizismus. Er ist ebenso wichtig für die traditionell katholischen oder christlichen Länder wie für die Missionsgebiete. Selbstverständlich hat er auch seine große Bedeutung für die ökumenische Zusammenarbeit der Kirchen. In allen diesen Bereichen spürt man die Auswirkungen der Anregungen des Zweiten Vatikanischen Konzils. In der Frage der Grundlegung des Laienapostolates ist man mit Recht zurückgekehrt zu einer Betonung der Bedeutung der Taufe. Eine Zeit lang bestand eine gewisse Gefahr, einseitig die Firmung zum Sakrament des Laienapostolates zu machen. Zweifellos hat sie in der Grundlegung dieses Apostolates eine wichtige Bedeutung, aber von fundamentalerer Wichtigkeit ist doch das Sakrament der Taufe.

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Die verschiedenen Bereiche des Laienapostolates

Wo das Laiendekret des Konzils die verschiedenen Bereiche des Apostolates behandelt, ist zunächst die Rede von seiner Bedeutung im Aufbau der kirchlichen Gemeinschaften. Das ist von großer praktischer Bedeutung. Im Aufbau der kirchlichen Gemeinschaften vollzieht sich seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil eine umfassende Erneuerung.

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Diese Gemeinschaften leiden in steigendem Maß unter dem Mißverhältnis zwischen der wachsenden Zahl der Gläubigen in manchen Regionen der Weltkirche, vor allem in der dritten Welt, und der Zahl der für den pastoralen Dienst in der Kirche zur Verfügung stehenden Geistlichen. An die Stelle der durch Geistliche geleiteten Gemeinden treten in steigendem Maß an vielen Stellen Basisgemeinschaften, in denen Laien die Entfaltung des kirchlichen Gemeindeleben selber maßgeblich beeinflussen. Das geschieht nicht nur im Bereich der Vermittlung der kirchlichen Lehre, vor allem in der katechetischen Unterweisung - etwa im Zusammenhang der Vorbereitung auf die Sakramente -, sondern auch in der übernahme von Diensten an Kranken, Alten und in Kindergärten sowie in der Sorge für die anderen caritativen Dienste, die in der Kirche notwendig sind. In diesem Zusammenhang steht ein neues Bewußtsein der Beziehung der drei fundamentalen Gemeindedienste zueinander, nämlich der Verkündigung, des Gottesdienste und der caritativ-diakonalen Dienste. Dem entspricht eine Verbreiterung des Theologiestudiums der Laien, gelegentlich auch eine Ergänzung der eigentlichen Verkündigung. Im Zusammenhang der Strukturierung der Gemeinde haben an vielen Stellen der Kirche die Räte eine neue Bedeutung bekommen. Von besonderer Wichtigkeit ist hier die Verwirklichung von Nr. 26 im Laiendekret geworden: "In den Diözesen sollen nach Möglichkeit beratende Gremien eingerichtet werden, die die apostolische Tätigkeit der Kirche im Bereich der Evangelisierung und Heiligung, im caritativen und sozialen Bereich und in anderen Bereichen bei entsprechender Zusammenarbeit von Klerikern und Ordensleuten mit den Laien unterstützen. Unbeschadet des je eigenen Charakters und der Autonomie der verschiedenen Vereinigungen und Werke der Laien werden diese Beratungskörper deren gegenseitiger Koordinierung dienen können. Solche Gremien sollten, soweit wie möglich, auch auf pfarrlicher, zwischenpfarrlicher und interdiözesaner Ebene, aber auch im nationalen und internationalen Bereich geschaffen werden. Beim Heiligen Stuhl soll darüber hinaus ein besonderes Sekretariat zum Dienst und zur Anregung für das Laienapostolat errichtet werden; ein Zentrum, das mit geeigneten Mitteln Informationen über die verschiedenen apostolischen Unternehmungen der Laien vermittelt, Untersuchungen über die heute in diesem Bereich erwachsenden Fragen anstellt und mit seinem Rat der Hierarchie und den Laien in den apostolischen Werken zur Verfügung stehen soll. An diesem Sekretariat sollen die verschiedenen Bewegungen und Werke des Laienapostolats der ganzen Welt beteiligt sein. Dabei sollen auch Kleriker und Ordensleute mit den Laien zusammenarbeiten."

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Diese Räte auf den verschiedenen Ebenen der kirchlichen Gemeinschaften sind in der nachkonziliaren Zeit auf der Grundlage bereits bestehender Ordnungen, aber auch neuer Beschlüsse von Synoden und neuer kirchlicher Regelung€n geschaffen worden und entwickeln sich in den verschiedenen Ländern nach verschiedenen Richtungen. Auch die Zielsetzung ist etwas unterschiedlich. Wenn hier von beratenden Gremien die Rede ist, dann braucht das nicht zu bedeuten, daß sie bloß gegenüber dem Amt in der Kirche eine beratende Funktion haben; denn der Sinn dieser Gremien ist .~. wie im Konzil gesagt wird - auch die gegenseitige Koordinierung und damit die Beratung der ganzen Gemeinden und Bistümer. Bei dieser Koordinierung sollen die verschiedenen Gremien ihren je eigenen Charakter haben und vor allen Dingen auch der Autonomie der verschiedenen Vereinigungen und Werke der Laien gerecht werden. Das bringt es mit sich, daß sowohl die Beratung der hierarchischen Dienste wie auch die Koordinierungder je autonomen Tätigkeit der verschiedenen freien Vereinigungen und Werke der Laien zu ihrem Recht kommen sollen. An einigen Stellen in der Kirche hat man den Eindruck, daß etwas zu einseitig die bloße Beratung der hierarchischen Dienste den Schwerpunkt der Tätigkeit der Gremien bestimmt; an einigen anderen Stellen, daß etwas zu einseitig die Koordinierung dieser Gremien auch als eine Art neuer Leitungsgewalt über die verschiedenen Vereinigungen, al.lf Kosten ihrer Autonomie, gesehen wird. In Deutschland zum Beispiel hat die Gemeinsame Synode der Bistümer diese verschiedenen Gremien in einem Beschluß "Verantwortung des ganzen Gottesvolkes für die Sendung der Kirche" so geordnet, daß unterschiedliche Regeln gelten für die Beratung in den Pfarrgemeinderäten, in den Räten auf. zwischenpfarrlicher Ebene und in den Räten auf der Ebene der Diözesen. In den Diözesen bestehen dann (neben den Priesterräten) einerseits mehr im Dienst der Beratung des Bischofs stehende Diözesanpastoralräte, andererseits Laienräte der Diözesen, die mehr die Zielsetzung der Ni". 26 des Laiendekrets verwirklichen. Selbstverständlich brauchen diese Gremien eine gewisse Zeit, bis sich ihre Arbeitsinhalte und Arbeitsweisen einüben und durchsetzen. Für die wachsende Zahl von Gemeinden, die keinen eigenen Seelsorger haben, bekommen derartige Gremien der Mitverantwortung für die Erfüllung der Sendung der Kirche eine zunehmende Bedeutung. Im Unterschied zu diesen Räten haben sich vor allem in der Dritten Welt die sog. Basisgemeinschaften entwickelt, bei denen der Verantwortung der Laien eine noch größere Rolle zukommt als bei den Räten. Bei den Räten selber haben sich gelegentlich Spannungen ergeben zwischen den bereits bestehenden freien katholischen Organisationen einerseits und diesen auch mehr der kirchlichen· Hierarchie und den kirchlichen Ver-

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waltungsinstanzen zugeordneten Räten andererseits. Ein Strukturelement in der Kirche, das soviel Neues zu vermitteln imstande ist, braucht selbstverständlich auch seine Zeit. Von ganz besonderer Schwierigkeit ist hier die Neuordnung auf nationaler und internationaler Ebene. Auf nationaler Ebene besteht zum Beispiel in Deutschland das Zentralkomitee der deutschen Katholiken als eine Form von Laienräten, das sowohl Vertreter der einzelnen Diözesen, wie Vertreter der überdiözesanen katholischen Verbände und frei kooptierte Persönlichkeiten vereinigt. Es gibt eine regelmäßige Zusammenkunft von zwölf Vertretern des Zentralkomitees und von einer entsprechenden Zahl an Vertretern der Deutschen Bischofskonferenz, so daß auf dieser Ebene eine Zusammenarbeit zwischen Hierarchie und Laienapostolat eingeleitet ist. Für die zunächst angestrebte Linie eines nationalen Pastoralrates nach Art des Diözesanpasforalrates erschien die Zeit nicht reif. Es ist nicht ausgeschlossen, daß er sich aus den bisher bestehenden Strukturen entwickeln kann. Sowohl in der Konstitution über die Kirche wie im Dekret über die Laien ist von der Bedeutung die Rede, die auf Grund des Sakramentes der Ehe die Familienarbeit im Rahmen des Laienapostolates der Kirche haben solL Es gibt Länder, in denen die in anderen Ländern stark ausgebaute Möglichkeit katholischer Organisationen nicht oder kaum besteht. Gerade dort ist die Kraft der Familien, die Grundvollzüge kirchlichen Lebens, die vor allem den Laien zugeordnet sind, zu vermitteln, besonders wichtig. Darüber hinaus aber hat die Arbeit der Kirche im Bereich der Familie in der nachkonziliaren Zeit eine wachsende Bedeutung bekommen. Das hängt vor allem auch damit zusammen, daß in der bürgerlichen Welt die Entwicklung der Familien in mancher Hinsicht eine neue Intensität bekommen hat, und eine sich wandelnde Funktion der Familie innerhalb der Gesellschaft festzustellen ist. Die Notwendigkeit einer Steigerung der Bedeutung der Familie in der Gesellschaft, das Entstehen neuer Funktionen der Familie angesichts ihrer geänderten Gestalt, die Entwicklung des Familienrechtes in der bürgerlichen und staatlichen Sphäre, machen eine intensive begleitende Arbeit der Kirche notwendig. Angesichts der vielen Notstände, unter denen viele Familien leiden, ist die Hilfe von Familien für Familien auch in der kirchlichen Arbeit immer wichtiger geworden. So beschäftigen sich die katholischen Organisationen sehr viel intensiver als früher mit Familienarbeit, und diese Arbeit wird bei vielen von ihnen fast ein neues Strukturelement. Gerade auch durch diese neue Bemühung um das Apostolat der Familien und in den Familien bekommt die katholische Laienarbeit eine neue Richtung. Eng damit verbunden sind drei andere Fragekreise, denen sich das Laienapostolat zuwendet.

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Dazu gehört zunächst einmal das intensivere Einbeziehen der Frau in das apostolische Wirken der Gesamtkirche. Die Entwicklung der Stellung der Frau in der Kirche hat vielerlei Gesichtspunkte. Es besteht zunächst einmal in Zusammenhang mit der Frauenbewegung in der Welt auch eine Frauenbewegung in der Kirche. Sie drängt nicht nur auf den Ausbau des kirchlichen Rechtes der Frau, sondern auch auf eine stärkere Mitverantwortung der Frau in der Gestaltung des kirchlichen Lebens. In der Beteiligung der Frau an der übernahme innerkirchlicher, auch hauptamtlicher Dienste zeigt sich · diese Bewegung ebensosehr wie im katholischen Organisationswesen. Die Voraussetzung ist selbstverständlich eine entsprechende Bildungsarbeit. Sie bekommt ihre besondere Bedeutung durch die wachsende Teilnahme der Frau am öffentlichen, sozialen und gesellschaftlichen Leben. Selbstverständlich muß hier vor allem auch ein rechtes Zueinander zwischen der Stellung der Frau in der Familie und ihrer Stellung in den übrigen Diensten in Gesellschaft und Kirche gefunden werden. Die Entwicklung der religiösen Situation der Frauen und entsprechend der Mädchen macht eine Um orientierung vieler Formen kirchlicher Bildungs arbeit unter Frauen notwendig. Eng verbunden mit diesen Fragen ist die die Entwicklung der kirchlichen Arbeit unter der Jugend und der Arbeit der Jugend selbst. Die Nachkonzilszeit zeigt in einer Fülle von Einzelbereichen starke Wandlungen im Verhältnis der Jug,end zum Glaubensverständnis und zum kirchlichen Leben. Sowohl in den Gemeinden ist das faßbar, wie im kirchlichen Vereinigungswesen. Die Wirkung des Zweiten Vatikanischen Konzils auf die kirchliche Jugendarbeit war zunächst recht positiv. Aber bald trat ein Umschlag ein, der vor allem mit der Umstellung der gesamten Jugendarbeit im Zusammenhang mit der studentischen Auseinandersetzung der zweiten Hälfte der sechziger Jahre zusammenhängt. Die kirchliche Jugendarbeit bekam nun vor allem einen stark kirchenkritischen Charakter. War das Verhältnis der Jugend zur Kirche bis dahin noch sehr stark mitbestimmt durch die Entwicklung des kirchlichen Selbstverständnisses vom Motiv des geheimnisvollen Leibs Christi her, also mit starker Identifizierung von Christus und Kirche, so trat jetzt immer stärker an die Stelle dieses Kirchenbildes das Bild der "ecclesia semper reformanda", der ständig der Reform und der Buße bedürftigen Kirche. Die kirchliche Jugendarbeit bekam in diesem Zusammenhang vor allem auch eine kritische Note im Blick auf die kirchliche Autorität und die Fragen der Durchführung demokratischer Elemente innerhalb der Kirche. Bis in die zweite Hälfte der siebziger Jahre schlug sich diese Note in der kirchlichen Jugendarbeit in einer Reihe von Ländern nie-

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der. Es ist vor allen Dingen das Verdienst einer Reihe von Bewegungen innerhalb der kirchlichen Jugendarbeit, vor allem mit gewissen charismatischen Elementen (gedacht werden muß z. B. an den Einfluß, den Taize und ökumenische Impulse in der Jugendarbeit hatten), in die kirchliche Jugendarbeit einige konstruktive neue Elemente eingebracht zu haben, die aber nicht gleichmäßig und nicht gleichartig in allen Gruppen der Jugendarbeit einsetzen. Wer zum Beispiel die Bedeutung ermißt, die zur Zeit des Zweiten Vatikanischen Konzils etwa der Sozialimpuls der Cardijnschen Bewegung hatte, mußte die Entwicklung, wie sie sich in der Weiterentwicklung der CAJ zeigte, in einiger Hinsicht bedauern. Erst in dem Maß, als es in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre doch wieder zur Erneuerung der kirchlichen Soziallehre kam, findet in der jetzigen Arbeiterjugend wieder eine umfassendere Kontaktnahme mit der Welt der Arbeit statt. Bei der studierenden und studentischen Jugend wirken sich bis heute noch Akzente der ausgehenden sechziger wie neue der siebziger Jahre stärker aus. In einer schwierigen Entwicklungsphase befindet sich angesichts der gesellschaftlichen Entwicklungen in der Welt der Frau die kirchliche Frauenjugendarbeit. Wir haben erwähnt, welche Rolle im Zusammenhang mit dem Konzil und der Auswertung seiner Aussagen, vor allem auch in der Pastoralkonstitution Kirche und Welt, die kirchliche Sozialarbeit gehabt hat. Die soziale Arbeit der Kirche ist durch das Konzil an mehreren Stellen neu befruchtet worden. Der übergang der durch die Pius-Päpste gesetzten Akzente zu "Mater et magistra" und im Anschluß daran zur Pastoralkonstitution "Kirche und Welt" führte dazu, daß vor allem das internationale soziale Apostolat stärker ausgebaut wurde. Deutlich ist auch der Niederschlag der Gedanken, die in den Abschnitten über Wirtschaft, Staat und internationale Fragen der Pastoralkonstitution des Konzils enthalten sind. Damit hängt zusammen, daß vor allem die internationale Zusammenarbeit der Laien in dieser Zeit zugenommen hat. Dies hat eine der wichtigsten Bewegungen der Nachkonzilszeit ausgelöst, die Weckung des Sinns für die kirchliche Situation in den Ländern der Dritten Welt. Gleichzeitig vertiefte diese Arbeit wieder neu den Missionsgedanken in der Kirche, führte aber auch zur Sicht des Zusammenhangs zwischen Bemühungen der Entwicklungshilfe in der Kirche und der Weltrnission. Auch die kirchliche Friedensbewegung empfing von hier eine Fülle von Anregungen. Eine besondere Akzentuierung erhielt im Zuge der Auswirkungen des Konzils auch die ökumenische Zusammenarbeit. Sie hatte in der Nachkonzilszeit mehrere unterschiedliche Akzente: einmal die stärkere Zusammenarbeit der Theologen der verschiedenen christlichen Kirchen;

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zweitens eine stärkere Fühlungnahme zwischen der katholischen kirchlichen Hierarchie und den evangelischen Kirchenführungen; neben diesen ökumenischen Bemühungen in den kirchlichen Führungen bestehen mehrfach ökumenische Bewegungen in den einzelnen Gemeinden. Sie haben in Zusammenkünften und Veranstaltungen auf der Ebene der Gemeinde geholfen, die Spannungen zwischen den verschiedenen Konfessionen abzubauen. Es ist verständlich, daß es neben den damit vollzogenen Annäherungen auch neue Schwierigkeiten gab; genannt sei bloß der gesamte Problemkreis der Neugestaltung des Mischehenrechtes in der Kirche, wie auch das Problem der Beteiligung der Christen einer Konfession an den eucharistischen Feiern der anderen. Vor allem in Zusammenhang mit den Synoden in verschiedenen Diözesen oder auch in ganzen Ländern gab es eine lebhafte Weiterentwicklung in der Auswertung der Anregungen des Konzils. Neben der eigentlichen ökumenischen Bewegung zwischen den christlichen Kirchen stehen in manchen Ländern auch Annäherungen an die religiösen Gemeinschaften außer halb des Christentums. In Europa haben wir in dieser Beziehung vor allem Annäherungen zwischen dem Christentum und dem Islam, obwohl im Zusammenhang mit den inneren Erneuerungsbewegungen des Islam eine Reihe von Problemen des Dialogs zu verzeichnen waren. Das Problem der ausländischen Arbeiter hat zum Beispiel eine Reihe von Laienbemühungen in der Zusammenarbeit der Religionsgemeinschaften begünstigt. IV. Katholische Aktion und katholische Verbände Von großer Bedeutung für die Entwicklung des Laientums in der Kirche ist die konziliare Behandlung des Problems der katholischen Verbände geworden. Vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil war das katholische Verbandswesen maßgeblich mitbestimmt durch das Motiv der Katholischen Aktion, die in einer ganzen Reihe von Ländern die führende Form des organisierten Laienapostolates geworden war. In den Ländern, die seit der Mitte des letzten Jahrhunderts ihr Verbandswesen vor allem als Auswertung der Koalitionsfreiheit im Sinn freier katholischer Organisationen aufgebaut hatten, wie zum Beispiel in Deutschland, Österreich und der Schweiz, war es zu etlichen Schwierigkeiten zwischen dem althergebrachten Verbandswesen und den neuen Formen der Katholischen Aktion gekommen. Diese Fragen wurden auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil zur Diskussion gestellt. Es mußte zunächst einmal die Eigenart der Katholischen Aktion neu herausgestellt werden. Da die Geschichte der katholischen Organisationen maßgeblich auch im Zeichen der Auseinandersetzungen zwischen Staat

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und kirchlichen Organisationen stand, aber sowohl der Nationalsozialismus wie auch der Faschismus vor dem Konzil überwunden worden waren, gab es seit den Aussagen im vierten und fünften Teil des Laiendekretes eine stärkere Chance für die freien katholischen Organisationen, und in Verbindung damit eine Krise in manchen Ländern in der Katholischen Aktion: die Bedeutung einer Reihe von Formen der Katholischen Aktion nahm ab. An die Stelle der kirchlichen Vereinigungen im Stil der Katholischen Aktion traten neue Institutionen des kirchlichen Verbandswesens, von denen bereits die Rede war, zum .Beispiel in Richtung auf die sozialen Organisationen des dortigen Katholizismus und in Richtung des stärkeren Ausbaus der kirchlichen Basisgemeinschaften. In anderen Ländern, zum Beispiel in Deutschland, fühlten sich die katholischen Verbände in ihrer alten Linie bestätigt und versuchten - allerdings unter modifizierten gesellschaftlichen Bedingungen - eine Erneuerung des Verbandskatholizismus. Im Rahmen dieser Erneuerung ist vor allen Dingen die Form des Zentralkomitees der Katholiken eine wirkungsvolle Gestalt des nachkonziliaren Laientums in den Kirchen geworden; mit einem gegenüber frühren Zeiten wachsenden Einfluß der Laien auf die Mitgestaltung des kirchlichen Lebens. In der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik zum Beispiel wurde diese Stellung des Zentralkomitees sehr sichtbar. Die Linie hat sich in den letzten Jahren noch einmal verstärkt. Parallel dazu verlief der Ausbau von Institutionen der Laienarbeit in Rom, im Anschluß an die bereits genannte Nr. 26 des Laiendekretes. Allerdings war die Organisation der Laienarbeit in den einzelnen Ländern so unterschiedlich, daß es nicht zu einer stärkeren Gesamtstrukturierung der Laienarbeit in der Kirche gekommen ist. Die Gruppe von Verbänden, die einen wachsenden Einfluß in der Nachkonzilszeit bekamen, war die der internationalen katholischen Organisationen. Sie haben in der internationalen Arbeit der Kirche und in Rom eine wachsende Bedeutung gehabt, sind allerdings in Rom in den letzten Jahren stärker in die vatikanische Hierarchie miteingefügt worden. Die Situation der katholischen Organisationen in den kommunistisch beherrschten Ländern war durch schwere Behinderung gekennzeichnet. Anstelle der Tätigkeit der katholischen Organisationen mußten vor allem innerkirchliche Erneuerungsbewegungen mehr charismatischer Art und solche, die von den Familien ausgingen, die entsprechende Auswertung der konziliaren Motive in die Hand nehmen. V. Ausblick Es ist zu erwarten, daß der noch nicht abgeschlossene Prozeß der Auswertung des Konzils in den nächsten Jahren sich in den verschie-

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denen Regionen der Kirche unterschiedlich weiterentwickeln wird: anders in den Ländern der Ersten Welt, anders in denen der Zweiten, anders in denen der Dritten Welt. Zu rechnen ist u. a. mit dem Wachstum der theologischen Ausbildung der Laien, mit der Zunahme der Laien, die hauptamtlich im kirchlichen Dienst stehen, sowie mit vermehrter internationaler Zusammenarbeit der verschiedenen Laienorganisationen. Es ist durchaus möglich, daß im Zuge solcher Entwicklungen Großregionen der Kirche sich einander nähern, ebenso können sie sich aber auch voneinander entfernen. Im Zusammenhang mit dieser Entwicklung unter den Laien steht natürlich die Entwicklung des Verhältnisses von Hierarchie und Laien innerhalb der gesamten Kirche. Angesichts der sehr starken Bevölkerungsbewegung in der Weltkirche läßt sich jetzt noch nicht absehen, in welcher Weise sich die auf dem Konzil gewonnene Basis ausbauen läßt. Jedenfalls sind die durch das Konzil angeregten Reflexionen über das Selbstverständnis der Laien in der Kirche, über die Strukturen ihres Wirkens auf den verschiedenen Ebenen, über die Formen des organisierten und des Einzelapostolates so in einer sich immer stärker differenzierenden Bewegung, daß die Zukunft nicht einfach von den heute bestehenden Formen aus prognostiziert werden kann. Was hier gilt, das gilt von vielen anderen Fragen, die das Konzil im Bereich des Laienapostolates angeschnitten hat. Es ist damit zu rechnen, daß viele Entwicklungen, die das Konzil angestoßen hat, ihre volle Fruchtbarkeit erst in den kommenden Jahrzehnten, vielleicht erst im kommenden Jahrhundert offenbaren werden.

JOHANNES PAUL II. ÜBER DAS LAIENAPOSTOLAT Grundriß einer Lehre

Von Eugeniusz Weron Es wurde im Zusammenhang mit den vielen Reisen von Papst Johannes Paul II. allgemein bemerkt, daß für das Verständnis seiner Lehre nicht nur wichtig ist, was er sagt, sondern auch, was er tut. Seine Gesten und Handlungen bilden dabei eine unentbehrliche Ergänzung seiner Gedankenwelt. Das trifft auch besonders auf die päpstliche Lehre über das Laienapostolat zu. Seine vielfältigen Beziehungen zu den Laien, insbesondere zu den Familien und den Studenten, sind allgemein bekannt. Diese freundschaftlichen Kontakte entstanden zur Zeit seiner Lehrtätigkeit an der Universität und wurden dann von dem Kaplan und Bischof von Krakau, Karl Wojtyla, sorgfältig weiterentwickelt. Und deswegen darf man - wenn man die päpstliche Lehre über das Laienapostolat vorstellen will - auch die verschiedenen Ereignisse im Leben dieses Papstes nicht vergessen, welche auf seine Ansichten zum Laienapostolat einen großen Einfluß ausgeübt haben. Es ist selbstverständlich, daß seine Wahl zum Papst nicht nur eine Lebenswende ist, sondern teilweise auch seine Lehre gekennzeichnet hat. So wird der Bischofs- und Papstlehre von nun an ein anderes Gewicht und eine größere Bedeutung beizumessen sein. Infolgedessen dürften zunächst seine Ansichten als Bischof von Krakau behandelt werden; danach wird seine jetzige päpstliche Lehre darzulegen sein. I. Bischof von Krakau Die ersten, bibliographisch' besser dokumentierten Aussagen des Bischofs Karl Wojtyla über Laientheologie und Laienapostolat stammen aus dem Jahre 1961. Es ist die Zeit der Vorbereitung für das II. Vatikanische Konzil. Im Zusammenhang mit vielen vorkonziliären Diskussionen wurde der junge Bischof von Krakau gebeten, anläßlich 1 Vgl. Bibliographie der Schriften des Kardinals Karl Wojtyla aus den Jahren 1949 - 1978, in: Chrzescijanin w swiecie, 11/1979, nr. 74, S. 67 - 91. Diese Bibliographie zeigt bis 1978, d. i. zur Papstwahl, 392 bibliographische Positionen auf.

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einer Sitzung der Konferenz der polnischen Bischöfe einen Vortrag über die Stellung der Laien in der Kirche zu halten. Kurze Zeit danach hat Karl Wojtyla eine Zusammenfassung seiner Gedanken in Tygodnik Powszechny 2 veröffentlicht. In diesem Artikel hat er sich als einer der ersten Theologen, noch vor dem Konzil, bemüht, den Laienbegriff und das Verständnis des Laienapostolates gen au er zu beschreiben und darzulegen. Schon damals wies er darauf hin, daß das hierarchische Apostolat und das Apostolat der Laien sich gegenseitig ergänzen müssen. Damit die Kirche als Gemeinschaft ihre Mission rechtmäßig erfüllen kann, ist es notwendig, daß die Laien in der Kirche ihre passive Rolle aufgeben. Der volle Einsatz der Laien im Apostolat der Kirche ist eine unentbehrliche Bedingung, damit sie im besonderen Maße als "Laientum"3 der Kirche gelten können. Bischof Wojtyla hatte schon längst die allgemeine Verpflichtung der Christen zum Apostolat verkündet. Er führte den Nachweis, daß das Apostolat etwas ursprünglicheres und grundlegenderes als "Geistlichkeit" (Hierarchie) sei. Denn Jesus hat zuerst die Apostel als Urzelle der Kirche berufen und sie dann später - am Gründonnerstag - mit der Priesterweihe versehen. "Man soll also richtig folgern", schrieb Bischof Karl Wojtyla, "daß alle Jünger und Bekenner Christi eine apostolische Berufung haben4 ." Zum richtigen Verständnis des Laienapostolates und der eigenen Funktion des Laientums schlug er eine Rückkehr zum ursprünglichen Kirchenbild aus der Apostelzeit vor. Es ist selbstverständlich, daß das Laienproblem streng mit der ganzheitlichen Sicht der Kirche verbunden sein mußte und dieses Kirchenbild erst im Vaticanum 11 ausgearbeitet werden konnte.

1. In der 'Konzilsperiode In der Zeit zwischen den Konzilssessionen und in den Plenarsitzungen war Bischof Wojtyla sehr aktiv. Das trifft auch auf die Redaktionsarbeit an den Konzilsdokumenten zu. Man hat kürzlich ausgerechnet5 , daß K. Wojtyla achtmal in Plenarsitzungen das Wort ergriffen' und außerdem im Konzilssekretariat 13 schriftliche Interventionen hinterlegt hat. Unter diesen Interventionen hat man einige bedeutsame Textentwürfe sowie umfangreiche Verzeichnisse mit verschiedenen Verbesserungen (modi) der Konzilstexte gefunden 7 • Zur Zeit der dritten K. Wojtyla, Mysli 0 Iaikacie, in: Tygodnik Powszechny, 1961, nr. 44, 666. Ebd. 4 Ebd. 5 J. Grootaers, Karol Wojtyla auf dem Zweiten Vaticanum. Eine Dokumentation zur Konzilstätigkeit des gegenwärtigen Papstes, in: Herder Korrespondenz, 1979, S. 453 - 458. , Ebd., S. 453. 1 Ebd. 2

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Johannes Paul 11. über das Laienapostolat

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Sitzungsperiode (8. XII. 1964) ist Bischof Wojtyla in der Plenarsitzung über das Laienapostolat zu Wort gekommen. In seinem Beitrag hat er die allgemeine Apostolatspflicht stark unterstrichen. Außerdem hat er auf die besondere Lage in den Ländern aufmerksam gemacht, in denen kein organisiertes Apostolat bestehen kann. Auch hat er die Unentbehrlichkeit des Dialogs innerhalb der Kirche sichtbar gemacht. Durch einen solchen Dialog "darf man eine gegenseitige Bereicherung in Christus sowohl der Priester als auch der Laien erreichen"B. Bischof K. Wojtyla interessierte sich im Konzil besonders für das Problem des Weltverhältnisses der Kirche und der Familienseelsorge. Als Mitglied einer Unterkommission für das berühmte Schema XIII beteiligte er sich an der Redaktion des Textes, welcher später ,Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute' genannt wurde. Seine Verdienste werden heute hoch eingeschätzt9 • Als Konzilsteilnehmer übermittelte er von Rom aus über den Vatikanischen Rundfunk und durch die Presse nicht nur die Informationen über das Konzil, sondern er kümmerte sich auch um die Belehrung der Laien über die sie erwartenden neuen Aufgaben. Er zeigte auf, daß eben dem Laien als Christen die Welt nicht nur als Tätigkeitsfeld anvertraut, sondern auch, daß die Welt als Aufgabe dem Laien übertragen ist10. "Wenn jemand mich fragt", schrieb K. Wojtyla, "welche Rolle die Weltchristen in der Kirche spielen, dann werde ich antworten: sie besteht in der ständigen Verwirklichung des Werkes Christi, des Gottessohnes, in der Welt, und diese Funktion wird mit weltlichen Mitteln verwirklichtll ." Er schrieb weiter: "Die Laien bilden ihrerseits die Kirche. Bilden - das heißt schöpfen; sie sind also schöpferisch durch die schöpferische Kraft ihres ganzen Lebens, d. i. durch die Arbeit, durch die Freude, durch Rast und Leiden. Die Urquelle dieser schöpferischen Kraft ist das Evangelium, das gründlich abgelesen wird. Und die Urquelle ist die Gottesgnade, welche sich in der Seele nach dem Bedarf des eigenen Standes und der Berufung entwickelt 12." Die Laien müssen von neuem "über die Tatsache ihrer Taufe und Firmung gründlich nachdenken"13. Im Zusammenhang mit der Problematik des Laienapostolates bleibt die Frage nach dem Verhältnis der Weltlaien zur Kultur und KulturEbd. Ebd., S. 455 - 457. 10 K. Wojtyla, Lud Boiy, in: Przewodnik Katolicki, 1964, S. 65; vgl. Tyg. Powsz., 1964, nr. 43; Kosci61 wobec wsp61czesnego swiata, in: Notificationes e Curia Cracoviensi, 1964, nr. 12, S. 282 - 284. 11 K. Wojtyla, Lud Boiy, in: Przewodnik Katolicki, 1964, S. 65. 12 Ebd. 13 Ebd. 8

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8 Festschrift Rossl

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schöpfung. In der Zeitschrift "Znak", welche sich hauptsächlich den Bedürfnissen der Weltchristen widmet, schrieb Bischof K. Wojtyla: "Christliche Kulturschöpfung kann nicht nur Glaubensbekenntnis, son.,. dern auch Apostolat sein 14. Solche apostolische Tätigkeit mag nur als die Frucht eines tiefen geistlichen Lebens und einer seelischen Kultur des Christen entwickelt werden 15 • Grundlage für diese geistliche und seelische Kultur des christlichen Lebens darf nur die Wahrheit sein und diese Grundlage muß vor jeder Gefahr wie ein Augapfel behütet werden 16." 2. Nach dem KonzH Nach dem Abschluß des Konzils ging Bischof K. Wojtyla energisch ans Werk, um die Konzilslehre, so wie sie in den Konzilsdokumenten enthalten ist, bekannt und der Allgemeinheit zugänglich zu machen. In diesem Bemühen wird auch sein persönlicher Beitrag zur schöpferischen Deutung des Konzilswerkes sichtbar. Unter Einsatz aller Kräfte bemühte er sich um die Anwendung der Konzilslehre auf die Bedingungen und zur Situation der polnischen Kirche. Diese Anstrengung und Sorge wird den Bischof und späteren Kardinal bis zu seiner Papstwahl unaufhörlich begleiten. In Hinsicht auf die bekannte Definition des Weltlaien, welche in der dogmatischen Konstitution der Kirche (LG 31) enthalten ist, bemerkt K. Wojtyla, daß diese Definition den theologischen und nicht den juridischen "Status" des Laien in der Kirche sichtbar macht17 • Dieser theologische Status ist etwas Erstrangiges und Wesenhaftes im Gottesvolk. Infolgedessen gehören die Laien nicht nur zum mystischen Leib Christi, sondern sie bilden auch sein "Pleroma"18. Nach Bischof K. Wojtylas Meinung besteht die große Aufgabe in der nachkonziliären Zeit darin, daß die Laien sich über diesen ihren theologischen "Status" klar werden. Es handelt sich dabei um die Notwendigkeit eines Umbaus des traditionellen Selbstbewußtseins der Laien und damit um die "Umgestaltung des christlichen Daseins"1'. Durch das Laienapostolat, so schrieb K. Wojtyla, erfolgt die überwindung der Gegensätze zwischen Laizismus und Heiligkeit. Die Laienheiligkeit ist auch der Welt zu eigen. Die äußere Laienmission dient K. Wojtyla, Chrzescijanin a kultura, in: Znak, 1964, S. 1156. Ebd. 18 Ebd. 17 K. Wojtyla, Idea ludu Bozego i swi~tosc Kosciola a poslannictwo swieckich, in: Ateneum Kapl., 1965, S. 309. 1~ Ebd. 19 Ebd., S. 310. U

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Johannes Paul II. über das Laienapostolat

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zugleich auch der Verbreitung der inneren Mission der Kirche. Diese ist überhaupt der eigentliche Sinn des Laienapostolates20 . "Das Apostolat als äußere Mission gilt als reife Antwort auf die innere Mission, welche von der Allerheiligsten Dreieinigkeit verwirklicht wird 21 ." So wird vom Bischof K. Wojtyla die konziliäre Definition des Laientums verstanden, erklärt und beschrieben, und zugleich wird so die Laiensendung in der heutigen Welt dargestellt. Im Jahre 1967 hat Papst Paul VI. die nachkonziliäre Struktur, nämlich das Consilium de Laicis (Rat für die Laienangelegenheiten) ins Leben gerufen. Zum Konsultor dieses Rates wurde der Bischof von Krakau ernannt und im seI ben Jahre zur Kardinalwürde erhoben. Seitdem nahm er regelmäßig an Sitzungen des Consilium de Laicis teil; dabei erkannte er als seine Pflicht an, das Volk Gottes ausführlich über alle apostolischen Probleme, welche in Rom besprochen worden sind, zu informieren. Fast in der gleichen Zeit wurde auch in Polen die Kommission für das Laienapostolat bei der Konferenz des polnischen Episkopates gegründet. An der Spitze der erwähnten Kommission stand Kardinal Karl Wojtyla. Die Plenarsitzungen dieser Kommission, mit vielen Teilnehmern aus der polnischen Laienschaft, sind für den neuen Kardinal Feld und Mittel zugleich für die Verbreitung der Konzilsbeschlüsse. Zur Hauptaufgabe des Laienapostolates in Polen gehörte die Ausarbeitung von Richtlinien und Weisungen für das Laienapostolat in der konkreten Situation des sozialistischen Staates. Zu den wichtigsten Dokumenten, welche von der Kommission ausgearbeitet wurden, zählt man das "Direktorium für das Laienapostolat in Polen"22 sowie "Die seelsorglichen Weisungen für die Pfarräte"23. Die Vorbereitung und Ausfertigung dieser und anderer Dokumente wurde von Kardinal Wojtyla persönlich angeregt. Sie zeichnen sich durch eine echte seelsorgerische Prägung aus. Der erste Teil wird regelmäßig der Konzilslehre gewidmet. Bei der Ausfertigung der Dokumente wurde das Gedankengut des Vorsitzenden, der sich an der Arbeit der Kommission beteiligt hatte, in großem Maße verarbeitet. Der Kardinal kümmerte sich besonders um die Ausarbeitung eines eigenen polnischen Modells der Laienpromotion und des Laienapostolates. Es kam ihm besonders darauf an, daß die kirchliche Promotion der Laien nicht nur "nominal, sondern auch real erfolgte"24 und daß sie auch den Bedingungen und der Situation der Kirche in Polen genau entsprach. Aufstieg und Pro20

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!!

Ebd., S. 312. Ebd. Vgl. das Dyrektorium, in: E. Weron, Laikat i apostolstwo, Paris 1973,

S . 187 - 214. 23 Vgl. in: Wiadomosci Archidiecezji Warszawskiej, 1975, S. 3 - 8. U K. Wojtyla, Apostolstwo swieck:ich, in: Ateneum Kapl., 1968, S. 275. S'

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motion der Laien sollten sich auf das stützen, "was im Menschen das Tiefste und Unvergängliche ist, worin seine Menschenwürde besteht"25. Das war bereits eine Ankündigung von Gedanken, welche später in der Enzyklika "Redemptor Hominis" ihre volle Entwicklung fanden. 3. Studium über die Konzilsverwirklichung

Im Jahre 1972 erschien in Krakau das neue Buch von Kardinal K. Wojtyla unter dem Titel "Grundlage der Erneuerung. Studium über Verwirklichung des Vaticanum 11"26. Es ist außerhalb der polnischen Landesgrenzen wenig bekannt. Eine Übersetzung in andere Sprachen ist noch nicht erfolgt. Nach der Erklärung des Verfassers (im Einführungswort) sollte das Buch eine Art Schuldenbegleichung sein, das heißt jener Schulden, welche der Verfasser, als Teilnehmer des Konzils, gegenüber der kirchlichen Gemeinschaft und auch gegenüber dem Heiligen Geist aufgenommen hat27 . Der Bischof, als Teilnehmer des Konzils, ist qualifizierter Zeuge und Schuldner des Heiligen Geistes 28 . Der Verfasser des Buches fühlt sich besonders zur Bezeugung des Glaubens verpflichtet. - Das erwähnte Buch ist weder ein Kommentar der Konzilstexte noch ein wissenschaftliches Studium über das Konzil. Es ist vielmehr - wie es der Verfasser selbst nennt - ein "Versuch der Initiation"29 zur Konzilslehre, zu ihrem Geist und zu der Möglichkeit ihrer Verwirklichung, besonders zu den Bedingungen der Kirche in Polen. In der Tat handelt es sich bei diesem Buch um eine tiefe und originelle Vision der Ergebnisse des 11. Vatikanischen Konzils sowie der Postulate zu seiner Verwirklichung. Schon die Titel der Hauptteile und die Überschriften der Kapitel sind beachtenswert. Im ersten Teil des Buches spricht der Verfasser "über die fundamentale Bedeutung der Initiation in die Gedankenwelt des Konzils als Mittel der Glaubensbereicherung"3o. Im zweiten Teil ist die Rede von der "Bewußtseinsgestaltung"31 der Mitglieder des Volkes Gottes. Der Inhalt des dritten Teils handelt von "der Glaubenshaltung"32. Es geht hier um solche Haltungen wie: Missionar- und Teilnehmerhaltung, Verantwortungshaltung, ökumenische, apostolische Haltung usw. Dabei ist zu bemerEbd. K. Wojtyla, U podstaw odnowy. Studium 0 realizacji Vaticanum II, wyd. Polskie Towarzystwo Teologiczne, Krok6w 1972, S. 367. 27 Ebd., S. 6. 28 Ebd. 2V Ebd., S. 7. 30 Ebd., S. 11 - 35. 31 Ebd., S. 37 - 173. 32 Ebd., S. 175 - 356. 25

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ken, daß der Verfasser einen großen Unterschied zwischen traditionellen Begriffen (z. B. Tugend, Habitus) und modernen Haltungen anerkennt. Als Ziel aller solchen Haltungen führt man "den Bau der gemeinschaftlichen Kirche"33 vor Augen. Im Gemeinschaftsideal der Kirche, so meint der Kardinal, wird "die Synthese von Strukturen und Haltungen verwirklicht"34. Vor dem Hintergrund des konziliären und gemeinschaftlichen Kirchenbildes behandelt der Verfasser das Laienapostolat, welches als Teilnahme am priesterlichen, prophetischen und königlichen Amt Christi verstanden wird. Das eigene Laienapostolat wird von Kardinal K. Wojtyla vor allem mit "munus regale"35, das ist die Teilhabe am königlichen Amt Christi, verbunden. Im Rahmen des "munus regale" bringt der Verfasser das Apostolat der christlichen Eheleute und Eltern ein36 . Zugleich stellt er die Verantwortung der Weltlaien für die Kulturschöpfung37 sowie für die ökonomischen und sozialen Bedingungen in der Welt dar. Die bloße Anwesenheit und das Lebensapostolat der Laien in den erwähnten Bereichen genügt von sich aus nicht. Unentbehrlich ist auch das Zeugnis des Lebens und des Wortes, welches im brüderlichen Dialog mit den Andersglaubenden und Nichtglaubenden sichtbar wird. Diese apostolische Haltung der Weltchristen bedeutet ihre "schöpferische Einwurzelung im Leben, in der Kultur, in der Tätigkeit der Gemeinde und in der Epoche"38. Als vorrangige Bedingung, auch für ein erfolgreiches Laienapostolat, soll der Gleichklang zwischen Leben und Glauben gelten. Diese Bedingung "tastet den Persönlichkeitskern jedes Christen und nicht nur des Weltlaien ab"39. Deswegen ist eine ständige Bildung der christlichen Persönlichkeit unentbehrlich. In der apostolischen Bildung der Laien muß "der weltbezogene Eigencharakter (indoles saecularis) des Laientums"40 beachtet werden, von welchem die Laienspiritualität ihre besondere Prägung erhält (vgl. AA, 29). Diese Bildung zum Apostolat soll also die ganze Persönlichkeit des Weltchristen erreichen und durchdringen. Es ist die Aufgabe vor allem der christlichen Familie, ihre Kinder von klein auf zu befähigen, die Liebe Gottes zu allen Menschen immer mehr zu erkennen und sich dadurch zum Apostolat vorzubereiten. Der Kardinal von Krakau hat die unersetzliche Rolle der christlichen Ehe und Familie immer geachtet 33

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Ebd., S. 315. Ebd., S. 317. Vgl. ebd., S. 227, 299. Ebd., S. 254 n. Ebd., S. 257 nn. Ebd., S. 30l. Ebd., S. 302. Ebd., S. 310.

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und betont41 • Diese ständige Fortbildung in der Familie wird auf dem Wege der lebendigen Wertvermittlung zwischen den nachfolgenden Generationen verwirklicht. Obwohl Kardinal Wojtyla sich inseinem Buch sehr oft auf die Konzilsdokumente beruft, spürt man fast bei jeder Seite, daß es keine Wiederholung der Konzilsgedanken gibt. In der Tat ist das wirklich eine "Initiation", d. h. eine Eindringung in die tieferen Schichten der Konzilslehre und in das Gebiet, das nur dem Teilnehmer des Konzils bekannt ist. Es handelt sich um jene Deutungen und Intentionen, welche an das Tageslicht gebracht werden, damit nicht nur der Buchstabe, sondern auch der Geist des VaticanumII verwirklicht werden kann.

4. In der Zeit der Bischojssynode Die Begabung des Kardinals zum schöpferischen· Denken wurde zur Zeit der IV. Bischofssynode in Rom (1974) hochgeschätzt. So wurde ihm die schwierige Aufgabe einer Art Bilanzierung der synodalen Arbeit anvertraut42 • Im theologischen Referat, das in einer Session gehalten wurde, hat der Kardinal von Krakau die unersetzliche Rolle des Laienturns im Apostolat der Kirche hervorgehoben43 • Diese Rolle wird von ihm mit einem "königlichen Amt" verbunden44 • Es ist bemerkenswert, daß auch in der päpstlichen Adhortation "Evangelii nuntiandi" (vom 8. XII. 1975) das eigene Laienapostolat in der Welt (vor dem Assistenz apostolat) dargestellt wurde 45 • Auch die besondere Geltung der christlichen Familie wurde hervorgehoben.

5. Exerzitien im Vatikan Im Jahre 1976 hat Paul VI. Kardinal K. Wojtyla die Leitung der geistlichen übungen zur Fastenzeit im Vatikan anvertraut. Obwohl das Thema der Exerzitien nicht viel mit dem Laienapostolat zu tun gehabt hat, sind dennoch in den Konferenzen einige Elemente der Lehre über die Laien zu finden 46 • Man spürt in Aussagen des Kardinals die charakteristische Prägung seiner Gedankenwelt. Wenn er z. B. in einer Kon41 Ebd., S. 311. Vgl. auch: K. Wojtyla, Mitose i odpowiedzialnose. Studium etyczne, Lublin 1960. 42 AAS, 1974, 339 - 417; polnische übersetzung: Ewangelizacja wsp61czesnego swiata. Relacja teologiczna ... na Synodzie Biskup6w 1974. Tlumaczyl Apoloniusz Zynel, in: Znak, 1975,415 - 439. 43 K. Wojtyla, Ewangelizacja wsp6lczesnego swiata, in: Znak, 1975, S. 426. 44 Ebd., S. 438. 45 AAS, 1976, 59, n. 70. 48 K. Wojtyla, Znak, ktoremu sprzeciwiae siE: bE:dq, Pallottinum, PoznailWarszawa 1976.

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ferenz über das hierarchische und allgemeine Priestertum (sacerdotium commune) spricht, wird die Konzilslehre auf seine originelle Weise gedeutet: "Im Lichte der Konzilsdoktrin enthält das Priestertum in sich einige Elemente der Laizität und ist also etwas Konstitutives (Wesenhaftes) im Laientum geworden. Das ist die unbestreitbare Wahrheit in der Konzilslehre" - sprach Kardinal K. Wojtyla weiter -, "welche in einzelnen Dokumenten viele Anwendungsmöglichkeiten gefunden hat, so im IV. Kapitel der Konstitution Lumen Gentium (30 - 38), als auch im Dekret über das Laienapostolat (AA, 3) und anderswo (vgl. Sacrosanctum Concilium, 14; Presbyterorum Ordinis, 2; Ad Gentes, 15). Jedoch ist das Konzil nicht desto minder in der Richtung etwaiger ,Laisierung' oder Laizität des Priester- und Ordens standes gegangen"47. Die Konzilslehre über das allgemeine Priestertum führt doch nicht zu irgendeiner Gleichschaltung mit dem "Laientum", obwohl der ganze Reichtum der Laienberufung in der Kirche hochgeschätzt wurde. "Das Wesenhafte der Konzilslehre ist vielmehr tiefer ... und vielmehr größer geworden. Damit man das Wesenhafte herausbringen kann, muß man von neuem zum ,Menschengeheimnis' durchgreifen, so wie es im Geheimnis des Fleisch gewordenen Wortes eingeschrieben ist48 ." - Da finden wir diese Gedankengänge, welche den vollen Ausdruck im späteren päpstlichen Schreiben an die Priester (am Gründonnerstag 1979) erhalten49 . In der XVI. Konferenz, die der Gewissensbildung gewidmet ist, schenkte der Kardinal wieder seine Aufmerksamkeit dem Konzilsbegriff "munus regale"; dieses Amt soll vor allem nicht als Regierungsanspruch, sondern vielmehr als Ausdruck der königlichen Menschenwürde verstanden werden50 • Dieses "Königtum" ist in das Menschentum und in die Persönlichkeitsstruktur eingeschrieben. Das Konzil sagt: "Die Gläubigen müssen also die innerste Natur der ganzen Schöpfung, ihren Wert und ihre Hinordnung auf das Lob Gottes anerkennen ... Sie sollen einen gültigen Beitrag leisten, damit die geschaffenen Güter gemäß der Ordnung des Schöpfers und im Lichte seines Wortes durch menschliche Arbeit, Technik und Kultur . .. entwickelt und besser unter ihnen verteilt werden" (LG, 36)51. Kardinal K. Wojtyla verknüpfte immer das eigene Laienapostolat mit der Verwirklichung "des königlichen Amtes" Christi und führte es zur konsekratorischen Funktion der Laien in der Welt zurück. In keinem Fall kann das als eine Tendenz zur Verringerung der LaiensteUung im Apostolat der Kirche gedeutet werden . . . 47 48

Ebd., S. 99. Ebd., S. 99.

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AAS, 1979, 393 - 417; Polnische übersetzung, in: Tygodnik Powszechny. K. Wojtyla, Znak, ktoremu sprzeciwiac siE: bE:d!\, Poznan - Warszawa

5\

Ebd., S. 106.

49

1976, S. 105.

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Eugeniusz Weron

Als der Kardinal als Seelsorger in einer großen Versammlung der Männer und der männlichen Jugend in Kalwaria Zebrzydowska (Wallfahrtsort in Südpolen) über die Katechese eine Ansprache hielt, betonte er, daß die katechetische Funktion zur Aufgabe der gesamten Kirche gehöre und daß in dieser Funktion auch die Laien einen besonderen Anteil haben müßten. Vor allem die christlichen Eltern sind zu Katechisation ihrer Kinder verpflichtet. Sie sollen auch zur Unterstützung der seelsorglichen Bemühung ihrer Priester beitragen52 . Die Mitarbeit der Laien wird ebenfalls in der katechetischen Belehrung der Erwachsenen unbedingt gefordert 53 .

6. In der Synode der Krakauer Erzdiözese Ein großes Ereignis, auch aus der Sicht des Laienapostolates, ist die Seelsorgerische Synode der Krakauer Erzdiözese gewesen. Die Synode wurde vom Kardinal K. Wojtyla anberaumt und organisiert. Sie dauerte sieben Jahre (1972 - 1979). Das war ein Ereignis ohne Beispiel in Polen. Es wurde absichtlich als Jubiläumsfeier der 900. Wiederkehr des Märtyrertodes des Hl. Stanislaus zur Erinnerung an dessen siebenjährige Seelsorge in der Erzdiözese Krakau (von 1072 - 1079) geplant. Bei der Eröffnung der Synode hat der Kardinal betont, daß diese eine Angelegenheit des gesamten Volkes Gottes sein muß54. "Wir verlangen" - so sagte der Metropolit von Krakau -, "daß im Rahmen der synodalen Arbeit eine tiefe Rezeption des Konzils verwirklicht wird; wir übernehmen das Ir. Vatikanische Konzil; wir übernehmen seinen Sinn: ... übernehmen, das heißt aneignen, in Besitz nehmen ...55" Die Synode sollte ein Werkzeug zur Glaubensbereicherung für jedes Mitglied des Volkes Gottes sein, sowohl für den Priester als auch für den Laien56 • Der seelsorglichen Synode wurde ausdrücklich auch ein anderes Ziel vorgestellt, nämlich die apostolische Aktivierung des Laienstandes. Infolge der mangelnden apostolischen Organisationen in Polen - sagte der Kardinal - müssen wir "auf anderen Wegen die Verwirklichung des Laienapostolates versuchen. Ich denke, daß die Synode, wenn sie gut fortgeführt wird, eben durch Studienverbände (welche meistens von den Laien besetzt sind, E. W.) ein vortreffliches Werkzeug des Laienapostolates werden kann"57. In der Tat, zur Dauerzeit der Synode K. Wojtyla, 0 katechizacji, in: Tygodnik Powszechny, 1977, nr. 30, 1487. Ebd. 5f K. Wojtyla, Przem6wienie na otwarcie Synodu Archidiecezji Krakowskiej, 8. V. 1972, in: Notificationes e Curia Crac., 1972, nr. 6/8, S. 153 - 158. 55 Ebd., S. 154. 58 Ebd., S. 156. 57 K. Wojtyla, Slowo wygloszone podczas spotkania kierownik6w synodalnych zespol6w studyjnych, in: Notificationes e Curia Crac., 1972, S. 251. 52 53

Johannes Paul II. über das Laienapostolat

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wurden viele hundert Studienverbände in Gang gebracht, welche nicht nur die Konzilslehre studierten, sondern zugleich im Geiste des christlichen Verantwortungsbewußtseins Vorschläge und Postulate über das Thema vorbereiteten, wie die Konzilsanordnungen in konkreter Situation der polnischen Kirche verwirklicht werden können. Die Krakauer Synode wurde offiziell am 8. Juni 1979 in der Erzkathedrale zum Abschluß gebracht. Die Abschlußrede hat der Urheber der Synode gehalten, welcher schon als Papst Johannes Paul Ir. nach Krakau gekommen war. In seiner Ansprache hat der Papst dann gesagt: "Zur Ausarbeitung der Beschlüsse und Dokumente sind wir den längeren Weg, aber dafür den besseren gegangen. Der Weg führte uns zuerst durch die Tätigkeit von hunderten synodaler Studienverbände, in denen diese große Gemeinschaft der Krakauer Kirche zu Wort gekommen ist. Wie bekannt ist, versammelten diese Verbände in beträchtlicher Zahl die katholischen Laien, welche hier einerseits die Möglichkeit der vollen Einführung in die Konzilslehre gefunden und andererseits die Möglichkeit der Aussprache auf Grund der Konzilslehre und des Erfahrungsaustausches ausgenutzt haben; sie hatten auch Gelegenheit, ihre Vorschläge zu formulieren, in denen sich ihre Liebe für die Kirche und das Verantwortungsgefühl für das ganze Leben der Krakauer Erzdiözese äußern konnte 58 ." Man kann also der Meinung sein, daß die Synode der Krakauer Erzdiözese einer Art Krönung und Spitzenleistung aller bisherigen Bemühungen von Kardinal K. Wojtyla geworden ist. Alle diese Anstrengungen sind der Verwirklichung der Gedankenwelt und der Vorsätze des Ir. Vatikanischen Konzils gewidmet worden. Die Synode war zugleich - was in der polnischen Situation eine Neuheit gewesen ist - ein Versuch der Aktivierung aller Mitglieder des Volkes Gottes unter besonderer Berücksichtigung der zahlreichen Kreise des polnischen Laientums. Ist das dem Krakauer Kardinal gelungen? Die Zukunft wird darauf eine Antwort geben. Man kann jedoch schon jetzt sagen, daß die polnische Pilgerreise des Papstes Johannes Paul Ir. im Jahre 1979 - wie das vorauszusehen war - in der Krakauer Erzdiözese den lebhaftesten Widerhall gefunden hat.

11. Papst Schon in den ersten Tagen seines Pontifikats begann Papst Johannes Paul Ir. die Verbindung zu verschiedenen Verbänden und Laienorganisationen herzustellen. In seinen zahlreichen Ansprachen zeigte er das 58 Przem6wienie Ojca sw. Jana Pawla 11 na zakonczenie Synodu Archidiecezji Krakowskiej, 8. VI. 1979 r., in: Nostra. Biuletyn Salezjanski, Krak6wt.6dZ 1979, S. 91; AAS, 1979, 853 S.

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Verhältnis der Laien zur Sendung der Kirche auf. So brachte er z. B. den Diplomaten und Staatsmännern die Verpflichtung in Erinnerung, für Frieden und Gerechtigkeit zu sorgen59 • Den Journalisten zeigte er den gemeinsamen Dienst mit der Kirche an der Wahrheit auf und wies auf die Pflicht der möglichst genauen Information hinGO. Am 23. Oktober 1978 hob der Papst in einer Rede an die Teilnehmer der Generalversammlung der Internationalen Föderation der Katholischen Männer die Unersetzlichkeit des christlichen Lebenszeugnisses und zugleich die Notwendigkeit der apostolischen Tat der Männer hervor, damit die Kirche als das evangelische Ferment "die ganze Menschenfamilie durchdringen möchte"61. In der Ansprache an die Teilnehmer des Ur. Internationalen Kongresses für die Angelegenheiten der Familie62 lenkte er die Aufmerksamkeit auf die wesenhafte und unersetzliche Funktion der Familie in der menschlichen und christlichen Erziehung. Wichtige Elemente der kirchlichen Lehre über die Bedeutung des Laienapostolates sind in einer Rede an die Vertreter von 78 italienischen Organisationen des Laienapostolates zu finden 63 . In der Anknüpfung an die Konzilslehre erinnerte der Papst daran, daß das Laienapostolat von der Haltung und vom Geist der Dienstbereitschaft geprägt sein muß64. Anläßlich des Besuches seitens der Repräsentanten der verschiedenen weltlichen Berufe, wie z. B. Arbeiter 65 und Ärzte 66 , hob der Papst die Würde und Wert der menschlichen Arbeit hervor, welche vom Papst als Mitwirkung mit dem Schöpfer-Gott gesehen wird. Die menschliche Arbeit bietet zugleich die Gelegenheit zur Erreichung der höheren Stufen der christlichen Lebensvervollkommnung. Den Medizinern hat er die Verteidigung des menschlichen Lebens vom Moment der Empfängis an ans Herz gelegt.

1. Zur Zeit der Mexik01·eise Das Hauptziel dieser Reise war die Eröffnung der IH. Konferenz der Episkopate von Lateinamerika. Bei dieser Gelegenheit hielt der Papst etwa dreißig Ansprachen an verschiedene Kreise der Katholiken, Angehörige von fast allen Lebensständen und sozialen Bevölkerungsschich59 60 61 62

63 64

6:; 88

Französisch, in: Osservatore Romano, 21. X. 1978. Oss. Rom., 21. X. 1978. Oss. Rom., 29. X. 1978. Oss. Rom., 30./31. X. 1978. Oss. Rom., 27.!28.!XI. 1978.

Ebd.

Oss. Rom., 9./10. XII. 1978. Oss. Rom., 29. XII. 1978.

Johannes Paul II.über das Laienapostolat

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ten. In der Kathedrale von Oaxaca67 stellte er fest, daß die Laien in der Kirche als Vorhut ("Protagonisten") gelten dürfen und daß sie sich um die Erneuerung bemühen müssen, das heißt, daß sie nicht nur für die Menschenerneuerung, sondern auch für die der irdischen Wirklichkeiten sorgen sollen68 . Der Papst brachte von neuem in Erinnerung, daß die Laien schon durch ihre aktive Präsenz als Gläubige in der Welt "schrittweise die Weltkonsekration für Gott verwirklichen können"69. Er begründete in seiner Rede die Pflicht des Laienapostolates durch das Verhältnis der Laien zum Geheimnis des fleischgewordenen Wortes. Dieses Geheimnis wird ständig in der sakramentalen Dimension der Kirche verwirklicht. Durch die Fleischwerdung des Sohnes Gottes und durch die erlösende Tätigkeit der Kirche wird das Werk der "Rekapitulation" der Schöpfung, d. h. die Rückkehr der ganzen Welt zu Christus als Haupt des Universums" (vgl. Eph. 1, 10), verwirklicht. In diesem Zusammenhang muß das Laienapostolat als Werkzeug und Hilfe zur christlichen Erneuerung der "Menschen und der irdischen Wirklichkeiten" betrachtet werden70 • Die Begründung des Laienapostolates durch die Verknüpfung desselben mit dem Geheimnis der Menschwerdung und der Rekapitulationslehre ist eine Neuheit, welche in der Konzilsdoktrin noch nicht ausdrücklich erwähnt wurde. Auf der Grundlage solchen theologischen Verständnisses des Laienapostolates gab Papst Johannes Paul II. mehr praktische und konkrete Belehrungen. Eine gute Gelegenheit bot sich dazu beim Zusammentreffen mit den Repräsentanten der katholischen Organisationen des mexikanischen Laientums71 • Dabei zeigte er den Laien verschiedene Bereiche und Probleme auf, welche den Einsatz der Weltchristen dringlich erfordern. Zu diesen Bereichen gehören die apostolische Aktivierung der Familie, die apostolische Präsenz der Laien in der Universitätstätigkeit, in der Arbeiterwelt, in der Technik, in der Bauernwelt, in der Kultur und in der Kunst, bei der Jugend, im Schulwesen, im Gesundheitsdienst, in den Internationalen Organisationen USW. 72 • In der Ansprache an die Teilnehmer der Konferenz der Bischöfe von Lateinamerika in Puebla73 richtete der Papst seine Aufmerksamkeit auch auf die Rolle und Funktion der Laien in der seelsorgerischen Oss. Rom., 31. 1. 1979. Ebd. 69 Ebd. 10 Ebd. 11 La Documentation Catholique, 1979, S. 176 n. 12 Ebd. 13 Spanisch, in: Oss. Rom., 29.130. I. 1979; französisch, in: La Documentation Cath., 1979, S. 164 - 172. &1

88

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Planung der Kirche. Die Aufgabe der Laien ist es vor allem, zur Heiligung der Welt gewissermaßen von innen her beizutragen (LG, 31), d. h., durch das Familienleben und durch die Verrichtung der weltlichen Berufe daran mitzuwirken 74 • Der Papst erinnerte sehr kategorisch an die Treue gegenüber der katholischen Soziallehre. Doch soll die Anwendungsweise der Doktrin in allen Gebieten des sozialen und politischen Lebens schöpferisch und erfinderisch durchdacht werden. Die Soziallehre soll nicht nur eine Hilfe für die Gewissensbildung sein, sondern auch als Werkzeug in der praktischen Tätigkeit ihre Anwendung finden. Das geht besonders und offensichtlich die christlichen Laien an. Denn diese sind dazu berufen, ihren Beitrag zur Verteidigung der Menschenwürde und Menschenrechte zu leisten75 . Am Schluß der großen programmatischen Rede an die Teilnehmer der IIr. Konferenz der Bischöfe in Puebla hob Johannes Paul Ir. einige Aufgaben hervor, welche in der Pastoral planung unbedingt als an erster Stelle beachtet werden müssen. Zu diesen vorrangigen Aufgaben gehört die pastorale Betreuung der Familie, mit der Begründung, daß die Evangelisation der Zukunft vor allem von der "Hauskirche"76, d. h. praktisch von den Weltchristen abhängen wird. Denn die Familie ist die Schule der Liebe, der Gotteserkenntnis, der Lebensschätzung und der Menschenwürde 77 • Auf diese Problematik ging der Papst erneut in seiner ersten Enzyklika ein.

2. Im Lichte der Enzyklika "Redemptor Hominis" Wie schon bekannt, betrifft das Hauptthema der päpstlichen Enzyklika die Menschenwürde und Menschenrechte, und zwar die der Menschen, welche von Christus erlöst worden sind. Vor dem Hintergrund dieses Leitmotivs zeigt Johannes Paul Ir. die Sendung der Kirche in der Welt aus dieser Zeit auf und erläutert die Aufgaben, die sich den Mitgliedern des Volkes Gottes stellen lassen. Die Laien erwähnt die Enzyklika nur insofern, als das Hauptthema das zugelassen hat. Deswegen spielen die gezielten Gedanken über das Laientum nur eine Nebenrolle. Trotz allem zeigt die Enzyklika ziemlich deutlich die Laienaufgaben und die Laienfunktion in etlichen bedeutenden Lebens- und Tätigkeitsproblemen der Kirche von heute auf. Zuerst erwähnt der Papst die Teilhabe der Laienchristen an der Kollegialität der Kirche. In der Enzyklika wird hervorgehoben, daß das 74

La Docum. Cath., 1979, S. 169.

Ebd., S. 172. 78 Ebd. 77 Ebd. 75

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Prinzip der kirchlichen Kollegialität "von Christus selbst dem Apostelkollegium der Zwölf mit Petrus als Haupt gestiftet wurde"78. Das Konzil hat dieses Prinzip der Kollegialität der Bischöfe nicht nur in Erinnerung gebracht, sondern auch neu belebt, indem es unter anderem die Neueinrichtung eines ständigen Organs angeregt hatte, das dann Paul VI. mit der Bischofsynode und anderen Beratungsgremien eingerichtet hat. Diese Beratungsorgane sind jetzt auf verschiedenen Stufen der Lebensorganisation in der Kirche tätig. Im Zusammenhang mit den genannten Strukturen der kirchlichen Kollegialität sagt Papst Johannes Paul 11., daß derselbe Geist der Zusammenarbeit und der Mitverantwortung "sich auch unter den Laien verbreitet hat, indem nicht nur die schon bestehenden Organisationen des Laienapostolates gefestigt wurden, sondern auch neue geschaffen worden sind, die oft ein anderes Profil und eine außergewöhnliche Dynamik aufweisen"79. "Ferner haben sich die Laien im Bewußtsein ihrer Verantwortung gegenüber der Kirche in Zusammenarbeit mit den Hirten und den Vertretern der Ordensgemeinschaften auch im Bereich der Diözesansynoden oder der Pastoralräte in den Pfarreien und in den Diözesen bereitwillig eingesetzt80 ." Es fällt nicht schwer zu erraten, daß es in der angeführten Aussage nicht nur um die Feststellung der Teilnahme der Laien an der Kollegialität geht, sondern daß es sich zugleich um die Richtlinie und Verhaltungsmaßregel für die Zukunft handelt. Der Papst stellt hier vielmehr die Weisung und Anregung zur vollkommener Verantwortung der Laien für die Kirche der Zukunft dar. Man spürt dabei, wie sich ein Wiederklang der Versuche und Unternehmungen des Papstes aus der früheren Periode der Zusammenarbeit mit den Laien im Rahmen der Krakauer Erzdiözesansynode bildet, worüber schon früher gesprochen worden ist. Indem der Papst, im Zusammenhang mit dem Menschenschicksal, über die Sendung der Kirche spricht, betont er die Verantwortung des gesamten Volkes Gottes für die Wahrheitsverkündigung. Das ist diese erlösende Wahrheit, die nicht nur in einer individuellen, sondern auch in der sozialen Dimension gelebt wird. Bei der Verkündigung dieser erlösenden Wahrheit "müssen wir schließlich die zahlreichen Laien erwähnen, die durch eine solche Tätigkeit den Glauben und ihre apostolische Verantwortung konkret vorleben"81. Die Verkündung der Glaubenswahrheit durch die Laien ist zum Zeugnis und zugleich zum Zei78 Ene. Redemptor hominis, AAS, 1979, 264; deutsche übersetzung, Libreria Ed. Vatieana.

79

80 81

AAS, 1979, 265.

Ebd.

AAS, 1979, 309.

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chen des Verantwortungsgefühls für das Schicksal der Kirche in dieser Zeit geworden. Unter den verschiedenen Formen der Wahrheitsverkündung durch die Laien wird an erster Stelle in der Enzyklika die grundlegende Form genannt, "die die Katechese in der Familie darstellt, das heißt die Katechese der Eltern für ihre eigenen Kinder, die die breite Teilnahme des ganzen Gottesvolkes am prophetischen Amt Christi aufweisen"82. Außerdem nimmt der Papst die Teilnahme der Laien an der Wahrheitsverkündung auch in zahlreichen anderen Gebieten wahr. Die Enzyklika spricht von Fachleuten der verschiedenen Disziplinen, von Vertretern der Natur- und Geisteswissenschaften, von den Ärzten, den Juristen, den Künstlern, den Ingenieuren und von den Lehrern der verschiedensten Grade und Spezialisierungen. Alle haben als Mitglieder des Volkes Gottes "ihren eigenen Anteil an der prophetischen Sendung Christi, an seinem Dienst für die göttliche Wahrheit. Das gilt schon für ihre lautere Einstellung zu jeglicher Wahrheit und immer dann, wenn sie andere zur Wahrheit erziehen und sie lehren, in der Liebe und Gerechtigkeit zu reifen"83. Wir haben es hier also ohne Zweifel mit dem erweiterten Blick auf die prophetische Funktion der Kirche zu tun. Solch ein breites Verständnis der Teilnahme der Laien am Apostolat der Kirche ist in der bisherigen Kirchenlehre nicht zu finden. Man darf darin die Einwirkung der persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse des Papstes erblicken. Er war zuerst als Handarbeiter im Steinbruch tätig, dann wirkte er als Künstler und Dichter,als Akademiker, Wissenschaftler und Seelsorger. In so vielen und verschiedenen Berufen konnte er entsprechende Erfahrungen sammeln und die vielfältigen Lebenswege kennenlernen, auf welchen Gotteswahrheit sich verbreitet, damit sie in das menschliche Herz eindringen mag. Verhältnismäßig viel Aufmerksamkeit wird vom Papst in seiner Enzyklika der Teilhabe der Laien am königlichen Amt Christi gewidmet. Jeder Christ - wenn er nur seiner Berufung treu geblieben istkann am Bau des mystischen Leibes Christi in der Gemeinschaft des Volkes Gottes mitwirken. Die Treue zur Berufung und die ständige Verfügbarkeit für den "königlichen Dienst" hat besondere Bedeutung in diesem vielfältigen und komplexen Bauwerk. Ebd. Ebd. d« AAS, 1979,318.

8%

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Durch die Treue zur eigenen Berufung - wie der Papst in seiner Enzyklika schreibt - müssen die Brautleute, die Eltern, die Männer und Frauen in den verschiedenen Lebenslagen und Berufen, angefangen bei denen, die in der Gesellschaft die höchsten Ämter innehaben, bis zu denen, die die einfachsten Arbeiten verrichten, ihr Leben einrichten. Dieses ist gerade das Prinzip jenes "königlichen Dienstes"84, der jedem von uns in der Nachfolge Christi die Pflicht auferlegt, von sich selbst genau das zu verlangen, zu dem wir berufen sind - zu dem wir - um auf die Berufung zu antworten - mit Gottes Gnade persönlich verpflichtet sind. Diese Treue zur Berufung, die wir von Gott empfangen haben, bringt jene solidarische Verantwortung für die Kirche mit sich, Zoll der das II. Vatikanische Konzil alle Christen erziehen Will 85 . Auf diese Weise wird vom Papst die Teilnahme am königlichen Amt Christi als Treue zu jenem "königlichen Dienst" gedeutet, dessen Beispiel und Modell uns von Jesus Christus gegeben worden ist86 . Wenn wir uns auf das Beispiel Christi stützen, können wir jene köngliche Würde und "Herrschaft" erreichen und so in jedem von uns "unser Menschsein voll entfalten"87. Dann wird auch von uns die Kirche gebaut und ein richtig verstandenes Apostolat verwirklicht.

3. Die schöpferische Anwendung der KonziZslehre Auch mit dem Verständnis der Teilnahme der Gläubigen am königlichen Amt Christi wird vom Papst eine vertiefende Reinterpretation der Konzilslehre versucht und verwirklicht. Ähnliche Bemühungen im Bereich der schöpferischen Anwendung und der Entwicklung der Konzilsdoktrin sind in manchen anderen Aussagen des Papstes festzustellen. In der Rede an die Teilnehmer des IV. Europäischen Symposiums der Nationalen Bischofskonferenzen hat er den Gedanken ausgesprochen, daß "die wesenhafteste Verwirklichung des 11. Vatikanischen Konzils nichts anderes ist als nur das beständig sich erneuernde Verantwortungsverständnis für das Evangelium, das Wort, die Sakramente und für das Erlösungswerk, das vom gesamten Gottesvolk auf eigene Weise nachgeprüft werden muß"88. In dieser Aussage hat der Papst seine Haltung gegenüber dem Konzilswerk und Erbe kundgetan. Auch der wagemutige Dialogversuch mit der kommunistischen Regierung in Polen (vom 2. bis 10. VI. 1979)89 sowie der Inhalt der 8:;

8e 87

~~ ~9

Ebd., 319. Ebd. Ebd. La Documentation Cath., 1979,665; Oss. Rom., 21. VI. 1979. Vgl. AAS, 1979, 726 - 884.

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päpstlichen Rede, die während der Herbstsession der UNO in New York 90 gehalten wurde, zeigen den Mut des Papstes, sowohl in der Aufnahme der Probleme als auch in der Suche nach neuen Lösungen91 • Unter Hinweis auf das bereits Gesagte ist zu bemerken, daß Papst Johannes Paul 11. noch kein ausführliches und allumfassendes Zukunftsbild von der Teilnahme der Laien an der Sendung der Kirche aufgezeigt hat. Man muß aber anerkennen, daß seine bisherige Lehre und sein unlängst begonnenes Pontifikat darauf hinweisen, daß er die unersetzliche Funktion der Laien im Leben der Kirche nicht nur bemerkt hat, sondern sich auch bemüht, den Laien den eigenen Weg und Platz in der Kollegialität der Kirche vor Augen zu stellen, und zwar genauer, als dieses das Konzil getan hat. Scharfsinnig zeigt er die Teilnahme der Laien an dem dreifachen Amt Christi mit der Berücksichtigung ihrer königlichen Funktion auf. Manchmal wird das Laienapostolat mit der Rekapitulationslehre verbunden. Besondere Aufmerksamkeit wird vom Papst den Aufgaben der Laien im Kulturbereich und der evangelisatorischen Sendung der christlichen Familie gewidmet. Alles das, was Bischof Karl Wojtyla gelehrt und getan hat - besonders als Vorsitzender der Kommission für Laienapostolat in Polen und als langjähriger Konsultor des römischen Consilium de Laicis, vor allem als Architekt der Krakauer Synode - läßt optimistisch voraussehen, daß die Sache des Laienapostolates in der Person des Papstes Johannes Paul11. nicht nur einen Verteidiger und Fürsprecher gefunden, sondern auch einen bewährten und wagemutigen Promotor erhalten hat.

Ansprache, den 2. X. 1979. Vgl. Ansprache zum Schluß der polnischen Pilgerreise bei dem Abschied am Flughafen am 10.6.1979, in: AAS, 1979, 883: "Dieses Geschehnis der päpstlichen Pilgerreise in Polen, ohne Präzedenzfall ... ist gewiß beiderseits ein Beispiel der Kühnheit gewesen. Solch ein Beispiel geziemt's für unsere Zeit. Es ist manchmal notwendig, auch in dieser Richtung zu gehen, nach welcher noch niemand gegangen ist." übersetzung aus dem Polnischen, E.W. 90

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SOZIALLEHRE DER KIRCHE UNTER PAPST JOHANNES PAUL Ir. Von Johannes Schasching SJ Diese Ausführungen sollen mit einer Vorbemerkung beginnen: In der Formulierung meines Themas heißt es absichtlich "Soziallehre der Kirche unter Papst Johannes Paul 11.". Das besagt mit anderen Worten : Wir haben noch nicht die Soziallehre dieses Papstes. Dafür ist sein Pontifikat zu kurz. Wir haben aber zwei Tatsachen. Die eine besteht im eindeutigen Bekenntnis des gegenwärtigen Papstes zu dem, was allgemein als Soziallehre der Kirche bezeichnet wird. Und zweitens: Die vielleicht noch wichtigere Tatsache besteht darin, daß Papst Johannes Paul II. seine gesellschaftspolitischen Stellungnahmen auf einer Grundoption aufbaut, auf die er immer wieder zurückkommt und die seiner Soziallehre ein ganz bestimmtes Gepräge gibt. Diese Grundoption ist nicht nur für das Verständnis seiner sozialen Botschaft, sondern für die Eigenart dieses Pontifikates insgesamt von wesentlicher Bedeutung. Dazu aber erscheint es wichtig, auf drei Erfahrungen hinzuweisen, die dieser Papst gemacht hat und die für die Grundlegung seines gesellschaftspolitischen Zentralwertes von ausschlaggebender Bedeutung sind. Die erste Erfahrung kann mit seinen eigenen Worten als die "fürchterliche Erfahrung" der Erniedrigung des Menschen bis in ungeahnte Abgründe bezeichnet werden. Während seiner Reise nach Lateinamerika sagte er wiederholt: Unsere Zeit mag die Epoche sein, die am meisten über den Menschen geredet und geschrieben hat. Aber sie ist trotzdem eine Epoche der Grausamkeit am Menschen wie kaum eine andere zuvor. Wenn Papst Johannes Paul 11. dies sagt, dann stehen vor ihm die erschütternden Ereignisse des Zweiten Weltkrieges, insbesondere jener in Polen. Aber es stehen vor seinen Augen auch die persönlichen Erfahrungen bis in die neueste Zeit hinein, die keineswegs auf ein einziges Land beschränkt bleiben, sondern, wie der Papst es formuliert, von verschiedenen politischen Systemen verübt und in verschiedenen Ländern begangen werden. "Dieser Preis darf doch nicht umsonst gezahlt worden sein!"l war sein Appell an die Vereinten Nationen. 1 Ansprache Papst Johannes Paul H. vor den Vereinten Nationen, in: Herder Korrespondenz 33 (1979), S. 556.

9 Festschrift Ross!

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Johannes Sehasehing

Eine zweite Erfahrung könnte man folgendermaßen formulieren: Johannes Paul Ir. kommt aus einem Land, in dem die Kir·ehe nur sehr begrenzt über eigene Institutionen verfügt und in dem ihr direkter gesellschaftspolitischer Einfluß äußerst gering ist. Und trotzdem kam es in PoIen zu keiner Trennung zwischen Kirche und Volk, und es kam vor allem nicht zu einer Trennung zwischen Kirche und Arbeiterschaft. Während es in den westlichen Ländern auch nach dem Zweiten Weltkrieg zu keiner neuen Begegnung zwischen Kirche und Arbeiterschaft kam, war die Verwurzelung der Kirche in den werktätigen Schichten der Bevölkerung Polens einer der Hauptgründe dafür, daß die Kirche nicht an den Rand des gesellschaftlichen Lebens abgedrängt werden konnte, sondern die entscheidende geistige Kraft des Landes blieb. Diese Tatsache gibt dem polnischen Katholizismus ein eigenes Selbstbewußtsein. Auch wenn die Katholiken über keine gesellschaftspolitischen Institutionen verfügen, so besitzt die Kirche trotzdem die Kraft, den Menschen religiös-sittlich zu prägen, und die so geformten Menschen bedeuten einen unabdingbaren Beitrag für das wirtschaftliche, soziale und kulturelle Leben des Landes. Diese Erfahrung von der Überlebenschance der Kirche in verschiedenen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Systemen und die Erfahrung der Notwendigkeit der christlichen Grundwerte für die Gestaltung des zwischenmenschlichen Lebens hatte einen tiefgehenden Einfluß auf die Grundoption des Papstes J ohannes Paul H.

Ich darf noch auf eine dritte Erfahrung hinweisen. Es ist auffallend, daß sich der Papst in seinem reichen Schrifttum vor der Wahl eigentlich wenig mit der Weltanschauung des Marxismus auseinandergesetzt hat. Er hat das auch in seinem ersten Jahr des Pontifikates nicht getan, obwohl dies von nicht wenigen erwartet wurde. Als er im Juni des vergangenen Jahres in seIner Heimat war, sprach er sehr bewußt davon, daß die Seele des geeinten Europa auch in Zukunft das Christentum bilden werde, daß es also kein geistig geteiltes Europa geben wird: eines, das aus dem Christentum lebt, und eines, dessen Seele der Glaube an den Marxismus als Weltanschauung ist. Es ist bekannt, wie kritisch gerade diese Aussage des Papstes im Osten aufgenommen wurde. Aber das ändert nichts an der Überzeugung des Papstes, daß andere Weltanschauungen zwar imstande sind, wirtschaftliche, soziale und politische Systeme zu erstellen und aufrecht zu erhalten, daß es ihnen aber nicht gelingt, von den Massen der Bevölkerung als Lebensbegründung und Sinndeutung angenommen zu werden. Diese persönliche Erfahrung begründet die Zuversicht des Papstes über die Zukunft der Kirche und des Christentums. Allerdings einer Kirche, die sich gerade im Anblick des weltanschaulichen Vakuums ihrer besonderen Aufgabe bewußt bleiben muß, wie sie im Zweiten Vatikanischen Konzil formuliert wurde.

Soziallehre der Kirche unter Papst Johannes Paul 11.

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Die "fürchterliche Erfahrung des erniedrigten Menschen", das Wissen um das Durcl1haltevermögen. der religiös-sittlich geformten Menschen und die Überzeugung von der Unablösbarkeit des Christentums als Weltanschauung sind die drei Leitlinien, die auf die Grundoption des Papstes Johannes Paul 11. hinführen. Es wäre selbstverständlich möglich und vielleicht auch notwendig, diese drei Erfahrungen näher zu hinterfragen. Aber das ist nicht die Aufgabe dieser kurzen Ausführungen. Was aber diese drei Erfahrungen im letzten gemeinsam haben, ist die Begründung des gesellschaftspolitischen Grundwertes des Papstes Johannes Paul 11., den er selbst als die Verantwortung für den Menschen bezeichnet. Es ist bekannt, daß sein erstes Rundschreiben diesem Thema galt. Dort stehen die bedeutsamen Worte: "Der Mensch ist der Weg der Kirche"2. Er bestimmt im letzten alle Wege, auf denen die Kirche wandert. Vielleicht darf gerade hier eingefügt werden, daß dieser Zentralwert Mensch für Johannes Paul 11. kein theoretischer Begriff bleibt, sondern zur gelebten Alltagspraxis geworden ist. Wer seine regelmäßigen Sonntagsbesuche in den römischen Pfarren miterlebt hat, weiß, daß der Kontakt zu den Menschen, und zwar zu allen Schichten der Bevölkerung, die pastorale Stärke dieses Papstes darstellt. Was aber für diesen Zentralwert entscheidend ist, drückt er mit dem Wort vom "unverstümmelten Menschen" aus, oder auch mit dem Wort: "die ganze Wahrheit vom Menschen". Das heißt mit anderen Worten: Der Papst kann den Menschen nur dann zum Grundwert und Träger des gesellschaftlichen Lebens, aber auch der gesellschaftlichen Ordnung machen, wenn dieser Mensch nicht nur ein Wirtschaftssubjekt und ein Gruppenwesen ist, sondern wenn in diesem Menschen auch seine geistige Zielbestimmung und sittliche Verantwortung ernstgenommen wird. Das ist nach Papst Johannes Paul 11. die "ganze Wahrheit vom Menschen"3. Das ist der Mensch, den es zu schützen und zu verteidigen gilt, der aber auch zu motivieren und zu formen ist. Dafür weiß sich die Kirche in besonderer Weise verantwortlich, und das kann sie in verschiedenen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Systemen leisten. Dieser so geformte Mensch wird auch imstande sein, die Herausforderungen dieser Welt zu beantworten und an einer menschenwürdigen Gesellschaft mitzuarbeiten4 • Es erscheint wichtig, diese im letzten sehr einfache Grundoption des Papstes Johannes Paul 11. klar zu formulieren. Alle Einzelaussagen erhalten von diesem Grundwert her ihre gesellschaftspolitische Einordnung. Daß sich Papst Johannes Paul 11. bereits zu sehr konkreten ge:... sellschaftlichen Herausforderungen zu Wort gemeldet hat, ist bekannt. 2

3 4 9·

Enzyklika Redemptor Hominis, Typis Polyglottis Vaticanis, S.49. Ebd., S. 40. Ansprache Papst Johannes Paul II. vor den Vereinten Nationen, S.559.

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J ohannes Schasching

Es soll nur kurz auf drei hingewiesen werden, die nach seiner Meinung für die Zukunft des Menschen von besonderer Bedeutung sind. Als der Papst bei seiner ersten großen Auslandsreise vor den Bischöfen Lateinamerikas die brennendsten Aufgaben für die nächste Zukunft formulierte, nannte er an erster Stelle die Verantwortung für die Familie. Das überrascht deshalb, weil man der Meinung sein konnte, daß er in Lateinamerika, einem Kontinent voll von sozialen und politischen Spannungen, zuerst auf diese Probleme eingehen würde. Aber weil für den Papst die Sorge um den Menschen so sehr im Mittelpunkt steht, weiß er, daß die Familie trotz aller Anfechtungen und trotz aller Veränderung für die geistige Grundformung des Menschen und für die freiheitliche Ordnung der Gesellschaft eine unersetzbare Kraft bedeutet. Die Verantwortlichen des öffentlichen Lebens forderte er damals auf, zum Hauptziel ihrer Bemühungen eine kluge, weitschauende und beharrliche Sozial- und Familienpolitik zu betreiben und zwar aus der Überzeugung, daß es hier um die Zukunft und die Hoffnung des Kontinentes geht. In dieser Sorge um die persönlichkeits- und gesellschaftsstiftende Kraft der Familie hat er die Bischofssynode im Oktober dieses Jahres mit dem Thema der Verantwortung für die Familie beauftragt. Man erwartet gerade bei dieser Gelegenheit eine grundsätzliche Aussage des Papstes über die Familie. Johannes Paul II. hat in den vergangenen Jahrzehnten des Grauens und der Verfolgung zu handgreiflich erlebt, was letztlich imstande ist, Unzumutbares zumutbar zu machen und Situationen zu überleben, die aussichtslos erschienen. Der Papst ist der Überzeugung, daß die Familienpolitik in den modernen Staaten einen viel zentraleren Platz einnehmen sollte. Weil die Sorge um den Menschen das Grundthema dieses Pontifikates darstellt, ist es für Papst Johannes Paul II. klar, daß sich diese Sorge vor allem dorthin zu wenden habe, wo die Zonen des Hungers, der Unterernährung, der Verelendung, der Unterentwicklung, der Krankheit und des Analphabetismus sind. Als er das Schicksal der Landarbeiter Lateinamerikas sah, sagte er: "Das menschliclle Gewissen, das Gewissen der Hilflosen und vor allem die Stimme Gottes, die Stimme der Kirche wiederholen mit mir: es ist nicht gerecht, es ist nicht menschlich und es ist nicht christlich, bestimmte Situationen aufrecht zu erhalten, die ganz klar unrecht sind5 ." Papst Johannes Paul II. weiß, daß die Frage der Dritten WeH ein komplexes Problem darstellt, für die es keine Patentlösung gibt. Aber er sagt eines mit überraschender Überzeugung: daß die heutigen "Strukturen und Mechanismen"6 wirtschaftlicher und politischer Art nicht imstande sind, die gigantische Vergröße5

6

Osservatore Romano vom 31. 1. 1979. Enzyklika Redemptor Hominis, S. 60.

Soziallehre der Kirche unter Papst Johannes PaullI.

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rung des biblischen Gleichnisses vom reichen Prasser und dem armen Lazarus zu beantworten. Und die Begründung? Diese Strukturen und Mechanismen sind so sehr auf den materiellen Interessen der Menschen der Industrieländer aufgebaut und daher von den materiellen Erwartungen dieser Menschen so abhängig, daß sie zu keinen langfristigen und tiefgreifenden Aktionen für die Dritte Welt imstande sind. Die Industrieländer sind bei den nun einsetzenden Verknappungen bestimmter Rohstoffe und Energiequellen bereits intern in großer Verlegenheit, weil sie die gesteigerten Konsumerwartnugen nicht mehr befriedigen können. Nimmt man dazu noch die. riesigen Ausgaben für Rüstungszwecke, die der Papst in diesem Zusammenhang eigens erwähnt, dann steht man mit Betroffenheit vor dem eigentlichen Dilemma: Wie sollen diese Menschen zu jenen noch größeren Opfern bereit gemacht werden, die für eine wirklich not-wendende Hilfe an die Dritte Welt nötig wären? Die Antwort des Papstes hat keineswegs nur Zustimmung gefunden, sondern zum Teil heftige Kritik ausgelöst: Man wird auf die Dauer weder die innerstaatlichen Wirtschaftsprobleme bewältigen noch die immer dringender werdenden Herausforderungen der Dritten Welt beantworten, wenn es nicht gelingt, in breiten Schichten der Bevölkerung eine Korrektur der einseitig materiellen Interessiertheit zu erreichen und ihnen dafür die geistige Wertbegründung zu geben. Für J ohannes Paul H. ist das nicht nur eine höchst aktuelle wirtschafts- und sozialpolitische Zielsetzung, sondern vor allem eine Forderung des Gewissens im Dienst des Menschen und, wie er immer wieder sagt, aller Menschen 7 • Eine dritte gesellschaftspolitische Stellungnahme Johannes Pauls H. darf nicht übergangen werden. Sie ergibt sich folgerichtig aus seiner Grundoption für den Menschen. Man könnte sie mit dem einen Wort bezeichnen: "Verteidigung der Menschenrechte". In seinem bereits mehrmals angeführten Rundschreiben Redemptor hominis spricht der Papst von der Erfahrung der letzten Jahrzehnte, daß wegen eines angeblich "höheren Gutes"8 die Rechte des einzelnen Menschen unterdrückt wurden, wobei sich dann immer wieder herausstellte, daß dieses angeblich "höhere Gut" nichts anderes war als der Machtanspruch einer Gruppe oder die Gewaltherrschaft einer Ideologie. Dies wird so lange weiter bestehen, als es nicht zu einem wirksamen Schutz der Menschenrechte kommt. Papst Johannes Paul H. anerkennt mit Dankbarkeit die Fortschritte, die auf diesem Gebiet erzielt wurden. Aber er sieht gleich7 "Das notwendige wirtschaftliche Wachstum mit seinen ihm eigenen Gesetzmäßigkeiten muß in die Perspektive einer ganzheitlichen und solidarischen Entwicklung der einzelnen Menschen und Völker einbezogen werden", sagt Papst Johannes Paul 11. in seiner Enzyklika Redemptor Hominis, S.62. 8 Ebd., S. 68.

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J ohannes Schasching

zeitig, daß. zwischen der Anerkenung des Buchstabens und der politischen Praxis ein krasser Unterschied besteht, so daß es immer noch Länder mit Menschen gibt, die ein Bürgerrecht zweiter Klasse haben. Eines ist für den Papst klar: Wo die Menschenrechte innerhalb eines Staates verletzt werden, werden sie auch einem anderen Staat gegenüber verletzt. Es geht dem Papst dabei wiederum nicht um die politische Seite dieser Frage, und er wiederholt in diesem Zusammenhang ausdrücklich die Worte des Zweiten Vatikanischen Konzils: "Die Kirche darf in keiner Weise hinsichtlich ihrer Aufgabe und Zuständigkeit mit der politischen Gemeinschaft verwechselt werden. Sie ist auch nicht an irgend ein politisches System gebunden. Sie ist aber Zeichen und Schutz der Transzendenz der menschlichen Person 9." Zusammenfassend könnte man folgendes sagen: Man tut sich noch immer schwer, Papst Johannes Paul Ir. "einzuordnen". Gilt das bereits für sein Gesamtpontifikat, so insbesondere für seine spezifische Stellung innerhalb dessen, was man allgemein als Katholische Soziallehre bezeichnet. Es wurde bereits gesagt, daß dafür sein Pontifikat noch zu kurz ist. So viel aber läßt sich zweifellos sagen: Papst Johannes Paul II. bekennt sich grundsätzlich zum gesellschaftspolitischen Lehrgut des Zweiten Vatikanischen Konzils. In seiner Gesellschaftsanalyse geht er nicht von großen Theorien und Systemen aus, sondern von sehr konkreten Erfahrungen, die er selber gemacht hat und die er reflektiert. Scheu vor Gesellschaftskritik kennt er nicht, hütet sich aber sehr, diese nur für einen Teil der Welt anzubringen. Er ist sich bewußt, daß die Kirche keine fertigen Lösungsmodelle für die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Probleme besitzt. Aber er bietet seine Hilfe und Mitarbeit an. Was ihn zu dieser Mitarbeit drängt, ist seine leidenschaftliche Sorge um den Menschen. Dieser Mensch steht heute innerstaatlich, aber noch mehr weltweit vor Bedrohungen und Herausforderungen, für die die bisherigen Mechanismen und Strukturen nicht ausreichen. Sie sind zu sehr auf einen verkürzten und verstümmelten Menschen ausgerichtet. Der ganze Mensch, d. h. der Mensch, der nicht allein aus materiellen Interessen, sondern mitmenschlich solidarisch und aus letzten geistigen Werten lebt, wird die bestehenden Mechanismen und Strukturen ändern, und er wird sie mit einem neuen Geist erfüllen. Ob diese Sicht vom unverkürzten Menschen nicht eine Utopie ist? Aber stellen wir die Frage umgekehrt: Gibt es im Anblick der uns bereits bekannten und der auf uns zukommenden Herausforderungen eine realistische Alternative? Papst Johannes Paul Ir. geht sehr bewußt diesen utopischen Weg des Menschen, weil er überzeugt ist, daß diese Utopie im Glauben gesehen eine Wirklichkeit besagt und darum möglich ist. 9

Enzyklika Redemptor Hominis, S. 45.

DAS PROBLEM DES KATHOLISCHEN VERBANDS WESENS· Von Bartolomeo Sorge SJ Das katholische Verbands wesen befindet sich seit dem Konzil in Entwicklung und hat seinen Weg immer noch nicht gefunden. Die traditionellen Verbände befinden sich praktisch alle in einer Krise oder sind - wie man sich auszudrücken pflegt - auf der Suche nach ihrer Identität: das gilt für die Katholische Aktion ebenso wie für die christlichen Arbeitervereine, für die Vereinigungen katholischer Universitätsstudenten genauso wie für die Pfadfinder. Gleichzeitig sind neue Bewegungen entstanden, die Programme und Formen vorschlagen, wie sie im katholischen Verbandswesen herkömmlicher Art bisher unbekannt waren und daher sowohl Bestürzung als auch Hoffnung hervorrufen. Am meisten Aufsehen hat die Bewegung "Comunione e Liberazione" erregt, die in wenigen Jahren besonders bei der Jugend und unter den Studenten eine ungeahnte Entwicklung genommen hat; ganz zu schweigen von jenen Gruppen und Bewegungen, die "am Rande der institutionellen Kirche" - wie sie selbst es formulieren entstehen oder sich sogar in Opposition zu ihr stellen: zum Beispiel die "Christen für den Sozialismus" und die sogenannten "Basisgemeinden". Was ist die Ursache dieser Gärungsprozesse? Welche Aussichten eröffnen sie für die Zukunft der Kirche? I. Eine Welt im Wandel

Die Ursachen für die Krise der "katholischen Welt" sind sehr komplex. Zunächst sind sie gewiß kultureller und gesellschaftlicher Art. Nicht umsonst hat das Konzil den Einfluß hervorgehoben, den die historischen Umstände und die sozio-kulturelle Entwicklung auf das Leben der Kirche ausüben: "Die Kirche geht den Weg mit der ganzen Menschheit gemeinsam und erfährt das gleiche irdische Geschick mit der Welt1." Wenn das schon immer zutraf, so heute ganz besonders. Denn die soziale, wirtschaftliche und politische Entwicklung unserer Zeit weist Merkmale auf, die es nicht zulassen, diese unsere Zeit als eine der vie-

* übersetzt von I

Ingrid Spath, Gaudium et spes, Nr. 40.

Rom.

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Bartolomeo Sorge

len "Übergangsperioden" der Menschheit zu betrachten. Alles berechtigt zur Annahme, daß wir uns mitten in einem Prozeß tatsächlicher "Umgestaltung" der Welt befinden. Nicht nur die Produktionsweisen ändern sich, sondern die Werte selbst sind in Umwandlung begriffen. Es verändern sich nicht nur die äußeren Beziehungen zwischen den Menschen, sondern das Bewußtsein des Menschen beginnt sich zu wandeln. Der Einfluß dieser "Umgestaltung" auf das moralische und religiöse Leben und auf die Kirche steht ohne Beispiel da. Die Bedeutung der Geschichte und der Zukunft, die Bedeutung des "Säkularen" und des Profanen - die die neue Kultur so tief kennzeichnen - ließen nicht nur beunruhigende Fragen und ungeahnte Perspektiven in der bürgerlichen Gesellschaft entstehen, sie leiteten offensichtlich auch in der Theologie und im Leben der Kirche einen ambivalenten und unvorhersehbaren Prozeß der Wachstums krise ein. "Es ist allen bekannt", - schrieb Paul VI. am Beginn seines Pontifikats - "daß die Kirche eingefügt ist in die Menschheit, an ihr teilhat, aus ihr ihre Mitglieder gewinnt, von ihr kostbare Kulturschätze übernimmt, ihr historisches Geschick erleidet, ihre Erfolge fördert. Nun ist es ebenso bekannt, daß sich die heutige Menschheit auf dem Wege großer Veränderungen, Umwälzungen und Entwicklungen befindet, die nicht nur ihre äußeren Lebensweisen zutiefst verändert, sondern darüber hinaus auch ihre Denkweisen. Ihr Denken, ihre Kultur, ihr Geist werden sowohl von dem wissenschaftlichen, technischen und sozialen Fortschritt als auch von den sie heimsuchenden und durchströmenden Richtungen des philosophischen und politischen Denkens zutiefst verändert. Das alles umzingelt und erschüttert gleich den Wogen eines Meeres auch die Kirche2 ." Wenn wir auch diese sozio-kulturelle Dimension, die der Krise zugrunde liegt, und mit der das katholische Verbandswesen zu kämpfen hat, nicht unterschätzen wollen, so glauben wir doch, daß es eine noch ausschlaggebendere Ursache für die gegenwärtige Unsicherheit in der "katholischen Welt" gibt. Wir möchten auf einige theologische Grundfragen hinweisen, die in den Jahren nach dem Konzil im Volk Gottes herangereift und bis jetzt für viele Christen ohne Antwort geblieben sind bzw. nicht völlig geklärt wurden. Wenn wir daher zu der in der Kirche aktuellen Diskussion über die Krise des katholischen Verbandswesens beitragen wollen, halten wir es für wichtig, die Aufmerksamkeit auf diese Grundfragen zu lenken, mit denen sich heute jede Bewegung der Katholischen Aktion oder christlicher Prägung überhaupt auseinanderzusetzen hat, wenn sie : Paul VI., Enzyklika Ecclesiam suam. Nr. 28 (vlZl. Civ. Catt. 1$164 III 423).

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in einer in radikaler Umformung begriffenen Welt ihre Identität bestimmen will. Auf diese Fragen beschränken wir uns also in unserer Analyse. 11. Eine neue Forderung nach Gemeinschaft Daß in unseren Tagen im Leben der Kirche ein neues Verlangen nach Gemeinschaft entstanden ist, ist eine unleugbare Tatsache. Man wird sie vielleicht verschieden deuten, aber sicher nicht übersehen können. Es wäre schwierig - und vielleicht unmöglich -, versuchen zu wollen, die unzähligen Formen auch nur zu beschreiben, unter denen außerhalb und innerhalb der Kirche diese Forderung nach Gemeinschaft auftritt, welche Gläubige und Nichtglaubende an die Hierarchie, an die Laien, an das ganze Gottesvolk richten. Im wesentlichen verlangt man von der Kirche, daß sie "glaubwürdiger" sei, das heißt, sich konkreter und tiefer in die Geschichte und in das wechselvolle Geschick des Menschen eingestaltet und sich ohne Furcht dem offenen Dialog mit allen Ideologien unserer Zeit öffnet. Man betont die Notwendigkeit, jede noch vorhandene Form einer "entfremdenden Religiosität" zu überwinden; aus der christlichen Gemeinde kein Getto zu machen, sondern einen wirklichen Ort der Begegnung und des Dialogs, der allen Angehörigen der Kirche, allen Gläubigen, ja allen Menschen guten Willens offensteht. Es fehlt auch nicht an Leuten, die von der Kirche fordern, eine politische "Grundentscheidung" zu treffen, das heißt sich "in der Praxis" auf die Seite der Armen und Unterdrückten zu stellen, indem sie die unhaltbaren Formen angeblicher Neutralität aufgibt und die stillschweigende Duldung der bestehenden Machtverhältnisse einstellt. Solche und ähnliche Forderungen führen alle "Kontestatoren" in Mund und Feder. Aber nicht nur sie. Wenn diese Forderungen tausende Male mündlich und schriftlich wiederholt werden, sind sie in vielen Fällen nicht mehr als ein Slogan. Doch außer der ideologischen Entartung, der leidenschaftlichen Sprache und dem Unmut, mit dem solche Forderungen bisweilen vorgebracht werden, sind sie ein Anzeichen dafür, daß es in der Kirche ein neues Bedürfnis nach Glaubwürdigkeit und Gemeinschaft gibt, das sich nicht durch ein äußeres Aggiornamento der kirchlichen Strukturen allein erfüllen läßt. Die Forderung nach "einer neuen Weise, Kirche zu sein", ein in vieler Hinsicht doppeldeutiger Ausdruck, ist auch Zeichen einer echten Erwartung, die nicht enttäuscht werden darf. Die Irrtümer und Mißverständnisse, von denen diese Forderung begleitet wird, erlegen natürlich allen - besonders aber der Hierarchie - die ernste Pflicht der Unterscheidung der Geister auf. Aber sie berechtigen keinesfalls zu einer akritischen Gesamtablehnung.

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Das ist alles, was wir hier tun wollen, wenn wir uns darum bemühen, die theoretischen und praktischen Implikationen dieser neuen Forderung nach Gemeinschaft aufzudecken und zu analysieren, die unserer Meinung nach den eigentlichen Aspekt der Krise darstellt, unter welcher das katholische Verbandswesen leidet. An dieser neuen Forderung ist, wie wir glauben, der Geist Gottes nicht unbeteiligt, der heute auf Grund der Konzilsbeschlüsse von der Kirche eine größere Gemeinschaft mit den Menschen und mit der Welt verlangt, eine stärker gelebte Gemeinschaft der Christen untereinander und mit den Hirten innerhalb der kirchlichen Gemeinde, eine tiefere Verbundenheit der Gläubigen mit Gott und mit seinem Wort, der wahren Seele jeder Brüderlichkeit. Wir werden daher versuchen, uns an die weiteren Horizonte, wie sie das Konzil der Ekklesiologie und dem Einsatz der Christen eröffnet hat, zu halten, um sowohl die grundlegenden Fragen zu klären, in welchen die neue Forderung nach Gemeinschaft konkret zum Ausdruck kommt, als auch auf diese Fragen eine Antwort zu finden, die den katholischen Verbänden und Vereinigungen nicht nur den Schwung zu wirksamem Tun wiedergibt, sondern vor allem auch das theologische Gerüst, auf das sie nicht verzichten können.

III. Die neuen Horizonte der Ekklesiologie 'Zu den theologischen Errungenschaften des Konzils, die den größten Einfluß auf die Wachstumskrise des herkömmlichen katholischen Verbandswesens ausgeübt haben, scheinen uns vor allem folgende zu gehören: die Neubewertung der historischen Dimension der christlichen Heilslehre; das angemessenere Verständnis des Evangelisierungsauftrages der Kirche und seiner inneren Beziehung zur sozialen Förderung des Menschen; das reifere Bewußtsein dafür, daß wir Kirche sind als Gemeinschaft und Mysterium. Zunächst also die Neubewertung der historischen Dimension der christlichen Heilslehre. Die zum Konzil versammelte Kirche ist sich aufgrund der Feststellung der radikalen Veränderungen der Welt, des Menschen und seiner Werte in neuer Weise der geschichtlichen Dimen:si on des Heilsplanes bewußt geworden: "Das Wort Gottes, durch das alles geworden ist, ist selbst Fleisch geworden und ist, auf der Erde der Menschheit wohnend, als wirklicher Mensch in die Geschichte der Welt eingetreten, hat sie sich zu eigen gemacht und in sich zusammengefaßt3 ." 3

Gaudium et spes, Nr. 38.

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Menschheitsgeschichte ist Heilsgeschichte, es gibt also nicht zwei voneinander getrennte Geschichtsabläufe, sondern es ist eine einzige Geschichte, die sich ereignet. Daher ist die Menschwerdung Gottes das größte Ereignis der Geschichte, die alle in Raum und Zeit aufeinanderfolgenden Kulturen und Zivilisationen durchzieht und sich in ihnen verwirklicht. Der Glaube läßt .sich nicht auf die Form einer rein intellektuellen, zeitlosen und abstrakten Zustimmung zu den Wahrheiten des Credos reduzieren, er muß notwendig in die geschichtliche Verpflichtung zum Zeugnis und zur Rettung für die Brüder umgesetzt werden. In dieser ersten grundlegenden Errungenschaft des Konzils haben viele Probleme, die heute in der Kirche und in den katholischen Vereinigungen aufgebrochen sind, ihre Ursache: die Notwendigkeit, neue Beziehungen zur Welt, zu den verschiedenen Kulturen, Zivilisationsformen und Ideologien herzustellen und einen neuen Dialog aufzunehmen; die Notwendigkeit einer ständigen historischen überprüfung des eigenen Glaubens anhand der notwendigen Begegnung zwischen Gotteswort und den konkreten Problemen des Menschen und der Gesellschaft; die Dringlichkeit, für uns selbst und für die anderen z.u klären, worin der ursprüngliche und spezifische Beitrag besteht, den die Kirche - auf sittlich-religiöser Ebene und in der Folge davon aiUf sozialem Gebiet zu dem geschichtlichen Prozeß der umfassenden Befreiung und Rettung des Menschen leisten soll. Ausgehend von dieser Neubewertung der geschichtlichen Dimension des Heilsplanes reifte dann in der nachkonziliären Theologie ein gereifte res Verständnis über den Sinn der Evangelisierung und ihrer inneren Beziehung zur sozialen Förderung des Menschen heran. Das Konzil hat klar zwischen Evangelisierung und sozialer Förderung unterschieden. Die beiden Begriffe decken sich nicht. Doch auch wenn sie klar unterschieden werden müssen, sind sie doch nicht voneinander zu trennen, sondern ergänzen sich gegensei tig: "Die ihr eigene Sendung, die Christus der Kirche übertragen hat, bezieht sich zwar nicht auf den politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Bereich: das Ziel, das Christus ihr gesetzt hat, gehört ja der religiösen Ordnung an. Doch fließen aus eben dieser religiösen Sendung Auftrag, Licht und Kraft, um der .menschlichen Gemeinschaft zu Aufbau und Festigung nach göttlichem Gesetz behilflich zu sein4 ." In diesem Sinne ist die diakonia, verstanden als Zeugnis und Dienst für die Brüder, wesentlicher Bestandteil der Evangelisierung, zusammen mit der Verkündigung des Wortes und der Spendung der Sakra4

Ebd., Nr. 42.

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mente. Ja, in einer Zeit der Säkularisierung, wie wir sie erleben, wird der enge 'Zusammenhang zwischen Evangelisierung und sozialer Förderung des Menschen besonders "bedeutsam" und trägt dazu bei, die Kirche als "Sakrament des Heiles" verständlich zu machen5 . Zugleich legt dieses angemessenere Verständnis des Evangelisierungsbegriffes klar an den Tag, daß die Evangelisierung die gemeinsame Aufgabe und Verantwortung des gesamten Gottesvolkes, der Hierarchie wie der Laien, darstellt: "Allen Christen ist die ehrenvolle Last auferlegt, mitzuwirken, daß die göttliche Heilsbotschaft überall auf Erden von allen Menschen erkannt und angenommen wird 6 ." Auch von dieser zweiten grundlegenden Errungenschaft des Konzils rühren einige wichtige Argumente der Diskussion innerhalb der heutigen Kirche und des katholischen Verbandswesens her. Die Neueinschätzung des Wertes und der Selbständigkeit der irdischen Realitäten und die soziale Verflochtenheit der Evangelisierung haben zu einer tiefgreifenden Meinungsänderung über die Beziehung zwischen Glaube und Politik geführt: darf die Kirche, während sie das Evangelium verkündet, nicht Politik treiben? Wenn die Verpflichtung zur Veränderung der Welt und der Strukturen der sozialen Unterdrückung einen wesentlichen Bestandteil der Verkündigung des Evangeliums bilden, sind dann die katholischen Verbände nicht verpflichtet, eine bestimmte politische "Option" zu treffen? Wie aber läßt sich dann die unabdingbare Einheit des Glaubensbekenntnisses mit dem notwendigen Pluralismus politischer Meinungen und mit der Gewissensfreiheit des Christen, der sie vollzieht, in Einklang bringen? Läuft man nicht vielleicht Gefahr, den Glauben auf eine Ideologie zu verkürzen und dadurch die Transzendenz unrettbar zu gefährden? Drittens hat uns die Konzilstheologie eine Erkenntnis, ein reiferes Bewußtsein vom Wesen der Kirche selbst als Gemeinschaft und Mysterium zugänglich gemacht. Wir alle verstehen und erleben die Kirche heute mehr als "Gemeinschaft" denn als "vollkommene Gesellschaft". Das Volk Gottes ist seinem Wesen nach eine "Gemeinschaft des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe"7 und wurde "von Christus als Gemeinschaft des Lebens, der Liebe und der Wahrheit gestiftet"8. Natürlich sind und bleiben die von Christus selbst gewollten Grundstrukturen für die Kirche als "sichtbare Versammlung", "in dieser Welt als Gesellschaft verfaßt und geordnet"9, wesentlich. Aber die Existenz5 Vgl. Gaudium et spes, Nr. 45; Lumen gentium, Nr. 1, 9, 48; SacTosanctum Concilium, Nr. 5; Ad gentes, Nr. 1, 5. 6 Apostolicam actuositatem, Nr. 3. Vgl. Ad gentes, Nr. 36. 1 Lumen gentium, Nr. 8. B Ebd., Nr. 9. 9 Ebd., Nr. 8.

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berechtigung kirchlicher Institutionen und damit das Kriterium für die Beurteilung ihrer Lebensfähigkeit liegt im wesentlichen darin, welche Funktion und welchen Wert sie der Verwirklichung des Mysteriums der Gemeinschaft der Menschen mit Gott und untereinander zuschreiben10 • Dieser grundlegende Aspekt von der persönlichen und gemeinschaftlichen Verbundenheit mit Christus, dem Haupt, und mit den Brüdern als den Gliedern eines einzigen Leibes bildet den zentralen Kern des Geheimnisses der Kirche und des Ostermysteriums. Die Folgen dieses Heranreifens eines Kirchenbewußtseins sind heute in der Kirche und in den katholischen Vereinigungen stark spürbar: die Autorität der Bischöfe wird eher als Dienst und Zeugnis verstanden denn als administrative oder bürokratische Notwendigkeit. Die Funktion der Laien - Männer und Frauen - im Leben der Kirche und bei der einen gemeinsamen Aufgabe der Evangelisierung wird zu einer echten, eigenen Sendung aufgewertet, die ihnen unmittelbar aus der Weihe der Taufe und aus der Verbundenheit mit Christus, dem Haupt, und nicht im Auftrag der Hierarchie zukommt: "denn durch die Taufe dem mystischen Leib Christi eingegliedert und durch die Firmung mit der Kraft des Heiligen Geistes gestärkt, werden sie (= die Laien) vom Herrn selbst mit dem Apostolat betraut"l1. Deshalb wuchs das Bedürfnis, auch innerhalb der Kirche neue Beziehungen der Zusammenarbeit und des Dialogs mit der Hierarchie herzustellen; die auf die Gemeinschaft des einen Glaubens gegründete, von der universalen und aufrichtigen Liebe beseelte und auf ein und dieselbe Hoffnung ausgerichtete, wahre "christliche Gemeinschaft" vollgültig zu verwirklichen, bei aller Verschiedenheit der Charismen, der Dienstämter und der konkreten Optionen. Das sind die neuen Horizonte, welche das erwachte Verlangen nach Gemeinschaft heute anbietet. In ihrem Licht werden die Grundfragen formuliert, die sich die katholischen Verbände und Vereinigungen hinsichtlich ihrer eigenen Identität und ihrer Stellung in einer zutiefst ver10 Diese besondere Natur der kirchlichen Institutionen wurde in einem Brief beleuchtet, den der damalige Kardinalstaatssekretär Villot im Namen des Papstes an den Präsidenten der "Sozialwochen Frankreichs" - über das Thema: Anfechtung und Erneuerung der Institutionen - sandte. Darin lesen wir: "Sie [die Kirche] ist mit sekundären Institutionsformen verbunden, die angepaßt, erneuert werden müssen, um in transparenter Form dem Ziel zu entsprechen, dem sie dienen soll - Ecclesia semper reformanda -, und eine wirksamere Gemeinschaft zu ermöglichen, in der jeder geliebt und anerkannt wird und an der jeder je nach seiner eigenen Funktion teilnimmt." Auch die primären und wesentlichen Strukturen der Kirche (die Lehrautorität des Lehramtes, das Priesteramt, der pastorale Vorsitz) haben eine Bedeutung, die über ihre bloß soziale Funktion hinausgeht: "sie sind Zeichen und Instrument der innigen Verbundenheit mit Gott" (Oss. Rom., 9./10. Mai 1975). 11 Apostolicam actuositatem, Nr. 3. Vgl. auch Nr. 6; Lumen gentium, Nr. 35; Dei verbum, Nr. 25.

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änderten sozialen und kirchlichen Umwelt vorlegen. Sie laufen im wesentlichen auf drei Fragen hinaus und lassen sich in der heute gängigen Sprache wie folgt formulieren: Einheit der Katholiken oder Verbandspluralismus? Soziale oder religiöse Grundentscheidung? Zusammenarbeit mit der Hierarchie oder Unabhängigkeit ihr gegenüber? Die überwindung der Krise des katholischen Verbandswesen verläuft, so glauben wir, notwendigerweise über eine theologisch fundierte Antwort auf diese Fragen. IV. Einheit und Pluralismus in der Kirche Das Problem, die Einheit des Glaubens- und Gemeinschaftsbekenntnisses mit der Vielfalt der konkreten Optionen, durch welche sich dieser Glaube und die Gemeinschaft äußern, in Einklang zu bringen, hat in der Kirche immer bestanden. Infolge der gesellschaftlichen, kulturellen und theologischen Entwicklung, auf die wir hingewiesen haben, ist das Problem heute jedoch besonders wichtig und akut geworden. Konkret wird jede Lösung, die darauf abzielt, die Einheit der Katholiken in den notwendigen Belangen mit dem möglichen Pluralismus der Wahlfreiheit in Einklang zu bringen, in den Zusammenhang der Lehre des Konzils über die Kirche hineingestellt, besonders in die theologische Reflexion über die Dienste und Ämter in der Kirche. Versuchen wir, die wichtigsten Elemente dieses theologischen Zusammenhanges kurz zu bestimmen. Das Konzil bekräftigt ohne Bedenken, daß der richtig verstandene Pluralismus im Leben der Kirche nicht nur seine legitime Berechtigung hat, sondern notwendig ist. Denn er ist Ausdruck ihrer Katholizität, ihrer Apostolizität, ja des unerschöpflichen Reichtums des Mysteriums Christi: "Alle in der Kirche sollen unter Wahrhung der Einheit im Notwendigen je nach der Aufgabe eines jeden in den verschiedenen Formen des geistlichen Lebens und der äußeren Lebensgestaltung, in der Verschiedenheit der liturgischen Riten sowie der theologischen Ausarbeitung der Offenbarungswahrheit die gebührende Freiheit walten lassen, in allem aber die Liebe üben. Auf diese Weise werden sie die wahre Katholizität und Apostolizität der Kirche immer vollständiger zum Ausdruck bringen!!." Für das Gottesvolk ist der Pluralismus also nicht eine passive, von der kulturellen Entwicklung auferlegte Notwendigkeit. Er ist vielmehr eine ursprüngliche und dynamische Forderung, die aus dem Wesen der Kirche selbst erwächst. Die Kirche ist ein Leib, gekennzeichnet durch eine Art "organischer Einheit", analog der dem lebendigen Organismus 12

Unitatis redintegratio, Nr. 4.

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eigenen Einheit, die sich aus der Harmonie und Mannigfaltigkeit der Glieder und ihrer Funktionen ergibt: "Die heilige Kirche ist kraft göttlicher Einrichtung in wunderbarer Mannigfaltigkeit geordnet und geleitet. Wie wir nämlich an dem einen Leibe viele Glieder haben, die Glieder aber nicht alle gleichen Dienst verrichten, so sind wir als viele ein einziger Leib in Christus, als einzelne aber untereinander Glieder (Röm 12,4 - 5)13." Die "organische Einheit" in der Kirche wird daher durch das Vorhandensein und das Zusammenwirken verschiedener Charismen und Dienste zum Ausdruck gebracht: Das heißt, durch die verschiedenen Gaben und Aufgaben, durch welche der eine Geist zum gemeinsamen Wohl und Nutzen des einen Leibes wirksam tätig ist. Die theologische Reflexion des Konzils kennt neben der Existenz der "geweihten Dienstämter" in der Kirche (also jener Aufgaben oder Ämter, die durch das Auflegen der Hände für immer verliehen werden) auch die Existenz neuer Dienstleistungen ("eingesetzte Dienstämter"), die sie mit der ganz eigenständigen und unersetzlichen Funktion der Laien im Leben der Kirche verbindet, die diese mit dem Sakrament der Taufe und der Firmung von Christus direkt empfangen haben: "Der Heilige Geist heiligt außerdem nicht nur das Gottesvolk durch die Sakramente und die [geweihten] Dienstleistungen, er führt es nicht nur und bereichert es mit Tugenden, sondern ,teilt den Einzelnen, wie er will', seine Gaben aus und verteilt unter den Gläubigen jeglichen Standes auch besondere Gnaden. Durch diese macht er sie geeignet und bereit, für die Erneuerung und den vollen Aufbau der Kirche verschiedene Werke und Dienste zu übernehmen 14." Die bis vor nicht allzu langer Zeit weitverbreitete Auffassung, nach welcher die Aufgabe und Verantwortung der Evangelisierung einzig und allein den "geweihten Dienstämtern" zukam, ist theologisch nicht haltbar. Heute zweifelt niemand mehr daran, daß die Laien kraft der Taufweihe sowie der ihnen eigenen Charismen und "eingesetzten Dienstämter" innerhalb der einen Sendung der Kirche einen ursprünglichen und wesentlichen Teil zu erfüllen haben: "Die geweihten Hirten wissen sehr gut, wieviel die Laien zum Wohl der ganzen Kirche beitragen. Sie wissen ja, daß sie von Christus nicht bestellt sind, um die ganze Heilsmission der Kirche an der Welt allein auf sich zu nehmen, sondern daß es ihre vornehmliche Aufgabe ist, die Gläubigen so als Hirten zu führen und ihre Dienstleistungen und Charismen so zu prüfen, daß alle in ihrer Weise zum gemeinsamen Werk einmütig zusammenarbeitenl ;." Lumen gentium, Nr. 32. Ebd., Nr. 12. Und in Nr. 7: "Er [Christus] selbst verfügt in seinem Leib, der Kirche, die Dienstgaben immerfort, vermöge deren wir durch seine Kraft uns gegenseitig Dienste leisten zum Heil." 15 Ebd., Nr. 30. 13

14

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Dieser Pluralismus von Funktionen, Ämtern und Aufgaben ist der Einheit der Kirche nicht nur nicht schädlich, sondern dient ihrer Verwirklichung. Denn alle Dienstämter - die "geweihten" wie die "eingesetzten" - sind für das Wohl des einen Leibes bestimmt. So werden durch die eine gemeinsame Bestimmung die verschiedenen Charismen und die verschiedensten Aufgaben und Entscheidungen in der "organischen Einheit" der Kirche in Einklang gebracht: "Wenn auch einige nach Gottes Willen als Lehrer, Ausspender der Geheimnisse und Hirten für die anderen bestellt sind, so waltet doch unter allen eine wahre Gleichheit in der allen Gläubigen gemeinsamen Würde und Tätigkeit zum Aufbau des Leibes Christi ... So geben alle in der Verschiedenheit Zeugnis von der wunderbaren Einheit im Leibe ChristP 8 ." Aus diesen Vorbemerkungen lassen sich zwei wichtige Schlußfolgerungen zu dem Problem ableiten, das uns hier beschäftigt, nämlich der Beziehung zwischen der Einheit des Glaubens und der Gemeinschaft und dem Verbandspluralismus der Katholiken.

V. Berechtigung und Grenzen des Verbandspluralismus Die erste Schlußfolgerung liegt in der theologischen Rechtfertigung der Legitimität des Verbandspluralismus in der Kirche, insofern er von der ihr eigenen organischen Struktur selber gefordert wird. Der Pluralismus hat seine Grundlage in dem unendlichen Reichtum des Geheimnisses Christi, er bekundet die Katholizität und Apostolizität der Kirche und kennzeichnet sämtliche Ausdrucksformen und Bereiche des kirchlichen Lebens: die theologische Forschung und die Liturgie, die Spiritualität und das Ordensleben, die kirchliche Disziplin und die Verbandsformen11 • Die zweite Schlußfolgerung, die sich aus der dargelegten Lehre ziehen läßt, betrifft die Grenzen der Legitimität des Verbandspluralismus in der Kirche. Denn aus der Lehre des Konzils und aus der theologischen Reflexion über die Dienstleistungen geht klar hervor, daß in der Kirche - dem einen mystischen Leib Christi - der Pluralismus Ebd., Nr. 32. Auch Paul VI. hat dieses "Bürgerrecht" in der Kirche allen Äußerungen eines gesunden Pluralismus ausdrücklich zuerkannt, "als natürlichen Bestandteil ihrer Katholizität wie auch Zeichen kulturellen Reichtums und persönlicher Verpflichtung für alle, die ihr angehören". Dieser Pluralismus setzt Paul VI. fort - "hat sein Fundament im Geheimnis Christi selbst, dessen unergründliche Reichtümer die Ausdrucksfähigkeit aller Epochen und aller Kulturen übersteigen ... In der Tat sind die Aspekte des Gotteswortes überaus vielfältig wie auch die Erklärungen der Gläubigen, die es erforschen, so daß die übereinstimmung in dem gleichen Glauben bei der Zustimmung des einzelnen niemals frei ist von persönlichen Besonderheiten" (Apostolisches Schreiben Paterna cum benevolentia, Nr. 4; dtsch. Ausgabe: "Wort und Weisung", Bd. 1 (1974), S. 519 - 520). 18 17

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niemals ein absoluter, selbständiger Wert, ein Selbstzweck ist. Er ist immer und wesentlich dem Wohl, der Einheit des ganzen Leibes, der Erfüllung der einen Sendung der Glaubensverkündigung untergeordnet und zu diesem 'Zweck vorhanden. Wenn also das der Kirche eigene Strukturgefüge einerseits die Notwendigkeit des Pluralismus begründet, so bestimmt sie doch andererseits unmißverständlich dessen Grenzen, indem sie seine notwendige Unterordnung unter die Einheit des Glaubens und der Gemeinschaft und unter das Wohl des ganzen Leibes verlangt. Wenn wir das auf unseren Fall anwenden, müssen wir sagen, daß die Einheit - der in der Kirche grundlegende Bedeutung zukommt legitimer Weise in verschiedenen Verbandsformen (Verbänden, Vereinen) erlebt und gelebt werden kann, jedoch unter der Bedingung, daß sie immer im Bereich des einen Glaubens und der Gemeinschaft der einen kirchlichen Institution bleiben. Der Bezug auf die institutionelle Einheit der Kirche wird somit - neben der Einheit im Glauben zum unersetzlichen Kriterium für die Feststellung und Gewähr der Authentizität und Legitimität jedes Verbandes, der als "christlich" bezeichnet werden möchte. Eben darum ist der "institutionalisierte Widerspruch" eine Entartung des Pluralismus in der Kirche. In dem Maße, in dem eine Gemeinschaft von Gläubigen aufhört, sich auf die Einheit des Leibes zu beziehen, indem sie sich "an den Rand" der einen kirchlichen Institution stellt, in dem Maße verliert sie ihre Daseinsberechtigung. Man kann dann nicht mehr von Pluralismus sprechen, sondern muß - wie es z. B. im Fall der sogenannten "Gemeinschaften im Widerspruch" zutrifft - von " Spaltung", von Zerstörung der Einheit des Leibes sprechen. Hier geht es um Formen, die gegen das Wesen der Kirche gerichtet sind, in deren organisches Gefüge sie den Keim der Zersetzung hineintragen. "Die inneren Gegensätze in den verschiedenen Bereichen des kirchlichen Lebens führen", - stellte Paul VI. bekümmert fest - "wenn sie sich zu einem Zustand der Absonderung verfestigen, dazu, der einen Institution und Gemeinschaft des Heiles eine Vielheit von ,Institutionen und Gemeinschaften mit abweichenden Meinungen' entgegenzustellen, die der Natur der Kirche nicht entsprechen. Durch die Bildung entgegengesetzter Gruppen und Parteien, die auf miteinander nicht zu vereinbarenden Positionen beharren, würde sogar das konstitutionelle Gefüge in der Kirche verloren gehen. Es kommt also zu einer ,Polarisierung der Meinungsverschiedenheiten' ... Diese Situation trägt die Keime der Auflösung in sich und führt diese, soweit das möglich ist, auch in die kirchliche Gemeinschaft18 ." Aber auch wenn die Daseinsberechtigung des Verbandspluralismus unter den Katholiken als ein konkretes Ergebnis des erweiterten theo18

Ebd., Nr. 5.

10 FestschrIft Rossl

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logischen Verständnisses über den Pluralismus in der Kirche als gesichert betrachtet werden kann, so bleibt doch noch eine zweite Frage offen: welches sind konkret die legitimen, zulässigen Formen, in welchen dieser VerbandspluraIismus sich ausdrücken kann?

VI. Religiöse Zielsetzung und soziale Zielsetzung Das Konzil bestimmt zwei verschiedene Weisen, in denen die Laien als einzelne oder als Mitglieder eines Verbandes - die von Christus der ganzen Kirche aufgetragene Aufgabe der Evangelisierung erfüllen können. Der Unterschied zwischen diesen beiden Weisen wird im allgemeinen auf Grund der verschiedenen Berufungen und der verschiedenen Charismen bestimmt, die jedem einzelnen innerhalb der einen Sendung des Volkes Gottes vom Geist zugeteilt werden. In erster Linie sind die Laien ohne Unterschiede, ob einzeln oder in Gruppen, dazu berufen, "die Kirche an jenen Stellen und in den Verhältnissen anwesend und wirksam zu machen, wo die Kirche nur durch sie das Salz der Erde werden kann"lD. In diesem Fall gelangt die den Laien eigene diakonia, das heißt ihre Teilnahme an dem Heilswerk der Kirche, in Form eines gesellschaftsbezogenen Einsatzes zur Verwirklichung: das Sich-Einfügen in das konkrete Leben der Menschen unserer Zeit, der Armen, der Unterdrückten; im Bereich der sozialen Konflikte, der Arbeiterklasse, der Bewegungen zur Befreiung des Menschen, des Berufslebens. Doch kraft einer besonderen Berufung oder eines besonderen Charismas sind manche Laien dazu berufen, ihren besonderen Beitrag zu der einen Sendung der Evangelisierung in Form eines direkt "religiösen und pastoralen" Einsatzes zu leisten. Diese besondere Berufung läßt diese Laien enger mit der eigentlichen Funktion der Hierarchie zusammenarbeiten und konkretisiert sich bisweilen in einem echten und eigentlichen "Dienst". Ein typisches Beispiel ist der Fall der Katholischen Aktion, die das Konzil als einen wirklichen Dienst neben den anderen in der Kirche offiziell anerkannten Ämtern ansieht: "Zur Einpflanzung der Kirche und zum Wachstum der christlichen Gemeinschaft aber sind verschiedene Dienste notwendig; durch göttliche Berufung werden sie in der Gemeinde der Gläubigen selbst geweckt, und sie müssen von allen sorgfältig gefördert und gepflegt werden. Dazu gehören das Amt des Priesters, des Diakons, des Katechisten und die Katholische Aktion20 " 19 20

Lumen gentium, Nr. 33.

Ad gentes, Nr. 15. In einer bedeutsamen Ansprache an die Katholische

Aktion Italiens (am 22. September 1973) hat Paul VI. ausdrücklich diesen der Katholischen Aktion vom Konzil zuerkannten "Amtscharakter" unter-

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Wo man unter "Katholischer Aktion" alle jene "Formen von Aktionen und Vereinigungen (versteht), die in engerer Verbindung mit der Hierarchie die im eigentlichen Sinn apostolischen Ziele verfolgten und noch verfolgen, ... , führen sie den Namen Katholische Aktion oder einen anderen Namen"21. Diese vom Konzil vorgesehene doppelte Art der Zielsetzung, welche die Laien bei der Erfüllung ihrer christlichen Berufung legitimer Weise treffen können, wird heute allgemein mit den Begriffen "gesellschaftliche Zielsetzung" bzw. "religiöse Zielsetzung" bezeichnet. Wenn wir diese beiden Begriffe kurz beschreiben wollen, können wir sagen, unter "gesellschaftlicher Zielsetzung" einer katholischen Bewegung versteht man eine organisierte Präsenz von Laien, die sich im Namen Christi zusammengeschlossen haben, auf sozialem, politischem oder kulturellem Gebiet. Es handelt sich um eine Zielsetzung allgemeinen Charakters, die sehr verschiedene Formen erlaubt. So umfaßt innerhalb der weiten Landschaft des Verbandswesens christlicher Prägung die "gesellschaftliche 'Zielsetzung" sowohl jene Bewegungen, die sich als Aufgabe setzen, das Evangelium durch einen praktischen Einsatz auf politischem, wirtschaftlichem oder gewerkschaftlichem Gebiet zu bezeugen, als auch jene, die sich ausschließlich in einem kulturellen Werk oder in der sozialen Bildung engagieren, und zwar durch einen Einsatz, der nur in einem weiteren Sinne als "politisch" bezeichnet werden kann22 . Unter "religiöser Zielsetzung" hingegen versteht man eine organisierte Anwesenheit von Laien auf dem apostolischen und pastoralen strichen, der sie gegenüber den anderen zulässigen Verbänden des katholischen Laienturns kennzeichnet: "Das Konzil hat in dem Dekret über das Laienapostolat das katholische Laicat und die Katholische Aktion, die die Laien enger an das Apostolat der Hierarchie bindet, deutlich unterschieden '" Die Katholische Aktion wurde vom Konzil ja dazu berufen, mitzuarbeiten ,an der Einpflanzung der Kirche und der Entwicklung der christlichen Gemeinschaft', zusammen mit anderen Amtsträgern - Priestern, Diakonen, Katechisten, Ordensmännern und Ordensfrauen -, die, da sie durch eine göttliche Berufung aus dem Kreis der Gläubigen herausgerufen worden sind, von allen mit Nachdruck gefördert und geachtet werden müssen" (AAS LXV [1973], 540 - 541). 21 Apostoticam actuositatem, Nr. 20. Im selben Abschnitt werden die vier charakteristischen Merkmale angeführt, die alle zusammen den besonderen Charakter der Bewegungen der Katholischen Aktion ausmachen. 22 So ist z. B. bei uns in Italien die "gesellschaftliche Zielsetzung" der Laien in der DC, der christlich-demokratischen Partei, verschieden von jener der Mitglieder der ACLI, die sich durch freie Entscheidung zu einem aktiven gesellschaftlichen Einsatz in der Welt der Arbeit verpflichten und nur im weiteren Sinne "Politik" betreiben, da sie weder eine Partei noch eine Gewerkschaft sein wollen (vgl. Art. 2 des Statuts und den Bericht des Vorsitzenden M. Carboni an den XIII. Kongreß, Florenz, 10. - 13. April 1975, Nr.5). 10·

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Gebiet, das heißt, daß sich eine Bewegung darauf festlegt, direkt mit der Hierarchie an dem Werk der Evangelisierung, Heiligung und christlichen Gewissensbildung mitzuarbeiten, um die verschiedenen Gemeinschaften und Bereiche mit dem Geist des Evangeliums zu durchdringen23 • Auch die "religiöse Zielsetzung" ist nicht eindeutig und erlaubt weitere Untergliederungen. Denn entsprechend der Verschiedenheit der Charismen, die sie inspirieren, nimmt sie in verschiedenen Dienstleistungen konkrete Gestalt an. Die "religiöse Zielsetzung" der Bewegungen der Katholischen Aktion ist nicht dieselbe, die andere Laien vollziehen, wenn sie sich z. B. dem Apostolat eines "Laieninstituts" widmen. Jede katholische Vereinigung muß daher, wenn sie ihre Identität bestimmen will, vor allem für sich selbst klarstellen, zu welcher Art von Einsatz sie sich berufen fühlt. Aber hier entsteht das vielleicht größte Problem des Verbandswesens christlicher Prägung: in welchem Maße läßt sich überhaupt die eine Zielsetzung von der anderen unterscheiden? Sind Evangelisierung und gesellschaftlicher Einsatz vielleicht überhaupt nicht trennbar?

VII. Prioritätswahl, nicht Exklusivwahl Im Licht der eingangs gemachten theologischen Vorbemerkungen erhellt sogleich, daß eine scharfe Alternative zwischen "gesellschaftlicher Zielsetzung" und "religiöser Zielsetzung" unannehmbar ist, wenn sie also im trennenden oder exklusiven Sinn verstanden wird, so als könnte oder müßte das eine das andere ausschließen. Denn da der gesellschaftliche Einsatz ein integrierender Bestandteil der Evangelisierung ist, darf keine "gesellschaftliche Zielsetzung" des Christen je von einer religiösen Zielsetzung absehen; und umgekehrt kann keine "religiöse Zielsetzung", die vom Christen als Antwort auf eine besondere Berufung vollzogen wird, je von einer gesellschaftlichen Zielsetzung entbinden. In derselben Weise aber, wie jedes Engagement in der Evangelisierung in einen Dienst zur echten Förderung des Menschen umgesetzt wird, so setzt sich jeder Beitrag zur echten Förderung des Menschen, der in übereinstimmung mit dem Evangelium erbracht wurde, immer irgendwie in Evangelisierungsarbeit um 24 • 23 So z. B. im Statut der Katholischen Aktion Italiens (Art. 1 - 4), was einer Bestätigung des im Dekret Apostolicam actuositatem, Nr. 6, 20, Gesagten gleichkommt. 24 "Der Einsatz für die Gerechtigkeit und die Beteiligung an der Umgestaltung der Welt verbinden sich ganz klar mit einer konstitutiven Dimension der Verkündigung des Evangeliums, das heißt der Sendung der Kirche für die Erlösung des Menschengeschlechts und seine Befreiung von jeder Unterdrückung" (Synode 1971, Dokument über die Gerechtigkeit der Welt,

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Wenn wir daher von "gesellschaftlicher Zielsetzung" sprechen, um sie von "religiöser Zielsetzung" zu unterscheiden, ist die Alternative rein im Sinne einer Präferenz, Priorität und Betonung zu verstehen, das heißt, man legt den Akzent auf den einen oder den anderen Aspekt der Präsenz der Christen in der Welt, je nach den im einzelnen verschiedenen Berufungen und Charismen, aber alle sind dazu bestimmt, sich in die Einheit des Leibes der Kirche und in die Einmaligkeit der Heilsmission einzufügen25 • Im Grunde tut die heutige Diskussion über die religiöse Zielsetzung und die gesellschaftliche Zielsetzung der verschiedenen katholischen Verbände und Vereinigungen nichts anderes, als in konkreten und existenzbezogenen Begriffen das theologische Problem der Beziehung zwischen Glaube und Geschichte neu aufzuwerfen, das bereits vom Konzil beleuchtet worden ist: zwei Begriffe, die sich nicht einer auf den anderen zurückführen lassen, die aber, auch wenn sie formell voneinander verschieden bleiben, dennoch nicht zu trennen sind, ja sich gegenseitig ergänzen. Man muß also von verschiedenen Funktionen sprechen, die innerhalb der einen kirchlichen Gemeinschaft den verschiedenen Vereinigungen vorbehalten sind. Die Krise vieler katholischer Verbände und Vereinigungen liegt eben hier: in der Schwierigkeit, vor sich selbst klarzustellen, was sie sein wollen, welchen Platz sie in der Kirche einnehmen wollen26 • Diese Schwierigkeit läßt sich nur überwinden, wenn man ein entscheidendes Kriterium für die Bestimmung der "gesellschaftlichen" oder "religiösen" Priorität in der Grundsatzentscheidung findet. Nun, ein derartiges Kriterium gibt es, und zwar ist es das der Beziehung zur Hierarchie. Einführung). Zur Vertiefung der Beziehung zwischen Evangelisierung und gesellschaftl. Einsatz siehe unsere Studie: Evangelizzazione e impegno politico, Civ. Catt. 1973 IV, 7 - 25. 25 Es stimmt daher, daß jene katholischen Bewegungen, die sich für eine "gesellschaftliche Zielsetzung" entscheiden, voll und in legitimer Weise auf eine christliche Berufung antworten und an dem Evangelisierungswerk der ganzen Kirche teilnehmen, ohne sich in die Katholische Aktion einzugliedern und ohne direkte Kanäle der Pastoral der Kirche zu sein. 26 Hier ist in Italien bereits ein Klärungsprozeß im Gange. Einerseits haben eine ganze Reihe katholischer Bewegungen ihre religiöse und pastorale Zielsetzung schon festgelegt (Katholische Aktion, Gemeinschaften christlichen Lebens, Gemeinschaften der Neukatechumenen, Focolari-Bewegung, usw.), ganz zu schweigen natürlich von den verschiedenen Säkularinstituten; andererseits haben andere Bewegungen ihre gesellschaftliche Zielsetzung bekräftigt (ein typischer Fall ist der der ACLI, wobei wir die im engeren Sinn politische oder gewerkschaftliche Präsenz unerwähnt lassen). Doch es gibt einige Bewegungen (wir denken z. B. an die FUCI oder an die AGESCI), die noch immer Schwierigkeiten haben, ihre eigentliche Physiognomie zu bestimmen. Wir sind der Meinung, daß in jedem Fall die ehest mögliche Beseitigung der Unsicherheit und des Zweifels dringend notwendig ist, da sonst das Verbandsleben gelähmt wird.

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VIII. Die Beziehung zur Hierarchie Ohne einen ausdrücklichen Bezug zur Hierarchie gibt es keine kirchliche Gemeinschaft. Die Hierarchie ist nach dem Willen Christi in der Tat das Prinzip der Einheit des Glaubens und der Gemeinschaft in der Kirche: "Der ewige Hirt Jesus Christus hat die heilige Kirche gebaut, indem er die Apostel sandte wie er selbst gesandt war vom Vater ... Er wollte, daß deren Nachfolger, das heißt die Bischöfe, in seiner Kirche bis zur Vollendung der Weltzeit Hirten sein sollten. Damit aber der Episkopat selbst einer und ungeteilt sei, hat er den heiligen Petrus an die Spitze der übrigen Apostel gestellt und in ihm ein immerwährendes und sichtbares Prinzip und Fundament der Glaubenseinheit und der Gemeinschaft eingesetzt27." Ganz und gar unhaltbar auch theologisch - ist daher die Stellung jener Verbände oder Gemeinschaften, die sich einbilden, in der kirchlichen Gemeinschaft zu verweilen, während sie von ihr abweichen oder sich direkt in offenen Gegensatz zum Lehramt der Kirche stellen und sich dabei unmittelbar auf den Glauben an Christus berufen. Denn nach dem ausdrücklichen Willen des göttlichen Gründers stellt die Zustimmung zum Lehramt der Kirche für jeden Christen die unersetzliche Garantie für die Authentizität der Verbundenheit mit Christus im Glauben und mit den Brüdern in der Liebe dar28 • Doch wie es in der Kirche verschiedene Berufungen und Charismen gibt, wie die Christen verschiedene, in gleicher Weise zulässige Wahlen treffen können, so kann auch die unerläßliche Verbindung mit der Hierarchie verschiedene Formen aufweisen. Manche dieser Formen können auch falsch sein. Ein Irrtum liegt dann vor, wenn man die Funktion der Priester verabsolutiert und dem Klerus jede Verantwortung und jede Initiative zuzuschreiben trachtet, bis hin zur Unterbewertung der notwendigen Selbständigkeit der Laien 27

Lumen gentium, Nr. 18.

"Ohne die Vermittlung des Lehramtes der Kirche, dem die Apostel ihr eigenes Lehramt anvertraut haben und das deshalb ,nichts anderes lehrt, als was überliefert ist', ist auch die sichere Verbindung mit Christus durch die Apostel gefährdet, die ,das weitergeben, was sie selbst empfangen haben' ... •Jedes Nachgeben bezüglich der Identität des Glaubens bringt auch ein Nachlassen in der gegenseitigen Liebe mit sich" (Paul VI., Paterna cum benevoLentia, cit. Nr. 3). 29 Um diese Abweichung zu vermeiden, sprechen die offiziellen Dokumente nicht mehr von "Teilnahme der Laien am hierarchischen Apostolat" (Pius XL), sondern von einem "auserlesenen, aktiven katholischen Laienturn, das freiwillig zur Zusammenarbeit mit der Hierarchie der Kirche bereit ist", dessen Apostolat sich "als Mitarbeit am hierarchischen Apostolat und als aktive Teilnahme an der Heilssendung der Kirche selbst charakterisieren läßt" (Paul VI., Ansprache an den nationaLen Rat der KathoLischen Aktion ItaLiens, 11. Jänner 1975). 28

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und ihrer ursprünglichen Verantwortung im Leben der Kirche29 • Ebenso falsch ist es, wenn man unter Absolutsetzung der Autonomie der politischen und faktischen Ziele die Lehr- und Hirtenautorität der Bischöfe lediglich auf einen Anlaß zu dialektischer Auseinandersetzung verkürzt; ein Verhalten, das den Weg für alle möglichen theoretischen und praktischen Abweichungen freimacht, bis hin zur Ideologisierung des Glaubens 30 • Zwischen diesen beiden extremen Positionen - die beide Abweichungen sind - gibt es jedoch eine breite Skala möglicher Beziehungen zur Hierarchie, die immer wichtig, aber untereinander verschieden sind, je nacl1 dem unterschiedlichen Charakter der von den einzelnen Verbänden getroffenen Wahl. Es ist hier nicht möglich, tiefer in diese Frage einzusteigen. Aber es ist klar, daß die Bezugnahme auf das Lehramt, auch wenn sie unerläßliche Vorbedingung für jede Bewegung christlicher Prägung ist, in sehr verschiedener Weise zum Ausdruck kommen wird, zum Beispiel im Fall einer christlichen politischen Partei oder Gewerkschaft oder im Fall eines christlichen Vereins für soziale Schulung, für Berufsausbildung oder kulturelle Bildung, oder auch im Fall der katholischen Aktion und anderer Gruppen mit der Zielsetzung der direkten Evangelisierung. Diese Beziehung zur Hierarchie wird von der Anerkennung der Soziallehre der Kirche als der wahren Interpretin der Prinzipien der sittlichen Ordnung, die in den irdischen Belangen respektiert werden müssen, bis zu der Vermittlung von kirchlichen Assistenten und Beratern und zu dem direkten "Auftrag" reichen, mit welchem die Hierarchie einige Verbände enger an ihre apostolische Sendung bindet81 • Es handelt sich um verschiedene Beziehungen, die den verschiedenen Berufungen entsprechen. Aber in jedem Fall bleibt der Bezug zur Hierarchie wesentlich für die Bestimmung der "christlichen" Identität einer Bewegung, mag es sich um eine solche auf dem gesellschaftlichen Gebiet oder um eine im religiösen und pastoralen Bereich handeln.

IX. Schluß Wir haben nun - soweit das in dem begrenzten Rahmen eines Artikels zu vermitteln möglich war - die wichtigsten Elemente in der Hand, um zunächst die Krise beurteilen zu können, die das katholische Verbandswesen heute heimsucht, und dann eventuelle Lösungsvor80 Eben aus diesem Grund ist die Loslösung von der Hierarchie zugleich das ernsteste Symptom und die Hauptursache für den im Gang befindlichen Abweichungsprozeß der sogenannten "Basisgemeinden", die sich in diesen Jahren in unserem Land vervielfacht haben. 81 Vgl. Apostolicam actuositatem, Nr. 24.

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schläge anzuregen. Wenn wir die Ausführungen zusammenfassen, können wir, wie uns scheint, daraus einige Hinweise ziehen, die für die Zukunft der Verbände christlicher Prägung und für die Zukunft der Kirche überhaupt gültig sind. Man kann in der gegenwärtigen Krise manche positive Elemente erkennen, die die Keime der Kirche von morgen sind, jener richtig verstandenen "neuen Weise, Kirche zu sein", die wir alle wünschen. Im Lichte dessen, was wir gesehen haben, hängt es also vom redlichen Einsatz aller ab, ob die Kirche von morgen eine echte Gemeinschaft sein wird: eine Gemeinschaft, in welcher neben der Einheit in den notwendigen Belangen der legitime Pluralismus in den Ausdrucksformen des Glaubens und der Charismen bestehen wird; in welcher die Laien voll und ganz die Selbständigkeit und Verantwortung haben werden, die ihnen in den irdischen Bereichen kraft der Weihe durch die Taufe zusteht; in welcher die Hierarchie und das Lehramt der Kirche geschätzt und geachtet werden in ihrer unersetzlichen Funktion der lehrmäßigen und pastoralen Führung, des Prinzips der Einheit des Glaubens und der Gemeinschaft des Gottesvolkes; in welcher der Dialog zwischen den verschiedenen kirchlichen Richtungen in brüderlicher Atmosphäre echter Gemeinschaft selbstverständlich sein wird; in welcher alle Menschen guten Willens sich wohl und wie zu Hause fühlen werden, ohne sich von einem Getto-Denken oder von Formen eines ideologischen Integrismus abgestoßen zu fühlen. Das Unbehagen und die Krise, die wir zusammen mit dem neuen Verlangen nach Gemeinschaft in der heutigen Kirche erleben, lassen uns hoffen, daß das die Kirche von morgen sein wird. Desha'lb werden die katholischen Verbände in dem Maße, in dem es ihnen gelingt, das Wachstum der positiven Kräfte, die ihr Leben bereits sichtbar befruchten, zu erkennen und zu fördern, dazu beitragen, das Kommen eines neuen christlichen Frühlings, nach dem auch die Welt ruft, zu beschleunigen. Die Sorgen und Nöte, die die Kirche heute quälen und die sich im katholischen Verbandswesen so sichtbar auswirken, sind bereits - trotz allem - Morgenröte und Ankündigung eines solchen Frühlings.

DAS CHRISTLICHE APOSTOLAT UND DIE KATHOLISCHEN VERBÄNDE Von Hans Walther Kaluza

I. Die Berufung der Laien Wenn einmal die spätere Geschichtsschreibung die historische Bedeutung des 11. Vatikanums kritisch würdigt, wird zu den wesentlichen Punkten wohl die Neudefinition des Wesens der Kirche zählen. Stellte sich die Kirche vor dem 11. Vatikanum als streng monarchisch und hierarchisch organisierte Pyramide dar, an deren Spitze der Papst stand, dem die Bischöfe unterstanden und deren Basis die Priester bildeten, so definierte das Konzil die Kirche als Volk Gottes, also als Gemeinschaft jener Menschen, die an Christus glauben und getauft sind, wodurch sie zu Mitgliedern der Kirche werden. Die besondere Rolle des Papstes, der Bischöfe und Priester in der so definierten Kirche bestimmt sich durch ihren besonderen Dienst an der religiösen Gemeinschaftl. Mit dieser Konzilsentscheidung trat eine völlige Wandlung der Rolle des Laien - und damit auch der organisatorischen Zusammenschlüsse der Laien - ein, deren wahre Bedeutung weithin bis heute nicht genügend klar geworden ist und entsprechende Folgerungen ausgelöst hat, wobei es interessanterweise manchmal die Laien selbst sind, denen ihre neue Position noch nicht in ausreichendem Maße bewußt geworden ist: fast zwei Jahrzehnte nach dem Konzil gibt es noch immer Gruppen unter den Laien, die als "getreue Truppen auf die Befehle ihrer Kommandanten warten" und gelegentlich ihrer Enttäuschung Luft machen, daß die erwartete und offenbar ersehnte "Fremdbestimmung" nicht eintritt, weil sie eben gar nicht mehr eintreten kann. In zunehmendem Maße setzt sich jedoch der neue Begriff der Position der Laien durch. Der Präsident des päpstlichen Rates für die Laien, Opilio Kardinal Rossi, stellte zu diesem Wandel fest: "Es ist gewiß eine Frucht des Heiligen Geistes, wenn sich in der Kirche das Be1 Vgl. hiezu: Paul M. Zulehner, Die kirchlichen Institutionen, in: Heinz Fischer (Hrsg.), Das politische System Österreichs (2. Auflage), Europa Verlag, Wien 1977, S. 625 ff.

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wußtsein erneuert hat, Volk Gottes zu sein. Die Einheit dieses Volkes Gottes und die Würde, die allen seinen Mitgliedern in gleicher Weise zukommt, muß auf Seiten der Laien in einem zunehmenden Verantwortungsgeist für die Sendung der Kirche Ausdruck finden2 ." Dieses geänderte Kirchenverständnis spiegelte sich schon in den im Gefolge des Konzils abgehaltenen Synoden wieder, die in völlig ungewohnter Stärke Laien in den Beratungsbänken sahen. Die Neubesinnung erfaßte jedoch auch das Auftreten der Laien in der Öffentlichkeit, wofür etwa das Engagement in der Frage der Abtreibungsregelung oder die neu aufgeflammten Debatten über den "politischen Katholizismus" Zeugnis abgeben. In besonderer Weise mußten sich die verschiedenen organisatorischen Zusammenschlüsse der Laien mit der neuen Situation auseinandersetzen, weil sich - wie überall - auch hier die Wirksamkeit des Menschen in der Gemeinschaft vollzieht. Der erneuerte Auftrag, "die Welt mit christlichem Geist zu durchdringen" und "überall, und zwar mitten in der menschlichen Gemeinschaft Christi Zeugen zu sein"3, bedeutete einen - unterschiedlich starken - Wandel im Selbstverständnis der verschiedenen Bereiche des Laienapostolats. Daß dies auch durch die äußeren Einflüsse der gesellschaftlichen Veränderungen bedingt ist, stellte das Konzil selbst im Vorwort zum Dekret "Das Apostolat der Laien" fest: "Die dauernd steigende Bevölkerungszahl, der Fortschritt von Wissenschaft und Technik, die immer enger werdenden Verflechtungen unter den Menschen haben die Räume des Apostolates der Laien - größtenteils stehen sie nur ihnen offen - nicht nur ins Unermeßliche erweitert, sie haben auch neue Probleme hervorgerufen, die die kundige Anteilnahme und das Interesse der Laien herausfordern. Dieses Apostolat wird um so dringlicher, als die Autonomie vieler Bereiche des menschlichen Lebens sehr gewachsen ist, wenngleich dieses Wachstum bisweilen mit einem gewissen Abweichen von der ethischen und religiösen Ordnung und mit einer schweren Krise des christlichen Lebens verbunden ist." Vor diesem Hintergrund muß sich die laienapostolische Tätigkeit der katholischen Verbände bestimmen und vollziehen.

2 Opilio Kardinal Rossi, Die Laien eine lebendige Kraft in der Kirche, in: MKV national - international, Festschrift zum 45-Jahrjubiläum des MKV, Wien 1978. 3 Pastoralkonstitution "Die Kirche in der Welt von heute", 43.

Das christliche Apostolat und die katholischen Verbände

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11. Zur Position der katholischen Verbände Die Position der katholischen Verbände zählt fast schon traditionell zu den umstrittenen Fragen im kirchlichen Raum. In dieser Frage spiegelt sich die jahrzehntelange Debatte über die äußere Form des Laienapostolates der Kirche wider. Traditionell stehen sich hiebei zwei Hauptgruppen gegenüber: -

Die Actio CathoLica, auch das Laienapostolat im engeren Sinne genannt. Für diese Form des Laienapostolates nennt das Konzilsdekret über das Laienapostolat vier konkrete Merkmale: 1. Das unmittelbare Ziel entsprechender Organisation ist das apo-

stolische Ziel der Kirche selbst, also nicht die Artikulation und Vertretung hievon unabhängiger Interessen. 2. Es gibt eine Zusammenarbeit von Laien und Hierarchie, wobei die Laien Leitungsverantwortung übernehmen und die Aktivitäten selbständig planen und durchführen. 3. Das Wirken geschieht in organisierter, körperschaftlicher Form, nicht etwa im Wege der Tätigkeit von Einzelkämpfern. 4. Der Hierarchie kommt eine Oberleitung zu4 • Diese Gruppierungen sind vielfach als Einrichtung kirchlichen Rechtes organisiert; d. h. ihre jeweiligen Statuten müssen von kirchlichen Instanzen gebilligt werden und sehen darüber hinaus Einflußmöglichkeiten, Entscheidungskompetenzen, insbesondere auch Bestätigungsrechte bestimmter Funktionäre und Beiräte vor. -

Dem gegenüber steht die Actio Catholicorum, rechtlich zumeist im Rahmen der staatlichen Rechtsordnung konstituierte Vereine oder Verbände, die ihren laienapostolischen Auftrag - zumindest formal - unabhängig von der kirchlichen Hierarchie gestalten. Ihre spezifische Aufgabe liegt in der Vertretung kirchlicher Anliegen im gesellschaftlichen und öffentlichen Leben.

Die Besonderheit der Position dieser katholischen Verbände hat das Zentralkomitee der deutschen Katholiken in einer Stellungnahme5 zutreffend formuliert: 4 Vgl. hiezu Heinrich Schneider, Katholische Kirche und österreichische Politik, in: Khol-Stirnemann (Hrsg.), Österreichisches Jahrbuch für Politik 77, Oldenburg-Verlag für Geschichte und Politik, S. 163 fi. S "In der Kirche zuhause offen für die Gesellschaft", Zum Profil der katholischen Verbände, Stellungnahme des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, beschlossen von der Vollversammlung des Zentralkomitees am 18. November 1978 in Bonn-Bad Godesberg.

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"Verbände sind freie Initiativen. Sie werden nicht durch Mandat oder Auftrag des kirchlichen Amtes, sondern aus eigenständiger christlicher Verantwortung von Katholiken in Ausübung des Versammlungs- und Koalitionsrechtes konstituiert (vergleiche Ir. Vatikanum, Laiendekret 18). Daß Priester bei der Gründung und Entwicklung katholischer Verbände häufig einen erheblichen Anteil hatten, ändert nichts an dieser Grundbestimmung. Der relativen Autonomie der verschiedenen weltlichen Kulturbereiche entspricht die relative Autonomie der Verbände innerhalb der einen Sendung der Kirche. -

Katholische Verbände wirken in von ihnen selbst bestimmten Sach-, Berufs- oder Lebensbereichen. Hierin unterscheiden sie sich vom Dienst des kirchlichen Amtes und von der Gemeinde; Amt und Gemeinde sind immer dem Ganzen von Kirche verpflichtet. Verbände dürfen, sie müssen auswählen. Als sogenannte Personalverbände wenden sie sich an bestimmte Gruppierungen, z. B . Altersoder Berufsgruppen, bauen Gemeinschaft auf und tragen zur Gestaltung des jeweiligen Lebensbereiches bei. Als sogenannte Sachverbände wenden sie sich einem bestimmten Aufgabenfeld in der Kirche und Gesellschaft zu.

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Katholische Verbände haben teil an der einen Sendung der Kirche. Das Wirken der Verbände hat nicht bloß privaten Charakter. Gleichwohl handeln Verbände nicht für alle Katholiken verbindlich, nicht "im Namen der Kirche". Handeln und Sprechen "im Namen der Kirche" ist nur zusammen mit den Hirten der Kirche möglich (vergleiche H. Vatikanum, Pastoralkonstitution 76), und es ist nur in den Fällen sinnvoll, in denen ein gemeinsames Sprechen und Handeln aller Katholiken gefordert ist.

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über die ihnen eigenen Aufgaben hinaus, können katholische Verbände mit ihrem Einverständnis auch mit einzelnen Aufgaben des kirchlichen Amtes betraut werden. Falls freilich die Beauftragung durch die Bischöfe für die gesamte Tätigkeit einer katholischen Organisation gilt, handelt es sich nicht nur um einen katholischen Verband im eigentlichen Sinn, sondern eher um ein kirchliches Werk oder eine pastorale Arbeitsstelle. Zumal infolge der vom Nationalsozialismus erzwungenen Entwicklung, die nach dem 2. Weltkrieg nur teilweise wieder rückgängig gemacht wurde, gibt es heute Mischformen, die den Namen Verband oder Verein führen, zugleich aber in einem beachtlichen Umfang in einem Auftragsverhältnis zum kirchlichen Amt stehen."

Das zwischen diesen beiden Hauptgruppierungen bestehende Konkurrenzverhältnis hat seine Begründung wohl vor allem in der im

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Laufe der Zeit unterschiedlichen Gewichtung der beiden Gruppierungen seitens der Amtskirche. Der Schlüssel für diese Entwicklungen findet sich wenigstens im Bereiche Österreichs und der Bundesrepublik Deutschland in den Auswirkungen der nationalsozialistischen Zwangsherrschaft. Mit der Machtübernahme des Nationalsozialismus wurden die meisten katholischen Verbände verboten und die Kirche ebenso zwangsweise in ihrer Tätigkeit auf die "Sakristei" beschränkt. Als nach dem Ende des 2. Weltkrieges die Wiederaufnahme des Vereinslebens möglich wurde, bestand zunächst in weiten Kreisen der Amtskirche erheblicher Widerstand gegen die Reorganisierung der Actio Catholicorum, in der insbesondere eine unangemessen politisierte und politisierende Gruppierung innerhalb der Kirche erblickt wurde. Von solchem politischen Engagement wollte sich die Amtskirche, geschockt aus den Erfahrungen der Vorkriegszeit, jedoch heraushalten. Aus der am 17. April 1945 herausgegebenen Weisung des Wiener Erzbischofes, derzufolge sich "Priester von der Übernahme öffentlicher Ämter fernhalten, in politische Angelegenheiten sich nicht einmengen und keine Empfehlungen für weltliche Stellen geben" dürfen, wurden für den österreichischen Raum Folgerungen gezogen, die den mit dieser Weisung beabsichtigten Rahmen bei weitem sprengten: Der gesamte politische Bereich sollte, so folgerte man, "kirchenfrei" werden. Die Konsequenzen reichten an's Skurille: Von sozialistischer Seite wurde z. B. die These vertreten, es könne keine ernsthaften Konflikte zwischen Kirche und Sozialismus geben, denn den Sozialisten gehe es um die Gestaltung des Diesseits, der Kirche aber ums Jenseits 6 und so der Auftrag zur Gestaltung der irdischen Welt einfach hinweggeleugnet. An den Folgen dieser Bewertung der Situation hatte vor allem die Actio Catholica zu leiden. Die katholischen Verbände, deren - auch funktionelles - Wiederentstehen sich eben im Hinblick auf die formale Unabhängigkeit von der kirchlichen Hierarchie trotzdem vollziehen konnte, hatten diese Einstellung niemals akzeptiert. Tatsächlich hat dann lange Zeit später auch die Amtskirche eine Wendung in dieser Einstellung vollzogen. Dieser Wendung lag wohl die Erkenntnis zugrunde, daß die zentrale Aufgabe der Kirche, allen Menschen die Botschaft Jesu Christi zu verkünden, jedenfalls dann unmöglich ist, wenn die Kirche abseits der Gesellschaft wirkt. Damit aber wurde Auftrag und Zielsetzung der katholischen Verbände erneut bestätigt. Populorum progressio formulierte 1967 diese AufgabensteIlung so: "Die Laien sollen ihre eigentliche Aufgabe in Angriff nehmen, die Erneuerung der irdischen Ordnung. Wenn es Aufgabe der Hierarchie ist, authentisch die sittlichen Grundsätze auf diesem Gebiet zu lehren und 6

Hiezu auch Zulehner, a.a.O.

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zu interpretieren, dann ist es Obliegenheit der Laien in freier Initiative und ohne erst Weisungen und Direktiven abzuwarten, das Denken und die Sitten, die Gesetze und die Lebensordnungen mit christlichem Geist zu durchdringen7 ." Die Vielfalt der in der Actio Catholicorum vorzufindenden Organisationsformen gewährleistet in hervorragender Weise die Verwirklichung dieses kirchlichen Auftrages: Ihre Vielfalt entspricht der pluralistischen Vielfalt der Gesellschaft und stellt so einen nahezu idealen Transmissionsriemen zwischen Kirche und Gesellschaft dar. Daß sich andererseits die laienapostolische Tätigkeit der katholischen Verbände gerade deshalb mitten im Kernpunkt des bestehenden Spannungsfeldes zwischen Kirche und Gesellschaft vollzieht, macht die Aufgabe für die katholischen Verbände allerdings nicht leichter. 111. Das Wirkungsfeld der katholischen Verbände

Das Wirkungsfeld der katholischen Verbände ist heute mehr denn je in zweifacher Hinsicht zu sehen. Zunächst im Wirkungsbereich in die eigenen Reihen hinein, um hier vor allem dort seelsorglich tätig zu werden, wo Einzelne oder Gruppen - aus welchen Gründen auch immer - außerhalb seelsorglich abgedeckter Bereiche stehen. Zum zweiten im Wirkungsbereich nach außen, den zuletzt Octogesima adveniens sehr eindrucksvoll beschrieben hat8 : "Ohne an die Stelle öffentlich rechtlicher Institutionen zu treten, ist es Aufgabe der christlichen Verbände, jeder auf seine Weise, jedoch über sich selbst und seine Eigeninteressen hinauswachsend, die eindeutigen Forderungen des christlichen Glaubens hinsichtlich einer gerechten und eben darum gebotenen Umgestaltung der Gesellschaft zu vertreten." Der daraus resultierende Auftrag bedeutet für die katholischen Verbände eine ungeheure Herausforderung. Alexander Mitscherlich hat einmal gemeint, "es besteht wenig Zweifel, daß wir an einer Zeit progressiven Wertzerfalls teilhaben. Viele Werte geraten außer Kurs, wenn die Lebenswelt nicht mehr ihrer bedarf. Sparsamkeit, Pünktlichkeit, Ordentlichkeit - einst hoch geschätzt - sind als Leitideale einer Mangelgesellschaft gut am Platz. In einer Wegwerfgesellschaft haben sie kaum noch Kuriositätswert". Dieses recht düstere Bild gegenwärtiger Weltordnung ließe sich durch eine Unzahl von Beispielen abstützen. Aber auch dann, wenn man die Welt- und Gesellschaftsordnung nicht in solch pessimistischem Sinne sieht, bleibt immer noch deutlich, daß es große Bereiche des sittlichen Bewußtseins gibt, in denen ein solcher Zerfall stattfindet. Vor allem dieses zweite Wirkungsfeld bringt die Populorum progressio, 8I. s Octogesima adveniens, 51.

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katholischen Verbände unmittelbar in den gesellschaftspolitischen Wirkungsbereich und daher in permanente Konfrontation mit politischen Problemen. Und tatsächlich mehren sich vor allem im Laufe der letzten Jahre, auch die Aussagen der kirchlichen Hierarchie, die ausdrücklich auffordern und anleiten, sich mit diesen Fragen zu befassen. So hat etwa der Wiener Erzbischof, Kardinal Dr. Franz König, am 30. April 1976 festgestellt: "Als 1945 nach den leidvollen Erfahrungen der Vergangenheit die österreichischen Bischöfe im Interesse des Landes, aber auch im Sinne des Heilsauftrages der Kirche einen neuen Weg beschritten, der die Kirche aus den politischen Verflechtungen heraushalten sollte, haben dies viele Katholiken mißverstanden und gemeint, sie selbst sollten sich aus d~r Politik heraushalten. Dip. politische Distanz der Kirche hat zu einer apolitischen Haltung vieler Katholiken geführt. Eine solche Haltung aber ist vollkommen verfehlt. Der Politik kann man nicht ausweichen, vor der Politik kann man nicht fliehenD." Für die österreichische Arbeitsgemeinschaft katholischer Verbände und ihre Mitglieder war dies eine späte Bestätigung jener Gedanken, die ihrer im Jahre 1953 erfolgten Gründung zugrunde lagen, denn zu diesen zählte die Absicht, dafür zu sorgen, daß die Katholiken im politischen Raum präsent sind 1o . Interessant ist zu überprüfen, in welcher Hinsicht diese Tätigkeit der österreichischen katholischen Verbände in 25 Jahren der Existenz dieser gemeinsamen Plattform wirksam geworden ist: Eine Durchsicht der einzelnen Materialien ergibt, daß es sich bei der Summe der Aussagen der katholischen Verbände insgesamt um profunde und umfassende Programme zur Gestaltung der Gesellschaft aus christlicher Sicht handeltlI. Darunter finden sich unter anderem Aussagen zur Erneuerung der katholischen Soziallehre, zur Problematik der Ganztagsschule, zur Frage der Rechtswirkungen der kirchlichen Eheschließung, zur Frage "Abtreibung - Resignation vor dem Unrecht", zu Problemen der Familienpolitik und Hochschulpolitik, zum Bereich Sport und Weltanschauung, zum Bereich Ziel der Erziehung, der Fünftagewoche an den Schulen, zur Frage der Euthanasie und zur Rolle der Verbände im Staat. Erkennbar kommt in allen diesen Aussagen zum Vorschein, daß es sich hiebei nicht nur um bloße Erklärungen nach außen handelt, sondern vielmehr um erarbeitete und verantwortete Modelle, die ais Beitrag der katholischen Verbände in den Prozeß der gesellschaftlichen Gestaltung eingebracht worden sind. Daß die Rezeption solcher Modelle Wiener Diözesanblatt Nr. 6, vom 1. Juni 1976, S. 70. Franz Karasek, in: ,,20 Jahre AKV", Jubiläumsfestschrift der Arbeitsgemeinschaft katholischer Verbände, Wien 1977, S. 17 ff. 11 Vgl. hiezu die Textsammlung in: Hans Walther Kaluza, Politik der Katholiken, Schriftenreihe der AKV 1/78. 9

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in der Gesellschaft nicht im gewünschten Maße stattfindet, vermag an deren Wert nichts zu ändern. Aber noch etwas anderes wird bei der Prüfung und Wertung dieser Dokumente deutlich: Der in der verhältnismäßig breit geführten Diskussion über die Frage des politischen Katholizismus in den letzten Jahren streckenweise entstandene Eindruck, es ginge beim politischen Verhalten der Katholiken um die Frage der Parteipräferenz bei politischen Wahlen, ist in keiner Form nachweisbar. So sehr es naturgemäß erklärbar ist, daß sich für die politischen Parteien die Frage primär in dieser Richtung stellt, so bedauerlich ist es, daß es den Katholiken und der Kirche, aber auch den katholischen Verbänden offenbar nicht gelungen ist, klarzustellen, daß die Frage der Wählbarkeit einer Partei oder einer Parteipräferenz Fragen der letzten Konsequenz sind, nicht jedoch Fragen nach dem politischen Verhalten der Katholiken und der katholischen Verbände. Eben deshalb wäre es aber besonders notwendig, der Öffentlichkeit ausreichend bewußt zu machen, daß die Anliegen der katholischen Verbände den Parteiinteressen schon deswegen nicht unterzuordnen sind, weil diese Anliegen nie im Hinblick auf eine Partei oder deren politisches Verhalten, sondern immer im Hinblick auf den in Octogesima adveniens definierten Auftrag vertreten werden. Aber auch dem internen apostolischen Wirkungsbereich der katholischen Verbände kommt in der heutigen Zeit größere Bedeutung denn je zu. Dies in doppelter Hinsicht: Während in früheren Zeiten die territoriale Bindung des Einzelnen außerordentlich groß war, Religiosität sich also überwiegend im gemeindlichen Bereich abspielte, gerät das religiöse Leben in der heutigen Zeit zunehmend unter den Druck des diesbezüglich geänderten Verhaltens des Menschen. Die parallele Verankerung etwa des Zweitwohnungsbesitzers in der Wochentagsgemeinde und in der Wochenendgemeinde führt immer wieder zu unbefriedigenden Ergebnissen. Gleiches gilt für die immer zahlreicher werdenden Pendler, aber wohl auch für jene, die ihre Freizeit in der heute, trotz Erdölkrise immer noch möglichen Mobilität bewältigen. Dazuzurechnen sind noch die zunehmenden und vielfältigen Formen kirchendistanzierter Religiosität in der Gesellschaft. In all diesen Bereichen haben die katholischen Verbände vielfältige Möglichkeiten kirchliches Leben zu realisieren: "durch den Dienst des Wortes und der Katechese, durch die Dienste, die mit der Liturgie, dem Gottesdienst und dem Gebet verbunden sind, durch die verschiedenen Dienste der organisierten Caritas, im Bereiche der Pfarrei und durch Aktivitäten auf diözesaner und interdiözesaner, auf nationaler und internationaler Ebene, in Vereinigungen und Bewegungen, die von der zuständigen

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Autorität anerkannt sind, in den einzelnen Familien als Kernzellen der Gesellschaft und der Kirche, in der Jugendbewegung, in Umwelt und Beruf. Überall soll der eine Heilige Geist jeden einzelnen zur Auferbauung des einen Leibes Christ anspornen"12.

IV. Infrastrukturen und Zusammenarbeit der katholischen Verbände Untersucht man die Infrastrukturen der katholischen Verbände, so gelangt man im wesentlichen zu vier Ordnungskriterien: -

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Eine starke Gruppe der katholischen Verbände ist berufsorientiert. Solche berufsorientierte Verbände finden sich insbesondere im Bereiche der Lehrerschaft, des Journalismus, der Schriftsteller, aber auch etwa im Bereiche der Lehrlinge13 • Eine weitere Gruppe katholischer Verbände ist bildungsorientiert. Diese sehen ihre Aufgabe in der Sammlung von Katholiken gleicher Ausbildungsstufe, insbesondere im Bereiche der höheren Schulen und der Universitäten14 • Eine andere Gruppe orientiert sich an der Vertretung von Interessen oder gesellschaftspolitischen Anliegen, oder einer Mischung von beidem. Hiezu sind insbesondere die Elternvereinigungen zu rechnen15 • Eine vierte Gruppe schließlich stellen jene Verbände dar, die ihre Wirksamkeit im sportlichen Bereich vollziehen 16 •

Schon diese grobe Gruppierung macht deutlich, daß es den katholischen Verbänden in besonderer Weise aufgetragen ist, auf der Basis von Gemeinsamkeiten in Aufgabenstellung und Zielsetzung, die vielfach außerhalb des eigentlichen kirchlichen Bereiches liegen, Dienste für den Glauben und die kirchliche Gemeinschaft zu leisten. Diese bestehende Vielfalt bedeutet allerdings auch eine besondere Gefahr: Verständnisschwierigkeiten, Auffassungsunterschiede, mangelhafte Kooperation können dazu führen, daß die verbindende und gemeinsame Zielsetzung des Apostolates gefährdet wird, denn die "katholischen Rossi, a.a.O. Darunter fallen in Österreich etwa: die katholische Lehrerschaft Österreichs, die Vereinigung christlicher Professoren, der Verband katholischer Schriftsteller und das Kolpingwerk. 14 z. B. CV, MKV, KV, Katholisch-österreichische Landsmannschaft. Auf die erhöhte Verantwortung jener, die auf Grund ihrer geistigen und christlichen Bildung in Kirche und Gesellschaft tätig sind, hat Kardinal Rossi in der in Anm. 2 zitierten Schrift nachdrücklich hingewiesen. 15 z. B. Hauptverband der katholischen Elternvereine österreichs, Reichsbund. 16 z. B. österreichische Turn- und Sport-Union, Reichsbund für Turnen und Sport. 12

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11 Festschrift Rossl

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Verbände sind in ihrem Weltdienst so eigenständig, daß der eine Verband eine bestimmte Lösung christlicher Aufgaben als besonderen Auftrag der christlichen Schau der Dinge empfinden kann, der andere vielleicht auch eine entgegengesetzte Lösung (vergleiche Pastoralkonstitution 43)"17. Der Fragenkomplex der verstärkten Zusammenarbeit in allen gesellschaftlichen Fragen hat daher in den letzten Jahren noch erheblich an Bedeutung gewonnen. Die in Österreich seit Jahren in Gang befindliche Diskussion über die Effektivität des österreichischen Laienrates ist ein Beweis dafür. Ohne auf die einzelnen Aspekte dieser Diskussion eingehen zu wollen, kann immerhin gesagt werden, daß die Lösung dieser Problematik von besonderer Bedeutung für die Ausstrahlung der katholischen Verbände in der Gesellschaft sein wird. Dies betrifft insbesondere die Vorbereitung und Durchführung gemeinsamer Planung und Tätigkeiten, aber wohl auch überlegungen, die Wirksamkeit der Verbände quantitativ und qualitativ zu vergrößern. Bedeutung hinsichtlich dieser Zusammenarbeit kommt dem mit dem Motu Proprio "Apostolatus peragendi" neugeordneten päpstlichen Laienrat (Pontificium consilium pro laicis) zu, zählt doch zu seinen Aufgaben unter anderem auch, alle Fragen zu behandeln, die sich auf katholische Verbände bezie~en , die das Apostolat sowie das geistliche Leben und Wirken der Laien fördern l8 • Von diesem päpstlichen Rat sind in Zukunft in zunehmendem Maße diesbezügliche Akzente und Initiativen zu erwarten, wie etwa die anläßlich der dritten Hauptversammlung 1979 angekündigte Vorbereitung einer Orientierungshilfe über die Rolle der kirchlichen Beiträge in Laienvereinigungen. Es werden aber auch regionale Treffen von Bischöfen und Laien gefördert, bei denen Orientierung und Engagement der Laienvereinigungen besprochen werden. Gerade dies ist von besonderer Wichtigkeit, weil die Zusammenarbeit im Bereiche der katholischen Verbände an nationalen Grenzen kein Ende mehr finden darf l9 •

Vgl. Anm. 5. Motu Proprio "Apostolatum peragendi", VI., Pkt. 3. lU Vgl. Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, Nr. 42 vom 19. Oktober 1979, S. 3. Gerade im Bereiche der überregionalen Zusammenschlüsse sind in den letzten Jahren ermutigende Fortschritte zu verzeichnen gewesen. Als Beispiel sei hier die 1975 vollzogene Gründung einer Arbeitsgemeinschaft christlicher Studentenverbände, des "Europäischen Kartell-Verbandes - EKV", genannt, in dem sich zehn Verbände aus dem Bereiche der Höheren Schulen und der Universitäten zusammengeschlossen haben. Die Mitgliedsverbände dieser europäischen Arbeitsgemeinschaft müssen sich ausdrücklich "zum Leben aus dem Christentum und zu einer aus ihm resultierenden Zielsetzung" (Art. 3 der Statuten) bekennen. 17

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Das christliche Apostolat und die katholischen Verbände

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V. Künftige Aufgabe der katholischen Verbände Jeder auch nur flüchtige überblick über die Strömungen der heutigen Zeit und die gesellschaftlichen Strukturen der Gegenwart läßt erkennen, daß in zunehmendem Maße Wertorientierungen verloren gehen. Diese "neue Suche nach Sinnantworten und die ethische Ratlosigkeit in unserer Gesellschaft kommen nicht aus einer zu starken, sondern aus einer zu schwachen kirchlich oder weltanschaulich eindeutigen Orientierung"17. Es gilt daher mit erneuter Aktualität die Feststellung der Pastoralkonstitution über "die Kirche in der Welt von heute": "Für den Aufbau eines wirklich menschenwürdigen politischen Lebens ist nichts so wichtig, wie die Pflege des Sinns für Gerechtigkeit, Wohlwollen und Dienst am Gemeinwohl, sowie die Schaffung fester Grundüberzeugungen über das wahre Wesen politischer Gemeinschaft, über ihr Ziel und den rechten Gebrauch und die Grenzen der öffentlichen Gewalt20." Die Teilnahme an einer solchen Re-orientierung des politischen Lebens wird in Zukunft zu den bedeutendsten Aufgaben der katholischen Verbände gehören. Aufgrund der spezifischen Infrastruktur der katholischen Verbände werden künftige Aufgaben vor allem in jenem Bereich zu finden sein, den das Konzilsdekret über das Laienapostolat das soziale Milieu genannt hat: "Das Apostolat im sozialen Milieu, nämlich das Bemühen die Mentalität und die Sitten, die Gesetze und die Strukturen der Gemeinschaft, in der einer lebt, im Geiste Christi zu gestalten, ist so sehr Aufgabe und Pflicht der Laien, daß sie von anderen niemals entsprechend erfüllt werden kann. In diesem Bereich können die Laien ein Apostolat unter ihresgleichen ausüben. Hier ergänzen sie das Zeugnis des Lebens durch das Zeugnis des Wortes. Hier im Bereiche der Arbeit, des Berufes, des Studiums, des Wohnplatzes, der Freizeit, des kameradschaftlichen Zusammenseins werden sie eher instandgesetzt, ihren Brüdern zu helfen 21 ." Ein weiterer wichtiger Aufgabenbereich ist in der Mitwirkung bei der Informations- und Bildungsaufgabe der Kirche zu erblicken. Insbesondere Schneider hat darauf hingewiesen, daß es für die Kirche nicht leicht ist, "einerseits das Anliegen ihrer sozialen Verkündigung vor Mißverständnissen zu schützen, andererseits in ihren Aussagen zur Sache die Unverbindlichkeit wohlklingender, aber ungriffiger und vieldeutiger Formulierungen zugunsten klarer, konkret anwendbarer Hinweise auf Nöte, Aufgaben und Lösungsmöglichkeiten zu vermeiden"22. Daraus resultiert eine sehr umfangreiche Aufklärungs- und Bildungs20 21

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Pastoralkonstitution "Die Kirche in der Welt von heute", 73. Dekret über das Laienapostolat, 13. Schneider a.a.O.

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notwendigkeit, an der die katholischen Verbände in Anbetracht der vielfältigen gesellschaftlichen Wirkungsbereiche, die sich aus ihren Infrastrukturen ergeben, in hervorragendem Maße mitwirken müßten. In verstärktem Maße wird es aber auch notwendig sein, im innerkirchlichen Meinungsprozeß mitzuwirken. In den katholischen Verbänden stecken in hohem Maße bisher mangelhaft genützter Ressourcen an Fachwissen der verschiedensten Art. Der Nutzbarmachung dieses Fachwissens wird in besonderem Maße das Bemühen zu gelten haben. Die im Gefolge des Konzils geschaffenen Einrichtungen der Mitbestimmung in der Kirche schaffen hiezu vielfältige Möglichkeiten 23 • Man sollte aber auch nicht darüber hinwegsehen, daß in vielen Bereichen der katholischen Verbände eine innere Neuorientierung vonnöten wäre. Mancherorts hat das vielzitierte Schlagwort vom Pluralismus der Gesellschaft schon so festen Fuß gefaßt, daß man den Eindruck gewinnen könnte, manche Gemeinschaften würden im pluralistischen Leben allein ihre Erfüllung finden. Solchen Entwicklungen muß ziel bewußter und systematischer als manchesmal in der Vergangenheit entgegengetreten werden. Es geht mehr und mehr auch in unseren Gemeinschaften darum, den eigenen Standpunkt nicht nur für andere, sondern vor allem auch für uns selbst stärker zu profilieren und herauszuarbeiten. Daraus vermag ja überhaupt erst Pluralismus in der Gesellschaft zu entstehen. Falsch und gefährlich wäre es, wenn unter dem Deckmantel von Pluralismus und Toleranz sich eine Gesinnungslosigkeit ausbreiten würde, für die Ansatzpunkte jedenfalls existieren. Es geht also auch in diesem Bereich darum, "bei aller Toleranz und Bereitschaft zur Einigung im Sachlichen nein zu sagen, wann und wo es dem Katholiken ansteht, nein zu sagen. Denn es ist wie gesagt viel falsche Toleranz im Umlauf. Nicht wenige verbergen ihren Glauben und ihre Überzeugung, weniger aus Ängstlichkeit, sondern deswegen, weil sie die Gefühle anderer nicht verletzen wollen, die keineswegs glauben wollen und dementsprechend konsequent handeln. Man soll sich vor großtönenden Worten hüten, aber Zivilcourage ist jetzt die erste Bürgerpflicht der Katholiken"24. Für die katholischen Verbände gilt dies in besonderem Maße. Darüber hinaus müssen sich die katholischen Verbände auf ihren spezifischen Anteil an der Sendung der Kirche besinnen und in jedem Bereich Konsequenzen für die Organisation und die Aktivitäten ziehen. Zu nennen wären hier: die Notwendigkeit des Einsatzes für die Einheit der Kirche; die Notwendigkeit der Sorge für jene "Teilgemeinschaften 28 Vgl. hiezu: Gerhard Hartmann, Mitbestimmung in der Kirche Österreichs, AKV-Informationen 3/1978. 24 Heinrich Drimmel, Entzweiung von Religion und Politik, AKV-Schriftenreihe Folge 3 - 1972, S. 18 f.

Das christliche Apostolat und die katholischen Verbände

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der Kirche, die auch heute noch um des Namens Christi willen Verfolgung und ungerechte Einschränkungen ihrer Freiheit erleiden"25 und an der Ausübung ihrer apostolischen Tätigkeit gehindert werden; die verstärkte Anteilnahme am Werk der Evangelisierung; schließlich aber auch die Mitwirkung an der Entwicklung neuer Formen der Seelsorge am Arbeitsplatz. Ein besonderes Anliegen muß aber auch die Frage der Erneuerung des spirituellen Lebens in der katholischen Familie sein. Alle diese Aufgaben erfordern die Unterstützung der Verantwortlichen in der Kirche. Mit dieser Unterstützung, mit eigenem Mut und Entschiedenheit sollten die katholischen Verbände ihre Aufgabe in der Gesellschaft von heute bewältigen.

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Rossi a.a.O.

PARTNER IN KIRCHE UND GESELLSCHAFT

Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken Von Friedrich Kronenberg Wer in Deutschland die Diskussion um Grundfragen unserer Gesellschaft verfolgt, der wird auch immer wieder auf Gesprächsbeiträge des Zentralkomitees der deutschen Katholiken stoßen. Die Themen sind breit gestreut: Schutz des ungeborenen Lebens, Ausländer in Deutschland, Entwicklungshilfe und Entwicklungspolitik, Europa, Weiterentwicklung der Demokratie, Rechtspolitik, Eherecht und Familienpolitik, Schule und Erziehung, Politik einer breiten Vermögensstreuung, soziale Dienste, Medienpolitik, Terrorismus, Herausforderung der Kirche durch außerkirchliche Religiosität. Vieles wäre darüber hinaus zu nennen, um die ganze Spannweite der Themen zu verdeutlichen. Manch einem mag das Zentralkomitee auch durch die Kongresse und Tagungen bekannt geworden sein, auf denen es zu gegebener Zeit umfassende und die Entwicklung der Gesellschaft nachhaltig bestimmende Themen zur Diskussion stellt. Im Jahre 1971 machte der Kongreß zur Entwicklungspolitik den Anfang, der viele Anstöße und Initiativen auslöste. Dann folgte im Jahr 1974 ein weiterer zum Thema Familie und Familienpolitik. 1979 wurde in oekumenischer Trägerschaft ein international viel beachteter entwicklungspolitischer Kongreß durchgeführt, an dem Vertreter aller im Bundestag vertretenen politischen Parteien und Repräsentanten aus den Gewerkschaften, Unternehmer- und Bauernverbänden teilnahmen. Im gleichen Jahr wurde in einer Tagung zum Thema "Kirche, Wirklichkeit und Kunst" der Dialog zwischen Kirche und Kunst auf höchster Ebene wieder aufgenommen, der lange Jahre kaum stattgefunden hatte. 1980 werden eine Tagung zur Eigentumsstreuung in breiten Schichten und ein familienpolitischer Kongreß stattfinden.

I. Dem Gespräch verpflichtet Es ist dem Zentralkomitee nicht nur um Ansprechen oder Mitsprechen zu tun, es läßt sich auch in Anspruch nehmen. Hier sind etwa seine internationalen Kontakte zu erwähnen, diejenigen nach Polen zum Beispiel, bei denen es für die Verständigung hilfreiche Dienste

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geleistet hat, oder die aus einem jüdisch-christlichen Gesprächskreis hervorgegangene Begegnung mit Israel. Aber auch das Gespräch mit der protestantischen Kirche, aus dem 1971 das Oekumenische Pfingsttreffen in Augsburg und 1979 der große entwicklungspolitische Kongreß der beiden Kirchen hervorgingen, ist eine Aufgabe, die mit großem Ernst und oekumenischem Engagement wahrgenommen wird. Nicht zuletzt verbindet sich der Name des Zentralkomitees mit den Katholikentagen, die im zweijährigen Rhythmus stattfinden und deren Vorbereitung und Gestaltung seine Aufgabe ist. Katholikentage mit ihren zahlreichen Arbeitsforen, Kundgebungen, großen liturgischen Feiern und festlichen Veranstaltungen sind Stätten des Dialogs, Umschlagplätze öffentlicher Meinung in der Kirche und kirchlicher Meinung in der Öffentlichkeit, Katholikentreffen, die das Erlebnis kirchlicher Gemeinschaft vermitteln, Wallfahrten, die den Einzelnen auf seinem Weg geistlich stärken, Foren, in denen Katholiken ihre Fragen und Antworten, Forderungen und Beiträge zum Zusammenleben aller Menschen in Gesellschaft, Staat und Völkergemeinschaft vortragen. Aber auch ein Beispiel mehr innerkirchlichen Wirkens ist zu nennen: die Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland, die in der ersten Hälfte der 70er Jahre in Würzburg stattfand, ist ohne die Impulse und die Mitarbeit des Zentralkomitees kaum zu denken. Das Zentralkomitee hat nach dem Essener Katholikentag 1968 die Initiative zur Einberufung der Synode ergriffen und zum Gelingen dieser Synode maßgeblich beigetragen.

11. Sachkompetenz und Kommunikation Die Presse nennt es gern das "höchste Laiengremium", ein Titel, der ebenso wie der zu politischen Assoziationen verleitende Terminus ,,'Zentralkomitee" zu mancher Überschätzung Anlaß geben mag. Mit solcher Überschätzung korrespondieren gelegentlich übersteigerte Erwartungen, auch in der kirchlichen Öffentlichkeit, die schließlich Enttäuschungen bereiten müssen. Das verwundert nicht bei einer Einrichtung, die sich mehr auf Sach- als auf Entscheidungskompetenz berufen kann. In dieser Schwäche liegt gleichzeitig eine besondere Stärke. Sachargumente und Sachbeiträge wiegen schwerer, als ein an Funktionalismen gewöhntes Denken annimmt. Oft hat der die Entwicklung mehr in der Hand, der sie mitträgt, Anstöße gibt, kritisch beleuchtet, Auswege und mögliche Zielsetzungen darlegt, als jener, der die Entscheidungen zu treffen hat. Wenn schon keine Entscheidungsinstanz, so

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aber auch kein bloßes Gutachtergremium: blickt man auf die Struktur des Zentralkomitees, so wird deutlich, wie sehr es sich als Mittel der Kommunikation versteht. Das Zentralkomitee ist der 'Zusammenschluß sehr verschiedenartiger Kräfte des Laienapostolats. Es handelt sich um den Zusammenschluß freier, gleichsam von unten aus dem Gottesvolk entspringender Initiativen, wie sie sich dann in Räten und Verbänden verfassen. In diesem Zusammenschluß verkörpert sich der Anspruch, daß in jedem Engagement, in jedem Dienst ein Ruf fürs Ganze hörbar wird, fürs Ganze der kirchlichen Sendung wie fürs Ganze der Gesellschaft. Die innere Vielfalt wird an der Vollversammlung des Zentralkomitees am meisten augenfällig. In ihr treffen sich zur Beratung und Beschlußfassung die Delegierten der katholischen Verbände und der Diözesan- und Katholikenräte sowie weitere Persönlichkeiten aus dem öffentlichen Leben und aus Institutionen des Laienapostolats, die von der Vollversammlung kooptiert wurden. Allein diese Zusammensetzung macht deutlich, wie sehr das Zentralkomitee auf Kommunikation hin angelegt ist, einer Kommunikation, welche die Vielfalt auf Einheit hin orientiert und in der Einheit die einzelne Stimme vernehmlich sein läßt.

III. Kein Laienparlament, doch repräsentativ Solche Kommunikation übersteigt, was man demokratische Repräsentanz von unten nach oben nennt. Einmal deshalb, weil die Glieder in ihrem jeweiligen Auftrag unvertretbar sind; zum anderen, weil im Zusammenwirken eine neue Qualität von Verantwortung zum Vorschein kommt. Gerade im Eingefordertsein des einzelnen Dienstes ins Ganze, damit der Dienst aller zum Dienst an allen wird, liegt im letzten die Daseinsberechtigung des 'Zentralkomitees. Keinesfalls kann es den Anspruch erheben, etwa in der Art eines Laienparlaments für alle Laien zu sprechen. Es umschließt lediglich die Kräfte, die sichtbar und organisiert hervortreten; hier ist es aber repräsentativ. Das heißt nicht, daß der Weg ins Zentralkomitee nur über Verbände oder Räte führt. Die Vollversammlung wählt jeweils Einzelpersönlichkeiten zu den Verbands- oder Rätevertretern hinzu. Es dokumentiert sich darin eine Offenheit gegenüber jenen mehr persönlichen Initiativen, denen das Zentralkomitee in Geschichte und Gegenwart sehr viel von seiner Wirksamkeit verdankt. Auf dem breiten Fundament der Vollversammlung, die sich auf verschiedene Kommissionen stützt, ruhen die weiteren Organe auf. Es sind dies das Präsidium, das das Zentralkomitee in der Öffentlichkeit vertritt; der Geschäftsführende Ausschuß, der die laufenden Arbeiten

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wahrnimmt; das Generalsekretariat mit seinen Sachreferaten, das eine kontinuierliche und systematische Arbeit gewährleistet sowie die Kommissionen, Arbeitskreise und Gesprächskreise.

IV. Am Ursprung die Verbände Manchen 'Zug an der heutigen Prägung des Zentralkomitees kann ein Blick in seine Vergangenheit schärfer ins Licht rücken. Freilich ist dieser Blick riskant; denn er stellt die katholischen Verbände in den Mittelpunkt als eine der Wurzeln des Zentralkomitees und zumals als die, die in den Boden seiner Vergangenheit am tiefsten reicht. Gern belegt man heute das öffentliche Wirken der Katholiken in der Vergangenheit mit dem abfälligen Verdikt des "Verbandskatholizismus". Wer so urteilt, hat sich nicht die Mühe gemacht, einen von außen und im nachhinein entstandenen Anschein zu überprüfen. Gewiß lagerte sich um katholisches Engagement zum Teil auch jene Mentalität ab, die für alles eine katholische Antwort parat zu haben schien und zu starrer Formierung neigte. Dennoch: bei aller Geschlossenheit brach durch die Verbände ein Zug zu Offenheit und Partnerschaft auf, in der Kirche wie in der Gesellschaft. Und dies, obwohl die geschichtliche Situation der Entfaltung von Dialogmomenten kaum förderlich war. Den katholischen Block oder die katholische Heerschar hat es nie gegeben. Von Anfang an verkörperten die Verbände oft in ganz verschiedene Richtungen weisende Initiativen, nicht nur innerhalb der Kirche, sondern auch gegenüber der Gesellschaft. Heute gewinnt eine gerechtere Sehweise wieder Raum, ausgehend vom 11. Vatikanischen Konzil, dessen Aussagen über die Verantwortung der Laien für den Weltauftrag der Kirche die epochale Leistung der Verbände nachträglich bestätigte und erhellte. In der Tat war um die Mitte des 19. Jahrhunderts, als die Verbandsgründungen einsetzten, eine dieses Laienengagement ermunternde und rechtfertigende Theologie nicht einmal in Ansätzen vorhanden. Um so mehr muß dieser Aufbruch und gewissermaßen auch Ausbruch aus der Allzuständigkeit des Amtes von unserem heutigen Blickpunkt aus erstaunen. Daß es sich hierbei um Pioniertaten handelte, davon zeugen nicht zuletzt die Spannungen, die die jungen Verbände im kirchlichen Raum selbst zu bestehen hatten. Und wie stellt sich dieser kirchliche Raum um die Mitte des vorigen Jahrhunderts dar? Als ein Ruinenfeld! Nachdem die Säkularisation über die Kirche hinweggegangen war, war der organisatorische Apparat der Kirche weitgehend zerstört. Dem öffentlichen Wirken der Kirche war die materielle Grundlage weithin entzogen. Die Kirche fand sich mittellos vor, dazu in vielen Fällen als Minderheit in protestantischen Staaten. Man darf ohne Scheu sagen,

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daß die Katholiken durch den Zusammenschluß in Verbänden neues Selbstbewußtsein gewannen. Dieses Sich-zusammenschließen galt aber nicht brüstender Selbstdarstellung, sondern dem Anpacken von Sachfragen; die Identität entsprang aus dem Dienst und nicht aus der Deklamation. Hinzu kam das starke Empfinden, mitverantwortlich zu sein für das Schicksal der Weltkirche. Ist es nicht erstaunlich, wie viele missionarische Initiativen aus den Verbänden hervorgingen? Lange vor dem Ir. Vatikanischen Konzil wurde hier die Verantwortung der Laien für die Kirche sichtbar. Aber es ging damals nicht nur um die Freiheit der Religion von obrigkeitsstaatlicher Bevormundung oder um die politische Unabhängigkeit des Papstes, es ging auch um die freie Entfaltung gesellschaftlicher Kräfte überhaupt, um die Erringung des Rechtsstaates, um die Teilhabe breiter Schichten an Bildung und schließlich um die Lösung der sozialen Frage. Ebenso bedeutungsvoll wie für die Kirche war das Wirken der Verbände für Staat und Gesellschaft. Denn es galt Bereiche in Selbstverantwortung auszufüllen, aus denen der Obrigkeitsstaat verdrängt werden mußte. Von Beginn schöpften die Verbände ihre Rechtfertigung auch aus diesem staatsbürgerlichen Erfordernis.

V. Von den Katholikentagen zum Zentralkomitee Von daher betrachtet, fällt der gesellschaftliche Ursprung katholischer Verbände ins Revolutionsjahr 1848, das unter anderen Rechten den Bürgern auch das "Assoziationsrecht" erbrachte, das Recht, sich frei in Verbänden zusammenzuschließen. Noch im selben Jahr findet die erste Generalversammlung des Katholischen Vereins Deutschlands statt, der aus den Pius-Vereinen hervorgegangen war. Von Jahr zu Jahr tagen nun regelmäßig die Generalversammlungen, die man später Katholikentage nannte. Im Jahr 1868 wird in Bamberg die Bildung eines Zentralkomitees beschlossen, dem fortan die Planung der bislang jeweils örtlich vorbereiteten Generalversammlungen bzw. Katholikentage obliegt. Zu seinen Aufgaben gehört ferner, das katholische Vereinsleben zu wecken und zu fördern. Den Vorsitz führt Carl Fürst zu Löwenstein, der den deutschen Katholizismus ein gutes Stück Wegs begleiten sollte. Damit beginnt die Geschichte des Zentralkomitees vor mehr als hundert Jahren. Sie bleibt eng mit den Katholikentagen verbunden. Im Zug des Kulturkampfes wird das Komitee 1872 aufgelöst; man ist einem drohenden Verbot zuvorgekommen. Carl Fürst zu Löwenstein führt die Aufgaben fortan kommissarisch weiter; seine Persönlichkeit und seine Autorität wahren die Verbindung unter den Katholiken. Erst 1898 wird das 'Zentralkomitee neu gegründet.

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Das Jahr 1933 bringt eine neue Zäsur. Der Katholikentag dieses Jahres soll in Breslau stattfinden. Das Zentralkomitee ist jedoch nicht bereit, eine Loyalitätserklärung für Führer und Reich abzugeben. Daraufhin kann der Katholikentag nicht stattfinden, eine öffentliche Wirksamkeit des Zentralkomitees ist fortan unmöglich, es bleibt jedoch innerkirchlich tätig. Nach dem Krieg findet 1948 der erste Katholikentag statt; 1952 wird das bisherige Zentralkomitee der Katholikentage als Zentralkomitee der deutschen Katholiken und damit als Zusammenschluß aller Kräfte des Laienapostolats neugegründet. Das Jahr 1967 bezeichnet einen neuerlichen und bedeutsamen Einschnitt. Das Zentralkomitee erhält wiederum ein neues Statut, das diesmal die Ergebnisse des 11. Vatikanischen Konzils berücksichtigt. 1974 wird das Statut nochmals unter Berücksichtigung der Beratungsergebnisse der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland überarbeitet. Dieses jetzt gültige Statut ist insbesondere dadurch gekennzeichnet, daß die Vertreter der Diözesanräte und die Vertreter der Verbände in gleicher Zahl dem Zentralkomitee angehören. Welche vertieften Sehweisen, welche Entwicklungsmöglichkeiten, aber auch welche Fragen und Risiken das Konzil für die Laienarbeit und damit für das Zentralkomitee erbrachte, diese Fragen haben die Arbeit des Zentralkomitees in den letzten zehn Jahren stets begleitet. VI. Weltdienst des Gottesvolkes Viel zitiert ist die konziliare Definition der Kirche als des "Sakramentes des Heiles für die Welt". In ihr spricht sich aus, wie tief das Zugehen auf die Welt und das Einlassen auf die Welt zum Wesen der Kirche gehören. Wie kann die Kirche ihrem Weltdienst gerecht werden? Allein dadurch, daß sie sich als Glaubens- und Lebensgemeinschaft bezeugt, als Volk Gottes, als Einheit der vielen voneinander unableitbaren und unvertretbaren Charismen. Die Frage ihres Wirkens und ihrer Präsenz in der Welt ist die Frage nach der Teilhabe aller an ihrer Sendung. Es gibt in der Kirche Bereiche spezifischer Verantwortung, aber keine Exklusivräume. Glaube und Sitte sind nicht ausschließlich Sache des Amtes und das konkrete gesellschaftliche Engagement nicht ausschließlich Sache der Laien. Glaube und Sitte sind Sache aller Christen, und das Wirken in die Welt hinein ist Sache aller Christen. Es geht nicht bloß darum, etwas Hilfreiches zu verkündigen oder etwas Wegweisendes zu tun; gefordert ist, daß jedes einzelne Zeugnis, jeder einzelne Dienst, wo sein Schwerpunkt auch liegen mag, die unverkürzte Botschaft Jesu Christi weitergibt.

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Wie kann dieser Anspruch erfüllt werden? Die eine Antwort, die das Konzil darauf gab und die in der nachkonziliaren Phase ein starkes Echo fand, zielt darauf, das kirchliche Leitungsamt in eine strukturelle Beziehung zu bringen mit den spezifischen Aufgaben der Laien, die diese im Rahmen des Heils- und Weltdienstes der Kirche haben. Was gemeinhin unter dem Stichwort "Partizipation" verstanden wird, was oft als bares Demokratisierungsstreben mißverstanden wird, ist nichts anderes als ein Aspekt der gemeinsamen Verantwortung des Amtes und der Laien für die Sendung der Kirche. Ihren strukturellen Niederschlag fand diese Tendenz in den sogenannten Pastoral räten, in denen Laien den Bischof bei seinen pastoralen Aufgaben unterstützen. Aber auch die Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland gehört in diese Linie.

VII. Reicht Partizipation? Die Neigung zahlreicher Laienkreise, sich auf die Strukturen der Partizipation an der Amtsautorität zu konzentrieren, war in den ersten Jahren nach dem Konzil nicht zu verkennen. Mitunter geschah dies in so starkem Maß, daß eine doppelte Gefahr auftauchte: einerseits den eigenen Dienst, die eigene Verantwortung so zu reduzieren, daß, bildlich gesprochen, sie unter die Mitra paßt; zum anderen die Mitra so weit zu machen, daß alle Verantwortlichkeiten, Charismen und Dienste unter ihr vereinnahmt werden können. Veramtlichung des eigenständigen Laienengagements auf der einen, Vergesellschaftung oder Demokratisierung des kirchlichen Amtes auf der anderen Seite stellten notwendigerweise die Sackgasse für einseitig auf das kirchliche Amt fixierte Bemühungen dar. So notwendig die Beratung des Leitungsamtes ist, das volle Maß dessen, was Teilhabe des ganzen Gottesvolkes an der kirchlichen Sendung beinhaltet, kann sie nicht ausschöpfen.

VIII. Präsenz durch freie Initiativen Hier braucht es die freien Initiativen: die Gruppen, Vereinigungen, Räte und Verbände der Laien, die in den verschiedenen Lebensbereichen und auf den verschiedenen Ebenen angesiedelt sind. Weil sie meistens "von unten" in der Begegnung mit der Realität und nicht der Theorie der Welt entstehen, übersetzen sie unmittelbar gesellschaftliches Leben in die Kirche. Und andererseits, als Träger und Zusammenschluß kirchlicher Charismen, machen sie Kirche in der Gesellschaft präsent. Sie sind gesellschaftliche und kirchliche Strukturen in einem. Freilich handeln sie nicht im Namen der Kirche, aber ist das nicht gerade ihr Vorzug?

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Nicht alle Situationen und Sachbereiche sind mit amtlichen Weisungen abzudecken. Nicht für alle Fragen gibt es verbindliche christliche Lösungen; nachdrücklich sprach das Konzil von der Eigengesetzlichkeit der weltlichen Sachbereiche. Und doch verlangen auch diese Situationen, Sachbereiche und Fragen das christliche Zeugnis. Wie wäre es um den kirchlichen Dienst in Bereichen wie Jugendhilfe, Erwachsenenbildung, Sozialarbeit, Ehe- und Erziehungsberatung oder Politik bestellt, wenn in ihnen nur so viel zur Geltung kommen könnte, wie das Amt zu sagen und zu tun vermag? Die Kirche würde dann ihre Sauerteigfunktion nur ungenügend erfüllen können. Deshalb kommt es entscheidend darauf an, daß Laien in eigener Verantwortung, das heißt gemäß ihrer spezifischen Berufung, tätig werden. Dadurch erst nehmen sie ihren Platz im Volk Gottes ein und tragen zur Verwirklichung seiner gemeinsamen Sendung bei. Es bleibt das Gebot der Einheit mit dem Amt, damit in Zeugnis und Aktivität der Gläubigen das weitergegeben wird, was Kirche von ihrem Ursprung her der Welt zu geben hat. So ist es notwendig, daß die verschiedenen freien Initiativen über die Räte des Laienapostolats und über die Pastoralräte ihren wirksamen Beitrag dazu leisten, daß die kirchlichen Amtsträger ihren Dienst an der kirchlichen Einheit erfüllen können.

IX. Verbände sind unentbehrlich So unaufgebbar wie die Eigenständigkeit ist auch die Verschiedenartigkeit der gesellschaftlichen Initiativen der Gläubigen. Diese Verschiedenartigkeit kristallisiert sich im Zentralkomitee in seinen beiden strukturellen Hauptträgern, den Verbänden und den Räten. Nachdem das Konzil im Laiendekret einen starken Anstoß zur Bildung VOn Laienräten gab, die auf entscheidenden Ebenen des gesellschaftlichen, staatlichen und kirchlichen Lebens gegründet werden sollten, wurde die Frage lauter, ob nicht die Verbände ausgedient hätten. Genügen vielleicht die Räte als gesellschaftliche Strukturen in der Kirche bzw. als kirchliche Strukturen in der Gesellschaft? Das Zentralkomitee ist nicht in Traditionsbewußtsein und Pietät befangen, wenn es sich in seiner Arbeit nach wie vor auch auf die Verbände stützt. Verbände, als dauerhafte Zusammenschlüsse von Menschen, sind in einem viel ursprünglicheren Sinn selbst Gesellschaft als es Räte oder deren Ausschüsse sein können. Räte haben gewiß einen Vorzug darin, daß sich in ihnen ganz spontan Initiativen ansammeln können, Initiativen, die auf neue Situationen eine rasche Antwort finden. Die unmittelbare Reaktion hat einen guten Sinn, um flüchtige Entwicklungen nicht entgleiten zu lassen. Heute besonders kann Spon-

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taneität von der Lebendigkeit des Glaubens zeugen. Aber es braucht auch Initiativen, die sich kontinuierlich in einer Sache engagieren, die Alternativen entwickeln und Modelle erproben. Hier haben die Ver· bände ihr eigenes Gewicht.

X. Koordination auf nationaler Ebene Wenn sich im Zentralkomitee die verschiedenen Weisen des Laien· apostolats zu gemeinsamem Sprechen, Handeln und Planen zusammen· finden, steht. dabei nicht zuvörderst der Gedanke an die Effizienz; na· türlich gilt es auch, diesem Erfordernis Rechnung zu tragen. Der eigentliche Sinn dieses Miteinanders liegt in der Begegnung mit der allen gemeinsamen gesellschaftlichen Situation. Dafür aber ist die nationale Ebene ausschlaggebend. Warum? Ohne die über die nationalen Grenzen hinausreichenden zivilisatorischen Zusammenhänge zu verkennen, ist es doch so, daß die durchgehenden Gestaltungsimpulse der Gesellschaft auf der nationalen Ebene greifbar werden. Die verschiedenen Formen und Formierungen christlichen Weltdienstes müssen miteinander in Kommunikation treten im Hinblick auf die Fragen, Forderungen und Anforderungen der Gesellschaft als ganzer. Dieses dient nicht nur der Begegnung mit der Gesellschaft, sondern auch der Bildung öffentlicher Meinung zu gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen innerhalb der Kirche selbst. Das Laiendekret des Konzils spricht von der Notwendigkeit, die Laieninitiativen auf den verschiedenen Ebenen zu koordinieren. Solche Koordination auf der nationalen Ebene zu leisten, ist eine der praktischen Aufgaben des Zentralkomitees. Aber auch hier läuft das Laienengagement nicht in sich selbst aus; auch auf dieser Bezugsebene muß es rückgebunden sein in die Einheit der gesamten Kirche und für sie fruchtbar gemacht werden. So steht das Zentralkomitee in ständigem Dialog mit der Deutschen Bischofskonferenz. Zu seinen expliziten Aufgaben gehört es, die Bischöfe in Fragen kirchlichen, gesellschaftlichen und staatlichen Lebens zu beraten. Gemäß einem Beschluß der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland haben die Bischofskonferenz und das Zentralkomitee eine Gemeinsame Konferenz gegründet, in der namentlich Fragen der gemeinsamen Verantwortung von Bischöfen und Laien beraten werden. Weltweit lassen sich die Strukturen und Arbeitsformen des Laienapostolats in Deutschland nicht ohne weiteres mit denen anderer Länder vergleichen. Vieles erklärt sich in Deutschland aus der eigenen Geschichte und aus der besonderen Denktradition in Fragen der gesellschaftlichen, staatlichen und auch kirchlichen Ordnung. Trotzdem gibt es weit gefächerte internationale Kontakte zu entsprechenden Gremien

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und Organisationen in Europa und der Dritten Welt. In diesen internationalen Kontakten will das Zentralkomitee der deutschen Katholiken Gesprächspartner im Rahmen der Weltkirche sein; als Exportartikel versteht es sich nicht.

DAS CHRISTLICHE APOSTOLAT UND DIE ORDEN Von Robert Prantner

I. Fundament, Sachbezüge und Gestalt 1. Fundamentale Zugänge zum Apostolat

Im Volke Gottes finden sich jene Getauften, "die nach Übernahme der evangelischen Räte ein tätiges Leben unter den Menschen oder ein in der Stille verborgenes führen oder auch beides je nach ihrer besonderen Verfassung zu verwirklichen trachten"t, die also Jesus nachfolgen, der arm, gehorsam und jungfräulich lebte. Sie entsprechen dem Imperativ "Willst du vollkommen sein, so gehe hin, verkaufe, was du hast, und gib es den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben - dann komm und folge mir nach" (Mt. 19, 21), und zwar in Gehorsam ohne Vorbehalt, ohne "erst hinzugehen und den Vater zu begraben", ohne "sich von den Hausgenossen zu verabschieden", ohne "seine Hände an den Pflug zu legen und zurückzuschauen" (Lk. 9,57 - 62); und "wer es fassen kann, der fasse es"; nämlich das Leben der "Ehelosen, die um des Himmelreiches willen sich selbst zur Ehelosigkeit entschlossen haben" (Mt. 19,12). Ihnen als Pendant apostrophiert Klostermann2 die Träger der Gaben des lebendigmachenden Geistes (2 Kor. 3,6): die Charismatiker, mit besonderen" wunderbaren Gaben ausgestattete Menschen, die niemals in der Kirche fehlen werden"3, die sich dem Apostolate als Ordensleute widmen, wie Franz von Assisi, Katharina von Siena, Ignatius von Loyola, Theresia vom Kinde Jesu, andere Ordensstifter und Heilige, die alle in irgendeiner Weise den "in der Kraft des Geistes" auftretenden Herrn Jesus nachbilden (Lk. 4,14). 2. Formen und Sachbereiche des Apostolates der Ordensleute

Unter den Gestalten des von Ordensleuten ausgeübten Apostolates4 finden sich jene des Gebetes, des Beispiels, des Wortes, der Opfers und der Sühne wie der Liebestat. "Das Apostolat des Gebetes ist das mäch1 2

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Pius XII., 29. 6. 1943, R 767. Ferdinand Klostermann, Das christliche Apostolat, 275 s. Pius XII.,!. c. F. Klostermann, 1. c., 191 ss.

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tigste und durch die Gnade Gottes auch das leichteste Apostolat, das wirklich das Apostolat aller sein kann 5." Den Frauen sagt Pius XII: "Das wirksamste und unersetzbarste Apostolat ist das eines heiligen und frommen Lebens, welches durch Beispiel und Gebet wirkt. Das ist auch der Grund, warum dieses Apostolat des Beispiels unter den verschiedenen Formen Eurer Tätigkeit den wichtigsten Platz einnimmt6 ." Auch von den Männern verlangt schon Pius XI. "das Apostolat des Beispiels eines wahrhaft christlichen Lebens, das um so mehr überzeugt und spricht, je schweigsamer es ist"7. Dazu zählt Klostermann auch das Apostolat der Ausstrahlung, des Zeugnisses, der verschiedenen Tugenden, etwa der Demut, von dem mitunter die Rede ist. "Dem Apostolat des Gebetes muß das Apostolat des Wortes, der Propaganda folgen; des Wortes, das auf Euren Lippen so angenehm ist, das so überzeugend und unwiderstehlich ist, wenn es von Eurer Anziehungskraft, von der Großmut Eures Herzens, von der gefälligen Lebhaftigkeit Eures Sinnes dargeboten wird"B, sei es nun ein Wort des Rates oder der Belehrung, sei es "das Apostolat des gesprochenen . . ., des geschriebenen .. . oder gedruckten Wortes"9. Hiezu zählt das Apostolat der Katechese10 oder überhaupt das "Lehrapostolat"11. In Rede stehen dabei Worte der Glaubensvermittlung, der Glaubensverbreitung und -verteidigung. Häufig sprechen die Nachfolger des hl. Petrus auch vom "Apostolat des Opfers, das keine Hindernisse kennt und das wirksamste aller Apostolate ist"12 und zu dem sie neben den Kranken, Blinden, Kriegsverletzten besonders die Ordensleute auffordern. Schließlich ist das Apostolat der Liebestat zu nennen, von dem Papst Pius XI. aussagt: "Dann ist noch das Apostolat der Taten, der Werke, der individuellen, familiären und sozialen Liebe, durch das den Armen Erleuchtung gebracht wird mittels der Freigebigkeit der wohlhabenden Klassen gegenüber den Bedürftigen. Ihr habt es gut verstanden und Wir wissen, daß Ihr Euch durch Eure vielfachen moralischen, kulturellen und geistigen, wie katechetischen Liebeswerke der Hilfeleistung für Eure Brüder gewidmet habt und daß Ihr Euch für diese Ausübung der Liebe in Gedanken, Wort und technischer Methode vorbereitet1s." Dabei fällt schlüssig auf, daß einfach alle Taten der Caritas und sozialen Pius XL, 7.7. 1928, Cav 472. Pius XII., 14. 4. 1939, U 1331. 7 Pius XL, 12. 12. 1926, Cav 190. 8 Pius XL, 20. 9. 1925, Cav 138. B Pius XL, 26. 2. 1934, DC 35, 460. 10 Pius XL, 17.9. 1935, par 395 s. 11 Pius XII., 5. 10. 1957, AAS 49, 922/939. 12 Pius XII., 27. 3.1953, AAS 45, 238/244. 13 Pius XI., 20. 9. 1925, Cav 138.

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Liebe unter ein "Apostolat der Taten" subsummiert werden, auch wenn sie nicht direkt auf eine Konversion des Menschen zu Christus tendieren. Sie rangieren schon als solche als Apostolat des Zeugnisses und christliches BeKenntnis. Pius XII. adressierte in seiner Rede zum 1. Weltkongreß für das Laienapostolat seine Worte auch an die geistlichen Assistenten und Präsides aus zahlreichen Ordensgemeinschaften, die den Laien eine unverwechselbare Spiritualität aufprägen; er spricht vom "Apostolat in allen Bereichen des individuellen und sozialen menschlichen Lebens" (dans tous les domaines de la vie humaine individuelle et sociale) und er zählt dann auf: "das Apostolat im Dienste (au service) der christlichen Ehe, der Familie, des Kindes, der Erziehung und der Schule"; das Apostolat für die jungen Männer (pour le jeunes gens) und jungen Mädchen ... ; das Apostolat für eine praktische Verbesserung der sozialen Mißstände und des Elends; das Apostolat in den Missionen (dans les Missions) oder zugunsten der Auswanderer (en faveur des emigrants) und Einwanderer; das Apostolat im Bereich des intellektuellen und kulturellen Lebens (dans le domaine de la vie intellectuelle et culturelle). Dabei werden auch das Apostolat der Caritas und der sozialen Fürsorge unter ihren heute unzählbaren Formen, das Apostolat des Spieles und des Sportes und endlich das Apostolat der öffentlichen Meinung genannt14. Schon Jahrzehnte zuvor war die Rede vom "sublime apostolato dell'Educazione Christiana, Apostolato che e tanta gloria della chiesa e delle sue famiglie religiose"15.

3. Die kirchen- und ordensrechtliche Perspektive des Apostolats der Ordensleute Ordensleute sind im Selbstverständnis der Ära nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil grundsätzlich Mitarbeiter in der Sorge um die Seelen der Menschen. Grundsatz ist: Alle diejenigen, die sich zum Leben nach den evangelischen Räten bekennen, haben die Pflicht, mit Eifer am Aufbau und Wachstum des ganzen Mystischen Leibes Christi und am Wohl der einzelnen Teilkirchen mitzuwirken16 . Die Ordenspriester sind zum priesterlichen Dienst geweiht, damit sie umsichtige Mitarbeiter des Bischofs sind. Angesichts der wachsenden seelsorglichen Notlage können sie den Bischöfen noch größere Hilfe leisten. Sie gehören daher in einem wahren Sinne zum Klerus der Diözese. Aber auch die anderen Ordensleute, Männer und Frauen, gehören in besonderer Weise Pius XII., 14. 10. 1951, AAS 43, 784/792. S. S. 25. 8. 1927, Cav 394. 18 Konzilsdekret Christus Dominus, 33; cfr. Bruno Primetshofer, Ordensrecht, 1979, 272 ss. 14 15

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zur Familie der Diözese und müssen ihr Apostolat heute verstärkt in den Dienst der Diözese stellen. Ordensverbände, die sich nicht einem rein beschaulichen Leben widmen, können angesichts der drängenden seelsorglichen Notwendigkeit und des Mangels an Diözesanklerus vom Bischof herangezogen werden, um in den verschiedenen Seelsorgsdiensten Hilfe zu leisten; dabei ist jedoch auf die Eigenart eines jeden Verbandes zu achten. Diese Hilfeleistung, die auch durch die zeitweilige übernahme von Pfarreien erfolgen kann, sollen die Superioren nach Kräften fördern 17 • Grundsätzlich ist das gestaltgebende Motu proprio "Ecclesiae sanctae" der Auffassung, daß die apostolische Tätigkeit jener Ordensleute, die sich nicht zu einem rein beschaulichen Leben bekennen, durch die ordenseigenen Aufgaben nicht so in Anspruch genommen wird, daß für drängende seelsorgliche Notwendigkeiten der Diözese nicht bloß Ordenspriester, sondern auch andere männliche wie weibliche Ordensleute zu Hilfe gerufen werden könnten. Diese Berufung muß durch den Ortsordinarius mit Zustimmung des zuständigen klösterlichen Oberen geschehen, wo· bei die Eigenart eines jeden Institutes zu berücksichtigen ist18 • Als Grundsatz hat zu gelten, daß aUe Ordensleute, auch die exempten, an die Gesetze, Dekrete und Weisungen des Ortsordinarius gebunden sind, die er in bezug auf die verschiedenen seelsorglichen Arbeitsbereiche erlassen hat. Dies gilt des näheren sowohl hinsichtlich der Ausübung des Apostolats im allgemeinen als auch im besonderen hinsichtlich einer spezie'llen Pastoral- oder Sozial aktion, die der Ordinarius loci entweder vorgeschrieben oder empfohlen hat19 • Auch die jedem Ortsverband eigentümlich beziehungsweise charakteristischen Aufgaben sind in einer Weise auszuüben, daß auf die geistlichen Bedürfnisse der Diözesen und die brüderliche Eintracht mit dem Diözesanklerus sowie mit den ähnliche Werke ausführenden Instituten Rücksicht genommen wird20 • Die ordenseigenen oder zumindest dem Ordensverband charakteristischen Aufgaben, die in den Häusern des jeweiligen Verbandes ausgeübt werden, unterstehen, auch wenn diese Häuser nur gemietet sind, grundsätzlich den klösterlichen Oberen, die ihre Leitungsgewalt gemäß den Konstitutionen ausüben. Nach Maßgabe der einschlägigen Bestimmungen des kanonischen Rechtes unterstehen aber aUe diese Werke auch der Jurisdiktion des Ortsordinarius21 • Werke jedoch, die einem Ordensverband seitens des Ortsordinarius übertragen werden, 17

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Christus Dominus (CD), 35, 1. Motu proprio Ecclesiae sanctae (ES), I, 36. ib., I, 25, § 1. ib., I, 28. ib., I, 29, § 1.

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unterstehen selbst dann, wenn sie für den betreffenden Ordensverband eigentümlich oder charakteristisch sind, der Autorität und Leitungsgewalt des Ortsordinarius. Hierbei bleibt das Recht der klösterlichen Oberen unangetastet, sowohl die Lebensführung der Ordensmitglieder als auch - zusätzlich zum Ortsordinarius - die Erfüllung der den Ordensmitgliedern übertragenen Aufgaben zu überwachen22 • Das Apostolat der Schule und an Erziehungsstätten unterliegt besonderen Regelungen, soweit es von Ordensleute praktiziert wird. Can. 1382 CIC legt hinsichtlich aller Schulen, Erziehungs-, Erholungs-, Jugendheime und sonstigen Anstalten ein allgemeines Visitationsrecht des Ortsordinarius fest. Dieses Visitationsrecht betrifft die religiöse und sittliche Unterweisung der Jugend; es erstreckt sich auch auf die Schulen bzw. sonstigen Anstalten exempter Religiosen, soweit es sich nicht um eine rein interne Schule für die Professen eines exempten Verbandes handelt. Ergänzend bzw. erweiternd verfügt das Motu proprio "Ecc1esiae sanctae", daß der Ortsordinarius alle Institute der Ordensgemeinschaften, Schulen, Erziehungsanstalten, Tagesheimstätten, Erholungsheime, Horte, Spitäler, Waisenhäuser und ähnliche Institute, die für Werke der Religion oder eines geistlichen oder zeitlichen Liebesdienstes bestimmt sind, nach Maßgabe der kirclllichen Rechtsbestimmungen visitieren kann23 • Im Dekret "Christus Dominus" ist festgehalten, daß die katholischen Schulen der Ordensleute den Ortsordinarien in bezug auf ihre allgemeine Ordnung und Aufsicht unterstehen, wobei jedoch das Recht der Ordensleute hinsichtlich der Schulleitung gewahrt bleibt. Die Ordensleute sind auch verpflichtet, alles zu beobachten, was die Bischofskonzilien bzw. Bischofskonferenzen im Rahmen ihrer Zuständigkeit als allgemein verbindliche Normen vorschreiben24 • Ferner wird die Notwendigkeit einer straffen Koordinierung aller apostolischen Werke und Initiativen sowie das Erfordernis der Zusammenarbeit zwischen den Ordensleuten und dem Bischof bzw. Diözesanklerus betont; gleichzeitig wird die Notwendigkeit hervorgehoben, daß Bischöfe, Bischofskonferenzen und Ordensobere bzw. Vereinigungen der höheren Ordensoberen im Interesse der von den Ordensleuten verrichteten Apostolatsaufgaben nach vorausgehender gegenseitiger Beratung vorgehen25 • Die Ausführungsbestimmungen zum Konzilsdekret "Christus Dominus" unterstreichen die Notwendigkeit einer Anpassung aller katholischen Schulen von Ordensleuten an die kulturellen und sozialen Ziele, wie noch unten ausgeführt wird26 • 22 23 24 25 28

ib., I, 29, § 2. ib., I, 39, § 2. CD, 35, 4. ib., 34,5. ES, I, 39, § 1.

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ß. Das Apostolat der Orden in kirchenhistorischem Rückblick: Die Nachfolge der Apostel in asketischen Bezügen führte zu immer strengeren, entschiedeneren und endgültigeren Formen der Apostelnachfolge, die lebensprägende Elemente in sich barg 27 • So wurde das apostolische Leben allmählich zum Mönchsleben, der "ordo apostolicus" ward identisch mit dem "ordo monasticus"!8. Für den Übergang vom allgemein christlichen Leben zur mönchischen Form ist die Schilderung der Eusebischen Kirchengeschichte vom asketischen Leben der Therapeuten, die Philo von Alexandrien in seinem Buche "De vita contemplativa" beschreibt und die Eusebius für christliche Asketen hält, charakteristisch29 • Im 11. und 12. Jahrhundert war das "apostolische Leben" geradezu zum Fachausdruck für das Mönchsleben geworden. Leo Diaconus rühmt den "bios apostolik6s" des Mönchspatriarchen Antonius30 • Dabei zeigen die Entwicklungen des Orients und des christlichen Westens ähnliche Tendenzen. In der Tat geht es ja im ganzen Mönchs- und Ordensleben um nichts anderes als um eine möglichst getreue Nachfolge Jesu unter den jeweiligen Umständen der Zeit und den jeweiligen Bedürfnissen der Kirche, um den Kriegsdienst als "guter Streiter Christi", der "seinen Kriegsherrn gefallen will" (2 Tim. 2, 3 f.; vgl. 2 Kor. 10,3 f.). Dies aber heißt Jünger, heißt Apostel sein und in der Nachfolge der ersten Jünger und Apostel Christi stehen. So berufen sich auch alle großen Ordensregeln auf das Evangelium und wollen sich als Ausdruck der evangelischen Botschaft verstanden wissen. Dies gilt insbesondere für die Spiritualität der Basilianer, der Benediktiner, der Minderbrüder und aller ihrer Reformzweige. So geht es etwa Franz von Assisi nur um "das Leben nach der Weisung des Evangeliums Jesu Christi"31; seine Urregel und die zweite Regel sind eine Fülle von Worten des Evangeliums; seine Brüder sollen wie die Apostel in die Welt gehen32 • Wenn er vom Almosenbettel um Christi willen spricht, betont er, daß "auch die seligste Jungfrau und die Jünger vom A:lmosen gelebt" hätten 33 . Und so grundverschieden die Ordensauffassung des Ignatius von Loyola im Vergleich mit den alten Orden auch ist, will auch er nur, daß die Mitglieder seiner Gesellschaft, "die wir mit dem Namen Jesu auszuzeichnen wünschen, unter dem Banner des Kreuzes für Gott streiten und dem einzigen Herren ... dienen"34. Z7

Z8 29

30 31 32

33 34

cfr. F. Klostermann, l. c., 151 ss. Blge Du Cange, 1,320. Eusebius, Historia ecc1esiastica, 2,16 s. PG 20, 173/184. Historia 10, 3 PG 117, 892. Regula S. P. Francisci, lI/I. ib., II/14 und III/3. ib., II/9. H. U. v. Balthasar, Die großen Ordensregeln, 281.

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Damit tritt allmählich eine andere Variante des "apostolischen" Lebens ins Licht, die in der Folgezeit immer profi:liertere Konturen erhielt: nämlich die aktiv-seelsorgliche Seite, womit das Wort "apostolisch" und der Begriff "Apostolat" zu seiner heute aktuellen ekklesiologischen Bedeutung kommen. Auch in den neuen Orden des 11. und 12. Jahrhunderts, hebt Klostermann hervor36 , bleibt der Zusammenhang der beiden Auffassungen vom apostolischen Leben bewahrt, was der Auffassung von einem radikalen Wandel des priesterlichen Selbstverständnis zu recht entgegensteht. Denn die vielen apostolischen Wanderprediger waren vielfach Mönche oder regulierte Kanoniker, die im Kloster als "pauperes Christi" leben wollten. Aber gerade in dieser Zeit wurde der Bedeutungswandel von "Apostolisch Leben" zu "Apostolisch in der Welt und auf die Welt Wirken" endgültig. Eine besonders hervorragende Rolle spielte das aktiv-apostolische Leben in dem verkündigungsorientierten Mendikatorenorden der Dominikaner oder Predigerbrüder des 13. Jahrhunderts, die nun nicht mehr nur einzelne Wanderprediger aussandten während die Gemeinschaft selbst in Weltabgeschiedenheit lebte, sondern die nun das Zeugnis inmitten der Welt als eine Aufgabe für die ganze Gemeinschaft ansahen. Noch spürbarer wird das in der Gesellschaft J esu, die einen völlig neuen Ordenstyp darstellte, "auf gemeinsames Chorgebet und äußere pflichtmäßige Bußübungen verzichtete, um sich uneingeschränkter dem Dienste Gottes in Form des Apostolats (im aktiv-apostolischen Sinn) zu widmen"36, und in den jüngeren und jüngsten "tätigen", "apostolischen" Orden und Kongregationen, die ja vielfach von der Ordensidee des hl. Ignatius von Loyola beeinflußt sind. Sie widmen sich unter anderem auch dem äußeren Apostolate, wie etwa dem Unterricht (Piaristen), besonders der Jugend, der inneren und äußeren Mission (Lazaristen) der Krankenpflege (Kamillianer) und anderen Werken der geistlichen oder leiblichen Barmherzigkeit. Eine besondere Variante eines caritativ und seelsorglichen Apostolates stellt die Spiritualität der geistlichen Ritterorden, vor allem des "Souveränen ritterlichen und hospital ären Ordens des hl. Johannes, genannt von Rhodos und von Malta" (Souveräner MalteserRitter-Orden), uns vor Augen37 . Nicht wenige Orden und Kongregationen schufen sich selbst mehr oder minder affilierte laien apostolische Gemeinschaften zur Unterstützung ihrer apostolischen Unternehmungen, angefangen von solchen mit echter apostolischer Mitarbeit wie die "Marianischen Kongregationen" bis zu solchen zur bloßen finanziellen Förderung wie die vielen "Förder35

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F. Klostermann, 1. c., 156. Balthasar, 1. c., 271. cfr. Robert Prantner, Malteserorden und Völkergemeinschaft, 1974.

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Organisationen"38, von denen kirchenrechtlich und ordensrechtlich a'llerdings die Tertiarenorden zu unterscheiden sind. Diese Gemeinschaften sind Orden im eigentlichen Sinne.

m.

Zur Qualifikation des Apostolats der Ordensleute 1. Zum Rätestand in der Kirche

Im Rahmen des internationalen Ordenskongresses 1950 richtete Papst Pius XII. das Wort an die Ordensleute aus aller Welt39 : "Zwischen den Aposteln und ihren Nachfolgern, zu denen auch deren Mitarbeiter in ihrem Amte gehören, und den einfachen Gläubigen hat Er selbst (sc. der Herr) einen bestimmten Unterschied festgelegt, und auf dieser doppelten Ordnung beruht der Aufbau des Reiches Gottes auf Erden. Daher ist es durch göttliches Recht selber festgelegt, daß die Kleriker sich von den Laien unterscheiden. Der Stand des Ordenslebens steht nun zwischen diesen beiden Ordnungen; er nimmt in der Kirche seinen Ursprung und hat sein Dasein und seinen Wert dadurch, daß er eng mit dem eigentlichen Ziel der Kirche zusammenhängt, das darin besteht, die Menschen zur Heiligkeit zu führen. Obwohl jeder Christ unter der Leitung der Kirche diesen heiligen Gipfel ersteigen muß, so schreitet der Ordensmann doch auf einem ganz anderen Weg und mit Hilfsmitteln höherer Natur dort hinauf." Danach schiebt sich der Ordensstand zwischen den durch göttliches Recht festgelegten Kleriker- und Laienstand, aber dies so, daß es dann nicht etwa drei einander ausschließende Stände gäbe, sondern daß je ein Teil des Kleriker- und Laienstandes, die einander ausschließen, zusammen den dritten Stand bilden.

2. Zur Beziehung von Rätestand und Apostolat Die eigentlichen Zusammenhänge erblickt Klostermann im Gefolge aller Autoren im Kern des Ordensstandes 40 , in den evangelischen Räten. Zwar machen auch sie zunächst innerlich und äußerlich frei für einen ungeteilten Dienst (1 Kor. 7, 29/34), für jenes "servitium Dei", das die Liebe ist, um "unbeschwert von Sorgen" frei zu sein für "die Sache des Herrn", "um Leib und Geist heilig", also gottgeweiht zu sein (1 Kor. 7, 32/34) ..Aber in Gott findet der Gottgeweihte nun auch die Menschen, ja die ganze Welt wieder, und in der Freiheit für das "Werk Gottes" ist er nun auch frei, schöpferisch frei geworden für die "opera Dei" und weiß sich ihnen verpflichtet, den Söhnen und Töchtern Gottes, die seine Brüder sind, und der Schöpfung Gottes, die auch seine Welt ist41 • 38 39 40 Cl

cfr. F. Klostermann, 1. c., 158. Pius XII., 8. 12. 1950, U 3077. cfr. F. Klostermann, 1. c., 776 s. Warnach, Agape 611/614.

Das christliche Apostolat und die Orden

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Aus diesem Standort wird einsichtig, daß jede Ordensgemeinschaft, auch die kontemplativste, von innen her apostolisch ist, wie auch umgekehrt das Apostolat auch des tätigen Ordens seine tiefste und ergiebigste Quelle verschüttet, wenn es nicht aus jener Selbsthingabe, aus jenem Ganzopfer (Holocaust) Gott gegenüber, aus der Gottesliebe strömt. Klostermann zeigt diese inneren Beziehungen zum Apostolat auch von den einzelnen Räten herauf: vom christlichen Gehorsam, der wie der Gehorsam Jesu alles eher sein muß als ein blindes Erfüllen irgendwelcher äußerer Vorschriften, der vielmehr in allem zuerst den Willen des Vaters suchen muß, und zwar suchen muß auch in den Forderungen der Geschichte, der Zeit, des Gewordenen und des Werdenden, des Gewesenen und des Herankommenden. Ein solcher Gehorsam wird wach sein für die Fragen dieser Zeit; nicht daß er den Willen Gottes der Zeit unterstellen und von ihr beugen lassen sollte, aber daß er darauf horcht, was der Wille Gottes in dieser Stunde ist, und auch, wie es anzustellen ist, daß man sie überhaupt wahrnimmt und annimmt42 . Auch von der Armut läßt sich dies zeigen, die ja schon als "Mittel zur persönlichen Befreiung" von der Last und Versuchung des Besitzes auch frei macht für den anderen und für den Dienst am anderen, ganz abgesehen von der Strahlkraft solchen Beispiels43 . Das Armutsgelübde der Ordenspriester, Ordensbrüder und Ordensfrauen gewinnt angesichts einer globalen Sehnsucht, die von den reichen Industrienationen ausstrahlt, nach einem alternativen, einfacheren Leben, erhöhte Zeichenhaftigkeit. Armut, nicht als totales Nichtshaben, sondern als anspruchslose Lebenshaltung und Bedürfnislosigkeit, als Einschränkung des wohlstandsorientierten Konsumrahmens verstanden, gleicht daher einem "Protest gegen die anonyme Diktatur des Habens"44. Daher ist es verwunderlich, daß das Problem der Armut als Herzstück des monastischen oder kongregationistischen Apostolats in den Erneuerungsbestrebungen der Orden eine untergeordnete Rolle zu spielen scheint. Spielt also die Frage "Einfacher leben" keine oder nur eine sehr untergeordnete Rolle in der apostolischen Erneuerung des Ordens? Vielleicht doch nicht. Vollzieht sich doch in den letzten Dezennien vor der Jahrtausendwende in den Orden ein Prozeß des Hineinwachsens in die Gesamtkirche und der Einwurzelung in die moderne Gesellschaft, die in der Diktion der Gesellschaftswissenschaft als "Inkulturation" bezeichnet wird. Dieser Prozeß ist, wie der Wiener Jesuitencfr. Hans Urs von Balthasar, Theologie der Geschichte, 20/22. Pius XII., 9.9. 1956, AAS 48, 670/674. Pius XII. führte diese Ideen bezeichnenderweise vor einem Kongreß von Nationalökonomen und Wirtschaftshistorikern aus. 44 cfr. Alois Schrott, Protest gegen anonyme Diktatur des Habens, in: Die Furche, 22. 12. 1978. 42

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theologe Alois Schrott sagt, freilich kein Vorgang am Reißbrett, sondern ein Lebensprozeß, der nur Schritt für Schritt vor sich gehen kann. Mit der Anpassung an die heutige Gesellschaft ist auch die Gefahr gegeben, sich den Trends eben dieser Gesellschaft mit ihrem Maximierungswahn, ihrem Konsumhedonismus, ihrem autonomiedeterminierten Aktionismus zu unterwerfen. Im inneren Immunisierungsprozeß gegen diese weltimmanenten Lebenshaltungen einer antitranszendent orientierten Weltbefangenheit, die durch die Sinnfrage aus ihren Geleisen geworfen wird, spielt die Armutshaltung der Ordensleute eine dominierende Rolle. Wenn das christliche Leben in seinem Wesen Nachfolge Christi Christi sein muß, dann ist es die Aufgabe der Orden, diese Nachfolge von der Wurzel her, das heißt in Radikalität nachzuleben. Besteht doch in der zitierten Konsumgesellschaft, die das Christentum in seinem Nerv trifft, die Gefahr, das Evangelium zu verharmlosen, es in Stunden der Andacht gelten zu lassen, aber ihm keinen Platz zu geben im Alltag. Es handelt sich um die Gefahr des Pharisäismus, der Jesus den Kampf bis zum Tode angesagt hat: äußere Werke der Frömmigkeit noch zu tun, aber innerlich genau so habgierig, hartherzig, ehrgeizig und machtgierig zu sein, wie die Welt, die Christus ignoriert, verleugnet, vergißt. "Protestfigur gegen die anonyme Diktatur des Habens" nennt Johann Bapt. Metz die Orden ("Zeit der Orden", 1977). Durch die Besitzlosigkeit sollen die Orden zu dieser Protestfigur werden und damit ein Zeugnis-Apostolat gegenüber einer fassungslosen Werbewelt und Reklamegesellschaft ablegen. Aufgabe der Orden ist es, mitten im modernen Wirtschaftsprozeß eine Lebensform zu entwickeln, die diesen Protest zum Ausdruck bringt. Dabei geht es nicht bloß um das soziale Engagement für die Armen, für die unterentwickelten Völker, auch nicht um eine Revolte gegen den bereits die Grenzen des Möglichen überschreitenden Industrialisierungsprozeß, der zur Zerstörung des Menschen und der Natur führen könnte, sondern um ein Mehr. Es geht um das Reich Gottes, um das christliche Lebensideal, das höher ist als die bloß rationale Vermenschlichung der Welt. In dieser Überlegung erscheint also das "votum paupertatis" keineswegs als ein Negativum, als eine Beraubung, als ein Minus, sondern entspricht der Interpretation der Minderbrüder: "Haec est paupertas religiosa, ut a terrenis rebus avulsi ad caelestia erigamur. Das ist die Armut der franziskanischen Ordensleute, daß wir von den irdischen Dingen losgelöst, zum Himmlischen aufgerichtet werden." (Constitutiones Ordinis Fratrum Minorum Conventualium, Rom. Satzungen des Minoritenordens.) Alois Schrott konkretisiert den Prozeß dieses Apostolats der zeichenhaften Armut: "Was ist in dieser Hinsicht schon verwirklicht, was bleibt noch zu tun? Ordensleute, besonders Ordensfrauen, stehen in vielen Werken, die die Soli-

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darität mit den Ärmsten der Gesellschaft zum Ausdruck bringen: Dienst an körperbehinderten und gehirngeschädigten Kindern, an sittlich gefährdeten jungen Menschen, an Lebensmüden und besonders auch an alternden Menschen. Viele Orden tragen infolge der Überalterung das Leid, manche dieser Werke der Liebe aufgeben zu müssen . .. Um die Radikalität der Nachfolge und die Solidarität mit den Armen zum Ausdruck zu bringen, sind in vielen Ordenskonstitutionen Gesetze aufgenommen worden, die die Verwaltung der irdischen Güter nach sehr strengen Maßstäben neu ordnen, genaue Haushaltspläne verlangen und die Abgabe der Überschüsse zugunsten Ärmerer fordern . . . Es vollzieht sich. nicht bloß eine echte Bewußtseinsveränderung in den Einzelnen, sondern auch ein Wandel in den Werken, der nach außen hin allerdings noch wenig sichtbar ist. Wirkt die Verfassung der Wohlstandsgesellschaft auch in Bezug auf das Armutsideal bisweilen relativierend und leistet so der Verharmlosung des Christlichen Vorschub, so darf wohl festgestellt werden, daß sowohl hinsichtlich der Lebensform als auch hinsichtlich des Apostolats das ,In der Welt, aber nicht von der Welt' und der ,Protest gegen die anonyme Diktatur des Habens' in den Bemühungen der Ordensreform einen zentralen Platz einnehmen." Erst recht aber ist die Reinheit, Keuschheit, Jungfräulichkeit ein dauernder Jungbrunnen für das Apostolat, wie gerade in unserer Zeit der maßlosen Überschätzung und Überbewertung des Biologischen, des Instinktiven, des Triebhaften, der körperlichen Lustbefriedigung als "Alibi-Zeichen" der sogenannten "Selbstverwirklichung" die Kirche immer wieder betont 45 . 3. Die Besonderheit des Apostolats der Ordensleute im Hinblick auf die Laien Das Apostolat der Ordensleute im Hinblick auf die Laien in der Kirche trägt eine besondere Note. So erwartet das Volk Gottes eine spezielle apostolische Tat vom Rätestand als einem Stand der Kirche: es ist die Hilfe in der Heranbildung apostolischer Menschen und die Unterstützung ihrer apostolischen Bemühungen kraft des Subsidiaritätsprinzips. Es ist dabei nicht von einem "Haupt"-, "Grund"- oder lauteren "Assistenz"-Apostolat die Rede, sondern von einem Apostolat "sui generis"46: Es ist zum Unterschied vom Apostolat der amtlichen, christlichen und laikaien Sendung von einem Apostolat der ordensmäßigen Sendung zu sprechen. Im weiteren Sinne kann man wohl von einem "Assistenz-Apostolat" sprechen, weil es ja völlig von der kirchlichen Hierarchie geregelt ist und offiziell-kirchlichen Charakter trägt, also 45 48

cfr. Pius XII., 24. 4. 1943, U 1473 s.; 15. 9. 1952 U 3115. cfr. F. Klostermann, 1. c., 776.

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sehr wohl Apostolat an der Seite der Hierarchie darstellt, entweder des Papstes oder der Bischöfe. Es ist bezeichnend - und es bestätigt den Assistenzcharakter -, daß man wiederholt auf die Nähe des Ordensstandes und seines Apostolates zum Apostolat Mariae hingewiesen hat. So leitet Papst Pius XII. seine Apostolische Konstitution über die Erziehung junger Ordensleute folgendermaßen ein: "Wir haben ein volles Heiliges Jahr der Verehrung der heiligsten Jungfrau Maria geweiht. Sie ist der Sitz der Weisheit, die Mutter unseres Herrn, des allwissenden Gottes (1 Kg. 2, 3), die ,Königin der Apostel'. Nicht ohne Grund betrachtet man sie besonders als die Mutter und Meisterin derer, die den Stand der Vollkommenheit erwählen und sich zugleich dem apostolischen Dienst des Hohenpriesters Christus widmen wollen. Sie bedürfen wirklich ihrer Führung und Hilfe, um sich tatkräftig für die erhabene Berufung zu einem apostolischen Leben im Ordens- und zugleich im Priesterstand vorzubereiten und zu bilden47 ." Auch beim "Assistenz-Apostolat" der Ordensleute sind mehrere Formen zu unterscheiden: das laikaIe und klerikale Ordensapostolat, ein aiJ.lgemeines und besonderes, ein indirektes und direktes. Dabei ist der apostolische Charakter des Rätestandes zu hinterfragen48 : dieser resultiert schon aus dem ganzen Wesen dieser Einrichtung als Vorbild, Beispiel und Zeichen für die ganze Kirche und Menschheit. Weiter sind die Verbindung mit dem Amte, der Dienstcharakter, der Nachfolgecharakter, der charismatische und der Heilandscharakter, die endzeitliche Zeichenhaftigkeit und seine Dynamik im einzelnen ins Kalkül zu ziehen. Wirkursache dieses Apostolats - eines apostolischen Tuns- sind die Ordensleute selbst, Materialursache ihre vielfältigen Tätigkeiten; Formalursache ist der spezifisch apostolische Charakter dieser aus den Gelübden in einer von der Kirche anerkannten Kommunität fließenden Aktivitäten. Urbild ist neben Jesus wieder Maria. Sachziel dieses Tuns, betont Klostermann, ist das der Kirche und ihres hierarchischen Apostolats, an dem es ja schon wegen der engen Bindung an die kirchliche Autorität und an die von dieser Autorität bestätigten Oberen teilhat. Das subjektive Ziel oder die Beweggründe werden weithin dieselben sein wie beim Apostolat der christlichen und laikaIen Sendung. Dazu treten noch neue Impulse von den Gelübden bzw. von der Lebensweihe her dazu, die die Motivation der Liebe, der Gottesverehrung und des Gehorsams noch steigern.

47 48

Const. Apostol., 31. 5. 1956, AAS 48, 354/365. cfr. F .. Klostermann, 1. c., 779 ss.

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IV. Bichtungsweisende Dokumente für das Apostolat der Ordensleute nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil Das Dekret über die zeitgemäße Erneuerung des Ordenslebens des Zweiten Vatikanischen Konzils, "Perfectae caritatis" vom 28. Oktober 1965, präzisiert und adaptiert die Zusammenhänge des spirituellen Lebens im Zeichen der evangelischen Räte mit den Anforderungen des modernen Apostolates, der Evangelisation und Reichgottes-Arbeit des Volkes Gottes. ,,2. Zeitgemäße Erneuerung des Ordenslebens heißt: Ständige Rückkehr zu den Quellen jedes christlichen Lebens und zum Geist des Ursprungs der einzelnen Institute, zugleich aber deren Anpassung an die veränderten Zeitverhältnisse. Diese Erneuerung ist unter dem Antrieb des Heiligen Geistes und unter der Führung der Kirche nach folgenden Grundsätzen zu verwirklichen: a) Letzte Norm des Ordenslebens ist die im Evangelium dargelegte Nachfolge Christi. Sie hat allen Instituten als oberste Regel zu gelten. b) Es ist der Kirche zum Nutzen, daß die Institute ihre Eigenart und ihre besondere Aufgabe haben. Darum sind der Geist und die eigentlichen Absichten der Gründer wie auch die gesunden überlieferungen, die zusammen das Erbe jedes Institutes ausmachen, treu zu erforschen und zu bewahren. c) Alle Institute sollen am Leben der Kirche teilnehmen und sich, entsprechend ihrem besonderen Charakter, deren Erneuerungsbestrebungen - auf biblischem, liturgischem, dogmatischem, pastoralem, ökumenischem ,missionarischem und sozialem Gebiet - zu eigen machen und sie nach Kräften fördern. d) Die Institute sollen dafür sorgen, daß ihre Mitglieder die Lebensverhältnisse der Menschen, die Zeitlage sowie die Erfordernisse der Kirche wirklich kennen, damit sie die heutige Welt im Licht des Glaubens richtig beurteilen und den Menschen mit lebendigem apostolischen Eifer wirksamer helfen können. e) Da das Ordensleben durch die Verpflichtung auf die evangelischen Räte vor allem anderen auf die Nachfolge Christi und die Vereinigung mit Gott abzielt, ist ernst zu bedenken, daß auch die besten Anpassungen an die Erfordernisse unserer Zeit ohne geistliche Erneuerung unwirksam bleiben; diese hat darum auch bei aller Förderung äußerer Werke immer das Wesentliche zu sein. 3. Lebensweise, Gebet und Arbeit müssen den körperlichen und seelischen Voraussetzungen der Menschen von heute, aber auch - soweit die Eigenart des Instituts es verlangt - den Erfordernissen des Apostolats, den Ansprüchen der Kultur, der sozialen und wirtschaftlichen Umwelt entsprechen. Das gilt überall, vor allem in den Missionsgebieten ...49." Das Motu proprio Papst Paul VI. "Ecclesiae sanctae" vom 6. August 1966 enthält die Normen zur Ausführung einiger Dekrete des Zweiten 49 Dekret über die zeitgemäße Erneuerung des Ordenslebens, Konzilstexte - deutsch, Paulinus - V., Trier, 1967, p. 2 s.

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Vatikanischen KonzHs 50. Es bezieht sich auf die Konzilsdekrete "Christus Dominus" (über das Hirtenamt der Bischöfe in der Kirche), "Presbytorum ordinis" (Über Dienst und Leben der Priester), "Perfectae caritatis" (über die zeitgemäße Erneuerung des Ordenslebens) und "Ad gentes divinitus" (über die Missionstätigkeit der Kirche). Seine Normen sind bis zur Veröffentlichung des neuen Kirchlichen Gesetzbuches zu beachten und traten am 11. Oktober 1966, dem Fest der Mutterschaft Mariens, in Kraft. An dieser Stelle sei die Quelle der inneren Kraft apostrophiert, die wesensimmanent aus dem Ordensleben das Apostolat der Ordensleute speist und befruchtet: "V. Leben in der Gemeinschaft. Zu Nr. 15 des Dekrets Perfectae caritatis. Nr. 25. In den Orden mit Apostolatsaufgaben ist das Gemeinschaftsleben, das von so großer Bedeutung ist, auf eine der Berufung der jeweiligen Gemeinschaft angemessene Weise mit allen Mitteln zu fördern, damit die Ordensmitglieder als in Christus geeinte Familie ihre brüderliche Verbundenheit neu beleben." Sie stehen in einer in Christus geeinten Familie, wie auch die "Grundsätze und Richtlinien für die Beziehungen zwischen Bischöfen und Ordensleuten in der Kirche"51 bekräftigen. In dieser Familie sind die Ordensmänner und -frauen Mitarbeiter im Apostolat der Kirche. Sie verstehen sich einander zugeordnet in der Kirche als dem "neuen" Volke Gottes (Nicht dem Fleische nach, sondern im Geiste, Lumen gentium, 9), als "ein einziger Leib", dessen "Glieder zueinander gehören" (Röm. 12, 5; vgl. 1 Kor. 12, 13), sie sind zusammengerufen, um allein "sichtbares Sakrament" zu sein (Lumen gen ti um, 9), bestimmt das Evangelium zu bezeugen und zu verkünden. Das Ordensleben in der kirchlichen Gemeinschaft ist eine "besondere Gabe" für das Leben der ganzen Kirche (vgl. Lumen gentium, 43). Es ist "eine besondere Weise der Teilhabe an der ,sakramentalen Natur' des Vo'lkes Gottes. Die Weihe derer, die sich durch ein Ordensgelübde verpflichten, hat vor allem das Ziel, daß sie der Welt ein sichtbares Zeichen des unerforschlichen Geheimnisses Christi geben, insofern sie ihn selbst darstellen, ,wie er auf dem Berge in der Beschauung weilt oder wie er den Scharen das Reich Gottes verkündet oder wie er die Kranken und Schwachen hielt und die Sünder zum Guten bekehrt oder wie er die Kinder segnet und allen Wohltaten erweist, immer aber dem Willen des Vaters gehorsam ist, der ihn gesandt hat"'52. So wird deutsch Ü., Paulinus - V., Trier, 1967. Dokument der Kongregation für die Bischöfe und der Kongregation für die Ordensleute und Säkularinstitute, 14. 5. 1978, deutsche übersetzung Wiener Diözesanblatt, Sept. 1978, Nr. 11. 52 ib., Kap. III, 10. 50 _

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Das christliche Apostolat und die Orden

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der Hinweis erklärend abgeleitet: "Die Ordensleute und ihre Gemeinschaften sind berufen zum öffentlichen Zeugnis für die Ganzhingabe an Gott, die die Grundentscheidung ihrer christlichen Existenz und die vorrangigste Aufgabe ihrer eigenen Lebensform ist. Sie sind in der Tat, gleich welchen besonderen Charakter ihr Institut besitzt, geweiht, um öffentlich im Sakrament Kirche Zeugnis dafür zu geben, ,daß die Welt nicht ohne den Geist der Seligpreisung verwandelt und Gott dargebracht werden kann' (Lumen gentium, 31)53." So "wird in unserer Zeit von den Ordensleuten in besonderer Weise eben jene charismatische, lebhafte und erfindungsreiche Originalität erwartet, durch die sich die Stifter auszeichneten, damit sie der ihnen aufgetragenen Apostolatsarbeit der Kirche sich mit noch größerem Eifer widmen, gerade unter denen, die heute die Mehrheit der Menschheit ausmachen und vom Herrn am meisten geliebt werden: den ,Kleinen und Armen' (vgl. Mt. 18, 1 - 6; Lk. 6, 20)"54. V. Der höchste Sinn des Apostolats der Ordensleute im Gefüge der Gemeinschaft der Kirche Papst Johannes PaulI1. profiliert in seinem Rundschreiben "Redemptor hominis" vom 5. März 1979 die Berufung eines jeden Christen als eine solche des Dienens und Herrschens, als eines königlichen Schicksals: "Gemeint ist die Teilnahme an der königlichen Sendung Christi, die Tatsache nämlich, daß wir in uns und in den anderen die besondere Würde unserer Berufung entdecken, die man ,Königswürde' nennen könnte. Diese Würde drückt sich aus in der Bereitschaft zum Dienst nach dem Beispiel Christi, der ,nicht gekommen ist, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen' (Mt. 20, 28) ... Für die Gemeinschaft des Volkes Gottes als ganze und für jedes ihrer Glieder geht es nicht nur um eine besondere ,soziale Zugehörigkeit'; hier handelt es sich um eine besondere Berufung, die für jeden einzelnen und für alle zusammen wesentlich ist. Die Kirche ist nämlich als Volk Gottes ... auch der Mystische Leib Christi (vgl. Pius XII., Enzyklika Mystici Corporis: AAS 35 [1943], 193 - 248). Die Zugehörigkeit zu ihm kommt aus einem besonderen Ruf in Verbindung mit dem Heilswirken der Gnade. Wenn wir also diese Gemeinschaft des Volkes Gottes, die so umfassend und äußerst differenziert ist, vor Augen haben wollen, müssen wir vor allem auf Christus blicken, der in gewisser Weise zu jedem Glied dieser Gemeinschaft sagt: ,Folge mir' (Jo. 1, 43). Dies ist die Gemeinschaft der Jünger; jeder einzelne von ihnen folgt auf je eigene Weise Christus, 53

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ib., Kap. 111, 14. ib., Kap. 111, 23.

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mitunter sehr bewußt und kohärent, mitunter wenig aufmerksam und sehr inkonsequent. Darin zeigt sich auch das zutiefst ,personale' Profil und die besondere Dimension dieser Gesellschaft, die - trotz aller Mängel des gemeinschaftlichen Lebens im menschlichen Sinn dieses Wortes - gerade dadurch Gemeinschaft ist, daß alle sie mit Christus selbst bilden, wenigstens dadurch, daß sie in ihrer Seele das unauslöschliche Merkmal eines Christen tragen55 ." In dieser Absicht haben Ordensleute kraft ihrer Apostolatsaufgabe dem suchenden und ringenden Menschen den Sinn des Lebens zu erschließen. Sie haben die Last der Verantwortung zu tragen für eine Kirche in der Entscheidung vor der Jahrtausendwende. Welche Züge werden ihr zueigen sein? Der Präsident des Weltlaienrates Tit. Erzbischof Dr. Opilio Kardinal Rossi, der in den Kreis der ehrfurchterheischenden Septuagenarier getreten ist, sucht es zu ergründen, wenn er meditiert56 : "Die Geschichte der Kirche in den nächsten Dezennien wird abhängen von der Glaubenskraft, von der Intensität spirituell beglaubigter Hoffnung und vom Feuer der Liebe, mit der wir aktuelle Fragen zu lösen vermögen. Die Kirche befindet sich in Konfrontation mit der Gleichgültigkeit einer ,subapostolischen Ära', die von uns Mut verlangt und Kreativität, Begeisterung, Schwung, aber auch Phantasie und ein gerütteltes Maß an wissenschaftlich fundiertem Einfallsreichtum im mitmenschlichen und daher auch im katechetischen Verhalten. Wir haben die Wendepunkte der Zivilisation des 20. Jahrhunderts überschritten, die sich als ,Entdeckung des Menschen' vor der ,Entdeckung Gottes', aber auch als totale ,Infragestellung' eben dieses beschreiben, markieren lassen. An den Bischöfen, an allen Priestern und ihren Mitarbeitern, an den Ordensleuten und an allen Laien wird es liegen, das posttridentinische Zeitalter der Kirche nach dem Zweiten Vaticanum zu prägen, zu dynamisieren, aber auch zu stabilisieren. Damit die Kirche erkennbar werde als Ort der Verheißung, des Hortes und der Geborgenheit, der Sicherheit und des Trostes, aber auch als Transitorium des Gottesvolkes auf der Pilgerschaft zu einem Ziele, das uns von IHM verheißen ist." Dazu bedarf es des Engagements eines brennenden Herzens; eines Apostolats der vollkommenen Nachfolge, der Bischöfe und ihrer Kooperatoren, der Ordensleute wie der Laien.

Johannes Paul 1I., Enzyklika "Redemptor hominis", 5.3.1979, c. 21. Opilio Cardinal Rossi, Eine neue Katechese für die Jugend und für Erwachsene, in: Die Furche, 15.4.1977, p. 9. 65

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GEDANKEN ZUM STELLENWERT DER PERSÖNLICHEN VERANTWORTUNG IN DER POLITIK Von Alois Mock

I. Christliches Menschenbild Wohl kaum ein anderes Kriterium unterscheidet die politischen Bewegungen heute so entscheidend von einander wie die Sicht des Menschen. Für den christlichen Politiker findet sich das bestimmende Menschenbild in der katholischen Soziallehre und in der evangelischen Sozialethik. "Pacem in Terris", die große Sozial,enzyklika von 1963, sagt dazu: "Jedem menschlichen Zusammenleben, das gut geordnet und fruchtbar sein soll, muß das Prinzip zugrunde liegen, daß jeder Mensch seinem Wesen nach Person ist. Er hat eine Natur, die mit Vernunft und Willenskraft ausgestattet ist, er hat daher an sich Rechte und Pflichten, die unmittelbar und gleichzeitig aus seiner Natur hervorgehen. Weil sie allgemein gültig und unverletzlich sind, können sie auch in keiner Weise veräußert werden." (No. 9.) Dieses Menschenbild ist eine klare weltanschauliche Alternative zum sozialistischen Menschenbild. Kar! Marx bezeichnete den Menschen einmal als "Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse". Danach ist der Mensch in all seinen Einstellungen, Urteilen, Ansichten und Verhaltensweisen letztlich das Produkt der gesellschaftlichen Verhältnisse, in die er hineingeboren wird und in denen er lebt. Unter den gesellschaftlichen Verhältnissen versteht Marx in erster Linie die ökonomischen Beziehungen, das sind die Beziehungen zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen. In seiner Abhandlung über den freien Willen nimmt auch der bekannte Austro-Marxist Max Adler zu dieser Frage Stellung. Adler kommt zum Schluß - letztlich unter Verneinung der Willensfreiheit-, daß sich die Notwendigkeit des geschichtlichen Geschehens gar nicht anders vollziehen kann, als daß der Mensch jeweils immer nur das will, was notwendig geschehen muß. Auch in jüngsten Publikationen führender Sozialisten über das Gleichheitsprinzip und die Gesellschafts13 Festschrift Rossl

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ordnung wird immer wieder festgestellt, daß die Gesellschaft :letztlich eben die Widerspiegelung der Produktionsverhältnisse ist. Nach richtiger Auffassung hat aber jeder Mensch Eigenverantwortung für sein Handeln zu tragen, was immer es an äußeren Einflüssen gibt, die natürlich auch eine Rolle spielen. Christliches Menschen- und Gesellschaftsbild beruht auf der katholischen Soziallehre und der evangelischen Sozia:lethik und verlangt ein hohes Maß an Liberalität, die sich schon alleine aus dem notwendigen Respekt und der Toleranz vor der Persönlichkeit des Mitmenschen ableitet. Unter dieser Liberalität verstehen wir nicht Grundsatzlosigkeit, Relativierung aller Wertvorstellungen, sondern die Sicherung eines optimalen Freiheitsraumes für den Einzelmenschen und seiner Eigenverantwortung, die Sicherung von Toleranz gegenüber anderen Auffassungen. Wir verzichten damit nicht auf das Bekenntnis zu eigenen Grundsätzen, sondern wir fühlen uns zu diesem Bekenntnis verpflichtet. Nach diesem unserem Menschenbild und Gesellschaftsverständnis ist der Mensch zu wachsender Eigenverantwortung für sich und seine Umwelt bestimmt als Person, d. h., als Subjekt zu handeln, nicht als Objekt behandelt zu werden. Nach unserer Auffassung ist der Mensch zu mehr Freiheit und zu mehr Verantwortung bestimmt. Diese Sicht des Menschen und seiner Verantwortlichkeit vor Gott und der Gemeinschaft an die breite Masse heranzutragen, ist wesentlicher Teil des vom christlichen Politiker zu leistenden Apostolates. Wenngleich er sich dabei stets der Begrenztheit und Bedingtheit der von ihm für die konkrete Anwendung entworfenen gesellschaftlichen Pläne bewußt sein muß, so erfüllt er damit doch seine Berufung, an der Verwirklichung des Reiches Gottes auf Erden mitzuwirken. Weiß sich der christliche Politiker bei der Erfüllung dieser Aufgabe von jenen Prinzipien geleitet, die sich für das menschliche Zusammenleben in Staat und Gesellschaft aus der Natur des Menschen, im Lichte der christlichen Lehre betrachtet, ergeben, so ist er si:ch doch andererseits im klaren darüber, daß seine Tätigkeit nur einen Versuch darstellt, in der Komplexität der Welt - und insbesondere der Welt von heute - den rechten Weg zu finden und zu weisen. Darüber hinaus weiß er auch, daß auch der, der die Wahrheit besitzt, sie nie gänzlich zu eigen hat und allein über sie verfügt; und daß auch dem Irrtum des Andersdenkenden nicht nur Wahrheit beigemengt sein kann, sondern er aus einer anderen weltanschaulichen und besonderen Handlungskompetenz in einem bestimmten Fall ebenfalls positive Ergebnisse seines Wirkens erreichen kann. Daher wird der christliche Politiker sein gesellschaftliches Apostolat stets nicht nur als Dienst auffassen, den er an der Menschheit leistet, sondern darüber hinaus auch bereit sein, in einem

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auf Toleranz gegründeten Dialog mit dem politischen Gegner zu einer gemeinsamen Basis zu gelangen, die dann die Grundlage seines eigenen HandeIns nicht bloß praktisch, sondern auch theoretisch erweitern kann. Wenn in der Folge versucht wird, einige Gedanken für die politische Ordnung in der Industriegesellschaft zu entwickeln, so erheben diese Ausführungen keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Vielmehr sollen bloß einige Punkte skizzenhaft aufgezeigt werden, die in der heutigen Auseinandersetzung im gesellschaftlichen Bereich von besonderer Aktualität sind.

11. Das Leitmotiv: Die partnerschaftliche Ordnung Die partnerschaftliche Ordnung der Gesellschaft gibt jenes Modell ab, wo es dem Einzelmenschen maximal ermöglicht wird, als Person verantwortlich zu handeln und nicht nur als Objekt behandelt zu werden. So wie das partnerschaftliche Ordnungsmodell für die Familie, für das Staatswesen als Ganzes, für die Gemeinde, als Richtschnur dient, dient es auch unserer Auffassung nach als Richtschnur für die Entwicklung der innerbetrieblichen Strukturen. Wir wollen nicht den wachsenden Eingriff der Parteien, des Staates, der Interessenorganisation in den Betrieben, sondern partnerschaftliche Strukturen innerhalb des Betriebes zwischen allen Menschen, die durch eine berufliche Tätigkeit dort verbunden sind. 1. Partnerschaft im Betrieb bedeutet zuerst einmal Gesinnungsänderung; nämlich im Mitarbeiter und Kollegen den Menschen mit seinen Qualifikationen, seinen Erwartungen und Hoffnungen, seinen Mängeln und Sorgen zu sehen, und nicht den roboterhaften Befehlsempfänger, der nur allzu oft nicht weiß, warum er etwas macht, sondern nur, daß er etwas zu machen hat. Vor allem wird es Aufgabe jener sein, die unter Berufung auf unsere Gesinnungsgemeinschaft in wichtige Positionen bestellt werden, diese Gesinnung der Partnerschaft nicht als weltfremde Schwärmerei abzutun - zu der man sich nur im persönlichen Bedarfsfall bekennt -, sondern als eine Verpflichtung zu entsprechendem Handeln. Wir zwingen unsere Grundsätze niemanden auf und wehren uns dagegen, wenn andere so etwas tun; wenn sich jedoch jemand zu uns bekennt, dann erwartet die betriebliche, ja die al'lgemeine Öffentlichkeit, daß partnerschaftliches Verhalten praktiziert wird.

2. Partnerschaft im Betrieb verlangt auch Chancengerechtigkeit. Wir wollen vor allem eine qualifizierte berufliche Ausbildung und Fortbildung. Sice erlaubt dem Einzelnen nicht nur einen höheren Beitrag zum gemeinsamen wirtschaftlichen Erfolg im Unternehmen, sondern gibt 13·

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ihm vor allem eine persönliche Befriedigung im Beruf, erlaubt ihm auch eine höhere berufliche Beweglichkeit. 3. Partnerschaft im Betrieb bedeutet nicht Duldung, sondern geordnete und anerkannte Mitsprache und Mitverantwortung. Nach der letzten Regelung der Mitsprache und Mitverantwortung im Unternehmen, vor allem im Aufsichtsrat durch das Betriebsverfassungsgesetz, gilt es vor allem, die Mitsprache und Mitverantwortung am Arbeitsplatz auszubauen und mit den ökonomischen Zielsetzungen des Betriebes in übereinstimmung zu bringen. Im Betrieb ist die Mitbestimmung, die von unseren Betriebsräten und Personalvertretern ausgeübt wird, nicht nur eine Aufgabe der Interessenvertretung, sondern auch eine soziale Aufgabe im Dienste der Allgemeinheit. Bei der Berufung in verantwortliche Positionen sind sowohl die sachlichen Qualifikationen als auch die Fähigkeit zur partnerschaftlichen Kooperation zu berücksichtigen. Es kann nie darum gehen, den weniger qualifizierten Bewerber trotz dieses Umstandes in eine entscheidende Position zu bringen, sondern nur, ihm in seinem Interesse, im Interesse des Unternehmens und der Allgemeinheit zu helfen, die nötige Qualifikation zu erwerben. Partnerschaft im Betrieb führt für den Einzelnen auch im Betrieb zu einem erhöhten Freiheitsraum. Hier möchte ich übrigens ein klares Wort zu unserem Freiheitsverständnis sagen: Wir können wachsende Freiheit nur mit wachsender Verantwortung bewältigen. Freiheit ohne Verantwortung und Selbstdisziplin führt zur Unordnung. Verantwortung ohne Freiheit der Mitsprache, der Einflußnahme, führt zur Unfreiheit, die mit unserem Menschenbild nicht vereinbar ist. 4. Partnerschaft im Betrieb im Verhältnis zwischen Management und Belegschaft, zwischen den Kollegen, verlangt Toleranz und Respekt vor der Meinung des anderen, vor den persönlichen, auch politischen überzeugungen. Die Meinungsfreiheit im Arbeitsleben, diese Freiheit am Arbeitsplatz, ist ein wichtiger Bestandteil der partnerschaftlichen Ordnung. 5. Die partnerschaftliche Stellung der Arbeitnehmer innerhalb des Betriebes soll außerhalb des Unternehmens im Verhältnis zu anderen sozialen Gruppen durch die Förderung der Bildung von individuellem Eigentum, insbesondere von Wohnungseigentum, durch Förderung des Prämiensparens, des Jugendsparens, durch eine berufs- und nachfrageorientierte Verbesserung des Bildungssystems, das den Zugang zur beruflichen Tätigkeit erleichtert, gestärkt werden. Eine solche Politik darf vor allem auf die Probleme der berufstätigen Frauen nicht vergessen, gleichgültig, ob sie als sogenannte Unselb-

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ständig oder Selbständige tätig sind. In ihrem Interesse bemühen wir uns um den weiteren Ausbau der Teilzeitbeschäftigung, um die Einrichtung von Tagesheimschulen, um die Chancengleichheit bei beruflichem Aufstieg und in der Entlohnung. Persönliches Eigentum, breitgestreut und an soziale Verantwortung gebunden, macht unabhängiger und selbständiger. Deswegen treten wir nicht nur für eine Politik der breiten Eigentumsstreuung ein, sondern auch für eine Steuerpolitik, die dem Einzelnen ein Höchstmaß an Verfügung über sein Einkommen sichert. III. Das Ziel: Eine Gesellschaft von Selbständigen Wir wollen langfristig eine Gesellschaft von Selbständigen, wo sich das Wort "unselbständig" für den Arbeitnehmer erübrigt, weil er durch breite Eigentumsstreuung, Mitbestimmung und Chancengerechtigkeit, berufliche Tätigkeitsfreude und individuelle Lebensplanung zum gleichberechtigten Partner in der Gesellschaft geworden ist. Es ist dies eine Gesellschaft von Menschen, die sich ihrer Freiheit verantwortungsbewußt bedienen, für die Gleichheit in ihren Rechten, in ihrer Würde Anlaß zur Pluralität und nicht zur Uniformität ist. Der selbständige Mensch verlangt in allen Bereichen der Politik konkrete Entscheidungen, die dieser Grundsatzbestimmung und Zielsetzung entsprechen: -

Wir treten daher für eine Schulpolitik ein, die auf die Verbesserung des allgemeinen Bildungsstandards ausgerichtet ist. Selbständigkeit setzt Kenntnisse und Fähigkeiten voraus genauso wie eigenständiges Denken und einen offenen Sinn. Wir glauben, daß sich berufstätige Eltern frei entscheiden müssen, wo ihr Kind am Nachmittag sein soll. Unser Modell der Tagesheimschule beruht auf dem Prinzip der Freiwilligkeit, der Wahlfreiheit und der Wahrung des Elternrechtes. Wir bestehen daher auch weiterhin auf der Vielfalt unseres Bildungssystems, denn allein ein vielfältiges Bildungsangebot entspricht der differenzierten Welt und den differenzierten Anlagen und Begabungen der Kinder. Chancengleichheit besteht nicht darin, daß alle über einen Leisten gemessen werden, sondern darin, daß jeder seine spezifische Chance erhält.

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Stärkung der Selbständigkeit bedeutet auch die Erhaltung und Förderung autonomer Bereiche sowie die Stärkung und Aufwertung der kleinen Gemeinschaften und der privaten Initiativen. Vor allem aber bedeutet dies Förderung der Familien. Die Grundlage der Fami'lienförderung ist der finanzielle Ausgleich der Familienlasten.

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Die Familien kann man nicht dadurch fördern, daß man generell die staatliche Beaufsichtigung der Kinder einführt, sondern dadurch, daß man die Familie finanziell in die Lage versetzt, ihre Funktionen ohne Verlust an Lebensstandard auszuüben. Wenn Vater und Mutter nicht gezwungen sind, durch Zweitberuf und überstunden das Familieneinkommen aufzubessern, sondern sich Zeit nehmen können für einander und für ihre Kinder, dann bleibt die Selbständigkeit der Familie aufrecht. -

Zur Selbständigkeit gehört auch die Erhaltung einer Vie'lzahl von Klein- und Mittelbetrieben. Dies ist am besten in der sozialen Marktwirtschaft gewährleistet.

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Zur S~lbständigkeit gehört es auch, daß der Mensch in seinen eigen vier Wänden wohnen kann. Wir werden daher die Idee des W ohnungseigentums verstärkt verfolgen. Dabei ist der Gedanke des Eigentums hier nicht so sehr von wirtschaftlichen Gesichtspunkten getragen, sondern von humanen und sozialen. Selbständigkeit beruht darauf, ein Stück der Welt, in der man sich bewegt, sein eigen nennen zu können.

Papst Johannes Paul 11. sagt in der Enzyklika "Redemptor hominis" von 1979 sehr deutlich: "Die Kirche hat stets gelehrt, daß es Pflicht ist, sich für das Gemeinwohl einzusetzen, und hat dadurch auch für jeden Staat gute Bürger erzogen. Sie hat ferner immer gelehrt, daß es die grundlegende Verpflichtung der staatlichen Autorität ist, für das Gemeinwohl der Gesellschaft Sorge zu tragen; hiervon leiten sich ihre Grundrechte ab. Gerade wegen dieser Voraussetzungen, die der objektiven ethischen Ordnung angehören, können die Rechte der staatlichen Gewalt nicht anders verstanden werden als auf der Grundlage der Achtung der objektiven und unverletzlichen Menschenrechte." (No. 17.) Deshalb ist für uns die persönliche Verantwortung gerade bei politischen Entscheidungen von größter Bedeutung, desha:lb ist das Ziel unserer Politik der Mensch, die Legimation unserer Politik das geistige und materielle Wohl des Menschen. Deshalb sind wir uns auch der Tatsache bewußt, daß eine rein quantitative Vermehrung unserer Güter nicht ausreicht. Mehr Verkehr bringt mehr Verkehrsstauungen mit sich, mehr Krankenhausbetten lösen das Spitalproblem nicht, und mehr Schulen bedeuten noch nicht mehr Lebenschancen. Es muß uns darum gehen, dem Bürger die Chance zu geben, sein Leben selbständiger zu gestalten. Gesetzesflut und wachsende Bürokratie stehen dem manchmal im Wege, wie etwa das Beispiel der

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Steuergesetzgebung zeigt: Die Flut dieser Gesetze und deren ständige Novellierung hat dazu geführt, daß heute der Zugang zum Recht oder, anders ausgedrückt, die Verständlichkeit und übersichtlichkeit geringer ist als früher. Die zunehmende Kompliziertheit z. B. der Steuergesetze hat dazu geführt, daß nur noch der besser Informierte alle Begünstigungen und Gestaltungsmöglichkeiten ausschöpfen kann. Es entsteht so eine verhängnisvolle Verknüpfung von niedrigen Einkommen und verstärkter steuerlicher Belastung, denn gerade die armen Leute sind oft von der Unübersichtlichkeit der Steuergesetze am stärksten betroffen. Hier zeigt sich nämlich eine neue Seite der sozialen Frage: soziale Diskriminierung und finanzielle Benachteiligung durch unverständliche Gesetze. Wir werden daher nicht nur den materiellen Zugang zum Recht erleichtern müssen, sondern durch verständliche und überschaubare Gesetze die Lebenschancen verbessern. Wenn es uns auf diese Weise gelingt, unserem Ziel - einer Gesellschaft von Selbständigen - näherzukommen, dann haben wir damit auch einen Beitrag zur Vermehrung der Freiheit des Einzelnen geleistet, einer Freiheit, die ihn wiederum befähigt, sich selbst in allen jenen Anlagen besser zu entfalten, die Gott in ihn hineingelegt hat. Freiheit aber bedeutet vermehrte Chance, die Gottesebenbildlichkeit des Menschen zu realisieren - zu seinem eigenen Heil und zum Nutzen der Gemeinschaft. Unter diesem Aspekt betrachtet, wird auch die konkreteste politische Arbeit zu einer Form des Apostolats. Wollen wir uns der damit verbundenen Verantwortung stets bewußt sein!

DAS APOSTOLAT UND DIE ARBEITERSCHAFT Von J osef Müller "Ihr seid die Missionare der Kirche!" Josef Cardijn, der Gründer der Internationalen Katholischen Arbeiterjugend erzählt in seinem Büchlein "Die Schicksalsstunde der Arbeiterschaft"! wie ein Jungarbeiter am 27. September 1929 bei einem Empfang im Vatikan dem Heiligen Vater um den Hals fiel und sagte: "Mein Vater ist Kommunist; ich will ihn bekehren." Welche Begeisterung muß diesen jungen Menschen erfaßt haben, für das Ziel, -die Arbeiter der Kirche näherzubringen, einzutreten. Je mehr ein Arbeiter der Kirche und dem Glauben fern ist, um so mehr muß sich die Kirche um ihn kümmern. Der Arbeiter, der heute im weitesten Sinne der Kirche zwar nicht mehr feindselig, sondern weit entfernt gegenüber steht, bedarf einer eigenen Begeisterung und Betreuung durch eine verstärkte kategoriale Seelsorge. "Fast die ganze Arbeiterschaft ist noch Missionsland!" Geht es doch im wesentlichen darum, daß sich Menschen um die Sorgen und Nöte dieser Bevölkerungsschicht verstärkt annehmen und die fern stehenden und unwissenden Arbeitnehmer mit den Ideen des Christentums, mit dessen Wahrheiten und Grundsätzen vertraut machen. Die Umwandlung des Arbeiters zu einem Menschen, der seine Verantwortung aus den Gedanken des Christentums erkennt, muß unsere Revolution sein. Keine Revolution der Gewalt, sondern eine Revolution des Herzens. Eine Revolution der Liebe und nicht des Hasses. Eine Revolution der Solidarität zu den Brüdern und Schwestern in der Welt der Arbeit. In unserer Industriegesellschaft, die in ihren Auswüchsen immer inhumaner, immer brutaler und egoistischer wird, braucht die Arbeiterschaft mehr denn je zur Erhaltung ihres menschlichen Antlitzes die Kirche. Die seit dem Zweiten Weltkrieg aufstrebende Katholische Arbeiterjugend und die 1951 gegründete Katholische Arbeitnehmerbewegung versuchen, mit tausenden Aktivisten Christentum am Arbeitsplatz, in Fabriken, Werkstätten und Büros - und in allen Stätten der 1

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Bildung und Freizeit - zu verwirklichen und die Arbeiterschaft der Kirche näher zu bringen. Eine Aufgabe, die nicht heute und nicht morgen verwirklicht werden kann. Ein Plan-soll, das nicht den Einzelnen, sondern die gesamte Kirche betrifft, jedoch durch das tägliche Bemühen der Aktivisten um den Arbeiterbruder, Mitmenschen, Kollegen und Freund zu einem Bestandteil der Apostolatsbemühungen der katholischen Kirche geworden ist. Eine Bewegung durch die Arbeiter - für die Arbeiter. Papst Pius XII. meinte nicht zu Unrecht: "Die Päpste können zwar Enzykliken schreiben, können diese verbreiten, aber verwirklichen müssen sie die Arbeiter selbst. Der Papst kann es nicht, die Bischöfe können es auch nicht! Dazu brauchen wir den Arbeiter!" Vor rund neunzig Jahren, am 15. Mai 1891, erließ Papst Leo XIII. das Weltrundschreiben "Rerum Novarum" über die Arbeiterfrage. In dieser Enzyklika und der zu deren vierzigsten Jahrestag von Papst Pius XI. am 15. Mai 1931 herausgegebenen Enzyklika "Quadragesimo anno" sowie in der Pfingstbotschaft Papst Pius XII. vom Juni 1941 sind von höchster kirchlicher Stelle autoritativ die Grundanschauungen der katholischen Kirche zur "Sozialen Frage" niedergelegt und zusammengefaßt. Heute, in der allgemeinen Krise der Ungewißheit ist die Arbeiterbewegung aus mehreren Gründen verpflichtet, die grundlegenden Anschauungen der katholischen Sozi all ehre und der päpstlichen sozialen Aussagen zu analysieren, weil nicht unbeträchtliche Schichten der Arbeitnehmer spüren, daß die Welt ins Wanken geraten ist und in ihrer Angst vor den ihnen unbegreiflichen Kräften und Problemen der heutigen Zeit, mehr denn je Trost und Stütze in religiösen Lehren, Werten und päpstlichen Deutungen suchen. Die vorherrschende Vertrauenskrise zwischen Kirche und Arbeiterschaft ist bedauerlicherweise auch heute noch ein Hemmschuh in der Apostolatstätigkeit. Sie ist nur dann verständlich, wenn man geschichtlich zurückgeht und die Zeit der Französischen Revolution, den modernen Industrialismus und die Anfänge der Arbeiterbewegung betrachtet. Die sogenannte "Bürgerliche Welt" trägt ebenso einen Anteil an der Entchristlichung der breiten Masse der Arbeiterschaft, die im neuerwachenden Proletariat das Mißtrauen gegen die Kirche in vollen Zügen aufgenommen und in die Arbeiter getragen hat. Ein wesentlicher Faktor an der Entfremdung dieser Gruppe zur Kirche ist auch in der eingetretenen Wendung zu Beginn des 19. Jahr-

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hundert zu sehen, wo das Christentum und die Kirche nicht nur aus theologisch-philosophischen Gründen abgelehnt, sondern durch die sozialen und sozialistischen Reformbewegungen als Hindernis für den sozialen Fortschritt und die Freiheit des Menschen angesehen wurde 2 • Worte wie: "Brüder, die Religion ist ein Sicherheitsventil" und "Das Volk braucht Religion!" haben eine verhängnisvolle Rolle gespielt und der Kirche und dem Christentum bis in die heutige Zeit geschadet. Nicht unwesentlich ist, daß auch heute noch bei Gesprächen mit Arbeitern zum Ausdruck kommt, daß Religion nur da ist, um den Menschen gefügig und brav zu halten. I. Glaubwürdige Kirche Apostolat in der Welt der Arbeit kann aber nur dann verwirklicht werden, wenn eine glaubwürdige Kirche mit Priestern und Laien vorhanden ist, die einerseits dem Arbeitnehmer aus der geschichtlichen Entwicklung heraus die Möglichkeit gibt, den Anschluß an die kirchlichen und liturgischen Gepflogenheiten der Kirche zu finden, und andererseits auch ein Verhältnis schafft, in dem sich der arbeitende Mensch wohlfühlen kann. Dies wird um so mehr zu beachten sein, als die derzeit vorhandenen Einrichtungen der überschaubaren Pfarrgemeinden sehr wenig (mit einigen Ausnahmen wie das Betriebszentrum der Vöest) auf den Arbeiter ausgerichtet sind. Außerdem bestehen zwischen dem Milieu, in dem die Arbeiter beheimatet sind und dem Milieu, das in einer durchschnittlichen Pfarre herrscht, große Unterschiede und Spannungen. Diese Ursache ist im Grunde darauf zurückzuführen, daß sich die Arbeiter und kirchlichen Gremien zu wenig kennen und daher ein falsches Bild voneinander haben. Ein dringendes Gebot unserer Zeit für die Priester und Laien - müßte das bessere Kennenlernen der Arbeiter und ihrer Probleme sein. Obwohl in dieser Richtung schon viel geleistet wurde, könnte, als Beispiel dienend, bei den Betriebseinsätzen der Priesterstudenten eine optimalere Auswahl der Betriebe und der Tätigkeit erfolgen und der Grundstein für eine Arbeiterpastoral der zukünftigen Priester gelegt werden. Es gehören in der Regel die führenden Mitglieder der Pfarre einer Gesellschaftsschicht an, die beruflich und gesellschaftlich immer wieder eine Bestätigung und Anerkennung ihrer Leistungen erfahren. Die Arbeiter müssen jedoch im großen Umfang eine monotone und abstumpfende Arbeit verrichten, eine untergeordnete Rolle im Betrieb t

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einnehmen. Sie sind an ihrem Arbeitsplatz durch die Isolation auf sich selbst angewiesen und sind meist leicht austauschbar. Der letzte Faktor vor allem bringt eine starke Abhängigkeit und im gesellschaftlichen Bereich nur geringe Chancen mit sich, die eigene Meinung zur Geltung zu bringen. Selbst im innerkirchlichen Raum wird das Bedürfnis der Arbeiter nach Bestätigung nicht angemessen befriedigt. Deutlich zeigt dies der geringe Anteil von Arbeitern in den gewählten Pfarrgemeinderäten. Hier wird auch in vielen Bereichen des kirchlichen Umganges mit Arbeitern die soziale Gerechtigkeit verletzt und so manchem dieser Menschen die persönliche Würde genommen. Auch aus dem Wesen des Arbeiters heraus gibt es Barrieren, die sich durch den Kampf um die materielle Sicherung, die Angst um den Verlust des Arbeitsplatzes und des Verdienstes begründen lassen und dem Materiellen den Vorrang vor dem Geistigen geben. Hier liegt jedoch für das Apostolat am Arbeiter die Möglichkeit, da gerade durch diese Eigenschaften dem Arbeitnehmer Glaube und geistige Werte von Bedeutung sind und deutlich wird, daß die materiellen Dinge nicht das ganze Leben ausmachen.

11. Apostolats-Tankstellen Nach der Methode Sehen-Urteilen-Handeln haben die katholischen Gruppen, Verbände und lebenden Zellen des Apostolates die Verpflichtung, den einzelnen Christen zu befähigen, dort, wo er hingestellt ist, seine apostolische Sendung zu erfüllen; also ist es genau so wertvoll, um Gottes Willen Kartoffel zu schälen, als Dome zu bauen! Heute ist der Betrieb zu einem der wesentlichen Umschlagplätze der verschiedensten religiösen, politischen und weltanschaulichen Meinungen geworden. Wenn auch am Arbeitsplatz durch die voranschreitende Technisierung und die Lohndrucksysteme die Zeit für religiöse Gespräche fehlt, so ist gerade am Arbeitsplatz durch das gelebte Vorbild des Einzelnen die Möglichkeit zur gegenseitigen Hilfe, Kameradschaft - und oft Freundschaft - gegeben, die den Arbeitskollegen näher rücken lassen kann. Viele Arbeiter nennen sich zwar religiös, meinen aber damit vielfach den Glauben an ein göttliches Wesen oder auch ein religiös gefärbtes Lebensgefühl. In dieser Welt steht der katholische Arbeiter-Aktivist meist eigenständig da und braucht in dieser schwierigen Lage eine Hilfe, eine Stelle, die ihn in seiner Aufgabe festigt und Mut gibt. Die tragende Kraft der Gemeinschaft, die Bewegung als religiöse, familiäre. katholische Aktionsgemeinschaft ist Heimat für das Apostolat

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im Betrieb. Sosehr die sozialen Bewegungen für das tägliche Apostolat notwendig sind, muß doch jeder Aktivist zunächst einmal ein Vorbild in beruflicher und religiöser Weise sein. Schon in der KAJ Gruppe als Lehrling hörten wir immer: "Zuerst mußt du fachlich etwas leisten, dann wirst du auch in deiner Einstellung als Christ akzeptiert werden." Neben diesem fachlichen Können und dem als Fachkraft "akzeptiert werden" ist die Verkündigung im Gespräch ein wesentlicher Bestandteil der sehr oft vernachlässigt wird. Viele Christen haben heute vergessen, daß sie in den entscheidenden und möglichen Formen der täglichen Begegnung mit dem Arbeitskollegen den Glauben verkünden müssen. Die Möglichkeit dazu ist entweder in der Beantwortung von Fragen, oder aber in der Berichtigung falscher Meinungen, die nur zu gerne im Raum stehen bleiben, gegeben. Die Devise: "Nicht anstreifen, mich geht das Ganze nichts an!" gilt mitunter auch für praktizierende Katholiken, für Arbeiter, Angestellte und Beamte, für Untergebene und Vorgesetzte. Diese Verbindung von Wort und Tat, von Beispiel geben und Vorbild sein, die Hilfsbereitschaft und das soziale Engagement im Betrieb als Betriebsrat, das Interesse an den Sorgen und Nöten der Beschäftigten und die Vertretung in ihren gerechten Ansprüchen sind letztlich Verpflichtungen für den Christen in der Welt der Arbeit. Somit wird der Arbeiter zum Arbeiterapostel, der Angestellte zum Apostel der Angestellten und der Beamte zum Apostel der Beamten. All dies kann nur dann erfolgreich sein, wenn es gelingt, die apostolischen Gruppen und Verbände, die sich mit der Arbeiterseelsorge beschäftigen, zu aktivieren, vermehrte Aktionen und Bildungsangebote zu geben und den Aktivisten in ihrem nicht leichten Einsatz mit konkreten Hilfen zur Seite zu stehen. Dann wird lebendiges Christentum an die Arbeitsstätten getragen werden können. Ein Personalausweis dieser apostolischen Gruppen für die Arbeitnehmer selbst, für die Öffentlichkeit und für die Kirche als Volk Gottes und ihrer verantwortlichen Leiter müßte demnach folgendes sein: Einmal eine im Religiösen verwurzelte Gemeinschaft von Aktivisten. Es ist für die österreichische katholische Arbeitnehmerbewegung historische Begebenheit, daß am Anfang der religiösen sozialorientierten Bewegung die Persönlichkeit des belgischen Arbeiterapostels Kardinal Joseph Cardijns steht. Daher ist auch die Ausrichtung dieser Gliederung der Katholischen Aktion in den wesentlichen Punkten von der Spiritualität und dem Stil dieses Arbeiterkardinals geprägt. Zu dieser Spiritualität gehört vor allem die Hochschätzung des Mitmenschen. Ein apostolisch tätiger Arbeiter muß die Person jedes Ar-

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beiters und jeder Arbeiterin schätzen, aus der Berufung, Kind Freund - und Mitarbeiter Gottes zu seins. Eine typische Formulierung von Cardijn: "Man kann Gott nicht achten, wenn man den Arbeiter nicht achtet!" Die Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen sollte sich bemühen, unter den Katholiken und in der gesamten Öffentlichkeit das Bewußtsein zu wecken, daß jeder Mensch geachtet und ernst genommen wird. Daß seine Arbeit Anerkennung findet und daß niemand minder bewertet wird; auch dann nicht, wenn er einfache, schlechtbezahlte Arbeit verrichtet. Schon die Rede vom "kleinen Mann" kann als abwertend empfunden werden. Ein weiterer Punkt der Seelsorge für den Arbeiter ist die Voraussetzung, daß für diese Bevölkerungsgruppe keine isolierte Seelsorge, kein bloßer Spiritualismus gebraucht wird. Es gibt keine Seelen, die allein durchs Leben gehen! Immer sind es Seelen in ihren Körpern, mit den typischen Eigenheiten und Fehlern der Menschen. Man muß also den ganzen Menschen sehen, schätzen und in seine Sorgen einbeziehen. Andererseits spricht Cardijn in der Betreuung der Arbeiter keiner einseitigen Befreiungstheorie das Wort'. "Es wäre Unfug, die Seelen zu vergessen, um den Leib zu retten", stellt er fest'. Ein weiterer Punkt und wesentlicher Grundsatz ist die apostolische Tätigkeit des Arbeiters selbst. Diese Mitarbeit am Werk Gottes ist untermauert von der Theorie der Berufung jedes Menschen an der Schöpfung und Erlösung. Außerdem geht auch dieser Grundsatz auf Cardijn zurück, der beim Aufbau der Internationalen KAJ den Zusammenschluß von Katholischen Arbeitnehmern zu einer Bewegung - wo sich etwas rührt - als Voraussetzung zum Gelingen der Apostolatsfrage, forderte. Der Einzelne ist machtlos, er erreicht nichts und wird auf der Strecke bleiben. Außerdem ist es auch notwendig, neben der Bekehrung des Einzelnen auch Strukturen zu ändern. In Anbetracht der Situation in Österreich kann wohl behauptet werden, daß in den letzten dreißig Jahren, seit dem Bestehen der Katholischen Arbeitnehmerbewegung KAB, durch den Einsatz vieler Aktivisten im gesellschaftspolitischen Bereich der Arbeitnehmervertretungen, in Gewerkschaften und Arbeiterkammern, Bildungseinrichtungen und Elternvereinigungen und nicht zuletzt in Pfarrgemeinderäten und kommunalpolitischen Berei3

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Aktivist an der Basis - P. Franz Wostry SJ 1975. P. Franz Wostry - KAB am Beispiel Cardijns 1976/Wien. Ein Leben für die Arbeiter - Ursula Mock.

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chen sowie in den politischen Parteien ein wesentlicher Beitrag für die Gesellschaft, für die Kirche und die Arbeitnehmer geleistet wurde. Dies konnte sicher nur durch die von den österreichischen Bischöfen unterstützten Gedanken zur Schaffung und Erhaltung dieser Organisation bewältigt werden. Gerade aber diese KAB war es in all den Jahren, die nicht nur eine spezifisch geistige Ausprägung hatte, sondern darüber hinaus auch eine geistig aktive Gemeinschaft ist und von der überschaubaren örtlichen Gruppe und nicht von einer Organisationsspitze aus geleitet wird. Diese Bewegung ist von unten her aufbauendes Christentum für die Arbeiterschaft, die von Aktivisten, Mitgliedern und Sympathisanten getragen wird. Es ist unbestritten, daß diese Gruppen die Unterstützung der örtlichen Pfarre, der Diözese, der nationalen und weltweiten Kirche benötigen.

111. Schicksalsgemeinschaft mit dem Arbeiter Die apostolische Tätigkeit in der Arbeiterschaft ist am besten mit der Familie selbst zu vergleichen. Die Familie ist die kleinste Zelle und wichtigste Einrichtung für die Gesellschaft, für den Staat und für die Kirche. In dieser Zelle werden immer wieder Menschen reif gemacht für das Leben. Menschen, die nicht das Glück haben, in einer Familie heranwachsen zu dürfen, haben es weitaus schwerer und sind gefährdeter als jene, die im Verband einer Familie leben. Wie in einer Familie, so bildet gerade die Apostolatsbewegung für die Aktivisten Treffpunkt, Geborgenheit und Sicherheit. Sie ist Schicksals-, Freudens- und Leidensgemeinschaft. Das Apostolat, für den Arbeiter verstanden, ist immer auch eine Arbeit für die Familie und durch die Familie. Die zahlreichen Familienrunden im innerkirchlichen Arbeitnehmerbereich geben dafür ein Zeugnis ab. Es kann ganz einfach nicht Apostolat in der Arbeiterschaft versucht werden, ohne die Familie mit einzubeziehen. Die Bildung von Zellen wurde auch für die Apostolatsbewegungen zum tragenden Fundament. Bei dieser Zellenbildung werden, ähnlich wie in der Familie, Fragen, Probleme und Handlungen besprochen und gelöst. Eine Gesellschaft, die an der Familie rüttelt, würde sich von selbst auflösen. Eine Kirche, die das Apostolat der Arbeit vernachlässigen würde, wäre nicht die Kirche Christi und würde den Anschluß an das 21. Jahrhundert nicht erreichen.

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Erfolg und Mißerfolg liegen gerade in dem täglichen Bemühen um den Menschen sehr eng beisammen. Meist sind es die vielen kleinen Probleme des täglichen Lebens, die für die Gemeinschaft, aber auch für jeden Einzelnen eine Bewährungsprobe darstellen. In dieser Gemeinschaft wird die Kirche in ihrer kleinsten und schicksalhaftesten Form sichtbar. Sie ist sozusagen die erste Kanzel der Verkündigung. In ihr entscheidet sich die Zukunft jedes Beteiligten. Ein wesentlicher Bestandteil der Bemühungen um den Arbeiter bildet aber auch das Ja der Bischöfe für diese Tätigkeit. Neben der Unterstützung der pastoralen Gremien und der Arbeitsmöglichkeit in einem freien Land ist dieses "ja" der diözesanen Oberhirten und das Begegnen der Bischöfe mit den Arbeitern einer der wertvollsten Meilensteine der Apostolatstätigkeit. IV. Laßt sie Menschen sein, auch im Betrieb! Das war das zentrale Anliegen der Enzyklika "Rerum Novarum" und bis in die heutige Zeit gültig. Wenn die Ausbeutung der Arbeiterschaft, wie sie zur Zeit des ersten Sozialrundschreibens gegeben war, heute nicht mehr in diesem Ausmaß in unseren Breitengraden vorgefunden wird, so gibt es doch Nöte an den Rändern der Gesellschaft, die dem Einzelnen unüberwindbar erscheinen. Es sind nicht mehr die "Weißen Sklaven der Wiener Pferdetramwaygesellschaft" wie sie der Floridsdorfer Kooperator Rudolf Eichhorn betitelt, oder die Ziegel arbeiter am Rande von Wien, die zu den menschenunwürdigsten Bedingungen arbeiten mußten. Die von den Großaktionären geschunden wurden und lediglich für die Befriedigung der notwendigsten leiblichen Bedürfnisse arbeiteten, sondern es ist heute die Ungewißheit des morgigen Tages, die Angst vor Arbeitslosigkeit und die Streßsituation. Es sind die zermürbenden Lohndrucksysteme, die Monotonie, die inhumane Gestaltung verschiedenster Arbeitsplätze und der Raubbau an Gesundheit und Körper, die auch heute die Fundamente der katholischen Soziallehre in den Vordergrund rücken lassen. Katholische Soziallehre ist eine Herausforderung an die Gesellschaft. Auch heute noch! Nicht die geschriebene Soziallehre und Prinzipien werden die Welt verändern, sondern der persönliche Einsatz jedes Einzelnen ist für die Verwirklichung maßgebend. Für die Aktivisten in der Arbeitswelt ist die katholische Soziallehre, vor allem das geschriebene päpstliche Wort in den Arbeiterenzykliken keine Psychologie, sondern die Lehre der Gestaltung des sozialen Le-

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hens nach dem Evangelium. Demnach ist sie Lehre der Wirklichkeit, wo nicht gefragt wird, was morgen zu tun sein wird, sondern getan wird, was heute notwendig ist und dem Menschen dient. Antwort zu geben aus der Wahrheit heraus den Weg in die Zukunft suchen, ist Aufgabe der Missionstätigkeit in der Arbeiterschaft. Oft wird vom arbeitenden Menschen so viel Leistung verlangt, daß der Mensch zu kurz kommt. Die Menschenwürde wird täglich verletzt! Auch von uns selbst. Der Arbeiter aber, egal welcher weltanschaulichen Richtung er angehören mag, zeigt in der Art seiner Auffassung eine geistige Sauberkeit, Eindeutigkeit und Klarheit, die in den höheren Gesellschaftskreisen nicht allzu häufig anzutreffen ist. Auch ist er, wenn er katholisch ist, ein Vertreter von einem handfesten, klaren, eindeutigen Katholizismus und wenn er Sozialist ist, Vertreter eines ebenso eindeutigen universal - nicht national - ausgerichteten Sozialismus6 • Aus der jahrzehntelangen Arbeit am und mit dem Arbeiter kann behauptet werden, daß dieser durch eine von Kindheit an mit der greifbaren Wirklichkeit des Lebens konfrontierten Situation, Realist ist und für eventuelle intellektuelle Taschenspielerkunststücke nicht vü:~l übdg hat. Bbenso ehrlich und schlicht ist auch die Sprache der Arbeiter, die gerade bei der Formulierung weltanschaulicher Probleme fern von jener unbestimmten seiltänzerischen Formulierungstaktik mancher bildungsmäßig höher stehender Kreise ist.

v.

Christen haben verschiedene Gesichter!

Christen, als Volk Gottes unterwegs, haben etwas eigenartig charakteristisches an sich. In dem pluralistischen Haufen von Katholiken in den verschiedensten Organisationen der Katholischen Aktion und den katholischen Gemeinschaften, hat jede dieser Gliederungen eine spezielle Aufgabe zu erfüllen. Ein Benediktinerkonvent, der die Vesper singt, hat sicher mit der Zielsetzung des gelebten Gottesdienstes eine andere Ausprägung als eine katholische Arbeitnehmerbewegung, die durch ihr religiöses sozialorientiertes Engagement ebenfalls eine eigenständige Prägung besitzt. Der immer wieder aufkeimende Trend in der Katholischen Aktion, die Vereinheitlichung aller Gruppierungen und Gliederungen anzustreben, würde schon aus diesem Grund keinen Erfolg bringen. So hat jede Bewegung und Einheit für sich eine Aufgabe und Talente, die nicht zur gegenseitigen Bekämpfung sondern zur spezifischen Seelsorge vorhanden sind und genützt werden müssen. e

Die Mentalität des Arbeiters - Zeit-Zeichen 4 aus 1975.

14 Festschrift Ross!

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Wenn doch noch in vielen Bereichen ein Konkurrenzstreben festgestellt werden kann, so liegt es vielfach an der Struktur der kirchlichen Gremien, an dem von höherer Stelle verlangten jährlichen Berechtigungsnachweises über die durchgeführte Apostolatstätigkeit, die sich selten in einer Sol1- und Haben-Rechnung ausbilanzieren läßt und doch für die Gewährung der jährlichen kirchlichen Subventionen maßgebend erscheint, sowie an einer einseitig praktizierten Apostolatstätigkeit vieler Geistlicher und Pfarrverantwortlicher, die neben der pfarrlichen Tätigkeit auch die Arbeiterseelsorge in der Pfarre sehen müßten. Aus Zeitgründen, aber auch wegen der Beschwerlichkeit dieser Tätigkeit, kommt die Arbeiterpastoral in der Pfarre vielfach zu kurz. Es dürfte einfach nicht vorkommen, daß ein Pfarrer oder Kaplan in seinem Aufgabenbereich die Betriebe, die Betriebsverantwortlichen wie Unternehmer und Betriebsräte und die Wohnbevölkerungsstrukturen nicht kennt. Das gleiche ist auch für die Verantwortlichen der Laienbewegungen gültig, jedoch mit dem Hinweis, daß ein Pfarrer viel leichter bei Visitationen und Kraft seiner Stellung in die Betriebe Eintritt erhält. In den Verlautbarungen über die Arbeiterseelsorge der deutschen Bischofskonferenz vom 2. 11. 19607 wurde die dringende Bitte an alle Seelsorger gerichtet, die katholischen Laienorganisationen der Arbeiter zu unterstützen und sie überall dort einzuführen, wo die soziologische Struktur der Bevölkerung es möglich erscheinen läßt. Obwohl ein derartiger öffentlicher Aufruf der österreichischen Bischofskonferenz auch Bedeutung hätte, und die seelsorgliche Tätigkeit gleichmäßig auf Pfarrgemeinderäte und kategoriale Seelsorge verteilen helfen könnte, scheint es so, daß die kirchlich hierarchische Spitze Sorge vor einer Überbewertung der Arbeitnehmerseelsorge hat. Objektiverweise soll gesagt werden, daß mit der Pastoraltagung 1978 in Wien-Lainz doch diese Thematik im öffentlich kirchlichen Raum wieder aufgeworfen wurde, doch nicht an die Verantwortlichen aus den Pfarren gebracht werden konnte. Vielfach ist aber auch die tatsächliche Belastbarkeit der Seelsorger bereits überschritten und der Mangel an Priesternachwuchs für die derzeitige Situation und den anscheinenden Stillstand in der Arbeiterpastoral maßgebend. Hier kann zumindest kurzfristig nur durch die Hilfe tüchtiger Laien ein Ausweg gefunden werden. Eine Förderung der katholischen Standesorganisationen auf dem Arbeitnehmersektor und die Vermehrung der hauptamtlich in diesen Bewegungen beschäftigten Laien würde jedoch auf die Dauer nicht so sehr zusätzliche Arbeit und finanzielle Belastbarkeit, sondern eine Vervielfältigung der seelsorglichen Kräfte mit sich bringen. 1

Texte zur Katholischen Sozi all ehre - Band II der KAB Deutschland.

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Die Rückgewinnung der vielen, der Kirche entfremdeten Arbeiter muß auch für die verantwortlichen Katholikenführer eine entscheidende Lebensfrage sein. Darüber hinaus geht es aber um die Erfüllung der schwierigen Aufgaben, die der Arbeiterschaft in Kirche und Gesellschaft, in Staat und Volk gestellt sind. Das erfordert in erster Linie das Verständnis aller, die Verantwortung tragen und die Möglichkeit sehen, den katholischen Arbeitnehmerorganisationen und dem einzelnen Aktivisten zu helfen. Die Sorge für die Zukunft besteht darin, der Religion immer wieder den Zugang zum Leben, zu den sozialen Milieus und den aus ihnen hervorgehenden Problemen zu öffnen. Der Versuch, dem Arbeiter zu helfen, dem Leben und der Arbeit mehr Sinn zu geben, wird sich lohnen. Außerdem geht es den Beteiligten um ein entsprechendes Handeln im persönlichen und kollektiven Lebensbereich. Um die Unterstützung aller Menschen und Gruppen, die neue Wege für eine bessere Welt im Sinne des Evangeliums gehen wollen, die ihren Einsatz für Gerechtigkeit, für Friede und Freiheit, für den Schwachen, Bedrängten, Benachteiligten und Behinderten leisten. Jedoch ist dies allein nicht die volle "Frohbotschaft" Christi und bringt den Menschen nicht die volle Befreiung. Die Bedeutung des persönlichen Apostolates, der Einsatz des Einzelnen in seinen Lebensbereichen, im Wohnviertel, im Betrieb, in Elternvereinen und Pfarrgemeinderäten, in Gewerkschaften und Arbeiterkammern, politischen Parteien und kommunalen Einrichtungen sowie in Hilfsorganisationen heißt für die Aktivisten an der Basis nicht: "Gehet hinaus in alle Welt!" sondern: "Gehet hinein in alle Bereiche des Arbeiterlebens und legt dort Zeugnis ab für Christus!"

DER AKADEMIKER UND DAS APOSTOLAT Von Wilhelm Korab "Gehet hin und lehret alle Völker ... " Nicht vornehmen und gebildeten Menschen wurde diese Aufgabe übertragen, sondern ganz einfachen Männern aus dem Volke, Handwerkern, Fischern u. a. Nicht die Schulbildung war das Kriterium für den Auftrag zum Apostolat, sondern die charakterliche Befähigung begnadeter Personen, Zeugnis abzulegen für die Wahrheit und dieses Zeugnis, wenn nötig, mit dem Leben zu besiegeln, so wie uns Jesus Christus selbst das Beispiel dafür gegeben hat. Daß der Herr bei der Auswahl seiner Apostel die richtige Wahl getroffen hat, hat die Geschichte der Kirche bestätigt. Ist es also sinnvoll, den Akademiker mit dem Apostolat in eine besondere Beziehung zu bringen, ihm eine besondere Bedeutung für das Apostolat beizumessen? Grundsätzlich sicher nicht. Auch heute noch sind es oft die einfachsten Menschen die, wenn sie das Herz am rechten Fleck haben, so wie der barmherzige Samaritan intuitiv erfassen, daß sie handeln müssen und was sie dabei zu tun haben, um ein Beispiel christlicher Nächstenliebe zu geben und damit Zeugnis für Christus und die Wahrheit abzulegen. Denn nicht nur die Apostel und ihre Nachfolger, d. h. die kirchliche Hierarchie waren und sind dazu berufen, sondern alle Christen, die sich als solche im kirchlichen und weltlichen Leben betätigen, gleichgültig ob Akademiker oder Nichtakademiker.

Wodurch unterscheidet sich der Akademiker vom Nichtakademiker? In unserer Zeit im wesentlichen durch den Abschluß eines Universitätsbzw. Hochschulstudiums, das ihm den Weg zu einem sogenannten akademischen Beruf wie Professor, Arzt, Rechtsanwalt und dgl. eröffnet und meist mit einem akademischen Grad bzw. Titel bescheinigt wird. Der wissenschaftliche und technische Fortschritt bringt es mit sich, daß die Berufsausbildung immer größere Kenntnisse, allerdings auf einem immer kleiner werdenden Gebiet erfordert, d. h. immer mehr spezialisiert wird. Demzufolge wird die Zahl der Berufe, die eine Hochschulbildung voraussetzen, immer größer. Die weitere Folge davon ist, daß auf den Universitäten bzw. Hochschulen zum überwiegenden Teil nur mehl'l 'zur Erreichung des Berufszieles studiert wird.

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Nur mehr ganz wenige Menschen besuchen heute eine Universität oder Hochschule ohne Bedachtnahme auf berufliche, d. h. wirtschaftliche Interessen, lediglich in der Absicht ihren Horizont zu erweitern und ihr Weltbild abzurunden, allein aus dem uralten Drang nach Erkenntnis überhaupt. Es sind meist ältere reifere Personen, die über ihre Lebenserfahrung hinaus den Anschluß an den heutigen Stand der Wissenschaft nicht verlieren wollen, weil sie nicht nur nach Wissen sondern auch nach Weisheit streben. Selbstverständlich befinden sich immer wieder auch jüngere Menschen darunter und manchen begabten und begeisterten Studenten wird man dazu zählen können. Solche Studierende sind eigentlich die echten Akademiker. Die Idee der Universität ist auf die antiken Philosophenschulen, insbesondere die Platonische Akademie zurückzuführen. Diese waren aber nicht als Berufsausbildungsstätten gedacht, um Zweckbildung für die Praxis zu vermitteln, wie dies heutzutage auf den Universitäten bzw. Hochschulen vorwiegend geschieht und zum Teil auch geschehen muß, weil die Errungenschaften der modernen Technik immer kompliziertere Strukturen aufweisen. Aber nicht nur die Naturwissenschaften, auch die Geisteswissenschaften verzweigen sich immer mehr, die einzelnen Disziplinen bilden sich eine eigene Fachsprache zurecht, die ein Außenstehender kaum oder gar nicht mehr versteht.

Es geht aber nicht nur um die Sprache. Der Wissensstoff als solcher nimmt allenthalben so rapid zu, daß man, um nur auf einem bestimm-

ten Spezialgebiet auf dem Laufenden zu bleiben, auf immer mehr Allgemeinbildung verzichten muß. Dies ist scheinbar durchaus logisch und richtig. Denn nur durch beständige Spezialisierung ist der Wissenschaftler imstande, immer neue Erkenntnisse zu Tage zu fördern, insbesondere solche, die praktisch verwertbar sind und somit das Leben angenehmer, bequemer und sicherer gestalten. Alles dies ist dann verständlich und auch zu bejahen, wenn, wie zum Beispiel nach dem Zweiten Weltkrieg, Not und Elend herrschen und zunächst die primitivsten menschlichen Bedürfnisse befriedigt werden müssen. Diese Voraussetzungen treffen auch heute noch für weite Teile der Dritten Welt zu und es ist daher durchaus zu begrüßen, wenn die wohlhabenderen Staaten "durch wissenschaftliche und technische Hilfe dazu beitragen, in den Entwicklungsländern die ärgste Not zu beseitigen. Ganz anders verhält es sich aber überall dort, wo der Wohlstand bereits zu unübersehbaren Dekadenzerscheinungen geführt hat. Worauf sind letztere zurückzuführen? Wissenschaftler, Techniker und Wirtschaftsfachleute sind gewissermaßen geradezu gezwungen, in ihren Fächern immer weiter fortzu-

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schreiten und zwar ohne Rücksicht auf die sich dadurch in anderen Bereichen ergebenden Konsequenzen. Jeder von ihnen betrachtet die Entwicklung nur unter seinem Aspekt, nämlich dem des Fortschritts. Die Ergebnisse dieses zwangsläufigen Fortschritts haben jedoch einen Januskopf, sie sind ambivalent. Alle Erfindungen vom Schießpulver bis zur Atomkraft, vom Computer bis zum Laser, können, richtig angewendet, ein Segen für die Menschheit sein. Sie können aber auch sehr leicht zu einem Fluch werden und sogar den Untergang des Menschengeschlechtes bewirken. Wer befindet über das richtige Maß? Sicherlich nicht jener Akademiker, der nur für ein einzelnes Fachgebiet ausgebildet ist, aber im Hinblick auf seinen beruflichen Erfolg glaubt, sich über alle Nichtakademiker erhaben fühlen zu können. Der Dünkel vieler solcher Akademiker ist oft unbeschreiblich und beweist nur, daß die Betreffenden die Bezeichnung Akademiker gar nicht verdienen. Diese Bezeichnung verdienen richtigerweise nur diejenigen, welche die Bedeutung ihres Wissens im Rahmen der Gesamtwirklichkeit einzuschätzen vermögen und dabei mit Sokrates erkennen, wie wenig sie wissen. Denn auch nur einen bescheidenen Überblick über das Gesamtwissen unserer Zeit zu bekommen, ist schier unmöglich. Und doch wäre es die Aufgabe eines echten Akademikers, jegliche Erkenntnis unter jedem möglichen Aspekt zu prüfen. Auch Philosophie und Theologie, die an und für sich auf das Ganze des Seins hinzielen, können als Fachstudien zu einseitig betrieben werden. Das Ergebnis ist dann der mangelnde Kontakt vieler Lehrer und Priester zu ihren Schülern bzw. Gläubigen. Besonders letztere erwarten von ihren Seelenhirten ein umfassendes Verständnis für die aktuellen Probleme des Lebens; dazu noch Einfühlungsvermögen und ein Mindestmaß an menschlicher Wärme. Neben dem Fachstudium wird daher nicht nur eine gewisse Kenntnis der für die Menschenführung erforderliche Hilfswissenschaften wie Psychologie, Biologie u . a. m. sowie darüber hinaus eine grundlegende Charakterbildung erforderlich sein. Nur der wahre Akademiker, der die Notwendigkeit eines integralen Denkens, eines Einblickes in andere Wissensgebiete und eines Überblickes über die Zusammenhänge erkannt hat und im Gegensatz zum erfolgreichen Fachexperten sich seines bescheidenen Wissens bewußt ist, wird auch die zugehörige persönliche Bescheidenheit und Demut aufbringen und nicht jenem naiven Fortschrittsglaubens huldigen, der immer noch der Mehrheit der einseitig ausgebildeten Akademiker den Blick für die Gesamtwirklichkeit und die unveränderliche Wahrheit trübt.

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Jenem wahrhaft gebildeten Akademiker käme allerdings eine besondere Bedeutung für das Apostolat zu. Aufgeschlossen für tiefgründiges Wissen wird auch der nicht speziell an der Theologie Interessierte am Religiösen nicht vorbeigehen können und sich auch seiner diesbezüglichen Verantwortung gegenüber seinen Mitmenschen sowie der Gesellschaft im allgemeinen bewußt werden. Bei aller Demut und Bescheidenheit müßte ihm klar sein, daß er bei entsprechender Begabung zu Führungsaufgaben, sei es in der Kirche, sei es im Staate berufen ist und diese nicht ohne zwingenden Grund ausschlagen darf. Es müßte ihm einleuchten, daß er einer Elite zuzurechnen ist, deren Verhalten vom Großteil der Bevölkerung sehr aufmerksam beobachtet wird. Er wird sich daher beständig selbst zu prüfen haben, ob er seiner Aufgabe, als Christ wie als Staatsbürger Vorbild zu sein und entsprechend meinungsbildend zu wirken, auch entspricht. Dies ist um so notwendiger als wir heute in einer völlig säkularisierten Welt leben, deren Einflüssen wir uns mit fortschr.eitender Technisierung immer schwerer entziehen können sowie in einer pluralistischen Gesellschaft, in der alles relativiert zu sein scheint, in der der Glaube an den Fortschritt den Glauben an Gott weitgehend verdrängt hat und in der die Politik vorwiegend auf den wirtschaftlichen Aufschwung und damit auf die Steigerung des Lebensstandards ausgerichtet ist. Wenn auch in der letzten Zeit öfters von der Lebensqualität, vom Energiesparen und vom Umweltschutz gesprochen wird, das Wirtschaftswachstum bleibt ungeachtet verschiedentlicher Warnungen weiter im Vordergrund. Die unverminderte Jagd nach dem Lebensstandard reißt uns unwillkürlich mit und absorbiert uns weitgehend. Das Leben wird immer hektischer, die Unrast und der Zeitmangel drohen, das religiöse Leben verdorren zu lassen. Den Verlockungen der Wohlstandsgesellschaft nach mehr sinnlicher Lust, nach immer mehr Besitz und nach eitlen Machtpositionen zu widerstehen, wird immer schwieriger. Das allgemeine praktische Leben hat sich - es läßt sich nicht leugnen vielfach weit von der Lehre Christi entfernt. Die moderne Welt ist voller Widersprüche. Die Macht des Menschen über die Natur erweckt einerseits die Hoffnung auf eine großartige Zukunft, anderseits führt sie zu einer panischen Angst vor den drohenden Folgen ihres Mißbrauches. Egoismus, Haß und Unfrieden triumphieren vielfach über die Anständigkeit und die Liebe. Ist es da verwunderlich, wenn auch gute Christen Anfechtungen ihres Glaubens ausgesetzt sind? Wie sollen sie sich in einer solchen Welt zurecht finden, in der sogar von Theologen, Priestern und höheren kirchlichen Würdenträgern Ansichten verkündet werden, die der bisherigen Lehre der Kirche widerstreiten?

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Der materialistische Fortschrittsglaube ist zwar weit verbreitet, aber keineswegs begründet. Immer wiederkehrende Rückfälle in die Barbarei beweisen dies. Die Sehnsucht der Menschen nach Eintracht, Frieden und Glück ist in unserer Zeit trotz des hohen Lebensstandards und äußerer Zivilisation größer denn je. Denn gerade das Wohlleben läßt die Menschen das wahre Glück nicht finden, es macht sie nur noch unzufriedener, wie wir es täglich miterleben können. Es führt zu innerer Unruhe, Leere und Einsamkeit. Der vor 50 Jahren noch vorherrschende Positivismus hat seinen Höhepunkt längst überschritten. Die neuesten Erkenntnisse der Naturwissenschaften haben gezeigt, daß Glaube und Wissenschaft nicht im Widerspruch zueinander stehen müssen. Die Kirche ist eifrig bemüht, den Anschluß an die Welt, den sie einige Zeit lang nahezu verloren zu haben schien, wieder zu gewinnen. Das Konzil hat dies deutlich zum Ausdruck gebracht. Das Bekenntnis zu einer christlichen Weltanschauung bedeutet in der pluralistischen Gesellschaft weder innere Konflikte noch äußere Schwierigkeiten. Welche Schlußfolgerungen sind daraus zu ziehen? Zunächst diejenigen, daß sich niemand in der freien Welt darauf ausreden kann, an dem ihm zumutbaren Apostolat von außen her behindert zu sein, bzw. daß angesichts der gegebenen Situation in der Welt ein jeder, der dazu befähigt ist, im Rahmen seiner Möglichkeiten zum Apostolat verpflichtet ist. Schon ein geringfügiger Akt der Nächstenliebe, ein Besuch bei einem Kranken oder einem einsamen alten Menschen, ein aufmunterndes Wort bzw. ein Rat an einen Hilfesuchenden, eine kleine Spende für einen karitativen Zweck, ein mutiger Leserbrief an eine Zeitung, das alles kann schon Apostolat sein. Freilich, für einen Akademiker, der sich zum Christentum bekennt, ist die Verantwortung weit größer. Er müßte stets der Verpflichtung eingedenk sein, dazu beizutragen, daß das Christentum gegenüber dem theoretischen Materialismus des Ostens und dem praktischen Materialismus des Westens glaubwürdig erscheint. In einer so sehr säkularisierten Welt wie in der heutigen, ist dies auch für einen umfassend gebildeten Akademiker gar nicht so leicht. Papst Johannes Paul Ir. hat anläßlich seiner Amerikareise auf zwei Ziele hingewiesen, die nicht nur für die Amerikaner, sondern für die Christen in aller Welt vordringlich sein sollten. Das erste Ziel ist die Wiedervereinigung aller noch vom Stuhl Petri getrennten christlichen Konfessionen. Daß dieses Ziel nach Jahrhunderte langer bzw. tausendjähriger Trennung nicht über Nacht herbei-

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geführt werden kann, liegt auf der Hand. Dennoch ist die fehlende Einheit der Christenheit angesichts einer geistig zerrissenen und moralisch zerrütteten Welt unverantwortlich. Hierarchie und Theologie allein werden das Problem jedoch kaum lösen können. Der leidenschaftliche Wunsch nach der Einheit müßte von der Basis her, von den Gläubigen der verschiedenen Konfessionen selbst kommen. Die ökumenische Bewegung sollte von einer starken Laienbewegung getragen sein. Wer wäre eher berufen, dabei eine führende Rolle zu spielen, als der umfassend gebildete christliche Akademiker? Das unablässige Gebet für die Wiedervereinigung der Christenheit so notwendig es auch ist - wird hier nicht ausreichend sein, wenn nicht entsprechende Taten dazukommen. Besonders wichtig erscheint hier ein beständig zu intensivierender Kontakt mit Angehörigen anderer christlicher Konfessionen auf allen Ebenen. Bei den diesbezüglichen Gesprächen käme vor allem dem Hinweis Bedeutung zu, daß, wie vorhin ausgeführt, nur eine geeinte christliche Kirche vor der Welt glaubwürdig Zeugnis für die Wahrheit abzulegen vermöchte. Das zweite Ziel ist die vom Papst dringlich empfohlene Rückkehr zu einem einfacheren Leben. Damit ist keineswegs eine Rückkehr zur Natur im Sinne Rousseaus gemeint, und schon gar nicht eine Absage an die Technik. Was hier not tut, ist eine neue Einstellung zu den Werten, eine Korrektur der durch den Materialismus, Positivismus und Relativismus auf den Kopf gestellten Wertordnung. Alle diejenigen, die nur das Wirtschaftswachstum und die Steigerung der materiellen Produktion vor Augen haben, wären auf jene Stelle der Schrift aufmerksam zu machen, in der es heißt: "Suchet zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit, und alles andere wird Euch hinzugegeben werden." Dies bedeutet absolut keinen Auftrag, die Hände in den Schoß zu legen, denn immer noch gilt das Wort: "Macht Euch die Erde untertan." Insbesondere dann, wenn es gilt, für den bedürftigen Mitmenschen zu sorgen; wissen wir doch, daß es viele Millionen gibt, die um die nackte Existenz ringen. Hier kann nicht genug getan werden und kann kein Opfer zu groß sein, denn "Was Ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, habt Ihr mir getan.", sagt Christus. Auch Kant vertritt die Auffassung, daß der Mensch in erster Linie für das Glück seiner Mitmenschen und für die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit zu sorgen hätte. Die soziale Tat wird daher neben der durchaus anerkennenswerten öffentlichen Fürsorge immer ein persönliches Anliegen bleiben müssen. Mit dem Suchen nach dem Reiche Gottes und seiner Gerechtigkeit ist aber wohl eine deutliche Absage an die Hektik und Unrast unserer Zeit

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verbunden. Hier geht es um das Prinzip, daß dem Sein eindeutig der Vorrang vor dem Haben gebührt. Schon Seneca war der Meinung, daß das Glück nicht in der Vermehrung der Güter, sondern in der Verminderung der Wünsche beschlossen liegt. Wäre es daher nicht angezeigt, eine Wirtschaftstheorie zu erarbeiten, welche die Umschichtung eines Teiles der Produktion von immer mehr überflüssigen Massen- wie Luxusgütern auf Einrichtungen von bleibenden kulturellen und sozialen Werten ins Auge faßt, die ohne staatlichen Zwang allen Bürgern zugute kommen? Auf diese Weise für mehr soziale Gerechtigkeit zu sorgen und zu versuchen, die auf die Dauer unbefriedigende Konsumgesellschaft in eine wertbezogene Kulturgesellschaft umzuwandeln, wäre zweifellos bestes Apostolat. Es darf nämlich nicht vergessen werden, daß in unserer - auch im freien Westen - weitgehend festgefahrenen Wirtschafts- und Sozial ordnung auch schon die Äußerung derartiger Gedanken einen gewissen Mut erfordert. Im Grunde genommen sind solche Erwägungen jedoch nicht neu. Schließlich hat schon Laotse einige Jahrhunderte vor Christus die Liebe, die Genügsamkeit und die Demut als die drei größten Schätze bezeichnet. Er hat damit bis zu einem gewissen Grade vorweggenommen, was in der Bergpredigt und im dreizehnten Kapitel des 1. Korintherbriefes des Apostels Paulus zu lesen steht. Trotz aller Irrungen und Fehlleistungen in der Vergangenheit war, ist und bleibt das Christentum die Philosophie der Liebe. Der Akademiker ist vor allen anderen dazu berufen, dies immer wieder in Wort und Tat unter Beweis zu stellen.

VERKÜNDIGUNG, LAIENBILDUNG UND MASSENMEDIEN Von Pia Maria Plechi "Was nützte es, die Wahrheit zu sagen, wenn man von den Menschen unserer Zeit nicht verstanden wird?" Dieser knappe Satz Pauls VI. von ihm ausgesprochen, als er noch Monsignore Montini war, und von Jean Guitton aufgezeichnet 1 - umreißt die gesamte Problematik von Verkündigung und Apostolat der Gegenwart, einschließlich der Frage von Kommunikation und Nutzung der Medien. "Würde der Apostel Paulus heute leben, er wäre nicht einfach Journalist sondern Chefredakteur einer weltweiten Nachrichtenagentur und würde sich beim Fernseh-Intendanten um Sendezeiten bemühen." Diese Bemerkung Johannes Pauls I. vor internationalen Pressevertretern2 ist um die Welt gegangen - was dabei allerdings nicht berücksichtigt wurde, war das kleine Lächeln in den Augenwinkeln des Luciani-Papstes, das darauf schließen ließ, er messe diesen Worten gewiß nicht den Ernst einer päpstlichen Aussage bei. "Die Arbeit der katholischen Journalisten ist fast lebenswichtig für die Kirche", sagte Johannes Paul II. kürzlich vor den Vertretern katholischer Nachrichtenagenturen3 . Diese drei päpstlichen Anmerkungen - keine von ihnen einer Enzyklika oder einer anderen formellen Aussage des Lehramtes entnommen - deuten die Relevanz des Verhältnisses der Kirche zu den Massenmedien und vice versa bereits an. Andererseits sind Hinweise auf ein "gestörtes Verhältnis der Kirche zu den Massenmedien" bis heute letztlich unwidersprochen geblieben, vor allem, wenn sie auf vordergründigen Beobachtungen beruhen. Dabei wird zumeist unter "Kirche" die Hierarchie einschließlich der nachkonziliaren Gremien verstanden, kaum oder nur sekundär die Kirche als Gesamtheit der Glaubenden. Jean Guitton, Dialog mit Paul VI., Wien 1967, S. 21. Johannes Paul I. vor den beim Heiligen Stuhl akkreditierten Journalisten am 2. September 1978, zitiert aus "Die Presse", Wien, 2. September 1978, S. 2. 3 Johannes Paul 11. während der Generalaudienz am 21. November 1979 zu den Teilnehmern der "Romwoche" der Deutschen Gesellschaft katholischer Publizisten", zitiert aus "kathpress" vom 22. November 1979. 1

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Schon diese Reduzierung des Kirchenbegriffes birgt einen - freilich keineswegs den einzigen - Keim der weiten Problematik in sich. Sie kann, wenn die Vereinfachung zu leichterer Verständlichkeit und Erfaßbarkeit führt, ihre durchaus positiven Aspekte haben - einer davon ist das phänomenale Echo der von Medien informierten und beeinflußten Weltöffentlichkeit auf die Persönlichkeit und Ausstrahlung des gegenwärtigen Heiligen Vaters. Die Konzentration des Medieninteresses auf ihn dient - unbeabsichtigt, wenn nicht sogar ungewollt seitens einer Vielzahl der Berichtenden - der Untermauerung und tieferen gefühlsmäßigen Verankerung des päpstlichen Primats in der katholischen und nicht-katholischen Öffentlichkeit und kann zugleich bodenbereitend wirken für die Evangelisation. Es wäre jedoch ein verhängnisvoller Irrtum, anzunehmen, daß die im Papst personifizierte Präsenz der Kirche in der medialen Öffentlichkeit von heute bereits eo ipso in der Dimension von Verkündigung und Evangelisation zu sehen sei. Eine solche Annahme würde den Medienschaffenden schlechthin nicht einer bestimmten katholischen Gruppe unter ihnen, die noch gesondert zu betrachten sein wird - eine Aufgabe zuweisen, die ihnen ex definitione und auch de facto nicht zukommt. Und sie würde darüber hinaus das Faktum einer bestimmten Eigengesetzlichkeit, die - wenn auch verschieden zu bewerten - innerhalb der Medienwelt besteht, ignorieren. Es ist zweifellos kein Zufall, daß die Pastoralinstruktion "Communio et progressio" sich zwar des Ausdrucks "Medien" zu wiederholten Malen bedient, generell jedoch von den "Instrumenten der sozialen Kommunikation" spricht, wie bereits ihrem vollen Titel zu entnehmen ist. "Gemeinschaft und Fortschritt der menschlichen Gesellschaft sind die obersten Ziele sozialer Kommunikation und ihrer Instrumente, wie der Presse, des Films, des Hörfunks und des Fernsehens. Sie entwickeln sich noch ständig weiter und stehen einer wachsenden Zahl von Menschen und jedem einzelnen in zunehmendem Maße leichter zur Verfügung", lauten die Anfangsworte des Pastoral schreibens, das somit auf die Ziele hin orientiert ist, die freilich nicht einfach postuliert, sondern "einsichtig, transparent und verbindlich" gemacht werden. Das tiefere Verständnis der sozialen Kommunikation, das "Communio et progressio" anstrebt, basiert auf. drei Ausgangspunkten: dem heilsgeschichtlichen Prinzip, also der "Einordnung in den Zusammenhang der Schöpfungs- und Heilsgeschichte"; dem Personalitätsprinzip im Sinne jenes "Vollbegriffs der Würde des Menschen", der allein aus der Gotteskindschaft erwachsen kann; und dem Prinzip der Sachgerechtigkeit, das die Eigengesetzlichkeit jedes Mediums im Hinblick auf den Gebrauch ebendieser Medien als Mittel der sozialen Kommunikation, in Rechnung ste1lt 4 •

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Die Pastoralinstruktion hatte nicht die Aufgabe, eine Phänomenologie oder Typologie des Medienwesens zu geben. Sie kann sich mit den großen Perspektiven begnügen, zu denen auch die Erkenntnis zählt: "Unwissenheit und Mangel an gutem Willen lassen den Gebrauch dieser Kommunikationsmittel ins Gegenteil verkehren", sofern durch sie die Menschen noch mehr entzweit, die höchsten Werte verneint oder verfälscht werden. Angesichts der Mediensituation in weiten Teilen der Welt, im besonderen auch der pluralistischen Gesellschaftssysteme, scheint hier eines hervorzuheben: Nicht von bösem Willen und von Unwahrheit ist die Rede, sondern davon, daß bereits das Fehlen des guten Willens, der Mangel an Wissen von übel sind, oder dies sein können. Damit ist ein Kernpunkt dessen getroffen, was seit Erscheinen von "Communio et progressio" am 23. Mai 1971 von einer Vielzahl publizistikwissenschaftlicher Untersuchungen und der daraus resultierenden Schlußfolgerung festgestellt wird: Der Großteil der Empfänger - oder Konsumenten - der modernen Massenmedien ist trotz des Angebots, ja, überangebots von Nachrichten erstaunlich wenig informiert. Das Schlagwort "overnewsed and underinformed"5 ist realistisch und bezeugt, daß mit der weiterhin steigenden Flut der Nachrichtenfülle der sogar im deutschen Wort enthaltene Sinn von "Nachricht" verlorengegangen ist: Das Mitgeteilte wird nicht mehr als eine Kunde empfunden, die dazu dient, sich "danach zu richten", also in einem Maße von ihr ge- und betroffen zu sein, das persönliche Konsequenzen oder auch nur eigenständige Gedanken darüber anregt oder auslöst. Auf Nachrichten aus dem katholischen Bereich bezogen, kann das bedeuten, daß beispielsweise über Methoden der Verkündigung und über die Menschen, die im Dienste der Verkündigung stehen, ein beträchtliches Maß an Informationen zur Verfügung steht, daß aber der Inhalt dieser Verkündigung - eben die Frohe Botschaft - dennoch mehr und mehr aus dem öffentlichen Bewußtsein schwindet. Die Konsequenz daraus kann indes nicht darin bestehen, die Flut der Meldungen aus dem aktuellen kirchlichen Geschehen eindämmen zu wollen - was auch in klarem Widerspruch zu dem Pastoralschreiben und zur Intention des 11. Vatikanischen Konzils stünde und zudem einen Verzicht auf eine der Grundlagen echter, tiefergehender Kommu• Pastoralinstruktion "Communio et Progressio", von den deutschen Bischöfen approbierte übersetzung, kommentiert von Hans Wagner, Trier 1971, S.18f. 5 Gerd Bacher, Generalintendant des ORF, in "Die Presse", Wien, 10./11. November 1979, S. 5.

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nikation bedeuten würde. Sie kann nur dazu führen, die Ergänzung und Vervollständigung der "News-Wellen" auf allen Ebenen anzustreben. Sich hiezu im Rahmen des praktisch und auch prinzipiell Möglichen ebenfalls der Medien zu bedienen, ist dabei ebenso notwendig wie legitim. Hier können, bei aller Eigengesetzlichkeit, Medien ganz konkret "Instrumente" nicht nur der sozialen Kommunikation sondern der Verkündigung selbst sein. Das gilt sowohl für die Nutzung der medientechnischen Möglichkeiten für die "unmittelbare Verkündigung"6 wie für das weite Gebiet der Bereitung eines "geistigen Vorfelds". Die "unmittelbare Verkündigung" mittels des Instruments Medium wäre dann der im christlichen Sinn höchste Grad der Verwirklichung dessen, was der Menschheit von heute mit den "erstaunlichen Erfindungen der Technik" auf diesem Sektor geboten ist: "Inter mirifica" als namengebende Beginnworte des Konzilsdekrets erhält hier eine weitere, durchaus treffende Bedeutung. Bei aller Kritik, auf die dieses Konzilsdekret gestoßen ist - und der dann in "Communio et progressio" weitgehend Rechnung getragen wurde - bleibt die zentrale Feststellung, daß hier "optimistisch im Vertrauen auf die Wirksamkeit der Kommunikationsmittel im Dienst der Verkündigung" vorgegangen wurde. "überraschend optimistisch" sogar, wie es manchen Beobachtern schien7 • Was diese unmittelbare Verkündigung anlangt, hatte und hat die Kirche mit Problemen zu kämpfen, die immanent sein mögen, aber nicht grundsätzlicher Natur sind. "Mediengerecht" kann nur die Art der Präsentation sein - und sie hat es zu sein -, nicht aber eine "Adaptierung" des Inhalts. Die Frage, ob und inwieweit theologisch divergierende Standpunkte in dieser unmittelbaren Verkündigung Platz finden sollen, beschäftigt immer noch die Gemüter Engagierter, obwohl eigentlich der Gedanke an die Pastoral dies als unbestrittene Richtlinie nahelegen müßte, wie beispielsweise in den Beschlüssen des Österreichischen Synodalen Vorgangs von 1974 nachzulesen ist: "Bei der ausdrücklichen Verkündigung in den Massenmedien kommt dem zentralen Inhalt der Botschaft ein klarer Vorrang zu. Die mediengerechte Gestaltung muß darauf abzielen, diesen zentralen Inhalt der Botschaft immer klarer erkennbar zu machen8 ." Deutlicher läßt sich kaum mehr aussagen, daß "offizielle" Verkündigungsbeiträge in den Medien - speziell in den Fernseh- und Hörfunkprogrammen - nicht der Ort für theologische Kontroversen sind. 8 österreichischer Synodaler Vorgang, Dokumente, Kapitel IV: "Kirche und Massenmedien", Wien 1974, S. 128. 7 s. 4, S. 51 f. 8 s. 8, S. 131, Leitsatz 3.7.

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Problematischer sind die "Vorfelder" als Arena solcher Auseinandersetzungen. Dem Öffentlichkeitscharakter und Öffentlichkeitsanspruch der Kirche entspricht zweifellos auch jene Kommunikation, deren Gegenstand Divergenzen der Auffassung sind. Das Ausufern der Kontroversiellen angesichts eines Publikums, bei dem akuter Informationsmangel über das Wesen des Christentums und der Kirche angenommen werden müssen, kann jedoch - auch wenn dies keineswegs beabsichtigt ist - zu Lasten von Glaubensinformation, Gewissensbildung und Kirchlichkeit gehen. Die Auswahl bestimmter Medien - etwa im Rahmen einer innerkirchlichen Öffentlichkeit - kann hier durchaus schwierig werden. Das Dilemma zwischen dem Verdacht, Schwierigkeiten und Differenzen vertuschen zu wollen, und dem Vorwurf, vor allem Fernstehende oder weniger Informierte nur zu verwirren, ohne ihnen Positives zu bieten, bleibt fast zwangsläufig bestehen. Ein anderes Dilemma, das fast noch unlösbarer erscheint, ist die mediengerechte Aufbereitung von Materien, die an sich und in sich kompliziert sind. Der Einwand, die Botschaft Christi sei einfach, für jeden verständlich - wenn auch nicht so einfach nachvollziehbar und es müsse daher genügen, auch in der heutigen Medienwelt auf ihrer Schlichtheit zu basieren, wird immer wieder zu hören sein. Es ist indes immer eine Aufgabe der Kirche gewesen, durch ihr Lehr- und Hirtenamt die Möglichkeiten aufzuzeigen, in der jeweils konkreten menschlichen Situation - der des Einzelnen wie der ganzer Gesellschaften - Wege zur Verwirklichung einer Nachfolge Christi aufzuzeigen. Wo heute Erkenntnisse der modernen Wissenschaft involviert sind, setzt eine rechte moralische Beurteilung auch die Kenntnis der Forschungsergebnisse voraus: Der Schutz des menschlichen Lebens von der allerersten Phase an mag als christlicher Grundsatz einfach und einleuchtend sein - warum daraus ein "Nein" zu jeder Art von "Fristenlösung" zwingend abzuleiten ist, kann nur verstanden werden von Menschen, die wissen, daß das individuelle menschliche Leben tatsächlich mit der Verschmelzung der Zellen beginnt und nicht etwa zu einem von einem staatlichen Gesetz erfaßten späteren Augenblick. Hier, und in vielen anderen Materien gleicherweise, setzt die Verwirklichung nicht nur der christlichen Moral, sondern selbst des Naturrechts heute Sachkenntnisse voraus, deren Vermittlung solcherart zumindest in den Bereich des "Vorfelds der Verkündigung" gehört. Simplifizierungsversuche, auch wenn sie durchaus gut gemeint sind, können nicht nur den Zugang zu moralischen Axiomen erschweren sondern letztlich zu einer Verzerrung der Realitäten, einschließlich der Entstehung eines zumindest teilweise falschen Bildes von der Kirche 15 Festschrift Ross1

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und ihrem Christusdienst, führen. Das erweist sich zum Beispiel mit aller Kraßheit in zwei aktuellen Diskussionsfeldern: einmal im Bereich der Ehemoral, wo weitgehend immer noch die Annahme zu finden ist, die Kirche sei gegen jede Art von verantworteter Elternschaft, zum anderen in der Auseinandersetzung mit Alterzbischof Lefebvre, die für die breite Öffentlichkeit ein bloßer Konflikt um das vermeintlich durch das Konzil "abgeschaffte" Latein ist. Beides ist nachgerade modellhaft für das erwähnte Phänomen des Medienkonsumenten - in "Communio et progressio" als "Rezipient" bezeichnet -, der "overnewsed but underinformed" ist. Diesem Phänomen entgegenzuwirken - das nur zum Teil als durch die Eigengesetzlichkeit der Medien bedingt erklärbar und sohin mehr oder minder zwingend ist - gehört zu jenen Aufgaben, die innerhalb der Kirche der Gegenwart weitestgehend den Laien zugeordnet sind. Die Nutzung der Medien als Instrumente der unmittelbaren Verkündigung dagegen wird in erster Linie vom kirchlichen Lehramt, zumindest unter seiner direkten Verantwortung, zu erfolgen haben. Beiden gegenüber gilt die Reziprozität von Recht auf Information und der Pflicht, sich - richtig - zu informieren, eines Rechtes und einer Pflicht, die für jeden Menschen gelten, im besonderen für den Christen, und noch mehr für den vielzitierten "mündigen Christen" in der Kirche nach dem Zweiten Vaticanum. Dem Recht auf Information seitens des Rezipienten entspricht die Freiheit des Journalisten (in welchem Medium er auch arbeitet), Information zu bieten und seine Meinung dazu zu äußern; der Pflicht, die Information kritisch auszuwerten, wie sie dem Empfänger aufgetragen ist, steht auf seiten dessen, der in den Medien wirkt, die erhöhte Verantwortung und Verantwortlichkeit gegenüber. Der Publizist hat die ihm zuzuerkennende Meinungsfreiheit nicht als Privileg zu verstehen - auch nicht im positiv verstandenen Sinn einer einseitigen Erziehungsaufgabe - sondern als einen Dienst an der echten sozialen Kommunikation. Auch das Informationsrecht ist gegründet "auf einer Freiheit, die im Einklang steht mit der Wohlfahrt jedes einzelnen Volkes und der ganzen Familie der Völker. Stets war die Kirche Schützerin und Verteidigerin dieser Freiheit". So sagte Pius XIJ.9 - die Bedeutung seiner Aussagen zum großen Thema "Kirche und öffentliche Meinung" auszuloten, wäre eine lohnende und historisch sehr notwendige Aufgabe für katholische Publizistikwissenschaftler. Von ihm stammt auch der Begriff des "Dienstes an der öffentlichen Meinung" als eines Auftrages, sowie eine Definition der Aufgaben und auch Grenzen der 8 Ansprache Pius XII. an das Kardinalskollegium, 1. Juni 1946, zitiert aus Utz-Groner, Soziale Summe Pius XII., S. 2126.

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Pressefreiheit: Sie "soll den Menschen vor der Gefahr schützen, von materiellen und eigensüchtigen Interessen versklavt zu werden; sie dient dem zu lobenden Zweck, die Wahrheit darzulegen sowie Recht und Gerechtigkeit zu verteidigen. Eine erste Voraussetzung für solche Freiheit ist zweifellos, Zugang zur Wahrheit zu haben"lO ... ; aber auch: "Wie oft hat die Erfahrung bewiesen, daß auf die Dauer dem Guten nicht durch Verdrehung der Tatsachen gedient ist. Die Welt wird sich nicht aus dem Sumpf unmenschlicher Qual und Ungerechtigkeit ... erheben, solange Argwohn, Mißtrauen und schändlicher Ehrgeiz die Wahrheit vor denen verhüllen, die ein besonderes Anrecht darauf haben, sie zum Nutzen des Gemeinwohls zu erfahren. Und auch die gewöhnlichen Leute haben ihre Rechte auf diesem Gebietl l ." Daraus resultiert die spezielle Verantwortung des katholischen Journalisten und Publizisten, von der auch Paul VI. zu wiederholten Malen gesprochen hat, so zu den Vertretern der Deutschen Medienkommission: "Es ist darum doppelt beklagenswert, wenn Christen verantwortungslos und kritiklos Falschmeldungen übernehmen und verbreiten. Seien Sie überzeugt vom Sieg der Wahrheit, auch wenn ihr Dienst oft große Opfer fordert 12 ." Das Aufzeigen der engen Verklammerung von Pressefreiheit und Verantwortung derer, die in den Medien wirken, hat der Kirche generationenlang den Ruf eingetragen, grundsätzlich gegen die Pressefreiheit aufzutreten. In diesem Zusammenhang wird oft Gregor XVI. zitiert1 3, der von einer "Pressefreiheit, die man nicht genug verwünschen kann" gesprochen hat: Der Angriff richtete sich gegen das, was die extrem liberalistische Auffassung seiner Zeit darunter verstand, nämlich die alles Maß und alle Schranken überschreitende, in höchstem Maße individualistische Freiheit ohne jeden Bezug auf das Gemeinwohl, eine geistige Anarchie, von der Leo XIII. in der Enzyklika "Libertas" aussagt : "Die Zügellosigkeit wird dabei gerade soviel gewinnen, als die Freiheit selbst Schaden leiden muß." Aus heutiger Sicht kann daher Hans Wagner 14 feststellen, der Kampf der Kirche "gegen eine subjektivistisch verstandene und mißbrauchte Pressefreiheit ist als ihre großartigste Leistung in der neueren Kommunikationsge10 Ansprache Pius XII. vor dem Kongreß der "Allgemeinen Bewegung für eine Weltföderation", 6. April 1951, zitiert nach Utz-Groner, S. 2060. 11 Ansprache Pius XII. vor Verlegern und Journalisten aus den USA, 11. Juli 1946, zitiert nach Utz-Groner, S. 1058. 12 Ansprache Pauls VI, an die Vertreter der deutschen Medienkommission, Jänner 1974, zitiert nach "Österr. Synodaler Vorgang" ergänzender Hinweis der österreichischen Bischofskonferenz, zu Leitsatz 4.2.1, S. 135. 13 Communio et progressio, Kommentar von Hans Wagner, S. 91. 14 s. 13, S. 90.

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schichte zu würdigen". Und er bestätigt, daß es dann Pius XII. war, der "die relative Eigengesetzlichkeit der Einzelwirkungen" begreift und diese Einsicht verbindet "mit der Besinnung auf die spezifische Verantwortung der Kirche, die sie für die Gemeinschaft aller Menschen hat". In diese spezifische Verantwortung der Kirche fällt angesichts der Massenmedien von heute auch die Aufgabe, "die Rezipienten (Leser, Hörer, Zuschauer) so anzuleiten, daß sie alles, was ihnen durch die Medien geboten wird, richtig deuten, daraus möglichst großen Gewinn ziehen und so schließlich an ihrem Platz das Leben der Gesellschaft aktiv mitgestalten. Nur dann entfalten die Kommunikationsmittel ihre volle Wirksamkeit"15. Die Bildung der Rezipienten - sowohl als Medienpädagogik im schulischen Bereich wie im Rahmen der Erwachsenenbildung und in den Programmen einer education permanente - ist demgemäß auch Anliegen des Päpstlichen Laienrates, den Paul VI. mit dem Motu proprio "Apostulatus peragendi" vom 10. Dezember 1976 eingesetzt hat. Das Thema "Bildung der Laien" ist eines der zentralen Anliegen dieses jungen Dicasteriums, dessen Präsident Opilio Kardinal Rossi seine Vordringlichkeit zu wiederholten Malen betont hat. "Die Bedeutung und Notwendigkeit dieser Bildung", sagte er in seiner Ansprache an die Mitglieder zur Eröffnung der zweiten Vollversammlung des Päpstlichen Laienrats am 28. September 1978 16, "ist schon vom Zweiten Vatikanischen Konzil hervorgehoben worden. Es wäre gut, jenes Kapitel von ,Apostolicam Actuositatem' immer wieder zu lesen und neu zu überdenken, das die Prinzipien dieser Bildung genau umreißt". Die zweite Vollversammlung des Laienrates hat danach in einem eigenen Arbeitskreis - den zu präsidieren die Verfasserin die Auszeichnung hatte - den Versuch einer Analyse des weiten Problemfelds unternommen und eine Reihe von Empfehlungen verabschiedet. Derselbe Arbeitskreis war übrigens beauftragt - und das ist keineswegs ein zufälliges Zusammentreffen -, die Möglichkeiten christlicher Bildung im Rahmen von katholischen Massenveranstaltungen zu erörtern. Der Begriff "Masse" als bindendes Glied zwischen zwei Komplexen, deren Extreme so weit auseinanderliegen wie eine Großwallfahrt und eine weltliche Zeitung mit Millionenauflage, ist hier freilich nicht linear aus der schon klassischen Definition der "Masse" im Sinne Gustave Le Bons 17 zu verstehen. Der Konnex zwischen Wallfahrt und Massenmedien ist indes in der frühen Mediengeschichte Europas 15 16

17

Pastoralinstruktion "Communio et progressio", Erster Teil, Nr. 17. Pontificium Consilium pro Laicis, Dokumentation AP/II/38-1978. Gustave Le Bon, Psychologie des foules, Paris 1895.

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äußerst eng: Noch vor der Erfindung des Buchdrucks sind als Vorläufer der Einblattdrucke Holzschnittblätter in für die damalige Zeit exorbitanten Auflagen verfertigt worden, deren "Mitteilung" in Informationen über bestimmte Heilige und deren "Meinungselement" im Ansporn zu christlichem Lebenswandel bestand. Diese Holzschnitte mit Bild und Schrift gehörten keineswegs in den Bereich der Kunst: "An bestimmten Orten, wie in Wallfahrtskirchen, wurden diese kunstlosen Erzeugnisse eifrig begehrt", schreibt einer der Altmeister der Zeitungswissenschaft, Karl Schottenloher18 • Nach der Erfindung des Typendrucks nahmen Blätter frommen Inhalts, vor allem aber Ablaßbriefe, den breitesten Raum ein. Freilich wäre ohne die Resonanz der durch den Buchdruck möglich gewordenen Publizität wahrscheinlich auch die Reformation kaum in der Lage gewesen, ihr Gedankengut so schnell und so weithin zu verbreiten. Dennoch wird man sich vor Augen halten müssen, daß der Großteil jenes Publikums, das die öffentliche Meinung bildete wiewohl geführt von der Oberschicht - des Lesens nicht kundig war, das gedruckte Wort also der weiteren Vervielfältigung seines Inhalts durch die mündliche Weitergabe bedurfte. Hier zeigt sich eine erstaunliche Parallele zur medienüberfluteten Szenerie von heute und zu den medienpädagogischen Vorstellungen in ihr: Die Anregung des Gesprächs, der Diskussion über die Inhalte der Medien ist integrierender Bestandteil jeder Schulung und Bildung der Rezipienten. Das gilt im besonderen Maß für den Gebrauch der Medien durch Kinder und Jugendliche, betrifft also in speziellem Maß die Familie. Tatsächlich gibt es im katholischen wie im außerkatholischen Raum eine Fülle von Publikationen und Behelfen, die der Bewältigung der Problematik "Kind und Medien" oder "Medien und Familie" gewidmet sind. "Die Instrumente der sozialen Kommunikation erhalten auf dem Gebiet der menschlichen Erziehung immer umfangreichere und größere Aufgaben", sie geben "Jugendlichen wie Erwachsenen Gelegenheit zur Weiterbildung", heißt es in "Communio et progressio", deren Autoren sich freilich der medienimmanenten Gefahren, gerade auch für den heranwachsenden und jungen Menschen, durchaus bewußt sind: Wie die Kommunikationsmittel "die Kultur bereichern können, begünstigen sie deren Verarmung, wenn sie sich häufig dem niedrigsten Niveau der Rezipienten anpassen". Man kann demnach "nicht früh genug damit beginnen bei "der Jugend kritisches Verständnis, guten Geschmack und persönliche sittliche Verantwortung bei der Auswahl" aus dem breiten Angebot der Medien zu "bilden und zu schärfen", wobei Eltern und Erzieher die Hauptlast der Verantwortung tragen, zumal es manchmal geboten ist, daß sie sich "bei dieser Auswahl das letzte Wort vorbehalten". 18

Kar! Schottenloher, Flugblatt und Zeitung, Berlin 1922, S. 21 ff.

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Im Bereich der Familie bedeutet dies die Einsicht, wie notwendig und nützlich es ist, "wenn Eltern und Erzieher sich persönlich für Sendungen, Filme, Bücher und Zeitschriften interessieren, die Jugendlichen gefallen. Sie können dann mit ihnen darüber sprechen und dabei ihren kritischen Geist zu formen suchen". Aber auch "bei der Begegnung mit problematischen oder bedenklichen Produkten .. . sollen die Eltern ihren Kindern rechtzeitig behilflich sein und sie gleichsam an die Hand nehmen, damit sie lernen, darin die menschlichen Werte aufzuspüren ... und die Einzelheiten in den Zusammenhang einzufügen". Um dieser Aufgabe gerecht werden zu können, müssen Eltern und Erzieher selbst ihr Wissen über die Kommunikationsmittel, ihre Funktion und Wirkungsweise stets erweitern. Viele Eltern "sind dann noch besonders besorgt, wenn sie sehen, wie die Kommunikationsmittel schonungslos jede Frage und jedes Problem aus den Lebensbereichen des Staates und der Kirche diskutieren", setzt "Communio et progressio" fort, vertraut aber in hohem Maß darauf, daß die heranwachsende Generation, von klein auf vertraut mit den Medien, sich "von vornherein besser einstellen und gegen die vielfachen Belastungen rüsten" kann. Die Kirche selbst sieht hier die "dringliche Notwendigkeit, daß sie . selbst den Rezipienten eine Medienpädagogik anbietet, die vom christlichen Geist getragen ist". Gleichzeitig ist sie sich der Verpflichtung bewußt, den Kommunikatoren jene geistige und geistliche Hilfe anzubieten, "die ihrem ernsten und schweren Beruf entspricht" und auf die katholische Kommunikatoren sogar ein Anrecht haben. "Die journalistische Tätigkeit von Katholiken ... kann ein wichtiger Faktor in der Bildung der öffentlichen Meinung sein und mit Erfolg dazu beitragen, daß im Austausch der Gedanken die Welt die Kirche und die Kirche die Welt verstehen lernt." Katholische Journalisten werden, das postuliert die Pastoralinstruktion sehr deutlich, "wenn Tagesereignisse Fragen aufwerfen, die das Wesen des christlichen Glaubens berühren ... sie im Sinne des kirchlichen Lehramts interpretieren". Dieses Postulat trifft - wie die Realität deutlich zeigt - freilich in ein Spannungsfeld, das vergleichbar ist mit dem, das in verschiedenster Form immer wieder zwischen Universitätstheologen und kirchlichem Lehramt festzustellen ist. Der Ansatz der Problematik ist in der Pastoralinstruktion selbst enthalten, in der sich in kurzem Abstand hintereinander die Sätze finden: "Die Katholiken müssen sich völlig dessen bewußt sein, daß sie wirklich die Freiheit der Meinungsäußerung besitzen" und "Die verantwortlichen kirchlichen Obrigkeiten werden dafür sorgen, daß sich innerhalb der Kirche auf der Basis der Meinungs- und Redefreiheit der Austausch legitimer Ansichten lebendig entfaltet"19. Solches setzt voraus, daß bei allen katholischen Journa-

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listen zumindest hinsichtlich dessen, was "legitime Ansichten" sind und wo diese Grenze überschritten wird, ein gesichertes Maß an "sentire cum ecclesia" besteht, das sich in freiwilliger Beschränkung der journalistischen Freiheit manifestiert. Es setzt damit gleicherweise voraus, daß auch der katholische Journalist, der sich als Kommunikator im Sinne von "Communio et progressio" versteht, die soziale Kommunikation nicht "verkürzt auf einen Vorgang zwischen Kommunikator und Rezipient"20 bezieht. Sofern er sich selbst versteht als "Anwalt des Gesprächs der Gesellschaft"2t, wird er - weit über die Gewissensbindung des Katholiken an das kirchliche Lehramt hinaus - zur Kenntnis genommen haben, daß "eine Kommunikationsfreiheit, die ohne Rücksicht auf die wesenseigenen Grenzen und Voraussetzungen des Informationsrechtes gebraucht wird", eher die Kommunikatoren als das Publikum befriedigt, somit also die ureigenste Aufgabe verfeh1t2 2. Andererseits ist es ein Faktum, daß ein großer Teil der Informationen, die der Welt über die Kirche und damit letztlich über den Glauben übermittelt werden, von Kommunikatoren verbreitet werden, die sich nicht als Glieder dieser Kirche verstehen. Wo bei ihnen, unbeschadet ihrer Weltanschauung, ein fundamentales Berufsethos gegeben ist, hat das Wort J ohannes Pauls 11. Geltung, der vor Journalisten am Ende seiner Polenreise die Gemeinsamkeit des Dienstes an der Wahrheit als ein Verbindendes zwischen Kirche und Medienvertretern hervorhob 23 in genau dem Sinne, in dem Paul VI. schon 1968 betont hatte, "wieviel die Kirche der ,Informationspresse' verdankt"24. Das bedeutet nun keineswegs, daß etwa irgendeine Art direkter Verkündigung durch Kommunikatoren erfolgen kann, denen das Fundament des eigenen Glaubens fehlt; es bestätigt aber die Grundthese, daß richtig verstandene Kommunikation und der Dienst an ihr als echter Dienst am Menschen in Einklang stehen mit bestimmten Aspekten des Auftrags der Kirche. Die Zielvorstellung indes bleibt eindeutig: Daß die Werkzeuge der sozialen Kommunikation der Beseelung durch den Geist des Christentums bedürfen, um den Anliegen der Menschheit und dem Heilsplan Gottes zu entsprechen. Communio et progressio, Dritter Teil, Kapitel 3, Nr. 141. Hans Wagner, Kommentar zu Communio et progressio, S. 35 f. 21 Ebenda, S. 37. 22 Ebenda, S. 35. 23 Johannes Paul 1I., Ansprache im Erzbischöflichen Palais in Krakau, 10. Juni 1979, zitiert aus Notizen der Verfasserin. 24 Ansprache Pauls VI. vor dem Rat der Katholischen Internationalen Union der Presse, November 1968, zitiert aus Hans Wagner, Kommentar zu Communio et progressio, S. 58. 19

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KIRCHLICHE FINANZFÖRDERUNG IM DIENSTE DES APOSTOLATS Von Robert Prantner

I. Apostolat an Einzelmensch und Familie Fundament und Erscheinungsformen

1. Das Apostolat des Gottesvolkes -

geistige und materielle Faktoren

Der Auftrag des Herrn zur Verkündigung seiner Frohbotschaft an den Einzelmenschen wie an die kleinste gesellschaftliche Formation, die Familie, erging zunächst an die Apostel und dann an deren Nachfolger im Bischofsamt. Er richtet sich aber auch an jeden getauften Christen, der sich zur Einheit mit dem Träger des Petrusamtes in Glaube, Hoffnung und Liebe bekennt. Apostolat erscheint solcherart als Auftrag an al'le Arbeiter im Weinberg des Herrn: in jeglichem Lebensbereich das Wort Jesu durch das Zeugnis der persönlichen Lebensführung wie durch ausgesprochene Teilnahme an der Verkündigung zu verbreiten. Denn Apostolat ist im eigentlichen Sinne Evangelisation. Der Getaufte, Glied am Geheimnisvollen Leibe Christi, der Kirche, ist im naturrechtlichen Sinn "Person". Er konstituiert sich aus Leib und Seele, ausgestattet mit Vernunft und freiem Willen, wie aus einer doppelt angelegten Natur: er ist Unteilbares, Unverwechselbares, Unwiederholbares, er ist Individuum; aber lebt aus der ganzen Anlage seiner Existenz in gesellschaftlicher Dimension, in Bezogenheit auf die Gemeinschaft. Die "Sozialnatur" ist ein wesenhafter Bestandteil des Menschseins. So adressiert sich das Wort des Apostolates an Menschenwesen, die auf einer sehr irdischen und erdbezogenen Pilgerschaft den Lauf des Menschenlebens im Verband des Gottesvolkes durchmessen, erdverbunden, erdenschwer, belastet, aber auch unterstützt durch die subsidiären Instrumentarien, die der menschlichen Sozietät zu eigen sind. So bedürfen etwa die zentralen Feiern gnadenhaften Lebensvo'llzuges, die heilige Eucharistie, die Spendung der Sakramente, des geweihten Raumes, des Bauwerks, die Verkündigung der Offenbarung geeigneter Lehrstätten, Schulen, Institute und Domizilien, die Liebestat am Nächsten

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sozialer Werke wie Krankenhäuser, sozialer Dispensarien, der Heimstätten, Asyle und Ambulanzen. Apostolische Arbeit ist stets (zweitrangig, subsidiär) auch mit materiellen, nahezu unabdingbaren Faktoren materieller Natur verbunden. 2. Die Struktur des Gottesvolkes in den Gliederungen regionaler Kirchen

Die kirchlichen Verwaltungsbezirke, innerhalb deren Grenzen Nachfolger der Apostel im Bischofsamt ihre Hirtenpflicht erfüllen, wie auch die Kommunitäten der Orden und Kongregationen exempten oder nichtexempten Rechtes, soweit sie der römisch-katholischen Kirche zugehören, bedürfen im weitesten Umfang materieller Mittel, um ihren Sendungs auftrag in einer der zeitgemäßen Gesellschaft kohärenten Art und Weise erfüllen zu können. Diözesane Institute wie solche der Religiosen, aber auch geistlich-säkularer Gemeinschaften verbleiben allemal auf gemeinschaftsbergende Stätten des Wohnens und Wirkens angewiesen. Weltpriester, katholische Organisationen, Ordensleute wie Angehörige der Kongregationen, Genossenschaften ohne Gelübde und Säkularinstitute bedürfen der geistlichen Häuser und Bauwerke, die erst die Grundlage für ihr pastorales und soziales Wirken in die Gesellschaft hinein befestigen. Deren assistentielle Sorge um das Wohl des Einzelmenschen wie der Familien, aber auch der größeren gesellschaftlichen Verbände, bedarf einer angemessenen Versorgung und Ordnungsstruktur der finanziellen Ressourcen, die eine Ausfaltung der seelsorglichen und sozialkaritativen Arbeit aus dem Stadium des Experimentierens entheben und auf eine brauchbare, verläßliche und verantwortungsvolle Grundlage rücken.

3. Das Interesse der diplomatischen Vertretungsbehörden des Heiligen Stuhles am finanziellen Instrumentarium der Teilkirchen Den Apostolischen Nuntien, Pro-Nuntien, Internuntien, den Geschäftsträgern des Heiligen Stuhles, aber auch den Apostolischen Delegaten und Visitatoren ist es aufgetragen, im Sinne der einschlägigen Normen des kirchlichen Rechtes, sei es im Codex iuris canonici niedergelegt, sei es supplementären Charakters, ein waches Auge auch auf das Wohl und Gedeihen der Ortskirchen im materiellen Bereiche zu wenden. Sie sind vor allem am Rahmen der finanzie'llen Dispositionsmöglichkeiten der Diözesen und regulierten unabhängigen Ordensgemeinschaften interessiert, insoferne damit der universale Auftrag an den Nachfolger des hl. Petrus, das Reich Gottes bis an die Grenzen der Erde zu tragen, in Frage gestellt werden könnte.

Kirchliche Finanzförderung im Dienste des Apostolats

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II. überlegungen zum materiellen Bereich des christlichen Apostolats in Österreich Weihbischof Helmut Krätzl (Erzdiözese Wien) kennzeichnet in seiner umfassenden kirchenrechtlichen Untersuchung über die kirchliche Aufbauanleihe in Österreich! die neuen Aufgaben, denen das Gottesvolk in der Republik der Alpen- und Donauländer nach Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 gegenübergestanden war. Zum großen Nachholbedarf waren plötzlich für die Kirche der Zweiten Republik neue Aufgaben in seelsorglicher, wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht hinzugetreten. Diesen konnte die Kirche nur dann gerecht werden, wenn sie sich ihrer ohne Verzögerung schon in allernächster Zeit widmete. Im einzelnen apostrophiert der Autor: 1. Die große Siedlungstätigkeit bzw. Industrialisierung und der dadurch entstandene Bedarf an neuen Kirchen

Die nach dem Krieg einsetzende große Siedlungstätigkeit wurde durch öffentliche Fonds gestützt und durch gemeinsame Städteplanung gelenkt. Geeignete Kirchenbauplätze wurden oftmals nur unter der Bedingung zugestanden, daß innerhalb von drei Jahren der neue Kirchenbau aufgeführt werde (vgl. Wiener Diözesanblatt 1956, S. 89 und Protokoll der österr. Bischofskonferenz vom 18. u. 19. Nov. 1953, Pkt. 4). Durch die nämliche Neuformierung des Bauens und Wohnens wie durch die Errichtung industrieller Fertigungsstätten wurden Vororte und Dörfer zu Märkten und Städten, für die die vorhandenen Gotteshäuser einfach zu klein waren, wie etwa in der Erzdiözese Wien St. Florian, Wien V., Groß-Jedlersdorf, Strebersdorf, Deutsch-Wagram, Gänserndorf, Liesing, Rodaun beweisen. Allzu große Pfarren mußten geteilt werden. Selbst aus der Kaiserzeit stammende Barackenkirchen waren endlich durch würdige Gotteshäuser zu ersetzen. 2. Die allgemeine Umstellung in wirtschaftlicher Hinsicht und die dadurch notwendige Modernisierung von Schulen, Spitälern und wirtschaftlichen Betrieben kirchlicher Institutionen

Davon waren besonders jene Stifte und Ordensgemeinschaften betroffen, die Schulen, Internate, Heime, Spitäler oder auch landwirtschaftliche Betriebe unterhielten. Es bestand die Gefahr, den oftmals großzügigen Neubauten der öffentlichen Hand nachzustehen. Die wirtschaftlichen Betriebe waren zu rationalisieren, technologisch zu adaptieren, um überhaupt rentabel und konkurrenzfähig sein zu können. 1 Helmut Krätzl, Die kirchliche Aufbauanleihe in Österreich, in der Reihe "Wiener Beiträge zur Theologie", Verlag Herder Wien, 1965, p. 33 ss.

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Dazu kam ein Problem, das die Mitarbeiter der Bischöfe in besonderer Weise berührte: Der Lebensstandard war in allen Kreisen der Bevölkerung gestiegen und damit die Wohnkultur. Hingegen waren Pfarrhöfe, besonders auf dem Lande, baufällig und ihre sanitären und hygienischen Anlagen längst veraltert. Nicht selten zählte der Pfarrhof in dieser Nachkriegsepoche wirtschaftlichen Aufschwungs zu den schlechtest eingerichteten Häusern des Ortes. 3. Die soziale Aufgabe der Kirche

im Hinblick auf die große Wohnungsnot

War die Lösung des ungeheuer anwachsenden quantitativen und qualitativen Wohnungsproblems auch Sache der öffentlichen Hand, so hätte die Kirche doch für den Siedlungs- und Wohnbau viel tun können, indem sie den "kleinen" Leuten die notwendigen Mittel für den Grundkauf oder die 10 Prozent der Eigenaufbringung, die für den öffentlichen Baufonds unerläßliche Voraussetzungen sind, in Form von niedrig verzinslichen oder gar zinsenfreien Darlehen vorstrecken hätte können (vgl. dazu Wiener Diözesanblatt 1956, S. 89 und Protokoll d. österr. Bischofskonferenz vom 18. u. 19. Nov. 1953, Pkt. 4). Zusätzlich wurde auch ein eigenes Wohnungs- und Siedlungsbauprogramm ins Auge gefaßt, was sich in der Gründung einer Reihe von katholischen Siedlungs- und Baugenossenschaften spiegelt, die aber meist stark an Kapitalmangellitten. Bei der Vergebung von öffentlichen Fondsmitteln mußten diese Genossenschaften aus politischen Gründen oft zurückstehen, so daß die Kirche durch eine Darlehensgewährung ihrerseits deren Bautätigkeit sehr unterstützen und dabei eine wirklich soziale Tat setzen hätte können. Die genannten Erfordernisse, die durch Notstandscharakter gekennzeichnet waren, führten zu überlegungen des österreichischen römischkatholischen Episkopats über ein außerordentliches Finanzierungsprojekt dieser vordringlichen Bauvorhaben, die Seelsorge- und Apostolatsarbeiten im zeitentsprechenden Sinne überhaupt erst fundamentieren sollten. TII. Die finanzielle Instrumentalisierung des kirchlichen Apostolats in Österreich 1. Die Ursachen, die zu einem außerordentlichen Baubedarf der kirchlichen Institutionen ,in Österreich geführt haben Wie Helmut Krätzl ausführt, war es zur außerordentlichen Notsituation der Kirche auf dem Bausektor durch jahrzehntelange Versäumnisse gekommen2 • Dies gilt besonders für die Zwischenkriegszeit, aber 2

Krätzl, p. 29 ss.

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auch durch die Folgen der Okkupation der Republik Österreich im Jahre 1938, die Schäden des darauf folgenden Zweiten Weltkriegs und durch eine Reihe neuer Aufgaben, die der Kirche in der Zweiten Republik nach 1945 gestellt worden waren. Vor allem erbrachte der gewaltsame Anschluß Österreichs im Jahre 1938 an das Großdeutsche Reich für die Kirche eine völlige Neugestaltung ihres Finanzwesens, wozu neuerlich Säkularisierungen, kirchenfeindliche Steuergesetze und Kriegsschäden, sei es durch Einwirkungen aus der Luft, sei es durch Bodenkämpfe in der Endphase der Befreiung Österreichs vom nationalsozialistischen Joch gekommen war. Im einzelnen sind aufzuzählen: a) Die völlige Neuordnung des kirchlichen Finanzwesens durch Einführung der Kirchenbeiträge3 Durch dieses "Kirchenbeitragsgesetz" wurde die römisch-katholische Kirche in Österreich berechtigt, nach eigens zu erstellenden Kirchenbeitragsordnungen Kirchenbeiträge zur Deckung des kirchlichen Sachund Personalaufwands einzuheben. Gleichzeitig wurden aber alle Verpflichtungen des Staates aufgehoben, die er etwa auf Grund des Religionsfonds, der öffentlichen Patronate, ferner aus der Kongruagesetzgebung oder aus den Baulastnormalien heraus hatte. Aufgehoben wurden auch alle pflichtmäßigen Leistungen der politischen Gemeinden, Grundeigentümer und Einzelpersonen, soweit diese Leistungen öffentlich-rechtlicher Natur waren und nicht auf einem Privatpatronat oder Privatrechtstitel beruhten. Der Staat behielt wohl weiter die Güterrnassen der Kirche, fühlte sich aber an keine Verpflichtungen mehr gebunden. b) Die kirchenfeindliche Steuergesetzgebung Nach der Okkupation Österreichs 1938 wurden zum größten Teil die deutschen Steuergesetze dortselbst eingeführt. So wurde z. B. die steuerliche Abzugsfähigkeit von Spenden für kirchliche, karitative und mildtätige Zwecke beseitigt, wodurch der Spenderwille umgestaltet wurde. c) Die Säkularisierungen nach 1938 Neben der Beschlagnahme des Vermögens der jüdischen Staatsbürger kam es auch in Österreich zu vielen Übergriffen auf das Besitztum der katholischen Kirche. Rund 200 Klöster, Stifte und Ordenshäuser wurden beschlagnahmt, weiters mehr als 1000 Schulen, Kinder3 Gesetz über die Einhebung von Kirchenbeiträgen im Lande österreich, Gesetzblatt für das Land Österreich, Nr. 543 aus 1939.

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gärten, Knaben- und Priesterseminare, aUe kirchlichen Vereine und Stiftungen aufgelöst, deren gesamtes Vermögen eingezogen. Dazu kam noch die erwähnte Überführung aller noch existierenden Religionsfondsgüter in den Besitz des Großdeutschen Reiches. d) Die Kriegsschäden und die Zerstörungen durch die anschließende Besetzung bis zum Jahre 1955 Vor allem ist dabei die Beschlagnahmung kirchlicher Gebäude für militärische Einheiten, als Flüchtlingsheime, Kindererholungsheime und Büroräume zu erwähnen. Durch diese zweckentfremdete Benutzung 'litten die Baulichkeiten in der Regel sehr und hatten bei ihrer Rückstellung nach Beendigung des Krieges an Wert verloren. 2. Vberlegungen und Versuche tür einen groß'angelegten Finanzierungsplan

Wie Bischof Helmut Krätzl festhält' gingen das Studium des gesamten Fragenkomplexes und die ersten konkreten Versuche diesbezüglich auf das Jahr 1950 zurück, an denen Erzbischof Dr. Franz Jachym als Koadjutor des Kardinal-Erzbischofs von Wien und Sekretär der österreichischen Bischofskonferenz, sowie Kommerzialrat K'lein, der damalige Leiter des Steuerreferates der österreichischen Bischofskonferenz maßgeblich beteiligt waren. In Erwägung gezogen wurden Aussichten auf eine Wiedergutmachung seitens des Staates, Möglichkeiten, die das kirchliche Recht für finanzielle Notlagen vorsieht, sowie ein neuer Weg, nämlich die gemeinsame Geldaufnahme auf dem österreichischen Kapitalmarkt. Hatten sich die einzelnen Institute der Diözesen und Ordensgemeinschaften, die Bauvorhaben initüerten, bisher einzeln an verschiedene Geldinstitute um Kredit gewandt, so waren dabei die Bedingungen bei dessen Gewährung sehr unterschiedlich, meist aber äußerst ungünstig. Für langfristige Kredite mußte man mit einer etwa 100f0igen Verzinsung rechnen. So entstand jener bedeutsame neue Plan, nach welchem alle kirchlichen Rechtsträger, die über Vermögen verfügen, sich zusammentun sollten und unter Belastung ihres eigenen Vermögens "gemeinsam" auf dem Kapitalmarkt Kredite in einer solchen Höhe aufzunehmen hätten, wie es die dringendsten Bauprojekte eben gerade erforderten. Auf diese Weise könnte die Belastung aufgeteilt werden, der finanziell stärkere Rechtsträger könnte auch für den schwächeren bürgen: man meinte, durch ein solch gemeinsames Vorgehen den für die Kirche wirtschaftlich gesehen vorteilhaftesten Weg gefunden zu 4

Krätzl, p. 36

SS.

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haben. Erzbischof Franz Jachym stellte den gesamten Fragenkomplex in seiner Eigenschaft als Sekretär der österreichischen Bischofskonferenz in deren Herbstkonferenz vom 18. und 19. November 1953 erstmals zur Diskussion. In seinem Referat5 führte er aus, daß man den Erfordernissen am besten durch eine Kapitalaufnahme begegnen könnte in Form eines langfristigen Kredites mit verhältnismäßig niedrigem Zinsendienst. Die Last würde sich damit auf 20 Jahre verteilen und die notwendigsten Bauten und Reparaturen könnten sehr bald begonnen werden. Versuche dazu im Ausland, die in der Folge als Sondierung erfolgten, wurden eingestellt. Schon im Jahre 1954 schien es wahrscheinlich, daß sich der inländische Kapitalmarkt innerhalb eines Kalenderjahres dem geplanten Vorhaben gegenüber günstiger gestalten werde 6 • Als mögliche Formen der Kreditaufnahme wurden eine "Volksan'leihe"7, ein "offener Kredit", ein "Gemeinschaftsdarlehen", die Ausgabe von "Pfandbriefen" und schließlich die Emission einer "Anleihe", nämlich die Ausgabe von auf Inhaber lautenden Teilschuldverschreibungen in Erwägung gezogen. In einem Memorandum, das den österreichischen Bischöfen im Frühjahr 1955 und ebenso der Äbtekonferenz vorgelegt wurde, waren die Gründe zusammengefaßt, warum man sich für eine Anleihe entschieden hattes: "Geldmarktpolitisch, juristisch und finanztechnisch dürfte dieser Weg am besten geeignet sein. Da er den direkten Zutritt zum Publikum eröffnet, gibt er die Möglichkeit, die nötige Langfristigkeit für den Gesamtkredit zu erreichen. Die Verzinsung wird der heutigen Marktlage entsprechen können, also an den sonstigen Kreditkosten gemessen, nicht ungünstig sein. Die Verantwortung für die Verwendung der Anleiheeinflüsse ist allein Sache einer ad hoc zu bildenden Gesellschaft und die Verwaltung kann daher auch von dieser nach ihrem Ermessen, somit relativ einfach gestaltet werden. Die Rückzahlungsmodalitäten sind von voraus bestimmter Regelmäßigkeit, was den Bedürfnissen des vorliegenden Zweckes entspricht. Der Zugang zum Kapita'lmarkt kann über jede Art von Kreditinstitut genommen werden, kann also ohne Beschränkung rein nach Zweckmäßigkeit und Billigkeit gewählt werden. Die Begebung kann in Tranchen erfolgen, also in solchen Paketen, wie sie dem - natürlich vorher zu sichtenden - Anfall von Kreditfällen & Protokoll der österreichischen Bischofskonferenz v. 18. u. 19. 11. 1953, Pkt.4. 6 Krätzl, p. 41 s. 7 cfr. Franz Jachym zu Pkt. 31 der österreichischen Bischofskonferenz 5. und 6. 10. 1954. 8 Memorandum "Projekt einer kirchlichen Anleihe", cfr. auch Motivenbericht.

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entspricht. An der Aufnahme der Anleihe durch den Kapitalmarkt ist unter den heutigen Umständen kaum zu zweifeln." Ein wichtiger Punkt war die Frage der Sicherstellung. Man hatte nämlich erreicht, daß die Banken nicht auf einer hypothekarischen Sicherstellung bestanden, sondern sich mit einer Haftungs- und Bürgschaftserklärung der einzelnen kirchlichen Rechtsträger, welche Realbesitz ihr eigen nennen, begnügten. Als Bürgschaft sollte ein Zwei- oder Dreifaches der Anleihesumme aufgebracht werden. Für diese Summe müßten aUe in Frage kommenden kirchlichen Institutionen solidarisch haften, der einzelne jedoch nur bis zu einem bestimmten Betrag. 3. Die konkreten Vorbereitungen für das Anleiheprojekt und die nötigen Genehmigungen Im kirchlichen Raum war zunächst Einigung zu erzielen im Rahmen der Bischofskonferenz, aber auch zwischen Welt- und Ordensklerus über die Beteiligung an der zu gründenden Aktiengesellschaft und über die übernahme der erforderlichen Haftung. Ferner schien die Genehmigung des Heiligen Stuhles notwendig: dies schon wegen der Höhe der angestrebten Anleihe, aber auch deswegen, damit die einzelnen kirchlichen Vermögensrechtsträger die solidarische Haftung übernehmen dürften. Und dies selbst dann, wenn sie im Einzelfall von der Anleihe direkten Vorteil haben werden, oder zumindest nicht in der Höhe der geleisteten Garantie. In drei Bischofskonferenzen hatte man sich 1955 mit dem Projekt der Aufbauanleihe befaßt, die Statuten der zu gründenden Aktiengesellschaft sowie die Geschäftsordnung für deren Vorstand lag der Konferenz bereits in einem Entwurf vor. In einer außerordentlichen Bischofskonferenz am 1. Juli 1955 wurden a:lle inzwischen unternommenen Schritte gebilligt. Von der Apostolischen Nuntiatur in Wien hatte man erfahren, daß das Vorhaben seitens des Heiligen Stuhles genehmigt worden sei, daß aber noch nähere Instruktionen abzuwarten seien. Mit Datum vom 17. Juni 1955 adressierte der Erzbischof von Wien Dr. Theodor Kardinal Innitzer als Vorsitzender der österreichischen Bischofskonferenz an Papst Pius XII. ein Schreiben, in dem er namens des gesamten österreichischen Episkopates um Genehmigung der Finanzoperation ersuchteu. Die Apostolische Nuntiatur in Wien leitete am 24. Juni 1955 dieses Schreiben an das Staatssekretariat Seiner Heiligkeit weiter. In der Eingabe wurde allgemein ersucht, "gemäß den beigeschlossenen Ausführungen 'langfristige Darlehen gegen mäßigen Zinsendienst aufnehmen zu können". Dem Ansuchen war ein Allegaturn in • Krätzl, p . 50

S8.

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deutscher und italienischer Sprache beigeschlossen, der sogenannte "Motivenbericht", der 4 Abschnitt umfaßte. Im 1. Abschnitt wurden die Gründe dargelegt, wieso es zu einem so großen Kreditbedarf gekommen war. Der 2. Abschnitt gab eine Übersicht über die verschiedenen Versuche einer Kreditbeschaffung im Ausland. Der 3. Abschnitt brachte die verschiedenen Möglichkeiten auf dem inländischen Kapitalmarkt zur Sprache und präsentierte schließlich eine kurze Beschreibung der geplanten Anleiheemission. Ausführlich wurde auch die Form der Bürgschaft der einzelnen kirchlichen Institute beschrieben sowie auf die Mitarbeit der alten Mönchs- und Chorherrenorden hingewiesen. Schließlich detaillierte der 4. Abschnitt die ersten Schritte zur Durchführung des Anliegens, wie etwa die Statuten der Aktiengesellschaft und deren Geschäftsordnung für Vorstand und Kuratorium, die in einer eigenen Beilage angeschlossen wurden. Als Spezialität wurde auf das Kuratorium als ständiges Organ der Aktiengesellschaft verwiesen, dessen Aufgabe es sein sollte, mit Zweidrittelmehrheit definitiv über die Gewährung von Krediten zu befinden. In einer weiteren Beilage wurde die Auf teilung der Aktien des Stammkapitals, bzw. der Bürgschaften zwischen Säkular- und Regularklerus gegeben. Im Schlußteil wurde wörtlich formuliert: "Die weiteren Schritte hängen von der Apostolischen Bewilligung ab. Diese ist nicht nur wegen der Höhe der Anleihe erforderlich (vg1. c. 1532 und c. 534 CIC), sondern müßte eben auch die Erlaubnis geben, daß die einzelnen kirchlichen Rechtsträger und Eigentümer diese solidarische Haftung übernehmen dürfen, auch wenn die Anleihe ihnen selbst nicht unmittelbar oder in der ganzen Höhe dient (vg1. c. 1409 eIC). Das kirchliche Vermögen scheint erst auf diese Weise im Sinne der modernen Geldwirtschaft wirklich genützt werden zu können, während es sonst brach liegt und zugleich durch die Folgen der beiden Weltkriege doch sehr empfindlich geschädigt wurde und der Unterstützung bedarf. Namens der österrekhischen Bischöfe bitte ich daher inständig um die notwendigen Bewilligungen des Apostolischen Stuhles, daß die befugten Vertreter der kirchlichen Institute im Säkular- und Regularklerus diese gemeinsame Aktion setzen dürfen." Die Genehmigung kam in Form eines Schreibens des Staatssekretariates an die Apostolische Nuntiatur in Österreich unter 15. November 1955, Z1. 6659/55. Die Apostolische Nuntiatur setzte die österreichischen Bischöfe mit Schreiben vom 1. Dezember 1955, N. 12682 davon in Kenntnis. In diesem Schreiben finden sich der Wortlaut der Genehmigung, sowie als Beilage die Voten der zuständigen Kongregationen. Der Nuntius zitiert aus dem Schreiben des Staatssekretariates folgendes: "Seine Heiligkeit hat mit großem Wohlwollen diese Angelegenheit 16 Festschrift Rosst

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erwogen und nach Anhörung der Konzi'ls-, Religiosen- und Konsistorialkongregation die erbetene Erlaubnis unter folgenden Bedingungen gewährt: 1. Die Bischöfe müssen jedesmal, gemäß Art. XIII n. 2 Abs. 3 des geltenden Konkordates, wenn sie, um eine Anleihe aufzunehmen, kirchliche Grundstücke belasten, was neue oder größere staatliche Zuschüsse mit sich bringen könnte, die Zustimmung der staatlichen Kulturverwaltung innehaben.

2. Es muß klar aufscheinen, daß alle Lasten, seien sie moralischer, wirtschaftlicher oder anderer Art, die Rechtspersönlichchkeiten tragen, die Darlehen (Anleihen) aufnehmen; niemals kann, gleich aus welchem Rechtstitel und gleich von welcher Person, vom Apostolischen Stuhl etwas zurückgefordert werden. Darüber hinaus sind die Vota und Ratschläge der Konzilskongregation, der Religiosen- und Konsistorialkongregation zu beachten. über den Stand der Anleihe ist jährlich dem Heiligen Stuhl ein kurzer Bericht zu geben." In den beigeschlossenen Voten wird allgemein diese außergewöhnliche Finanzoperation anerkannt und gleichzeitig der eingeschlagene Weg gelobt. Bei der Durchführung selbst wird zur Vorsicht gemahnt besonders bezüglich der Auswahl der Mitarbeiter und Kontrolleinrichtungen. Sehr wichtig erscheint die Bemerkung: "Studium der Zweckmäßigkeit, ob die Anleiheanträge einer gewissen Höhe nach Durchführung der Nachforschungen durch die Gesellschaftsorgane der Heiligen Konzilskongregation zur Vorgenehmigung unterbreitet werden sollen oder, wenn dies störend sein sollte, daß man wenigstens der Heiligen Kongregation einen Bericht über die gewährten Anleihen übermitteln solle." Ferner werden auch genaue Richtlinien gewünscht hinsichtlich der Zusammenarbeit von Säkular- und Regularklerus, um beiden Teilen immer eine entsprechende Vertretung in den Kontrollorganen zu sichern. Allgemein hält man die verzweigten, leitenden Organe für kompliziert und eine bürokratische Erschwerung, billigt sie aber im Hinblick auf die in Österreich geltenden Gesetze und anerkennt, daß dadurch die Kontrolltätigkeit ja noch vermehrt wird. Die Hl. Konsistorialkongregation bemerkt noch ergänzend, daß die zu erwartenden fiskalischen Belastungen, welchen Aktiengesel'lschaften in Österreich unterliegen, nicht zu übersehen wären; außerdem weist sie darauf hin, die bischöflichen Mensalgüter auf Grund der einzigartigen Funktion und Stellung des Bischofs gar nicht oder wenigstens nur im möglichst geringen Ausmaß zur Bürgschaft heranzuziehen.

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Auch im staatlichen Bereich waren relevante Genehmigungen einzuholen und außerdem ein Rechtsträger nach dem bürgerlichen Recht zu schaffen, wozu eine Aktiengesellschaft am geeignetsten erschien. Am 15. Februar 1955 wurde vom Sekretariat der österreichischen Bischofskonferenz ein Ansuchen um "Vorgenehmigung einer kirchlichen Anleihe" an das Bundesministerium für Finanzen gerichtet. Darin wurde dargestellt, daß die Anleihe ausschließlich Stellen des kirchlichen Bereiches zur Finanzierung ihrer baulichen und wirtschaftlichen Aufgaben dienen sollte. Die Rückzahlung und Verzinsung der Anleihe soll aus den wirtschaftlichen Einnahmen der einzelnen kirchlichen Stellen und aus dem Kirchenbeitragsaufkommen erfolgen. Als Rechtsträger wird eine Aktiengesellschaft vorgeschlagen, deren Aufgabe es sein wird, die Aufteilung und Verwendung des Anleiheerlöses zu bestimmen und zu überwachen, sowie den Anleihedienst zu besorgen. Ausdrücklich heißt es im Ansuchen:: "Die Aktiengesellschaft hat nicht die Aufgabe Gewinne zu erzielen." Eine genügende Anzahl kirchlicher Rechtspersonen soll den Gläubigern der Aktiengesellschaft gegenüber so'lidarisch, aber im einzelnen betragsbeschränkt haften. Wertsicherung war nicht vorgesehen, die Einlösung sollte durch Rückkauf oder Verlosung erfolgen. Am 28. Februar 1955 traf bereits aus dem Bundesministerium für Finanzen die Vorgenehmigung des gesamten Finanzprojektes ein. 4. Die Gründung der Aktiengesellschaft Überlegungen und Motive

Nach Eirrlangung der staatlichen Vorgenehmigungen und des Placets des Heiligen Stuhles über den Weg der Apostolischen Nuntiatur stand die Aufgabe zu lösen, den Rechtsträger der geplanten Finanzoperation geschäftsfähig zu machen. Nicht zuletzt war als solcher eine Aktiengesellschaft dessethalben gewählt worden, weil sie ais Körperschaft des Handelsrechtes die breiteste und solideste Plattform für ein Finanzinstrumentarium im Dienste des Gottesvolkes und der Apostolatsarbeit böte. Weiters war anzuführen, daß es im kirchlichen Bereiche keine überdiözesane Einrichtung gibt, die juristische Person ist (Rechtsstand von 1955) und daher Träger einer Finanzoperation sein könnte. Um die für eine Anleihe notwendigen staatlichen Genehmigungen zu erhalten, muß der Rechtsträger aber eine Vereinigung bürgerlichen Rechtes sein. Der Gläubigerschutz spielt dabei bei der Form der Aktiengesellschaft eine hervorragende Rolle. Bilanzierung und Publizität sind dessen Pfeiler, die das Vertrauen der Gläubiger tragen. Weiters ist ein Rechtsträger, der eine Finanzoperation wie eine Anleihe auf sich nehmen will, auf die Mitarbeit verschiedener Banken und Kreditinstitute angewiesen. Aber auch diese bevorzugen die Kooperation mit einer Gesell16*

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schaft, die genau umrissenen staatlichen Normen und Kontrollen unterliegt, als mit einer Rechtsperson, die vielleicht ein Novum auf dem Geldmarkt überhaupt darstellt. Nicht zuletzt ist der Vorteil zugunsten der Kirche erwähnenswert: dadurch war die Beteiligung al'ler Diözesen, der Stifte und sonstigen Rechtsträger möglich geworden. IV. Die "Aktiengesellschaft zur Förderung von wirtschaftlichen Unternehmungen und von Bauvorhaben" als Rechtsträger der kirchlichen Aufbauanleihe In der Gründungsversammlung am 12. Dezember 1955 wurde der Gesellschaft der Name "Aktiengesellschaft zur Förderung von wirtschaftlichen Unternehmungen und von Bauvorhaben" gegeben, die Satzungen festgestellt und die leitenden Organe bestellt. Das Kuratorium stellt dabei ein zusätzliches Novum dar, das etwa vergleichbar dem "Verwaltungsrat" in der Schweiz, eine stärkere Einflußnahme der die Aktien übernehmenden kirchlichen Rechtspersonen auf die Geschäftsführung durch den Vorstand ermöglicht. 1. Gegenstand und Aufgabenbereich der Aktiengesellschaft

Im § 2 der Satzungen10 wird die Aufgabe der Aktiengesellschaft wie folgt umschrieben: "Gegenstand des Unternehmens ist die Förderung von wirtschaftlichen Unternehmungen und von Bauvorhaben der Institutionen der römisch-katholischen Kirche in Österreich. Zur Erreichung dieser Aufgabe ist die Aktiengesellschaft berechtigt, ihre Mittel sowie Geldmittel, die ihr im Wege von Anleihen oder Zuwendungen zufließen, für die oben angeführte Förderung dieser Institutionen zu verwenden. Insbesondere ist sie berechtigt, für die angeführten Zwecke Darlehen an Institutionen der römisch-katholischen Kirche in Österreich zu gewähren." 2. Die Organe der Aktiengesellschaft

Organe der Aktiengesellschaft, im folgenden kurz "Förderungs A. G." genannt, sind der Vorstand, der Aufsichtsrat und als Novum das Kuratorium, sowie die Hauptversammlung. a) Der Vorstand Zu seinen Mitgliedern - er setzt sich aus drei Persönlichkeiten zusammen - werden jeweils Laien bestellt, die hauptberuflich in der Finanz10 Satzungen der Aktiengesellschaft zur Förderung von wirtschaftlichen Unternehmungen und von Bauvorhaben, beschlossen in der Hauptversammlung vom 12. 12. 1955 in der dem Aktiengesetz 1965 angepaßten Fassung laut Hauptversammlungsbeschluß vom 7.6.1966 und Aufsichtsratsbeschluß vom 25. 10. 1966.

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wirtschaft tätig sind und große Erfahrungen mitbringen, wie es das Votum der Konzilskongregation verlangt. Für ihn hat der Aufsichtsrat am 12. 12. 1955 eine eigene Geschäftsordnung erlassen, die zusätzlich zu den allgemeinen Bestimmungen des Aktiengesetzes sowie den Satzungen der Aktiengesellschaft noch ergänzende Anweisungen enthält. Bezüglich der Geschäftsführung wird besonders die strenge Prüfung der Unterlagen der Darlehensanträge hervorgehoben, aus denen die Rückzahlungsmöglichkeiten des Darlehens und die Sicherung der Verzinsung nachgewiesen werden soll. Zur Darlehensgewährung bedarf der Vorstand der ausdrücklichen Zustimmung des Kuratoriums. b) Der Aufsichtsrat Der Aufsichtsrat hat die Aufgabe, die gesamte Geschäftsführung zu überwachen. Eine Reihe von Geschäften und Handlungen des Vorstandes sind in der "Förderungs A. G." von seiten des Aufsichtsrates genehmigungspflichtig. Dabei stehen die Aufnahme von Krediten, Darlehen und Anleihen und der Erwerb und die Veräußerungen von Beteiligungen besonders in Rede. Dadurch hat sich etwa der Aufsichtsrat auch eine weitgehende Kontrolle hinsichtlich der zwischenzeitlichen Veranlagung der Gelder gesichert. Innerhalb des Aufsichtsrates, der aus drei bis sechs Personen paritätisch aus dem Säkular- und Regularklerus stammt, ermöglicht ein geschäftsführender Ausschuß eine rasche Unterstützung des Vorstandes. Derzeit stehen an der Spitze des Aufsichtsrates zwei hervorragende Persönlichkeiten, die sich um das Zustandekommen der in diesem Beitrag erwähnten Institutionen und Institute große praktische und auch wissenschaftliche Meriten erwerben konnten: Den Vorsitz führt der langjährige Abtprimas der Augustiner-Chorherren und österreichische Generalabt Probst Gebhard Koberger aus dem Stifte Klosterneuburg in Niederösterreich, als sein Stellvertreter fungiert der Wiener Weihbischof Dr. theol. Dr. iur. can. Helmut Krätzl, von dem jene umfassende Monographie über "Die kirchliche Aufbauanleihe in Österreich" als kirchenrechtliche Untersuchung in der Reihe der "Wiener Beiträge zur Theologie" (Verlag Herder, Wien 1965) stammt, die diesem Festaufsatz zu Ehren des langjährigen Wiener Apostolischen Nuntius und gegenwärtigen Kurienkardinals Dr. Opilio Rossi zugrundeliegt. Der Verfasser ist Prälat Koberger irIs seinem brüderlichen Freunde und Ratgeber, Sr. Exzellenz Bischof Krätzl aber als Jugendfreund aus Schulbanktagen aufrichtig verbunden. Ohne Prälat Kobergers große priesterliche und äbtliche Autorität und ohne die umfängliche Sachkenntnis Bischof Krätzls, die sich wissenschaftlich und praktisch immer wieder dokumentiert, wären dem Autor notwendige Einblicke in Zusammenhänge verborgen geblieben.

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c) Das Kuratorium Dieses Institut, das in den allgemeinen gesetzlichen Bestimmungen des Aktienrechtes nicht anzutreffen ist, wurde als Kontrollorgan geschaffen, das zusätzlich mit dem Aufsichtsrat fungieren, ihn aber keineswegs ersetzen soll. Er repräsentiert in besonderer Weise die Interessen der Bürgen. Es hat in letzter Entscheidung über Darlehensgewährungen und Änderungen von Darlehensbedingungen, wie Stundungen und Nachlässe, zu befinden. Dabei hat es aus den ihm vom Vorstand nach Durchführung der wirtschaftlichen Vorprüfung vorgelegten Anträgen jene auszuwählen, "die nach allgemein-kirchlichen Erwägungen eine vordringliche Erledigung erfordern" (Satzungen § 19). Die Aufgabe des Kuratoriums stellt sich demnach zweifach dar: einerseits die Interessen der Bürgen zu vertreten und daher nur wirklich tauglichen Anträgen zuzustimmen, anderseits aber auch, die Darlehen eben nicht nur nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu vergeben, sondern nach kirchlichen Erwägungen, das heißt seelsorglichen, apostolatsorientierten Perspektiven. Das Kuratorium besteht aus mindestens 6 Mitgliedern und ebenso vielen Ersatzmitgliedern. Es soll sich aus Vertretern der Haftungsträger und Bürgen und nach Maßgabe der einzelnen Haftsummen zusammensetzen (Satzung § 18 (2) Abs. 1 und 2). Gemäß der übernommenen Haftung stammen sie zur Hälfte aus dem Säkularklerus (die drei Mitglieder sind meist Bischöfe, die Ersatzmänner meist Finanzkammerdirektoren), zur Hälfte aber aus dem Regularklerus (ebenfalls drei Mitglieder und ebensoviele Ersatzleute, meist zur Hälfte Stiftsäbte, zur Hälfte Regulare, die verantwortliche Wirtschaftspositionen innehaben). Zur Zeit der Redaktion präsidieren das Kuratorium zwei hervorragende Persönlichkeiten, die in besonders engem Konnex zur Genesis der Anleihe und "ihrer" Förderungs A. G. stehen. Es sind dies der Vorsitzende des Kuratoriums und Generalvikar der Erzdiözese Wien, Erzbischof Dr. theol. Franz Jachym, der sich bereits als Sekretär der österreichischen Bischofskonferenz die bedeutendsten Verdienste um die wirtschaftliche Promotion der kirchlichen Bedürfnisse als Basis der Apostolatsarbeit erworben hatte und sein Stel'lvertreter, der Prälat des Benediktinerstiftes Seitenstetten in NÖ., Abt Albert Kurzwernhart O. S. B., die im Verein mit Abtprimas Koberger und Weihbischof Krätzl für jene verständnisorientierte Harmonie zwischen Säkularen und Regularen sorgen, welche eine vertrauensvolle Kooperation im Dienste der Seelsorge auch auf ökonomischem Sektor gewährleistet. Ausgewogenheit und Gerechtigkeit stel'len die Brückenpfeiler der "Geschäftspolitik" der Förderungs A. G. dar, wenn in diesem spirituell akzentuierten Konnex der Begriff gestattet sein soll.

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Vom Kuratorium wurde ein Exekutivkomitee eingesetzt, dessen Aufgabe es ist, die Darlehensansuchen nach Bearbeitung durch den Vorstand nochmals eingehend zu prüfen und dann im Plenum darüber zu referieren. Es besteht aus 4 Mitgliedern, die geographisch gesehen dem Orte des Vorstandes nahe residieren. d) Die Hauptversammlung Sie übt die ihr vom österreichischen Aktienrecht zugeschriebenen Funktionen aus. Teilnahmeberechtigt sind al'le Aktionäre, die ihre Aktien ordnungs- und fristgemäß an den dazu bestimmten Instituten drei Tage vor der Hauptversammlung hinterlegt haben. Da alle Aktien in kirchlichen Händen sich befinden und außerdem Sicherheitsrnaßnahmen ergriffen wurden, um sie in kirchlicher Hand zu behalten, ist auch auf dieser Ebene kein Einfluß nichtkirchlicher Kreise möglich. e) Die finanzielle Ausstattung der Aktiengese'llschaft Sie mußte in einer bestimmten Relation zur geplanten Anleihe stehen. Das bedeutete, daß man entweder das Grundkapital der Gesellschaft auf eine Höhe von etwa 10 - 30 Ufo der Gesamtverbindlichkeiten bringen müßte oder aber - im Falle eines geringeren Eigenkapitals, entsprechende zusätzliche Deckungen anbieten könnte. Die erste Möglichkeit hätte zu einer großen steuerlichen Belastung geführt, da Vermögenssteuer, Gewerbesteuer und Erbschaftsäquivalent jeweils nach dem Eigenkapital berechnet werden. Außerdem wäre es schwer gewesen, ein Kapital von rund 90 Millionen Schilling aufzubringen. Man entschied sich also für den zweiten Weg, stattete die Aktiengesellschaft bloß mit einem Grundkapital von 1 Million Schilling aus, das dem Mindestnennbetrag nach dem Aktiengesetz entsprach und bot zusätzliche Bürgschaften an. Das Grundkapital von 1 Million Schilling wurde in 1000 Aktien zum Nominale von je S 1000,- zerlegt. Für den Säkularklerus zeichneten die einzelnen Diözesen Aktien im Wert von S 400 000,-, aufgeteilt nach einem Diözesanschlüssel, für den Regularklerus Stifte und Orden in der Höhe von S 300 000,-. Die restlichen S 300000,- übernahm die "Unitas", eine von kirchlichen Rechtspersonen der Kirche in österreich gegründete Treuhandgesellschaft: dieser letztgenannte Betrag sollte später zum eventuellen Ausgleich zwischen Diözesen und Stiften oder auch dazu verwendet werden, anderen Orden und kirchlichen Institutionen den Erwerb von Aktien zu ermöglichen (vgl. Protokoll der 1. Aufsichtsratsitzung vom 12. 12. 1955, S. 5). Die Zeichnung der Aktien stellte für die einzelnen Institute keine Ausgabe dar, sondern war vielmehr eine Geldanlage, wofür ab 1958 jährlich Dividenden bezahlt wurden. Im Laufe der kommenden Jahre wurde

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das Eigenkapital der Förderungs A. G. dann auf 3 Millionen Schilling erhöht, um Disparitäten auszuschalten. Als Modus für die übernahme der Bürgschaft wurde die Form von Korrespondenzverträgen gewählt, d. h . die Bürgschaftserk'lärungen wurden in die Form eines Angebots seitens des Bürgen und einer Annahmeerklärung seitens der Aktiengesellschaft gekleidet. Dies erbrachte u. a. den Vorteil, daß man damit die einfachen Bürgschaftserklärungen vorgeschriebene Vergebührung von 1 % der Haftsumme ersparte. Charakteristisch für die Bürgschaft ist, daß sie eine direkte und solidarische, aber für den einzelnen Bürgen betragsmäßig begrenzte ist. Trotz des Wunsches der Konsistorialkongregation (Bemerkungen der Hl. Konsistorialkongregation, Pkt. 3) wurden auch von den bischöflichen Mensalgütern Bürgschaftserklärungen abgegeben, weil sie sich, wie es im 1. Rechenschaftsbericht an den Heiligen Stuhl heißt, "schon aus Solidaritätsgründen den Regularen gegenüber nicht völlig ausschließen" konnten.

v.

Die Tätigkeit der Aktiengesellschaft durch Begebung der Anleihe

Nach Vorliegen aller kirchlichen und staatlichen Genehmigungen konnte an die Begebung der "Kirchlichen Aufbauanleihe" gedacht werden l1 • Die 1. Kuratoriums- und Aufsichtsratssitzung vom 19.3.1956 hatte diesen Namen geschaffen. Der finanztechniscll-historische Weg, also die Sach- und Begebungsgeschichte dieser Anleihe ginge über den Rahmen dieses Beitrages hinaus. Es sei nur festgehalten, daß zu den ursprünglich geplanten 3 Tranchen der Jahre 1956 bis 1958 entsprechend dem Bedarf in den Jahren 1966, 1969, 1972 und 1976 weitere Emissionen kamen und alle 7 Tranchen der Anleihe ein voller Erfolg wurden. Den ersten drei Tranchen kam volumensmäßig ein eher geringerer Ste'llenwert zu, fast die Hälfte der Gesamtsumme von 960 Millionen Schilling entfiel auf die letzten drei Tranchen.

VI. Der Geschäftsbericht für das Jahr 1978

1. Allgemeines Der jährliche Geschäftsbericht demonstriert1 2 den jeweils aktuellen Stand der größten kirchlichen Finanzoperation der Kirche von Österreich, die jemals unter Billigung des Heiligen Stuhles dank des ständigen Interesses der Apostolischen Nuntiatur in Wien realisiert worden ist. In der Hauptversammlung am 20. Juni 1978 waren der Aufsichtsrat Krätzl, p. 63 ss. Geschäftsbericht für das Jahr 1978 der Aktiengesellschaft zur Förderung von wirtschaftlichen Unternehmungen und vom Bauvorhaben, p. 5 ss. 11

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und das Kuratorium der Förderungs A. G. wegen Ablauf der Amtsperiode gemäß Aktiengesetz 1965 entsprechend der eigenen Satzung wieder-, bzw. neu gewählt worden, in der Hauptversammlung am 19. Juni 1979 waren nur Ergänzungswahlen durchzuführen. Dem Vorstand, in welchem keine Änderung eingetreten war, gehören weiterhin Komm. Rat Dipl. Ing. Josef Melchart, der seit Gründung im Jahre 1955 bei der Förderungs A. G. tätig ist, als Vorsitzender, sowie Gen. Dir. a. D. Komm. Rat Dozent Dr. Hellmuth Slaik und Frau Erika Springer an. Der Geschäftsbericht für 1978 berichtet, daß in diesem Jahr je eine konstituierende Sitzung des Aufsichtsrates und des Kuratoriums sowie vier weitere gemeinsame Sitzungen VOn Aufsichtsrat und Kuratorium stattgefunden haben. Der Vorstand hat in diesen Sitzungen über die Tätigkeit der Gesellschaft ausführlich berichtet und Beschlüsse dieser Organe über Darlehensansuchen sowie sonstige wichtige Geschäftsange'legenheiten eingeholt. Die Liquiditätslage der Gesellschaft war während des ganzen Jahres 1978 recht flüssig, wozu auch die im Finanzplan nicht enthaltenen vorzeitigen Darlehensrückzahlungen von fast 43 Millionen Schilling beigetragen haben; trotz dieser beachtlichen außerplanmäßigen Tilgungen stieg der Stand der aushaftenden Darlehen infolge hoher Zuzählungen auf die im Vorjahr genehmigten Darlehen um rund 11 Millionen Schilling auf rund 612 Millionen Schilling an. Bei der Marktpflege der Kirchlichen Aufbauanleihen, die auch 1978 durch das Bankhaus Schelhammer & Schattera spesenfrei durchgeführt wurde, gab es keine Probleme; es wurden im Rahmen dieser Marktpflege - einem entscheidenden Faktor des Vertrauens der Anleger im Jahre 1978 insgesamt rund Nominale 66,5 Millionen Schilling (im Vorjahr waren es 58,4 Millionen Schilling) umgesetzt. Die Portefeuillebestände der kurspflegenden Bank lagen am Jahresende 1978 in allen sieben Ausgaben mit insgesamt rund Nominale 9,28 Millionen Schilling bedeutend unter den Ständen zum Ende des Vorjahres (25 Millionen Schilling) und sind damit auf den für eine gute Kurspflege erforderlichen Mindeststand abgesunken, so daß die Kurse zeitweise über Pari anstiegen. Zum Jahresultimo 1978 notierten alle 8/70f0igen Emissionen mit 100,25, die 7/60f0ige Emission 1966 mit 99,50. Im Jahre 1978 fanden die 17. Tilgungsziehung der 8/7 Ofo Kirchlichen Aufbauanleihe 1956 mit 3,5 Millionen Schilling, die 16. Tilgungsziehung der 8/7 Ofo Kirchlichen Aufbauanleihe 1957 mit 3 Millionen Schilling und die 15. Tilgungsziehung der 8/7 Ofo Kirchlichen Aufbauanleihe 1958

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mit 3,75 Mi'llionen Schilling statt. Die laut Anleihebedingungen vorzunehmenden Tilgungen von Nominale 4,8 Millionen Schilling der 7/6 0/0 Kirchlichen Aufbauanleihe 1966 und von 7,4 Millionen Schilling der 8/7 0/0 Kirchlichen Aufbauanleihe 1969 sowie die 1. Tilgung von Nominale 10 Miillionen Schilling der 8/7 'Ö/o Kirchlichen Aufbauanleihe 1972 wurden durch freihändigen Rückkauf erfüllt. Die Tilgung der 8 0/0 Kirchlichen Aufbauanleihe 1976 beginnt im Jahre 1983. Es wurden also im Jahre 1978 entsprechend den Anleihebedingungen insgesamt Nominale 32,45 Millionen Schilling planmäßig getilgt, so daß von dem seit 1956 in sieben Tranchen begebenen Nominale von insgesamt 960 Millionen Schilling bis Ende 1978 Nominale 263,35 Millionen Schilling getilgt erscheinen und zum Bilanzstichtag Nominale 696,25 Millionen Schilling aushaften. Dieses per 31. Dezember 1978 im Umlauf befindliche Gesamtnominale von 696 250 000,- Schilling gliedert sich wie folgt: 8/7 Ofo Kirchliche Aufbauanleihe 1956 Laufzeit 25 Jahre, bis 30. Sept. 1981 (ursprünglich Nominale S 70 Mio.)

Nominale S 10500000,-

8/7 Ofo Kirchliche Aufbauanleihe 1957 Laufzeit 25 Jahre, bis 14. Sept. 1982 (ursprünglich Nominale S 60 Mio.)

Nominale S 12000000,-

8/7 Ofo Kirchliche Aufbauanleihe 1958 Laufzeit 25 Jahre, bis 14. Sept. 1983 (ursprünglich Nominale S 75 Mio.)

Nominale S 18750000,-

Kirchliche Aufbauanleihe 1966 Laufzeit 25 Jahre, bis 30. Sept. 1991 (ursprünglich Nominale S 120 Mio.) 8/7 Ofo Kirchliche Aufbauanleihe 1969 Laufzeit 25 Jahre, bis 31. März 1994 (ursprünglich Nominale S 185 Mio.) 8/7 Ofo Kirchliche Aufbauanleihe 1972 Laufzeit 25 Jahre, bis 30. Juni 1997 (ursprünglich Nominale S 200 Mio.) 8 Ofo Kirchliche Aufbauanleihe 1976 Laufzeit 25 Jahre, bis 14. Jän. 2002

Nominale S 74400000,-

7/6 Ofo

Nominale S 140600000,Nominale S 190000000,Nominale S 250000000,-

Alle Anleihen wurden also mit der in Österreich nicht üblichen, sehr langen Laufzeit von 25 Jahren begeben, die trotz mancher Bedenken hinsichtlich der Absatzmöglichkeiten bei allen Emissionen beibehalten wurde; gewiß hat sich der Interessentenkreis gewandelt; waren es bei den ersten Ausgaben vor fast 25 Jahren doch viele Gläubige, die bei den ersten Privatemissionen in Österreich nach dem Kriege ihrer Verbundenheit mit der Kirche Ausdruck geben wol'lten - eine Aufklärung des

Kirchliche Finanzförderung im Dienste des Apostolats

251

breiten Publikums über die wirtschaftlichen Vorteile des Sparens in Anleihen war ja nur in Ansätzen vorhanden - so ist heute ein Großteil der Zeichner zinsenbewußt und nimmt darüber hinaus eine Reihe von Begleitumständen, wie Sicherheit und Liquidität, in die Anlageentscheidung mit auf. Da nun die Kirche Vertrauen auch bei vielen Fernstehenden genießt und die beständige Marktpflege den jederzeitigen Verkauf von Kirchlichen Ausbauanleihen ohne Wartezeit ermöglicht, wurde die 'lange Gesamtlaufzeit durchaus vom Publikum akzeptiert. 2. Die Darlehensgewährung

Nach dem Rekord von Darlehensgenehmigungen im Jahre 1977 mit einer Gesamtsumme von fast 135 Millionen Schilling wurden im Jahre 1978 zwar hohe Darlehensauszahlungen getätigt, aber nur 4 Darlehensansuchen von kirchlichen Institutionen mit zusammen 25 394 000,Schil'ling nach eingehender Prüfung durch den Vorstand von Kuratorium und Aufsichtsrat genehmigt. Mit diesen Darlehen hat sich die Summe der bewilligten Darlehen seit Gründung der Förderungs A. G. bis Ende 1978 auf 1 362 646 369,Schilling erhöht, wobei sich nach dem Verwendungszweck nachstehende Aufteilung ergibt: Seelsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Caritative Einrichtungen .............. Krankenhäuser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Kindergärten, Schulen, Internate...... Pädagogische Akademien ....... . . . . . .. Wirtschaftliche Unternehmungen ...... Wohnungsbau ........................

S S S S S S S

271 819 000,117 747 500,202 320 000,337 671 865,55000000,207 225 000,170 863 004,-

-------

S 1 362 646 369,-

Die Summe der vergebenen Darlehen ist deshalb weit höher als das begebene Anleihenominale, wei'l die rückfließenden Beträge, soweit sie nicht für den Anleihedienst gebraucht werden, nach Maßgabe einer langfristigen Finanzplanung, bei der auftretende Bedarfsspitzen mit Kontokorrentkrediten abgedeckt werden, neu vergeben werden. Die Darlehensrückzahlungen erfolgten, wie bisher immer, auch 1978 ohne nennenswerte Verzögerungen, so daß keinerlei rechtliche Schritte zur Eintreibung nötig waren. Die Förderungs A. G. kann mit den zur Verfügung stehenden Mitteln nun keineswegs alle Finanzierungsfragen der Kirche Österreichs lösen, doch übt sie einerseits eine marktregu'lierende Wirkung auf die Konditionen der von kirchlichen Institutionen aufzunehmenden langfristigen Fremdmittel aus und bietet andererseits durch kostenlose Promessen

252

Robert Prantner

und provisionsfreie Bereitstellung der Darlehen auch über längere Zeiträume eine willkommene Rückendeckung, die ein risikoloses Ausschöpfen der Eigenmittel der Investoren ermöglicht. Die Beschaffung langfristigen Kapitals durch Anleihen, die die röm.kath. Kirche in Österreich vor fast einem Vierteljahrhundert in brüderlicher, solidarischer Zusammenarbeit von Diözesen, Stiften und sonstigen kirchlichen Rechtspersonen erstmals versucht hat und die weit über den ursprünglich geplanten Rahmen hinausgewachsen ist, hat sich als billigste und auch hinsichtlich anderer Betrachtungsweisen (wie Unabhängigkeit und Unbeeinflußbarkeit von außen) optimale Investitionsfinanzierung mit Fremdkapital erwiesen. 3. Vergleichbare Daten der .Förderungs A. G. Den seriösen und angesehenen, in Wien publizierten "Finanznachrichten"13 sind jährlich vergleichbare Daten zur Förderungs A. G. tabellarisch zu entnehmen. Demnach hat diese 1955 gegründete und mit 3 Millionen Aktienkapital versehene Gesellschaft ihren Zweck erreicht: die Förderung von wirtschaftlichen Unternehmungen und Bauvorhaben der Institutionen der römisch-katholischen Kirche in Österreich, vornehmlich durch Darlehensgewährung. Ihre Mittel, im wesentlichen durch Begebung von Teilschuldverschreibungen aufgebracht, standen ausschließlich im Dienste dieses Apostolats im weiten Sinn des Begriffes. Wörtlich notiert der Analysebericht 1979 der Finanznachrichten: "Zuletzt wurde im Jahr 1976 eine Kirchliche Aufbauanleihe mit einem Nominale von 250 Mill. S emittiert, womit sich das seit 1956 in sieben Tranchen begebene Emissionsvolumen auf 960 Mill. S erhöht hat. Davon waren bis zum Jahresultimo 1978 rund 263 Mill. S getilgt, so daß zum Bilanzstichtag noch 696 Mrll. Saushafteten. Im Rahmen der Marktpflege wurden vom kurspflegenden Bankhaus Schelhammer & Schattera Umsätze (Kauf und Verkauf) im Ausmaß von Nominale 66,5 Mill. S nach 58,4 Mill. S getätigt, wobei die Verkäufe überwogen, da die Portefeuillebestände bei Schelhammer & Schattera von rund 25 Mil!. S auf 9 Mit!. S abgebaut werden konnten. Der Erfolg der Kurspflege ist wiederum in einer für den Anleihebesitzer nicht unerfreulichen Kursentwicklung zum Ausdruck gekommen. So gelang es, den Ultimokurs aller 8/7 Ofoigen Emissionen auf 100,25 Ofo und den der 7/6 Ofoigen Emissionen auf 99,50 Ofo anzuheben. Aber nicht nur die hervorragende Kurspflege entschädigt den Arrleihebesitzer für die lange Laufzeit (25 Jahre), sondern auch die Besicherung 13

Finanznachrichten, 29/30, 20. 7. 1979, "Analyse".

Kirchliche Finanzförderung im Dienste des Apostolats

253

der Teilschuldverschreibungen ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen. Durch die Erweiterung der Bürgengemeinschaft für die Anleiheverbindlichkeiten der Förderungs A. G. durch 6 weitere Bürgschaften kirchlicher Rechtspersonen ist die Gesamtsumme der Solidarbürgschaften zum Jahresultimo 1978 auf 1,519 Mill. S angestiegen, woraus sich eine Deckung der Anleiheverbindlichkeiten im Ausmaß von knapp 220 Ofo ergibt. Nach der hohen Darlehensvergabe des vergangenen Jahres - es wurden 13 Darlehensansuchen von kirchlichen Institutionen mit einer Gesamtsumme von 135 Mil!. S bewilligt - kam es im Berichtsjahr zur Vergabe von bloß vier Darlehen mit einem Volumen von 25,4 Mill. S wodurch sich das seit Gründung der Förderungs A. G. bewilligte Darlehensvolumen auf 1,363 Mil!. S erhöht hat. Betroffen waren von der Darlehensvergabe im abgelaufenen Jahr ,Wirtschaftliche Unternehmungen', Krankenhäuser und der Wohnungsbau, und zwar im Bereich der Erzdiözese Wien und der Diözese Linz. Im Berichtsjahr erzielte die Gesellschaft einen Reingewinn in Höhe von 0,74 Mill. S (davon 0,45 Mil!. S Jahresgewinn). Ausgeschüttet werden wiederum 8 Ofo Grunddividende und 2 Ofo Bonus, insgesamt also 10 Ofo auf das Grundkapital von 3 Mill. S." Regionale verteilung der bisher gewährten Darlehen (in Mill. S)

1976

1977

1978

1977

568,7 147,4 156,0 105,5 71,7 41,7 93,3 8,7 9,2

692,3 156,4 156,0 107,9 71,7 41,7 93,3 8,7 9,2

707,4 156,4 166,4 107,9 71,7 41,7 93,3 8,7 9,2

+ 123,6 + 9,0 + 2,4

+ +

15,1

1202,2 1337,2 1362,7

+ 135,0

+

25,5

Stand zum Jahresende Erzdiözese Wien Diözese St. Pölten Diözese Linz Erzdiözese Salzburg Diözese Gurk Diözese Graz-Seckau Diözese Innsbruck Diözese Feldkirch Diözese Eisenstadt

1978

Veränderung

10,4

Soweit die "Finanznachrichten" in ihrer Besprechung des Rechnungsabschlusses 1978 der Förderungs A. G. Im Jahre 1979 wurden vom Kuratorium der Förderungs A. G. weitere 9 vom Vorstand vorgelegte Darlehensansuchen mit rd. 101,3 Millionen Schilling genehmigt, so daß bis Ende 1979 die Darlehensgewährungen die stolze Summe von rd. 1,464 Milliarden Schilling erreichten.

254

Robert Prantner Bilanzdaten (in Mill. S)

1976

1977

1978

1977 1978 Veränderung

Aktiva

Barreserve N ostroguthaben Kassenobligationen und Termingelder Wertpapiere Debitoren davon kurzfristig a) Beteiligungen Bilanzsumme

0,04 55,96

0,01 0,70

0,04 21,32

135,00 54,20 541,76 121,69 5,80 818,54

185,00 55,00 53,04 70,26 601,56 612,34 140,60 127,90 8,10 8,10 875,67 791,55

751,15

728,70 696,25 51,93 7,31 5,28 3,00 3,00 11,90 14,09 7,77 8,35 3,05 3,41 0,56 0,74 0,32 0,45

0,03 55,26

+ + + + +

50,00 1,16 59,80 18,91 2,30 57,13

+ +

22,45 51,93 1,57

+ +

1,64 5,55 0,29

+ +

0,03 20,62

- 130,00 17,22 10,78 12,70

+ +

84,12

Passiva

Anleihen Bankkredi toren sonstige Kreditoren Grundkapital Rücklagenb) Sammelwertberichtigung Pensionsrückstellung Reingewinn davon Jahresgewinn haftendes Eigenkapital (§ 11/2 KWG)

5,74 3,00 13,54 2,22 2,76 0,56 0,51 9,15

9,17

9,51

0,19

+

0,02

32,45 51,93 2,03

+ + + + + +

2,19 0,58 0,36 0,18 0,13 0,34

a) mit Fälligkeit bis zu einem Jahr. b) einschließlich Wertpapierwertberichtigungen nach § 4/4/5 EStG und Abfertigungsrücklage.

Hievon wurden rund 42,4 % an Diözesen und diözesane Institute, 53,6 0J0 an Regulare (Stifte, Orden und Kongregationen) und 4,0 0J0 an sonstige Darlehensnehmer, wie z. B. Wohnbauvereinigungen vergeben. Vom Antei'l der Regularen entfielen mehr als zwei Drittel der Darlehen (36,3 % vom Gesamtbetrag) auf Frauenorden und -kongregationen.

VII. Die "Kirchliche Aufbauanleihe" Finanzförderung im Dienste des Apostolats Formuliert man unter der Zielvorstellung des christlichen Apostolates 14 die Frage nach dem Erfolg des in Rede stehenden Instrumentariums, so fällt dessen seelsorgerische Bedeutung prima vista ins Auge, sofern man Kirchenbau und Kirchenrenovierung als eines der apostolatsüberprüfenden Kriterien bemüht. Es ergab sich, wie Weihbischof Krätzl festhält, daß in den meisten der neuerrichteten oder adaptierten 14

cfr. Krätzl, 89 ss.

Kirchliche Finanzförderung im Dienste des Apostolats

255

Seelsorgestätten gerade durch die Anleihe eine geordnete Seelsorge und ein würdiger Gottesdienst um Jahre früher möglich gemacht wurde, als wenn alle Mittel aus dem ordentlichen Budget der Diözesen hätten genommen werden müssen. Aber auch Kindergärten, Schulen, Internate und Krankenhäuser entsprechen gemäß dem Liebesmandat Jesu einem Primärzweck pastoraler Arbeit. Was den erstgenannten Bereich betrifft, mögen einige konkrete Angaben die Funktion der "Kirchlichen Aufbauarrleihe" im unmittelbaren Dienste von Sakralbau und Seelsorgebau verdeutlichen, soweit sie den Raum von Wien und Niederösterreich innerhalb der Grenzen der Erzdiözese Wien und diese selbst betreffen:

vm. Mit den Mitteln der Zeit - im Dienste des Apostolats Das Finanzinstrumentarium der Kirche von Österreich hat in der von der Förderungs A. G. getragenen Kirchlichen Aufbauanleihe ein zentrales Rüstzeug erhalten und dieses zielorientiert auch in die Praxis getragen. Freilich entzieht sich der Maßstab für die "cura animarum" der Welt der Zahlen und Figuren, den Abgrenzungen von SoU und Haben, den Kategorien einer sachgemäßen Bilanzlegung. Er entzieht sich dem Wäg- und Meßbaren, weil die Vermittlung der Gnade durch die Spendung der Sakramente und die zentrale Feier der Liturgie sich im geistlichen Sinne "ereignet". Der Heilige Stuhl und seine diplomatische Vertretungsbehörde in Wien setzten in diese Förderungs A. G. und die Kirchliche Aufbauanleihe ihr vo'lles Vertrauen und sind nicht nur nicht enttäuscht, sondern in der seelsorglichen Perspektive voll befriedigt worden. Der jährliche Bericht der Förderungs A. G. an den Heiligen Stuhl wurde mit "Regelmäßigkeit" beurteilt, akzeptiert, anerkannt, belobigt. Freilich handelt es sich bei dieser finanzoperativen Apostolatsbereitung um ein Instrumentarium, das an der Sensibilität der weltweit monetären Problematik aus der Natur der Sache her Anteil haben kann. Zählt doch im ökonomischen Raume unseres Globus die Geldwirtschaft zu den Seismographen der meisten materiellen Existenzbereiche, ausgestattet mit Flächen, deren unübersehbare Teile sich jeder wirklich verläßlichen Prognosestellung entziehen. Soweit die Faktoren "Wissen und Gewissen" den bewährten Laien zuteilgeworden sind, vermag sich aber die Amtskirche ohne Furcht an operativen Hilfsmitteln des Apostolats zu beteiligen, die im Raume des Geld-, Kredit- und allgemeinen Bankgeschäftes ihre Heimstatt haben. Der Herr hat in seinen Gleichnissen auf Erden wiederholt von den "Perlen" gesprochen. Professor Horst Knapp, der Herausgeber der

Wiederaufbau Liebfrauenkirche in 1100, Stefan Fadinger-Platz 1 Neubau Pfarrkirche in 1110, Hasenleitengasse 16 Neubau Pfarrkirche in 1120, Hohenberggasse 42 Neubau Pfarrkirche "Maria Lourdes" in 1120, Tivoligasse 20 Neubau Pfarrkirche in 1140, Wegerichgasse 31 Neubau Pfarrkirche in 1190, Krottenbachstr. 120 1210, Edmund Hawranek-Platz 3 1. Großfeldsiedlung Neubau Filialkirche J oh. Bosco 2. Donaufeld Neubau Auferstehung Christi - Kirche Neubau Pfarrkirche Neubau Pfarrkirche in 1220, Erzherzog Karl-Str. 54 Neubau Pfarrkirche in 1220, Rugierstr.-Kagraner Anger Erweiterungsbau Pfarrkirche in 1220, Gemeindeaugasse 5 Neubau Pfarrkirche in 1235, Färbermühlgasse 6 Neubau Pfarrkirche in 1233, Welingergasse 5

Maria vom Berge Karmel

Neuerlaa

Liesing

Stadlau

Kagraner Anger

Wien-Hirschstetten Neukragan

Wien-Strebersdorf Pfarre Leopoldau

Wien 19, Glanzing

Wien 14, Siedlg. Kordon

Meidling (Tivoli)

Meidling (Gatterhölzl)

Simmering (Hasenleiten)

Neubau Pfarrkirche St. Florian in

Pfarre Matzleinsdorf

1050 Wien, Wiedner Hauptstr. 97

Verwendungszweck

Verwendungsort

1000000,1300000,2400000,250000,12050000,8165000,1000000,9400000,17800000,1000000,2000000,-

7200000,570000,1011 262,29

nicht festgestellt 2700000,5580000,5405000,17477 000,9394000,5948000,9411 000,22546000,2786000,4142000,17679000,11944000,5148000,4259000,-

1957 - 1958 1953 -1959 1956 - 1959 1956 - 1958 1970 - 1974 1969 - 1970 1969 - 1970 1970 - 1971 1970 - 1972 1959 - 1961 1959 - 1960 1959 - 1961 1970 - 1972 1953 - 1955 1960 - 1962

14700000,-

180000,-

davon Kirchliche Aufbauanleihe

14319000,-

Gesamtkosten

1961 - 1963

Bauzeit

Verwendung von Anleihegeldern in der Erzdiözese Wein a)

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1957 - 1958 1957 - 1958 1969 -1972 1970 - 1973 1969 - 1972

Kindergarten Pfarrheim Pfarrhof und -heim Kirche/Pfarrhof Pfarrhof und -heim

4000000,10310000,-

nicht festgestellt nicht festgestellt nicht festgestellt nicht festgestellt nicht festgestellt

nicht festgestellt nicht festgestellt nicht festgestellt

ca.

143069892,43

1300000,75000,6 000 000,20215000,7500000,-

2000000,6000000,750000,70000,700000,-

4420000,4000000,-

5488000,7000000,-

1969 - 1970 1956 - 1959 1959 1974 1959 1958 1958

650000,694892,43

500000,1000000,13737,71 3025000,980000,500000,1500000,850000,300000,-

davon Kirchliche Aufbauanleihe

2000000,1120000,-

über

ca.

1047000,1822000,3032000,5676000,1747000,3463000,4408000,1800000,1726000,-

Gesamtkosten

1958 - 1959 1958 - 1959

1957 1972 1957 1957 1957 -

1953 - 1954 1957 -1958 1965 - 1969 1956 - 1958 1958 - 1960 1959 - 1961 1959 - 1960 1958 - 1960 1957 - 1958

Bauzeit

Zubau Pfarrkirche Marchegg-Bahnhof Kirchenvergrößerung Neubau Herz-Jesu-Kirche (Maria Theresien-Gasse 18 - 22) Kirchenneubau Neubau Herz-Maria-Kirche (Pottendorferstr. 117) Kirchenneubau Pfarrheim Kirche Pfarrhof

Pfarrkirche Pfarrkirche Klamm (am Semmering) Erweiterungsbau der Pfarrkirche Pfarrkirche Erweiterungsbau der Pfarrkirche Erweiterung der Pfarrkirche Pfarrkirche Edlach a. d. Rax Pfarrkirche Katzeldorf a. d. Leitha

Neubau Pfarrkirche in

1238 Wien, Schreckgasse 19

Verwendungszweck

lisch-theologischen Fakultät der Universität Wien, hrsg. v. Univ. Prof. Prälat Dr. Franz Loidl.

a) cfr. Norbert Rodt, Kirchenbauten in Wien 1945 - 1975, ersch. 1979; Norbert Rodt, Kirchenbauten in Niederösterreich 1945 - 1978 (Anteil der Erzdiözese Wien), ersch. 1979 - Veröffentlichungen des Kirchenhhistorischen Instituts der katho-

Wildendürnbach 1050 Wien, Margareten 1210, Groß-Jedlersdorf Eichkogelsiedlung (Guntramsdorf) Leopoldsdorf bei Wien Winzendorf 1030 Wien, Erdberg 1210 Wien, M. Dregergasse Inzersdorf Neustift

Ternitz Wr. Neustadt

Angern an der March Breitenstein Deutsch-Wagram Felixdorf Gänserndorf Hinterbrühl Hirschwang Katzeldorf an der Lei tha -Filialkirche Marchegg-Bahnhof Matzen Mödling

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Verwendungs ort

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258

Robert Prantner

Finanznachrichten in Wien, apostrophierte einmal in liebenswürdiger Sachbezogenheit die Kirchlichen Aufbauanleihen als "Perlen des Anleihemarktes", ohne vielleicht die Originalität des Herrenwortes im Sinne zu tragen. Daß diesen "Perlen" im Dienste des Apostolats eine Fassung zuteil geworden ist, die ihrem Glanze nicht nur Attraktivität verleiht. sondern darüber hinaus im pastoralen und spirituellen Sinne das irdische Gut - das bonum Ecclesiae commune materiale - des Gottesvolkes behütet, ist in letzter Rechtsbezogenheit das Hauptverdienst des Apostolischen Stuhles und seiner sorgsam bemühten Repräsentanten in der Republik Österreich, zu deren signifikantesten Opilio Kardinal Rossi zähUe.

APOSTOLA T IM MISSIONSLAND J APAN* Von Shin Anzai In der Geschichte der christlichen Mission Japans kam nach den 300 Jahren religiöser Verfolgung in der Toyotomi- und Tokugawa-Ära in der Meijizeit endlich das Versprechen der Religionsfreiheit. Das Christentum litt jedoch in der Tat weiter unter den strengen politischen Maßnahmen und unter dem Druck des als Staatsreligion anerkannten Shintoismus. Die Christen haben sich in einer schwierigen Situation behaupten müssen, in der sie, stets unter staatlicher Aufsicht, nur mit Mühe ihren Glauben behaupten und wenig für dessen Ausbreitung tun konnten. Es wäre nicht übertrieben, die Geschichte des Christentums in Japan bis zur Niederlage Japans im Zweiten Weltkrieg als eine Geschichte von Tränen und Blut zu schildern. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als Japan die ersten Schritte auf dem neuen Weg der Demokratisierung zu tun begann, sind die Christen in der Ausübung ihrer Religion wirklich frei geworden. Die Gläubigen hatten sich jedoch im Laufe der langen Geschichte der Unterdrückung daran gewöhnt, sich von dem öffentlichen, kulturellen und sozialen Leben zurückzuziehen und ihr Glaubensleben in der Isolation zu führen. Einerseits fehlte der aktive Wille zur Verbreitung des Christentums, andererseits wieder paßten sich die Gläubigen im alltäglichen Leben ihrer Umgebung an. Angesichts der rasch fortschreitenden Säkularisierung der Gesellschaft, des allzu großen Vertrauens in die Naturwissenschaft, der ein festes geistiges Fundament fehlt, und des wurzellosen Aberglaubens schienen viele Christen zum Teil die passive Haltung eines Zuschauers, zum Teil die eines Mitläufers anzunehmen. Die große Gelegenheit zum apostolischen Einwirken auf die Gesellschaft nach Kriegsende scheint weitgehend verpaßt worden zu sein. Welche sind nun die Voraussetzungen, damit eine neue Generation von Christen die Aufgaben des Apostolats in Japan mit Erfolg erfüllt? Das religiöse Phänomen in der japanischen Gesellschaft heute zeigt recht eigenartige Züge, wie sie wohl sonst nirgendwo auf der Welt zu

* Aus 17·

dem Japanischen übersetzt von Aldko Izumi, Tokio.

260

ShinAnzai

finden sind. Sie führen zu Fragen, welche für das Verständnis der religiösen Anschauungen und Glaubensschemata von Japanern von Bedeutung sind.

I. Naturverehrung Nach der Statistik, die von der Abteilung für religiöse Angelegenheiten der Cultural Agency veröffentlicht wurde, beläuft sich die Gesamtzahl aller religiösen Organisationen in Japan auf 230515 (Stand: 31. 12. 1977). Davon sind 182071 als rechtliche Körperschaften eingetragen, was mehr als die Hälfte aller japanischen Körperschaften überhaupt ausmacht. Die Zahl der Religionslehrer beträgt nach der obengenannten Statistik 602 852. Dies bedeutet, daß von je 200 Einwohnern Japans einer beruflich religiös tätig ist. Laut Zeitungsmeldungen haben in diesem Jahr (1979) über 68,8 Millionen Menschen - also mehr als die Hälfte der Bevölkerung Japans - am Neujahrstag einen buddhistischen Tempel oder einen shintoistischen Schrein besucht. Noch verwunderlicher ist, das die obgenannte Statistik der Cultural Agency die Gesamtanzahl der Gläubigen in Japan als 193563246 angibt, was also die tatsächliche Einwohnerzahl von Japan um über 80 Millionen überschreitet. Dieses Rätsel der Statistik erklärt sich jedoch leicht durch die Tatsache, daß die shintoistischen Schreine sämtliche Einwohner in ihren Gemeindebezirken als ihnen zugehörige Gläubige (Uji-ko) melden und daß die buddhistischen Tempel alle Familienmitglieder sowie Verwandte der zum Tempel gehörigen Familien (dan-sa) als ihre eigenen Gläubigen registrieren. Darüber hinaus übertreiben die religiösen Organisationen bei den Angaben ihre Mitgliederzahl. Trotzdem wird man aber angesichts der genauen Angaben über die Anzahl der religiösen Organisationen und der Religionslehrer und auch der übertrieben gemeldeten Anzahl der Gläubigen Japan wohl ein religiöses Land nennen. Die Koexistenz verschiedener Religionssekten, deren Zahl wohl in keinem anderen Land eine Parallele findet, zeigt, daß die japanische Gesellschaft unterschiedliche Religionen, egal ob monotheistisch oder polytheistisch oder gar atheistisch (wie einige Richtungen des Buddhismus) ziemlich unbekümmert akzeptiert. Das dürfte auf eine Gesinnungsstruktur des Japaners hinweisen, der sich seit jeher, falls er eine übermenschliche, übernatürliche Hilfe benötigen sollte, irgendein göttliches Wesen je nach der Situation und je nach dem Geschmack auswählt. Japan hat ein verhältnismäßig mildes Klima mit gleichmäßig wechselnden Jahreszeiten. Dementsprechend entwickelte das japanische Bauernvolk der Vorzeit seine feine Sensibilität für die Natur und lernte

Apostolat im Missionsland Japan

261

dankbar zu sein für den Segen des Himmels und der Erde. Es zeigte seine Ehrerbietung und Liebe der Natur gegenüber durch Verehrung des "Himmelsgottes" (Amatsu-kami) und des "Erdgottes" (Kunitsukami). Die Naturkatastrophen, denen die Menschen machtlos ausgeliefert sind, wie Taifun, Überschwemmungen, Erdbeben oder Dürre, hielten die Urjapaner für den Zorn der Götter und fürchteten sich davor. Sie haben dann den Göttern See- und Landfrüchte, manchmal auch Menschen, als Opfer dargebracht, um ihren Zorn zu besänftigen. Auf diese Weise entwickelte sich die primitiv-animistische Ansicht, wonach man sich in allen natürlichen Gegenständen und Phänomenen göttliche Macht vorstellte, so daß in engem Zusammenhang mit den Gegebenheiten des Lebens und der Natur allmählich ein Glaube an die personifizierten Götter des Himmels und der Erde, der sogenannte Glaube an die "Acht Millionen Gottheiten" (Yao-yorozu-no-Kami) des Shintoismus heranwuchs.

11. Ahnenkult Der Ahnenkult als eine Glaubensstruktur, die tief im Herzen der Japaner wurzelt, lebt noch in der heutigen Gesellschaft fort, wo viele Menschen das religiöse Interesse verloren haben. Einige interessante Beispiele zeigen sich im Ergebnis der Meinungsforschung, durchgeführt von der japanischen Rundfunk- und Fernsehgesellschaft NHK und veröffentlicht im August 1978. Diese Forschung wurde Februar/März 1978 in Form von Meinungsumfragen durchgeführt Es gab darunter einige Fragen über die Religion: beispielsweise lautete eine Frage: "Glauben Sie an irgendeine Religion?", zu der nur 28,7 0J0 mit "Ja" antworteten. Über die Hälfte, das sind 69,9 0J0 haben "Ich habe keine Religion" angekreuzt. Dies bedeutet, daß weniger als 1/3 der Einwohner Japans einen religiösen Glauben tatsächlich haben. Dieser Prozentsatz entspricht annähernd auch dem Ergebnis der Meinungsforschung, die jedes fünfte Jahr durch das Statistische Amt des Büros des Premierministers durchgeführt wird. Er dürfte als eine realistische Angabe über die Anzahl der tatsächlichen Gläubigen angenommen werden, wie sie sich entgegen von der Cultural Agency veröffentlichten unlogischen Zahlen präsentiert. Trotz dieser niedrigen Zahl der zu einer bestimmten Religion zugehörigen Gläubigen ergab sich in der Umfrage des NHK ein hoher Prozentsatz von Leuten, die die Frage: "Haben Sie ein Gefühl engeren Zusammenhangs mit Ihren Ahnen?" bejaht haben (58,8 0J0). Diese die Anzahl der Gläubigen um 30 0J0 übertreffende hohe Quote weist darauf hin, daß unter Japanern das Gefühl des Verbundenseins mit den Ahnen immer noch existiert.

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Die Frage nach allgemeinen Glaubensvorstellungen: "Haben Sie, wenn auch nur ein vages Gefühl, daß, bitten Sie Buddha oder Gott um irgendetwas, Ihr Wunsch erfüllt wird?" bejahten 52.3 % von ihnen. Aus diesen Antworten läßt sich erklären, daß sich die Japaner im allgemeinen in keine bestimmte Religion mit strengem Dogma, Kult oder Gesetz leicht einfügen lassen, sondern eher dazu neigen, an ein durch menschliche Vernunft unbegreifbares, gnädiges, göttliches Wesen zu glauben, das an der Menschheit Barmherzigkeit übt. Ein Gedicht zeigt diese Zuneigung an: "Irgendetwas" deutlich: Ohne begreifen zu können, was es da gebe, Mir schießen die Tränen, weil ich mich so dankbar -fühle. Und diese Art des Glaubens scheint immer noch unter den modernen Japanern zu bestehen. Im Juni 1966 wurde von dem Sozio-ökonomischen Institut der SophiaUniversität und von dem damals vom Verfasser dieses Aufsatzes geleiteten Japanischen Institut für Religionssoziologie eine Meinungsumfrage unter den erst jährigen Universitätsstudenten von 118 verschiedenen Universitäten im Kantobezirk durchgeführt: Die Studenten reagierten mit geringer Zustimmung auf Thesen wie: "Die Religion ist für den Menschen deswegen wichtig, weil sie das Wahre, das Gute und das Schöne begreifen läßt." Oder "Eine Religion gibt dem menschlichen Leben Bedeutung und zeigt der Menschheit ein Lebensziel", u. s. w., also auf Thesen, bei denen theoretische, dogmatische Behauptungen in den Vordergrund rücken. Im Vergleich dazu war der Anteil der Studenten sehr groß, die den Standpunkt bejahten, daß "Es viele verschiedene Religionen gibt, aus denen man die für sich geeignetste wählen soll" (730/0). Vom Dezember 1970 bis zum Februar des folgenden Jahres erforschte das Japanische Institut für Religionssoziologie in Zusammenarbeit mit dem Erziehungskomitee die Haltung der Jugendlichen gegenüber der Religion unter den Gymnasiasten in Tokio. An dieser Forschung hat der Verfasser auch teilgenommen und beobachtete die deutliche Ablehnung der Jugendlichen gegenüber den überlieferten Religionen. Weniger als 20 % von ihnen haben den Schöpfer bejaht und ebenso wenige die Existenz der shintoistischen und buddhistischen Gottheiten. Einen interessanten Kontrast dazu bildet der hohe Prozentsatz derjenigen, die auf den Satz "Auf einem hohen Berg oder tief in einem Wald habe ich das Gefühl, als würde meine Seele durch irgendetwas Heiliges gereinigt" mit "Ja" beantworteten (über 600/0). Annähernd

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ebenso hoch war die Quote der Zustimmung zum Satz: "Es gehört sich, die Ahnen, die über uns stets mit Nachsicht wachen, zu verehren." Die höchste Zustimmungsquote in dieser Umfrage erzielte die Behauptung: "Ich möchte das mir geschenkte, unersetzbare Leben mit aller Kraft leben." Das ist schon fast eine religiöse Hochschätzung des Lebens, die in den Herzen der Jugendlichen in der profan gewordenen Großstadt immer noch vorhanden ist. Auf Grund solcher Ergebnisse läßt sich der grundlegende geistige Rahmen der Religiosität der Japaner wohl wie folgt zusammenfassen: Die Japaner verstehen das Leben einzelner Menschen im Zusammenhang mit dem geheimnisvollen Lebensstrom, der seit uralter Zeit ohne Unterbrechung bis heute andauert; sie betrachten ihre Ahnen als die sich mit ihnen selbst in einer Kette befindende Lebensquelle und respektieren sie. Gleichzeitig haben sie als religiös zu bezeichnende Dankbarkeitsgefühle gegenüber der fast personifizierten Natur für die Gnade, mit der sie allen lebendigen Wesen das Leben schenkt und pflegt.

111. Die Japanisierung des Buddhismus und die Unterordnung der Religionen unter die Politik Als das Christentum zum ersten Mal in Europa verbreitet wurde, hatte es im wörtlichsten Sinn alle bodenständigen Religionen erobert. Wie eine Flut hat es die verschiedenen Arten von Volksglauben auf diesem Kontinent mit Stumpf und Stiel ausgeräumt und auf dem freigelegten Boden den christlichen Kulturkreis aufgerichtet. Die Einführung des Buddhismus in Japan im 6. Jahrhundert stellt eine andere Art der Religionsverbreitung dar, als es die des Christen.., turns war, zum al deswegen, weil der Buddhismus zwar eine tiefe Lehre beinhaltet, aber einen unbehindert großzügigen Anpassungsspielraum hat. Daher konnte er, wenn auch nicht ganz reibungslos, ohne die polytheistische Religion der Japaner zu verdrängen, in Japan Fuß fassen und nach und nach zu einer Koexistenz mit dem Ur-Shintoismus gelangen. Es war der kaiserliche Hof, der als erster den Buddhismus annahm. Prinz Shotoku Taishi ist heute noch als großer Wohltäter des Buddhismus angesehen, ähnlich wie Kaiser Konstantin im christlichen Europa. Dabei liegt aber ein unabsehbarer Unterschied in der Form der Aufnahme und der Verbreitung beider Religionen: In Europa gewann das Christentum die geistige Souveränität auch über den Kaiser. Der Buddhismus dagegen, gleich wie der Shintoismus, ließ sich der profanen Herrschaft des kaiserlichen Hofs unterstellen und wurde erst dadurch angenommen.

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Der überlieferung nach soll Prinz Shotoku sich selbst zum Buddhismus bekehrt und ihn in aller Frömmigkeit ausgeübt haben. Dies bedeutet allerdings nicht, daß er, wie etwa europäische Kaiser des Mittelalters vor dem Römischen Papst, ein absolutes Bekehrungsbekenntnis abgelegt hätte, sondern eher hat der kaiserliche Hof in der Tat den Buddhismus unter seinen Schutz genommen und sich dadurch die beherrschende Position gesichert. Bei Einführung des Buddhismus in Japan hat sich also der Kaiser, der gleichzeitig der Oberste Priester des Shintoismus war, nicht vom Shintoismus zum Buddhismus bekehrt. Vielmehr wollte er den von altersher ausgeübten Shintoismus durch die Verbreitung des Buddhismus verstärken, und dadurch auch seine eigene Autorität festigen. Darüber hinaus ließ er viele Tempel bauen, durch die das ganze Land unter einheitlicher überwachung regiert werden sollte. Die Aufnahme des Buddhismus in Japan trifft zeitlich mit der Errichtung des zentralisierten Staates mit dem kaiserlichen Hof als seinem Mittelpunkt zusammen. Der Hof nahm also diese Gelegenheit wahr, durch die Förderung des Buddhismus und entschiedene Reorganisation des alten japanischen Glaubens und dessen Kultus eine feste Grundlage für eine politische Beherrschung der Religion zu schaffen. Sehr deutlich zeigt sich diese politische Absicht des kaiserlichen Hofs in einem Erlaß des Kaiser Shomu, der in Nara den berühmten Todaiji Tempel und den Vairocana Buddha errichten ließ: "Mit dem großen Willen des Bodhisattva als Anlaß lasse ich eine Vairocana-Bronzestatue gießen ... und ich bin es, der den Reichtum der Welt besitzt. Ich bin es, der die Macht der Welt besitzt. Mit diesem Reichtum und dieser Macht lasse ich diese Statue gießen." Hier findet man keine Frömmigkeit des Bekehrten mehr, sondern nur den deutlichen Willen zur Selbstoffenbarung als Herrscher des buddhistischen Landes. Hochgeachtet werden sollen nach dem Prinzen Shotoku die buddhistischen Priester, die in dieser Zeit aber unter strenger Kontrolle des Priester- und Priesterinnengesetzes standen. Die Verbreitung des Buddhismus unter dem Volk war verboten. Erst nach Bekehrung der aristokratischen Schicht zum Buddhismus in der Heian-Ära kam der Buddhismus mit den Bürgerschichten in Berührung. Dieser Glaube, ausgeübt durch die Aristokraten, machte aber wiederum keinen Eindruck frommer buddhistischer Gläubigkeit, sondern es scheint eher, daß die Aristokraten die aus China eingeführten Buddhastatuen als eine zusätzliche, an die bisherige Götterreihe angeschlossene Gottheit betrachtet und verehrt haben und zwar deswegen, weil sie von ihr irdische Vorteile für die aristokratische Schicht erwarteten.

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Wenn man die weitere Entwicklung des Buddhismus in Japan beobachtet, stellt man weniger den Vorgang einer buddhistischen Durchdringung Japans als umgekehrt den der Japanisierung des Buddhismus fest. Der Begriff "Verbindung der shintoistischen und buddhistischen Gottheiten" beschreibt die charakteristische Aufnahme und Entwicklung des Buddhismus in Japan, wobei sich der Buddhismus in den in Japan bodenständigen polytheistischen Glauben des Shintoismus und des Ahnenkultes hineinschmelzen ließ. Auf diese Weise findet man den traditionellen Ahnenkult in verschiedenen buddhistischen Zeremonien wieder, und in die Reihe der traditionellen japanischen Götter reihen sich auch die verschiedenen Buddhas; in einem Schrein wird gelegentlich neben den shintoistischen Göttern auch eine Buddhastatue aufgestellt und verehrt, und in einem Tempel stehen neben dem Buddha ein oder mehrere Shintogötter. Beide Religionen schmolzen im wörtlichen Sinne ineinander zusammen und stellten - so gemischt - den Gegenstand der Gebete für die Rettung in der jenseitigen Welt und für die Vorteile im irdischen Leben dar. Die Tatsache, daß sich diese Religionen - abgesehen von der vorstaatlichen Phase - unter Kontrolle und Schutz der profanen Macht entwickelten, führte allmählich zu der Auffassung, daß das profane Leben die Hauptsache sei, der Glaube sekundär, und daß die Religion nur einer der vielen verschiedenen Werte in dieser Welt sei. Gegenüber einer solchen Haltung haben die Religionen keine entscheidende Gegenbewegung unternommen, sondern sie unterstellten sich der Macht, ließen sich den Schutz gefallen und vergaßen ihre Aufgabe, die in der endgültigen Rettung der Menschenseele und der unendlichen Erweiterung des Lebens liegt. Diese Vernachlässigung führte dazu, daß der Buddhismus sowie der Shintoismus nur noch in bäuerlichen Zeremonien und in Begräbnisriten weiterlebten oder aber zu einem magischen Mittel, weltlichen Nutzen herbeizuführen, herabsanken. Und das beschleunigte schließlich in der modernen Zeit und der Gegenwart die Entfremdung zahlloser Menschen von der Religion. So in etwa ließe sich die glaubenspsychologische Struktur des japanischen Volkes und die soziologisch-kulturelle Situation umreißen, in der das Christentum verkündigt werden soll.

IV. Die Glaubensgrundlage der Japaner und die Ansatzpunkte für das christliche Apostolat Die japanische Gesellschaft der Gegenwart ist eine säkularisierte Gesellschaft ohne religiöses Interesse. Die verschiedenen Religionen in

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ihrer Vielfalt werden nur noch als relative Kulturwerte angesehen. Es bleibt dem Geschmack des Einzelnen überlassen, ob er sich einer anschließt oder nicht. Unterschwellig leben aber unter dieser Gleichgültigkeit die religiöse Freude am Leben, Ehrfurcht vor der Natur und die Verehrung der Ahnen, wie sie bereits beschrieben wurden, weiter. Es wäre also in dieser traditionell-modernen geistigen Situation Japans als Missionsmethode nicht geeignet zu versuchen, in allzu kurzschlüssiger Weise die bisherige einheimische Glaubensgrundlage zu verneinen und auszuschließen und in westlich-logischer Denkweise die Absolutheit der Religion in der Form einer systematisierten Lehre zu behaupten. Wenn die Japaner das einzelne Leben als eingebettet in einem Strom, dessen Quelle sie in ihren Ahnen suchen, verstehen, so sollte der Christ darauf Rücksicht nehmen und ihnen helfen, die Quelle des Lebens der Ahnen bis zu Gott hin zurückzuverfolgen. Naturverehrung der Japaner sollte auch nicht einfach als Abgötterei diffamiert, sondern als ein Schritt auf dem Weg der Erkenntnis Gottes anerkannt werden. Mit einem feinen Instinkt nehmen die Japaner den Abglanz des Schöpfers in seinen Geschöpfen wahr. Sie sollten von dort aus zur vollen Erkenntnis Gottes, des Schöpfers, weitergeführt werden. Das Dasein Gottes in europäischer-philosophischer Denkweise logisch zu beweisen, liegt den Japanern von Haus aus nicht. Je klarer ihnen die Existenz Gottes bewiesen wird, desto skeptischer werden sie, wenn sie auch die Klarheit des Beweises an sich theoretisch bewundern. Ein Schüler, der in einer Religionsstunde von seinem Lehrer das Dasein Gottes bewiesen bekam, soll gesagt haben: "Ein Gott, den Sie so klar begreifen können, kommt mir gar nicht mehr wie Gott vor." Auf diese Weise neigen die Japaner dazu, Gott als etwas Unbegreifliches zu verstehen, genau wie in dem oben angeführten Gedicht: "Ohne begreifen zu könne, was es da gebe ... ". Damit soll nicht empfohlen werden, den christlichen Gott der Gottesvorstellung der Japaner entsprechend in einer vagen Form vorzustellen, sondern der Schöpfer des Weltalls und der Gott der Liebe wird dem Herzen der Menschen und insbesondere den Japanern besser nähergebracht im Gebet, Preis, Sühne und Dank als durch theoretische Beweise. Das Christentum ist in Japan eine aus dem Westen eingeführte Religion, die sich in einer westlichen Denkweise und Begrifflichkeit darstellt und vom westlichen Kulturstil geprägt ist. Die aus einem modernen Kulturbereich stammenden Ausdrucksformen, an die sich die japanischen Christen längst gewöhnt haben mögen, wirken auf die Nicht-

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christen oft befremdend und lösen abweisende Abwehrhaltungen aus. Es ist außerordentlich schwierig, den christlichen Anspruch auf Universalität im Medium eines fremden Kulturstils glaubhaft zu vertreten. Hier liegt einer der Gründe, warum man sich für eine Inkulturation der Liturgie einsetzt. Es lassen sich aber liturgische Formen, die sich im Laufe einer langen Tradition entwickelt und heraus kristallisiert haben, nicht über Nacht verändern. In der Zwischenzeit müßte man sich daher bemühen, Menschen, die die Kirche besuchen kommen, mit der christlichen Liturgie aber nicht vertraut sind, so zu begegnen, daß sie in der versammelten Gemeinde Trost und Freude erfahren und daß die in den liturgischen Texten enthaltene ehrfürchtige Haltung Gott gegenüber wie auch die vielen Worte tiefer Lebensweisheit den Weg in ihre Herzen finden. Die christliche Lehre sollte in einer lebendigen Sprache erzählt werden, so daß sie im Herzen des Hörers Widerhall finden kann. Die christliche Verkündigung ist kein philosophischer oder theologischer Unterricht; sie darf auf den einfachen Hörer nicht schwierig wirken, was ihn sonst veranlassen könnte, sich lieber von ihr fern zu halten. Selbstverständlich bedeutet aber eine lebensnahe Verkündigung keineswegs, daß man einen Komprorniß mit der Realität schließen oder das Christentum zu einer bloßen Regel der Lebensklugheit oder zu einem Beruhigungsmittel säkularisieren dürfe. Der Grund, warum viele der in Japan verbreiteten Religionen kein Vertrauen der Menschen mehr genießen und kraftlos dastehen, ist, weil sie sich damit zufrieden geben, bloße Träger gesellschaftlicher Sitten und Zeremonien zu sein und nicht versuchen, eine Antwort auf die seelischen Probleme der Menschen zu geben. Auch jene neugegründeten religiösen Sekten, die durch ihre betonte Aktivität viele Menschen angezogen haben und anziehen, bemühen sich in der Tat nur um Befriedigung materieller oder augenblicklicher Bedürfnisse; sie versuchen, die existenzielle Angst des Einzelnen und das gesellschaftliche Unbehagen mittels eines magischen Glaubens an die zu erlangenden irdischen Vorteile zu besänftigen und zu verdrängen, wodurch sie sich in Wirklichkeit auf dem Weg zurück zu einer primitiveren Lebensphase befinden. Die ersteren überleben nur noch als Folklore und Brauchtum, die letzteren gedeihen durch ihre Wirkung als Kompensation der Unzufriedenheit mit der heutigen Gesellschaft: weder die einen noch die anderen bieten mehr als Komprorniß und Regression. Viele moderne Japaner, die diesen Religionen einen primitiven Konservatismus und Unwissenschaftlichkeit vorwerfen und die Religion

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überhaupt nur als ein überbleibsel vergangener Zeit betrachten, haben mit ihnen eine wissenschaftlich verbrämte utilitaristische Grundhaltung gemeinsam. Ein naiver Diesseitsglaube ist ja seit jeher der Grundton der japanischen Kultur und die heutige Gesellschaft, wenn sie auch dem Anschein nach noch so hoch modernisiert aussehen mag, läßt sich als eine veränderte Form des alten feudalistischen Gesellschaftssystems bezeichnen, in dem die Individuen gänzlich im Kollektiv aufgehen. Man redet zwar viel von der Hochachtung des Individuums und der Gleichberechtigung aller Menschen und aller Berufsstände. In Wirklichkeit ist aber das Ideal des durchschnittlichen Japaners heute, eine berühmte Universität absolviert zu haben, Anstellung bei einer führenden Firma zu finden bzw. die Beamtenlaufbahn einzuschlagen, dadurch zur Ober- bzw. führenden Schicht der Gesellschaft zu gehören und ein sorgenfreies, angenehmes und vergnügliches Leben führen zu können. Wegen einer solchen Karriere tritt man in scharfen Konkurrenzkampf miteinander. Eine Geringschätzung der Person, ja selbst des menschlichen Lebens, das eigene mit eingeschlossen, prägt die Atmosphäre. Dieses überlegenheitsgefühl und die Selbstzufriedenheit der wenigen Erfolgreichen und die Minderwertigkeitskomplexe sowie irritierter Mißmut und Neid der Unterlegenen verflechten sich zu einem seichten Leerlauf eines unerfreulichen und undurchsichtigen Gesamtzustandes. Ohne einen geschärften Unterscheidungssinn können sich auch Christen diesem Einfluß nicht entziehen. Ist für einen Gläubigen einmal das Leben mit allem Komfort das Alpha und Omega von allem geworden, so ist für ihn das Leben nach dem Evangelium nur etwas Sekundäres, was immer er gegenteilig behaupten mag. Er verliert die wahre Freude und Kraft; sein Glauben wird ihm zu einer lebens entfremdeten passiven Pflicht oder zu einer Absicherung seiner Bejahung der faktischen Wirklichkeit. Aus einem solchen Leben kann kein Drang zu einem richtigen Apostolat geboren werden. Fern vom richtigen Apostolat wäre aber auch jene Haltung, in der man - von den Zuständen der Gesellschaft entsetzt - aggressive Fehlmaßnahmen zu deren Reform durchzusetzen versuchte und sich nur um die Lösung sozialer oder wirtschaftlicher Probleme bemühen würde. Sie hätte ebenso wenig mit dem Apostolat zu tun, wie umgekehrt eine Flucht vor den gesellschaftlichen Problemen in Abwehrhaltungen hinein. Selbstverständlich sollten sich die Christen für den Aufbau einer neuen, auf den christlichen Prinzipien ruhenden Gesellschaft einsetzen, ohne mit der bestehenden Gesellschaft Kompromisse zu schließen. Dafür muß sich aber vor allem jeder die Gesellschaft mittragende einzelne

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Christ zuerst selbst reformieren, nämlich mit allen Kräften das neue Leben in Christus anstreben. Eine soziale Tätigkeit, die sich von utopischen Leitbildern führen ließe und nicht unmittelbar eine Fortsetzung des Apostolats wäre, wäre in Gefahr, sich im Leerlauf von Theorie und Kritik zu verlieren. Die Japaner, die in ihrer klimatischen, kulturellen und geschichtlichen Tradition aufgewachsen sind, sind im allgemeinen nicht gewöhnt, von den konkreten Sachverhältnissen Abstand nehmend zu denken. Sie fühlen sich eins mit der Natur und sind begabt, sie in Dichtungen lobzupreisen, mit Geschmack und Kunst ein reiches Gefühlsleben zu gestalten und damit den Alltag zu genießen. Sie hatten aber bisher kaum Gelegenheit gehabt, die andere Seite ihrer Gesinnung zu entwickeln, nämlich durch die Naturphänomene hindurch ihre Gedanken in eine ganz andere, transzendentale Dimension zu erweitern. Daher beschränken sich ihre Gedankengänge - und Forschungsvorhaben auf eine zweidimensionale konkrete Welt. Ihr Begriff von Gott oder von Buddha unterscheidet sich nicht von dem der Natur oder des Menschen, und es ist daher verständlich, daß es ihnen außerordentliche Schwierigkeiten bereitet, den Gedanken von einem einzigen transzendenten, allmächtigen und absoluten Schöpfergott zu fassen, der sich von unserer Denkweise ganz unterscheidet. Zudem neigen sie dazu, sich mit dem Zwiespalt im Wesen des Menschen und mit der daraus entstehenden Angst, die schließlich ihren Gedanken zum Transzendenden und Absoluten führen würde, nicht direkt auseinanderzusetzen, sondern sie auf die Natur- und Gesellschaftsphänomene zu projezieren und auf dieser Ebene eine Lösung zu suchen. Auch die Begriffe der Sünde und des Sündenbewußtseins, obwohl sie gelegentlich sehr stark hervortreten mögen, sind für gewöhnlich nicht sehr tief begründet. Hier dürfte der Grund liegen, warum sich die Japaner zwar die europäische Zivilisation und Kultur überall dort aneignen, wo sie zur Bereicherung und Erleichterung des diesseitigen Lebens beiträgt, das Christentum aber, das die geistige Basis der europäischen Kultur bildet, im allgemeinen nicht annehmen. Die christliche Mission ist in Japan aus diesen Gründen von allen Seiten mit vielen Schwierigkeiten belastet. Im Herzen des japanischen Volkes lebt jedoch die Sehnsucht, Gott zu begegnen und das begrenzte menschliche Leben zum unbegrenzten zu erweitern. Das japanische Volk ist keine stolze Rasse, die sich Gott dämonisch entgegensetzt, wie es in manchen gegenwärtigen Gedankenrichtungen in westlichen Ländern zu beobachten ist.

GEDANKEN ÜBER SCHULAPOSTOLAT UND FAMILIE AUS JAPANISCHER SICHT Von Gustav Voss* In den letzten Jahren ist in vielen Ländern die Notwendigkeit, wenn nicht sogar die Existenzberechtigung der katholischen Schulen vielfach in Frage gestellt worden. Besonders nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil sind die Stimmen, die nach einem größeren "sozialen Einsatz" rufen, selbst auf Kosten des Erziehungs- und Schulapostolats, recht laut geworden. Dieser Ruf mag in einigen Ländern berechtigt sein. In den meisten fernöstlichen Missionsgebieten ist er es nicht. "Ohne unsere Schulen kann die Kirche sich nur schwer halten. Wachsen kann sie nicht." Das ist das Urteil vieler Missionsbischöfe, die in der tagtäglichen Konfrontation sowohl mit den nichtchristlichen Religionen als auch besonders mit den unchristlichen Einflüssen des säkularisierten Westens den Missionsbefehl Christi nur schwer erfüllen können. Die katholischen Schulen hier im Fernen Osten sind nicht nur eine willkommene, sondern eine unbedingt notwendige Missionskraft, in den fortschrittlichen Nationen nicht weniger, als in den Entwicklungsländern. Schularbeit ist Dienst am Kinde. Und zu gleicher Zeit auch Dienst an der Familie und Gesellschaft - immer und überall, aber besonders in Japan, wo das allgemeine Interesse für Erziehung ungewöhnlich stark ist. Zu stark, sogar abnormal, sagen viele. Abnormal besonders in dem Sinne, daß viele, wenn nicht die meisten Eltern weniger an gute Charakterbildung und sittliche Ertüchtigung, als vielmehr an das spätere Fortkommen der Kinder denken. Die Eltern sind außerordentlich bemüht und bringen alle erdenklichen Opfer, um ihre Kinder in sogenannte "gute Schulen" zu bringen, Schulen die einem möglichst hohen Prozentsatz ihrer Abiturienten wiederum den Weg in eine "gute Universität" mit erstklassigen Berufsmöglichkeiten eröffnen. Tatsache ist, daß viele Probleme in der heutigen japanischen Gesellschaft ein Produkt dieses überstarken Dranges zum Akademikerberuf sind. Wie dem

* Der Verfasser wurde 1912 in Dortmund geboren. Er ist seit 1933 in Japan tätig. Sein 1977 erschienenes Buch "An die japanischen Familienväter" erreichte in zwei Jahren einen Verkauf von über 190000 Exemplaren.

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auch immer sei, der gesunde Wissensdurst wie auch die ungesunde überschätzung des wissenschaftlichen Diploms geben der Kirche große Möglichkeiten für ihr erzieherisches und missionarisches Wirken, Möglichkeiten, die den Priestern in den Pfarreien und auf den Missionsstationen so gut wie verschlossen sind, es sei denn, sie haben Kindergärten, die den Priestern den Weg zu den Nichtchristen bahnen. Die große Anzahl der katholischen Kindergärten, von denen weitaus die meisten an Pfarreien angeschlossen sind, sind ein Barometer dieses Phänomens. Der Pfarrer wird nämlich Lehrer, und der "Lehrer" ist in Japan, im Gegensatz zum "nur-Priester", selbst wenn er ein Ausländer ist, immer willkommen. Ihm stehen die Türen offen, die Türen zu den Häusern der Schüler, die Türen auch zu den Herzen ihrer Eltern. Die Eltern hören auf den Lehrer, nehmen gerne Rat und Ermahnungen und Weisungen an, kommen ungeniert mit ihren Fragen und Besorgnissen, und das mit einem Vertrauen und einer Offenheit, die wirklich erstaunenswert sind. Die gründliche Ausbildung des Priester-Lehrers, nicht nur in seinem Lehrfach, sondern besonders auch in Philosophie, Theologie und Pastoral, sprechen die Eltern an und reißen sie mit. Die Schularbeit in den meisten unserer katholischen Schulen geht darum weit über den eigentlichen Schulunterricht und die Führung der Kinder oder Studenten hinaus. Sie umfaßt auch das Elternhaus. Erziehung und Führung der Eltern sind de facto im Schulplan mit eingerechnet. Im Gespräch mit den Vätern und Müttern habe ich oft das Wort "Umerziehung" gebraucht, ohne auf Widerstand zu stoßen und wenn ich den Eltern der Neuschüler zu Beginn des Schuljahres mit "Gehirnwäsche" drohe, schmunzeln sie verständnisinnig. Sie sind ehrlich genug zu bekennen, daß sie über humanistische Erziehung- und Charakterbildung, oder über Herzens- und Gewissensschulung nicht genug Vorwissen und beschämend wenig Selbstvertrauen haben. Der Mangel an Vorwissen in Bezug auf ethische Erziehung hat verschiedene Gründe. Einer ist zweifellos die Tatsache, daß die gesamte Erziehung, selbst die Moral- und Anstandserziehung, mehr und mehr zum Schulmandat geworden ist. Im Denken vieler ist nicht nur die Wissensvermittlung sondern auch die Bildung des ethischen Denkens die Aufgabe des Lehrers mit der Folge, daß die Eltern sich mit vielen Fragen nicht besonders tief befassen. Selbst wenn sie mit dem Denken und Handeln ihrer Kinder keineswegs zufrieden sind, scheuen sie sich einzugreifen, auch wenn die Schule ihren Erwartungen nicht entspricht. Dies ist nicht so sehr ein Mangel an Interesse als ein Mangel an der notwendigen Kenntnis über das Warum und Wie der ethischen Bildung. Da die herkömmlichen einheimischen Religionen (Buddhismus und Shintoismus) im Gegensatz zum Christentum den Eltern nicht mit

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einem konkreten "Moralkodex" zur Seite stehen, sind sie den Fragen ihrer rein materialistisch erzogenen Kinder nicht gewachsen. Ein weiterer Grund, diesen Fragen aus dem Weg zu gehen, liegt in der Tatsache, daß in der japanischen Gesellschaft und darum auch in der Erziehung, die "Tugendbildung" von einer rein pragmatischen "Wissensbildung" überschattet wird. Im Gegensatz zum Erziehungsgrundgesetz (1947), das "die volle Entwicklung der Persönlichkeit" anstrebt, wird Erziehung mehr und mehr nur ein bloßes Sprungbrett von der Volksschule zur guten oder besseren Mittelschule, Oberschule, Universität und Karriere. Und selbst da verschiebt sich der Schwerpunkt auffallend von der Aneignung von Wissen und Fertigkeit auf den Erwerb eines Diploms oder akademischen Titels. Viele Eltern kennen sich daher wohl aus im rein akademischen Schulprogramm, wissen welche Fächer und welche Zensuren notwendig sind, um die Prüfung zu dieser oder jener Schule zu bestehen, laufen sich die Füße wund, um besonders erfolgreiche "Pressen" (Vorbereitungsschulen) auszukundschaften. Das Japanische hat sogar ein Wort dafür: Kyöiku-Mama ("ErziehungsMama ") - ein Euphemismus für das, was nichts anderes ist als eine engstirnige "Karriere-Mama". Da bleibt natürlich für Nachsinnen über Charaktererziehung wenig Raum. Diese Tendenz ist übrigens nicht neu. Sie ist ein Erbe der Erziehung, die seit Beginn der. Meiji-Zeit (1868) besonders an den öffentlichen oder staatlichen Schulen gang und gebe war. Der Schwerpunkt lag nicht so sehr auf Menschenbildung. Das Ziel war, den jungen Staatsbürgern solches Wissen und solche Fähigkeiten anzuerziehen, die zum Aufbau des Nach-Tokugawa-Japan, zur Entwicklung von Technologie, Handel, Wirtschaft und Politik unumgänglich notwendig waren. In anderen Worten, das Ziel war nicht zunächst der "gute Mensch" a:ls vielmehr der "kompetente Staatsbürger", man möchte fast sagen "Entwicklungshelfer", der den neuen Meiji Staat entwickeln und konkurrenzfähig machen sollte. Denn wegen der mehr als 200jährigen rigorosen Abschließung des Landes gegen die Außenwelt, war Japan, trotz der eigenständigen hohen Kultur, ein absolut unterentwickeltes Land, was die Zivilisation anging. Es ist darum nicht zu verwundern, daß die japanischen Staatsmänner und Erzieher das Verlorene möglichst schnell aufzuholen gedachten. Das große, wenn nicht einzige Ziel war, auch in der Zivilisation Europa und Amerika ebenbürtig zu werden, wenn nicht sogar sie zu überholen. Daß dieses Ziel erreicht wurde, ist zum großen Teil ein Erfolg der Meiji- (1868 - 1912) und Taishö- (1912 -1925) Erziehung. Man kann sie ein Ruhmesblatt der japanischen Erziehungsgeschichte nennen. Zur sel18 Festschrift Rossi

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ben Zeit allerdings ist diese Erziehung mit ihrem einseitigen Pragmatismus und krassem Materialismus auch der tiefste Grund einer geistigen und seelischen Verarmung, die sich bis auf den heutigen Tag besonders auch in der Moralerziehung als ein großes Hindernis erweist. Dies ist nicht im Sinne einer negativen Kritik gesagt, denn die Aufgabe, die der Meiji Staat sich stellte, war so groß und gewaltig, daß wenig Zeit und Energie für den geistigen Unterbau des neuen Japans übrigblieb. Die damit verbundene Gefahr wurde schon in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts in den zuständigen Regierungskreisen empfunden. Durch die Meiji Restauration waren nämlich die Tore Japans auch für viele brandneue Ideen und oft widerstrebende, destruktive Geistesströmungen des Westens weit geöffnet worden. Der neue freiheitliche Geist hatte besonders für die Jugend eine große Anziehungskraft, mit dem Erfolg, daß die auf konfuzianischer Ethik beruhende Familien- und Staatsmoral ins Wanken geriet. Der Ruf nach Vorbeugungsmaßnahmen, um den drohenden sittlichen Verfall einzudämmen, wurde immer lauter. Das Resultat war das Erziehungsedikt des Kaisers Meiji vom Jahre 1890. Die Ideen, die Prinz Itö Hirobumi, Premierminister seit 1885, zur neuen Kaiserlichen Verfassung vertrat, die im Jahre 1889 in Kraft trat, finden sich auch in den Unterlagen der Vorbesprechungen, die zum Erziehungsedikt führten. Darin heißt es unter anderem, daß die Moralerziehung in Europa, dank der christlichen Religion, gute Erfolge erziele und gute Staatsbürger erziehe, daß aber in Japan weder der Buddhismus noch der Shintoismus die Kraft hätten, die konfuzianische Ethik und Staatsmoral zu stützen und wirksam zu machen; daß darum die dringende Lösung dieses Problems nur darin bestünde, sich auf das "Kaiserhaus" als Motivationskraft des ethischen Denkens und HandeIns zu stützen. Es würde vielleicht zu weit gehen, das Kaiserliche Erziehungsedikt als eine Imitations- oder Ersatzreligion anzusehen. Sicher aber ist, daß das Edikt auf einen geistigen, wenn auch nur mythischen oder pseudoreligiösen Unterbau für die Moralerziehung bedacht war. De facto hat dieses Edikt, in Verbindung mit der konfuzianistischen Gesellschaftsethik nicht nur den Schulunterricht in der Moral ("Shüshin"), sondern auch das moralische Denken des ganzen Volkes bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges weitgehend geprägt. Und als nach der Niederlage das Erziehungsdekret und der traditionelle "Shüshin"-Unterricht (weil er zur Hochblüte des Militarismus als Hochzüchtung extremer nationalistischer Gesinnungen mißbraucht worden war) für null und nichtig erklärt wurden, entstand ein Vakuum, daß das neue "Erziehungsgrundgesetz" von 1947 nicht hat füllen können. Mit der Abschaffung des Militarismus und des extremen Nationalismus kamen nämlich

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auch die grundlegenden Normen für das ethische Verhalten ins Wanken. Wie unglaublich es auch klingen mag, nicht wenige Eltern zogen den Schluß, daß auch die bis dahin als selbstverständlich angenommene Sittenlehre (Du sollst nicht stehlen, Du sollst Vater und Mutter ehren, und so fort), und sogar die gewöhnlichen Anstands- und Umgangsformen in der freiheitlichen Welt von heute unverbindlich geworden sind. "Leider" fügen die meisten zwar hinzu. Jedenfalls hat dieser erschrekkende Mangel an Selbstsicherheit das moralische Niveau in vielen Familien gewaltig gesenkt. Ein weiterer Grund für den bedauerlichen Mangel an Selbstvertrauen liegt im Verfal'l der Familie, eine Folge gesetzlicher Änderungen im traditionellen Familiensystem, die in vieler Hinsicht die Autorität, besonders die des Vaters, beschnitten. Nicht weniger unheilvoll wirkt sich auch heute noch eine ganz falsche Auffassung der Nachkriegsdemokratie und der "neuen Freiheit" aus. Nicht wenige der heutigen Japaner sehen in der von Amerika übernommenen Demokratie eine "Neue Moral" (was sie nicht ist und als was sie auch vom Erziehungsministerium nie gedacht war). Und die neu erworbene Freiheit, nach jahrzehntelangem überkonservativismus und willkürlicher Despotie, hat bei vielen eine "Laisser-faire Mentalität" erzeugt, die in vielen Eltern (und auch Lehrern) den Willen zur Führung des Kindes und zur moralischen Erziehung überhaupt geschwächt hat. Die Eltern selbst leiden darunter. Sie sind mit sich selbst unzufrieden, wissen aber nicht, was sie tun und lassen sollen. Einen Halt in der sie umgebenden Gesellschaft finden sie nicht, denn im alltäglichen Leben und auch in der Berufstätigkeit werden die Werte der alten Tradition überschattet von einer rein materialistischen, nur auf Geld, Profit, Vergnügen und Karriere gerichteten Wertskala, die den Japanern den wenig schmeichelhaften Spottnamen "economic animaI" eingebracht hat. So leben viele Japaner heute, mehr denn je zuvor, in einem geistigen Vakuum. Viele, ohne es zu merken. Andere mit einem nostalgischen Heimweh nach der verlorenen Vergangenheit. Und viele, sehr viele in der Tat, suchen nach neuen Werten, nach mehr menschenwürdigen Idealen, nach einer gesunden und soliden menschlichen Bildung, nach moralischen und religiösen Hilfen. Die öffentlichen und auch meisten weltanschaulich neutralen Privatschulen bieten ihnen keine oder nur wenig Hilfe. Wie schon gesagt, verschwand nach dem Kriege, im Verlauf der von den amerikanischen Besatzungsmächten überwachten Schulreform, der traditionelle Moralunterricht zeitweise aus der Schule. Als Japan mit dem Friedensvertrag 18·

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von San Francisco 1952 seine Unabhängigkeit wiedergewonnen hatte, war die Wiedereinführung des Ethikunterrichts eine der ersten Maßnahmen, die das Erziehungsministerium gegen den harten Widerstand der Linksparteien und der Lehrergewerkschaft durchführte. Aber der Inhalt der neuen Ethik in der Oberschule ist bestenfalls eine bloße Geschichte der Moral und der europäischen und asiatischen Geistesströmungen. In der Volks- und Mittelschule wird, im Sinne des Erziehungsgrundgesetzes, die Entwicklung der Persönlichkeit, die gesund an Körper und Geist ist, Wahrheit und Gerechtigkeit liebt, die Arbeit hochschätzt und Sinn für Verantwortung hat, stark betont. Aber das wichtigste in der Menschenbildung, die Erziehung nämlich zum selbständigen Urteilsvermögen über Gut und Böse wird kaum berührt, was auch nicht zu verwundern ist. Denn eine solche Erziehung ist nur möglich, wenn sie von einem einheitlichen Menschenbild und einer klaren Weltanschauung getragen ist. Da diese Bedingung in der gewöhnlichen Schulerziehung nicht erfüllbar ist, macht die Moralerziehung halt beim bloßen "Wachsenlassen" a la Rousseau. Sie kann anregen, aber führt nicht. Nicht die Jugend. Und noch viel weniger die Eltern. Aber Führung und Hilfe ist, was die Eltern brauchen und wollen. Dies ist die Aufgabe, die unsere katholischen Schulen in Japan leisten können und auch wirklich leisten - im Dienst an der Jugend und ihren Eltern - ein eminent sozialer Dienst, denn er ist die Antwort auf eine der dringendsten sozialen Nöte im heutigen Japan. Hin und wieder wird den katholischen Schulen in Japan vorgeworfen - oft auch von kirchlichen Kreisen -, daß sie nur dem "Reichen" helfen, noch "reicher" zu werden. Angenomm~m, daß viele unserer Schüler "reich" sind - finanziell gesehen, was übrigens keineswegs allgemein gesagt werden kann - in menschlicher und moralischer Hinsicht sind sie es nicht. Wenn man an das moralische Vakuum in der Familienerziehung denkt, ist Japan sehr, sehr "arm". Wenn man dazu bedenkt, daß die Schüler und ihre Eltern für unsere Ideen und Grundsätze aufnahmebereit sind, daß sie auch ihrerseits große Opfer bringen, um unsere Schulen besuchen zu können, daß wir durch sie in die japanische Gesellschaft Zutritt haben und zu deren moralischen Besserung essentiell beitragen, und wenn wir darüber hinaus die Rolle bedenken, die Japan als Führernation im fernöstlichen Raum spielt, dann können und müssen wir ehrlich sagen, daß die katholische Schule in Japan nicht nur existenzberechtigt, sondern ein Gebot der Stunde ist. Vor nicht langer Zeit sagte mir ein hoher Beamter im Erziehungsministerium: "Sie sind Präsident des nationalen katholischen Schulverbandes. Gründen Sie mehr Schulen. Sie haben etwas, was die japa-

Gedanken über Schulapostolat und Familie aus japanischer Sicht

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nische Erziehung nicht hat, was sie aber braucht." Und er fügte hinzu: "Was wir Japaner brauchen." Zum Abschluß ein Wort über die Art und Weise unserer Elternführung. Als Beispiel möge eine unserer Jesuitenschulen dienen, deren Direktor ich für 30 Jahre war. Die Elternführung ist sehr vielgestaltig, und zur selben Zeit sehr konkret. Persönliche Aussprachen mit dem Lehrer; Hausbesuche des Paters, der für einen bestimmten Jahrgang verantwortlich ist; nach Jahrgängen getrennte Elternversammlungen, deren Besuch oft über hundert Prozent liegt (weil nicht selten beide Eltern kommen); dazu noch bisweilen Mütterkreise und Vätertreffen, die letzteren meistens in Form eines geselligen Zusammenseins, wobei ein kühles Glas Bier hilft, die hin- und wieder bitteren Pillen, die wir ungeniert verabreichen, hinunterschlucken zu können. Hier sind einige der Themen, die wir an unserer Schule regelmäßig behandeln: "Elterliche Autorität", "Die Stellung des Vaters in der Familie", "Religion und Erziehung", "Massenmedien, ihre Reize und Gefahren", "Demokratie in der Familie?", "Erziehung zum Gehorsam und zur Selbständigkeit", "Gedanken zur Berufswahl". Solche und ähnliche Themen bilden den Ausgangspunkt für Diskussionen über Probleme der Gesellschaftslehre, Moral und Religion und über die ewig aktuellen Fragen nach dem Wie und Warum des menschlichen Daseins. Bei diesen Treffen sind natürlich alle Berufe vertreten, was die Diskussionen lebhaft und oft äußerst heikel macht und schwer für den Pater, denn er muß auf alle möglichen Fragen Rede und Antwort stehen. Dies ist keine geringe Belastung, denn um anerkannt zu sein und gehört zu werden, muß er sich nicht nur in diesen Diskussionen wacker schlagen können, sondern er muß auch als Priester-Lehrer in seinem Fach den Mann stellen, was natürlich auch ein fortgesetztes gründliches Fachstudium erfordert. Aber so zeitraubend und mühselig diese Elternbetreuung auch ist ich selbst habe oft in einem Schuljahr über 60 solcher Treffen besucht - die Erfolge sind wirklich greifbar. Der gute Ruf unserer Schulen als akademisch hochstehend und zugleich erzieherisch fortschrittlich und gesund, ist ohne Zweifel eine Frucht dieser intimen Zusammenarbeit zwischen Elternhaus und Schule. Missionarisch gesehen sind die Erfolge dieses Schulapostolats auch groß und greifbar. Zwar haben wir weniger Taufen als vor zehn oder fünfzehn Jahren, aber die Pfarreien und Missionsstationen berichten von gleichen Erfahrungen. Trotz allem finden viele Schüler und Eltern den Weg zum Glauben, viele während der Schulzeit, nicht wenige später, nach dem Abgang von der Schule. Aber die Anzahl der Taufen

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ist nicht der einzige Erfolgsmaßstab. Einer der Väter unserer Abiturienten fragte bei der Gratulationsfeier nach der Diplomüberreichung, warum denn die Eltern kein Diplom bekämen. "Wir haben ebenso viel und ebenso fleißig gelernt, wie unsere Jungen, vielleicht sogar mehr." Und ein anderer fügte im Namen vieler lächelnd hinzu: "Herr Direktor, bitte vergessen Sie uns nicht. Wir Väter halten zusammen, und wir hoffen Sie oft zu treffen, selbst wenn Sie uns wieder ausschimpfen sollten." Dies ist nur ein Zeichen dafür, wie eng verbunden die Eltern mit der Schule sind. Und diese enge Verbundenheit wird bestimmt Frucht tragen. Wann? Das überlassen wir dem Herrgott. Unsere Aufgabe ist es, den guten Samen zu säen. Der Herr der Ernte wird zu seiner Zeit den Samen wachsen und Frucht bringen lassen. Das Katholische Schulwesen in Japan: Statistiken vom Jahre 1979/80

Anzahl Institutionen 11 31 1 113 91 52 25 617 941

Schüler- bzw. Studentenzahl

Universitäten und Colleges ......................... . Junior Colleges ..................................... . Höhere Technische Lehranstalt ........... . ......... . Oberschulen .. " .......................... .. ....... . Mittelschulen ....................................... . Volksschulen ...................................... . . andere Schul arten . .. .. . . .... . ......... . .. . ........ . Kindergärten ....................................... .

24170 11526 1330 70324 27609 22568 7800 120634 285961

Anmerkung über Altersstufen: Volksschule 6 - 12 Jahre, Mittelschule = 12 - 15 Jahre, AHS-Oberschule = 15 - 18 Jahre, Junior College = 18 - 20 Jahre, Universität = ab 18 Jahren.

CHRISTLICHES APOSTOLAT IN INDIEN· Von Jessie Tellis-Nayak

I. Einleitung Indien ist ein großer Subkontinent Asiens mit einer Bevölkerung von über 600 Millionen. Nebeneinander blühen hier die großen Religionen: Hinduismus, Islam, Buddhismus, Jainismus, Stammes religionen und Christentum. Christen - Katholiken und Protestanten - stellen eine sehr kleine Minderheit von bloß zwei Prozent der Bevölkerung des Landes dar. Und doch kann in bestimmter Weise gesagt werden, daß ihre Präsenz in vielen Bereichen des nationalen Lebens (wie Erziehung, Gesundheit, Entwicklung oder Kommunikation) spürbar ist. Christus befahl seinen Aposteln: "Gehet hin und lehret alle Völker und taufet sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes." In diesem Sinne brachte der Apostel Thomas als erster das Christentum zu den Küsten Indiens. Für mehrere Jahrhunderte haben indische Christen jedoch nicht aktiv zur Verbreitung der Kirche bzw. zu dem beitragen, was man das christliche Apostolat nennen könnte. Indien war so in weitem Maße vom hl. Franz von Xaver und anderen Missionaren abhängig, die aus Europa und später aus Amerika kamen, um das Evangelium zu predigen. Heute hat sich die Situation jedoch drastisch gewandelt. Die Beschränkungen, denen die Regierung ausländische Missionare unterworfen hat, hat die indischen Christen in den Stand gesetzt, den Auftrag Christi ernst zu nehmen. In dem Sinne, wie "Apostel" soviel meint wie "Gesandter", hat jeder Christ als Mitglied der Kirche eine Sendung. Diese Sendung erfüllt er auf vielfache Weise gemäß den Prioritäten und Talenten, die ihm eignen, und auch gemäß jenen Prioritäten, die die Kirche von Zeit zu Zeit setzt. In den ersten Jahrhunderten kam das Christentum nach Südindien, und die Kirche faßte festen Fuß in Kerala, Tamil Nadu, Karnataka und Goa. Im Laufe des 19. Jahrhunderts brachten Lutheraner, Anglikaner und Katholiken das Wort Gottes zu den Stämmen von Chotanagpur in • Aus dem Englischen übersetzt von Heribert Franz Köck, Wien.

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Bihar, zu einer Zeit, wo sich diese ihrer Ausbeutung durch mächtige Grundeigentümer oder Händler bewußt waren. Der Schutz, den ihnen diese Missionare, die mit dem Los der ehrlichen und einfachen Ureinwohner sympathisierten und sich mit ihnen identifizierten, angedeihen ließen, hatte zur Folge, daß diese der Kirche in großer Zahl beitraten. Ganze Dörfer traten über. Auf diese Weise faßte das Christentum, das dem Norden Indiens fremd war, in Chotanagpur festen Fuß, wo es seither stets geblüht hat. Es hat den dortigen Menschen nicht nur das Licht des Lebens gebracht, sondern ihr Leben in vielfacher Weise verbessert. Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil haben die Christen untereinander Brücken geschlagen. Ungeachtet ihrer kleinen Zahl wurde ihre Stärke und Vitalität 1979 demonstriert, als Mr. Tzagi, ein Mitglied der Janata-Partei, damit drohte, im Parlament ein "Gesetz über Re'ligionsfreiheit" einzubringen, das die Minoritäten bei der Verbreitung ihrer Religion Beschränkungen unterworfen hätte. Die friedlichen Protestmärsche in Delhi, Chotanagpur, Bombay, Goa, Bangalore, Mangalore, Madras, Kerala und in vielen anderen Orten, an denen sich viele beteiligten, waren für Regierung und Nichtchristen eine überraschung, und mehrere der letzteren sprachen sich ebenfalls gegen das Gesetz aus. Die Führung der Kirche besonders im Norden wird durch Personal aus Chotanagpur, Kerala, Goa, Bombay und Mangalore besorgt. 11. Das christliche Apostolat Wie haben die Christen in ihrem Vaterland ihre Präsenz sonst noch demonstriert? Das Leben Christi auf Erden kann man wie folgt zusammenfassen: Er betete, er lehrte, er heilte, und er speiste die Massen. Das christliche Apostolat in Indien hat dergestalt viele Dimensionen, je nach den Charismen der einzelnen und der Gruppen, die die Kirche bilden. 1. Gebet und Betrachtung Christen als Gemeinschaft legen großen Wert auf das Gebet. Kirchenbauten, Gebetsräume und Schreine sind ein sichtbarer Ausdruck der Präsenz christlicher Gemeinschaften in ganz Indien. Kleine Gruppen von Priestern und klaustrierten Schwestern sind über die verschiedenen Teile Indiens hin verstreut - selbst im Herzen Benares', der heiligen Stadt der Hindus (Varanasi) -, Gott verherrlichend und ohne Unterlaß für die Führer des indischen Volkes, seine Massen und für sich selbst betend. Gebete formen die größte Quelle, aus der der Kirche für ihr Leben und ihre Aktivitäten Kraft zufließt. Öffentliche Gebetstreffen, Eucha-

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ristische Prozessionen, der Internationale Eucharistische Kongreß in Bombay, Weihnachtsmessen unter freiem Himmel und Einkehrtage für Nicht-Christen ziehen Respekt und Bewunderung von Seiten der Hindus und Moslems auf sich. Christ zu sein ist eine Ehre, auch wegen der friedlichen und geordneten Demonstrationen ihres Glaubens und wegen der herrschenden Bewunderung für ihre organisatorischen Fähigkeiten. 2. Aktivitäten "An ihren Früchten wird man sie erkennen"; und Christen, wo immer sie als Einzelpersonen oder in Gruppen auftreten, sind oft der einzige Kontakt, den Nicht-Christen mit der Kirche Christi haben. Tatsächlich strahlen viele Laien, Männer und Frauen, ob sie nun als Beamte oder Angestellte in Büros oder Spitälern arbeiten, Christus aus und legen so von ihm in stiller Weise Zeugnis ab. Der große Beitrag jedoch, den diese einzelnen erbringen, mag von Seiten der Amtskirche nicht immer die rechte Anerkennung finden, wo das Hauptaugenmerk auf organisierten Bemühungen unter kirchlicher Leitung liegt; und doch zeigt es sich, daß diese einzelnen Christen manchmal durch ihr Leben und ihre Arbeit die wahren Apostel darstellen. 3. Ausbildung Das Bild der Kirche wird im allgemeinen durch ihre organisierten Aktivitäten geprägt, die sehr häufig von Priestern und Schwestern geplant und gestaltet werden. In Folge dessen wird ein großer Teil des Einsatzes des kirchlichen Personals und der kirchlichen Mittel auf die Ausbildung und Formierung von Priestern und Ordensleuten gewendet und nicht genug auf die Bildung von Laienführern, um in der Welt christliches Zeugnis abzulegen.

HI. Die Laienschaft Christliche Kinder und Jugendliche erhalten Erziehung in kirchlichen Einrichtungen; darüber hinaus formen auch Organisationen wie die "Kreuzfahrer", die Sodalen, die Legio Mariae, die christliche Arbeiterjugend, die All-Indische Katholische Universitätsstudenten-Verbindung, die Katholische Union Indiens und der Rat Katholischer Frauen in Indien die Laienschaft, nicht durch ihre Ausbildungsprogramme, sondern mehr spezifisch durch ihre Aktivitäten; und so entstehen Laienführer. Man geht jedoch nicht fehl in der Feststellung, daß der Dynamismus dieser Organisationen mehr vom Kaplan und den religiösen Leitern abhängt als von den Mitgliedern als solchen. Was mag wohl der

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Grund für diese Lage der Dinge sein? Die Laienschaft hat den Priester und die geistlichen Schwestern viel zu sehr verehrt. Das hat zur Ausbildung eines "traurigen Selbstbildnisses" und damit zu einem Mangel an Selbstvertrauen geführt - nicht in der Ausübung ihres jeweiligen Berufs, aber in den kirchlichen Angelegenheiten und Aktivitäten. Die Rolle des Kaplans bzw. Leiters der Organisation ist aber tatsächlich nicht immer klar. Zweitens hat die Unsicherheit des Klerus und der Bischöfe eher zu Unsicherheit und Angst vor der, denn zu Vertrauen in die Arbeit einzelner mit hervorragender Persönlichkeit geführt. Daher mußten viele ihre Aufgaben außerhalb des eigentlichen kirchlichen Bereiches erfüllen. So hat die Kirche manchmal einzelne dieser Giganten verloren oder diese dazu gebracht, die Kirche zu verwerfen. Drittens wurden die Laienorganisationen nicht unter den Auspizien einer einzigen Kommission der katholischen Bischofskonferenz Indiens zusammengefaßt, was wohl zur Förderung einer starken Laienbewegung geführt hätte. Sie sind vielmehr in eine Zahl von Kommissionen aufgespalten, was sie ihre Stärke verlieren läßt, anstatt eine gemeinsame Bemühung in die Wege zu leiten. Viertens ist es um die theologische und philosophische Ausbildung der Laienschaft, verglichen mit der der Priester, sehr schlecht bestellt. Dies hat die Laienschaft stets in eine nachteilige Position gebracht, wann immer es zu einer Diskussion über die Lehre oder die Angelegenheiten der Kirche gekommen ist. Fünftens haben Seminare und Konferenzen, die zu dem Zweck organisiert wurden, die vom Zweiten Vatikanum gestatteten Veränderungen durchzuführen, nur einen mikroskopisch kleinen Teil der Laienschaft erreicht, weH die Laien hauptsächlich damit beschäftigt sind, im Bereich ihres Berufes und ihrer Familie das Auslangen zu finden. Das hat ihnen nicht immer dazu verholfen, ihrem Denken im Vergleich mit den Priestern und Schwestern weiterzuhelfen. Das hat oft zu gespannten Verhältnissen und Beziehungen geführt, insbesondere in Zusammenhang mit der Einführung liturgischer Änderungen in der Kirche Indiens.

IV. Die Ordensleute Kleinere und größere Seminare haben sich darauf konzentriert, einen bodenständigen Klerus für Indien heranzubilden. Dies war insbesondere in jenem Zeitpunkt ein Vorteil, als der Zufluß ausländischer Missionare beendet werden mußte. Die Kirche in Indien hat nunmehr eine indische Hierarchie, mehrere tausend Priester, ungefähr 40 000 Schwestern und ca. 20 Säkularinstitute.

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Die religiösen Orden haben ihre eigenen Bildungshäuser, und die Diözesanseminarien sind gewöhnlich mit genügend Personal irgendeines religiösen Priesterordens versehen. Die Bibliotheken dieser Institutionen haben im Laufe der letzten Jahrzehnte einen beträchtlichen Reichtum an Wissen in der Form von Büchern, Magazinen und Dokumenten angehäuft. Aber die Seminarien waren eine Bastion der Männer. Sehr wenige Seminarien haben Frauen zur geistlichen Ausbildung aufgenommen. Ein paar Frauen dringen nun hier oder dort in die Seminarien ein, aber im allgemeinen sind diese ohne jeden Kontakt zur Laienschaft, Männern oder Frauen. Die auf das Zweite Vatikanum folgende Periode hat großen Nachdruck auf eine "gute spirituelle und intellektuelle Ausbildung" der Schwestern gelegt. Viele ihrer Noviziate lassen ihre Leute wenigstens ein Jahr lang im Institut Mater Dei in Goa oder in jenem von Sudeep in Bangalore oder in anderen entsprechenden regionalen Instituten ausbilden. Diese Hebung des Niveaus bedeutet eine bessere Selektion des Nachwuchses und Möglichkeiten für eine ganzheitliche Entwicklung der jungen Schwestern. Auf der anderen Seite ist der in diesen Bildungsstätten herrschende Lebensstandard derart, daß die Kluft zwischen den Religiosen und dem Volk vergrößert wird. Daher pflegen manche aufmerksame Laien zu Priestern und Schwestern die Bemerkung zu machen: "Ihr habt das Gelübde der Armut und wir praktizieren es." Wenn die Kirche in Indien den Armen tatsächlich näherkommen will, muß einmal der Einfluß eines derartigen verwestlichten Lebensstil auf das Leben und die Amtsausübung des kirchlichen Personals genauer unter die Lupe genommen werden.

v.

Indianisierung

Papst J ohannes XXIII. öffnete die Türen und Fenster der Kirche weit, um frischen Wind hereinzulassen. Dies hat der Katholischen Kirche einen größeren Gesichtskreis verschafft. Es ließ Lokalkirchen erkennen, daß sie ihren Beitrag zum Leben des Volkes Gottes zu leisten haben. Dies aber hat bedeutet, daß die Kirche in Indien die Weltkirche durch ihr "Denken" und ihre "Kultur" bereichern konnte. In diesem Sinn können Inder nunmehr mit Stolz feststellen, daß aus ihren Reihen hervorragende Theologen und Denker der christlichen Kirchen hervorgegangen sind, deren Stimmen auf der ganzen Welt in kirchlichen Fragen gehört wurden. Aber mit Ausnahme von vielleicht einer oder zwei einsamen Stimmen schweigen alle, wenn große Fragen, die für das Leben der Menschen von vitaler Bedeutung sind, im Land diskutiert werden.

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Das Nationale Katechetische und Liturgische Biblische Zentrum von Bangalore hat sich besonders bemüht, die Hindu-Kultur zu verstehen und verschiedene Elemente derselben in unsere eigenen Gottesdienstformen einzubeziehen. Es ist nunmehr nicht ungewöhnlich, christliche Gruppen Hymnen im indischen Stil singen zu hören, indische Stoffe oder Muster für kirchliche Kleidungsstücke verwendet oder Leute die Messe auf dem Boden sitzend mitfeiern zu sehen. Die Darbringung der Messe in der Landessprache ist nun allgemein. Latein ist praktisch verschwunden. Wird uns dies unseren indischen Brüdern näher bringen? Das wird sich erst weisen. Die lokalen Sprachen führen sicherlich dazu, daß sich Christen in ihrer Kirche mehr zuhause fühlen; andererseits splittert dies auch Pfarrgemeinden in Sprachgruppen auf und verhindert gemeinsames Handeln. In Chotanagpur hat die Kirche erfolgreich Lieder, Tänze und andere Elemente der Stammeskulturen in den kirchlichen Gottesdienst eingebaut. Pastoralinstitute in Patna, Kerala und anderen Regionen haben das kirchliche Personal, und insbesondere Katechisten, in die Lage versetzt, ihre Methoden in Katechese, Liturgie und Verkündigung des Wortes Gottes auf den 'letzten Stand zu bringen. Diese Katechisten, die ganz gewöhnliche Laien sind, stellen ein besonders wichtiges Instrument für die Aufrechterhaltung des Lebens der Kirche in abgelegenen Dörfern oder Dschungeln dar.

VI. Erziehungs- und Ausbildungsbereiche 1. Schulische Erziehung Von allen Arbeiten der Kirche in Indien ist ihr Unterrichtsapostolat am besten bekannt. Seine prächtigen Schulen, die Arm und Reich offenstehen, haben insbesondere in Südindien Bildungschancen in gleicher Weise für Christen, Hindus und Moslems geschaffen. Im Süden werden Schulen unter kirchlicher Leitung von der Regierung unterstützt. Sie unterhalten gute Erziehungs- und Disziplinstandards und helfen bei der Formung der Auffassungen der Kinder und Jugendlichen. Die Idee für eine institutionelle Expansion begann besonders nach der Unabhängigkeit Gestalt anzunehmen. Man ging davon aus, daß Schulen und Universitäten der beste Weg zum Dienst am Lande und gleichzeitig zur Zeugnisablegung für Christus wäre. Daher gab es in den Siebzigerjahren eine rasche Ausweitung kirchlicher Colleges, um Platz für die Absolventen jener höheren Schulen schaffen zu können, die in früheren Jahrzehnten eröffnet worden waren. Die Vermehrung der Bildungsinstitutionen kann teilweise auf die Minoritätshaltung der Kirche und auf ein Gefühl der Unsicherheit

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zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit (1947) zurückgeführt werden. Nationale indische Führer waren unter dem Eindruck der Forderung der Moslems nach einem unabhängigen Pakistan gegen Konversionen, weil sie ein Anwachsen der christlichen Gemeinschaft fürchteten. Bekehrungsarbeit, so wähnten sie, führe zu Spannung und Wettbewerb zwischen religiösen Gruppen. Daher öffneten christliche Führer Schulen, um die Kooperation dominierender Elemente der Hindugesellschaft zu erhalten. Heute ist die Nachfrage nach einem Platz in christlichen Schulen so groß, daß dies den unter Platzmangel leidenden technischen Leitern derselben einiges Kopfweh bereitet. Auch die Bildungsinstitutionen für Mädchen haben sich, Dank der großen Zahl von Frauenorden, stark vermehrt. Die den Schwestern auferlegten Beschränkungen haben dieselben gezwungen, sich eher für eine Tätigkeit im Rahmen einer solchen Institution zu entscheiden, als hinauszugehen und mit dem Volk zu arbeiten. Dieser Trend ändert sich nunmehr. Heute - insbesondere auf Grund des Umstandes, daß in Nordindien die christlichen Schulen keine Unterstützung von Seiten der Regierung nehmen - geht die von ihnen vermittelte Bildung in erster Linie zu den begüterten Klassen. Selbst arme Christen werden dadurch oft ausgeschlossen. Wenngleich diese Schulen Kanäle großen Einflusses sind, ziehen sie Kritik und die Feindschaft jener auf sich, die keine Zulassung erlangen. Wichtiger noch: mit dem heutigen Augenmerk auf die Armen und Ausgebeuteten werden diese Schulen von Kritikern innerhalb der Kirche als Instrumente der Ausbeutung angesehen. Diese meinen, daß derartige Schulen zwar Kanäle für den Aufstieg von Kindern gehobenerer Klassen darstellen, die Armen aber vernachlässigt werden. Verschiedene Kongregationen haben sich daher entschlossen, ihre Schulen aufzugeben oder sich auf Schulen in den regionalen Sprachen zu beschränken. 2. Außerschulische Erziehung

Schulische Erziehung für Kinder und Jugendliche vom Kindergarten bis zur Universität und in Berufsbereichen ist vielen unserer religiösen Orden gleichsam zur zweiten Natur geworden. In den Stammesgebieten von Chotanagpur wurde vor etwa zehn Jahren ein Erziehungsprogramm für Mädchen auf dem Stand des Analphabetismus begonnen, das Grihini-Training genannt wird. Dies trug in großem Maße dazu bei, Unwissenheit zu vermindern und arme Mädchen auf das Leben als Erwachsene vorzubereiten. Ein Netz solcher Schulen besteht nunmehr nicht allein in Stammesgebieten, son-

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dern auch in anderen Teilen des Landes. Das Programm wird von Schwestern unter Mithilfe von Laien durchgeführt. Die Grihini-Schulen, die sich auf die Analphabeten konzentrieren, haben andere Frauen dazu inspiriert, den Frauen in den Dörfern dadurch Erziehung zu bringen, daß sie mit ihnen im Dorf in genauso ärmlicher Art leben wie das Volk, oder aber durch kleine mobile Teams, die von Dorf zu Dorf ziehen. Die Regierung Indiens begann 1978 in großem Stil mit einem nationalen Erziehungsprogramm für Erwachsene. Der Nachdruck lag dabei nicht sosehr auf Alphabetisierung, sondern darauf, die Leute in den Stand zu setzen, sich in der Umwelt, in die sie gestellt sind, besser zurechtzufinden. In vielen Teilen des Landes hat sich die Kirche darangemacht, Personen für die Durchführung dieses Programmes auszubilden sowie Literatur für den Gebrauch der Neuzubildenden zu entwikkeIn. Das Lucknow Literacy House, das von Welthy Fisher gegründet wurde, hat bei der Entwicklung neuer Methoden Pionierarbeit geleistet, aber auch bei der Ausbildung von Personal und der Herstellung von Literatur, die nun der gesamten Hindi-Region dient. Jene, denen die "Befreiung des Volkes" am Herzen liegt, finden dieses Programm eine Herausforderung und eine Chance, Erwachsene der Situation, in der sie sich befinden, und der Ausbeutung, der sie unterworfen sind, bewußt zu machen. Sie hoffen, daß das so geschaffene wache Bewußtsein einzelne und Gruppen in die Lage versetzen wird, das Joch, das sie versklavt, abzuwerfen. Lange vor dem Beginn dieses Programms sind Christen schon beschuldigt worden, durch finanzielle Mittel die Armen ins christliche Lager zu ziehen. Zwei Staaten setzten offizielle Kommissionen ein, die die Missionsmethoden untersuchen sollten. Anti-Bekehrungsgesetze wurden in Orissa und Madya Pradesh erlassen. Tatsächlich ist es jedoch nicht die Liebe zum Hinduismus, die Antagonismus zu den Christen entstehen läßt. Vielmehr liegen dem wirtschaftliche Fragen zugrunde. Harijans und Stammes angehörigen, die einmal dem christlichen Lager beigetreten sind und sich der Bildungsmöglichkeiten bedient haben, können nicht mehr ausgebeutet oder zu Robotleistungen verhalten werden. D. h., daß Grundeigentümer und Geldverleiher von der Unwissenheit des Volkes keine reiche Ernte mehr einbringen können. Daher entstehen Ressentiments gegen jene, die das Volk von Armut und Unwissenheit befreien.

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VII. Gesundheitswesen Der Bereich der Gesundheit oder der Dienst des Heilens ist ein anderes Apostolat, für das die christliche Kirche wohlbekannt ist. Das Netz der Krankenstationen für die Armen in ländlichen oder Slum-Gebieten, die Spitäler für die Kranken oder von Aussatz befallenen, die Schulen für Krankenschwestern und verschiedene medizinische Colleges hohen Rang,es lassen die Präsenz der Kirche im Dienst der Kranken und Leidenden sichtbar werden. Dieser hingebungsvolle Dienst wird von den christlichen Krankenschwestern und Ärzten aber nicht nur in ihren eigenen Spitälern und Stationen geleistet, sondern auch in staatlichen Einrichtungen. Die in großer Zahl auch an Nichtchristen gegebene Ausbildung hat zu Erzielung eines hohen Standards für Ärzte geführt. Ausgaben für ärztliche Behandlungen steigen, sobald die in Anspruch genommenen Dienste komplizierter werden. Dies führt dazu, daß die Kosten für die Erhaltung der Gesundheit außerhalb des Bereiches der Armen liegen. Die Spitäler werden größer und das Service unpersönlich. Die Krankheiten werden nicht unter Kontrolle gebracht, der Kranken immer mehr. Alle diese Faktoren haben die christliche Kirche gezwungen, ihre eigene Orientierung einer Überprüfung zu unterwerfen. Ein hervorragendes christliches Paar aus Maharasthra, heide Ärzte, genannt die Aroles, hat bei der Ausbildung der gewöhnlichen, völlig ungebildeten Dorffrauen für die Aufdeckung normaler Krankheiten und die Förderung der Gesundheit und des Wohlbefindens von Kindern und Erwachsenen eine wichtige Rolle gespielt. Sie haben Hunderte von ihnen ausgebildet, um in den Dörfern Dienst zu tun. Die Freiwillige Gesundheits-Vereinigung von Indien unter der Führung von Christen hat das Spitalspersonal im ganzen Land in die Lage versetzt, sich in dieser Richtung neuorientieren zu lassen. Mobile Teams sind nun am Lande tätig, die die Mauern ihrer Institutionen verlassen haben und mithelfen, Männer und Frauen als "Gesundheitsförderer" für im Dschungel weitverstreute Dörfer heranzubilden. Der Einfluß dieses Systems macht sich dort, wo das Programm bereits arbeitet, bemerkbar: in der Hebung des Standards der Gesundheit bei der ländlichen Bevölkerung, in der Verminderung der Ausbreitung der Malaria, aber auch im Rückgang des Spitalsbelages in einzelnen Teilen des Landes. Gleichzeitig wird auch reinem Trinkwasser, sanitären Einrichtungen für die Gemeinschaft und der Kontrolle der Fliegen Aufmerksamkeit gewidmet.

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VIII. Entwicklung 1. Hilfsmaßnahmen

Die Kirche in Indien wie überall auf der Welt ist bekannt für ihre Sorge für Weisen und Arme. Der größte Teil der kirchlichen Arbeit in den vergangenen Jahrzehnten hat sich auf Hilfs- und Karitativmaßnahmen beschränkt. Akte der Caritas wurden ermutigt und in den Herzen der Christen die Sorge für die Armen zu einem Anliegen gemacht. Sie wurden gedrängt, aus ihren eigenen Mitteln dazu beizutragen, die Armen zu speisen und zu kleiden. Diese Art der Tätigkeit wird noch immer fortgesetzt. Die Kleinen Schwestern der Armen sorgen für die armen Alten. Verschiedene Kongregationen haben seit Jahrhunderten Kinderheime unterhalten. Die Arbeit der Mutter Teresa und ihrer Missionare der Liebe (Missionaries of Charity) haben die Aufmerksamkeit auf die Armen in den Städten und jene gelenkt, die auf der Straße sterben. Die höchste nationale Auszeichnung - der Bharat Ratna - und der angesehene Nobelpreis wurden ihr für ihr furchtloses Eintreten für das menschliche Leben verliehen. Wenn eine Flut eine Gegend verwüstet, ein Zyklon Zerstörung anrichtet oder eine Hungersnot das Leben der Menschen dahinrafft, ist die Kirche mit Freiwilligen, mit Material- und Sachleistungen rasch bei der Hand, zusammen mit der Regierung und anderen Institutionen. 2. Sozialarbeit

Während diese Hilfstätigkeit fortgesetzt wird, haben sich seit 1950 viele Priester, Schwestern und Laien mit Berufsausbildung in der Sozialarbeit engagiert. Es ist ihr Eindruck, daß sie von der christlichen Botschaft dadurch Zeugnis ablegen können, daß sie zur sozialen BessersteIlung des Volkes beitragen. In Chotanagpur dagegen geht Evangelisierung und Entwicklung nunmehr seit fast einem Jahrhundert Hand in Hand, ohne davon viel Aufhebens zu machen. Das von Jesuiten getragene Indische Sozial-Institut hat in diesem Bereich Pionierarbeit geleistet und seit nahezu vier Jahrzehnten auch Führungskräfte bereitgestellt. Indem diese bei sich selbst anfingen und skh um eine höhere Bildung in den Sozialwissenschaften bemühten, haben sie ihre High-School- und besonders ihre Universitätsstudenten in Aktionsprogrammen in Dörfern und armen städtischen Bereichen eingesetzt - sie auf diese Weise in direkten Kontakt mit dem Leben der Armen bringend. Diese Erfahrungen haben dazu gedient, bei den Studenten Geschmack für Sozialarbeit zu entwickeln und sie später einen verwandten Beruf ergreifen zu lassen.

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Hand in Hand mit praktischer Erfahrung wurden informelle Kurse in Sozialarbeit als Freifach für jene angeboten, die dieses Gebiet studieren wollten. Auf diese Art konnte die Arbeit mit Harijans oder Aussätzigen oder der Besuch von Spitälern in systematischerer Weise durchgeführt werden. Mit der allmählichen Zunahme von berufsbildenden Schulen für Sozialarbeit wurden diese Kurse eingestellt. Postgraduierten-Vollkurse wurden und werden angeboten von: St. Agnes College in Mangalore, Roshni Nilaya School of Social Work, Stella Maris College, Loyola College, Madras, Sacred Heart College, Kerala, Nirmal Niketan, Bombay und Seva Niketan, Bhopal. Viele andereexistierten unter den Auspizien privater oder universitärer Einrichtungen. Kirchliches Personal nützte diese Berufsausbildung. 3. Sozio-ökonomische Entwicklung

Als ein Ergebnis der Community Development Programmes der indischen Regierung, wurde die Ausrichtung der Sozialarbeit, die in erster Linie auf die Förderung der sozialen Befähigung von Individuen, Gruppen und Gemeinschaften abzielte, geändert. Soziale wie auch wirtschaftliche Wohlfahrt des Volkes erfuhr Aufmerksamkeit, um Armut zu beseitigen. Regierungsgelder wurden Gemeinschaften für solche Projekte zur Verfügung gestellt, die ihnen nützen konnten. Dies jedoch mehr zielgerichtet. Die Planung geschah von oben nach unten anstatt umgekehrt. Das nationale Community Development Programme während der Sechzigerjahre begann, auf die Kirche in Indien, die sich eher langsam der Feldarbeit zugewandt hatte, einen Einfluß auszuüben. Wieder war es das Indische Sozia'l -Institut, das durch seinen Hilfsdienst lokalen Sponsoren half, Projekte und Programme für sozio-ökonomische Entwicklung zu planen und durchzuführen. Der Umstand, daß Fonds von Seiten der Regierung und von Geldgeberorganisationen in übersee zur Verfügung standen, trug dazu bei, eine Partnerschaft für Entwicklung aufzubauen. Der Hilfs-Dienst bildete eine Brücke zwischen Sponsor und Donor, indem er Grundstudien anstellte und gangbare Projekte auf der Grundlage des Notwendigkeitsgrades förderte. Das Trainingscenter des Indischen Sozial-Instituts in Bangalore bot kurze Kurse an, in denen das kirchliche Personal Entwicklungstheorie studieren und spezielle Fähigkeiten für Hilfsleistungen erwerben konnte. Seine Kursteilnehmer kamen nicht bloß aus ganz Indien, sondern auch aus anderen Ländern Asiens. Einige von ihnen erwiesen sich im Bereich der Aktionen als äußerst dynamisch. Später wurden derartige Kurse am Nava Nirmana-Sozial-Institut in Madras und Seva Sadan, Bhopal, angeboten. Beide Einrichtungen bieten aber derzeit zwei- bis dreijährige Kurse an. 19 Festschrift Ross!

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Die Forschungsabteilung des Indischen Sozial-Instituts unternahm eine Studie über die Bemühungen der Kirche im Bereich der sozioökonomischen Entwicklung und des Gesundheitswesens in sechs Distrikten von Bihar. Der Bericht des Chotanagpur-Projektes von Francis Ivern wurde 1968 publiziert. Die Ergebnisse dieser Studie bildeten die Grundlage des All-Chotagnapur-Seminars, das in Mandar Anfang 1968 stattfand. Christen und Kirchenführer lebten, arbeiteten und beteten zum ersten Mal zusammen, und dies führte zur Bildung eines Komitees, das den verschiedenen Kirchen helfen sollte, zusammenzuarbeiten und auch die Arbeit des anderen zu unterstützen. Seit nunmehr fast einem Jahrzehnt hat Vikas Maitri - das Ergebnis des Komitees mit Laien fungiert, die selbst Stammesangehörige sind und den Dienst auf der untersten Ebene leisten, um den anderen Stammesangehörigen ihr Leben in mehr als 156 Dörfern zu verbessern. Caritas India der Katholischen Bischöfe Indiens, welche sowohl mit Hilfs- als auch mit Entwicklungsfragen befaßt ist, ist eine zentrale Agentur. Heute geht der Trend dahin, Diözesen zu ermutigen, Strukturen zu entwickeln, die in der Lage sind, sozio-ökonomische Entwicklungsprogramme planen und durchführen zu können. Die Indo-German Social Service Society, die Organisation, durch welche das westdeutsche Misereor seine Gelder verteilt, stimuliert und unterhält Entwicklungsaktivitäten in allen Teilen Indiens. Vieles an Führung und Arbeit dieser Agenturen ist in den Händen dieser wohlausgebildeten Mitglieder der Laienschaft, die die meiste Feldarbeit verrichtet und in weitentfernte Gebiete reist, um die ihr zugewiesene Aufgabe zu erfüllen.

4. Sozio-poZitische Analyse Mit den Mitteln der raschen Kommunikation von heute strömen Personen, Bücher und Ideen von einer Region der WeIt in die andere. Die marxistische Auffassung von der Gesellschaft und ihre Methode, mit dem Volk zu arbeiten, haben ihre Auswirkungen auf einen beträchtlichen Teil der Religiosen und Laien in Indien gehabt. Die Theologie der Befreiung, die in Lateinamerika entwickelt wurde, und Paulo Frures Schriften sind auch bis hieher gelangt und werden von diesen Gruppen wohl aufgenommen. Daher hat ein überdenken des Apostolats der Kirche begonnen. Zwei Denkrichtungen können mit ziemlicher Klarheit festgestellt werden, die einander diametral gegenüberstehen. Dieses gegenwärtige überdenken ist eine Erkenntnis - wenigstens von Seiten einiger weniger - der Gefahr, die einer ausschließlich tech-

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nologischen, ökonomischen oder paternalistischen Auffassung zugrundeliegen. Die Bildungsinstitutionen englischer Tradition werden mit der Behauptung in Frage gestellt, sie kämen den Reichen entgegen und schlössen die Armen aus. Gleichzeitig sieht man auch die Folgen von Entwicklungsbemühungen, die nur die Kluft zwischen Reich und Arm, zwischen Mann und Frau erweitern. Insbesondere die letzteren kommen im Bereich der Entwicklung kaum vor. Selbst Nonnen und Priester beginnen nach zwei Jahrzehnten Entwicklung Fragen zu stellen. Sie überprüfen sich selbst hinsichtlich der Bedeutung ihrer religiösen Berufung. Sie meinen, daß eine Hingabe an die Armen der fundamentale Aspekt dieses Geistes sein mü!!se. Sie werden nun auch gewahr, daß die meisten Kongregationen und Institutionen mit dem Ziel gegründet wurden, den Armen zu dienen. Aber im Laufe der Zeit geriet irgendetwas außer Kontrolle - Geld, Macht, Berühmtheit, hohe Standards und Fragen der Effektivität haben entscheidende Bedeutung erlangt. Daher haben die Armen keinen Platz gefunden, sondern scheuen sich, in diese großartigen Bauwerke und diesen durch überfluß gekennzeichneten Lebensstil einzutreten. Diese Gruppen wollen ihre Verpflichtung erneuern und dergestalt fortsetzen, daß sie Christus als Wiedergeborenen darstellt. Ihn, der einer unter den Menschen wurde und die Welt erlöste. Sie betrachten ihr religiöses Leben als die Fortsetzung seines Lebens, der sich für die Menschen hingegeben hat. Diejenigen, die diese Haltung vertreten, legen der Strukturanalyse und der politischen Aktion vorrangige Bedeutung bei. Sie identifizieren sich mit Christus dem Befreier als ihrem Modell und wollen am Akt der Befreiung des Volkes von ungerechten Strukturen teilnehmen. Sie konzentrieren sich auf menschliche Hilfsquellen und die Anwendung nichtschulischer Bildung, durch die das Volk organisiert werden kann, als die einzige Aktionsweise. Einige von ihnen organisieren die Unterdrückten durch Bewußtmachung ihrer Lage und bereiten sie so auf Rollen von Agenten der Veränderung und für die politische Aktion vor. Andere haben "Volksteilnahll'le" oder Entwicklung zur Teilnahme als vorderstes Element ihrer Aktionsideologie und sehen die Konfrontation nicht als absolute Notwendigkeit an, wenngleich nur sehr wenige sie völlig ausschließen. Dies alles beruht auf der Annahme, daß das lokale Volk die Güter hervorbringen kann, daß die Menschen die größten Hilfsquellen sind und daß man ihnen die größte Wichtigkeit beimessen sollte. Anstatt sie als die Nutznießer ihrer Aktionen zu betrachten, sehen sie sie nur als Agenten der Umwälzung.

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Jessie Tellis-Nayak

IX. Kommunikationsmittel Christliche Missionen in Indien haben sich immer des geschriebenen Worts bedient, um das Evangelium zu verbreiten. Gesellschaften haben die Bibel in viele indische Sprachen übersetzt. Diese übersetzungen sind nicht nur den Gläubigen, sondern auch anderen zugänglich gemacht worden. Damit existieren Druckerpressen unter christlichen Auspizien in verschiedenen Teilen Indiens. Viel christliche Literatur ist aus diesen Zentren gekommen. Zeitungen und Zeitschriften haben vor allem die Christen informiert - nur wenige zielen auf die Allgemeinheit ab. Radio ist in Indien von der Regierung kontrolliert. Die christlichen Kirchen haben Pionierarbeit bei der Erstellung von Radioprogrammen geleistet, die von Radiostationen innerhalb und außerhalb des Landes ausgestrahlt werden und ihren Hörern religiöse Programme vermitteln. Erst in letzterer Zeit ist auch die Katholische Kirche der Wichtigkeit inne geworden, die Massenmedien zu nutzen. Die Medienkommission der Katholischen Bischofskonferenz Indiens (C. B. C. I. Communication Commission) hat Wichtiges dadurch geleistet, daß sie verschiedene Personen die Massenmedien hat studieren lassen. Das Xaver-Institut für Kommunikationswesen hat im letzten Jahrzehnt begonnen, Studenten auszubilden. Im Bereich des Kinos und des Fernsehens hat die Kirche bisher noch keine Initiative entwickelt. Hier handelt es sich um ein weit offenes Feld für christliches Apostolat. Die Kirche muß erst noch ihre spezifische Rolle in diesem Bereich entdecken.

X. Folgerungen In diesem Artikel konnte nur ein überblick über das christliche Apostolat in Indien gegeben werden. Er ist mehr deskriptiv als analytisch. Er gibt auch keine Hinweise auf Bücher oder Artikel in diesem Bereich. Trotzdem scheint er geeignet zu sein, einem ausländischen Leserkreis eine allgemeine Vorstellung über die vielen verschiedenen Auffassungen über das christliche Apostolat in Indien zu vermitteln. Die Präsenz der Kirche muß sich erst noch in vielen Bereichen fühlbar machen - so sind Christen, mit wenigen Ausnahmen, bis jetzt noch nicht in der politischen Arena daheim, wo wichtige Entscheidungen betreffend das Leben des Volkes faHen. Auch im Geschäftsund Handelsleben ist bis jetzt nur sehr wenig christlicher Einfluß spürbar. Die Kirche hat sehr gebildete Christen hervorgebracht. aber

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nur wenige haben im intellektuellen Bereich Führungsqualität gezeigt, etwa durch ihre Schriften. Christen sind eine Minoritätsgemeinschaft, und so kann vielleicht von ihnen nicht zuviel erwartet werden. Man kann aber sagen, daß sie sich dadurch bemerkbar gemacht haben, daß sie dem Volke dienen. Jai Hind! (Vivat India!)

CHRISTLICHES APOSTOLAT UND INTERNATIONALE ORDNUNG Von Heribert Franz Köck

A. Das christliche Apostolat Wenngleich der Begriff des Apostolats, jedenfalls i. w. S. genommen!, ein umfassender ist und die gesamte Tätigkeit der Kirche und aller ihrer Glieder in Ausübung ihrer spirituellen Mission begreift 2 , so handeln wir hier im Zusammenhang dieses, dem Präsidenten des Päpstlichen Laienrates gewidmeten Werkes, nur vom Apostolat der Laien, wie denn auch der terminus technicus "Apostolat" sich im heutigen Sprachgebrauch in erster Linie auf das Laienapostolat bezieht3 • Die Geschichte des Laienapostolats, die in dessen heutiger Form eine relativ junge ist" wird im vorliegenden Band an anderer Stelle ausführlich dargelegt 5 und wurde schon vor Jahren in seinem Wesen, seinem Inhalt und seiner Form so mannigfaltig beleuchtet6 , daß dies alles hier vorausgesetzt werden kann7 • Damit können wir mit unserem Bei1 Im Gegensatz zum engeren Begriff des (Laien-)Apostolats entspricht der weitere dem Verständnis von der Kirche, wie es auch in der Dogmatischen Konstitution über die Kirche Lumen gentium des Zweiten Vatikanischen Konzils, 57 AAS (1965), 5 ff., Art. 1, zum Ausdruck kommt: "Die Kirche ist ja in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit... Zit. nach der im Auftrag der deutschen Bischöfe besorgten, von den deutschen Bischöfen genehmigten verbesserten Fassung der deutschen übersetzung, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Das Zweite Vatikanische Konzil I (Freiburg 1966), 157. 2 Vgl. das Dekret über das Apostolat der Laien Apostolicam actuositatem des Zweiten Vatikanischen Konzils, 58 AAS (1966), 837 ff., Art. 2: ,,[D]ie Kirche verwirklicht [das Apostolat], wenn auch auf verschiedene Weise, durch alle ihre Glieder; denn die christliche Berufung ist ihrer Natur nach auch Berufung zum Apostolat." Zit. nach der im Auftrag der deutschen und österreichischen Bischöfe besorgten übersetzung, in: Lexikon für Theologie und Kirche [LTK], Das Zweite Vatikanische Konzil II (Freiburg/Br. 1967), 603 ff., auf 607. 3 über das Wesen des Laienapostolats vgl. ibid., Artikel 2 ff., sowie den dazu dort abgedruckten Kommentar von Klostermann, 606 ff. 4 Vgl. dazu Köck, "Pius XII. und das Apostolat der Laien", Gedächtnisschrift für Pius XII. (hrsg. von Schambeck, Berlin 1977), 427 ff., auf 429 ff. S Vgl. insbes. den Beitrag von Scheuermann, 69 ff. S Vgl. insbes. Klostermann, Das christliche Apostolat (1962).

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trag gleich in medias res gehen und jenen spezifischen Aspekt des christlichen Apostolats beleuchten, der sich auf den internationalen Bereich und seine Ordnung bezieht.

B. Der internationale Bereich Unter "internationalem Bereich" i. w. S. wird jener (und jeder) Bereich verstanden, der über die Grenzen nur eines Staates hinausgeht8 • Soweit aber nur der Bereich internationaler Ordnung in Betracht kommt9, interessieren hier lediglich jene Phänomene, die eine konkrete rechtliche Gestaltung erfahren haben. Dies gilt sowohl für die zwischenstaatliche Ordnung, und zwar schlechthin wie auch dort, wo sie zur Friedenswahrung10 oder internationalen Zusammenarbeit U organisiert worden ist, als auch für jenen privaten internationa'len Bereich, der herkömmlich der Regelung des Internationalen Privatrechts unterworfen wurde 1! und in dem heute zahllose private internationale Organisationen angesiedelt sind13 • Damit ergeben sich für unsere Untersuchung über christliches Apostolat und internationale Ordnung je zwei Schwerpunkte in materieller und in formeller Sicht. Materiell wh·d einmal über die christliche Gestaltung der internationalen Ordnung überhaupt und dann über ihre konkrete institutionelle Ausgestaltung unter den Bedingungen der Welt 7 Nach Apostolicam actuositatem gehören zum Laienapostolat einerseits das Zeugnis christlichen Lebens, andererseits auch die eigentliche Verkündigung der frohen Botschaft von Jesus Christus. Vgl. Art. 6. 8 In diesem Sinn versteht Scelle, Manuel elementaire du droit international public (Paris 1943), die Gesamtheit der zwischen den Völkern bestehenden Beziehungen, insbesondere auch der privaten. 8 Und nich etwa auch das gute BeispIel des Urlaubers im Ausland, obwohl auch dieses unter den weiteren Begriff des Laienapostolats fällt, wie das Dekret über das Laienapostolat betont: "Wer aber auf Reisen ist - mögen internationale Angelegenheiten, wirtschaftliche Interessen oder Freizeit der Anlaß dazu sein -, soll bedenken, daß er überall auch wandernder Bote Christi ist; er soll sich als solcher auch in der Tat verhalten." Zit. nach 647 (Art. 14). 10 Also im früheren Völkerbund und in den heutigen Vereinten Nationen. 11 Also in den sog. Verwaltungsunionen wie Weltgesundheitsorganisation und dgl. 12 Das internationale Privatrecht ist in der Regel innerstaatliches Recht, und zwar jene Kollisionsnormen, die angeben, welches staatliche Recht anzuwenden ist, wenn der gegebene Sachverhalt Beziehungen zu mehreren Staaten aufweist. Dabei ist der einzelstaatlichen Zuständigkeit zur Setzung internationalen Privatrechts allerdings vom Völkerrecht gewisse Grenzen gezogen. Vgl. Makarov, "Internationales Privatrecht und Völkerrecht", Wörterbuch des Völkerrechts II (begr. von Strupp, hrsg. von Schlochauer, Berlin 1961), 129 ff., auf 129. 18 Das Yearbook of International Organizations 1978 nennt über 2400 derartige Organisationen.

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von heute zu handeln sein; formell über die Beteiligung der katholischen Laien an dieser Entwicklung, sei es im Rahmen der katholischen internationalen Organisationen, sei es durch ihre Tätigkeit bei zwischenstaatlichen Organisationen und Institutionen. Da die auf die internationale Ordnung bezogenen überlegungen die Basis für das konkrete Tätigwerden bilden oder doch bilden sollten, sollen sie zuerst dargestellt werden, während dieses konkrete Tätigwerden selbst danach zu beleuchten ist.

c.

Die cllristliche Gestaltung der internationalen Ordnung I. Das kirdllicbe Lehramt und seine Aussagen

Wenn wir hier von den Enunziationen des kirchlichen Lehramtes sprechen, so meinen wir hiemit das kirchliche Lehramt i. w. S., das auch die Äußerungen des kirchlichen Hirtenamtes umfaßt, und zwar deshalb, weil sich die meisten dieser Aussagen nicht auf eine diesbezügliche Offenbarung" berufen können, sondern lediglich die im Lichte derselben betrachtete natürliche Ordnung des Menschen, der Gesellschaft und der internationalen Gemeinschaft mit Hilfe der menschlichen Vernunft darlegt15 • Wenngleich diese Aussagen des kirchlichen Hirtenamtes keine Unfehlbarkeit beanspruchen können1& und grundsätzlich nur das Gewicht der von ihnen angeführten Argumente besitzen17, stellen sie heute doch aufgrund der großen Tradition der innerkirchlichen Naturrechtslehre auch auf dem Gebiet der internationalen Ordnung18 eine geradezu unentbehrliche Hilfe1' nicht bloß für eine grundsätzliche Orientierung, sondern auch für konkretere Planungen in diesem Bereich dar!o. U Vgl. dazu Köck, "Zur Frage der Zuständigkeit der Kirche für Naturrecht", Ordnung im sozialen Wandel - Festschrift für Messner zum 85. Geburtstag (hrsg. von Klose / Schambeck / Weiler I Zsifkovits, Berlin 1976), 75 ff., auf 83 ff. 15 Es gilt somit die Feststellung Schambecks, "Idee und Lehren des Naturrechts", Festschrift für Messner zum 70. Geburtstag (1961), 436 ff., auf 443 : "Die Kategorie [des Naturrechts] hat Ewigkeitswert, nicht aber ihre AnWendung und deren Ergebnisse." . Vgl. Köck, "Zur Frage der Zuständigkeit der Kirche für Naturrecht", 88ff. 17 Vgl. ibid., 89. 18 Vgl. dazu Verdross, Völkerrecht (5. Aufl. Wien 1964), "Die Grundlegung des positiven Völkerrechts durch die spanische Moraltheologie", 97 ff.; dens., Abendländische Rechtsphilosophie (2. Aufl. Wien 1963), "Die Begründung der Völkerrechtslehre (Vitoria)", 92 ff., und "Krönung und Abschluß der spanischen Rechtsphilosophie (Suarez)", 96 ff.; auch Köck, "Das Zeitalter Karls V.", Mitteilungsblatt der Vereinigung der Caballeros von Yuste im deutschen Sprachraum (1979/1V), 18 ff. 11 So auch die Selbsteinschätzung des Heiligen Stuhls; vgl. seine auf der United Nations Conference on Science and Technology for Development vorgelegte lErklärung (hektographiert verteilt).

1.

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Wir beschränken uns hier auf die Nennung der einschlägigen lehramtlichen Äußerungen in diesem Jahrhundert. 1. Pius X. (1903 - 1914)

Von diesem "unpolitischen" Papst liegen fast nur sehr allgemeine Erklärungen über den Frieden vor, die hinter der Konkretheit der Aussagen, die Kardinalstaatssekretär Rampolla namens seines Vorgängers, Papst Leos XIII. (1878 - 1903), im Notenwechsel mit dem russischen Außenminister Graf Murawjew aus Anlaß der Vorbereitung der 1. Haager Friedenskonferenz von 1899 gemacht hatte, zurückblieben 2!. Erwähnenswert ist lediglich das Schreiben Pius' X. an den damaligen Apostolischen Delegaten in Washington, Msgr. Falconi, vom 11. Juni 1911 22 , das als Erklärung der moralischen Unterstützung für das Carnegie Endowment for International Peace gedacht war. Es handelt von Recht und Gerechtigkeit als den Grundlagen des Friedens 23 • 2. Benedikt XV. (1914 - 1922)

Dem ersten Weltkrieg und/oder der Sache eines baldigen bzw. gerechten Friedens gewidmet sind vor allem seine folgenden Äußerungen: (a) die (Antritts-)Enzyklika Ad beatissimi apostolorum principis vom 1. November 191424, die die Gründe für den Kriegsausbruch und die Mittel für eine rasche Abhilfe untersucht; (b) die Friedensbotschaften vom 28. Juli 1915 25 und vom 1. August 1917 26, von denen besonders letztere ganz konkrete Vorschläge dafür macht, wie dem Krieg (und 20 ,,[D]as kirchliche Amt [ist] sehr geeignet und zwar einmal wegen der Interdependenz zwischen Naturrecht und den Glaubenswahrheiten des depositum fidei, andererseits wegen der Möglichkeiten, auf eine bedeutende Anzahl entsprechender Fachleute greifen zu können -, naturrechtliche Aussagen von hoher Qualität machen zu können. Was ihnen daher an formeller Autorität abgeht, können sie durch materielle Autorität wettmachen. Diese Aussagen werden ... allen jenen eine bedeutende Hilfe bei der Fällung ihrer in den Rahmen des Naturrechts fallender Entscheidungen sein, die aus verschiedensten Gründen nicht in der Lage sind, selbst Naturrechtsdoktrin ,zu treiben' ... " Köck, "Zur Frage der Zuständigkeit der Kirche für Naturrecht", 93. 21 Vgl. dazu Köck, "Papsttum, Weltfriede und Völkerbund. 1899 - 1919: Der Kampf um eine institutionelle Sicherung des Friedens", 15 Römische Historische Mitteilungen (1973), 143 ff., auf 144 ff. 22 Das Schreiben abgedruckt bei Goyau, "L'Eglise catholique et le droit des gens", 6 Receuil des Cours de l'Academie de droit international de la Haye (1925), 127 f. 23 Vgl. Köck, "Papsttum, Weltfriede und Völkerbund", 157. 24 6 AAS (1914), 630 ff. 25 7 AAS (1915), 372 ff. es Offizieller französischer Text in 9 AAS (1917), 417 ff.

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Kriegen überhaupt) durch einen gerechten und dauerhaften Frieden ein Ende gesetzt werden könne 27 • (c) Die Enzyklika Quod iam diu vom 1. Dezember 1918 28, die aus Anlaß des Kriegsendes erging und die Aufgaben der zukünftigen Pariser Friedenskonferenz hinsichtlich der Schaffung eines gerechten und dauerhaften Friedens behandelte; sowie schließlich (d) die Enzyklika Pacem, Dei munus pulcherrimum vom 23. Mai 1920 29 , die die Grundlagen eines funktionierenden Völkerbundes darlegte. 3. Pius XI. (1922 - 1939)

Seine (Antritts-)Enzyklika Ubi arcano Dei vom 23. Dezember 192230 forderte die Umgestaltung der internationalen Gemeinschaft und einen Völkerbund, der Recht und Gerechtigkeit derart verwirkliche, daß auch dem Heiligen StuhPl eine Teilnahme möglich werde. Darüber hinaus stellte er in seiner am 29. Juni 1923 ergangenen Enzyklika Studiorum ducem 32 die Lehren des Thomas von Aquin heraus und trug damit nicht nur zu einer näheren Befassung auch mit dessen Thesen betreffend Krieg und Frieden bei, sondern bewirkte gleichzeitig auch eine Renaissance der christlichen Völkerrechtslehre auf jener Grundlage, wie sie einstens die Scholastik der Neuzeit in der Schule von Salamanca und deren Ausstrahlung in andere Zentren (Coimbra, Rom) formuliert hatte 33 • Vom konkreten Völkerbund enttäuscht34, wandte sich Pius XI. in der Folge mehr der Sicherung der Position des Hl. Stuhls zu, die ihm mit 27 Vgl. dazu Köck, Die völkerrechtliche Stellung des Heiligen Stuhls (Berlin 1975), 622; dens., "Um zum Frieden zu gelangen, zum Frieden erziehen Betrachtungen zur Friedensrnission der katholischen Kirche", Die Weltfriedensbotschaften Papst Pauls VI. (hrsg. von Squicciarini, Berlin 1979), 218 ff., auf 228 f. 28 10 AAS (1918), 473 ff. 29 12 AAS (1920), 209 ff. 30 14 AAS (1922), 673 ff. 3) Zum Begriff des Heiligen Stuhls vgl. Köck, Die völkerrechtliche Stellung des Heiligen Stuhls (Berlin 1975), 13 ff. 32 15 AAS (1923), 309 ff. 33 Vgl. Köck, Die völkerrechtliche Stellung des Heiligen Stuhls (Berlin 1975), 646 f., sowie die Literatur, auf die dort, Anm. 114, verwiesen ist. Vgl. weiters jüngst Köck, "Das Zeitalter Karls V.", Mitteilungsblatt der Vereinigung der Caballeros von Yuste im deutschen Sprachraum (1979/4), 18 ff. 34 1923 hatte sich Kardinalstaatssekretär Gasparri gegenüber dem Generalsekretariat des Völkerbundes eher ablehnend hinsichtlich einer Aufnahme formeller Beziehungen zwischen dieser Organisation und dem Heiligen Stuhl geäußert; vgl. Eppstein, The Catholie Tradition of the Law of Nations (London 1935), 320, Anm. 1. Vgl. auch die Feststellungen de la Brieres in der französischen Jesuitenzeitschrift Etudes vom 5. Dezember 1926, wo es heißt: ". .. nous pouvons garantir a nos leeteurs, d'apres les soure es les plus authentiques et les plus elevees. de toutes, que le Souvrain Pontife Pie XI ne des ire nullement prendre plaee dans la Soeiete des Nations."

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den Lateranverträgen von 1929 glänzend gelang 35 • In den Dreißigerjahren hat er dann, als die Friedensbedrohung immer immanenter wurde, in mehreren Allokutionen 36 verschiedene Mißstände im internationalen Bereich wie den übertriebenen Nationalismus oder die Lösung zwischenstaatlicher Probleme durch Gewalt verurteilt und die Völker zum Frieden gemahnt.

4. Pius XII. (1939 -1958) Dieser Papst hat der (Neu-)Ordnung der internationalen Gemeinschaft große Aufmerksamkeit gewidmet. Zahlreiche seiner Rundschreiben und Ansprachen beziehen sich auf dieses Thema". Insbesondere sind dabei zu nennen: (a) Die Enzyklika Summi Pontificatus vom 24. Oktober 193938 , die für eine institutionelle Friedenssicherung mit Verfahren zur friedlichen Streitbeilegung plädiert; (b) die Weihnachtsansprachen von 193939, 1941 4°, 1943 41 und 194442 , in denen Pius XII. die Auffassungen des Hl. Stuhls über einen gerechten Frieden und eine funktionierende Weltorganisation darlegte; (c) die Radioansprache vom 1. September 194443, in der Pius XII. zur gleichzeitigen Konferenz von Dumbarton Oaks und ihren sich abzeichnenden Ergebnissen Stellung nahm und die Hoffnung aussprach, daß bei der Errichtung des Gebäudes der künftigen Weltorganisation die bedauerlichen Fehler der Vergangenheit vermieden werden würden; (d) die Weihnachtsansprache von 1946 44 , die deutlich die Desillusionierung des Hl. Stuhls hinsichtlich der 1945 ins Leben gerufenen Organisation der Vereinten Nationen 45 35 Vgl. Köck, Die völkerrechtliche Stellung des Heiligen Stuhls (Berlin 1975), 143 ff., und die dort angegebene Literatur. H Benedetto il natale vom 24. Dezember 1930, 22 AAS (1930), 529 ff.; PeTgratus Nobis vom l. April 1935, 27 AAS (1935), 129 ff. 37 Vgl. Köck, Die völkerrechtliche Stellung des Heiligen Stuhls (Berlin 1975), 686 ff.; dens., "Um zum Frieden zu gelangen, zum Frieden erziehen - Betrachtungen zur Friedensrnission der katholischen Kirche", 232 ff. - Zur Bedeutung der Lehre Pius' XII. für die internationale Gemeinschaft vgl. zusammenfassend Verdross, "Erneuerung und Entfaltung der klassischen Völkerrechtslehre durch Pius XII.", Gedächtnisschrift für Pius XII. (hrsg. von Schambeck, Berlin 1977), 613 ff. 38 31 AAS (1939), 481 ff. Ie 32 AAS (1940), 5 ff. 40 34 AAS (1942), 10 ff. 41 36 AAS (1944), 11 ff. u 37 AAS (1945), 10 ff. u 36 AAS (1944), 249 ff. 44 38 AAS (1946), 15 ff. 45 Vgl. Münch, "Vereinte Nationen", Wörterbuch des Völkerrechts III (begr. von Strupp, hrsg. von Schlochauer, 2. Aufl. Berlin 1962), 494 und die dort angegebene Literatur. Die auf die Gründungskonferenz von San Francisco (25. April bis 26. Juni 1945) bezüglichen Documents of the United Nations

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zeigt und in der der Papst zu deren baldigen Revision aufruft, damit sie die ihr zugedachten Aufgaben auch tatsächlich erfüllen könne41 ; (e) die Enzyklika Optatissima pax vom 18. Dezember 1947 47 , in der Pius XII. das Problem des gerechten und dauerhaften Friedens erörterte, sowie (f) die Weihnachtsansprachen von 194748 und 1948u , die demselben Thema gewidmet waren. Wenngleich Pius XII. in der Folge gerade gegenüber den Vereinten Nationen reserviert blieb, weil diese offenbar nicht imstande waren, den Frieden zu sichern, muß doch angemerkt werden, daß auch zur Zeit dieses Papstes der Hl. Stuhl den internationalen Organisationen nicht rundweg ablehnend gegenüberstand, wie z. B. die Teilnahme an der Internationalen Atomenergie-Organisation als Gründungsmitglied zeigt5o •

5. Der katholische Episkopat im zweiten Weltkrieg und zur Gründung der Vereinten Nationen Hier kann selbstverständlich nicht auf alle Äußerungen eingegangen werden, die von Mitgliedern oder Gruppen des katholischen Episkopats neben dem Bischof von Rom zu Fragen des Kriegs, des Friedens und einer gerechten Welt gemacht wurden. Vielmehr beschränken wir uns hier auf die Erwähnung der allerwichtigsten, auch eine funktionierende Friedensordnung betreffenden Erklärungen51 • Es handelt sich dabei um folgende: (a) das Statement on a Just Peace52 , eine gemeinsame Erklärung der obersten katholischen, evangelischen und jüdischen Würdenträger der Vereinigten Staaten, in welchem u. a. eine internationale Organisation zur Weiterentwicklung des Völkerrechts, zur Wahrung und wenn nötig Revision internationaler Conference on International Organization in 22 Bden. 1945 in San Francisco ediert. 4' Immerhin gestand Pius XII. zu, es gäbe gewisse Anzeichen, daß die Organisation der Vereinten Nationen schon durch ihre bloße Existenz von Nutzen sei, weil in diesem Weltareopag auch die kleinen Nationen eine Chance hätten, wenigstens angehört zu werden. Vgl. die Rede des Papstes anläßlich der Überreichung des Beglaubigungsschreibens des neuen Gesandten von EI Salvador vom 28. Oktober 1947; spanischer Originaltext in 39 AAS (1947), 491 ff. n 39 AAS (1947), 601 ff. u 40 AAS (1948), 1 ff. n 41 AAS (1949), 5 ff. 50 Vgl. Köck, Die völkerrechtliche Stellung des Heiligen Stuhls (Berlin 1975), 733 ff. 11 Für eine detailliertere Darstellung sei auf Ares, L'eglise catholique et l'organisation de la societe international contemporaine (1939 - 1949) (Montreal 1949) verwiesen. 12 America (1943), 14 f.

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Verpflichtungen und zur Sanktionierung von Verstößen gegen die internationale Ordnung gefordert wird; (b) ein Dokument der katholischen Bischofskonferenz der Vereinigten Staaten vom November 1943 mit dem Titel Essentials oj a Good Peace 53 ; (c) das Statement on International Order des katholischen Episkopats der Vereinigten Staaten vom 16. November 194454, welches sich eingehend mit dem Wesen und der Funktion der zukünftigen Weltorganisation auseinandersetzt und als deren Grundsätze einerseits das demokratische Prinzip der (souveränen) Gleichheit aller Staaten, die friedliche Beilegung internationaler Streitigkeiten auf (schieds-)gerichtlichem Weg und die Fähigkeit der Organisation, gegen Friedensbrecher nötigenfalls auch militärisch iri wirksamer Weise vorzugehen nennt, gleichzeitig aber auch den Abbau übertriebener Souveränitätsvorstellungen, insbesondere was den sog. domaine reserve der Staaten anlangt, fordert 55 ; (d) das Statement on World Peace der Bischofskonferenz der Vereinigten Staaten vom 15. April 1945 58 , dem sich die kanadischen Bischöfe durch eine Erklärung des Exekutivkomitees des kanadischen Episkopats vom 24. April 1945 57 anschlossen und in dem der Satzungsentwurf für die Organisation der Vereinten Nationen einer scharfen Kritik unterzogen wurde 58 ; und schließlich (e) die Erklärung der Bischofskonferenz der Vereinigten Staaten vom Dezember 1945 59 , die den bezeichnenden Titel IJetween War and Peace trägt und in der unterstrichen wird, daß die in San Francisco geschaffene Organisation nicht die von den Zeitumständen zwingend geforderte Organisierung der internationalen Gesellschaft, sondern bloß eine Allianz der großen Mächte darstelle, die sich selbst als über dem Völkerrecht stehend betrachten könnten. 6. Johannes XXIII. (1958 - 1963)

Von diesem Papst ist vor allem zu nennen seine Enzyklika Pacem in terris vom 11. April 1963 6°, die auch in Kreisen der Vereinten Nationen "3 54 55

Catholic Action vom Dezember 1943, 3 ff. Catholic Action vom Dezember 1944, 3 ff. Vgl. Köck, Die völkerrechtliche Stellung des Heiligen Stuhls (Berlin 1975),

695 ff.

.

Catholic Action vom Mai 1945, 3 ff. 57 Le Devoir vom 3. Mai 1945. 58 Ich habe schon an anderer Stelle (Die völkerrechtliche Stellung des Heiligen Stuhls, 699) darauf hingewiesen, daß dieses Dokument ,,[i]n seinem Sinn für die Realität des internationalen Lebens und der Konkretheit seiner Vorschläge, die darauf verzichten, sich auf die Darlegung allgemeiner Grundsätze zu .beschränken, . .. ein eindrucksvolles Zeugnis von der Fähigkeit der Kirche [ist], durch ihre Amtsträger einen wertvollen Beitrag zur Entwicklung der internationalen Gemeinschaft zu leisten". 59 Catholic Action vom Dezember 1945, 27 f. 58

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warme Aufnahme fand. In ihr kommt Johannes XXIII. zum Schluß, daß, da die Frage des weltweiten Gemeinwohls nur durch eine politische Gewalt gelöst werden könne, die über die entsprechende Macht verfüge, um der sittlichen Ordnung wegen folge, daß durch die übereinkunft aller Völker eine universelle politische Autorität eingesetzt werden müsse. Die Organisation der Vereinten Nationen hält der Papst für befähigt, in ihrer Struktur und ihren Mitteln zu einer solchen effektiven Universal organisation ausgebaut zu werden61 •

7. Paul VI. (1963 - 1978) Schon als er noch Erzbischof von Mailand gewesen war, hatte Montini sein Interesse für das Wirken internationaler Institutionen gezeigt 62 • Als er zur päpstlichen Würde aufgestiegen war, nahmen unter ihm die Beziehungen des Hl. Stuhls zu den internationalen Organisationen stark ZU 63 . Von besonderer Bedeutung sind seine Ausführungen vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen, denen er am 4. Oktober 1964 einen Besuch abstattete 64 • Dabei rief er zur Unterstützung der Tätigkeit dieser Organisation auf, deren Plenarorgan er die aula magna einer großen Schule des Friedens nannte, eines Friedens, dem alles Bemühen der Menschheit gelten müsse. Die internationale Zusammenarbeit auf Weltebene brauche eine institutionelle Grundlage; der Hl. Stuhl betrachte die Vereinten Nationen als einen wichtigen Schritt auf dem Gebiet der Entwicklung der organisierten internationalen Gemeinschaft65 . 8. Das Zweite Vatikanische Konzil (1962 - 1965)

Die christliche Gestaltung der internationalen Ordnung wird vom Zweiten Vatikanum in der Pastoralen Konstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes66 , und zwar im Fünften Kapitel des Zweiten Teils, abgehandelt. Dabei wird der Friede als ein niemals 60

55 AAS (1963), 257 ff.

Vgl. dazu ausführlich Köck, Die völkerrechtliche Stellung des Heiligen Stuhls (Berlin 1975), 709 ff. Deutscher Text in 17 Herder-Korrespondenz (1962/63), 476 ff. 82 Vgl. Cansacchi, ,,11 Papa e l'Organizzazione delle Nazioni Unite", 19 Diritto internazionale (1965), 197 ff. 83 Vgl. Köck, Die völkerrechtliche Stellung des Heiligen Stuhls (Berlin 1975), 713, 729 ff. und passim. 84 Französischer Originaltext in L'Osservatore Romano vom 6. Oktober 1965 85 In entsprechendem Sinn auch desselben Papstes Enzyklika POpuloTum pTogTessio vom 26. März 1967, 59 AAS (1967), 257 ff . • 8 fiR AAS (1966), 1025 ff. 81

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endgültiger Besitz bezeichnet, der vielmehr immer neu zu erfüllende Aufgabe bleibeo7 • Dieser Friede aber verlangt nach Auffassung des Konzils den Ausbau der bereits bestehenden Institutionenos. Auf die näheren Einzelheiten wird weiter unten, bei der systematischen Darstellung der kirchlichen Vorstellungen von einer christlichen Gestaltung der internationalen Ordnung, einzugehen sein". 9. Johannes Paul I. (1978)

Aus diesem, nur 33 Tage währenden Pontifikat sind zu nennen: (a) die Rundfunkbotschaft vom 27. August 19787°, in der der Papst alle Schichten der verschiedenen Völker aufrief, zu mehr Gerechtigkeit und Frieden in der Welt beizutragen; und (b) die Absprache an die Repräsentanten der Staaten und internationalen Organisationen vom 4. September 197871 , in der der Papst zusicherte, die Friedensarbeit seines Vorgängers Pauls VI. fortsetzen zu wollen. 10. Johannes Paul H. (seit 1978)

Von den bisherigen Äußerungen dieses Papstes verdienen die folgenden besondere Erwähnung: (a) die Botschaft an den Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kurt Waldheim, zum 30. Jahrestag der Verabschiedung der Erklärung der Vereinten Nationen über die Menschenrechte am 10. Dezember 1978, vom 2. Dezember 197872, wo der Papst mit Worten Pauls VI.73 den diesbezüglichen Einsatz der Vereinten Nationen lobt und gleichzeitig zu einer weltweiten Annahme der UN-Menschenrechtspakte aufruft; dann (b) die Enzyklika RedemptoT hominis vom 4. März 1979 74 , deren Dritter Teil dem erlösten Menschen und seiner Situation in der Welt von heute, der Vierte aber dem Zusammenhang zwischen Sendung der Kirche und Schicksal des Menschen gewidmet ist7 5 ; schließlich (c) die Ansprache vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York vom 2. Oktober 1979 75&• lbid., Art. 78. lbid., Art. 83. oe Vgl. unten, C, 1I. 70 L'Osservatore Romano, deutsche Ausgabe 1978, No. 35, vom 1. September 1978,3 f. 71 L'Osservatore Romano, deutsche Ausgabe 1978, No. 37, vom 15. September 1978, 5. 1! L'Osservatore Romano, deutsche Ausgabe 1978, No. 50, vom 15. Dezember 1978, 1 ff. 18 Paul VI., Botschaft zum 25. Jahrestag der Erklärung der Menschenrechte, 65 AAS (1973). 74 L'Osservatore Romano, deutsche Ausgabe 1979, No. 12, vom 23. März 1979, Dokumentationsbeilage I ff. 75 Zu dieser Enzyklika vgl. Köck, "Die Enzyklika RedemptoT hominis in der Sicht des Völkerrechtlers", Die Furche vom 28. März 1979: wei•7

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11. Christliclle Forderungen für eine internationale Ordnung heute

Wiewohl auch Benedikt XV. (vor ihm schon Leo XIII.) und Pius XII., vor allem aber der amerikanische Episkopat während und unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg konkrete Aussagen zu einer gerechten und institutionell in ihrem Frieden gesicherten internationalen Ordnung gemacht haben, kommen doch für die Auffassungen der Kirche in der Gegenwart so gut wie ausschließlich die einschlägigen Äußerungen des Zweiten Vatikanums in der Pastoralen Konstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes76 in Betracht, denen an Bedeutung allenfalls die Enzyklika Pauls VI. Populorum progressio77 zur Seite zu stellen sind; die meisten übrigen Aussagen sind entweder reichlich allgemein gehalten oder beschränken sich auf eine eindringliche Wiederholung des dort Gesagten78 . 1. Internationale Ordnung und Friede

Die Pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes widmet das Fünfte Kapitel ihres Zweiten Teiles den beiden zusammenhängenden Problemen der Förderung des Friedens und des Aufbaus der Völkergemeinschaft79 . Das Konzil selbst stellt diesen Zusammenhang ganz klar her, indem es sagt, der Friede als "Werk der Gerechtigkeit"80 sei "die Frucht der Ordnung, die ihr göttlicher Gründer selbst in die menschliche Gemeinschaft eingestiftet hat und die von den Menschen durch stetes Streben nach immer vollkommenerer Gerechtigkeit verwirklicht werden muß. Zwar wird das Gemeinwohl des Menschengeschlechts grundlegend vom ewigen Gesetz Gottes bestimmt, aber in seinen konkreten Anforderungen unterliegt es dem ständigen Wandel der Zeiten; darum ist der Friede niemals endgültiger Besitz, sondern immer wieder neu zu erfüllende Aufgabe"81. Als Voraussetzungen für den Frieden nennt das Konzil eine ters Weiler, "Wirtschaft und Menschenwürde", Die Furche, vom 3. Oktober 1979. 75a Vgl. L'Osservatore Romano, deutsche Ausgabe 1979, No. 40, vom 5. Oktober 1979, 1 ff. 18 58 AAS (1966), 1025 ff. 77 59 AAS (1967), 257 ff. 78 Auch darf nicht übersehen werden, daß den Konstitutionen eines ökumenischen Konzils als der Repräsentation der Gesamtkirche ein ganz anderes moralisches Gewicht zukommt als den üblichen, periodisch gemachten Äußerungen der Päpste. 78 Das sind die Artikel 77 bis 90. 80 Die Konstitution zitiert hier Is. 32,17. 81 Art. 78. Deutscher Text zit. nach der im Auftrag der deutschen Bischöfe besorgten deutschen Übersetzung; Lexikon für Theologie und Kirche - Das Zweite Vatikanische Konzil 111 (Freiburg/Br. 1968), 241 ff., auf 547. 20 Festschrift Rossl

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weltweite Achtung der Würde des Menschen und eine praktisch geübte Solidarität unter den Völkern B2 • Als eigentliches Ziel auf dem Gebiet des Friedens, dem der Erste AbschnittB3 gewidmet istB4, nennt das Konzil die Bannung jedes Krieges überhaupt B5 • Da aber heute noch keine Weltautorität existiert, die die Erhaltung des Weltfriedens wirksam sichern könnte88 , schlägt das Konzil vorläufige Schritte zu einer Verbesserung der internationalen Sicherheit im Rahmen der bereits bestehenden Institutionen und insbesondere fortschreitende Abrüstung vor B7 •

2. Der Aufbau der heutigen internationalen Gemeinschaft Diesem Problem ist der Zweite Abschnitt des Fünften Kapitels des Zweiten Teils von Gaudium et Spes gewidmet 8B • Grundlegend hiefür ist die Auffassung des Konzils, daß es nicht genügt, einen Frieden zu schaffen, der bloße Abwesenheit des Krieges, also eines zwischenstaatlichen Gewaltzustandes mit militärischen Mitteln, ist89 • Es gelte daher, mit dem Krieg auch alle Ursachen für Zwietracht in der Welt zu beseitigen. Als erste dieser Ursachen nennt das Konzil die Ungerechtigkeit 9o • Diese Ungerechtigkeit hat die verschiedensten Gesichter; die Gründe für sie können objektiv-ökonomischer Natur sein91 oder aus einem subjektiven Fehlverhalten der Menschen und Völker herrühren 92 • So treten neben die militärische Gewaltanwendung der wirtschaftliche und politische Art. 78; vgl. ibid. Art. 79 bis 82. 84 Vgl. hiezu ausführlich Köck, "Um zum Frieden zu gelangen, zum Frieden erziehen - Betrachtungen zur Friedensmission der katholischen Kirche", Die Weltfriedensbotschaften Papst Pauls VI. (hrsg. von Squicciarini, Berlin 1979), 218 ff., auf 237 ff. 85 "Es ist also deutlich, daß wir mit all unseren Kräften jene Zeit vorbereiten müssen, in der auf der Basis einer übereinkunft zwischen allen Nationen jeglicher Krieg absolut geächtet werden kann." Art. 82; zit. nach 559. 88 Das Konzil sieht also auch die Organisation der Vereinten Nationen nicht als ausreichend an; vgl. Art. 82. 87 Vgl. ibid. 88 Das sind die Artikel 83 bis 90. 89 Vgl. ibid., Art. 83. '0 Vgl. ibid. 91 "Um den Frieden aufzubauen, müssen vor allem die Ursachen der Zwietracht in der Welt, die zum Krieg führen, beseitigt werden, an erster Stelle die Ungerechtigkeiten. Nicht wenige entspringen allzu großen wirtschaftlichen Ungleichheiten oder auch der Verzögerung der notwendigen Hilfe." Zit. nach 565, Art. 83. O! "Andere entstehen aus Herrschsucht und Mißachtung der Menschenwürde und, wenn wir nach den tieferen Gründen suchen, aus Neid, Mißtrauen, Hochmut und anderen egoistischen Leidenschaften." Zit. nach ibid., 565 - 567. 82 83

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Druck. Das hat zur Folge, daß, ,,[d]a der Mensch soviel Unordnung ilicht ertragen kann, ... die Welt auch ohne das Wüten des Krieges dauernd von zwischenmenschlichen Spannungen und gewaltsamen Auseinander~ setzungen vergiftet wird"93. Daher müsse die gegenwärtig bestehende internationale Ordnung durch eine neue ersetzt werden, die geeignet ist, das allgemeine Wohl der gesamten Menschheit 94 in wirksamer Weise zu fördern95 . Eine immer stärkere wirtschaftliche Zusammenarbeit aller Völker96 werde von der "wachsenden gegenseitigen Abhängigkeit aller Menschen und aller Völker"97 erheischt. Um aber zur wirksamen und fruchtbaren Zusammenarbeit fähig zu werden, bedürften viele Staaten noch einer kräftigen Entwicklung, die sie aber ohne Hilfe von außen nicht schaffen könnten98 • Das Konzil nimmt dann die Zielvorstellungen einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung, wie sie von der Sondersession der Generalversammlung der Vereinten Nationen 1974 konzipiert worden ist99, weitgehend vorweg: neben einer Änderung der bisherigen internationalen Handelspraktiken, der Gewährung von Krediten und dem Einsatz von Kapitalinvestitionen werden auch Transfer von Know-how und von Kapital in Form von "Zuschüssen" gefordertlOO • Das bedeutet nicht nur Leihhilfe (zu einem notwendigerweise niedrigen Zinssatz), sondern auch Geschenke, die nun einmal wegen der Armut der Ent~ wicklungsländer notwendig sind 101 • Zielvorstellung ist, zwischen den Industriestaaten und der Dritten Welt allzugroße Ungleichheiten und jede Form ungebührlicher Abhängigkeit zu beseitigen102 • Im Zusammenhang mit der Bemühung um eine positive Entwicklung hätten aber - nach Auffassung des Konzils - sowohl die entwickelten Zit. nach ibid., 567. Zum bonum commune humanitatis vgl. Prantner, "Das bonum commune humanitatis bei Papst Pius XII., Gedächtnisschrift für Pius XII. (hrsg. von Schambeck, Berlin 1977), 627 ff. 95 Vgl. Gaudium et spes, Art. 84. 86 Vgl. ibid., Art. 85. 97 Vgl. ibid., Art. 84. 88 Vgl. ibid., Art. 85: "Die Entwicklung einer Nation hängt von menschlichen und finanziellen Hilfen ab. Die Bürger einer jeden Nation müssen durch Erziehung und Berufsausbildung für die verschiedenen Aufgaben in Wirtschaft und Gesellschaft vorbereitet werden. Dazu ist die Hilfe ausländischer Fachkräfte erforderlich, die bei ihrem Einsatz nicht als Herren auftreten dürfen, sondern Helfer und Mitarbeiter sein sollen." Zit. nach 569. 89 Vgl. GV-Res. 3201 (S-VI) und 3202 (S-VI) vom 1. Mai 1974. Dazu vgl. auch die GV-Res. 3281 (XXIX) vom 12. Dezember 1974. 100 Vgl. Gaudium et spes, Art. 85. 101 So der Kommentar zu Art. 85 von Coste in Lexikon für Theologie und Kirche - Das Zweite Vatikanische Konzil III (Freiburg/Br. 1968), 565 ff., auf 569. 102 Vgl. ibid., Art. 85. 93

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als auch die Entwicklungsländer eine moralische Aufrüstung durchzuführen. Erstere sollten "bei sich selbst die geistigen und materiellen Anpassungen durchführen, die zur Organisation dieser weltweiten Zusammenarbeit erforderlich sind"103. Letztere wiederum müßten sich vor Augen halten, daß das "Ziel des Fortschritts ausdrücklich und entschieden die volle menschliche Entfaltung ihrer Bürger" sein müsse 104 . Auch sollten sich die Entwicklungsländer soweit wie möglich auf ihre eigenen (persönlichen und sachlichen) Hilfsmittel stützen, unter Berücksichtigung der eigenen Fähigkeiten und Traditionen105. Als weitere Grundsätze schärft das Konzil noch ein, daß bei der Neuordnung das Prinzip der Subsidiaritätl°8 zu beachten sowie zu bedenken sei, daß der Mensch nicht vom Brot allein lebe, sondern von jedem Wort, das aus dem Munde Gottes kommt107 . Daher "muß [man] sich hüten vor bloß organisatorischen, unausgereiften Lösungen, besonders vor solchen, die dem Menschen zwar materielle Erleichterungen bieten, seiner geistigen Anlage und Entwicklung aber schaden ... Jeder Teil der Menschheitsfamilie trägt in sich und in seinen besten Traditionen einen Teil des geistigen Erbes, das Gott der Menschheit anvertraut hat, wenn auch viele seine Herkunft nicht kennen"108.

3. Die Rolle internationaler Institutionen So wie die bisherige internationale Ordnung als solche, so erscheinen auch die derzeitigen internationalen Institutionen dem Konzil als der Verbesserung notwendig. Sie hätten sich zwar durch ihre Tätigkeit hochverdient gemacht 109 , doch könnten sie nur als erster Versuch110 zur Schaffung wirklich tauglicher Instrumente internationaler Friedenssicherung und Zusammenarbeit betrachtet werden. Das Konzil spricht dann davon, daß "die Institutionen der internationalen Gemeinschaft den verschiedenen Bedürfnissen der Menschen nach Kräften Rechnung tragen [müssen] "111, und nennt dabei einerseits die Bereiche des sozialen Lebens wie Ernährung 112, Gesundheit11S , ErzieZit. nach 571 (Art. 86). Zit. nach ibid., 569 (Art. 86). lOS Vgl. ibid., Art. 86. 108 Vgl. ibid. 107 Mit Zitierung von Mt. 4, 4. 108 Zit. nach 571 (Art. 86). 10' Vgl. ibid., Art. 84. 110 Vgl. ibid. 111 ZU. nach ibid., 567 (Art. 84). 112 Hiefür besteht heute die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO); zu dieser vgl. u. a. Weber, "Ernährungs- und 103

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hung114 und Arbeit115, andererseits auch besondere Situationen, wie "die allgemein bestehende Notwendigkeit, den Aufstieg der Entwicklungsländer zu fördern 118, die Leiden der Flüchtlinge in der ganzen Welt zu lindern117 oder auch Auswanderer und ihre Familien zu unterstützen"118. Besonders wichtig erscheint dem Konzil der Ausbau jener Institutionen, die zur Förderung und Ordnung des internationalen Handels, "vor allem mit den weniger entwickelten Nationen"119, bestehen oder gegründet werden sollen 120 • 4. Entwicklung als zentrales Problem der heutigen internationalen Ordnung und ihrer institutionellen Ausgestaltung

Die Leitgedanken von Gaudium et spes werden von der Enzyklika Populorum progressio 121 Pauls VI. in einem Punkt weiter vertieft: hinsichtlich des Entwicklungsproblems. Die Enzyklika hat zwei HauptLandwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen", Wörterbuch des Völkerrechts I (begr. von Strupp, hrsg. von Schlochauer, 2. Aufl. Berlin 1960), 435 ff. 113 Hiefür besteht heute die Weltgesundheitsorganisation (WHO); zu dieser vgl. u. a. Zemanek, "Weltgesundheitsorganisation", Staatslexikon VIII (6. Aufl. 1963), Sp. 526 ff. 114 Hiefür besteht heute die Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO); zu dieser vgl. u. a. Kipp, UNESCO-Recht, sittliche Grundlage, Aufgabe (München 1957). 115 Hiefür besteht heute die Internationale Arbeitsorganisation (ILO); zu dieser vgl. u. a. Gamillscheg, "Internationale Arbeits-Organisation", Wörterbuch des Völkerrechts II (begr. von Strupp, hrsg. von Schlochauer, 2. Aufl. Berlin 1961), 38 ff. 118 Hiefür besteht heute einerseits die Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD); zu dieser vgl. u. a. Hagras, United Nations Conference on Trade and Development. A Case Study in UN Diplomacy (New York 1965); andererseits die Organisation der Vereinten Nationen für industrielle Entwicklung (UNIDO); zu dieser vgl. u. a. UNIDO - An Experiment in International Industrial Co-operation (New York 1975). 117 Als Ersatz für die ursprüngliche Internationale Flüchtlingsorganisation besteht heute das Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen; zu diesem vgl. u. a. Rotholz, "Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen", Wörterbuch des Völkerrechts II (begr. von Strupp, hrsg. von Schlochauer, 2. Aufl. 1961), 540 ff. tlS Zit. nach Gaudium et spes, 567 (Art. 84). 119 Zit. nach ibid., 571 (Art. 86). 120 Das Konzil betrachtet also die bisher bestehenden Einrichtungen wie das GATT als unzureichend. Da die UNCTAD erst 1964 gegründet wurde, kann man nicht annehmen, daß das Konzil auch diese Unterorganisation der Vereinten Nationen als unzulänglich ansah; eher haben den Konzilsvätern wohl die entsprechenden Informationen in diesem Punkt gefehlt. Doch gilt auch und gerade für UNCTAD, was das Konzil über den "Ausgleich der Unzuträglichkeit, die sich aus den allzugroßen Machtunterschieden zwischen den Völkern ergeben", sagt. Zit. nach ibid., 571 (Art. 86). 121 59 AAS (1967), 257 ff.

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teile, deren erster einer Bestandsaufnahme des bisherigen Fortschritts der Menschheit, der zweite dann den Maßnahmen für eine künftige solidarische Entwicklung gewidmet ist1 22 • Die Enzyklika stellt fest, daß die bisher eingesetzten Mittel unzureichend seien und übt Kritik u. a. am Kolonialismus und der wachsenden Störung des internationalen wirtschaftlichen Gleichgewichts. Um hier eine Wendung zum Besseren zu erreichen, fordert die Enzyklika u. a. die Anerkennung der universellen Bestimmung der Güter, weil sie allen Menschen und allen Völkern zu dienen hätten, und der Notwendigkeit kluger Planung, weil Einzelinitiative und das freie Spiel der Kräfte allein den Erfolg des Entwicklungswerkes nicht mehr sichern könnten123 • Die ganzheitliche Entwicklung des Menschen könne jedoch nur in einer solidarischen Entwicklung der Menschheit erfolgen. Dazu sei es notwendig, konkrete Mittel und praktische Formen der Zusammenarbeit zu suchen und die verfügbaren Mittel gemeinsam zu nützen, damit eine echte Gemeinschaft unter den Völkern realisiert werden könne. Beispielsweise wird hier von der Enzyklika die Ernährungsund Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) genannt124 • Abschließend wird nochmals der Zusammenhang zwischen Entwicklung und Friede aufgezeigt. Entwicklung sei eigentlich nur ein neuer Name für Friede. Denn der Friede müsse täglich neu verwirklicht werden in einer von Gott gewollten Ordnung, die eine vollkommenere Gerechtigkeit unter den Menschen herbeiführt. In diesem Zusammenhang unterstreicht die Enzyklika erneut ausdrücklich die Notwendigkeit institutioneller 'Zusammenarbeit auf Weltebene und ermuntert vor allem jene Organisationen, die der Entwicklung der Dritten Welt dienen125 •

D. Der Beitrag der Kirche zum Aufbau einer neuen internationalen Ordnung I. Allgemeines

Die Kirche fühlt sich berufen, am Aufbau einer neuen internationalen Ordnung mitzuwirken. Im Vierten Kapitel des Ersten Teiles der Pastoralen Konstitution über die Kirche in der Welt von heute Gau122 Vgl. hiefür und für das Folgende Köck, Die völkerrechtliche Stellung des Heiligen Stuhls (Berlin 1975), 527 H. 123 über die Ablehnung des Kapitalismus durch die Kirche vgl. Köck, ibid., 528, Anm. 49. 124 Vgl. ibid., 531. 125 Vgl. ibid., 532 und Anm. 69. Vgl. hierzu auch jüngst die Ansprache Johannes Pauls Ir. vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen (oben, Anm. 75a).

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dium et spes 126 betont das Zweite Vatikanum, daß "[d]ie Einheit der menschlichen Familie ... durch die Einheit der Familie der Kinder Gottes, die in Christus gegründet ist, in vieler Hinsicht gestärkt und erfüllt [wird]"127. Ihre eigene Sendung beziehe sich zwar nicht auf den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bereich128, ,,[d]och fließen aus [der] religiösen Sendung [der Kirche] Auftrag, Licht und Kraft, um der menschlichen Gemeinschaft zu Aufbau und Festigung nach göttlichem Gesetz behilflich zu sein ... So zeigt sie der Welt, daß die wahre Einheit in der äußeren gesellschaftlichen Sphäre aus einer Einheit der Gesinnungen und Herzen erwächst, aus jenem Glauben und jener Liebe nämlich, auf denen im Heiligen Geist ihre unauflösliche Einheit beruht. Die Kraft nämlich, die die Kirche der menschlichen Gesellschaft von heute mitzuteilen vermag, ist jener Glaube und jene Liebe, die sich in Tat und Wahrheit des Lebens auswirken, nicht aber irgendeine äußere, mit rein menschlichen Mitteln ausgeübte Herrschaft"129. Die Kirche eigne sich besonders gut als einigendes Band unter allen Völkern und Staaten, weil sie kraft ihrer Sendung und Natur an keine besondere Form menschlicher Kultur 130 und an kein besonderes politisches, wirtschaftliches oder gesellschaftliches System gebunden ist1 31 . In gleicher Weise betont die Enzyklika Populorum progressio 132 die Aufgabe der Kirche im Rahmen der Entwicklung. Es müsse zwar zugestanden werden, daß auch das von der Kirche unternommene Werk das Schicksal jedes menschlichen Werkes, nämlich nicht vollkommen zu sein, teile, doch hätten die Boten der Kirche stets zu den Pionieren auch des materiellen Fortschritts und des kulturellen Aufstiegs gehört133. Der Hauptbeitrag der Kirche zur Entwicklung liege aber in ihrer Vermittlung eines wahrhaft humanen Menschenbildes 134 . Das Konzil hat sich auch ganz spezifisch für eine wirksame Präsenz der Kirche in der internationalen Gemeinschaft ausgesprochen, und zwar im Fünften Kapitel des Zweiten Teils von Gaudiumet spes. 135 "Kraft ihrer göttlichen Sendung" - so heißt es dort - "verkündet die Kirche allen Menschen das Evangelium und spendet ihnen die Schätze Vgl. oben, Anm. 66. Zit. nach dem deutschen Text, 411 (Art. 42). 128 Vgl. ibid., Art. 42. 129 Zit. nach ibid., 411 (Art. 42). 130 Der deutsche Text hat hier "Natur", was aber offensichtlich ein Druckfehler ist; im lateinischen Text heißt es "eultura". Vgl. ibid., 410. 131 Vgl. ibid., 411 - 413 (Art. 42). 132 Vgl. oben, Anm. 77. 138 Bei Köck, Die völkerrechtliche Stellung des Heiligen Stuhls (Berlin 1975), 529. 184 V gl. ibid. 135 Vgl. oben, Anm. 66. 128

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der Gnade. Dadurch leistet sie überall einen wichtigen Beitrag zur Festigung des Friedens und zur Schaffung einer soliden Grundlage der brüderlichen Gemeinschaft unter den Menschen und Völkern, nämlich die Kenntnis des göttlichen und natürlichen Sittengesetzes136 • Darum muß die Kirche in der Völkergemeinschaft präsent sein, um die Zusammenarbeit unter den Menschen zu fördern und anzuregen. Das geschieht sowohl durch ihre öffentlichen Institutionen wie durch die umfassende und aufrichtige Zusammenarbeit aller Christen, deren einziger Beweggrund der Wunsch ist, allen zu dienen"137.

n.

Der Beitrag der Christen

Nach Gaudium et spes erheischt die heutige Situation in der Welt, daß die Christen ,,[z]um Aufbau einer internationalen Ordnung, in der die rechtmäßigen Freiheiten aller wirklich geachtet werden und wahre Brüderlichkeit bei allen herrscht"138, beitragen. Das Konzil lobt dann jene (vor allen junge) Menschen, die sich als Entwicklungshelfer in den Dienst der ärmeren Völker stellen139, hält jedoch dafür, daß alle Mitglieder der Kirche in organisierter Form und unter der Leitung der Bischöfe vor allem finanziell der Armut in der Welt zuhilfe kommen sollen140. Der Geist der Liebe verbiete durchaus nicht die wohlüberlegte und organisierte Durchführung von sozialen und karitativen Aktionen, sondern fordere sie geradezu141 .

1. Der Beitrag der Laien zur Verbesserung der Welt Das Zweite Vatikanum hat in seinem Dekret über das Apostolat der Laien Apostolicam actuositatem142 den "spezifischen und in jeder Hinsicht notwendigen Anteil [der Laien] an der Sendung der Kirche"143 nochmals unterstrichen 144 . Unter Apostolat wird dabei jede Tätigkeit 136 Was das natürliche Sittengesetz anlangt, so ist das wohl mit jenen Vorbehalten anzunehmen, die Köck: in seiner Untersuchung "Die Zuständigkeit der Kirche für Naturrecht", passim, gemacht hat. 137 Zit. nach Gaudium et spes, deutscher Text, 575 (Art. 89). 1118 Zit. nach ibid., 575 (Art. 88). 130 Vgl. ibid. 140 Vgl. ibid. Über die dem einzelnen hier erwachsenden Verpflichtungen ex iustitia und ex caritate vgl. Köck:, "Um zum Frieden zu gelangen, zum Frieden erziehen - Betrachtungen zur Friedensmission der Katholischen Kirche", 247 f. t41 In entsprechender Weise wird, um eine effektive Hilfe zu gewährleisten, auch eine solide Ausbildung der Entwicklungshelfer gefordert. Vgl. ibid. 141 Vgl. oben, Anm. 2. 143 Zit. nach 603 (Art. 1). 144 Andere Aussagen des Konzils über das Laienapostolat außer in Gaudium et spes und Apostolicam actuositatem finden sich noch in der Dogmatischen

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verstanden, die dazu dient, "zur Ehre Gottes des Vaters die Herrschaft Christi über die ganze Erde aus[zu]breiten und so alle Menschen der heilbringenden Erlösung teilhaftig[zu]machen", wobei "durch diese Menschen ... die gesamte Welt in Wahrheit auf Christus hingeordnet werden [SOll]"145. Da das Ziel des Erlösungswerkes das Heil der Menschen ist, aber nach Auffassung des Konzils auch den Aufbau der gesamten zeitlichen Ordnung umfaßt, bestehe die Aufgabe der Kirche nicht nur in einer Mission im engeren Sinn (bloße Evangelisierung), sondern auch in einer Mission im weiteren Sinn, d. h. der Durchdringung mit und der Vervollkommnung der zeitlichen Ordnung in dem Geiste des Evangeliums. Wenn daher die Laien im christlichen Sinne tätig werden, üben sie ihr Apostolat in der Kirche so gut wie in der Welt aus 148 • Dabei anerkennt das Konzil, daß ,,[a]lles, was die zeitliche Ordnung ausmacht, die Güter des Lebens und der Familie .. . sowie die Entwicklung und der Fortschritt von alldem ... nicht nur Hilfsmittel zur Erreichung des letz.ten Ziels des Menschen [sind], sondern ... ihren Eigenwert [haben], den Gott in sie gelegt hat, ob man sie nun einzeln in sich selbst betrachtet oder als Teile der gesamten zeitlichen Ordnung ... Diese natürliche Gutheit von alldem erhält eine spezifische Würde durch die Beziehung dieser Dinge zur menschlichen Person, zu deren Dienst sie geschaffen sind" 147. Da nun im Laufe der Geschichte die zeitlichen Dinge durch schwere Mißbräuche entstellt wurden, müssen gerade die Laien den Aufbau der zeitlichen Ordnung als die ihnen zukommende Aufgabe auf sich nehmen148 •

2. Die Laien im internationalen Bereich Unter den wichtigeren Bereichen apostolischen Wirkens der Laien nennt Apostolicam actuositatem auch jenen des internationalen Lebens149• Der Text spricht hier geradezu von einem "unermeßlichen Feld des Apostolats"150. Das Konzil meint, ,,[u]nter den charakteristischen Konstitution über die Kirche Lumen gentium, Artikel 33 ff., in der Konstitution über die heilige Liturgie Sacrosanctum Concilium, Artikel 26 !f., im Dekret über die sozialen Kommunikationsmittel Inter mirifica, im Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, und im Dekret über das Hirtenamt der Bischöfe in der Kirche Christus Dominus, Artikel 16 ff., sowie in der Erklärung über die christliche Erziehung Gravissimum educationis, Artikel 3, 5 und 7. 145 Zit. nach Apostolicam actuositatem, deutscher Text 607 (Art. 2). 148 vgl. ibid., Art. 5. m Zit. nach ibid., 627 (Art. 7). 148 Vgl. ibid., Art. 7. 148 Vgl. ibid., Art. 9.

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Zeichen unserer Zeit ... [einen] wachsende[n] und unwiderstehliche[n] Sinn für die Solidarität aller Völker" feststellen zu können l5l ; hier sollten die Laien fördernd und leitend eingreifen, damit auf die theoretischen und praktischen Fragen, vor allem hinsichtlich der Dritten Welt und ihrer Entwicklung, die rechten Antworten gefunden werden können152 • Wiewohl die Laien ihrem Apostolat auch einzeln und auf sich allein gestellt nachgehen können, verlange doch gerade ein internationales Wirksamwerden nach Organisierung 153 • Was die (privaten) katholischen internationalen Organisationen anlangt, so werden diese gelobt, gleichzeitig aber wird gefordert, daß die in ihnen zusammengefaßten Gruppen und deren Mitglieder besser durchorganisiert würden154 • Das vom Konzil (wohl auch aus diesem Grund) geforderte, beim Hei:ligen Stuhl einzurichtende Organ155 , das eine koordinierende Funktion haben soll, ist mittlerweile durch die Schaffung des Päpstlichen Laienrates 156 realisiert worden. Dieser ist auch für die (privaten) katholischen internationalen Organisationen zuständig 157 •

3. Die Laien in den internationalen Institutionen Hier ist zwischen den sog. privaten und dem sog. öffentlichen internationalen Institutionen zu unterscheiden i58 • Die im vorstehenden genannten katholischen internationalen Organisationen gehören zu den ersteren. a) In den privaten internationalen Institutionen Das Zweite Vatikanische Konzil erwähnt die katholischen internationalen Organisationen mehrmals 1Sg , insbesondere aber in Art. 90 der Zit. nach ibid., 647 (Art. 14). Zit. nach ibid. 152 Vgl. ibid. 153 Vgl. ibid., Art. 19. 154 Vgl. ibid. 155 Vgl. ibid., Art. 26. 158 Dazu vgl. Opilio Kardinal Rossi, "Paolo VI e il Pontificio Consiglio per i laici", 44 Lateranum (1978), 373 ff. 157 Vgl. das Bulletin des Consilium de Laicis, 13/14 (1973), "Die katholischen internationalen Organisationen"; engl. Version "The Catholic International Organizations (CIO)", Geleitwort und passim. 158 Zu dieser Unterscheidung vgl. Bowett, The Law of International Institutions (2. Aufl. 1970), 4 ff. 1st Nämlich in der Pastoralen Konstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, Art. 90, im Dekret über das Laienapostolat Apostolicam actuositatem, Art. 19, im Dekret über die Missionstätigkeit der Kirche Ad gentes, Art. 29, und im Dekret über die sozialen Kommunikationsmittel Inter mirifica, Art. 22. 150 151

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Pastoralen Konstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, wo sie eine herausragende Form internationaler christlicher Aktivität genannt werden. Um als katholische internationale Organisation anerkannt zu werden, muß eine solche folgende Voraussetzungen erfüllen: sie muß erstens Organisation sein, d. h., die Koordination der Bemühungen und Initiativen von Personen oder Institutionen zum 'Zwecke haben; sie muß zweitens internationalen Charakter tragen, d. h., Mitglieder in Verschiedenen Ländern besitzen, sie in internationalem Geiste erziehen und ihre Zusammenarbeit fördern; und sie muß drittens katholisch sein, d. h., sich nach den Lehren Gottes und der Kirche ausrichten und von der Hierarchie anerkannt sein160 • Zu diesem Zweck führt der Päpstliche Laienrat ein ,ständiges Register aller dieser Organisationen. Darüber hinaus sind sie in der Konferenz der katholischen internationalen Organisationen zusammengefaßt, die ihre Tätigkeit koordiniert. Mehr als zwei Dutzend von ihnen genießen auch Konsultativstatus mit einer zwischenstaatlichen internationalen Organisation, wie mit dem Wirtschafts- und Sozial rat der Vereinten Nationen oder mehrerer ihrer Spezialorganisationen161 • Das Konzil geht in Gaudium et spes 162 davon aus, daß die verschiedenen katholischen internationalen Organisationen einen vielfältigen Beitrag zum Aufbau einer friedlichen und gerechten Welt leisten können und daher verdienen, gestärkt zu werden163 • b) In den öffentlichen internationalen Institutionen In diesem Bereich können die Laien in zweierlei Weise tätig sein. Die eine Form ist die des internationalen Beamten. Indem dieser sein gesamtes berufliches Leben oder doch eine gewisse Zeitspanne desselben dem Dienst an der internationalen Gemeinschaft ais Mitglied des Sekretariates einer der zahlreichen zwischenstaatlichen Institutionen weiht, findet er ein reiches Betätigungsfeld für apostolisches Wirken vor, insbesondere durch sein persönliches Beispiel, aber auch deshalb, weil er nicht selten einen indirekten Einfluß auf zu fällende EntsCheidungen gewinnt; sind doch die Staaten bei ihren Entschlüssen recht häufig vom Sachverstand der internationalen Beamten, der sich in vorbereitenden Papieren niederschlägt, abhängig l64 • 160 Vgl. die Richtlinien für die Definition von katholischen internationalen Organisationen, 63 AAS (1971), 948 ff. 181 Vgl. die in Anm. 157 gegebene Quelle, übersicht auf 36. 162 Und zwar in Art. 90; Vgl. 577. 163 Vgl. ibid. 184 Vgl. dazu allgemein Basdevant, Les fonctionnaires internationaux (1931); Langrod, The International Civil Service (1963). Vgl. auch Bowett, The Law of International Institutinm: (2. Aufl. 1970), 82 f. und passim.

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Noch bedeutsamer aber erscheint das Wirken katholischer Laien als Mitglieder staatlicher Missionen bei internationalen Organisationen oder staatlicher Delegationen zu internationalen Konferenzen. Auch hier können sie natürlich in erster Linie durch ihre Haltung und ihr ausgewogenes Urteil wirken; da aber alle diese Missionen und Delegationen im Rahmen ihrer Instruktionen einen mehr oder minder großen Spielraum freien Ermessens für ihre Entscheidungen haben, kann der katholische Laie hier auch seinen Standpunkt mit den daraus folgenden sachlichen Konsequenzen einfließen lassen l65 • Eine besondere Spielart internationaler Tätigkeit des Laien als öffentlicher Vollmachtsträger ist seine Teilnahme an Delegationen, die der Heilige Stuhl zu zwischenstaatlichen Konferenzen entsendetl68 • Diese Delegationen haben häufig eine "gemischte" Zusammensetzung; d. h ., es nehmen an ihr Priester und Laien teil. Während die ersteren mehr für den religiös-moralischen Bereich zuständig sind oder - als Mitglieder des diplomatischen Dienstes des Heiligen StuMs - die Leitung der Delegation und die endgültige Entscheidung über deren Vorgehen im Rahmen der römischen Instruktionen innehaben, leisten die Laien zumeist eine Beratertätigkeit auf spezifischen Gebieten, auf denen sie als Fachleute gelten, wie z. B. auf dem Gebiet des (Völker-) Rechts, der internationalen Wirtschaft oder der Medizin. Die dergestalt zustandekommende fruchtbare Zusammenarbeit innerhalb der Delegation könnte allerdings noch fruchtbarer werden, insbesondere auch für die internationale Gemeinschaft, wenn man versuchen würde, bei der Rekrutierung dieser sachverständigen Laien weniger dem Zufall zu überlassen und das personelle Potential der katholischen Laienschaft auch in diesem Bereich besser auszuschöpfen; weiters, wenn man die zur Teilnahme an der Delegation ausersehenen Laien so rechtzeitig heranzöge, daß man ihr Fachwissen einerseits bereits in den zu den Instruktionen führenden Entscheidungsprozeß eingehen lassen könnte und ihnen andererseits die Möglichkeit gäbe, die Teilnahme an der betreffenden Konferenz mit ihrer sonstigen beruflichen Tätigkeit rechtzeitig so abzustimmen, daß sie für die fragliche, zumeist ohnedies nur kurze Zeit ihre ganze Arbeitskraft der Delegation widmen könnten. Auf diesem Gebiet erscheint so manches noch verbesserungsfähig l87 • 165 Es versteht sich von selbst, daß er dies stets unter Berücksichtigung jener Loyalität tun wird, die sein Staat von ihm als Träger eines öffentlichen Amtes erwarten darf. 188 Es gibt auch einzelne Fälle, wo Laien den Heiligen Stuhl ständig bei einer internationalen Organisation als Mitglied seiner Mission vertreten; dies ist jedoch - im Gegensatz zur Vertretung bei internationalen Konferenzen - die Ausnahme. So hat etwa Dr. Hermann J . Abs den Heiligen Stuhl jahrelang als erster Delegierter bei der Internationalen Atomenergie-Organisation vertreten. Vgl. etwa Annuario Pontificio 1977, 1123.

Christliches Apostolat und internationale Ordnung

317

E. Zusammenfassung Das Zweite Vatikanische Konzil hat die Mitarbeit, die die Laien einzeln oder organisiert in den internationalen Institutionen leisten, ,,[e]ine hervorragende Form des internationalen Wirkens der Christen" genannt 16B • Indem sie so die Zusammenarbeit unter den Völkern fördern, bereiten sie den Weg zu jener christlichen Einheit und menschlichen Solidarität, die das Konzil als Ziel im Auge hat, wenn es schreibt: "Schließlich ist zu wünschen, daß die Katholiken zur rechten Erfüllung ihrer Aufgabe in der internationalen Gemeinschaft eine tatkräftige und positive Zusammenarbeit anstreben mit den getrennten Brüdern, die sich gemeinsam mit ihnen zur Liebe des Evangeliums bekennen, und mit allen Menschen, die den wahren Frieden ersehnen 169 ."

117 Vgl. dazu Köck, Die völkerrechtliche Stellung des Heiligen Stuhls (Berlin 1975), 676, Anm. 225; ganz allgemein zur Heranziehung von Laien ibid., 485. 188 Gaudium et spes; zit. nach 577 (Art. 90). J88 Zit. nach ibid., 577 (Art. 90).

11. Familie

EHE UND FAMILIE

Die angemessene Lebensform Von Franz Kardinal König Es verhält sich mit Ehe und Familie so ähnlich wie mit der Kirche. Auch bei der Kirche ist zu unterscheiden zwischen dem, was wandelbar, und dem, was unwandelbar ist. Das ist nicht immer leicht. Für den Bereich der Kirche hat das Zweite Vatikanische Konzil diesen Unterschied herausgearbeitet. Lange, vielleicht zu lange, hatte man gemeint, daß sich in der Kirche überhaupt nichts ändern dürfte. Heute ist in vielem eine gegenteilige Entwicklung eingetreten. Heute meinen manche, daß alles in der Kirche nur zeitbedingt ist und das Dauernde nur das, was man gerne als die Sache Jesu bezeichnet: Nämlich Brüderlichkeit, Mitmenschlichkeit, Nächstenliebe. Auch bei Ehe und Familie war es oft so, daß man eine zeitbedingte Form der Familie z. B. die bäuerliche und bürgerliche Familie des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts - für die zeitlose und allgemeingültige Form der Familie hielt. Viele, die heute glauben, gegen Ehe und Familie ankämpfen zu müssen, kämpfen eigentlich gegen ein sehr relatives, keineswegs allgemein gültiges Bild, sie kämpfen gegen ein sehr zeitbedingtes Bild der Familie an. In der Diskussion über die gegenwärtige Familie wollen die Katholiken auf keinen Fall eme bestimmte historische Form von Ehe und Familie mit ihrem zeitlosen Wesensgehalt identifizieren. Man darf nicht übersehen, daß Ehe und Familie sich schon immer mit der Gesamtkultur einer Epoche gewandelt haben. Weder eine von einem bestimmten Sozialgefüge noch eine von einer bestimmten Kultur, Sitte oder Brauchtum geprägte Familie ist mit der Ehe und der Familie gleichzusetzen. Ähnliches gilt auch für die unhistorische Überschätzung des jeweils Modernen. Die patriarchalische Familie war keineswegs schlechter als die uns heute als Idealbild vorschwebende partnerschaftliche Familie. Sie war seinerzeit die dem damaligen sozialen und kulturellen Entwicklungsstand entsprechende Form. Gewisse äußere Erscheinungsformen der Familie werden immer einem Wandel unterworfen sein. Auch die heute gewiß verstärkt auf21 Festschrift Rossl

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Franz Kardinal König

tretenden Auseinandersetzungen in Ehe und Familie sind ebenso wie die Spannungen zwischen Familie und Gesellschaft im wesentlichen Anpassungsschwierigkeiten und bedeuten keineswegs einen Prozeß der Auflösung der Familie. Experimente, die Ehe und Familie im Grunde verneinen, wie etwa die sogenannten Kommunen, haben sich auch nach dem Zeugnis ihrer eigenen Propagandisten als lebensunfähig erwiesen und letztlich den Beweis erbracht, daß es sich dabei um keine vertretbare menschliche Existenzweise handelt. Der Fortbestand von Ehe und Familie als eine der menschlichen Natur ohne Zweifel angemessene Lebensordnung ist nicht nur eine Tatsache der bisherigen Menschheitsgeschichte. Ehe und Familie werden auch die tragende Lebensform der Zukunft sein und bleiben. Das ist nicht ein Wunschtraum katholischer Bischöfe, nicht eine soziale Forderung katholischer Verbände, das ist eine von der Wissenschaft erhärtete Tatsache. Sorgfältige wissenschaftliche Untersuchungen haben auch ergeben, daß das vielzitierte Schlagwort von der sozialen Isolierung der modernen Kleinfamilie in der sozialen oder gesellschaftlichen Wirklichkeit kein Fundament hat. Allerdings hat dieses Schlagwort viel zur Verunsicherung der Familie in der Gegenwart beigetragen. Die Hauptursache dieser unkritischen Verallgemeinerung liegt wohl darin, daß man die Trennung der Haushalte, wie sie im Laufe der Zeit notwendig geworden war, mit sozialer Vereinzelung beziehungsweise Abkapselung gleichsetzte. Aus der Tatsache, daß junge Eheleute heute ihren eigenen Haushalt, ihre eigene Wohnung haben wollen, folgt weder ein Niedergang der Familiengesinnung noch eine familienmäßige oder verwandtschaftliche Isolierung. Auch die Kleinfamilie der Gegenwart beruht in ihrer materiellen Existenz wie in ihrem seelischen Gefüge vielfach auf der Mithilfe der Großeltern, die, wo immer es geht, in die Nähe der verheirateten Kinder ziehen. Die in einem gemeinsamen Haushalt zusammenlebende Großfamilie früherer Zeiten lebte gewiß enger zusammen, ohne daß das Zusammenleben deswegen inniger war. Aber die Kritik an der Kernfamilie als soziales Grundgebilde setzt noch tiefer an. Man wirft ihr vor, daß in ihr der Mensch dem Menschen ganz "ausgeliefert" sei und keine Distanz zum anderen finde. Mangel an Selbständigkeit und Entfaltungsmöglichkeit, verbunden mit Frustration, Aggressivität und Neurosen seien die Folge; die Familie bleibe in einem Gruppenegoismus befangen, wird behauptet. Die Familie müsse daher "enttabuisiert" werden, so hörte man noch vor wenigen Jahren. Denn die Familienmitglieder seien in einem Binnenraum eingeschlossen, in dem sie nicht atmen können. Sie sollen deshalb entwurzelt, aus ihren natürlichen Banden herausgerissen und in den Großraum der Gesellschaft eingeführt werden, um sie durch die sozialen Verflech-

Ehe und Familie

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tungen frei zu machen. In der technisch-sozialen Wertwelt habe sich der Mensch eine Freiheitswelt geschaffen, in der die Freiheit viel radikaler gelingen müsse als in der Familie. Dadurch werde auch der Gruppenegoismus der Familien aufgelöst. All dies soll unter dem Schlagwort "Befreiung" geschehen. Dem ist entgegenzuhalten: Es ist ein Widerspruch in sich, wenn unfreie Familienmitglieder zuerst gesellschaftliche-humane Bedingungen ihrer Existenz schaffen sollen, um nachträglich die Freiheit zu realisieren. Nur bereits freie Menschen vermögen freie gesellschaftliche Verhältnisse zu schaffen. Wenn diese Freiheit in der Familie nicht wächst, wird sie in einem gesellschaftlichen Großraum noch weniger erreicht. Denn eine Gesellschaft wird unter solchen Voraussetzungen - durch den sogenannten Sozialisierungsprozeß ohne Familien - nur Egoisten erzeugen, die darauf aus sind, ihr Lebensspektrum auf Kosten anderer zu erweitern. Die Gesellschaft muß alles Interesse daran haben, daß die nachwachsenden Generationen, die in der Familie geformte Wir-Fähigkeit und Reife mitbringen. Wenn die grundlegenden menschlichen Werte dem Kind in der Familie nicht mitgegeben werden, merkt man es in der Schule, im Beruf, in der Gesellschaft. Man merkt es etwa an den milieugeschädigten Kindern. Milieugeschädigte Kinder sind im allgemeinen Opfer ihrer verwahrlosten Familien, in denen die Kinder keine Liebe, keine Mitmenschlichkeit, keine liebende Fürsorge erfahren. Denn die Liebe der Eltern zu ihrem Kind ist der Urgrund aller Mitmenschlichkeit und aller mitmenschlichen Liebe. Die Hilfsbedürftigkeit und Liebesbedürftigkeit des Kindes macht die Eltern immer wieder bereit, für das Kleinkind verfügbar zu sein, ihm Nestwärme zu geben. Junge Eltern werden in hohem Maße durch ihr Kind oder ihre Kinder "erzogen". Ein neues Lebens- und Verantwortungsbewußtsein entsteht in ihnen, mächtige Schritte in der Reifung ihrer Persönlichkeit werden getan. Ihr Dasein erhält eine einzigartige neue Dimension. Nicht zu übersehen ist schließlich ein anderer Erziehungsvorgang in der Familiengemeinschaft, der für eine gesunde Gesellschaft Voraussetzung ist: Es ist die Erziehung der Kinder in ihrem Zusammenleben. Sie lernen aus Erfahrung die Regel: "Was du nicht willst, das man dir tue, füge auch keinem anderen zu." Das in der Familie sich herausbildende Verhaltensmuster umschließt daher gegenseitiges Wohlwollen, Rücksichtnahme, persönliche Initiative, Verantwortung und das Bewußtsein der Freiheit. Das "Ich" weitete sich zum "Du". In der geordneten Familiengemeinschaft wächst das Bewußtsein des Friedens, das unerläßlich ist für ein den geistigen und leiblichen Bedürfnissen der Menschen entsprechendes und daher lebenswertes Leben. Es umschließt neben der Achtung füreinander das allen zukommende Maß von Freiheit. Es wächst der Sinn für Gerechtigkeit, Redlichkeit, Wahrhaftigkeit, Hilfsbereitschaft und 21"

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Worthalten. Die Familie weiß sich als Einheit im gemeinsamen Interesse am Wohlergehen des ganzen, das Voraussetzung für das W ohlergehen aller Familienmitglieder ist. Daraus bildet sich die anschauliche Idee des Gemeinwohls. Ja, es entsteht das Bewußtsein, daß all das für die Familiengemeinschaft Notwendige nur zustandekommt, wenn ein Ordnungswille die erforderlichen Verhaltensweisen der Familienmitglieder und das Zusammenwirken aller im Interesse des Ganzen gewährleistet. Mit wachsendem Verständnis für einen solchen Ordnungswillen im gemeinsamen Interesse ist auch die Idee der natürlichen und selbstverständlichen Autorität gegeben. Alle diese Werte: Wohlwollen, Liebe, Verantwortung, Bewußtsein der Freiheit, Ordnungswille haben in der Familie ihren natürlichen Entfaltungsbereich. Die sozialen Verhältnisse müssen allerdings so geändert werden, daß die Familie die objektiven Möglichkeiten erhält, die Freiheit zu entfalten. Soziale und ökonomische Strukturpolitik ist daher ein wesentliches Element jeder Familienpolitik. Alle strukturpolitischen Maßnahmen sind aber dann wertlos, wenn sie von einer Gesellschaft gesetzt werden, die die Familien für ihre eigenen egoistischen Interessen in Dienst nehmen will. Solche Förderung steht nicht unter dem Vorzeichen der Unterstützung, nicht die konkreten Familien sind gemeint, sondern eine gesellschaftliche Ideologie setzt ihre Interessen unter dem Mäntelchen der "Familienhilfe" durch. Strukturmaßnahmen müssen jedoch so gesetzt werden, daß sie ein positives Verhältnis von Mann und Frau, Eltern und Kindern ermöglichen. Davon sind wir heute noch weit entfernt. Gesellschaft und Umwelt sind gerade in Österreich - im Gegensatz zu anderen Ländern - in großem Maße familien- und kinderfremd, ja ziemlich familien- und kinderfeindlich. Das reicht von den so wenig kindgerechten Wohnungen über den Mangel an Spielplätzen, Kindergärten, billiger Kinderbekleidung bis zum öffentlichen Klima. Von dieser Kritik darf sich auch die katholische Kirche nicht ganz ausnehmen. In der Kirche wird zwar viel vom Kind geredet, aber wehe, wenn ein Kind im Kirchenraum den Mund aufmacht: Sofort richten sich strafende Blicke auf das Kind und eine verschüchterte Mutter sucht eilig den Ausgang oder droht dem Kind mit erhobenem Zeigefinger. Wie soll ein Mensch sich später im Raum der Kirche heimisch fühlen, wenn er als Kind erlebt hat, daß man in der Kirche zuerst einmal still zu sein hat. Das Kind soll auch im kirchlichen Bereich vor allem erfahren, daß J esus der Freund der Kinder ist, der gesagt hat: "Lasset die Kleinen zu mir kommen und wehret es ihnen nicht."

Ehe und Familie

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Das Kind soll J esus kennenlernen, der nicht beleidigt oder gestört wird, durch ein Lachen oder Weinen, durch ein leises oder ein lautes Wort eines Kindes. Einem Kind den Eintritt in das Leben gewaltsam zu verwehren ist ein schweres Unrecht; aber ist es nicht auch ein Vergehen, einem Kind Äußerungen dieses Lebens zu verwehren und zu verbieten, gerade im Hause Gottes? Wenn die gläubige Gemeinde sich nicht als Summe von Einzelindividuen empfindet, sondern als lebendiger Organismus, dann haben die Kinder die Möglichkeit, in die gläubige Gemeinschaft hineinzuwachsen. Wie es ein individualistisches Christentum gibt, gibt es auch ein individualistisches Eheideal, dem es in besonderer Weise auf die Glückserfüllung der Eheleute im persönlichen Verhältnis zueinander ankommt. Dieses individualistische Eheideal muß zwangsläufig in einen gewissen Gegensatz zur Familiengemeinschaft treten. Die Familie weist ihrer ganzen Anlage nach immer eine überindividuelle Zielsetzung auf. Die Ehe findet erst in der Familie, in den Kindern ihre zentrale Erfüllung, obwohl die Ehe einen kostbaren Eigenwert darstellt. Denn bei einseitiger Ausrichtung der Ehe an die Familie ohne ausreichende eheliche Selbstfindung kann den Ehepartnern heute nicht die notwendige Lebenskraft erwachsen, die sie brauchen, um Fundament einer funktionierenden Familie zu werden. Dies ist ein Gedanke, den besonders auch die Enzyklika "Humanae Vitae" unterstreicht. Eine Aussage über Ehe und Familie der Gegenwart kann gerade von Seiten der Kirche nicht am Problem der unvollständigen Familien vorbeigehen. Unvollständige Familien wären in diesem Zusammenhang jene, in der ein Elternteil durch Tod, Ehescheidung, böswilliges Verlassen oder Trennung fehlt. Aber auch die uneheliche Mutter mit ihrem Kind bildet eine unvollständige Familie. Gerade diese Familien verdienen besondere Anteilnahme und Hilfe, wobei ihre oft bestehende seelische Not einer religiösen Sinndeutung und eines seelsorglichen Beistandes bedarf. Daneben ist auch ein Appell an Gesellschaft und Staat am Platz, sich der Nöte dieser unvollständigen Familien anzunehmen. Vor allem gegenüber den unehelichen Müttern wird die Kirche heute mitfühlendes Verständnis, Hilfe und Respekt aufbringen müssen, weil sie trotz gesellschaftlicher Verfemung nicht den bequemeren Weg der Abtreibung gegangen sind. Angesichts der Zeitumstände ist die erzieherische Aufgabe des Elternhauses heute besonderen Schwierigkeiten und Belastungen ausgesetzt. Derzeit herrscht überaus starkes Interesse an schulischer und vorschulischer Erziehung. Die Diskussion auf diesem Gebiet ist notwendig und begrüßenswert. Allerdings muß man dabei beachten, daß

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Franz Kardinal König

Erziehung weder mit drei noch mit sechs Jahren beginnt, sondern bei der Geburt. Es sind gerade die ersten Lebensjahre, ja die ersten Lebensmonate, die von ausschlaggebender Bedeutung sind. Fehler und Versäumnisse während dieser Zeit können später vielleicht nur mehr schwer oder gar nicht mehr gut zu machen sein. Unzählige Kinder werden in ihrer Lebensexistenz geschädigt, weil ihnen nicht genügend personale Zuwendung zuteil wird, weil entweder Vater oder Mutter oder beide für sie nicht genügend Zeit hatten. Zeit für sein Kind zu haben, müßte oberstes Gebot jeder Erziehung sein. Eine Familie, in der keiner für den anderen Zeit hat, muß über kurz oder lang in sich zusammenfallen. Der erste wichtige psychische Vorgang im Leben ist die "Ich-Werdung", die Selbstwerdung des Kindes, die Individualisation. Alle Phasen der "Ich-Werdung" entfalten sich am besten unter der liebenden Obsorge der Mutter. Die Gesellschaft sollte es der Mutter ermöglichen, bei ihrem Kind zu bleiben, ohne daß deswegen die Familie in finanzielle Nöte geraten muß. Aber den jungen Menschen drängt es auch vom "Ich" zum "Du": Auf der Individualisation aufbauend kommt jener zweite wichtige Prozeß in Gang, der Sozialisation genannt wird. Dieser Ausdruck wird auch in der Pastoral konstitution über die "Kirche in der Welt von heute" des Zweiten Vatikanischen Konzils an mehreren Stellen erwähnt. Damit ist eine immer stärkere Einbeziehung des Menschen in gesellschaftliche Verflechtungen gemeint. Pädagogik und Soziologie verstehen darunter die Erziehung des Kindes zur Einhaltung der in einer Gesellschaft geltenden Verhaltensnormen. Dieser "Sozialisationsvorgang" ist aber nicht "wertneutral" zu denken. Daran zu erinnern ist deshalb wichtig, weil Bestrebungen vorhanden sind, durch eine vorschulische Erziehung die Kinder im frühesten Kindesalter einer weltanschaulich neutralen Sozialisationspädagogik zu unterwerfen. Es ist aber eines der allerursprünglichsten Menschenrechte der Eltern, die Grunderziehung in weltanschaulicher und sittlicher Hinsicht bei den Kindern ausschließlich zu bestimmen. Auf dieses Erstrecht der Eltern zu achten, ist heute um so wichtiger, als der zweite Erziehungsfaktor, die Schule, eine ständige Auseinandersetzung mit dem provoziert, was dem Kind vom Elternhaus vermittelt wird. Von nicht geringerer Bedeutung ist der dritte Erziehungsfaktor, das heißt die Einwirkung der gesellschaftlichen Umwelt auf die Kinder und auf die heranwachsende Jugend: Die tägliche Umwelt auf der Straße, Fernsehen, der Einfluß von Kino, Rundfunk, Zeitung, Lektüre. Dieser Erziehungsfaktor des Milieus stellt fort und fort Wahrheit und Wertüberzeugungen in Frage, die durch die Sozialisation im Elternhaus vermittelt wurden. Dazu kommt noch das Trotz-

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alter, das einem Bruch mit solchen Überzeugungen besonders zugänglich ist. Auf diesem Hintergrund kommt der "Personalisation" des Kindes eine besondere Bedeutung zu (vgl. dazu die Pastoralkonstitution des Ir. Vatikanischen Konzils, Nr. 6). Mit der "Ich-Werdung" oder Personalisation des jungen Menschen ist das Bewußtsein des Person-Seins und des Person-Wertes und der darin begründeten Verantwortung verbunden. Weil dem Menschen als Person Freiheit und daher sittliche Verantwortung für seine Selbstverwirklichung eigen ist, besitzt er Menschenwürde. In der Familie und durch die in ihr waltende Liebe und Achtung füreinander erfährt der Mensch seinen Personenwert, erfährt er die Menschenwürde und lernt er das von ihr geforderte Verhalten. Es ist die Familie, in der ihm das Bewußtsein seiner Freiheit und seiner Verantwortung vermittelt wird und damit auch das, worin sein wahrhaftes Menschsein besteht. Das sittliche Gewissen rückt dann in den Mittelpunkt des Personbegriffes. Eine Betrachtung der Familie kann an dem brennenden Problem der Stellung der Frau und ihrer Aufgaben in einer geänderten Welt nicht vorbeigehen. Es gibt Entwicklungen, die durchaus positiv zu werten sind, wie die höhere Bildung der Frau, die Berufstätigkeit der Frau, die Technisierung des Haushaltes und vieles andere mehr. Aber Konflikte, die einer geistigen Auseinandersetzung bedürfen, können nicht ausgetragen werden, indem auch die Frauen zum Tanz um das goldene Kalb gezwungen werden. Die Emanzipation der Frau, ihre Selbstverwirklichung kann nicht darin bestehen, die selben Fehler zu begehen wie die Männer. Selbstverwirklichung in einem besonderen Sinn ist ein Auftrag auch für Christen: Jeder hat seine Talente und Fähigkeiten nach bestem Wissen und Gewissen zu verwalten. Darin liegt die wahre Selbstentfaltung: Alle Seiten der Persönlichkeit zu einem harmonischen Akkord erklingen zu lassen, einer Symphonie zur Ehre Gottes und zur Freude der Menschen. Also Selbstverwirklichung nicht um seiner selbst willen, sondern immer nur um des anderen willen. Nicht die Befassung mit sich selbst erhält das Leben, sondern die Beschäftigung mit und die Sorge für den anderen Menscl1en. Ob allein oder in der Ehe lebend, der Weg zu Gott führt über den Mitmenschen. Zwei Tendenzen unserer Zeit gilt es besonders zu widerstehen: Einmal der Vermassung, der Bürokratisierung aller menschlichen und gesellschaftlichen Beziehungen, der zunehmenden Entpersönlichung. Zum anderen aber der Isolierung, der Vereinsamung, also der zunehmenden Vereinzelung. Es gilt daher alles zu fördern, was der Selbst-

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verantwortung einerseits und der Kommunikationsfähigkeit andererseits dient. Der Prototyp der Gemeinschaft, der diese Forderung erfüllt, ist grundsätzlich die Familie. Sie ist eine Sphäre der Gegenseitigkeit, in der der Mensch den Menschen in einem absoluten Sinne ernst nimmt. Wo dies geschieht, brechen in der Familie Freiheitsräume auf, die die Familie für die Gesellschaft frei geben. Wo dies geschieht, ist die Familie Präsenz des christlichen Seins, sie entspricht dem, was das Konzilsdokument über die "Kirche in der Welt von heute", dort, wo von Familie und Ehe die Rede ist, als Hochziel christlicher Ehe und Familie darstellt.

DER LAIE IN FAMILIE UND GEMEINDE - GELEBTES ZEUGNIS

überlegungen zu Leben und Aufgabe des Laien aus der Sicht des Neuen Testaments Von Walter Kirchschläger

I. Zur Problemstellung 1. An das Neue Testament den Begriff "Laie" heranzutragen und ihn in Verbindung zu Verkündigung und Gemeinde zu setzen, ist ein nicht alltägliches und daher näher zu begründendes Unterfangen. Der Terminus selbst kommt im Neuen Testament, ja insgesamt in der Bibel nicht vor - wie überhaupt festzustellen ist, daß die junge Kirche eine solch grundsätzliche in das Wesensverständnis des Menschen eingreifende Unterscheidung verschiedener "Gruppen" in der gläubigen Gemeinschaft nicht kennt. Salche Begrifflichkeit entspringt erst einer Theologie, die sich wohl schon seit der frühen Väterzeit entwickelt hat und den Amtsträger vom Nicht-mit-einem-Amt-Beauftragten bewußt abhebt, wobei das entscheidende Kriterium das Sakrament der Weihe in voller, theologisch ausgeprägter Form darstellt.

Der "homo laicus" ist allerdings eine nachbiblische Umschreibung für viele Menschen, die in den Darstellungen des neuen Testaments begegnen, bzw. über deren Person oder Lebensform konkrete Aussagen gemacht werden. Denn unbeschadet der fremdartigen Begrifflichkeit gibt es in jeder Gemeinschaft, auch in jener der Glaubenden, verschiedene Funktionen, Aufgaben, Ämter. Dadurch soll nicht versucht werden, den "Laien" nun unvermutet in die Schrift hineinzulesen. Damit soll vielmehr einsichtig gemacht werden, daß die nachfolgenden Überlegungen nicht in Widerspruch stehen zur zurecht Beachtung gebietenden Aussageabsicht der neutestamentlichen Schriften aus ihrer Zeit heraus, und daß es berechtigt ist, nach Hinweisen für die Lebens- und Glaubensbewältigung des heutigen Standes des Laien zu forschen und diese in Beziehung zu setzen zu entscheidenden Lebensbereichen und Lebensfunktionen der Una Saneta Catholica. Der Versuch der Theologie, im Anschluß an das II. Vatikanische Konzil Stellung und Funktion des Laien in der Kirche kritisch und schöpferisch zu reflektieren, unter-

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Walter Kirchschläger

streicht zugleich die Notwendigkeit einer Rückbesinnung auf die Aussagen der Schrift: Wäre es hier nicht doch möglich, etwas differenzierter zu fragen, welche Anhaltspunkte, Vorbilder und Imperative der glaubende Mensch aus den biblischen, insbesondere den neutestamentlichen Schriften in sein Heute heben kann? Nicht um Rückverweis des Laien in die Heilige Schrift kann es also gehen, sondern um Neuorientierung des Laien aus dem Wort der Schrift über all jene, die seinem heutigen Stand am ehesten vergleichbar sind. Um einer möglichst klaren Abgrenzung willen sei auf die Bestimmung verwiesen, die das H . Vatikanische Konzil vorgelegt hat: "Unter der Bezeichnung Laien sind hier alle Christgläubigen verstanden mit Ausnahme der Glieder des Weihestandes und des in der Kirche anerkannten Ordensstandes, das heißt die Christgläubigen, die, durch die Taufe Christus einverleibt, zum Volk Gottes gemacht und des priesterlichen, prophetischen und königlichen Amtes Christi auf ihre Weise teilhaftig, zu ihrem Teil die Sendung des ganzen christlichen Volkes in der Kirche und in der Welt ausübenI." Damit ist der Weg der vorliegenden Untersuchung kurz skizziert. Anhand einer sensiblen Lektüre der neutestamentlichen Texte sind in allen Stufen der christlichen Verkündigung 2 Textabschnitte oder Elemente in den Texten erkennbar, deren Beachtung für das Leben des Christen, und zwar eben des Laien, dem "der Weltcharakter in besonderer Weise eigen"3 ist, von erheblicher Bedeutung wäre. Der hier versuchte Beitrag hebt aus drei Bereichen paradigmatisch scheinende neutestamentliche Texte heraus, an Hand derer abschließend die Formulierung einiger Imperative unternommen wird. Daraus mag erkennbar sein, daß auch aus der Sicht des Neuen Testaments der Laie nicht jener ist, von dem sich seine Bezeichnung philologisch herleitet: ein "Ungelehrter, Nichtfachmann"'. 2. Die Art der Problemstellung fordert zuvor eine kurze Besinnung auf den hermeneutischen Hintergrund des beabsichtigten Weges, wird doch hier der biblische Text bewußt aus einem konkreten, dem Text selbst noch fremden Blickwinkel heraus befragt. Bedenken, die Einseitigkeit vermuten lassen, scheinen zunächst berechtigt. Dennoch bleibt zu beachten, daß die Fragestellung jenem durch geschichtliche, soziale, kulturelle und andere umweltbedingte H. Vatikanisches Konzil, Konst. Lumen gentium VI 31 Abs. 1. Vgl. Instructio Sancta Mater Ecclesia vom 21. April 1964; n. 2: AAS 56 (1964), 714- 716. S Lumen gcntium (Anm. 1) IV 31 Abs. 2. 4 F. Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin !11975,419. 1

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Der Laie in Familie und Gemeinde - gelebtes Zeugnis

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Veränderungen entstandenen Verstehenshorizont entspricht, aus dem al'lein wir als Menschen des 20. Jahrhunderts die Schrift lesen dürfen und verstehen können. Nur auf Grund der inneren Lebendigkeit der Schrift, die nicht nur Buchstabe, sondern auch für den Menschen heute in menschliches Wort gefaßte, an jeden einzelnen gerichtete Anrede Gottes an den Menschen ist, können wir die Texte aus ihrer ursprünglichen Situationsgebundenheit lösen und in unserer heutigen Zeit neu zu verstehen suchen5 • Insofern ist die Schrift also lebendige Botschaft auch für jene Bereiche menschlichen Lebens, deren konkrete Ausfaltung und Aufgliederung erst ein geschichtliches Produkt ist - selbst wenn dieser geschichtliche Vollzug bereits mit der ersten christlichen Generation eingesetzt und sich weiterentwickelt hat! Solches Textverständnis hat sich jedoch auch selbst zu bescheiden. Daher wird Zurückhaltung geboten sein und beachtet werden müssen, daß all jene Überlegungen, die angesichts konkreter Texte über das Leben des Laien heute angestellt werden, wohl im Text mitschwingen, die ursprüngliche Sprechintention des (menschlichen) Verfassers jedoch übersteigen und demnach in der transzendenten Tiefe des Textes zu orten sind. Gerade dieses feinfühlende Verständnis biblischer Texte kann deren Botschaft in vertieftem Maße erschließen.

11. "Laien" in Umgebung und Wirken Jesu 1. Die Divergenz der historischen Fragestellung Als Ausgangspunkt der Untersuchung ist nach den Hinweisen zu fragen, die uns die Darstellung von Person und Wirken Jesu durch die Evangelisten über den "Laien" erschließen lassen. Freilich ist dabei zweierlei zu berücksichtigen: -

Die eingangs vorgetragene Umschreibung als getaufte und so der Kirche zugehörige Menschen ist in diesem Stadium nicht in vollem Sinne zutreffend. Vielmehr muß man auf jene Menschen blicken, die ohne besondere Hervorhebung das Leben aus ihrem (damals alttestamentlich-jüdischen) Glauben leben.

-

Als Quellen für die Erhellung von Person und Wirken Jesu sind die Evangelien heranzuziehen. Obwohl mit entsprechender zeitlicher Distanz zu Jesu Leben entstanden, kann nur aus ihnen mancher Anhaltspunkt über das unmittelbare Verhältnis Jesu zu seiner Umwelt gewonnen werden. Natürlich bleibt dabei ihr Charakter als Verkündigungs schriften zu berücksichtigen, als Zeugnisse der glau-

6 Vgl. W. Kirchschläger, Was ist die Bibel? CPB 93 (1980), 45 - 52, bes. 51- 52; J. Kremer, Die Bibel lesen - aber wie?, Stuttgart 81978,17 - 26.

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benden Vertreter der jungen Kirche, geprägt nicht nur vorn Erleben Jesu von Nazaret, sondern in gleichem, ja stärkerem Maße vorn erhöhten Herrn und Christus6 • Unbeschadet - d. h. nicht unbeachtet - manchen historischen Vorbehalts kann jedoch der ipsissimus habitus Jesu in Wort und Tun auch in dieser Frage erschlossen werden. 2. Die Verkündigung Jesu

Auf Grund der sprachlichen Defizienz des Menschen ist es nur schwer möglich, das verkündigende Wirken Jesu in entsprechender Weise darzulegen: Denn verläßt der Mensch im Sprechen den ihm adäquaten, zwischenmenschlichen Bereich, bleibt seine Ausdrucksfähigkeit unzureichend; besonders ist dies dann der Fall, wenn der Mensch versucht, göttliches Wirken in rechter Weise auszudrücken 7 • Dies gilt auch für die Verkündigung J esu von N azaret, dessen Wirken meist in zwei Dimensionen entfaltet wird: seine Verkündigung im Wort und sein Handeln - besser: seine Verkündigung - im Tun. Wenn die Zweiteilung im Folgenden in dieser Weise beibehalten wird, entspricht das der notwendigen Beschränktheit - nicht jedoch ohne die Gemeinsamkeit von Tat und Wort im Wirken Jesu im gedanklichen Hintergrund zu beachten. a) Jesu Botschaft im Wort wird eingangs des Markusevangeliums in knapper Weise zusammengefaßt: "Erfüllt hat sich die Zeit und nahegekommen ist die Herrschaft Gottes; Kehrt um und glaubt an die Frohbotschaft." (Mk 1,15)

Dieser kurze Satz kann Ausgangspunkt der Überlegungen sein. Jesus verkündet in Galiläa, aus der Sicht des Mk enthält diese Formulierung in prägnanter Weise den Inhalt der Botschaft Jesu. Die Adressaten dieser Verkündigung sind die Zuhörer im Volk, die Botschaft gilt für alle. Insofern ist sie kurz zu bedenken. Der viergliedrige Satz enthält zwei Heilsaussagen und zwei Imperative als Konsequenz daraus. Mit der Erfüllung der Zeit ist auf den reichen Hintergrund alttestamentlicher Erwartung auf das endgültige Handeln Jahwes angespielt 8 , das sich in Jesus von Nazaret nun erfüllt. B Vgl. J. Kremer, Der Glaube an Jesus Christus und die neuere historischkritische Exegese: LS 28 (1977), 1 - 10. I Vgl. Kirchschläger, Bibel (Anm. 5), 49. 8 Vgl. aus alttestamentlicher und jüdischer Sicht vor allem 2 Sam 7,11 - 15; Jes 9, 1- 6; 11, 1-16; weiters PsSa117; 18, 6 - 8; Test Lev 18; 1Q S IX 10 -11; 1Q Sa 11 12. Vgl. zum Ganzen F. Dexinger, Die Entwicklung des jüdisch-

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Mit seinem Kommen, in seiner Verkündigung wird die Zuwendung Gottes unüberbietbar erfahrbar 9 und unwiderruflich endgültig. Der Gott, der sich in der Geschichte des Volkes Israel als ein Gott für das Volk geoffenbart hatte 10 , gibt sich selbst in seiner Liebe im Sohn in die Hand der Menschheitl1 • Herrschaft Gottes meint dieses Hervortreten des Gutseins Gottes, bedeutet Verwirklichung der Zusage seiner Liebe in höchstem Maße12 • Im Auftreten Jesu von Nazaret bricht diese neue Wirklichkeit an13 • Der Mensch in jener Zeit also und jeder, der diese Botschaft glaubend hört, lebt in dieser neuen Wirklichkeit: nicht getragen von der Verheißung, sondern hineingenommen in die Erfüllung durch Jesus Christus. Dementsprechend ist an seine Existenz auch ein zweifacher Imperativ gerichtet. "Kehrt um" ist weit mehr als bloß Bekehrung, Abkehr vom Bösen. Die hier geforderte metanoia erfordert eine vollkommene Umwandlung der eigenen Person, eine existenzielle Wendung 14, eine Abkehr vom Bösen, die wesenUich verbunden ist mit einer Zuwendung zu Gott. Darin kann sich der Mensch Gott öffnen, zustimmend seiner Botschaft zuwenden, eben: glauben. Im euangelion, das ihm angeboten wird, verbindet sich die Botschaft mit dem Mittler, Jesus selbst bietet sich dem Menschen als die Heilsverkündung Gottes an 16 , die eine Entscheidung des Menschen fordert1 6 • Was Mk hier am Beginn seines Evangeliums gleichsam als "Programm" der Verkündigung Jesu zusammenfaßt, kehrt später im Evanchristlichen Messianismus: BiLi 47 (1974), 5 - 31. 239 - 266. Aus neutestamentlicher Sicht ist vor allem auf das mt Verständnis des WirkensJesu zu verweisen. Ausdruck dafür sind die 33 Reflexionszitate, die das Auftreten Jesu vor dem Hintergrund des Alten Testaments zu deuten versuchen. e Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Konst. Dei verbum I 2.4. 10 Deutlicher Ausdruck dieser Zuwendung Jahwes ist der Bundesschluß, in dem Jahwe sich als ein Gott für sein Volk erweist; vgl. Gen 17,1 - 9; Ex 6,2 - 8; dazu N. Lohfink, Die Landverheißung als Eid. (SBS 28), Stuttgart 1967; J. Marböck, Bund und Gemeinde: BiLi 52 (1979), 112 - 120. 11 Vgl. Joh 3, 16 - 18. 12 Vgl. W. Kirchschläger, Das Reich Gottes ist mitten unter uns (Lk 17, 21 b). überlegungen zur Gottesherrschaft anhand des NT: Jetzt 11(1 (1979), 3 - 5.

13 Vgl. R. Schnackenburg, Gottes Herrschaft und Reich, Freiburg 41965, 79 -109; ders., Der eschatologische Abschnitt Lk 17,20 - 37; Melanges Bibliques. Fs. B. Rigaux, Gembloux 1970, 407 - 438; H. Conzelmann, Die Mitte der Zeit. Studien zur Theologie des Lukas. (BHTh 17), Tübingen 81977, 111 -ll6.

I' Die Moraltheologie spricht von einer optio fundamentalis; vgl. M. Flick ( Z. Alszeghy, L'opzione fondamentale della vita morale e la grazia: Gr. 41

(1960), 593 - 619. 15 Vgl. Dei verbum (Anm. 9), I 2.

18 Vgl. dazu die johanneische Sicht, die besonders Joh 3, 16 - 18 zum Ausdruck kommt: In Glauben oder Unglauben an Jesus vollzieht sich für den Menschen das Gericht.

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gelium nochmals wieder. Statt der Imperative Mk 1, 15 steht der harte Satz: "Wer hinter mir hergehen will, der verleugne sich selbst, lade sein Kreuz auf und gehe hinter mir her." (Mk 8, 34) Dieses Nachfolgewort ist weitaus deutlicher formuliert; gerne wird es deswegen im Verständnis auf die wenigen "Jünger" eingeengt; daß es an einen weiteren Kreis gesprochen ist, lehrt der Kontext, in den es der Verfasser gestellt hat: "Jesus rief die Jünger und die Volksmenge zu sich ... " (Mk 8, 34 a) . Natürlich orientiert sich die Ausdrucksweise am Verhältnis des Schülers zu seinem Rabbi; gerade weil sie sich dieser Formulierweise als Bild bedient, spricht sie jedoch nicht nur den Jünger sensu stricto an. Umkehr als Abkehr und Zukehr zu Gott ist ohne dieses Orientieren am Beispiel Jesu für keinen Mensch möglich. Demnach gelten auch die damit verbundenen Forderungen Jesu nicht für wenige, sondern für alle, wenngleich ihre Verwirklichung die verschiedensten Formen erhalten kann. Die griechischen Verbformen der an den Vorsatz angeschlossenen Imperative zeigen die Bedeutungsnuancen des Rufes Jesu. Die Aoristform aparnesastho 17 zeigt die Einmaligkeit der geforderten Entscheidung 18 • Selbstverleugnung hat dabei nichts zu tun mit leidenschaftsloser Selbstaufgabe, vielmehr meint es die Hintanstellung des eigenen Ich hinter den Willen eines anderen, die Zuordnung der ganzen Persönlichkeit unter die Herrschaft Gottes 19 • Letztlich drückt der Verfasser des Evangeliums damit aus, was unter Umkehr zu verstehen ist.

arato, ebenfalls Aoristform, charakterisiert in ähnlicher Weise die hier gemeinte persönliche Entscheidung, in der sich der WiHe des Menschen auf Gott hin ausrichtet. Auf Gott hin ausgerichtet sein in der eigenen Existenz, darf heißen, ihm näher zu kommen; dies aber gelingt nur in der Bereitschaft, dem Sohne ähnlich zu werden. Glauben an Gott in Jesus Christus bedeutet für jeden das Einlassen auf die Schicksalsgemeinschaft einer Taufe auf den Tod20 • Daß solche Entscheidung der 17 Mk verwendet das Verbum nur an der vorliegenden Stelle und in der Passionserzählung, ebenso Mt; bei Lk steht es außerdem noch Lk 12, 9. 18 Vgl. M. Zerwick, Graecitas Biblica, Rom 51966, § 242; F. Blass I A. Debrunner I F. Rehkopf, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, Göttingen 14 1976, § 318, 1. n Vgl. Joannis Chrysostomus, In Matth. Horn. LV al. LVI: J . P. Migne, PG LVIII, Paris 1862, 541- 542; C. Spicq, Theologie Morale du Nouveau Testament II. (Etudes Bibliques), Paris 1965, 714 - 715. Vgl. dazu auch das paulinische Selbstverständnis: Der Apostel weiß sich als Sklave Gottes, nicht mehr der Sünde: Röm I, 1; Phill, 1; dazu Röm 6,17 -18) .

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steten überprüfung und Erneuerung bedarf, betont Lukas in seiner Wiedergabe des Jesuswortes: Er fügt zum zweiten Imperativ ein kath' hemeran ein: "der lade täglich sein Kreuz auf" (Lk 9, 23). Um das rechte Verständnis des Textes zu bewahren, bleibt zu beachten, daß nicht vom Kreuz Jesu die Rede ist: Im Vordergrund steht nicht (unbedingt) ein Gehen hinter Jesus in den (gewaltsamen) Tod; vielmehr die bewußte Annahme der Last des Heute im Blick auf Jesus: Denn das Kreuz Jesu begann nicht erst auf Golgatha, sondern mit seiner Menschwerdung21 • Aus den zwei geforderten Entscheidungen des Menschen folgt eine Haltung: "und gehe hinter mir her" (Mk 8, 34). Tatsächlich ist hier nochmals das gebrauchte Bild heranzuziehen: Der Schüler schreitet hinter dem Meister, um sich an seinem Tun und an seinem Wort orientieren zu können: Anschauungsunterricht. "Wie in einem Spiegel" (1 Kor 13, 12) kann auch der Mensch heute in der Verkündigung der frühen Kirche auf Jesus blicken. Konkret meint dies ein sentire cum ecclesia und ein agere cum evangelio, in steter überprüfung, Erneuerung der Entscheidung und Vertiefung des eigenen Weges im Beispiel Jesu. Jesus hat dafür selbst in seinem Leben Beispiele gesetzt und so Richtlinien hinterlassen, die jeder in seiner Verantwortlichkeit aufgreifen und anwenden muß. Demnach ist die Pluralität des christlichen Lebens nicht nur notwendig, sondern auch wünschenswert: eine uniforme Lebensgestaltung aller Menschen entspräche schlecht der Vielfalt der Schöpfung, von der Vielgestalt der Natur bis zu Begabungen und Charismen, die der Mensch in sich entdeckt. Eine gewisse Spannung in der Verwirklichung solch streng formulierten Imperativs bleibt wohl bestehen - wie ein weiterer Textabschnitt zeigen kann: Als Jesus in das Haus der Maria und Marta kommt, reagieren die zwei Frauen in verschiedener Weise: "Maria setzte sich dem Herrn zu Füßen und hörte seinen Worten zu. Marta aber war ganz davon in Anspruch genommen, für ihn zu sorgen" (Lk 10,39 - 40). Auf dir entsprechende Frage der letzteren antwortet Jesus' "Marta, Marta, du machst dir viele Sorgen und Mühen. Aber nur eines ist notwendig ... " (Lk 10,41 b - 42 a). Nicht um die Vernachlässigung irdischer Sorge und alltäglicher Betriebsamkeit geht es in dieser Erzählung, aber um die Kunst und Gabe, das Wesentliche zu erkennen. Die richtige Wertung der verschiedenen Akzente und Schwerpunkte des Lebens bedarf immer neuer Überlegung. Gerade ob der Einzigartigkeit jedes Menschen ist das eine, das 20 21

Vgl. Röm 6, 1 - 14, dazu unten lIub !II. 3. a). Vgl. Phil 2, 6 - 11.

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allein notwendig ist, für jeden in anderer Weise erkennbar und erfahrbar und oft nur in der Bewältigung einer inneren Spannung zu verwirklichen. Der Text mahnt jedoch auch vor allzu großer äußerer Betriebsamkeit, die bisweilen über den Mangel an innerer Stille und Ruhe hinwegtäuschen mag 22 • In der Suche nach dem einen Wesentlichen findet der Mensch den Weg seiner imitatio Christi 23 • In einem wichtigen Teil seiner Verkündigung hat Jesus die Anhaltspunkte für eine persönliche Entscheidung und Wegfindung konkretisiert. Mt überliefert in der Bergpredigt die Seligpreisungen, Lukas reduziert ihre Zahl, stellt ihnen jedoch genau entsprechend vier Weherufe gegenüber. In positiver und in negativer Form ist so ein Rahmen für das Leben des Christen in der Wirklichkeit der angebrochenen Gottesherrschaft abgesteckt: 20 Selig, ihr Armen, denn euch gehört das Reich Gottes.

21 Selig, die ihr jetzt hungert, denn ihr werdet satt werden. Selig, die ihr jetzt weint, denn ihr werdet lachen. 22 Selig seid ihr, wenn euch die Menschen hassen und aus ihrer Gemeinschaft ausschließen, wenn sie euch beschimpfen und euch in Verruf bringen um des Menschensohnes willen.

23 Freut euch und jauchzt an jenem Tag; euer Lohn im Himmel wird groß sein. Denn ebenso haben es ihre Väter mit den Propheten gemacht. 24 Aber weh euch, die ihr reich seid;

denn ihr habt keinen Trost mehr zu erwarten.

25 Weh euch, die ihr jetzt satt seid;

denn ihr werdet hungern. Weh euch, die ihr jetzt lacht; denn ihr werdet klagen und weinen. 26 Weh euch, wenn euch alle Menschen loben; denn ebenso haben es ihre

Väter mit den falschen Propheten gemacht.

(Lk 6, 20 - 26)

Die Verwirklichung dieses "Rahmenprogrammes" wird im Leben jedes einzelnen Menschen eine verschiedene Form annehmen. Entscheidend ist auch hier für den Christen die Reihung der Werte und die 22 Dazu sind auch die bildhaften Ermahnungen der Bergpredigt zu beachten: vgl. Mt 6, 26. 28 - 29; dazu G. Schneider, Das Evangelium nach Lukas Kapitell - 10. (ÖTK 3/1), Gütersloh 1977, 252. 23 Vgl. so auch Mt 7,21: "Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr! Herr! wird in das Himmelreich kommen, sondern nur, wer den Willen meines Vaters im Himmel erfüllt." Vgl. auch 11. Vatikanisches Konzil~ Dekret Perfectae caTitatis 5.

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damit verbundene Sinngebung und Sinnfindung: Nach detnMaße, nach dem es gelingt, Reichtum und Armut, Freude und Trauer, Sättigung und Hunger, ja Wohlmeinen der Menschen und Verfolgung einzuordnen in die grundsätzliche Hinordnung des Lebens auf Gott, darf der Mensch diese Zusage des rettenden Wirkens Gottes auf sich beziehen. Denn das Wort Jesu, vielleicht in der Verkündigung neu gefaßt24, enthält mehr als den bloßen Wunsch oder die Verheißung: makarioi ... wörtlich zu übertragen "Heil denen, die ... "25 - ist Zusage der Liebe Gottes26 • Unverkennbar klingt besonders in der lukanischen Gegenüberstellung des "Selig" und "Wehe" also der Gerichtsgedankean und verweist auf den Ernst der Situation, in der der Mensch nach der Verkündigung Jesu steht. Die Auswahl der vier konkreten Lebenssituationen im biblischen Text ist wohl von der Lage jener mitbestimmt, denen diese Botschaft ursprünglich verkündet wurde; daß die Beispiele pars pro toto stehen, zeigt ein Blick auf die Gesamtgestaltung der Bergpredigt (Mt 5 - 7)27, bzw. der Feldrede (Lk 6, 20 - 49). Auch auf jene Texte wäre in diesem Zusammenhang einzugehen. Das Leben, das der einzelne Mensch zu bewältigen hat, darf aus der Sicht der Verkündigung Jesu nicht als iso'liertes Dasein verstanden werden, sondern als ein in gemeinsamer Verantwortlichkeit beschrittener Weg zu Gott. Neben anderen Worten Jesu sind in der Gemeinderede des Mt verschiedene Anweisungen Jesu überliefert, die auf die Bedeutung dieser Gemeinsamkeit hinweisen. So ist der Bruder, der sündigt, in Liebe und Diskretion zurechtzuweisen (Mt 18, 15), und dem Beter, der mit anderen im Namen Jesu versammelt ist, wird die Gegenwart des Herrn verheißen (Mt 18, 20). Dieses grundsätzliche Verständnis eines christlichen Lebens in der Gemeinschaft greift schon die junge Kirche auf, wenn sie sich wesentlich als die zum Bekenntnis an den Herrn versammelte Gemeinde versteht 28 und ihr Eigenverständnis durch das Bild vom Leib geprägt wird 29 • 21 Die Frage nach der ipsissima vox für diese Texte ist umstritten, zumal angesichts der verschiedenen überlieferung Mt 5 und Lk 6 nur schwer zu erschließen ist, wer dem ursprünglichen Wortlaut in seiner Tradition eher gefolgt ist. Gerade der Hinweis auf die Propheten (Lk 6, 23. 26) rückt den Text sehr nahe an Jesus heran. Vgl. zum ganzen auch H. Schürmann, Das Lukasevangelium I. (HTKNT 3/1), Freiburg 1969, 328. 25 Dahinter verbirgt sich das hebräische salom, das mehr aussagt als bloß "Friede": Gemeint ist damit die innere Ruhe einer ungestörten Gemeinschaft mit Gott. Vgl. W. Kirchschläger, Christus, unser Friede: BiLi 48 (1975), 173 bis 179. 26 Als fehlende Kopula wäre hier die indikativische Form (also: "ist") zu ergänzen. 27 Vgl. J. Kremer, Die Bergpredigt Weisung Jesu Christi: LS 30 (1979),

157 - 162. 28 29

Vgl. besonders 1 Kor 1, 2, dazu unten sub UI. 3. a). Vgl. Röm 12, 4 - 8; 1 Kor 12 passim, dazu unten sub IU. 3. b).

22 Festschrift Rossl

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b) Die oben kurz dargelegte Zusammenfassung der Botschaft Jesu vom Herannahen des Gottesreiclles (Mk 1, 15, vgl. S. 332) wird nicht nur in der Predigt Jesu weiter entfaltet. In gleichem Maße und untrennbar damit verbunden ist Jesu Handeln als Wirklichkeit gewordene Verkündigung der Gottesherrschaft zu verstehen. Auf einige Aspekte von Jesu Botschaft in der Tat soll - exemplarisch - kurz hingewiesen werden. Das Wirken Jesu ist von einer großen Offenheit gegenüber allen Menschen gekennzeichnet. Anders als die durch strenge Gesetzesbeobachtung geprägten Schichten des damaligen Judentums kennt Jesus in seiner Zuwendung zum einzelnen und in seinem Engagement für die Menschen keine sozialen oder durch religiöse Vorschriften errichtete Schranken. Ansatzweise reicht sein Wirken sogar über das Judentum hinaus 3o • Das bei den Synoptikern überlieferte Wort "Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken" erweist sich als Schlüssel zur Dimension des Wirkens Jesu, dem auch ein Hinweis auf das Ziel beigefügt ist: "Ich bin gekommen, Sünder zu berufen, nicht Gerechte" (Mk 2, 17 par). Dieses Wort Jesu, das sein ganzes Handeln prägt, bedeutet in keiner Weise Exklusivität, sondern verdeutlicht dem Menschen eindringlich den Platz, den er vor Gott hat: vergebungsbedürftiger Sünder zu sein. An jenen, der sich dieses Zuges seiner Existenz bewußt ist, richtet sich das Wirken Jesu Sl , und zwar in unbegrenzter WeiseS!. Mit dem Aussätzigen nimmt Jesus Gemeinschaft auf, ja, er berührt ihn und schließt sich damit aus der Gruppe der levitisch Reinen aus: "Jesus hatte Mitleid mit ihm; er streckte seine Hand aus, berührte ihn und sagte: Ich will es - werde rein!" (Mk 1, 40 - 45 par; hier V 41)

Jesus heilt die Kranken durch HandauflegungS3 , er exponiert sich aus damaliger Sicht damit ganz eindeutig und stellt sich auf die Seite derer, die verachtet wurden und als von Gott Gestrafte galten. Gerade Vgl. Mk 5, 1 - 20 par; Mk 7, 24 - 30 par. Vgl. als ein Beispiel das Gleichnis vom Pharisäer und vom Zöllner: Lk 18,9- 14. 8! Vgl. die Gleichnisse, die besonders Lukas in eindrucksvoller Weise überliefert Lk 15, 3 - 7. 8 - 10. 11 - 32. Der Evangelist unterstreicht damit nachdrücklich die Zuwendung Jesu zum Armen und Kranken. Ba z. B.: Mk 5, 23 par Mt 9, 18; Mk 6, 5; 7, 32; 8, 23. 25 (16, 18); Lk 4, 40; 13, 10. Vgl. dazu als grundlegende Studie J. Coppens, L'imposition des mains et les rites connexes dans le Nouveau Testament et dans l'Eglise ancienne. Etude de theologie positive, Paris 1925; weiters W. Kirchschläger, Die Loslösung der gekrümmten :Frau Lk 13, 10 - 17: Arzt und Christ 24/25 (1978179), 151 - 167, bes. 157 - 158. 80

Si

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für diese setzt er in seinem Wunderwirken die Rettung Gottes gegenwärtig, ihnen selbst zur Erlösung von ihrem Unheil, allen anderen aber als exemplarisches Zeichen für Vollmacht und Verbindlichkeit der Botschaft Jesu und für die kommende Votlendung des Wirkens Gottes am Menschen in der Endzeit34 • Charakteristisch für Jesu Haltung gegenüber den Menschen ist dabei die Tatsache, daß solche existentielle Verwirklichung der Botschaft nicht an Selbstgerechten geschieht, sondern an jenen, die aus der Sicht der religiösen Autoritäten Sünder waren und die ihre Erbärmlichkeit vermutlich auch selbst - nicht zuletzt durch das Verhalten ihrer Umwelt - erfahren hatten. Markus gibt dieser Nuance des Wirkens Jesu noch verschärfte Geltung, wenn er das Wunderwirken Jesu sogar geographisch von Jerusalem, dem religiösen Zentrum, der "Heiligen Stadt" trennt und vornehmlich von den Großtaten Jesu im Galiläa "der Heiden" erzählt35 • Aus der Gemeinschaft J esu wird keiner ausgeschlossen, der sich seinem Anruf öffnet. Jesus hält Gemeinschaft mit Pharisäern und Zöllnern in gleicher Weise, er kehrt bei Zachäus ein (Lk 19, 1 - 10) und verheißt ihm das Heil (V 9), weil dieser sich Jesu Wirken geöffnet hatte. In eindringlicher Weise überliefert Lukas die Erzählung vom Gastmahl mit den Pharisäern, das durch das Eintreten einer Sünderin gestört wird (Lk 7, 36 - 50). Sein unerwartetes Verhalten begründet Jesus gegenüber dem Gastgeber zunächst mit einem Gleichnis (Lk 7, 41- 43), der Frau gegenüber mit einem Hinweis auf ihre Liebe und ihren Glauben: "Ihr sind ihre vielen Sünden vergeben, weil sie (mir) soviel Liebe gezeigt hat ... Deine Sünden sind dir vergeben ... Dein Glaube hat dir geholfen. Geh in Frieden!" (Lk 7, 47 a. 48.50) Gerade in dieser Erzählung wird erkennbar, daß J esus vom Menschen Offenheit, Bereitschaft für seine Botschaft von der liebenden Zuwendung Gottes fordert. Auch Jesus zwingt diese Verkündigung niemand auf. Der Anruf Gottes, der durch ihn, durch sein ganzes Wirken ergeht, bedarf einer ersten zustimmenden, bereiten Antwort des Menschen, zumindest eines Versuches, zu glauben. Als Jesus in seiner Heimat Nazaret abgelehnt wird, entfaltet er dort sein Wirken nicht (Mk 6, 1 - 6 a). 34

Vgl. W. Kirchschläger, Wie über Wunder reden? BiLi 51 (1978), 252 - 254;

A. Weiser, Was die Bibel Wunder nennt, Stuttgart 31977.

35 Diese Bezeichnung aus Jes 8, 23 LXX hat Mt in seiner Charakterisierung des ersten Auftretens Jesu Mt 4, 12 - 17 (hier V 15) aufgegriffen; damit trifft er genau das mindere Ansehen dieses Gebietes im Judentum zur Zeit Jesu. Mk überliefert in ganz Judäa nur ein Wunder Jesu: Mk 10, 46 - 52 wird die Heilung des Blinden bei Jericho erzählt.

22'

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Die Imperative, die aus dem Paradigma des Verhaltens Jesu für die Lebensgestaltung des Christen abzuleiten sind, ergeben sich selbst aus den wenigen genannten Beispielen. Ihre Eindringlichkeit ist erkennbar, wenn der Beispielscharakter des Wirkens Jesu ernstgenommen wird: "Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben." (Joh 13, 34)36. Die liebende Zuwendung Gottes, die Jesus durch sein gesamtes Wirken im Wort und in der Tat bezeugt und gegenwärtig gesetzt hat, bedarf - gemäß dem Beispiel J esu - der ernsten Annahme und einer Antwort, die dem Anruf Gottes in Jesus Christus entspricht. Von einer Einschränkung dieser Forderung auf nur wenige, von einer Abstufung in der Notwendigkeit der Verwirklichung ist in der Verkündigung Jesu (und in der bezeugten Weitergabe der jungen Kirche) an keiner Stelle die Rede. Wohl ist jedoch erkennbar, daß jeder Mensch dem Anspruch Jesu, den Anbruch der Gottesherrschaft ernst zu nehmen und sie selbst in seinem Leben in seiner antwortenden Hinwendung auf Gott zu verwirklichen, in voller Verantwortung unter Berücksichtigung seiner Lebenssituation gerecht werden muß. Die Dringlichkeit des Rufes ist für alle gleich, die Antwort gestaltet sich in der Vielfältigkeit menschlicher Existenz.

3. Die Typik neutestamentlicher Gestalten Im Bemühen, sein Leben richtig zu gestalten, sucht der Mensch auch im religiösen Bereich nach Vorbildern. Dabei wird es für ihn hilfreich sein, sich neben der Persönlichkeit Jesu von Nazaret, in dem exemplarisches Beispiel und Ziel seines Lebens ineinandergehen, auch an Menschen zu orientieren, denen ihr Leben mit Gott in hohem Maße gelungen ist. Die Kirche hat im Laufe ihrer Geschichte immer wieder auf solch bedeutende Gestalten hingewiesen; hier soll von jenen gesprochen werden, die unter den ersten Christen waren. Sie haben den Anruf Gottes in unmittelbarer Begegnung mit Jesus von Nazaret erfahren. a) Maria, die Mutter Jesu, wird nur in wenigen Texten des Neuen Testaments hervorgehoben. Sie steht in ihrer Mutterschaft des Erlösers an der Schwelle zur Zeit Jesu. Die junge Kirche hat bereits von ihr gesprochen, Lukas hat in den Vorgeschichten die überlieferung über Maria zusammengefaßt; hinter seiner deutenden Darstellung des Geschehens um die Geburt Jesu steht eine in Episoden gekleidete Beschreibung ihrer Person. Durch die kontrastierende Gegenüberstellung 36 Auch Mt 5, 48 ist ein ähnlich fordernder Maßstab für die Lebensgestaltung des Christen überliefert: "Ihr sollt also vollkommen sein, wie es auch euer himmlicher Vater ist."

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ihres Verhaltens mit jenem des Zacharias kommen in den lukanischen Vorgeschichten Lk 1,5 - 2, 52 die entscheidenden Züge ihrer Persönlichkeit zum Ausdruck: Gottes Botschaft, die hier nicht einen Priester beim Tempeldienst in Jerusalem trifft (vgl. Lk 1,5 - 25), sondern eine Jungfrau in einem kleinen Ort in Galiläa, findet - anders als bei Zacharias - gläubige Aufnahme und Bereitschaft (Lk 1, 26 - 38). Das "fiat" Marias bleibt auch angesichts der Unerhörtheit und der Größe der Botschaft ohne Einschränkung. Sehr einfühlend schreibt Lukas, daß hier die Einzigartigkeit göttlichen Wirkens dem Mühen gegenübersteht, das von Gott kommende Geschehen zu begreifen und recht zu deuten (vgl. Lk 2,19. 33.50 - 51). In ihrer Bereitschaft, Gottes Botschaft ernst zu nehmen und geschehen zu lassen, wird Maria Vorbild dafür, wie sehr solche grundsätzliche Haltung menschliches Leben ändern und prägen kann. Gerade durch die bewußt gezeichnete Abgrenzung gegenüber Zacharias stellt Lukas Maria als den Grundtypus des glaubenden Menschen dar37 • Solche Haltung kann auch nicht erschüttert werden, wenn Unverständliches geschieht. Das Wort Jesu über die Umstehenden, die als seine Zuhörer ihm Bruder, Schwester und Mutter sind (Mk 3, 31 - 35 par), mag eher darauf hinweisen, daß dem Menschen in der Ökonomie des göttlichen Handeins ihm gegenüber auch die Selbstbeschränkung nur unvollkommenen Verstehens zukommt. b) Maria von Magdala wird in den vier Evangelien einhellig als eine jener Frauen genannt, die am Ostermorgen das leere Grab Jesu finden, der Verfasser des Johannesevangeliums überliefert überhaupt nur ihren Namen (Joh 20,1-18; vgl. Mk 16,1- 8 par). An der Ursprünglichkeit dieser Tradition ist nicht zu zweifeln 38 • Über das Leben dieser Frau erzählen die Evangelisten wenig, Lukas erwähnt, Jesus habe sie "von bösen Geistern und von Krankheiten geheilt" (Lk 8, 2). Gerade an der einen Erzählung, die mit ihr überliefert ist, ist jedoch die Eigenart göttlichen Wirkens an Menschen ablesbar, die sonst kaum in Erscheinung treten. Diese Frau war unter den ersten, denen die Osterbotschaft geoffenbart wurde; an sie und ihre Begleiterinnen erging der Auftrag, dieses euangelion den Zwölfen zu verkündigen. Das rufende Wirken Gottes trifft nicht nur jene engen Mitarbeiter, sondern gerade in diesem entscheidenden Punkt wird die Botschaft einer Frau anvertraut - menschlich gesehen kann das nicht überzeugen: Lukas überliefert dementsprechend richtig die Reaktion der Apostel, die 37 Vgl. W. Kirchschläger, Leben aus dem Glauben nach dem Zeugnis der Bibel: BiLi 53 (1980), im Druck. 38 Vgl. J. Kremer, Die Osterevangelien - Geschichten um Geschichte, Stuttgart 1977, passim, bes. 104. 165.

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zunächst von solchem "Geschwätz" nichts wissen wollten (Lk 24, 11; vgl. Mk 16, 11)39. Ähnlich dem Blinden, der als Sehender Zeugnis gibt für Jesus und seine Großtat verkündet (Joh 9, 1 - 42)40, ist Maria von Magdala hineingenommen in die Verkündigung und Bezeugung der Osterbotschaft. Gerade in der Verkündigung des Ostergeschehens steht sie am Beginn der jungen Kirche, die sich, ausgehend vom Kreis der Zwölf und von der Schar derer, die mit Jesus gelebt haben, nach Ostern weiterentwickelt und zu strukturieren beginnt. Dieser Epoche der ersten christlichen Generationen wenden sich die folgenden Überlegungen zu.

m.

Verkündigte Botschaft und Entwicklung der Gemeinde 1. Vorbemerkung

Die Verkündigung der Frohbotschaft über Jesus von Nazaret ist eine Frucht des lebendigen Glaubens derer, die vom Wirken Jesu, entscheidend aber von Tod und Auferstehung Jesu erfaßt waren. Der Geist Gottes, der sie "in die volle Wahrheit" eingeführt hatte (Joh 16,13), gab ihnen die Dynamik und Kraft, diese ihre Überzeugung, daß J esus als der Christus und Kyrios lebt, anderen weiterzuvermitteln, um sie auch zum Glauben an Jesus Christus zu führen. Verkündigung der Botschaft also ist sichtbare Konsequenz lebendigen Glaubens. Dort, wo dieses engagierte Wirken in schrift'lkher Form festgehalten wurde, zeigt sich besonders deutlich, mit welchem Einsatz diese Männer der ersten christlichen Generation ihren Glauben weitergegeben haben: selbst in den literarischen Gattungen ihrer Schriften waren sie erfinderisch41 • Solche Weitervermittlung des euangelion stellt zugleich eine unabdingbare Voraussetzung für die Sammlung und den Zusammenschluß 39 Gerade die überlieferung solcher Texte verleiht den Evangelien erhöhten Anspruch auf Glaubwürdigkeit; vgl. W. Kirchschläger, Die Faszination des Neuen Testaments: Diakonia 10 (1979), 149 - 160, bes. 157 -158. 40 Gerade anhand des johanneischen Wunderverständnisses als "Zeichen" für die Herrlichkeit des Sohnes ist erkennbar, daß aus der Sicht des Verfassers dem Blinden mehr als das irdische Augenlicht gegeben wird. "Sehen" wird hier zum Synonym für "Glauben"; daher kann der Geheilte (und Bekehrte!) auch den Pharisäern verkündigen, daß "dieser Mensch" ... "von Gott" ist (Joh 9, 33, vgl. 9, 13 - 34). 41 Neben dem antiken Briefschema, das in verschiedenen Varianten abgewandelt wird, und der Gattung der jüdischen Offenbarungsliteratur orientieren sich die ntl. Verfasser einerseits an der Acta-Schreibung, wie sie damals für große Persönlichkeiten üblich war (Apg), andererseits entwickeln sie im Evangelium als einer Verkündigungsschrift eine neue literarische Gattung, die es vorher und nachher in der Weltliteratur nicht mehr gegeben hat.

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derer dar, die zum Glauben kommen und gemeinsam ihren Glauben bekennen. Beides, Verkündigung und Gemeinde, bedingt sich gegenseitig und ist aufeinander angewiesen. Beides wird nicht ausschließlich von wenigen getragen, die eine besondere Funktion ausüben, sondern schließt auch jene ein, von denen man sagen könnte, sie haben kein Amt. Im Hinblick auf jene soll das Selbstverständnis der jungen Kirche als durch die Verkündigung gebaute Gemeinde Gottes befragt werden. 2. Die Familie als Kern christlicher Gemeinde

a) Der Begriff Familie ist zunächst in die Sicht des Neuen Testaments einzuordnen. Den Texten selbst ist das Wort fremd, hier steht eher eine andere Sprechweise im Vordergrund: öfters ist die Rede vom "Haus", vom "ganzen Haus"42, wenn der Verfasser die Gemeinschaft der Familie mit Eltern, Kindern und Sklaven umschreiben will. b) Der Textbefund zeigt, daß mit dieser Ausdrucksweise im Neuen Testament eine feste Größe verbunden war. Vom fest begrenzten Gebäude geht der Begriff über auf jene, die darin wohnen oder darin versammelt sind. Paulus adressiert seinen kürzesten Brief "an unseren geliebten Mitarbeiter Philemon, an die Schwester Aphia, an Archippus, unseren Mitstreiter, und an die Gemeinde in deinem Haus" (Phlm 1 - 2). Die gleiche Bezeichnung findet sich nochmals in Grußworten Röm 16,5; 1 Kor 16,1943, sowie 1 Kor 1,1644 . Apg 10 -11 wird von der Taufe des Kornelius mit seinem ganzen Hause erzählt; ähnlich ist Apg 16, 11 - 15 die Bekehrung des Hauses der Purpurhändlerin Lydia in Philippi, sodann Apg 18, 8 die Zuwendung des Synagogenvorstehers Krispus "mit seinem ganzen Haus" zum Glauben in Korinth überliefert. Aus der Jerusalemer Gemeinde berichtet der Verfasser, die Apostel hätten unermüdlich im Tempel und in den Häusern gelehrt und das Evangelium von Jesus, dem Christus, verkündet (Apg 5,42). In den Pastoralbriefen wird die ordentliche Leitung des eigenen Hauses als Voraussetzung für die übernahme einer Führungsfunktion in der Gemeinde gefordert (1 Tim 3,4 - 5.12); oikos wird hier als Synonym für Familie gebraucht (2 Tim 1, 16; Tit 1, 11). 42 oikos kommt im NT vornehmlich in der wörtlichen Bedeutung für das Haus als Gebäude vor; darüber hinaus kann es ein Geschlecht, bzw. die Bewohner eines Hauses bezeichnen. Zu letzterem vgl. die folgende Aufgliederung. 43 Weiters auch Kol 4, 15; 2 Tim 4, 19. 44 Vgl. die neue Einheitsübersetzung zu dieser Stelle: "Ich habe allerdings auch die Familie des Stephanas (ton Stephana oikon) getauft."

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Auf Grund dieses Befundes läßt sich der Hintergrund der Entwicklung rekonstruieren. Demnach war die Hausgemeinschaft wohl Kern und Ausgangspunkt christlicher Verkündigung und in der Folge der christlichen Gemeinden. Eine Ausnahme bildet hier wohl zunächst Jerusalem; auch dort mußte angesichts erster Verfolgungen die Predigt der Apostel und Apostelschüler aus dem Tempel wohl in jene Häuser weichen, in denen gläubige Familien wohnten. Die wenigen paulinischen Angaben weisen in Verbindung mit den überlieferungen der Apg darauf hin, daß eine solche Entwicklung für die paulinischen Gemeindegründungen in Kleinasien und in Griechenland anzunehmen ist. Die Familie eines Hauses erhält hier doppelte Funktion. Sie ist in erster Linie kleinste Zelle der Verwirklichung christlichen Glaubens. In diesem engen, durch persönliche Beziehung bestimmten Rahmen kann das Versammeltsein im Namen Jesu konkret verwirklicht und gelebt werden. Darüber hinaus wird die Familie in der frühen Kirche die Basis für die weitere Entwicklung und den Aufbau der Gemeinde. Das gläubige "Haus" bietet den Ort der Versammlung zur Feier der Liturgie und zur Unterweisung der anderen Gläubigen, und damit wohl auch das Vorbild gelebten Glaubens an Jesus Christus. c) Die Ermahnungen für die Mitglieder eines Hauswesens sind entsprechend der Aufgabe eines Hauses streng gefaßt. Der Maßstab ist das Leben aus Gott tmd das Vorbild Jesu Christi. Dennoch bleiben die Forderungen eingebettet in die damalige soziale Ordnung, jedem bleibt sein Platz zugewiesen, aHerdings mit nachdrücklicher Begründung (vgl. Kol 3, 18 - 4, 1). Diese christliche Hausordnung erhält dort besondere theologische Tiefe, wo die Familie in ihrem Leben mit der Gemeinschaft zwischen Christus und seiner Kirche verglichen wird: 23 " ... der Mann ist das Haupt der Frau

wie auch Christus das Haupt der Kirche ist.

25 Ihr Männer, liebt eure

wie Christus die Kirche geliebt und sich für sie hingegeben hat ...

Frauen,

(Eph 5, 21 - 6, 9) Gerade in diesem Text ist erkennbar, daß schon in der Familie das Bild vom Leib Christi verwirklicht wird. Das Selbstverständnis der Familie - sei es im umfassenderen Sinn des antiken "Hauses", sei es in der heutigen engeren Umschreibung - als Organismus christlichen Lebens behält seine entscheidende Wichtigkeit und bedingt entsp~echende Konsequenzen: Diese beziehen sich einerseits auf die Pflichten aller Mitglieder dieser Gemeinschaft, andererseits auf die Aufgabe

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der gesamten Familie, ihren Glauben zu leben und verkündigend, das heißt offen und bereit für andere, weiterzugeben. Im Blick auf die größere Gemeinde liegt hier die Grundfunktion christlicher Familie.

3. Das Selbstverständnis der urkirchZichen Gemeinde a) Gemeinschaft der Getauften zu sein, bildet von Beginn an ein tragendes Element des Gemeindeverständnisses. Paulus spricht 1 Kor 1, 2 die Kirche von Korinth als eine Gemeinde an, die "mit allen, die den Namen Jesu Christi, unseres Herrn, überall (bekennend) anrufen", in Gemeinschaft steht. Hinter dieser Formulierung steht das frühe Bekenntnis einer Taufe "auf den Namen Jesu"45, das in der Feier der Liturgie immer neu verwirklicht wird, wenn Jesus als der Kyrios und Christus feierlich bekannt und proklamiert wird46 . In dieser frühen Bezeichnung für die Christen, die neben anderen, in den paulinischen Briefpräskripten enthaltenen Würdetiteln erste Wesensbeschreibungen dieses jungen Glaubens widerspiegeln, wird die Gemeinschaftsdimension erneut in besonderer Weise deutlich. Gemeinsam wird das Bekenntnis des Glaubens an Jesus gesprochen, gesungen und gefeiert, in dieser Gemeinschaft ist der einzelne Gläubige, ungeachtet seiner Funktion und Stellung in der Gemeinde verankert. Paulus verwendet viel Mühe, um zu dieser Einheit immer wieder zu mahnen47 . Aus diesem Bekenntnis zu Jesus Christus erwachsen für jeden weitreichende Konsequenzen. In der Taufe auf den Namen Jesu ist er mithineingenommen in das Todesschicksal des Herrn, jedoch auch mitgetragen von der Gewißheit seiner Auferstehung (vgl. Röm 6,3 _5)48. Der Mensch, der Jesus als seinen Herrn bekennt, hat Teil am Erlösungsgeschehen, er ist eingegliedert in die Kindschaft Gottes und hat den Geist dieser Kindschaft empfangen, in dem er Gott als seinen Vater anreden darf (vgl. Röm 8,15; Gal 4,7). In dieser Gemeinschaft kann es nichts Trennendes geben außer die Frage der Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit im Glauben an Jesus; andere Schranken sind nichtig, seien sie sozialer, nationaler Natur49 . Jeder einzelne hat diese Berufung des Glaubens an Jesus als einer unter den vielen Getauften und in Gemeinschaft mit ihnen zu leben. 45 Ähnlicher Verstehenshintergrund steht hinter Hebr 11, 16; Jak 2, 7, ebenso deutlich schon Röm 10, 13. 48 Vgl. W. Kirchschläger, Art. epikaleo: EWNT I, 194 -196. 47 Vgl. bes. Phil 1, 27 - 2, 5; 4, 7 - 9; 1 Thess 4, 8 - 12; Röm 13 - 15, dazu W. Kirchschläger, Einmütigkeit - Prinzip christlicher Gemeinde: Entschluß 31

(1976), 324 - 327. . 48 Vgl. Mk 8, 34, dazu oben sub 11. 2. a). 49 Vgl. bes. Eph 2, 11 - 22.

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b) Die Gemeinde ist aus der Sicht des Apostels zusammengesetzt aus den vielen, die an Jesus als den Christus auf Grund der Verkündigung glauben: "Unverkennbar seid ihr ein Brief Christi, ausgefertigt durch unseren Dienst, geschrieben nicht mit Tinte sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht auf Tafeln aus Stein, sondern - wie auf Tafeln - in Herzen von Fleisch." (2 Kor 3, 3)

Paulus hebt für die Gemeindebildung zwei Elemente hervor: einerseits betont er seinen eigenen Dienst der Verkündigung, andererseits steht deutlich das Wirken des Geistes im Vordergrund, das diesen "Brief" zu einem lebendigen Schreiben macht. Jesus als den Herrn bekennen, heißt gerade für Paulus immer zugleich, im Heiligen Geist sprechen50 • Gerade darin hebt Paulus sein Gemeindeverständnis von der Sicht des Alten Testaments ab. Gemeinde ist für ihn mehr als Gemeinschaft um eine Bundescharta, für Paulus geht es um die immer neue Verwirklichung dieses Bundes im Leben derer, die die Gemeinde bilden51 • In Weiterführung dieses Gedankens kann Paulus davon sprechen, daß der an Christus Glaubende eine neue Schöpfung Gottes ist: "Wenn also jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung. Das Alte ist vergangen, Neues ist geworden." (2 Kor 5, 17) Die neue Schöpfungswirklichkeit ist für den Apostel ein Kriterion der Gemeindezugehörigkeit (vgl. Gal 6,15). Gott, der nicht nur am Beginn der Welt, sondern - nach alttestamentlichem Verständnis - immer wieder schaffend in der Geschichte Israels gehandelt hat 52, schafft in der Sendung seines Sohnes Neues und begründet darin für die Glaubenden eine Wirklichkeit, die bis in die Endzeit reicht53 • In den paulinischen Briefen ist der einze'lne Mensch zumeist in seinem Bezug zur Gemeinde angesprochen. Dies gilt - mit Einschränkungen auch für den persönlichen Philemonbrief (vgl. z. B. Phlm 20b). Selbst in den Pastoralbriefen, in denen paulinisches Gedankengut nachwirkt, so Vgl. 1 Kor 12, 3: "Keiner, der aus dem Geist Gottes redet, sagt: Jesus sei verflucht! Und keiner kann sagen: Jesus ist der Herr!, wenn er nicht aus dem Heiligen Geist redet." 51 Im Hintergrund steht hier die Verheißung eines neuen Bundes Jer 31, 31- 34; Ez 11, 19 - 20. 52 Vgl. dazu besonders das Verständnis des Dt-Jes; dazu: W. Kirchschläger, Die Schöpfungstheologie des Deuterojesaja: BiLi 49 (1976), 407 - 422. 53 Offb 21, 1 - 5 wird dieses in die Endzeit reichende Neu-Schaffen deutlich ausgedrückt.

Der Laie in Familie und-Gemeinde - gelebtes Zeugnis

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werden die Anweisungen an Einzelne in ihrem Bezug zur Gemeinschaft dargelegt. Dieses sehr frühe Gemeindebewußtsein ist geprägt durch das Bild vom Leib, in dem die Wichtigkeit der gemeinsamen Verantwortung und des Miteinander so deutlich zum Ausdruck kommt: Denn wie wir an dem einen Leib viele Glieder haben, aber nicht alle Glieder denselben Dienst leisten, 5 so sind wir, die vielen, ein Leib in Christus, als einzelne aber sind wir Glieder, die zueinander gehören." (Röm 12, 4 - 5) ,,4

An erster Stel'le ist also diese Gemeinsamkeit zu sehen, die eine gegenseitige Verwiesenheit miteinschließt. 1 Kor 12,12 - 27 führt Paulus anhand konkreter Beispiele im Bild aus, wie absurd vor diesem Hintergrund Tendenzen der Selbstisolierung erscheinen. Aus dem Bild des Gesamtorganismus, dessen einzelnen Gliedern verschiedene Aufgaben zufallen, ohne daß eines durch das andere ersetzbar wäre, leitet der Apostel die Notwendigkeit und den Charakter der Ämter und Dienste ab: Nach den verschiedenen Gnadengaben, die jeder empfängt (vgl. Röm 12, 6 a), soll er dementsprechend die Funktion ausüben, die seinem Charisma entspricht (vgl. Röm 12, 6b - 8). In der Vielfalt der Gaben und der Aufgaben in der Gemeinde hat nicht jeder Leitungsfunktion, die Dienst"ämter" werden wohl überwiegen. Demnach sind auch die von Gott gegebenen Berufungen verschieden54 , ja sie entsprechen vielfach der Eigenheit der jeweiligen Gemeinden55 • Gerade aus dem Bild des Leibes Christi, das von Paulus geprägt und später weiterentwickelt wurde (vgl. Kol 1,15 - 20; Eph 5,21 - 33), ist die wichtige Aufgabe des Gemeindegliedes, das nach außen hin keine besondere Funktion bekleidet, erkennbar. Der "Laie" ist Baustein der Gemeinde, er bildet sie mit und gestaltet sie durch seinen Vollzug des christlichen Glaubens; er ist Teil des Ganzen, das mit ihm geschaffen werden kann - gleich wie ein Haus aus vielen Steinen besteht (1 Petr 2,4- 8), errichtet um Jesus Christus als Zentrum. Im Glauben an Jesus Vgl. 1 Kor 12, 28 - 30. über die Verschiedenheit geben die in den paulinischen Briefen genannten Bezeichnungen Aufschluß: "Vorsteher" 1 Thess 5,12; Röm 12, 8 "Steuermann" (wörtlich: Steuerung) 1 Kor 12, 28 "Diakon" Röm 16, 1 "Propheten" Röm 12, 3. 6 - 8; 1 Thess 5,12 -13. 19 - 21; 1 Kor 12, 28 "Lehrer" 1 Kor 12, 28 überdies ist zu beachten, daß die ähnlich lautenden Pflichtenspiegel der Pastoralbriefe noch auf keine klare Unterscheidung des Amtes des Episkopos und des Presbyteros in dieser Zeit schließen lassen: vgl. 1 Tim 3, 1 - 7; 3, B - 13; Tit 1, 5 - 9. 54

55

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als den Kyrios und in der Verwirklichung und Bezeugung dieses Glaubens in der vielfältigen Weise menschlichen Lebens liegt seine vorrangige Aufgabe. Damit ist er eingegliedert in die Gemeinschaft derer, die wie er - wohl auch in Abgrenzung gegen Pseudo-Kyrioi66 Christus als ihren Herrn bekennen, und wird Mitarbeiter in der Verkündigung. Gerade dabei ist zu bedenken, daß die Weitergabe der Botschaft über Jesus von Nazaret sich ebenfalls in die Dimension des Wortes und der Tat entfaltet! In dieser Mitverantwortung für Verkündigung und Bezeugung des eigenen Glaubens in der Gemeinde übt der Glaubende sein "königliches Priestertum" (1 Petr 2,9) aus, seine Berufung, als Getaufter den Namen Jesu überall zu bekennen. Dies bedingt nicht zuletzt, daß er selbst um den Inhalt seines Glaubens weiß: "Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die euch erfüllt!" (1 Petr 3, 15) Diese Forderung, ursprünglich in eine Situation der Verfolgung geschrieben, enthält eine ernste Mahnung. Das Wissen um den Glauben darf nicht wenigen vorbehalten bleiben, der Glaubende muß selbst besorgt sein, . seine auch intellektuelle Durchdringung des eigenen Bekenntnisses stets voranzutreiben. Um der Verkündigung Nachdruck zu verleihen und sie zu vertiefen, schreibt Lukas für die Gemeinde im Hause des Theophilus sogar ein eigenes Evangelium (vgl. Lk 1, 1 - 4, bes. V 4)! Das Gebot der theologischen Bildung des glaubenden Menschen - auch nach der Schulentlassung - ist ein ernster Faktor für die Tiefe der einzelnen Gemeinden. Angesichts vieler Herausforderungen, die den Menschen heute in verschiedener Weise treffen, bedarf es eines soliden, theologisch durchdachten Fundaments, um der Aufgabe der Glaubensbezeugung in der heutigen Zeit gerecht werden zu können57 •

IV. Zusammenfassung Aus den vielfältigen Texten des Neuen Testaments konnten nur wenige herausgegriffen werden; sie zeigen, daß · über die allgemeine Orientierung hinaus viele konkrete Anhaltspunkte für Selbstverständnis und Lebensgestaltung des "Laien" aus diesen Texten zu erheben und abzuleiten sind. Die markantesten Aussagen der herangezogenen 56 Vermutlich hat auch Paulus den Kyrios-Titel für Jesus in (polemischer) Abgrenzung gegen den Kyrios am römischen Kaiserthron verwendet. :;1 Gerade im Wiener Raum ist hier auf die seit 40, bzw. 30 Jahren bestehende Initiative der Wiener theologischen Kurse und des Fernkurses für theologische Bildung zu verweisen, die in diesem Zeitraum zahlreichen Laien (und Ordensleuten) die Möglichkeit zur theologischen Bildung geboten haben.

Der Laie in Familie und Gemeinde - gelebtes Zeugnis

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neutestamentlichen Texte sollen in kurzer, thesenhafter Form nochmals zusammengestellt werden, um Art und Weise der Teilhabe des Laien an der Sendung der Kirche 58 aus der Sicht neutestamentlicher Verkündigung daraus in Ansatzpunkten ablesbar zu vermitteln: -

Für die christliche Gestaltung und Bewältigung seines Lebens bedarf der Laie einer uneingeschränkten Entscheidung für Gott, auf Gott hin. Eine solche optio fundamentalis muß vom Glauben an Jesus Christus motiviert und getragen sein und bedeutet eine Ausrichtung aller Bereiche des persönlichen Lebens ~ ungeachtet ihrer konkreten Entfaltung - auf Gott.

-

Auch der Laie muß kritisch prüfend die Akzente in seinem Leben setzen und "das eine Notwendige" (vgl. Lk 10,42) an erste Stelle reihen, das heißt: Nicht nur das sogenannte religöse Leben, sOndern die gesamte Existenz ist mit der "Brille des Glaubens" zu analysieren und zu werten.

-

Der Laie muß sich seines Mensch-Seins bewußt werden. Das bedingt die Erkenntnis der eigenen Begrenztheit und Beschränktheit und der Angewiesenheit auf Gottes erlösendes Wirken in Jesus Christus.

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Gott drängt sein rettendes Wirken keinem Menschen auf; der Mensch muß sich Gottes Anruf immer neu öffnen und dafür auch im alltäglichen Leben hellhörig werden.

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In der Orientierung an Jesus ist dem glaubenden Menschen ein exemplarisches Vorbild und zugleich ein Maßstab für die Verwirklichung seines Lebens gegeben.

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Der Mensch ist auch als Glaubender kein isoliertes Einzelwesen, sondern hineingestellt in die Gemeinschaft derer, die wie er Christus als ihren Herrn bekennen.

-

Die Familie hat als kleinste Form der Gemeinschaft die Funktion, in ihrer Mitte selbst den Glauben zu entfalten und ihn bezeugend durch das Leben der einzelnen Glieder weiterzuvermitteln.

-

Die christliche Gemeinde konstituiert sich aus all jenen, denen die Botschaft J esu von N azaret verkündet wurde und die auf Grund der Verkündigung zum Glauben an Jesus gekommen sind. Das in der Taufe grundgelegte Bekenntnis an J esus als den Kyrios des eigenen Lebens, das in der Feier der Liturgie und im Leben der einzelnen Gemeindeglieder zum Ausdruck kommt, bildet die Grundlage für die Einheit aller Gläubigen . •iR

Vgl. Lumen gentium (Anm. 1) IV 31 Abs. 1.

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In der Gemeinschaft der Glaubenden hat jeder einzelne seine Funktion, die seiner Berufung und seinem persönlichen Charisma entspricht. Auch wenn sich diese Stellung in der Gemeinde äußerlich nicht von der anderer unterscheidet, bedeutet sie dennoch die ihm allein zugewiesene Aufgabe, deren Erfüllung für das Leben der Gemeinde mitentscheidend ist. In diesem lebendigen Organismus haben Amtsträger und Laien ihre je verschiedenen, aber unverzichtbaren Berufungen zu leben.

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Als Glied einer Gemeinde gleicht der Laie dem Baustein, der zur Errichtung eines Gebäudes notwendig ist. Im Bild wird erkennbar, daß auch der Laie eine in höchstem Maße auf die Lebensfähigkeit der Gemeinschaft ausgerichtete Aufgabe hat. Hineingestellt in das Leben der Gemeinde, kann er seine Teilhabe an der Verkündigung kraft der Taufe und damit seine Berufung zum allgemeinen Priestertum verwirklichen.

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Als Verantwortung tragender Christ muß der Laie um die Bewältigung und Durchdringung seines Glaubens bemüht sein. Angesichts vielfältiger heutiger Fragestellungen ist die Wichtigkeit persönlicher Weiterbildung auch im theologischen Bereich eine unverzichtbare Forderung für jeden Menschen, der seinen Glauben bewußt leben, bezeugen und vertreten will.

DIE FAMILIE DER ZUKUNFT Von J ohannes Messner Hätten die Pessimisten recht, so würde es die Zukunft der Familie nicht geben. Denn nach ihnen ist die Familie schon vom Tode umfangen1 • Sie bemerken in den heutigen industriellen Gesellschaften, daß die Institutionen von Ehe und Familie durch Verfallserscheinungen betroffen sind. Die Folge sind die scharfen Geburtenrückgänge in den Industriestaaten. Die nach Kriegsende entwickelten Ovulationshemmer (Anti-Baby-Pillen) ermöglichen die Trennung des Geschlechtsvollzuges von der Zeugung eines Kindes. Viele der jetzt sich Verehelichenden wollen die Fortpflanzung vermeiden. Die Ungebundenheit, die höhere Lebensqualität, die Erwerbstätigkeit, das Auto, die Zweitwohnung auf dem Land, die jährliche Ferienreise sind ihnen unverzichtbare Werte. Sie sehen darin die Voraussetzungen ihrer "Selbstverwirklichung", brauchen dazu keine Ideologie. Eine feste Ideologie zur Ortsbestimmung der bürgerlichen Kleinfamilie im Entwicklungsprozeß der Gesellschaft bietet der Neomarxismus. Die Funktion der Familie in der autoritären Gesellschaft bestehe in der Reproduktion gehorsamsgewohnter Untertanen und arbeitswilliger Lohnarbeiter. Die Erziehung in dieser bürgerlichen Familie mache die Kinder zum Gegenstand der Fremdbestimmung mit dem Ziel der Erhaltung des kapitalistischen Systems. Die anzustrebende Veränderung des Gesellschaftssystems setze daher voraus, daß die bestehende Herrschaft der Familie gebrochen wird. Dazu diene der Übergang zu Kommunen, zu Großfamilien, zu Hausgemeinschaften und staatlicher Kindererziehung. Der Lehrerheranbildung im emanzipatorischen Geist wird allergrößte Bedeutung beigemessen. Tatsächlich gehen heute schon starke Einflüsse pädagogischer Hochschulen in dieser Richtung aus2 • Die vorliegende Arbeit will eine rein empirisch-soziologische sein. Sie will die Entwicklung der Welt hinsichtlich der Lage von Ehe und Familie umschreiben. Sie tut dies im Bewußtsein, daß die Kenntnis der Tatsachen die Voraussetzung dafür bildet, daß geeignete Maßnahmen 1 !

D. Cooper, Der Tod der Familie, übers. aus dem Englischen 1972. Peter Milhoffer, Familie und Klasse, 1973.

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gefunden werden können für die Wiedergewinnung der natürlichen Funktionen von Ehe und Familie. So wichtig der sakramentale Charakter der christlichen Ehe und die Heilsfunktion der Familiengemeinschaft sind, es müssen die Hindernisse ihrer Wirksamkeit gesehen werden, wenn das Entscheidende für die Gesundung von Ehe und Familie und damit der Gesellschaft selbst zustande kommen soll.

I. Sterbeziffern und Geburtenziffern Der Bestand der Kern- und der Normalfamilie ist in manchen europäischen Industriestaaten nicht mehr gesichert. Die Normalfamilie ist die Familie mit mindestens drei Kindern, weil nur bei dieser Kinderzahl eine Gesellschaft ihren Bevölkerungsstand erhalten kann. Übersteigen die Sterbeziffern die Geburtenziffern eines Staates, wird die Bevölkerungsbewegung rückläufig. In den Sterbeziffern wirkt sich auch die heute allgemein höhere Lebenserwartung in der Industriegesellschaft aus. Die Leute werden älter, sterben später. Die heutige rückläufige Bevölkerungsbewegung ist das untrügliche Zeichen, daß viele Neuvermählte (unter teilweiser Billigung der Gesellschaft) ihre Aufgabe nicht mehr in der bis zu den Sechzigerjahren gewohnten Weise auch in der Familiengründung sehen wollen. Ein ungefähres Bild der Situation ergibt sich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß 1971 in der Bundesrepublik Deutschland 10 Millionen Frauen einer Erwerbsarbeit nachgingen. Davon arbeiteten 7,6 Millionen als Lohnarbeiterinnen, die übrigen im Familienbetrieb oder auch als Selbständige. Von diesen erwerbstätigen Frauen war die Hälfte verheiratet, ein Viertel hatte ein oder mehrere Kinder. Nach einer 1973 vorgenommenen Umfrage würden 40 Prozent der nur im Haushalt tätigen Ehefrauen zwischen 18 und 55 Jahren, wenn sie könnten, eine außerhäusliche Arbeit wählen, weil sie sich davon Möglichkeiten von Kontakten und größeres gesellschaftliches Ansehen versprechen.

11. Die Familie: Urgut der Menschheit Die vorangehende Darlegung der gegen die Familie wirkenden Faktoren darf nicht den Eindruck erwecken, als stünden ihnen nicht auch starke andere gegenüber, die zugunsten der Familie arbeiten. Erwähnt sei zu allererst die natürliche Anlage des Menschen, die ihn zur Eheund Familiengründung drängt, so daß "der Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und seinem Weibe anhangen wird", wie es in der Genesis 2, 24 heißt. In Übereinstimmung mit dieser Feststellung des ursprünglichen Tatbestandes, wie er sich in der Bibel findet, sieht sich heute die Soziologie. Dies im Gegensatz zur ersten Soziologen-

Die Familie der Zukunft

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generation unseres Jahrhunderts mit so berühmten Namen. wie Max Weber, L. v. Wiese. Fr. Oppenheimer, K. Mannheim, die meinte, daß die Ehe als Organisation zur Regelung der Sexualbeziehungen und der Fortpflanzung vom Menschen und der Gesellschaft geschaffen wurde. Die moderne Soziologie und Anthropologie wissen dagegen, daß "in Wirklichkeit Ehe und Familie niemals ,eingerichtet' worden sind, sie waren vielmehr schon immer da"3. Es sei also müßig, nach ihrem Ursprung zu fragen, wohl aber sei an die Entwicklung sprachlicher Formulierung und systematischer Zusammenfassung der in Gewohnheit, Brauch und Sitte unbewußt befolgten Regeln in unserem heutigen Recht zu denken. Demnach kann es nicht überraschen, daß der Amerikaner George Murdock in einer Untersuchung von 250 Kulturen fand, daß die Ehe mit der Kleinfamilie in einer jeden Kultur bestand. Als allgemeine Merkmale der Ehe bezeichnet er die gesellschaftliche Legalisierung der geschlechtlichen Beziehung der Ehepartner, die wirtschaftliche Kooperation und die gemeinsame Wohnung, lauter Merkmale, die durch die Aufbringung der Kinder bedingt sind. So kommt er zum Ergebnis, daß es zweifelhaft ist, ob eine Gesellschaft überhaupt ohne die Hinordnung der ehelichen Gemeinschaft auf die Aufzucht von Kindern in der Familie bestehen könnte'.

m.

Biologische und psychologische Eigenart des Menschen

Sie könnte nicht bestehen, weil der Mensch zum Unterschied von den höchstentwickelten Tieren physiologisch und psychologisch eine Frühgeburt und ohne die Betreuung durch die Familie nicht lebensfähig ist. Physiologisch ist er eine Frühgeburt, weil er sich nach der Geburt aus eigener Kraft nicht bewegen und erhalten kann, psychologisch, weil er seine Vernunftanlage nur nacll Jahren des Lebens in der Familiengemeinschaft entwickeln kann. Adolf Portmann, der Schweizer Zoologe und Anthropologe, dem wir mit diesen Hinweisen folgen, zeigt. weiter, daß der Mensch zum Unterschied vom Tier ein traditionsbedingtes Wesen ist. Träger und Vermittler der Tradition ist die Familie. Das Tier findet sich immer in der gleichen Ausgangsposition für seine Entwicklung, "der Mensch· erscheint in einer Kette von Generationen, die sich das Ergebnis ihrer Arbeit weiterreichen" auf der Grundlage der Familie5 • Rene König, Die Familie der Gegenwart, 3. erweiterte Aufl. 1978, 13. G. Murdock, Social Structure, New York 1948, 8, 11. 5 A. Portmann, Biologische Elemente zu einer Lehre vom Menschen, 1944, 16 ff., 35 ff., 75 ff. 3

4

23 Festschrift Rossi

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Mit der Tatsache, daß die Familie sich als zeitloses Urgut der Menschheit erweist, sieht der bekannte Soziologe Rene König die weitere Tatsache der "außerordentlichen Widerstandsfähigkeit der Familie in den Wirren der Geschichte" verbunden. Daran fügt er die Bemerkung: "Diese allgemeine Einsicht genügt, um bereits hier (im einleitenden überblick) ein begründetes Mißtrauen aussprechen zu können gegen alle jene Lehren, die von Zeit zu Zeit einen baldigen Untergang von Ehe und Familie voraussagen oder diese Epoche der Auflösung bereits in unserer Zeit ansetzen zu können glauben." Als Beispiel der Regeneration von Ehe und Familie verweist er auf Rußland und China nach den Revolutionen, sowie auf Polen, das von allen Ländern durch den Krieg am schwersten mitgenommen war'. Mit der Wahl unseres Themas "Die Familie der Zukunft" soll gesagt sein, daß der Fortbestand der Familie unbezweifelbar anzunehmen ist, daß aber ebenso unzweifelhaft das Bild der Familie in Zukunft ein anderes sein wird, als wir gewohnt sind, es zu sehen. Unsere soziologische Untersuchung wird zu unterscheiden haben zwischen dem, was für die Industrieländer und dem, was für die Mehrzahl der Entwicklungsländer gilt. Denn in mehreren Industrieländern ist die Reproduktionsziffer (die zur Erhaltung des Bevölkerungsstandes notwendige Geburtenziffer) schon unterschritten, während in Entwicklungsländern die Bevölkerungsexplosion weitergeht. Daher scheint es zweckmäßig, die folgenden überlegungen zu teilen in die über die Familie der Industrieländer und über die der Entwicklungsländer. IV. Die Zukunft der Familie in der Industriegesellschaft 1. Konsensbedingte Ehe Nicht um eine prophetische Vorausschau handelt es sich im Folgenden, sondern um Schlußfolgerungen aus Tatbeständen, die heute schon feststehen oder sich anzeigen. Sie betreffen die Eheschließung, die Eheführung, das Familienleben, die Auflösung der Familie, die Schicksale der Familienglieder nach dieser Auflösung. Die Eheschließung wird heute als Sache der Ehewilligen, ihres Konsenses und ihrer Liebe angesehen. Die Ehe ist Gegenstand des individuellen Willens geworden, gelöst vom Willen der Eltern, der Sippe und der Verwandtschaft. Ein nicht ganz freier Konsens kann vorliegen, wenn bei Schwangerschaft der Braut sich der Bräutigam zur Eheschließung verpflichtet sieht. Gewiß versuchen auch heute noch Eltern 6

R. König, Die Familie der Gegenwart, 3. Auf!. 1978, 14 f.

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und Verwandte, auf Eheschließung Jugendlicher Einfluß zu nehmen mit dem Hinweis, daß die Liebe "blind" macht, während sie auf ein beglückendes Schicksal der jungen Leute bedacht seien. Tatsächlich ist der Ehewille jugendlicher Partner oft durch Werte bestimmt, die sie für Lebenswerte halten, die aber modischer, emotioneller, wandelbarer Art sind und der Prüfung durch den ehelichen Alltag nicht standhalten. Solche Werte liegen häufig Trotzreaktionen zugrunde, mit denen Jugendliche im Mündigkeitsalter ihren Willen durchsetzen und die Ehe eingehen. Die Folge davon ist, daß sich die höchste Scheidungsziffer in den ersten zwei Jahren bei Paaren findet, die sehr jung geheiratet haben. Verhältnismäßig hoch sind die Scheidungen in den nächsten drei Jahren.

2. Das eigentlich Menschliche Diese hohen Scheidungsziffern machen jedenfalls klar, daß das NurSexuelle und Erotische allein nicht die bindende Kraft hat, wie das junge Paar oft erwartet. Zum Sexuellen und Erotischen muß das eigentlich Menschliche kommen. Es besteht im Bewußtsein der Verantwortung. Je stärker dieses Bewußtsein entwickelt ist, um so entschlossener werden die beiden sich der gegenseitigen Anpassung unterziehen, die für das Gedeihen der jungen Ehe unerläßlich ist. Mit dem sittlichen Verantwortungsbewußtsein ist erst das vollmenschliche Sein erreicht, das die Voraussetzung für die eheliche Glückserfüllung bildet. Denn es ermöglicht und fördert die seelische Verbundenheit, deren eine Wurzel die gegenseitige Liebe der beiden noch unreifen Persönlichkeiten, deren andere Wurzel die Gemeinsamkeit von Interessen bildet, worin beide einen Teil ihrer Lebenserfüllung finden. Zu denken ist an das gemeinsame Interesse am Naturerlebnis (Wandern), am Sport, an Musik, am literarischen Theater, an der (Partei) Politik, am sozialcaritativen Einsatz. Aus solcher Verbundenheit durch Interessen kann eine gemeinsame Wertwelt erwachsen, die zur Stütze der jungen Ehe wird. Wenn das erste und zweite Kind da ist, erwächst die Familiengemeinschaft mit dem Elternpaar und den schutz- und pflegebedürftigen Kindern als das wichtigste verbindende Interesse. Nach den fragwürdigen Erfahrungen mit der Wohlfahrtsgesellschaft wird heute viel von einem einfachen Leben gesprochen. Das müßte nicht im Widerspruch zu höherer Lebensqualität stehen. Es kommt auf die Werte an, die für den Lebensinhalt als maßgebend angesehen werden. Das brauchen nicht die materiellen Werte sein, vielmehr sind es die geistigen Werte, die dem einfachen Leben den tragenden Sinn geben und in einem unbegrenzten Ausmaß geben können. Zu diesen Werten gehören die, die der Mensch in der Welt seines Herzens, im "sanften Gesetz" (Adalbert Stifter), in der bildenden Kunst, in der 23"

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Malerei, der Musik, im Roman, der Lyrik, immer gesucht und gefunden hat. Angesichts der Gewalttätigkeit in der heutigen Welt mag es verwegen erscheinen vom "sanften Gesetz" zu sprechen, aber man höre seine Erklärung durch Stifter, um zu wissen, was es für den Menschen bedeuten würde, wäre es allgemein das Richtmaß seines Handeins. Denn, sagt Stifter, es ist das Gesetz "der Gerechtigkeit, das Gesetz der Sitte, das Gesetz das will, daß jeder geachtet, geehrt und ungefährdet neben dem anderen bestehe, daß er seine höhere menschliche Laufbahn gehen könne, sich Liebe und Bewunderung seiner Mitmenschen erwerbe, daß er als Kleinod gehütet wird, wie jeder Mensch ein Kleinod für alle anderen Menschen ist"7. Wäre das "sanfte Gesetz" beherrschend, die Welt wäre eine andere. Mit den dann geltenden Werten würde der Mensch den grenzenlosen Reichtum des einfachen Lebens entdecken können mit einem Glückserlebnis, das allen Appell der materiellen Wertwelt zur Nebensache reduziert.

3. Gefährdete LebensschuZe des Menschen Mit dem sich anzeigenden, aus wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten erwachsenden übergang zur Ein- oder Zweikinderfamilie entsteht die bedenkliche Situation, daß die Familie ihre Funktion der Lebens- und Kulturschule nicht erfüllen kann. Denn die Voraussetzung dafür ist die Familiengemeinschaft. Diese Voraussetzung fehlt weitgehend in der Einkindfamilie. Es kann nicht zum vollen Miteinander, Füreinander und Gegeneinander in der Gemeinschaft Gleichaltriger kommen, wie dies zur Entwicklung der Verhaltensnormen nach den humanen Werten notwendig ist. Die Zweikinderfamilie bietet die erforderlichen Voraussetzungen unvollständig, da sie den Kindern zU wenig Erfahrung mit zwischenmenschlichen Beziehungen und Konflikten ermöglicht, ganz abgesehen davon, daß die Zweikinderfamilie den Bevölkerungsrückgang verursacht, der einem Volk die Zukunft verwehrt. Denn die Sterbeziffern liegen dann über den Geburtenziffern. Wenn heute die wissenschaftliche Ethik nach Ursprung und Begründung sittlicher Normen fragt, sollte nicht vergessen werden, daß der Mensch nie in seiner ganzen Geschichte ohne ein sittliches Grundwissen war. Dieses Grundwissen entstammt nicht einer wissenscllaftlichen Forschung, sondern ergab sich aus der Wirkweise der menschlichen Natur. Wie alle Lebewesen strebt der Mensch nach Selbstverwirklichung durch die Vollentfaltung seiner Anlagen und Kräfte. Er will das Mindestmaß eines menschenwürdigen Daseins haben. Er findet dieses 7

A. Stifter, Bunte Steine, München 1951, 10.

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Mindestmaß in der Familiengemeinschaft. Der Mensch ist nicht Einzelwesen sondern Gemeinschaftswesen und zwar Familienwesen. Er ist dies so sehr, daß er in der frühen Kindheit ohne die Sorge der Familie überhaupt nicht zu leben vermöchte. Mit dem Umsorgtsein in der Familiengemeinschaft erlebt und erlernt er durch die Erfahrung in den ersten Lebensjahren die Werte, die für das menschenwürdige Dasein in der gelebten Gemeinschaft von Vater, Mutter und Kindern maßgebend sind. Er lernt sie in Verbindung mit der natürlichen gegenseitigen Liebe und Zuwendung. Es sind der Wert des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit, der Wert der gegenseitigen Achtung und Wohlgesinnung, die Werte der Wahrhaftigkeit und Treue gegeneinander, der Freiheit und Gerechtigkeit, des persönlichen und des kollektiven Eigentums, der Hilfsbereitschaft und Opferbereitschaft füreinander, der Sorge und Arbeit für das gemeinsame Beste, des rechten Befehlens und des rechten Gehorchens, der für das geordnete Zusammenleben notwendigen Autorität. Damit ist nicht behauptet, daß das Kind eine reflexiv bewußte Einsicht in Inhalt und Geltung der Wertimperative hat, jedoch wird es aus der unmittelbaren Erfahrung mit beidem vertraut. Das heranwachsende Kind wird mit der Entwicklung des sittlichen Bewußtseins sich des sittlichen Wesens der an diese Werte geknüpften Verpflichtungen bewußt, außerdem ihrer über die Familie hinausgehenden Verbindlichkeit im Gesellschaftsleben. So wird die Familie, wie der amerikanische Soziologe R. M. MacIver sagt, für das Kind zum "Kleinbild des politischen Lebens"8, sie wird zur Lebensschule des Menschen für sein zwischenmenschliches und gesellschaftliches Zusammenleben. 4. Erstmaßgebliche Sozialisation Was der Mensch im Kindesalter über die eben genannten Grundwerte und das darin begründete Verhaltensmuster in der Familie lernt, bestimmt den grundlegenden Teil seiner Sozialisation. Die Sprache, die es in der Familiengemeinschaft erlernt, vermittelt dem Kind als Teil der Erziehung eine Vorstellunds-, Erkenntnis- und Wertwelt, die sein Denken und Handeln von Jugend an prägt und formt. In der Erziehung der Jugendlichen wird die zu Ehe und Familie einen zunehmend wichtigen Teil bilden müssen. Dabei wird es nicht zuletzt auf die Bewertung des Sexualtriebes ankommen, auf seine Stellung in der Persönlichkeitsentfaltung und in der Selbstverwirklichung der jungen Menschen. Günstige Voraussetzung dafür wird das Leben und d

R. M. Maclver, The Web of Government (USA), 1948, 28 ff.

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die Erfahrung in der Familie bilden, in der die jungen Menschen heranwachsen. Je mehr die Eltern und die Geschwister eine vollwirkliche Familiengemeinschaft sind, um so stärker werden sie heiratswilligen jungen Gliedern der Gemeinschaft eine Orientierungshilfe bieten. Immer wird es bei dieser Orientierung um die Wahl zwischen Tages- und Lebenswerten gehen, nämlich um Werte, deren vorübergehender Appell unschwer erkennbar ist, und Werten, die den ganzen Menschen herausfordern und ihm bleibende Erfüllung verheißen. Rein soziologisch gesehen bildet den festesten Wertgrund einer auf Dauer abzielenden Eheschließung die Verwurzelung der Persönlichkeiten der Eheschließenden in der religiösen Wirklichkeit. Mit der religiösen Überzeugung gewinnen die für Ehe und Familie maßgebenden Werte eine neue, in die Transzendenz gehobene, daher auch eine über einen nur zeitbedingten Bestand hinausreichende Wirklichkeit. 5. Größere Scheidungshäujigkeit Daß die Ehe der Zukunft durch eine größere Scheidungshäufigkeit gekennzeichnet sein wird, ist aus der heutigen Entwicklung zu schließen. Die Ehescheidungen nehmen im ganzen zu. Die Ursache der Scheidung ist in den allermeisten Fällen der Zusammenbruch der Ehe, weil die beiden Ehepartner zu wenig Anstrengungen für die gegenseitige Anpassung machen, die nur mit Opfern von jedem der beiden möglich ist. Dem Zusammenbruch der Ehe geht ein Prozeß der Unstimmigkeiten und Auseinandersetzungen voraus, die von einer Entfremdung begleitet werden, die schließlich die Ehescheidung als die unvermeidliche Konsequenz erscheinen lassen. Äußere Faktoren kommen dazu, so die geänderte Einschätzung der Scheidung im Vergleich zu früher. Eine RoHe spielt die Emanzipation der Frau, ihr höherer Bildungsstand, ihre Berufstätigkeit vor der Eheschließung mit der Stärkung des Selbstwertgefühls, ihr Verlangen nach gesellschaftlichen Kontakten entgegen der Eingeengtheit des Lebens in der Familie. Aufseiten des jungen Ehemannes kann, besonders bei länger sich hinziehenden vorehelichem Geschlechtsverkehr, eine Desillusionierung eintreten, die eine Bereitschaft zur Ehescheidung weckt. Eine Erziehung der beiden Partner zur Ehe, die alles Schöne und Beglückende in der Ehe, aber auch alles Schwierige und Belastende realistisch sehen lehrt, wird wesentlich dazu beitragen können, daß die Wirkungen der unvermeidlichen Friktionen des Alltags nicht das Heiligtum jener Liebe erreichen, durch die das vollerfüllte Leben im Ehebund gewährleistet ist, aber auch die hingebende Liebe der Mutter für die Kinder gesichert bleibt. Die Tiefenpsychologie sagt heute mit Nach-

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druck, wie bedenklich das Fehlen der unmittelbaren Zuwendung, der Gegenwart, des Sprechens, der Zärtlichkeit, der Liebe der Mutter für das Kleinkind ist. Die zunehmende Erwerbstätigkeit der Ehefrau hat die Familienpolitik in den Industriestaaten zur Schaffung von Einrichtungen gedrängt, die die Kinder, die vier-, fünf- und sechsjährigen, vor den Gefahren des Ausgesetztseins in einer als fremd empfundenen Welt bewahren und die für das Kleinkind lebensnotwendige Liebe und Sorge gewährleisten sollen. Kindergärten, Tagesheime, Kinderdörfer, Vorschulerziehung sind Formen solcher Hilfe. An einem Beispiel mag die Bedeutung der geleisteten Hilfe veranschaulicht werden. Es ist zugleich ein Beispiel dafür, daß keineswegs nur an staatliche Hilfe zu denken ist. Der Schreiber dieser Zeilen lernte mit seinen zwei Brüdern vor Beginn des Jahrhunderts das Leben im Kindergarten kennen, weil die Mutter durch einen 10stündigen Arbeitstag in der staatlichen Tabakfabrik (Erzeugung von Zigarren), der Vater durch einen 8stündigen Arbeitstag im staatlichen Silberbergwerk festgehalten war. Die Einrichtung und Führung des Kindergartens geschah durch einen weitblickenden Frauenorden, der auf diese Weise für die Kinder der vielen Hunderte von Ehefrauen, die in der Fabrik arbeiteten, vorsorgte. Der Besuch des Kindergartens war kostenlos. Kurz von 6 Uhr früh mußten die Mütter die Kinder in den der Fabrik nahegelegenen Kindergarten bringen, um 6 Uhr wurde das Fabriktor unerbittlich geschlossen. Um 11 Uhr eilte die Mutter mit den Kindern heim, um zu kochen und zu Mittag zu essen, um 13 Uhr mußten die Kinder wieder im Kindergarten und die Mutter in der Fabrik sein. Um 18 Uhr war Betriebsschluß und gings mit der Mutter nach Hause. 6. Weniger Konflikte in der Familiengemeinschaft

In ihrer "Kleinen Chronik" erzählt die zweite Frau von Johann Sebastian Bach, Anna Magdalena Bach: Er pflegte zu sagen, Dissonanzen seien um so härter, je näher sie der Harmonie liegen, und so seien Mißhelligkeiten zwischen Ehegatten die unerträglichsten. Er fügte aber wohl hinzu: "Wir hatten Schwierigkeiten und Unruhe, wie sie jeder hat, der über die Erde geht, aber sie lagen außerhalb unserer Person, sie rührten nie an unsere Liebes." Offenbar spricht Bach in diesen Aufzeichnungen seiner zweiten Frau von Konflikten ihrer Ehe und mit den Kindern. Die Stelle ist beachtenswert, weil sie über die Unvermeidlichkeit des Konfliktes spricht. Natürlich wird es im Hause Bach Fami9 Die Kleine Chronik der Anna Magdalena Bach, 1. Aufl. 1939, 19. Aufl. 1936, S. 85.

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lienkonflikte gegeben haben, hatte er doch aus beiden Ehen zusammen 11· Söhne (darunter 4 bedeutende Musiker) und 9 Töchter (von beiden zusammen überlebten 9 den Vater). Die Frau Bach denkt in ihrer Kleinen Chronik sicher auch an die Auseinandersetzungen wegen der Kinder, mit ihnen und zwischen ihnen. Sie dürften häufiger gewesen sein, als die Kinder noch klein waren, ernster unter den heranwachsenden Söhnen und Töchtern. Zu erinnern ist an die Ruhe, deren Vater Bach zur Erstellung seines gewaltigen musikalischen Werkes bedurfte und die er sich gegenüber den Konflikten im Familienkreis sichern mußte. Zwei Dinge stehen für Bach nach dieser Stelle der Kleinen Chronik fest: Daß der Konflikt zur menschlichen Grundsituation gehört und daß es Werte gibt, die in Konflikten und Auseinandersetzungen nach ihrem Inhalt und ihrer Bedeutung geklärt aber nicht preisgegeben oder verletzt werden dürfen. Alles kommt darauf an, daß die Lösung von Konflikten auf Grund einer die Personenwürde aller anerkennenden Haltung gesucht wird, aber auch ein zwischen Persönlichkeiten bestehendes engeres Band gehütet wird. Die Stellung der Jugendlichen und der Teenager in der Familiengemeinschaft ist heute eine andere als noch vor dem Zweiten Weltkrieg. Ihrer Selbstbestimmung und ihrem Eigenwillen ist ein größerer Spielraum gegeben. Sie besitzen Freiheiten der Beschäftigung, des Zusammenseins mit anderen, der Unterhaltung, die ihre Grenze hauptsächlich in ihrer Verpflichtung für das Fortkommen in der Schule und in den Verbindlichkeiten gegenüber der Familiengemeinschaft haben. Auch gegenüber jüngeren Familiengliedern herrscht nicht so sehr der strenge Befehl wie der Appell an die eigene Einsicht. Wo der Befehl vorherrscht, sind die Folge Spannungen zwischen Eltern und Kindern, auch oft zwischen einern Elternteil und Kindern, zwischen einern Autoritätswillen aufseite der Eltern und einer Trotzhaltung bei den Kindern. Bei dem herabgesetzten Mündigkeitsalter kommt es dann oft zum Dauerkonflikt in der Form der Trennung eines Jugendlichen von der Familiengemeinschaft oder wenigstens der betonten Selbständigkeit der eigenen Entscheidungen, besonders auch hinsichtlich der frühen Verehelichung. Offenbare Fehlentscheidungen der Jugendlichen zu verhindern, werden an die Klugheit der Eltern hohe Anforderungen gestellt. Sicher wird die bekundete Liebe der Eltern bessere Erfolgschancen haben als eine starre Frontstellung. 7. Der Befehl Im Verhältnis von Eltern und Kindern handelt es sich um Menschen, die sich gewohnheitsmäßig Wohlgesinnung, Rücksichtnahme und Liebe entgegenbringen. Eine sich anzeigende Entwicklung der Familienge-

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meinschaft sich so zu denken, daß an die Stelle des Befehls das Verhandeln tritt, dürfte aller pädagogischen Erfahrung widersprechen. Immer wird Erziehung den Umgang mit jungen Menschen unter Hinführung zu verantwortungsbewußtem Verhalten im persönlichen und im gesellschaftlichen Leben bedeuten. Wenn einmal wach, wird sich das Verantwortungsbewußtsein in der sich ihm aufschließenden Welt vor sich ausweitenden Anrufen von Verpflichtungen finden. Die sich meldenden Aufgaben werden sich zum Teil als solche des Gewissens stellen. Das ist die Fähigkeit der Vernunft, den Zusammenhang von Handlungen lind Haltungen mit dem im Menschsein gelegenen sittlichen Ordnungsgebot (katogorischer Imperativ) zu sehen. Der Erzieher wird zu allererst auf die Weckung der eigenen Einsicht des Kindes und Jugendlichen in diesem Zusammenhang als Ziel der Erziehung bedacht sein. Auch wo der Befehl unvermeidlich ist, sollte seine Form noch dieses Streben erkennen lassen. Nicht Befehl und Autorität stehen demnach in Frage, sondern die Art ihrer Ausübung. Die Annahme, daß es auf eine grundlegend neue Einstellung von Eltern und Kindern zueinander ankomme, wofür eine Art Demokratisierung der Familiengemeinschaft anzustreben sei, dürfte zu weit gehen1o • Sobald allerdings die Eltern darauf verzichten, durch Machtausübung sich durchzusetzen, haben die Jugendlichen weniger Anlaß, ihrerseits durch eine Abwehrhaltung gegenüber den Eltern ihren Willen zur Geltung zu brinden. Zu beachten wird sein, daß Schul- und Bildungseinrichtungen in allen Industrieländern (Kulturstaaten) heute einen Menschentyp (Emanzipation) anstreben, der an der Gestaltung der eigenen Zukunft durch Mithilfe an der Schaffung gesellschaftlicher Einrichtungen, die sich zum Wohl aller auswirken, mitarbeitet. Das wird in der Familiengemeinschaft eine Lockerung der Autoritätsverhältnisse herbeiführen, so daß in den Fragen des Alltags keine Seite nur auf dem eigenen Willen bestehen sondern alle auf die Möglichkeiten gegenseitiger Verständigung bedacht sein können.

8. Der neue Beruf des Familientherapeuten Heute gibt es den gewerblichen Familientherapeuten; Die für Entgelt wie die des Arztes arbeitende Heilbehandlung von Familien bezeugt ein häufiges Vorliegen von Konflikten, aber auch des Willens, ein befriedigendes Gemeinschaftsleben herzustellen. Man wird allerdings nicht übersehen dürfen, daß es die Familientherapie schon immer gegeben hat, so lange Seelsorger sich um Kinder, ihre Eltern und Familien 10 Thomas Gordon, Familienkonferenz. Die Lösung von Konflikten zwischen Eltern und Kindern. Aus dem Amerikanischen von Maren Organ. 1. Auf!. 1972, 10. Auf!. 176 - 200. Tausend 1977.

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gekümmert haben. Dies war seit je eine Hauptarbeit der Pfarrgeistlichkeit. In der Gegenwart erfolgt diese Seelsorgearbeit in der Großstadt durch Hausbesuche, auf dem Land ist der Pfarrer der selbstverständliche Teilhaber der Schwierigkeiten, Sorgen und Freuden der Familie sowie auch eine Stütze der ehelichen Gemeinschaft in den Zeiten von Krisen, die früher oder später in vielen Ehen für kürzere oder längere Zeit auftreten. Familientherapeuten sehen Aufgaben, wenn Eltern durch Schwierigkeiten mit ihren Kindern die Familiengemeinschaft gestört finden; wenn verheiratete Erwachsene im Zusammenleben mit ihren Eltern Spannungen zu ertragen haben; wenn Ehepartner sich sehr oft oder regelmäßig zerstreiten, besonders falls Kinder in Mitleidenschaft gezogen sind; wenn ein Elternteil der Trunksucht oder Kinder der Drogensucht anheimfallen. Wo immer Schwierigkeiten in den Beziehungen der Eltern zueinander und zu ihren Kindern sowie der Kinder untereinander bestehen, sucht die familientherapeutische Tätigkeit die Ursachen zu erheben und Wege der Abhilfe zu finden. Auf wissenschaftlichen Kongressen der Familnentherapeuten ist die Demonstration von familientherapeutischen Sitzungen mit Hilfe von Ton- und Videobändern üblich, wobei die praktische Erfahrung gegenüber der theoretischen Analyse erhöhte Beachtung findet. Als wichtigster Teil der Lehrzeit des Psychotherapeuten gilt psychotherapeutische Tätigkeit unter Einzel- und Gruppenaufsicht, die besonders das Erkennen von Fehldeutungen der Aussagen der Patienten fördern soll. Eine Ausbildung als Einzeltherapeut wird als gute Voraussetzung für die Übernahme der Familientherapie angesehen. Zweckmäßig erscheine die Führung von Protokollen über die Behandlungsstunden, das sind Notizen, die später jederzeit zur Verfügung stehen. Für das familientherapeutische Gespräch wird eine Anzahl von Regeln aufgestelltl1 • Unter den heutigen Umständen sollte die Bedeutung der Familientherapie nicht gering eingeschätzt werden, so wenig sie als Um und Auf der Sorge um die Familie zu betrachten ist.

v.

Die Familie der Zukunft in den Entwicklungsländern

Für die Familie ist in den Entwicklungsländern eine neue Situation eingetreten. Die längste Zeit wurde der Kapital- und Technologieimport in die Entwicklungsländer als die von den Industrieländern geforderte Entwicklungshilfe erachtet. Sie wird sicher auch in Zukunft von Bedeutung sein. Die Auseinandersetzungen auf den internationalen Ta11 W. Thoman, Familientherapie: Grundlagen, empirische Erkenntnisse und Praxis, Darmstadt 1979, 125 ff.

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gungen des Nord-Süddialogs, das ist der Länder der Dritten Welt und der Industrieländer, lassen darüber keinen Zweifel. Ein radikaler Wandel der Anschauungen ist jedoch insofern eingetreten, als heute der Einsatz für den Aufstieg der Entwicklungsländer vor allem in der Selbstversorgungswirtschaft ländlicher Gebiete gesehen wird. Auf diese Weise wird mit intensiver Agrarwirtschaft der drohenden Nahrungsmittelnot vorgebeugt. Es wird zweitens durch Arbeitsbeschaffung der Massenarbeitslosigkeit vorgebeugt. Und es wird drittens der Landflucht und der Massenproletarität in Großstädten der Dritten Welt entgegengearbeitet. Außerdem wird viertens ein Markt für Abnahme von Erzeugnissen des Kleingewerbes und Handwerks bestehen und erhalten bleiben. Denn es werden nicht Großfabriken erstellt, die z. B. durch maschinelle Erzeugung von Schuhen hunderte von Handwerkern arbeitslos machen. Die Entwicklungspolitik wird in den ländlichen Regionen, in denen landwirtschaftliche Betriebe zur Selbstversorgung erstellt werden, die Errichtung von großindustriellen Anlagen verhindern, weil sie der ökonomischen und bevölkerungspolitischen Zweckmäßigkeit widersprechen. Als Begründer dieses Trendwechsels wurden heuer (1979) die beiden Entwicklungspolitiker W. Arthur Lewis und Theodore W. Schultz mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Den neuen Trend verfolgt auch die Weltbank und ihr Präsident NcNamara. Es wäre allerdings falsch anzunehmen, es hätte nicht früher schon Stimmen gegeben, so besonders in der christlichen Soziallehre, die den die genannten vier Ziele verfolgenden Weg der Entwicklungshilfe mit Nachdruck vertraten. Familienfreundlich ist der neue Trend der Entwicklungspolitik, weil die kleineren wirtschaftlichen Einheiten die Grundlage für viele Bauernfamilien bilden werden. Diese Bauernfamilien werden ihren Grundbedarf an Lebensmitteln selbst decken. Eine größere Anzahl von ihnen wird es zweckmäßig finden, sich genossenschaftlich zusammenzuschließen zum gemeinsamen Einkauf von Saatgut, Vieh, Werkgerät, aber auch zum gemeinsamen Absatz von überschüssen. Man darf sich den Aufbau lebensfähiger selbständiger Bauernbetriebe nicht zu einfach vorstellen. Denn die Erstellung von Bauernhäusern, die Versorgung mit Saatgut und Vieh erfordert Kapital. Es müssen Wege und Straßen angelegt werden (Infrastruktur), es muß für den Schulunterricht vorgesorgt werden. Obwohl der neue Trend der Entwicklungshilfe nicht in erster Linie an den Ausbau großindustrieller Anlagen denkt, wird doch bedeutender Kapitaltransfer unerläßlich sein, um die Einrichtung von Selbstversorgungswirtschaften durch Bauernfamilien sicherzustellen. Die Zeit drängt, weil sonst Hun-

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gerkatastrophen riesigen Ausmaßes drohen. Auch die Brandt-Kommission sagt in ihrem Bericht: "Wir möchten unsere überzeugung betonen, daß die beiden kommenden Dekaden für die Menschheit schicksalhaft sein können." Sie nennen ihren Bericht daher: "Nord-Süd: ein überlebensprogramm ". Die christliche Familien-, Bevölkerungs- und Entwicklungspolitik wird aus den schon erwähnten Gründen die neuen Wege der beiden mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Entwicklungspolitiker als die ihrigen betrachten und sehen, daß sie in diesem Sinne auf die Entwicklungspolitik Einfluß ausüben kann. Die Vorausveröffentlichung aus dem Report der Brandt-Kommission (London, Economist 22. 12. 1979) muß überraschen, weil er auf das neue Konzept der Entwicklungshilfe der beiden mit dem Nobelpreis ausgezeichneten amerikanisten Entwicklungspolitiker nicht eingeht, obwohl er sagt, daß in 58 von 106 unterentwickelten Ländern (1970 - 78) die Bevölkerung schneller wuchs als die Nahrungsmittelerzeugung. Ein einheitliches Modell der neuen Entwicklungspolitik ist nicht möglich, weil die Voraussetzungen für die jeweilige Vorgangsweise zu verschieden sind. Besonderer Art sind schon die Besitzverhältnisse der Großländereien (Latifundien) in den Entwicklungsländern. Sie sollten in Landgebiete geteilt werden, die für Bauernhöfe ausreichen. Werden die politischen Verhältnisse eine solche Teilung ermöglichen? Daß in einem beträchtlichen Teil der Dritten Welt diktatorische Herrschaftsformen bestehen und eine Entwicklungspolitik, die auf Teilung des Großlandbesitzes abzielt, als kommunistisch bekämpft wird, ist bekannt. Erst wenn demokratische Lebens- und Staatsformen sich durchsetzen, besteht eine Hoffnung, daß die Besitzer von Latifundien jene Agrarreformen ermöglichen, die das Entstehen von selbstversorgenden Bauernhöfen und Bauernfamilien begünstigen. Unmittelbare Hilfeleistungen in der Form einer Lebensmittelversorgung müssen jene Millionen Menschen erhalten, die unter dem physischen Existenzminimum leben. Die Notlage jener halben Milliarde von Menschen ist längst bekannt. Die Weltbank hat 1978 auf diesen Notstand hingewiesen. Ausreichende Hilfe wurde bisher nicht geleistet. Grenzen sind der Entwicklung von bäuerlichen Selbstversorgungsbetrieben durch die Art der zu erstellenden Produkte gesteckt. Das gilt vor allem für die beiden wichtigsten Welthandelswaren, Erdöl und Kaffee. Familienbetriebe scheinen ausgeschlossen zu sein. Für 30 Entwicklungsländer bildet Kaffee eine Haupteinnahmequelle von Devisen. Durch die unkontrollierte Ausweitung der Kaffeeerzeugung in immer neuen Ländern entstanden Absatzschwierigkeiten für alle Kaffee erzeugenden Länder. Es kam zur Weltkaffeekonferenz. 1968 wurden

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Produktionsbeschränkungen und Ausfuhrquoten zur Erzielung eines "gerechten Preisniveaus" vereinbart. Also konnte nur durch eine Art von Kartell die Überproduktion geregelt werden. Eine besondere Schwierigkeit bildete die Überleitung der Kaffee-Monokulturländer in Volkswirtschaften mit verschiedenen landwirtschaftlichen Erzeugnissen. Die Kaffeeproduktion von Afrika hat sich von 12,5 % (1952) der Welterzeugung auf 27 Ufo (1966) erhöht, was auf die Verwendung neuer Kaffeesorten für die Erzeugung von Pulverkaffee zurückgeht. Das komplizierte Produktionsverfahren des in den Welthandel gehenden Kaffees läßt keine Möglichkeit von an Kleinfamilien gebundene Betriebsformen erkennen. Das 1968 von 52 Ländern unterzeichnete Abkommen ermöglicht den beteiligten Staaten durchschnittlich 75 Ufo ihrer Produktion auszuführen. Ähnlich sind die Erdöl ausführenden Länder in einem Kartell (OPEC) zusammengeschlossen, das Produktionsmengen und Preise reguliert (Ausnahme Dezember 1979). Man fragt sich, wie die FAO (Food and Agriculture Organisation) ihre Aufgabe sieht, wenn, wie erwähnt, so viele Millionen unter dem physischen Existenzminimum leben müssen. Die F AO ist die Fachorganisation der Vereinten Nationen für Ernährung, Landwirtschaft und Forstwesen. Sie wurde 1945 gegründet, zählte 1967 111 Mitglieder, hat ihren Sitz in Rom. Ihre wichtigste Aufgabe ist die Sicherung und Verbesserung der Nahrungsmittelversorgung der Welt. Ihre vordringlichste Aufgabe besteht in der Verhinderung von Hungersnöten in den Entwicklungsländern und deren langfristige Beseitigung. Organ der FAO ist die alle zwei Jahre tagende Konferenz der Mitgliedsstaaten, auf der das Arbeitsprogramm und das Budget beraten werden. Das Generalsekretariat in Rom beschäftigt weit über 5000 Beamte. Das neue Ziel der Entwicklungshilfe für die Dritte Welt, die Schaffung von landwirtschaftlichen Selbstversorgungsbetrieben, würde der Gefahr entgegenwirken, daß die riesige Zentralorganisation F AO zu sehr auf ihre Selbsterhaltung und auf die Bestellung neuer Beamter bedacht ist, was bei so großen Organisationen immer eine Gefahr bildet (Parkinsonsches Gesetz). Das Ziel der Schaffung von bäuerlichen Selbsterhaltungseinheiten müßte eine Dezentralisierungsdynamik auslösen, die am Bauernhof und an der auf ihm wirtschaftenden Familie orientiert ist. Durch die Schaffung der größtmöglichen Zahl bäuerlicher Selbstversorgungsbetriebe würde die Nahrungsmittelversorgung der wachsende Weltbevölkerung sichergestellt sowie die Entstehung eines gigantischen Weltproletariates in den Großstädten der Dritten Welt verhindert. Die FAO müßte in solcher Entwicklungspolitik ihr Haupziel sehen. Wird der größtmöglichen Zahl von Familien eine Lebensgrundlage geboten, kann die Dritte Welt in der Familie den

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Gesundbrunnen ihres gesellschaftlichen Lebens erhalten. Das wird keine Zukunft mit materiellen Reichtümern sein. Es wird aber eine Welt von ho her Lebensqualität sein, wenn sie die Werte der Familiengemeinschaft zu pflegen weiß.

DIE FAMILIE IN NATURRECHTLICHER SICHT Von Alfons Fleischmann Vorbemerkung Niemals in der Geschichte war die bange Frage nach dem nackten überleben des genus humanum von so brennender Aktualität wie heute. Das ist keine leere Phrase. Der Hinweis auf drei Tatsachen mag dies erhärten: Da ist erstens die Tatsache, daß aufgrund des technischen Fortschritts die Distanz zwischen den Menschen und Völkern in einem vorher nie geahnten Maß geschrumpft ist. Da ist zweitens die Tatsache, daß gleichzeitig der menschliche Lebensraum in Folge der Bevölkerungsexplosion ungeheuer eingeengt wurde und dadurch neuer Konfliktstoff entstanden ist. Schließlich die wohl bedrängendste Tatsache, daß eine Lösung der anstehenden Probleme, insbesondere die Beherrschung des von der Technik geschaffenen Ver~ nichtungspotentials, immer aussichtsloser zu werden droht. Letzteres vor allem deshalb, weil trotz einer gewaltigen Ausweitung des menschlichen Wissens, das Gewissen, die Bindung an das Sittengesetz und das Recht weltweit in eine Krise geraten ist. Ein Faktum, das seinerseits mit der Erschütterung des religiösen Bewußtseins zusammenhängt. Der theoretische und praktische Atheismus, die Leugnung Gottes als absoluten Herrn und Richter der Menschen und Völker, ist so gesehen die tiefere Wurzel des drohenden Unheils. Im Blick auf unser Thema stellen sich zwei Fragen: Zunächst eine mehr allgemeine: Ist, wenigstens theoretisch und grundsätzlich, ein Menschheitskonsens über die fundamentalen Gesetze des Lebens und Zusammenlebens möglich, also über die Grundforderungen des sittlichen Naturgesetzes und Naturrechtes? Auch mit Nichtchristen und mit Atheisten? Widrigenfalls müßte man den irrationellen Kräften das Feld überlassen, der menschliche Geist müßte vor der Macht der jeweils Stärkeren kapitulieren und die rohe Gewalt als alleiniges und letztes Entscheidungskriterium der menschlichen Kultur und Geschichte betrachten.

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Dann eine zweite, unser eigentliches Thema betreffende Frage: Ist ein Menschheitskonsens wenigstens hinsichtlich der Familie möglich? Sie ist ja die Zelle alles menschlichen Lebens und Zusammenlebens, und insofern von einzigartiger Bedeutung für die Lösung der heutigen politischen, sozialen und kulturellen Weltprobleme. Gibt es, anders formuliert, eine naturrechtliche Sicht der Familie, deren Bedeutung und Verbindlichkeit von allen Menschen mit normaler Intelligenz und ehrlichem Willen erkannt und anerkannt werden kann? Oder muß man auclJ. hinsichtlich dieses Themas den blinden Naturtrieben das Feld überlassen und damit der Angst und Hoffnungslosigkeit?

I. Möglichkeiten und Grenzen des Naturrechtes Es ist hier nicht der Ort, eine ausführlichere Begründung des Naturrechtes zu geben. Es mag genügen, auf die ausführlichen Darstellungen hinzuweisen, die der bekannte Sozialphilosoph J. Messner in seinem enzyklopädischen Werk "Das Naturrecht. Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik" (1958 4) geliefert hat; ferner J. Fuchs in seinem bedeutenden Werk "Lex naturae" (1955) und A. Auer in seinem aktuellen Buch "Der Mensch hat recht. Naturrecht auf dem Hintergrund von heute". (1956). Trotzdem muß um des Zusammenhanges willen auf einige Gesichtspunkte besonders eingegangen werden:

1. Gesichtspunkt: Die alte erkenntnistheoretische Streitfrage, ob und inwieweit der Mensch, so wie er geschichtlich existiert, - also nicht im sog. status naturae purae oder auch im status gratiae -, allein mit Hilfe von Vernunft und Erfahrung eine menschenwürdige Ordnung erkennen (und verwirklichen) kann, diese Frage ist zweifelsohne von fundamentaler Bedeutung auch und gerade für unser Thema. Bekanntlich wird sie von den Agnostikern aller Schattierungen, von den Anhängern des Rechts- und Moralpositivismus sowie des Skeptizismus und Relativismus negativ beantwortet, überhaupt von allen sog. Antimetaphysikern. Darüber hier nur soviel: Wo jede tiefere Einsicht in das "esse" bestritten wird, da bleibt natürlich auch das entsprechende "agere" verschlossen. Alle ontologischen und erkenntnistheoretischen Probleme sind unlöslich miteinander verschlungen. Die Möglichkeit einer natürlichen Erkenntnis von Sittlichkeit und Recht wird allerdings auch von manchen christlichen Rechtsphilosophen und Theologen bestritten oder doch bezweifelt, so von jenen Reformatoren, welche die zerstörenden Wirkungen der Erbsünde in einem. tota-

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len Sinne verstehen. Solchem theologischen Pessimismus entsprechend meint z. B. der bekannte evangelische Theologe H. Thielicke, es sei unmöglich, den Seinsordo zu erkennen, so daß es auch keine Transformationsformel geben könne, mit der aus dem allgemeinsten Naturrechtsätzen eine konkrete Rechtsordnung im einzelnen zu gewinnen wäre. Diese Unsicherheitsfaktoren seien in der objektiven Weltstruktur selbst begründet, nämlich in der Welt post lapsum, deren Ungerechtigkeiten gar nicht eindeutig aufweisbar sein können, weil es keine eindeutigen Zonen der Gerechtigkeit in ihr gibt, mit denen jene Ungerechtigkeiten zu kontrastieren wären!.

2. Gesichtspunkt: Neben der allzu pessimistischen Auffassung über das Naturrecht müssen auch gewisse allzu optimistische zurückgewiesen werden. Die menschliche Vernunft des homo lapsus ist nicht fähig, die natürliche Lebens- und Rechtsordnung bis in die letzten Details zu erkennen, unabhängig von allen historischen und soziologischen Bedingtheiten und der Situationsgebundenheit2 • Hier wird offensichtlich die Grenze für eine naturrechtliche Argumentation überschritten und unzulässigerweise auf jene Bereiche ausgedehnt, die dem positiven Recht und dem sog. Gewohnheitsrecht der Völker und Kulturen vorbehalten sind. Das Naturrecht beschränkt sich notwendigerweise auf gewisse allgemeine Regeln sittlichen und sozialen Verhaltens (sog. absolutes, primäres, vollkommenes oder elementares Naturrecht) und auf jene Forderungen von Sittlichkeit und Recht, die sich daraus im Blick auf die konkrete Natur der Sache unmittelbar, 1 Vgl. J. Messner, Das Naturrecht, S. 346 - 350, S. 110 - 114. Demgegenüber vertritt die katholische Erbsündelehre einen weniger pessimistischen, mehr realistischen Standpunkt. Danach ist das natürliche Licht der Vernunft in statu naturae lapsae zwar geschwächt, aber immer noch zu einer gewissen Erkenntnis der fundamentalen Sätze der sittlichen Ordnung und Rechtsordnung fähig. - Die Theologie spricht in diesem Zusammenhang von der Notwendigkeit einer gratia sanans und von einer nur relativen Notwendigkeit der Offenbarung. - Aus katholischer Sicht besteht somit berechtigte Hoffnung, daß es für Gespräche mit Nichtchristen und selbst mit Atheisten eine gemeinsame Basis gibt, und daß bei beidseitigem guten Willen auch ein Konsensus über die Prinzipien des menschlichen Zusammenlebens gefunden werden kann. E Nach J. Messner (a.a.O., S. 316) können als natürliche Ansprüche und Rechtspflichten gelten: Achtung und Gehorsam gegenüber den Eltern, Nichtverletzung des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit der Mitmenschen, der ehelichen Gemeinschaft, des wohlerworbenen Eigentums; ferner: redlicher Ausgleich von Leistung und Gegenleistung, Einhaltung des gegebenen Wortes und abgeschlossener Verträge, Angemessenheit der Strafe an das Unrecht. Diese natürlichen Rechte und Pflichten gründen auf den allgemeinsten Prinzipien: Suum cuique und auf der die Erfahrungsbedingtheit betonenden sog. goldenen Regel: Tue andern nicht, was du nicht willst, daß man dir tue! Vgl. dazu die positive Formulierung in Math. 7, 12 und Luk. 6, 31.

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wenn auch auf dem Weg über die Erfahrung ergeben (sog. sekundäres, angewandtes oder relatives Naturrecht). Darüber hinaus bleibt ein weiter Spielraum für die menschliche Freiheit, für die schöpferische Gestaltungskraft menschlicher Phantasie, damit freilich auch für das Wagnis überhaupt und für das Risiko des Bösen im besonderen. Nur nebenbei sei angemerkt: Sittlichkeit und Recht sind, sowohl inhaltlich wie der Verbindlichkeit nach, engstens mit der Gotteserkenntnis verbunden. Für Atheisten gibt es keinen zwingenden Grund, eine absolute Autorität von Sittlichkeit und Recht anzuerkennen. Ein zusätzlicher Grund, gegenüber gewissen übersteigerten Hoffnungen zurückhaltend zu sein, als könne man durch Zusammenarbeit mit ihnen mit den bloßen Mitteln des Rechtes eine vollkommene politische, soziale und wirtschaftliche Ordnung schaffen. Wo der Blick auf ein des Menschen und der Menschheit würdiges Ziel fehlt, da müssen auch alle Wege und Gehversuche in Richtung auf dieses Ziel in Sackgassen und Abgründe führen.

3. Gesichtspunkt: Für unsere Überlegungen ist es wichtig, das Verhältnis von Natur und Gnade, von natürlicher und übernatürlicher Lebens- und Rechtsordnung, und damit von Glaube und Wissen ständig im Blick zu behalten. Als Christen gehen wir von den theologischen Grundaussagen aus: Gratia praesupponit naturam, non destruit naturam, sed-elevat et perficit naturam. Dies bedeutet für den erstrebten Konsens mit den Nichtchristen und Atheisten folgendes: 1. Die christliche Sicht der Wirklichkeit, des Menschen und der Gesell-

schaft, und die Sicht der anderen stehen nicht absolut zusammenhanglos und beziehungslos nebeneinander.

2. Sie stehen noch weniger in unversöhnlichem Gegensatz zueinander. 3. Sie begegnen vielmehr einander; ja, die christlichen Vorstellungen ermöglichen erst, ein unverkürztes Welt- und Menschenbild, und damit eine volle Verwirklichung natürlicher menschlicher Zukunftshoffnungen und Weltvollendungspläne. Erst im Christentum findet die menschliche Ursehnsucht nach Gerechtigkeit und Frieden ihr "adäquates Ziel". Vertraut es doch auf die geschichtsgestaltende Macht der Liebe, nicht auf die zwar gesellschaftsverändernde, aber letztlich zerstörende Kraft blinder roher Gewalt. So gesehen kann es für uns Christen eigentlich keine Situation geben, in der Kontakte und Gespräche mit Andersdenkenden grundsätzlich sinnlos und aussichtslos wären bzw. endgültig abgebrochen werden müßten.

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4. Gesichtspunkt: Eines darf freilich am Schluß dieser allgemeinen überlegungen nicht übersehen werden: Es gibt Hindernisse der menschlichen Vernunftserkenntnis, (wie übrigens auch der Glaubenserkenntnis), die nicht rationeller Art sind und unter Umständen den menschlichen Geist total verfinstern können. Jede Wahrheits erkenntnis hat praelogische Voraussetzungen, den unbestechlichen Willen zur Tugend der Wahrhaftigkeit, der Nüchternheit, der Selbstbeherrschung, der Demut, der Liebe. Der Münchner Philosoph H. Deku erklärt in einem Artikel über die "Konkurrenzlosigkeit des Christentums", 1979 ersch. i. Sammelband "Warum ich Christ bin", die Aszese sei eine unabdingbare Erkenntnisdisposition, der Verstand könne erst Fortschritte machen, wenn alle sittlichen Kräfte des Menschen fortschreiten, nur "mores perducunt ad intelligentiam", gerade tiefere Erkenntnis sei ohne Elimination von Vorurteilen und Untugenden schlechthin unmöglich. Ja Deku erklärt, ein hoher Prozentsatz irriger Meinungen habe seinen Ursprung ganz einfach in irgendeiner "spirituellen Ungezogenheit". Das sind Tatsachen und Erkenntnisse, die in dem Streben nach einem Konsens der Menschheit in den Grundfragen ihrer Existenz leider eine untergeordnete Rolle spielen, oft genug selbst in den Bemühungen christlicher Politiker, Wirtschaftsführer und der Manager des modernen Kulturbetriebes außer Acht bleiben. Zusammenfassend darf gesagt werden: Es besteht grundsätzlich die Möglichkeit, daß Menschen verschiedener Glaubensrichtungen und Weltanschauungen, wohl einschließlich der Anhänger des Atheismus, sich darüber verständigen können, was für eine menschenwürdige Lebens- und Rechtsordnung unbedingt erforderlich ist. In Zeiten weltumspannender Krisen ist das eine ungemein wichtige und tröstliche Erkenntnis. Für den Christen bedeutet sie eine Bestätigung dessen, was der Völkerapostel in seinem Schreiben an die Christen von Rom (2, 14 f.) über die Erkenntnis des natürlichen Sittengesetzes geschrieben hat.

11. Naturrecht und Familie Unsere Frage lautet: Gibt es eine natürliche Erkenntnis vom Wesen und von der Aufgabe der Familie, speziell von den grundlegenden sittlichen und rechtlichen Forderungen, die wir mit dem Namen Naturrecht der Familie verbinden und die für alle Völker und Kulturen und für alle Zeiten Gültigkeit besitzen3 ? 24·

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Die Antwort soll in einigen (10) Sätzen versucht werden, wobei ich mich vor allem J. Messner ("Das Naturrecht", S. 467 - 502) anschließen möchte.

1. These: Die naturrechtliche Grundlage der Familie ist die unauflösliche Einehe. Zur Begründung sei hier folgendes vermerkt: Die Ehe als die dauernde Lebens- und Geschlechtsgemeinschaft von einem Mann und einer Frau dient, neben und mit der personalen Entfaltung und Erfüllung (Selbstverwirklichung durch Liebe) der beiden Partner, vor allem der rechtmäßigen Erzeugung und Erziehung der Nachkommenschaft. Sie ist somit von Natur aus auf die Familie hingeordnet. Jede andere Form der Geschlechtsgemeinschaft steht im Widerspruch zu beiden natürlichen " Ehezwecken "4. 1. Zum Wesen der Liebe zwischen zwei Personen: wahre Liebe tendiert immer auf Dauer und ist dem tiefsten Wesen nach bedingungslos und unwiderruflich, während Untreue immer irgendwie inhuman und zugleich gesellschaftsfeindlich ist. Vor allem zerstört sie das für alle zwischenmenschlichen Beziehungen erforderliche Vertrauen und mißachtet das urmenschliche Bedürfnis des geliebten Partners nach Anerkennung, Sicherheit und Geborgenheit. Die existentiellen Zwecke der Person können im sexuellen Bereich nur zu einem geringen Teil verwirklicht werdens.

2. Einheit und Unauflöslichkeit sind aber nicht nur vom Individualzweck der ehelichen Gemeinschaft her zu sehen, sondern ebenso von ihrem Sozialzweck. D. h.: vom Gemeinwohl, und hier vor allem und zunächst vom Wohl der Kinder, der natürlichen Frucht der ehelichen Liebesgemeinschaft. Diese fordern ein dauerndes Zusammensein der Ehepartner. Weil und insofern der Sozialzweck, das Gemeinwohl dem Einzelwohl der Gatten übergeordnet ist, - somit nicht nur mit Rücksicht auf den übernatürlichen sakramentalen Charakter der Ehe -, entspricht die Unauflöslichkeit der Ehe der rechtverstandenen Natur. 3 Es versteht sich, daß bei unseren überlegungen alles ausgeklammert bleibt, was Gegenstand streng übernatürlicher Offenbarung ist, sowohl in bezug auf das Wesen, den sakramentalen Charakter und die eschatologische Bedeutung von Ehe und Familie. Freilich darf nicht übersehen werden, daß auch das natürliche Wesen der Familie durch die Offenbarung eine Bestätigung und Vertiefung gefunden hat. 4 Hierzu gehören die sog. freie Liebe (Ehe "ohne Trauschein"), Bigamie, Ehe auf Zeit oder Probe, Kameradschaftsehe, Dreiecksverhältnisse usw. Die Widernatürlichkeit der künstlichen Empfängnisverhütung und der Abtreibung kann hier nicht ausführlicher behandelt werden. S Vgl. hierzu die Bedeutung der Ehelosigkeit aus religiösen oder sittlichen und sozialen Gründen.

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3. Dieser Vorrang des Sozialzweckes der Ehe hat von Natur aus soviel Gewicht, daß er auch dann respektiert werden muß, wenn die Ehe kinderlos bleibt, und für den Fall, daß Eheleute aus zwingenden Gründen getrennt leben müssen. Vernunft und Erfahrung können diese naturrechtliche Forderung nicht entkräften, bestätigen sie im Gegenteil: Die vielfältigen Belastungen, die Ehebruch, Ehescheidung und uneheliche wie außereheliche Nachkommenschaft sowie die Polygamie für die Beteiligten und darüber hinaus für die ganze menschliche Gesellschaft bedeuten, bilden einen ständigen und unübersehbaren Beweis für die Forderungen der idealen Menschennatur6•

2. These: Die Familie ist von Natur aus eine Lebensgemeinschaft der Eltern mit den Kindern. Diese naturrechtliche Forderung ergibt sich aus den unmittelbaren existenziellen Zwecken der Familie. Das sind: die Versorgung der Familienmitglieder mit den lebensnotwendigen, leiblichen und seelischgeistigen Gütern, die Erziehung der Kinder und, im Zusammenhang damit, die Grundlegung der größeren Lebensgemeinschaften und gesellschaftlichen Bindungen. Die Familie bildet die Grundlage alles menschlichen Wachsens und Reifens. Wie die wissenschaftliche Forschung (Psychologie, Pädagogik, Medizin) und die tägliche Erfahrung bestätigen, ist diese Intimgemeinschaft durch nichts ersetzbar. Dies gilt vor allem für das werdende und heranwachsende Leben, sowohl in biologisch-medizinischer, wie in psychologischer und sozialer Hinsicht. Familienfeindliche Bestrebungen, wie sie das moderne individualistische und sozialistische Denken hervorgebracht hat, sind immer zugleich gesellschaftszerstörend. Die Lebensgemeinschaft der Familie soll möglichst umfassend sein und alle Lebensäußerungen einbeziehen. Je mehr aus sozialen, kulturellen und wirtschaftspolitischen Gründen die Arbeitszeit der Familienmitglieder außer Haus verbracht wird, um so wichtiger wird die Gestaltung der Familienfreizeit, z. B. in Unterhaltung, Pflege der Musik und anderer Künste, des religiösen Brauchtums, im Spiel und anderen Formen der Entspannung und Lebensfreude. Auch der Empfang von Radiosendungen muß dem nicht entgegenstehen, ein anschließendes klärendes Gespräch kann ein wichtiger Beitrag sowohl zur Pflege der Familienkultur wie zur Vertiefung des Zusammengehörigkeitsbewußtseins sein. Der Primat der Familiengemeinschaft und ihrer Freizeitgestaltung sollte auch von den gesellschaftlichen, kirchlichen und staatlichen Einrichtungen für Bildung, 8 Der soziale Charakter der Ehe ist es auch, der eine staatliche Gesetzgebung rechtfertigt; sogar hinsichtlich des Ehebandes, wenn und soweit man von der übernatürlichen Ordnung und der Zuständigkeit der Kirche absehen kann und darf.

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Erziehung u. Unterhalt respektiert werden. Sie sollen subsidiär ihre Aufgabe wahrnehmen, ohne das Familienleben auszuhöhlen und es zu einer bloßen Essens- und Schlafgelegenheit herabzuwürdigen.

3. These: Die Familie hat von Natur aus Vorrang gegenüber anderen Formen der Gemeinschaft, insbesondere auch gegenüber dem Staat. Die Stellung einer Gemeinschaft innerhalb des Pluralismus der Gesellschafts- und Rechtsordnung wird in erster Linie bestimmt von den existenziellen 'Zwecken und den darauf beruhenden Aufgaben und Verantwortlichkeiten. Von daher besonders, nicht nur wegen der zeitlichen Priorität der Familie vor anderen gesellschaftlichen Gliederungen, entsteht und besteht ein natürlicher Rechtsanspruch der Familie, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln und im Sinn des Subsidiaritätsprinzips von den anderen Institutionen, insbesondere vom Staat, in besonderer Weise betreut und vor jeder Benachteiligung geschützt zu werden. Familienrecht ist immer vorstaatliches Recht. Der Staat kann nur insofern einen Vorrang für sich in Anspruch nehmen, als er in besonderer Weise für das Allgemeinwohl, für Frieden, Ordnung und Sicherheit der Gesellschaft zu sorgen hat und insofern auch den besonderen Schutz der Familie zu garantieren hat7.

4. These: Die Familie ist von Natur aus eine Wirtschaftsgemeinschaft. Die Vorsorge der Familie für die Bedürfnisse eines geordneten Lebens ist zu einem Großteil eine wirtschaftliche Aufgabe, die solidarisch von allen Gliedern der Familie zu leisten ist. In Zeiten und Kulturen, wo eine Arbeitsteilung nicht oder nur in unbedeuteten Umfang bestand, war die Familie eine Wirtschaftsgemeinschaft in einem vollkommenen Sinn. Mann, Frau und Kinder trugen nach ihren Möglichkeiten gemein7 J. Messner schreibt darüber (S. 472): "Am Anspruch des Staates auf den Vorrang vor der Familie wird gleicherweise von der individualistischen und der kollektivistischen Gesellschaft festgehalten. Die erstere betrachtet die Staatsgemeinschaft nicht in erster Linie als einen Verband von Familien, sondern von Individuen; es bleibt also kein Platz für den Vorrang der Familie. .Durch nichts hat sich die individualistisch-kollektivistische Gesellschaft so sehr selbst gerichtet wie durch ihre zerstörenden Auswirkungen auf die Familie, durch die ,Krise der Familie' ... "Für den dialektischen Materialismus ist die jeweilige gesellschaftlichrechtliche Familienordnung nur ein Teil des ,Oberbaues' des gesellschaftlichen Wirtschaftsprozesses und ganz der an diesem Prozeß gebundenen Entwicklung unterworfen. Daher wird ,die bürgerliche Familie', womit das ,kommunistische Manifest' offensichtlich die auf absolute Werte und Rechte begründete Familie meint, natürlich wegfallen ... mit dem Verschwinden des Kapitals: die Familie ist demnach nur ein dem Gesellschaftsprozeß untergeordnetes Element."

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sam für den täglichen Lebensunterhalt bei (Familienwirtschaft). In der modernen arbeitsteiligen Wirtschaft steht im Vordergrund das sogenannte Geldeinkommen, in erster Linie des (außer Haus) erwerbstätigen Vaters, in steigendem Maße auch der erwerbstätigen Hausfrau und Mutter. Letzteres in nicht seltenen Fällen in offensichtlichem Widerspruch zu den Forderungen des Naturrechtes, zumindest bei der kinderreichen Familie (mit unmündigen Kindern). Das naturrechtlich begründete sogenannte Familieneinkommen ist freilich eine von geschichtlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen abhängige Größe. Entscheidend sind die Produktivität der Wirtschaft, die Bedürfnisse eines Volkes, der Stand der moralischen Kräfte und der Lebenswille eines Volkes. Die wirtschaftliche Lage einer Familie ist aber nicht nur eine Frage des Familieneinkommens (Familienlohnes), mitbestimmend sind auch der Sinn für Sparsamkeit, Maßhalten, Rücksicht auf die Bedürfnisse anderer gesellschaftlicher Gruppen, und gegebenenfalls der Verzicht auf unnötige Lebensgenüsse, wie Alkohol, Nikotin usw. Die wirtschaftliche Lage der Familie ist also auch eine Frage der Haushaltsführung und der ganzen Lebensgestaltung. In jedem Fall muß, naturrechtlich gesehen, das familiengerechte Einkommen zumindest das physische und kulturelle Existenzminimum sichern. Dafür trägt die Gesamtheit, in Sonderheit der Staat, eine unabdingbare Mitverantwortung. Der Staat muß durch geeignete Maßnahmen sicherstellen, daß der nicht begüterte arbeitsfähige junge Mensch durch seine Arbeit soviel verdienen kann, daß er eine Familie gründen und ernähren kann (sogenannter Familienlohn). Dabei sind vor allem folgende Bedingungen zu beachten: 1. Daß alle arbeitsfähigen Mitglieder der Familie zur Haushaltsführung den ihnen zumutbaren Beitrag leisten, somit auch die heranwachsenden und erwachsenen Kinder, zumindest soweit sie noch im Familienhaushalt leben.

2. Daß der sogenannte Familienlohn die Bedürfnisse wenigstens einer "NormalfamiIie" zu decken vermag - für größere Familien muß subsidiär die Gesellschaft bzw. der Staat mitsorgen. 3. Daß diese Familie nicht voll und schlechthin den Lebensstandard eines kinderlosen Ehepaares erreichen kann und muß. "Eine solche äußerliche Betrachtungsweise würde die "unbezahlbaren" Werte der Familiengemeinschaft, insbesondere ihre Persönlichkeits- und Gemeinschaftswerte, völlig außer Acht lassen. Deshalb muß jede gesunde Familienpolitik die Voraussetzungen schaffen, daß diese wesenhaften Familienwerte zur Verwirklichung kommen können.

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4. Wenn und soweit der Familienlohn (im klassischen Sinn) in bestimmten Wirtschaftszweigen nicht erreicht werden kann - zwischen wirtschaftstheoretischen und sozial-politischen Begründungen des Familienlohnes muß unterschieden werden -, muß die Differenz auf andere Weise, vor allem durch sozial- und steuerpolitische Maßnahmen des Staates ausgeglichen werden 8 • 5. These: Die Familie ist von Natur aus eine Erziehungsgemeinschajt. Die Erziehung der kommenden Generation ist naturrechtlich gesehen wohl die wichtigste Aufgabe der Familie. Dabei können drei Schwerpunkte unterschieden werden: 1. Die Erziehungstätigkeit der Eltern gegenüber den Kindern.

Diese Aufgabe ist nicht nur für die Kinder selbst und ihre Zukunft, sondern auch für die Volks- und Völkergemeinschaft von höchster Bedeutung. Sie wird in erster Linie durch das gute Beispiel der Eltern erfüllt. Wenn die Kinder den natürlichen Wunsch verspüren, so zu werden wie Vater und Mutter, ist die Haupterziehungsarbeit bereits geleistet; das aufklärende, ermunternde und mahnende Wort muß dann hinzukommen. Die sog. "Prügelpädagogik" ist keine naturrechtliche Forderung, wohl aber Gerechtigkeit und Billigkeit in der Zuteilung von Lohn und Strafe. Überstrenge und ungerechte Erziehung ist tief bedauerlich. Solche Übergriffe sind Mißbrauch der elterlichen Autorität, sie rechtfertigen aber nicht die naturwidrige, sog. antiautoritäre Erziehung. Gefordert sind außerdem: Liebe zu den Kindern, Mut und Geduld, Phantasie und alle menschlichen und mitmenschlichen Tugenden. Im übrigen muß jede gesunde Pädagogik sich mit den Forderungen des natürlichen Sittengesetzes und des Naturrechtes befassen. 2. Die gegenseitige Erziehung der Kinder. Diese ist von großer Bedeutung; sie fehlt ganz in der Einkindfamilie. Ihr Ausfall beschwört eine Reihe von Gefahren herauf, insbesondere wenn dem einzigen Kind eine falsche Erziehung zuteil wird, sei es zuviel Aufmerksamkeit und falsche Liebe oder zuwenig Zuwendung, oder gar Ablehnung und Verachtung. Ihre höchste Wirksamkeit vermag 8 Messner bemerkt mit Recht (S. 477), die Familienpolitik müsse die Voraussetzungen schaffen, daß die wesenhaften Familienwerte (Persönlichkeitsund Gemeinschaftswerte) verwirklicht werden können. Alle Familienhilfe des Staates und anderer gesellschaftlicher Einrichtungen dürfen die eigene Haushaltsfunktion der Familie nicht ersetzen wollen. Nur die völlige Verkennung des Wesens der Familie durch den Sozialismus ermöglicht den Gedanken der übernahme solcher Grundfunktion der Familie durch den Staat.

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die gegenseitige Erziehung in der kinderreichen Familie zu entfalten. Sozialpsychologie und Familienpädagogik zeigen bemerkenswerte Ergebnisse: Ob ein Kind auch Brüder und Schwestern hat und wieviele, ob diese jünger oder älter sind, ist geradezu schicksalhaft für die Zukunft des jungen Menschen. Ein Kind, das von frühester Jugend an beispielsweise das Teilen gelernt hat und das Rücksichtnehmen auf andere, steht späteren Lebenskrisen, sei es persönlichen oder sozialen, mit größerer Sicherheit und Gelassenheit gegenüber. 3. Die Erziehung "der Eltern durch die Kinder". Es gibt wenige Situationen des alltäglichen Lebens, die von den Eltern soviel an Selbstzucht, Beherrschung von Launen und Stimmungen, an Rücksicht, Duldsamkeit und Hilfsbereitschaft abfordern als das Zusammenleben in der Familie. Der heilsame Zwang, immer ein gutes Beispiel geben zu müssen und skh Schritt für Schritt auch der Kritik der heranwachsenden Kinder stellen und ihnen Rechenschaft geben zu müssen, sollte nicht negativ gewertet werden. Er gilt schließlich für jede wahre Menschenführung. Autorität kann und soll ja nicht nur erzwungen, sondern auch "verdient" werden. Somit fordert Kindererziehung immer auch Selbsterziehung und Selbstkontrolle.

6. These: Die Eltern besitzen ein originäres und unveräußerliches Recht auf die Erziehung ihrer Kinder. Die heute vor allem von vertretene Forderung, die Kinder, dem Staat oder der zu entziehen, widerspricht Erziehungsrecht der Eltern:

liberalistischen und sozialistischen Kreisen Erziehungsaufgabe, wenigstens gewisser Gesellschaft zu überlassen und der Familie in mehrfacher Hinsicht dem natürlichen

1. Die natürliche Hinordnung der Kinder zu ihren leiblichen Eltern

und die lange leibliche und seelisch-geistige Abhängigkeit von deren Pflege und Erziehung finden ihr natürliches Pendant in der Zuneigung der Eltern zu ihren Kindern und in der damit verbundenen Verantwortung, Liebe und Opferbereitschaft. Die Eltern sind deswegen normalerweise die besten Erzieher.

2. Die Natur selbst stattet die Eltern mit der für ihre Erziehungsaufgabe erforderlichen Autorität aus, der sich die Kinder von Natur aus in Vertrauen und Gehorsam unterstellen. Erst im reiferen Alter muß sich diese Autorität Schritt für Schritt auch dem kritischen Urteil der heranwachsenden Kinder stellen und sich als sittliche Befehlsgewalt ausweisen.

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3. Die Eltern haben das natürliche Bedürfnis, in ihren Kindern ein womöglich vollkommeneres Abbild von sich selbst zu finden, zu formen und über die eigene irdische Lebenszeit hinaus zu erhalten. Deshalb ist das elterliche Erziehungsrecht auch dann zu achten, wenn es in Gegensatz gerät zu den religiösen oder weltanschaulichen Vorstellungen der übrigen Gesellschaft. Inhaltlich umfaßt das elterliche Erziehungsrecht die Aufgabe, die Grunderziehung der Kinder zu bestimmen, namentlich auch in Bezug auf die religiösen und sittlichen Lebensziele. Dann die Wahl der geeigneten Miterzieher, sowohl in der Familie wie in der Schule und in anderen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen. Dazu gehört auch die Kontrolle der übrigen geheimen und offenen Miterzieher wie Spielkameraden, Nachbarschaft, vor allem auch der Massenmedien. Der Staat hat nach dem Prinzip der Subsidiarität kein unmittelbares dem Elternrecht vorgeordnetes Erziehungsrecht. Er kann deshalb auch kein Schulmonopol für sich in Anspruch nehmen, wohl aber das seinem Wesen und seiner Aufgabe entsprechende oberste Schutz- und Aufsichtsrecht. Dieses steht ihm auch im Falle eines offensichtlichen und anders nicht behebbaren schweren Mißbrauches des elterlichen Erziehungsrechtes zu.

7. These: Die Familie ist von Natur aus eine Haus- und Wohngemeinschaft. Auch für diese Behauptung gibt es hinreichende Vernunftgründe: 1. Das eigene Heim, der eigene Herd ist für ein gesundes Familien-

leben eine wichtige Vorbedingung, sowohl in physischer wie in moralischer Hinsicht. Hat der Mensch an sich schon das Bedürfnis nach irgendeinem Zuhause und der damit verbundenen Geborgenheit, Ruhe und Sicherheit, so die Familie in noch viel stärkerem Maße.

2. Das eigene Heim, die eigene Wohnung dient der Familie in ihrer Aufgabe als Lebensgemeinschaft und als Erziehungsgemeinschaft. Deshalb ist die familiengerechte Wohnung, sowohl was ihre Größe und Ausstattung anlangt wie ihre nähere Umgebung (z. B. die erforderlichen Spielplätze), ein Anliegen, das auch der Politik und der Wirtschaft eine schwere Verantwortung auflädt. (Familien- und Wohnungspolitik). 3. Die familiengerechte Wohnung soll vom Arbeitsplatz nicht allzuweit entfernt sein, so daß ein längeres Zusammensein von Eltern und Kindern in der arbeitsfreien Zeit und natürlich erst recht in arbeitsfreien Tagen möglich wird. Hier erwachsen auch der Verkehrspolitik

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wichtige Aufgaben, ebenso der Siedlungspolitik und der Wirtschaftspolitik. 4. Es entspricht einem natürlichen Bedürfnis und den Anforderungen des Gemeinwohls, daß möglichst viele Familien ein Eigenheim im Sinne des Privateigentums besitzen können, und daß dieses Heim in enger Verbindung mit der Natur steht. Die modernen Miethochhäuser und die Mietkasernen mit ihren trostlosen Hinterhöfen, erst recht die Slums der Großstädte, sind naturfremd und deshalb menschen- und familienfeindlich, vor allem aber kinderfeindlich. Die familiengerechte Wohnung - sowohl als Eigentum wie als Mietwohnung -, übersteigt meist die wirtschaftliche Kraft junger Familien. Es bedarf einer familienfreundlichen Sozial-, Wirtschafts-, Steuer- und Kreditpolitik. Gewiß ist es zunächst Aufgabe der Familie selbst, für geeigneten Wohnraum zu sorgen. Sie muß die ihr zumutbaren Anstrengungen (Sparsamkeit, Fleiß und Verzicht) aufbringen. Angesichts der Bodenpreise und der sonstigen oft unüberwindlichen Schwierigkeiten tragen jedoch die Gemeinden und der Staat eine zwar subsidiäre, aber überaus schwere Verantwortung (sozialer Wohnungsbau). Geht es doch nicht nur um das Wohl der einzelnen Familien, auch das Gemeinwohl ist unmittelbar und unentrinnbar damit verbunden. 8. These: Die Familie ist von Natur aus die Urzelle der Gesellschaft. 1. Dies gilt schon in biologischer Hinsicht. Die Gesellschaft kann nur fortleben, wenn es genug fruchtbare Ehen gibt. Doch wäre eine nur biologische, etwa einseitig bevölkerungspolitische oder rassenpolitische Betrachtung unzureichend, ja geradezu gefährlich.

2. Von nicht minder großer Bedeutung ist der moralische Aspekt. Die Familienerziehung ist sozusagen ein Politikum ersten Ranges. Sie bildet ja die Voraussetzung für die Gesunderhaltung und gesunde Entfaltung aller geistigen und sittlichen Kräfte eines Volkes. Ohne die sozialen Tugenden wie Gerechtigkeit, Nächstenliebe, Solidarität, Toleranz, Hilfsbereitschaft kann das Gemeinwohl nicht bestehen. Ebenso sind Verantwortungsbereitschaft und Mut im Befehlen wie die Bereitschaft zum Gehorsam und zur Einordnung in die Gemeinschaft conditio sine qua non für den Bestand eines menschenwürdigen Zusammenlebens. Sozialpädagogisch gesehen ist deshalb die Familie unersetzbar. Von ihr gehen Aufstieg und Zerfall des Staates und der Gesellschaft aus. Die bitteren Erfahrungen aus Kriminalität und Terrorismus scheinen ein unübersehbares Zeichen dafür zu sein. 3. Schließlich ist die Familie Urzelle der Gesellschaft in kultureller Hinsicht. Dafür gibt die Kulturgeschichte der Völker deutliche Hin-

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weise. Der tiefere Grund dürfte darin liegen, daß mit dem Niedergang der Familie die wichtigsten Antriebskräfte ausfallen, die zur Hochhaltung all jener Werte notwendig sind, welche die Höhe der Kultur bestimmen. Und dies sind die moralischen und geistigen Werte. Ehepaare, die sich aus Bequemlichkeit um die Verantwortung vor Kindern und für Kinder drücken, sind Passivposten in der Kulturentwicklung der Völker. Darüber kann wirtschaftliche Prosperität nur eine zeitlang hinwegtäuschen, Krisenzeiten machen dies sofort deutlich. Umgekehrt sind gesunde Familien der Jungbrunnen für die Erneuerung der Lebenskraft der Völker und Kulturen 9 • 9. These: Die FamiZie solZ von Natur aus mehrere Kinde1' haben und erziehen ("NormaZfamiZie"). Bezüglich der Größe der Familie lassen sich gewisse naturrechtliche Überlegungen anstellen und aufgrund der Erfahrung formulieren. Entgegen liberalistischen und sozialistischen Auffassungen, die sich grundsätzlich zum neomalthusianistischen Standpunkt bekennen, ist die Größe der Familie nicht ausschließlich Sache der Eheleute. Der Begriff "Normalfamilie" hat tatsächlich wenig Sinn, wenn man individualistisch die Familie nur für sich sieht oder kollektivistisch die Familienplanung nur als Teil der gesamten Sozialplanung. Anders, wenn man, wie in der achten These bereits gestreift, die biologische, moralische und kulturelle Funktion der Familie in Betracht zieht. Biologisch gesehen kann sich ein Volk in der Substanz nur erhalten. wenn im Durchschnitt nicht nur zwei Kinder (als Ersatz für die Eltern) je Ehe geboren werden, sondern wenigstens drei bis vier. Der natürliche Grund liegt 1. darin, daß ein Teil der Ehen kinderlos bleibt oder nur einem Kind das Leben gibt, 2. darin, daß ein Teil des Nachwuchses nicht zur Ehe und zur Zeugung von Nachkommenschaft gelangt, sei es infolge eines frühen Todes oder infolge Eheuntauglichkeit oder mangelnder Bereitschaft zu heiraten und Kindern das Leben zu geben, sei es endlich, daß Erwachsene aus höheren, ethischen und religiösen Gründen auf Ehe und Nachkommenschaft verzichten, wie Priester und Ordensleute. Moralisch gesehen vermag das Ein- oder Zwei-Kinder-System die wichtige sozialpädagogische Aufgabe der Familie nicht voll zu erfüllen. Das einzige Kind muß weitgehend das Leben in einer ihm gemäßen Gemeinschaft entbehren; damit wird ihm die Gelegenheit vorenthalten, gewisse wichtige soziale Tugenden einzuüben. Die Verwöhnung ist wie bekannt ein höchstbedauerliches Erziehungsmanko, das allzuleicht 9

Zum Ganzen vgl. Messner, S. 492 f.

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zu egoistischer Einstellung und zur Schwächung des sozialen Pflichtbewußtseins führt. Auch zwei Kinder bilden noch keine volle kindgemäße Gemeinschaft, sicherlich nicht in dem Maße wie drei und mehr Kinder. Bei einer größeren Zahl von Geschwistern bleiben diese länger Kinder. Sie können sich selbst unterhalten, bilden eine eigene Welt im Spiel, und lernen wie von selbst die Einordnung in die Gemeinschaft. Dagegen nehmen ein oder zwei Kinder zu früh am Denken und Leben der Erwachsenen teil. Frühreife zeigt meist körperlich und geistig unerwünschte Folgen10 • 10. These: Die engere Familie (Ettern und Kinder) drängt von Natur aus auf ihre Erweiterung zur Großfamilie.

Sowohl die Kulturgeschichte wie das Beispiel vieler Natur- und Kulturvölker weisen darauf hin, daß die auf Eltern und Kinder beschränkte engere Familie (Kleinfamilie vor allem) nicht in jeder Hinsicht das von der Natur nahegelegte Familienideal sein kann . Dies in einem doppelten Sinn: 1. Zunächst erscheint es natürlich, daß vor allem auch die nächsten

Verwandten, soweit sie noch nicht eine selbständige Lebensstellung und einen eigenen Hausstand besitzen, im Familienverband leben. Dies gilt vor allem für die Großeltern und die Geschwister der Eltern. Sie aus der Familiengemeinschaft hinauszudrängen und damit in Isolierung und Vereinsamung zu stoßen, widerspricht dem natürlichen Empfinden, meist auch dem rechtverstandenen Interesse der Kinder und den Anforderungen von Pietät und Dankbarkeit. Auch der Zusammenhalt der Generationen und die Wahrung der Familientraditionen stellen ein Kulturgut von unschätzbarem Wert dar. Die heutige Kleinfamilie mag gewissen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Vorstellungen entspringen, oder besser gesagt, gewissen Ideologien, sie widerspricht jedoch der natürlichen Ordnung zumindest da, wo Egoismus, Habgier oder mangelndes Gemeinschaftsbewußtsein ausschlaggebend sind.

10 Vgl. Messner, 493 f. Selbstverständlich haben die Eltern Recht und Pflicht, bei der Entscheidung über die Kinderzahl auch ihre besonderen Lebensverhältnisse zu berücksichtigen, wie z. B. Alter, Gesundheit, Einkommen, Wohnung. Mit dieser "verantworteten Elternschaft" sind jedoch aus wichtigen natürlichen überlegungen künstliche Empfängnisverhütung, Abtreibung und Sterilisierung nicht vereinbar. Wo freilich - entgegen Vernunft und Erfahrung - die Möglichkeit einer Triebbeherrschung prinzipiell ausgeschlossen wird, ist weder die naturgemäße Ehe noch die naturgemäße Familie zu retten. Dann müssen außereheliche Geschlechtsbeziehung, Ehescheidung, Bigamie und die perversen Formen der Sexualität als gleichberechtigt anerkannt werden. Dann ist allerdings auch die Grundlage jeder menschlichen Kultur in Frage gestellt.

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2. Auch die Einbeziehung des Dienstpersonals in die Familiengemeinschaft ist nicht nur eine alte Kulturtradition - das Wort Familie hängt mit dem lateinischen famuli (Dienstboten) zusammen -, vielmehr stellt der sogenannte "Familienanschluß" eine naturgemäße Form menschlichen Gemeinschaftslebens dar, in der Vertrauen, Treue und Dienstbereitschaft mehr gelten, als das im reinen Arbeitsvertrag intendierte bloße Geldverdienen. Oft genug sind Dienstboten eine unentbehrliche Stütze der Familie und eine wertvolle Hilfe für die Erziehung der Kinder, können freilich die Verantwortung der Eltern niemals voll ersetzen. Solche "Großfamilien" bilden die natürliche Brücke und Vorschule für die Einordnung der nachwachsenden Generation in die größeren Gemeinschaften wie Nachbarschaft, Gemeinde, Staat und Völkergemeinschaft. Die organisch reich gegliederte Gesellschaft bietet vor allem in Krisenzeiten einen wichtigen Schutz gegen revolutionäre Umbrüche und ermöglicht ein gesundes Wachstum der Völker und Kulturenll , 12. Schlußbemerkungen Zum Schluß sei die Frage noch einmal aufgegriffen: Darf die Gesellschaft im Hinblick auf eine ihrer stärksten Bedrohungen, die Zersetzung der Familie, noch hoffen? Viele neigen zur Resignation. Soviel darf wohl mit einiger Sicherheit gesagt werden: Die Hauptverantwortung trägt jener Teil der menschlichen Gesellschaft, der Wesen und Aufgabe der Familie aufgrund der göttlichen Offenbarung tiefer und vollständiger erkennen kann, die Christen, insbesondere die durch das unfehlbare Lehramt und Hirtenamt der Kirche geleiteten, ich meine die katholischen Christen. Aber beide dürfen sich in diesem Ringen nicht auf ihren engeren Lebenskreis in Familie und Beruf beschränken, auch nicht auf die eigenen Glaubensgenossen in den christlichen Gemeinden. Sie müssen heute überall, wo sich Möglichkeiten bieten, mit Andersdenkenden, Andersgläubigen, auch mit Atheisten in Kontakt treten, um mit ihnen gemeinsam Wege zu suchen, die Familie, und mit ihr die menschliche 11

Vgl. Messner, S. 494 - 496.

Einer besonderen Darstellung bedürften noch folgende Themen, die aus räumlichen und zeitlichen Gründen leider zurückgestellt werden müssen: 1. Das Problem der Familienerbfolge 2. Das Problem der außerhäuslichen Arbeit der Ehefrau und Mutter 3. Die Erziehung der jungen Generation hin zur Familie 4. Das Problem der unvollständigen Familie (der vaterlosen oder mutterlosen Familie). 12

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Gesellschaft vor Zerfall und Untergang zu retten. Eines sei noch besonders hervorgehoben: Die christlichen und katholischen Akademiker, und alle, die in Politik und Wirtschaft, in den Massenmedien, in Kunst und Wissenschaft und im modernen Kulturbetrieb führende Stellungen einnehmen, haben hier eine einmalige, höchst bedeutsame und unersetzbare Funktion zu erfüllen und Verantwortung zu tragen.

ZUM VERHÄLTNIS VON FAMILIE UND STAAT Von Rudolf Weiler Während mit dem Wandel zur Industriegesellschaft und der Entstehung der Massendemokratien, bzw. totalitärer Zentralstaaten seit dem 19. Jh. die Durchstaatlichung des Lebens zugenommen hat, der Staat viele Funktionen, die früher allein bei den gesellschaftlichen Verbänden lagen, übernommen hat, konstatiert man einen Funktionswandel, ja Funktionsverlust bei der Familie. Der Funktionswandel kann insoferne auch Funktionsverlust signalisieren, als der Familie nur mehr Funktionen im Intimbereich zugesprochen werden, oder aber die neu hervortretenden Funktionen der Familie sehr mobil und willkürlich bestimmbar angesehen werden. Die Möglichkeiten für den Menschen heute, Ehe und Familie zu trennen, Fortpflanzung, Sexualität und Geschlechterliebe manipulativ auseinanderzulösen, verleitet manche, bereits Nekrologe auf die Familie als gesellschaftliche Institution zu halten. Johannes Messner hat in seinem Buch "Die soziale Frage" auf die Rolle der individualistischen und kollektivistischen Zeitideologien bei der sozialen Krise der Gegenwart durch die Zerstörung der Familie hingewiesen und ebenso auf die Bedeutung der Familie für die Sozialreform als "Urgemeinschaft" und "Lebensgrund aller Kultur ... , ohne dessen allseitige Heilskräfte eine kranke Kultur nicht genesen kann"1. Beide ideologischen Zeitströmungen versagen im sozialen Bereich, weil sie eben die Familie als "primären und zentralen Lebensbereich"2 nicht erkennen und annehmen. Als solcher ist die Familie aber vor allem "Tor der Humanität"3, Ort der "zweiten Geburt" des Menschen, findet in ihr die Menschwerdung zur sittlichen Persönlichkeit statt. Schon PZato 4 und nach ihm Augustinus5 haben das Werden der sittlichen Persönlichkeit und das Erlebnis der sittlichen Grundwerte (goldene Regel!) in Verbindung mit der Urgemeinschaft Familie gesehen. J. Messner, Die soziale Frage, Innsbruck 1964, 8. Auflage, 725. H. Schneider, Zeitgemäße Gestalt der Familie, in: Die neue Ordnung, 3/1979, (215 - 221), 215. 3 Vgl. Rudolf Weiler, Familie: Tor zur Humanität, in: Familie im Wandel, Wien 1975, 184 - 195. , Gesetze 653 c. 6 Epist. 157, 15 und En. in psalmum 57,1. 1

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Der Mensch ist ein Sozialwesen mit Rechtserlebnis und -bewußtsein, kommt aber nur in der Erfahrung von Gemeinschaft zu dieser Erkenntnis und in Verbindung damit zur Erkenntnis einer allgemeinen Gewissensverpflichtung! Im Zusammenhang mit dem Urerlebnis der Sinnfrage menschlicher Existenz war es besonders das Verdienst Sören Kierkegaards, die Bedeutung der frühkindlichen Phase und der ersten Beziehungserfahrungen des Kindes mit der menschlichen Gesellschaft, das ist der Familie, herauszustellen. Nur von der Intaktheit der Familie aus könne der einzelne, die Gesellschaft und die Menschheit als ganze den Weg zur Sinnerfülltheit des Lebens finden, weil der Weg, der in das Leben führt, bei allen Geschlechtern, Völkern und Rassen für den einzelnen immer durch das Tor der Familie gehe. E. Zola hat später die Familie "eine Menschheit im kleinen" genannt, was diese Gedanken treffend zusammenfaßt. In der Geborgenheit der Familie kommt es, so wieder Kierkegaard, zur Grundgestimmtheit und Aufnahmebereitschaft religiösen Glaubens: "Wenn irgendwo, gilt es von der Religion, daß man das Beste als Kind lernt; hat man als Kind keinen festen Grund für seine religiöse Entwicklung, so läßt sich das später nicht wiedergutmachen'." Die Verarmung der Kindheit hingegen führe zum verschlossenen Lebenssinn! Geht man hier fehl, wenn man von der Familie als einem Ursakrament spricht, das Sinn stiftet und zur Transzendenz öffnet? Hat nicht Constantin Frantz recht, wenn er die Gewohnheit seiner Zeit, Thron und Altar zu verbinden, als eine Verkennung des fundamentalen Tatbestandes bezeichnet, daß nur "Hand und Altar" durch den Spruch. der Natur verbunden seien7 ? So steht die Familie als soziale Sinngemeinschaft und zugleich als sinnstiftend in Konkurrenz zu den Ideologien als Welterklärungssystemen, die immer auch den Einzelnen mit allen seinen Sozialbezügen umgreifen wollen, aber nicht die wesentlich partnerschaftliche, also soziale Spannung jeder personalen Entwicklung des Individuums in seiner Abkunft aus der Familie als letzten Kulturgrund anerkennen wollen, weil sie dann nämlich ihre absolute Stellung verlieren würden. So muß nach dem individualistischen Liberalismus das letzte Bewegende das Eigeninteresse des Individuums sein unter Verlust der Solidarität und so muß im Kollektivismus der Mensch letztlich und objektiv Gattungswesen sein. Ges. Werke, Jena 1909 - 1929, IV, 133. Naturlehre des Staates als Grundlage aller Staatswissenschaften, 1870, 126f. 8

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Unter den Zeitideologien politisch beherrschend, weil mit totaler Staatsmacht ausgestattet, begegnet uns heute der Sozialismus/Kommunismus, hier wieder vor allem in der UdSSR. Er soll als Beispiel für obige Feststellung verwendet werden. In der 1977 verabschiedeten Verfassung der UdSSR heißt es im Artikel 53: "Die Familie steht unter dem Schutz des Staates .. . Der Staat sorgt für die Familie ... " Der Artikel 66 verpflichtet sodann die Bürger der UdSSR "für die Erziehung der Kinder Sorge zu tragen, ... sie zu würdigen Mitgliedern der sozialistischen Gesellschaft zu erziehen". Schon allein die Tatsache, daß im sozialistischen Sowjetsystem die Partei und ihre "kollektive" Führung allein bestimmt, was und wie "sozialistische Gesellschaft" ist, stellt (abgesehen von anderen überlegungen der dieser Verfassung zugrundeliegenden Rechtslogik) die Familie und damit die Einzelperson in das System staatlich-ideologischen Zwanges. Folglich auch gibt es in der UdSSR nur "glückliche Kinder" ... Der sowjetische Pädagoge Makarenko hat dazu ein viel zitiertes Wort geschrieben: "Das Kind darf in unserem Land nicht unglücklich sein, es hat kein Recht dazu!" Wie wenig der Staat, als was immer er sich ideologisch versteht, Macht über die Familien wirklich hat, zeigt spätestens im mittelfristigen Verlauf die Bevölkerungspolitik totalitärer Staaten ebenso wie die Erscheinungen der Gefälligkeitsdemokratien im Bereich ihrer "Familien"-Politik. Das Bevölkerungsverhalten ist nämlich wesentlich ein Ausdruck kultureller Lebensgrundhaltungen einer Bevölkerung und kann durch direkte politische Maßnahmen nur sehr oberflächlich gesteuert werden. Die Bevölkerungsweise hat einen rational begründeten Antwortcharakter des Menschen mittels seiner Fähigkeit zur Fortpflanzung auf die objektiven gesellschaftlichen Verhältnisse einer Zeit. Diese Antwort wird aufgrund subjektiver Erwartungs- und Einschätzungshorizonte der Menschen gegeben und bestimmt damit auch selbst wieder die kulturelle Entwicklung. Im letzten ist der Mensch der Gestalter seiner Geschichte, unterliegt aber wieder dem Ergebnis seiner gesellschaftlich relevanten Entscheidung. Die ökonomisch-sozialen Verhältnisse der Industriegesellschaft stehen unter dem bestimmenden Einfluß des Marktprinzips und der mit der industriellen Produktionsweise verbundenen Weltbeherrschung, z. B. auch in der Ausschöpfung der Energiereserven. Aus dieser industriellen Lebensweise - und hier läßt sich die "Konvergenz der Systeme" offenbar belegen! - hat sich eine Reihe von Faktoren mit negativ verstandenem Bestimmungscharakter fÜr die Bevölkerungsweise als bedeutend 25·

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herausgebildet: neue Techniken der Geburtenregelung einschließlich der Verwendung (auch in der rechtsgesetzlichen Anwendung) erleichteter Möglichkeiten der Abtreibung (ohne sittliche Wertung einfach konstatiert); Verstädterung und Urbanisation( die Stadt ist immer noch kinderfeindlich geblieben!); Wohnungsprobleme und Fragen der Bevölkerungsdichte in Ballungsräumen; außerhäusliche Berufstätigkeit der Frau (und Mutter); Umweltgefährdung; eugenische Probleme und Vordringen psychischer Erkrankungen; Rückgang des Einflusses der Kirchen und ihrer diesbezüglichen traditionellen Moralnormen; Wohlstand als Auslöser für Bequemlichkeit; Notstand als Sorge vor der Zukunft (Kriegsgefahr z. B. oder Dissens mit politischen Systemen); insgesamt das schwindende Ansehen von Familie und Kind in der Gesellschaft. Die meisten dieser Faktoren bestimmen indirekt heute die Bevölkerungsweise, anders als noch Malthus die Alternative zwischen Einsicht und freiwilliger Enthaltung oder zwangsläufigen Katastrophenfolgen sah. Das Sexualverhalten ist heute liberalisiert und kann von Fortpflanzung weitgehend getrennt werden bei von Fortpflanzung unabhängiger hoher gesellschaftlich wirksamer Wertschätzung der geschlechtlichen Liebe. Auch in der Ehe wird diese Trennung für lange Phasen derselben praktiziert. Dazu kommt, daß im Unterschied zur agrarischen Gesellschaft heute die große Masse der Erwachsenen heiratet8 • Die Sehnsucht des Menschen nach einem erfüllten Leben, nach Lebenssinn, muß stark in Verbindung mit Ehe und vor allem mit nachfolgender Familie gesehen werden9• Die Familie hat von der personalen wie sozialen Seite her eine wertvolle sinnstiftende Funktion, sie darf daher nicht einfach einem totalitären mechanistischen Marktprinzip ausgeliefert werden10• In Rückkoppelung mit den sozio-ökonomischen und -kulturellen Gegebenheiten hat daher jede Bevölkerung auch ihre Vorstellungen über Bevölkerungsweise und gewünschte Kinderzahl. Sie hat ferner die Mittel, rational und sittlich verantwortet, sich reproduktiv demgemäß zu verhalten. Das kommt besonders deutlich heute beim Familienzyklus zum Ausdruck. Einem verhältnismäßig kurzen Familienzyklus, der für die Kinderzahl entscheidend ist, folgt die immer länger werdende nachelterliche Phase. Dabei fällt auf, daß in der Industriegesellschaft die Belastung der Eltern durch ein oder insbesondere mehrere Kinder wirtschaftlich für Vgl. R. König, Die Familie der Gegenwart, München 1974. Vgl. B. Yorburg, The Changing Family, New York 1973. 10 Vgl. J. Rief, Fragen aus der Sicht der Sozialethik, aus: Zur Bevölkerungssituation in der BRD, in: Herder-Korrespondenz, H. 4/1973, 176 - 185. 8

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diesen Zyklus sehr hoch ist und lange mit relativer Abschwächung andauert gegenüber Ehepaaren ohne Kinder. Dies deutet darauf hin, daß der generative Stil oder die Bevölkerungsweise stark in Übereinstimmung mit den wahrgenommenen wirtschaftlichen Möglichkeiten ausgeübt wird. Die These hat sich aber als falsch erwiesen, daß wir es heute nur mit weitgehend isolierten Kernfamilien zu tun haben. R. König l l spricht von der modifiziert erweiterten Familie. Auch das deutet hin, daß neben wirtschaftlichen Faktoren doch auch sehr wichtige Ansätze für die kulturelle Bedeutung der Familie zu erkennen sind, die gestärkt werden können. Familienpolitik heute hat also in subsidiärer Form (die wichtigste Subsidiarität liegt in der sozialen Gliederung der gesamten Gesellschaft!) nicht nur wirtschaftlich-soziale Aspekte zu verfolgen, sondern muß sinnorientiert und gesamt-kulturell angelegt sein. Es ist für die Bevölkerungsweise dann eine langfristige Anpassung an die industrielle Kultur und ihren Bevölkerungserfordernissen zu erwarten in Richtung auf die erweiterte Nuklearfamilie 12 • Dies auf dem Hintergrund eines sehr komplexen Vorganges einer kulturellen Gesamt anstrengung des Menschen der Industriegesellschaft. Bei der Beeinflussung der Bevölkerungsweise stehen der Bevölkerungspolitik des Staates neben der Motivierung zu gerechten Mitteln, diese Ziele zu erreichen, eine Reihe von Möglichkeiten zur Zielmotivierung zur Verfügung: Zuerst der Appell an die Vernunft, dann fiskalische Maßnahmen, schließlich auch, und dies wieder nur feststellend und nicht wertend gesagt, Zwang. Eine demokratische Politik kann daher einerseits nur der Kraft der Vernunft und der sittlichen Natur des Menschen folglich vertrauen, sie wird aber auch sozial gerecht die Intervention gesellschaftspolitischer Art verlangen können. Entscheidend bleibt eine Kulturpolitik im Horizont der Grundwerte des Menschen und damit einer Hilfestellung, daß sich (im Rahmen einer menschenwürdigen kulturellen Eigengesetzlichkeit) die Kultur und Bevölkerungsweise der Menschen unserer Zeit und eines Landes auf der Höhe einer Verantwortung bewegt, die frohes Kinderleben hat und damit Zukunft. Familienpolitik ist mehr als Bevölkerungspolitik, sie ist der Kern jeder Gesellschaftspolitik. Für die aktuelle Situation lassen sich aus der ·christlichen Sozialethik folgende Leitsätze und Imperative formulieren: 11 12

R. König, 94. Vgl. R. König, Materialien zur Soziologie der Familie, Köln 1974, 212.

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1. Der Aufbau der Gesellschaft aus Familien ist das grundlegende soziale Gliederungsprinzip der Gesellschaft. Alle Gesellschaftspolitik hat daher nach dem Subsidiaritätsprinzip die Selbsthilfekraft der Familie zu stärken und ihre Eigenwerte zu achten.

2. Freiheitssicherung und wertgesicherter sozialverantwortlicher Freiheitsgebrauch sind untrennbar von der Achtung der Freiheitsrechte der Familie, bzw. der Eltern (bzw. der Eheschließenden). 3. Die Entwicklung der sozialen Tugenden und eines sozialen Humanismus - anders gesagt: eines entsprechenden Verhältnisses von Eigeninteresse und Allgemeininteresse - ist nicht zuerst Sache eines staatlichen Dirigismus, sondern entspringt der Sozialkraft der Familie und der Gemeinwohlorientierung des Menschen durch die Familie. 4. Die Werte der Familie bedürfen einer gesellschaftlichen Grundordnung und sind gesellschaftlich zu schützen und zu pflegen, zersetzende Entwicklungen aus der Gemeinwohlsorge heraus entsprechend hintanzuhalten. 5. Dabei sollen der Staat und die öffentliche Hand möglichst indirekt und subsidiär wirksam werden unter besonderer Beachtung der bestehenden religiös-sittlichen überzeugungen und deren Träger in der Gesellschaft (Kirche!). An konkreten familienpolitischen Forderungen kann die Sozialethik für die Industriegesellschaft insbesonders heute folgern: 1. Entproletarisierung der Familie durch

a) Familieneinkommen: (1) Die Mindestlohnpolitik ist zu erweitern in eine großzügige Sicherung eines Mindesteinkommens der Familie. (2) die Spar- und Kreditpolitik ist familiengerecht zu entwickeln. (3) Die Erziehung und ihre Kosten sind nicht einfach zu sozialisieren, sondern über ein gleiches Minimum hinaus entsprechend der Leistung den Familien zu ersetzen. (4) Auf dem Wege der Kreditpolitik (insbes. Familiengründungsdarlehen) und durch unmittelbare Hilfen, wo nicht anders möglich, hat die Wohnpolitik insbesondere auf familiengerechte Wohnungen und Siedlungsräume zu achten. (5) Eine entsprechende Ordnung des Grund- und Bodenmarktes hat besondere Vorkehrungen für die Möglichkeiten der Familie zu treffen. b) Der Frauenfrage, insbesondere der außerhäuslichen Erwerbstätigkeit der Frau und Mutter, ist eine vordringliche sozialpolitische Aufmerksamkeit zuzuwenden.

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2. Schutz der Familienwerte: a) In der Werbung und in der öffentlichen Meinungsbildung sind positive Maßnahmen und Schutzbestimmungen für die Achtung der Familienwerte und entgegen der Weckung von familienfeindlichen Leidenschaften notwendig, so z. B. betreffend die Ausnützung oder Weckung der Wünsche der Kinder und Jugendlichen auf übertriebenen Luxuskonsum hin. b) Die private wie öffentliche Wachsamkeit gegen alle Diskriminierung der Familie im öffentlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Leben ist zu fördern und zu erhöhen. Zu überlegen wäre eine "öffentliche Anwaltschaft" zugunsten der Familie. c) Durch Erziehung und öffentliche Meinungsbildung ist auf die unwägbaren und unbezahlbaren Werte des Familienlebens hinzuweisen, sind vor allem die Kinder und die Jugendlichen selbst wieder darauf hinzuführen. Nur eine familiäre Gesinnung von Eltern und Kindern, die die geistigen Werte des Familienlebens höher achten als bestimmte materielle Vorteile und Bequemlichkeiten, kann die Entproletarisierung der Familie letztlich bewirken wie ebenso ihre Werthöhe bestimmen. d) Die Neuordnung des Familienrechts hat auf die gemeinsam ausgeübte elterliche Autorität Rücksicht zu nehmen. Insbesondere hat sie die Erziehungsrechte der Eltern und das Recht der freien Wahl der Schule zu beachten. Angesichts der örtlichen Konzentration der Bildungsstätten sind entsprechende Internate einzurichten und als Erziehungshilfen nach Wahl und Wunsch der Eltern zu führen. e) Berufslaufbahnen im Dienste der Familie sind großzügig zu entwickeln. Dabei ist den in diesen Berufen Wirkenden die Auffassung zu vermitteln, daß sie kraft delegierten Rechtes in erster Linie seitens der Eltern und nicht seitens des Staates zu wirken haben. f) Die Gesundheitspolitik hat darauf zu achten, daß die geistigphysische Gesundheit der Glieder der Gesellschaft und ihre Fürsorge dafür vor allem auch im Zusammenhang mit den Familien gesehen wird. Der Trend zur hochtechnisierten Großklinik darf nicht die Möglichkeiten der Hauskrankenpflege, der Trend zum Spezialisten die Notwendigkeit des Hausarztes übersehen lassen. Auch Neurosen haben vielfach in Familienkonflikten ihre aus~ lösenden Ursachen. Daher verdient die Familie eine besondere Fürsorge durch sozial-psychiatrische Maßnahmen.

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Rudolf Weiler g) Die Mittelstandspolitik und die Sorge für die gute Entwicklung der Substrukturen der Gesellschaft sind vielfach auch gekoppelt mit verschiedensten Maßnahmen der Familienpolitik zu sehen. Hierzu gehört insbesondere auch die Raumordnungspolitik in ländlichen und stadtfernen Siedlungsgebieten.

So steht die Familie in einem doppelten Sinn im Zentrum der Sozialreform. Sie ist Objekt (Ziel) gesellschaftlicher Veränderungen zu ihrer Aufwertung und zu ihrem Schutz. Sie ist aber auch selbst Subjekt (Träger) dieser Reform mit einer entscheidenden Wirkung für die gesamte Gesellschaft. Wer also die Familie reformiert, reformiert die Gesellschaft. Auch insoferne ist die Familie Tor zur Humanität, zu einem umfassenden Sozial-Humanismus. Und insoferne ist die Familie ein Grundwert gesellschaftlichen Lebens, die jede Politik vorfindet, also auch der Staat, und respektvoll zu fördern hat.

DER SCHUTZ DER FAMILIE IN DEN GRUNDRECHTEN Von Herbert Schambeck Wer von Grundrechten spricht, denkt an den Schutz der Freiheit und der Würde des Menschen, welche im abendländischen Rechtsdenken durch die Lehre des Christentums von der Gottesebenbildlichkeit aller Menschen ihl"e metaphysische Begründung erfahren haben1• Dieser Schutz scheint am besten dadurch gewährt, daß der Staat ein bestimmtes Handeln unterläßt, beziehungsweise dem Einzelnen ein bestimmtes Handeln ermöglicht. Einzelne für die freie Entfaltung der Persönlicilkeit grundlegende Werte, wie z. B. das Leben, das Eigentum, die Glaubensund Gewissensfreiheit, das Hausrecht, die persönliche Freiheit, das Brief- und Schriftengeheimnis sowie die Vereins- und Versammlungsfreiheit sollten für den Einzelnen gegenüber den Zugriffen des Staates geschützt werden. Diese Grundrechte sind Freiheitsrechte. Sie fanden deutlichen Ausdruck in der "Declaration of Independence" der dreizehn Vereinigten Staaten von Nordamerika (1776) und in der "Declaration des droits de l'homme et du citoyen" der französischen Revolution (1789) und haben hernach Eingang in die Verfassungen der europäischen Staaten gefunden2 , in welchen sie ein Ausfluß und Ausdruck des Status negativus des Staates sind und dem Einzelnen dadurch einen Status libertatis zu sichern suchen, daß sie auf eine Freiheit vom Staat abgestellt sind. Diese vom Liberalismus getragenen Freiheitsrechte werden ergänzt durch die politischen Grundrechte des Einzelnen, die Mitwirkungsrechte an der Staatswillensbildung sind. Der Bürger ist ja nach Jean Jacques Rousseau3 nicht allein sujet (Untertan), sondern auch citoyen 1 Siehe Gen 1, 26 f., 5, 3 und 9, 6; weiters Alfred Verdross, Die Würde des Menschen in der Abendländischen Rechtsphilosophie, in: Naturordnung in Gesellschaft, Staat, Wirtschaft, Festschrift für Johannes Messner zum 70. Geburtstag, Innsbruck - Wien - München 1961, S. 354 f. und Johannes Messner, Die Idee der Menschenwürde im Rechtsstaat der pluralistischen Gesellschaft, in: Menschenwürde und freiheitliche Rechtsordnung, Festschrift für Willi Geiger zum 65. Geburtstag, Tübingen 1974, S. 226 ff. t Beachte Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Auflage, 6. Neudruck, Darmstadt 1959, S. 409 ff. und Felix Ermacora, Menschenrechte in der sich wandelnden Welt, I. Band, Historische Entwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Wien 1974.

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(aktiver Bürger). Ihm stehen u. a. ein aktives und passives Wahlrecht, das Petitionsrecht und unmittelbare Volks rechte zu. Darin soll das Prinzip der Volkssouveränität seinen Ausdruck finden und dem Bürger die Freiheit im Staate sichern. War die Wirkkraft aller Forderungen, die zur Schaffung der klassischen, nämlich der liberalen und demokratischen Grundrechte führte, die Angst vor dem Staat, ist nach den Erfahrungen der letzten J ahrzehnte eine neue Form der Angst, und zwar die Angst vor den Wechselfällen des Lebens deutlich geworden. Man strebt nicht allein danach, vom Staat einen Bereich geschützter Freiheit zu eigenverantwortlicher Persönlichkeitsentfaltung verfassungsgesetzlich gesichert zu erhalten, sondern will auch vom Staat ebenso die Übernahme der Verpflichtung zur Erfüllung all' der wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen, die dem Einzelnen die volle Nutzung seiner Freiheit zur Persönlichkeitsentfaltung erlauben. Der Staat soll den Einzelnen auch vor den unvorhersehbaren Unbilden des Lebens schützen: neben die Freiheitsrechte und politischen Grundrechte treten die sozialen Grundrechte, die vom Staat das Gegenteil der klassischen Grundrechtsforderung des Unterlassens, nämlich das positive Eingreifen und das Tätigwerden verlangen. Diese sozialen Grundrechte4 beschränken nicht die Staatsgewalt, sondern rufen sie vielmehr auf den Plan und erweitern sie. In diesem Sinn wurde ein Recht auf Arbeit, auf gerechte Arbeitsbedingungen, auf soziale Sicherheit usw. verlangt. In den letzten Jahren wurde die Forderung nach qualifiziertem sozialgrundrechtlichen Schutz auch auf die Familie erstreckt. Die Förderung der Familie wird in den Bereich des öffentlichen Interesses gerückt und ihr Wohlergehen dem Staate selbst als Aufgabe gestellt; darin drückt sich mit auch ein Wandel im Verfassungsverständnis aus:

3 Jean Jacques Rousseau, Contrat sodal, 1762; dazu Max Imboden, Rousseau und die Demokratie, Recht und staat, Heft 267, Tübingen 1963, Neudruck in: Derselbe, Staat und Recht, ausgewählte Schriften und Vorträge, BaselStuttgart 1971, S. 75 ff. und Hans Maier, Rousseau, in: Klassiker des politischen Denkens, zweiter Band, von Locke bis Max Weber, hrsg. von Hans Maier, Heinz Rausch, Horst Denzer, München 1968, S. 104 ff. t Näher u. a. Franz van der Ven, Soziale Grundrechte, Köln 1963; Kar! Korinek, Zur Problematik sozialer Grundrechte, Berichte und Informationen, 1965, Heft 1000/1001, S. 7 ff.; derselbe, Betrachtungen zur juristischen Problematik sozialer Grundrechte, in: Die sozialen Grundrechte, Fragen des sozialen Lebens 10, Wien 1971, S. 9 ff.; Herbert Schambeck, Bild und Recht des Menschen in der Europäischen Sozialcharta, in: Festschrift für Hans Schmitz, Band H, Wien - München 1967, S. 216 ff. und derselbe, Grundrechte und Sozialordnung, Gedanken zur Europäischen Sozialcharta, Berlin 1969.

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I. In der Zeit der Entstehung des klassischen Verfassungsstaates war im 19. Jahrhundert die Trennung von Staat und Gesellschaft als ein Grundschema angenommen worden, das sich in der Konstituierung der Staaten verdeutlichte und in der ihr folgenden Demokratisierung eine eigene Akzentsetzung erhielt. Die Verfassungen dieser Staaten waren vorwiegend auf die Regelung der Ausübung der Staatsgewalt in den drei Staatsfunktionen der Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit und Verwaltung abg,estellt und die Stellung des Einzelmenschen dur.ch Grundrecht auf die Gewährung der Freiheit sowie seine Mitwirkung an der demokratischen Staatswillensbildung gerichtet. Der Primärzweck des Staates ist die Erfüllung des Rechts- und Machtzweckes, nämlich die Herstellung und Aufrechterhaltung von Ruhe, Ordnung und Sicherheit. Mit der Demokratisierung des öffentlichen Lebens hat aber die Mehrzweckverwendung des Staates zugenommen, der so auch für die Erfüllung des Kultur- und Wohlfahrtszweckes zuständig wurde. Heute ist der Staat nicht mehr bloßer Schiedsrichter, er ist Sozialgestalter geworden und erfüllt diese Aufgabe als Träger von Hoheits- wie Privatrechten. Als Garant auch der Sozialordnung kann die Familie mit ihrer Entwicklung dem Staat nicht gleichgültig sein. Wie die Ehe ist auch die Familie sowohl ein Ausdruck der freien Entfaltung der Persönlichkeit als auch der Kommunikationsfähigkeit des Einzelmenschen. Wie bemerkte doch einmal so anschaulich Romano Guardini in seiner Schrift "Vom Sinne der Gemeinschaft": "Darin bewegt ein Ich sich auf das andere zu. Es blickt von sich weg, auf das andere hin. Es trägt sich jenem entgegen; öffnet sich ihm. So kann jenes, wenn es die Bewegung erwidert, im Herkommen dieses sich öffnende Ich mitvollziehen und darin verstehen - und wird ebendarin offen für das erste, und macht ihm den verstehenden Mitvollzug möglich. Das ist die I1UfAJta~ELa, die Liebe in einer ihrer vielen Gestalten und Grade 5 ." In ihrer ursprünglichen Form war die Familie Lebens-, Bildungs-, Kult-, Sozial- und Rechtsverband. Der Staat in seiner Mehrzweckeverwendung und die Repräsentanten der organisierten Gesellschaft haben der Familie viele Aufgaben abgenommen. Die Familie ist in einem "Prozeß funktionaler Spezifikation, in welchem die Familie neue Grundlagen ihrer Stabilität findet. Im wesentlichen scheint die Funktion der Familie für die Gesamtordnung auf zwei miteinander verbundene Leistungen hinauszulaufen: auf die Fundierung einer sozialisierungsfähigen Persönlichkeit im Kleinkind und auf die Entspannung $

Romano Guardini, Vom Sinne der Gemeinschaft, Graz 1952, S. 43 f.

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der Familienmitglieder durch ganz persönliche Selbstdarstellung im Familienkreis ... Die Familie ist der einzige Ort, wo alle Rollen eines Menschen zusammen bekannt sind, als persönlich vermittelt dargestellt und über Anforderungen an ihn selbst sozial kontrolliert werden können"6. So alt die Sozial- und Rechtsgeschichte der Familie ist, so jung ist aber die Geschichte ihres grund rechtlichen Schutzes. Unter den europäischen Verfassungen hat die Weimarer Verfassung 1919 im Art. 119 im Zweiten Abschnitt "Das Gemeinschaftsleben" erstmals den Verfassungsschutz der Familie postulierF. Ansätze dazu finden sich in Art. 51 I der Verfassung von Costarika 1871 und im Art. 153 I der Verfassung von EI Salvador 18868 • In den Verfassungen der Gegenwart findet sich der Schutz der Familie in unterschiedlichem Ausmaß, mannigfaltiger Formulierung und daher verschiedenem Rechtsschutz. Bevor auf einige Beispiele dieses grundrechtlichen Schutzes der Familie hingewiesen sei, soll zu dessen näherem Verständnis bemerkt werden, daß es nicht allein darauf ankommt, Grundrechtswerte, wie es ja auch die Familie ist, aufzudecken, sondern auch Grundrechtsformen zu finden, welche diesen Werten angepaßt sind; damit ist die Frage nach den Rechtsformen gemeint, in welchen soziale Grundrechte in einer Verfassung geschützt werden könnenD. Das klassische Vorbild des Grundrechtsschutzes ist zweifellos die Form des subjektiv öffentlichen Rechtes 1o, d. h . also des Rechtsanspruches, den der Einzelne gegen den Staat nötigenfalls auf dem Wege der Einklagung bei einem Gerichtshof öffentlichen Rechts, wie es etwa ein Verfassungsgerichtshof ist, besitzt. Wer in einem Staat soziale Rechte als subjektive öffentliche Rechte des Einzelmenschen positiviert, muß 8 Niklas Luhmann, Grundrechte als Institution ein Beitrag zur politischen Soziologie, Berlin 1965, S. 104 f. 7 Art. 119 der Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919 lautete: "Die Ehe steht als Grundlage des Familienlebens und der Erhaltung und Vermehrung der Nation unter dem besonderen Schutz der Verfassung. Diese beruht auf der Gleichberechtigung der beiden Geschlechter. Die Reinerhaltung, Gesundung und soziale Förderung der Familie ist Aufgabe des Staats und der Gemeinden. Kinderreiche Familien haben Anspruch auf ausgleichende Fürsorge. Die Mutterschaft hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge des Staats." 8 Beachte dazu Amos J. Peaslee, Constitutions of Nations, 1. Aufl. 1950, I, S. 503 und S. 740. 9 Näher Theodor Tomandl, Der Einbau sozialer Grundrechte in das positive Recht, Recht und Staat, Heft 337/338, Tübingen 1967, und Schambeck, Grundrechte und Sozialordnung, S. 95 ff. 10 Siehe Georg Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Auflage, Tübingen 1905, 2. Nachdruck Darmstadt 1963.

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sich bewußt sein, daß er den Staat nicht allein zu einer bestimmten Sozialordnung verpflichten kann, sondern vielmehr vorher auch berechtigen muß, die entsprechenden Maßnahmen für die erforderliche Wirtschafts- und Sozialordnung zu ergreifen. Dieses subjektiv öffentliche Recht ist wohl die konsequenteste Forderung des Einzelnen an den Staat. Im Bereich der Sozialrechte kann von Grundrechten, die als subjektiv öffentliche Rechte gewährt werden, für den Bereich der Gesellschaftsordnung ein dirigistischer Einfluß ausgehen. Nicht jeder Grundwert einer Gesellschaft läßt sich daher positivrechtlich so schützen, daß Rechtsanspruch des Einzelnen und Freiheitsanspruch für ihn im Einklang geschützt sind. Sosehr daher auch die klassischen Grundrechte, nämlich die liberalen und demokratischen Grundrechte mit ihrem Freiheitsanspruch vom Staat und im Staat in der Form des subjektiv öffentlichen Rechts eine Triebfeder für die Entstehung des demokratischen Verfassungsstaates geworden sind, so sehr kann dieser in seinem Freiheitsbezug gefährdet werden, wenn Sozialrechte unbedacht der Unterschiede zwischen den einzelnen Grundrechtswerten in derselben Grundrechtsform geschützt und gesichert werden. Es zeigt sich dieser Unterschied in den Verfassungen deutlich, welche auch die Familie nicht als subjektiv öffentliches Recht grund rechtlich schützen. Eine weitere Form der Positivierung von Grundrechten ist die Aufnahme eines Grundwertes der Gesellschaft als Kompetenztatbestand in der Zuständigkeitsverteilung eines Staates. Mit der Nennung eines bestimmten Sachgebietes in der Zuständigkeitsverteilung einer Staatsverfassung wird diese Aufgabe anerkannt und ihre Lösung einem bestimmten Organ zugewiesen. Ein solcher Fall ist im österreichischen Bundes-Verjassungsgesetz 1920 gegeben, der im Hinblick auf die für einen Bundesstaat wichtige Verteilung der Zuständigkeiten in der Ausübung der Staatsfunktionen Gesetzgebung und Vollziehung eine Regelung für die Bevölkerungspolitik getroffen hat. Im Zusammenhang mit der Bevölkerungspolitik hat das B.-VG. im Art. 10 (1) Zi. 16 den Bund in Gesetzgebung und Vollziehung für zuständig erklärt, "soweit sie die Gewährung von Kinderbeihilfen und die Schaffung eines Lastenausgleiches im Interesse der Familie zum Gegenstand hat". Wenngleich der Bundesverfassungsgesetzgeber im B.-VG. die Familie in den Kompetenztatbeständen genannt hat, darf nicht übersehen werden, daß er nur bestimmte Aspekte der Familienpolitik, nämlich die Gewährung von Kinderbeihilfen und die Schaffung eines Familienlastenausgleichs hervorgehoben hat, die anderen Aufgaben der Familie aber nicht. Eine generelle Anerkennung der Familie in ihren Aufgaben liegt aber nicht vor. Außerdem darf bezüglich der vorgenannten Be-

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reiche weiters nicht übersehen werden, daß die Erwähnung eines Sachgebietes in den Kompetenztatbeständen eine Blankoermächtigung an den einfachen Gesetzgeber durch den Verfassungsgesetzgeber ist, für bestimmte Aufgaben tätig zu werden, aber keine Handlungsverpflichtung; es sei denn, es werden die betreffenden Aufgaben, hier die der Familie in den Staatszweckbestimmungen des Verfassungsrechtes, dem einfachen Gesetzgeber ausdrücklich vorgeschrieben, was aber in Österreich im B-VG. im Hinblick darauf nicht der Fall ist, da im B.-VG. eine über den Primärzweck des Staates, den Rechts- und Machtzweck hinausgehende Angabe der Rangordnung der Staatszwecke, einschließlich des Kultur- und Wohlfahrtszweckes nicht gegeben istl l • Aus der bloßen, also allein stehenden Kompetenzzuweisung ergibt sich daher kein rechtlich verbindlicher Auftrag zur Kompetenzausübung12 • In ähnlicher Weise, nämlich als OrganisationsvOTschrift, wird die Familie in der Bundesverfassung der schweizerischen Eidgenossenschaft von 1874 i. d. g. F. unter den Kompetenzbestimmungen angeführt: Art. 34 quinquies erklärt: Der Bund berücksichtigt in der Ausübung der ihm zustehenden Befugnisse und im Rahmen der Verfassung die Bedürfnisse der Familie. (2) Der Bund ist zur Gesetzgebung auf dem Gebiete der Familienausgleichs-

kassen befugt. Er kann den Beitritt allgemein oder für einzelne Bevölkerungsgruppen obligatorisch erklären. Er berücksichtigt die bestehenden Kassen, fördert die Bestrebungen der Kantone und der Berufsverbände zur Gründung neuer Kassen und ist befugt, eine zentrale Ausgleichskasse zu errichten. Die finanziellen Leistungen des Bundes können von angemessenen Leistungen der Kantone abhängig gemacht werden.

Der Bund ist befugt, auf dem Gebiete des Siedlungs- und Wohnungswesens Bestrebungen zugunsten der Familie zu unterstützen. Ein Bundesgesetz wird bestimmen, an welche Bedingungen die Bundesbeiträge geknüpft werden können; es wird die baupolizeilichen Bestimmungen den Kantone vorbehalten. (4) Der Bund wird auf dem Wege der Gesetzgebung die Mutterschaftsversicherung einrichten. Er kann den Beitritt allgemein oder für einzelne Bevölkerungsgruppen obligatorisch erklären, und es dürfen auch Personen, die nicht in den Genuß der Versicherungsleistungen kommen können, zu Beiträgen verpflichtet werden. Die finanziellen Leistungen des Bundes können von angemessenen Leistungen der Kantone abhängig gemacht werden. (5) Der Vollzug der auf Grund dieses Artikels ergehenden Gesetze erfolgt unter Mitwirkung der Kantone; private und öffentliche Vereinigungen können beigezogen werden. (3)

11 Näher Herbert Schambeck, Die Staatszwecke der Republik Österreich Gestalt und Funktion ihrer Verfassung, hrsg. von Hans Klecatsky, Wien 1968, S. 243 ff. 12 Korinek, Betrachtungen zur juristischen Problematik sozialer Grundrechte, S. 15.

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Einen Schritt weiter, nämlich zum Sozialgesta:ltungsauftrag an den einfachen Gesetzgeber von der Verfassung her, stellt der Programms atz und die Einrichtungsgarantie dar. Programmsätze können entweder als Präambel vor dem Text einer Verfassung oder zu ihrem Beginn angeführt werden und dabei in mehr oder weniger allgemein gehaltener Form Handlungsanweisungen an die Gesetzgebung und an die Vollziehung darstellen. Robert Walter hat schon auf die Gefahren hingewiesen, welche sich aus der mangelnden Justitiabilität solcher Programmsätze ergeben; diese Unbestimmtheit ist für die Rechtssetzung wie für die Rechtsvollziehung von gleicher Beachtenswertheit, da sie oft Ziele andeuten, welche sich normativ so, daß sie einen Delegationszusammenhang von Verfassung, einfachem Gesetz, Verordnung, individuellem Rechtsakt im Stufenbau der Rechtsordnung darstellen und sich konkretisieren lassen, nicht ergeben13 • Dazu tritt auch oft der Anschein, als würden derartige programmatische Feststellungen dem Einzelnen einen Rechtsanspruch gegen den Staat und seine Rechtsordnung einräumen, was aber nicht der Fall ist14 •

Die vierte Rechtsform des Grundrechtsschutzes ist die der Einrichtungsgarantie. Bestimmte öffentlich-rechtliche oder privatrechtliche

Einrichtungen werden dabei unter den besonderen verfassungsrechtlichen Schutz gestellt. Es soll auf diese Weise das Bestehen und Funktionieren bestimmter Einrichtungen gewährleistet werden, etwa das Berufsbeamtentum, bestimmte Formen der Selbstverwaltung oder die Ehe und Familie. überkommene gesellschaftliche Erscheinungen sollen dadurch als komplexes Rechtsinstitut garantiert werden.

Die Einrichtungsgarantie ist nur eine verfassungsgesetzliche Rahmenregelung, welche der näheren Ausführung und Konkretisierung durch den einfachen Gesetzgeber bedarf. Der Gesetzgeber aber wäre gehalten, zur Aktualisierung des als institutionelle Garantie gestalteten sozialen Rechts entsprechende Maßnahmen zu setzen. Die verfassungsrechtliche Einrichtungsgarantie wäre dann ein Auftrag an den Gesetzgeber, eine dem Wesen der Institution einerseits und den politischen Gegebenheiten andererseits entsprechende Ausformung des sozialen Grundrechtes vorzunehmen. Die Gegenstand der Einrichtungsgarantie seiende Institution, in diesem Fall die Familie, ihre Rechtsstellung und ihr Schutz, ist meist das Ergebnis einer bestimmten Entwicklung, kann aber bei der Dyna13 Dazu Robert Walter, in: Robert Walter-Gerhard Schnorr, Die Grundrechte mit Arbeitsrechtsbeziehungen und die Neufassung des österreichischen Grundrechtskataloges, Wien 1967, S. 11 f. 14 Beachte Korinek, S. 14.

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mik gesellschaftlicher Entwicklung nicht als sogenanntes "Endstadium" aufgefaßt werden, es müssen mögliche Veränderungen immer auch beachtet werden. Beachtet man die in europäischen Verfassungen enthaltenen Bezüge auf die Familie, so sind diese meist im Teil über die Grundrechte öfters auch verbunden mit Grundpflichten angeführt und bewegen sich in einer beachtenswerten Bandbreite zwischen Programmsatz und Einrichtungsgarantie. Dabei ist es interessant, daß diese Grundrechtsteile in das System des jeweiligen Verfassungssystems so eingebaut sind, daß sie den Eindruck erwecken, neben dem Grundrechtsschutz auch eine auf die Ziele und Zwecke des Staates gerichtete Motivation zu entfalten und den Einzelnen zu berechtigen, was aber nicht der Fall ist. In beiden Fällen handelt es sich um einen an den einfachen Gesetzgeber gerichteten Sozialgestaltungsauftrag, der allerdings im Dienste des Einzelmenschen und seiner Gesellschaft steht, für welche die Familie die Form der Begegnung und die Möglichkeit unmittelbarer Persönlichkeitsentfaltung ist. Am umfangreichsten ist die Familie Schutzobjekt des Staates, wenn sie von ihrem Ansatz mit der Ehe her gemeinsam grundrechtlich erfaßt wird. Das zeigt sich in westlichen und östlichen europäischen Verfassungen in gleicher Weise, allerdings in unterschiedlicher Ausführung. So erklärt das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland 1949:

(2) (3)

(4) (5)

Art. 6 (1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung. Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft. Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen. Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft. Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern.

Wie diese auf Ehe und Familie bezogenen Schutzerklärungen im Bonner Grundgesetz unter den Grundrechten angeführt sind, stehen diese Rechte in der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik 1968 unter der überschrift "Grundrechte und Grundpflichten der Bürger": Art. 37 (1) Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das Recht auf Wohnraum für sich und seine Familie entsprechend den

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volkswirtschaftlichen Möglichkeiten und örtlichen Bedingungen. Der Staat ist verpflichtet, dieses Recht durch die Förderung des Wohnungsbaus, die Werterhaltung vorhandenen Wohnraumes und die öffentliche Kontrolle über die gerechte Verteilung des Wohnraumes zu verwirklichen. (2) Es besteht Rechtsschutz bei Kündigungen. (3) Jeder Bürger hat das Recht auf Unverletzbarkeit seiner Wohnung. Art. 38 (1) Ehe, Familie und Mutterschaft stehen unter dem besonderen Schutz des Staates. Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das Recht auf Achtung, Schutz und Förderung seiner Ehe und Familie. (2) Dieses Recht wird durch die Gleichberechtigung von Mann und Frau in Ehe und Familie, durch die gesellschaftliche und staatliche Unterstützung der Bürger bei der Festigung und Entwicklung ihrer Ehe und Familie gewährleistet. Kinderreichen Familien, alleinstehenden Müttern und Vätern gilt die Fürsorge und Unterstützung des sozialistischen Staates durch besondere Maßnahmen. (3) Mutter und Kind genießen den besonderen Schutz des sozialistischen Staates. Schwangerschaftsurlaub, spezielle medizinische Betreuung, materielle und finanzielle Unterstützung bei Geburten und Kindergeld werden gewährt. (4) Es ist das Recht und die vornehmste Pflicht der Eltern, ihre Kinder zu gesunden und lebensfrohen, tüchtigen und allseitig gebildeten Menschen, zu staats bewußten Bürgern zu erziehen. Die Eltern haben Anspruch auf ein enges und vertrauensvolles Zusammenwirken mit den gesellschaftlichen und staatlichen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen.

Einen betont katholischen Standpunkt im Zusammenhang mit der Unauflöslichkeit der Ehe nimmt die Verfassung Irlands vom 1. Juli 1937 als Grundlage der Familie ein, welche ebenfalls unter dem Abschnitt Grundrechte angeführt wird. Art. 21 (1) Die Familie als Grundlage der Aufrechterhaltung und Hebung der Nation, sowie die Ehe, die Mutterschaft und das Kinderalter stehen unter dem Schutz des Staates. (2) Kinderreiche Familien, Kriegs- und Friedensinvaliden, Kriegsopfer, Witwen und Waisen der im Kriege Gefallenen, sowie an unheilbaren körperlichen und geistigen Krankheiten Leidende haben ein Anrecht auf die besondere Fürsorge des Staates. (3) Der Staat sorgt für die Gesundheit der Bürger und trifft besondere Maßnahmen zum Schutze der Jugend, des Alters, der Versehrtheit und für die Pflege Unbemittelter. (4) Der Erwerb von Wohnungen durch Wohnungslose oder ungenügend Untergebrachte bildet Gegenstand der besonderen Sorge des Staates.

In ähnlicher Weise, nämlich unter Grund- und gesellschaftlichen Rechten hat die neue Griechische Verfassung 1975 die Familie proklamiert: 26 Festschrift Rossl

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Art. 41 (1) 1. Der Staat anerkennt die Familie als die natürliche und ursprüngliche Grundeinheit der Gesellschaft und als eine moralische Einrichtung mit unveräußerlichen und unverjährbaren Rechten vor und über allen positiven Gesetzen. 2. Der Staat garantiert daher den Schutz der Familie, ihren Aufbau wie ihr Ansehen, als die notwendige Grundlage der sozialen Ordnung und als unentbehrlich für das Wohl von Volk und Staat. (2) 1. Der Staat anerkennt insbesondere, daß die Frau dem Staat durch ihr Leben in der häuslichen Gemeinschaft eine Stütze verleiht, ohne die das gemeine Wohl nicht erlangt werden kann. 2. Der Staat wird sich daher auch bemühen sicherzustellen, daß Mütter nicht aus wirtschaftlicher Notwendigkeit gezwungen werden, zum Schaden ihrer häuslichen Pflichten Arbeit aufzunehmen. (3) 1. Der Staat verpflichtet sich, die Institution der Ehe, auf die sich die Familie gründet, mit besonderer Sorgfalt zu bewahren und sie vor Angriffen zu schützen. 2. Es darf kein Gesetz erlassen werden, das eine Bewilligung der Auflösung der Ehe vorsieht. 3. Niemand, dessen Ehe nach dem bürgerlichen Recht eines fremden Staates geschieden worden ist, nach dem zur Zeit in Kraft befindlichen Recht unter der - durch diese Verfassung begründeten - Rechtshoheit von Regierung und Parlament jedoch weiterhin rechtsgültig ist, kann innerhaib des Geltungsbereiches dieser Rechtsordnung zu Lebzeiten des anderen Partners der geschiedenen Ehe eine rechtsgültige Ehe eingehen. Kürzere Bezüge auf die Familie finden sich in der Verfassung des Großherzogtums Luxemburg von 1868, zuletzt geändert 1972, in welcher

im Kapitel II, "Die Luxemburger und ihre Rechte", im Art. 11 Absatz 3 festgehalten wird: "Der Staat gewährleistet die Naturrechte der menschlichen Person und der Familie." Aus dieser Aufzählung ergibt sich, daß die Familie zu dem allgemein und ewig Gültigen des Naturrechts gezählt wird, ohne daß aber, wie in den vorgenannten Verfassungen eine nähere Ausführung dazu erfolgt. Hier ergibt sich nicht einmal der Anschein eines Rechtsanspruches des Einzelnen; das gilt auch für die nachstehend genannten Verfassungen. So findet sich in der Verfassung der Türkischen Republik von 1961, zuletzt geändert 1973, die Familie in allgemein gehaltener Feststellung im Dritten Abschnitt unter "Soziale und wirtschaftliche Rechte und Pflichten: Art. 35 (1) Die Familie ist die Grundlage der türkischen Gesellschaft. (2) Der Staat und die anderen juristischen Personen des öffentlichen Rechts haben die zum Schutze von Familie, Mutter und Kind erforderlichen Maßnahmen zu treffen und notwendige Organisation zu schaffen". Bemerkenswert ist, daß dieser überschrift I. Schutz der Familie als nächste Prinzipien II. Eigentum, III. Arbeits- und Vertragsfreiheit, etc.

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folgen. Die Fami'lie ist hier in der türkischen Verfassung mehr socioökonomisch als individuell personalistisch gesehen worden. Bemerkenswert ist auch, daß die neue Verfassung des Königreiches Spanien aus 1978 die Rechte der Familie ebenfalls unter den Leitprinzipien der Wirtschafts- und Sozialpolitik anführt. So bestimmt der Art. 39 ,,1. Die öffentlichen Gewalten sichern den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen

und rechtlichen Schutz der Familie zu. 2. Die öffentlichen Gewalten sichern ebenso den vollen Schutz der Kinder, die ungeachtet ihrer Abstammung, vor dem Gesetz gleich sind und den der Mütter ohne Berücksichtigung ihres Zivilstandes zu. Das Gesetz wird die Nachprüfung der Vaterschaft ermöglichen.

3. Die Eltern müssen sowohl ihren ehelichen als auch ihren außerehelichen Kindern bis zu deren Volljährigkeit und in allen weiteren gesetzmäßig begründeten Fällen jede Art von Beistand gewähren. 4. Die Kinder genießen den in den internationalen Abkommen, welche die Wahrwlg ihrer Rechte zum Ziel haben, vorgesehenen Schutz." Die Ehe wurde schon vor der Familie in der Spanischen Verfassung erwähnt, nämlich in dem Teil, der sich mit den Bürgerrechten und Bürgerpflichten beschäftigt, wird in Art. 32 festgehalten: ,,1. Der Mann und die Frau können in voller Rechtsgleichheit die Eheschlie-

ßung begehen. 2. Das Gesetz wird die Formen der Ehe, Ehealter und -fähigkeit, die Rechte und Pflichten der Ehegatten, die Ursachen der Trennung und Auflösung und deren Wirkungen regeln."

Es ist hervorzuheben, daß in der Spanischen Verfassung Ehe und Familie getrennt erwähnt und die Familie im wirtschaftspolitischen Abschnitt genannt wird; so folgt auch dem Artikel 39 über die Familie der Art. 40 über Möglichkeiten staatlicher Stabilitätspolitik. Unter Rechte, Freiheit und Sicherheit hat die neue Verfassung der Republik Portugal von 1976 Familie, Ehe und Kindschaft zu sichern

gesucht:

"Art. 36 Familie, Ehe und Kindschaft 1. Jeder soll das Recht haben, eine Familie zu gründen und zu heiraten zu

vollkommen gleichen Bedingungen. 2. Die Bedingungen für die Rechtswirkungen der Ehe und ihrer Auflösung durch Tod oder Scheidung sollen gesetzlich geregelt sein ohne Rücksicht auf die Art (Form, Beschaffenheit) der Eheschließung. 3. Ehemänner und Ehefrauen sollen gleiche Rechte und Pflichten in Hinblick auf die bürgerliche und politische Stellung und die Erhaltung und Erziehung ihrer Kinder haben. 4. Unehelich geborene Kinder sollen aus diesem Grunde nicht Gegenstand von Diskriminierung sein; Ausnahmebestimmungen für die Kindschaft sollen weder von Gesetz noch von Regierungsämtern verwendet werden. 26·

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5. Eltern sollen das Recht und die Pflicht haben, ihre Kinder zu erziehen. 6. Kinder sollen von ihren Eltern nicht getrennt werden, außer die Letzteren versagen bei der Erfüllung ihrer fundamentalen Pflichten gegen die Ersteren, und dann nur durch richterlichen Beschluß." In den Volksdemokratien wird die Familie mit der Ehe gemeinsam unter Grundrechte und Pflichten der Bürger angeführt. So findet sich in der Verfassung der Volksrepublik Polen von 1952 i. d. g. F. die Erklärung: Art. 79 1. Ehe, Mutterschaft und Familie stehen unter der Obhut und dem Schutz der Volksrepublik Polen. Kinderreiche Familien umgibt der Staat mit besonderer Fürsorge. 2. Die Eltern haben die Pflicht, die Kinder zu aufrichtigen und pflichtbewußten Bürgern der Volksrepublik Polen zu erziehen. 3. Die Volksrepublik Polen sichert die Realisierung von Unterhaltsrechten und -pflichten. 4. Die außerhalb der Ehe geborenen Kinder haben dieselben Rechte wie die ehelichen Kinder. 5. In ihrer Sorge um die Interessen der Familie bemüht sich die Volksrepublik Polen, die Wohnsituation zu verbessern, entwickelt und unterstützt unter der Teilnahme der Bürger verschiedene Formen des Wohnungsbaus und insbesondere das genossenschaftliche Bauwesen und sorgt für eine rationelle Bewirtschaftung der Wohnungsressourcen." Die Verfassung der Volksrepublik Bulgarien erkennt 1971: "Art. 36 Frau und Mann besitzen in der Volksrepublik Bulgarien gleiche Rechte. Art. 37 Die Mutter genießt den besonderen Schutz und die besondere Fürsorge des Staates, der Wirtschafts- und der gesellschaftlichen Organisationen, indem ihr vor und nach der Entbindung Urlaub unter Beibehaltung ihrer Arbeitsentlohnung, sowie kostenlose Entbindungs- und ärztliche Hilfe, Aufnahme in Entbindungsheimen und Arbeitserleichterungen gewährt werden und die Erweiterung des Netzes der Kindereinrichtungen, der Betriebe für kommunale Dienstleistungen und des öffentlichen Verpflegungswesens gesichert wird. Art. 38 (1) Ehe und Familie stehen unter dem Schutz des Staates. (2) Nur die Eheschließungen vor dem Standesamt sind gesetzmäßig. (3) Die Ehepartner haben die gleichen Rechte und Pflichten in der Ehe und Familie. Die Eltern haben das Recht und die Pflicht, für die Pflege ihrer Kinder zu sorgen und sie kommunistisch zu erziehen. (4) Die außerhalb der Ehe geborenen Kinder besitzen die gleichen Rechte wie die ehelichen Kinder:' Unter Freiheiten, Rechte und Pflichten des Menschen und Bürgers hat im Art. 190 die Verfassung der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien 1974 ihren Schutz der Familie bekannt:

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"Art. 190: Die Familie genießt gesellschaftlichen Schutz. Die Ehe und die Rechtsbeziehungen in der Ehe und in der Familie werden gesetzlich geregelt. Die Ehe wird von dem zuständigen Organ durch freie Zustimmung der in den Ehestand tretenden Personen rechtsgültig geschlossen. Die Eltern haben das Recht und die Pflicht, für die Großziehung und die Erziehung ihrer Kinder zu sorgen. Die Kinder sind verpflichtet, für ihre Eltern zu sorgen, denen Hilfeleistung erforderlich ist. Außerehelich geborene Kinder haben die gleichen Rechte und Pflichten wie in der Ehe geborene Kinder. Art. 191: Dem Menschen steht das Recht zu, frei über die Zeugung von Kindern zu beschließen. Dieses Recht kann nur zum Schutz der Gesundheit eingeschränkt werden."

Betrachtet man diese verschiedenen Formen der Positivierung des Schutzes der Familie im Verfassungsrecht, die ohne Anspruch auf Vollständigkeit beispielsweise genannt wurden, so zeigt sich in nahezu allen Fällen, daß der Grundrechtsschutz der Familie teils in Programmsätzen, teils als Einrichtungsgarantien und vereinzelt in Organisationsvorschriften zur Regelung der Zuständigkeit enthalten ist. In all diesen Fällen wird, trotz des bisweilen erweckten Anscheins, kein Recht des Einzelnen begründet, das etwa bei einem Gerichtshof des öffentlichen Rechts einklagbar wäre. Es handelt sich in all den Fällen um einen Sozialgestaltungsauftrag, den die Verfassung an den einfachen Gesetzgeber richtet; im Falle des Programmsatzes und der Einrichtungsgarantie handelt es sich um eine Handlungsmotivation und bei der Organisationsvorschrift um eine Handlungsermächtigung, ohne daß damit auch ein Handlungsbefehl verbunden wäre. Es bleibt nämlich dem einfachen Gesetzgeber überlassen, ob er diesen Verfassungsempfehlungen folgt oder nicht. Sollte der Gesetzgeber aber diesen Sozialgestaltungsempfehlungen nicht folgen, die ihm verfassungspolitisch aufgetragen wurden, kann kein Staatsbürger eine solche Verhaltensweise des Gesetzgebers einklagen, sondern nur jene politischen Parteien, welche als Parlamentsfraktionen für diesen Weg der Gesetzgebung verantwortlich sind, nicht mehr wählen. Je allgemeiner gehalten ein derartiger Grundrechtsschutz ist, desto weniger normativ ist er erfaßbar und auch vom Einzelnen geltend zu machen.

ß. In der Sicht der Rechtsentwicklung der letzten Jahrzehnte kann festgestellt werden, daß das Bemühen um einen möglichst umfangreichen Grundrechtsschutz auch international zugenommen hat. Die Internationalisierung des Grundrechtsschutzes zählt zu den Tendenzen des

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Rechtslebens, welche Alfred Verdroß schon 1923 in seiner beachtenswerten Schrift "Die Einheit des rechtlichen Weltbildes" verdeutlicht hat15 • Diese Bemühungen sind weltweit im Rahmen der Vereinten Nationen ebenso feststellbar wie regional im Bereich des Europarates; diese von internationalen Organisationen der Völkergemeinschaft beschlossenen Grundrechtsdokumente sind je nach dem normativen Gehalt als bloße Deklaration eine Empfehlung an den Verfassungsgesetzgeber oder als ratifizierte Konvention eine Verpflichtung zu einem bestimmten Grundrechtsstandard. Den weltweitesten Anspruch hat die am 10. Dezember 1948 von der UNO-Generalversammlung beschlossene Allgemeine Deklaration der Menschenrechte erhoben, sie enthält im Art. 16 die Erklärung der Freiheit der Eheschließung sowie des Schutzes der Familie: ,,1. Heiratsfähige Männer und Frauen haben ohne Beschränkung durch

Rasse, Staatsbürgerschaft oder Religion das Recht, eine Ehe zu schließen und eine Familie zu gründen. Sie haben bei der Eheschließung, während der Ehe und bei deren Auflösung gleiche Rechte.

2. Die Ehe darf nur auf Grund der freien und vollen Willenseinigung der zukünftigen Ehegatten geschlossen werden. 3. Die Familie ist die natürliche und grundlegende Einheit der Gesellschaft und hat Anspruch auf Schutz durch Gesellschaft und Staat." Da die UNO-Generalversammlung zur Erlassung genereller Normen für ihre Mitglieder nicht zuständig ist, kommt der UNO-Menschenrechtserklärung auch keine Rechtsverbindlichkeit zu; sie bezeichnet sich selbst auch nur als ein von allen Völkern und Nationen anzustrebendes gemeinsames Ziel. Eine nähere Ausführung der Deklaration bilden die beiden von der Generalversammlung der UNO am 16. Dezember 1966 einstimmig angenommenen Internationalen Pakte über bürgerliche und politische Rechte sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte; beide Pakte nehmen auf die Familie und ihre Situation entsprechend Bezug. So wird in dem UNO-Weltpakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte erklärt: "Art. 10: Die Vertragsstaaten erkennen an, 1. daß die Familie als die natürliche Kernzelle der Gesellschaft größtmögli-

chen Schutz und Beistand genießen soll, insbesondere im Hinblick auf ihre Gründung und solange sie für die Betreuung und Erziehung unterhaltsberechtigter Kinder verantwortlich ist. Eine Ehe darf nur im freien Einverständnis der künftigen Ehegatten geschlossen werden ;

15 Siehe Alfred Verdross, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung, Tübingen 1923.

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2. daß Mütter während einer angemessenen Zeit vor und nach der Niederkunft besonderen Schutz genießen sollen. Während dieser Zeit sollen berufstätige Mütter bezahlten Urlaub oder Urlaub mit angemessenen Leistungen aus der Sozialen Sicherheit erhalten; 3. daß Sonderrnaßnahmen zum Schutz und Beistand für alle Kinder und Jugendlichen ohne Diskriminierung aufgrund der Abstammung oder aus sonstigen Gründen getroffen werden sollen. Kinder und Jugendliche sollen vor wirtschaftlicher und sozialer Ausbeutung geschützt werden. Ihre Beschäftigung mit Arbeiten, die ihrer Moral oder Gesundheit schaden, ihr Leben gefährden oder voraussichtlich ihre normale Entwicklung behindern, soll gesetzlich strafbar sein. Die Staaten sollen ferner Altersgrenzen festsetzen, unterhalb derer die entgeltliche Beschäftigung von Kindern gesetzlich verboten und strafbar ist. Art. 11: 1. Die Vertragsstaaten erkennen das Recht eines jeden auf einen angemessenen Lebensstandard für sich und seine Familie an, einschließlich ausreichender Ernährung, Bekleidung und Unterbringung, sowie auf eine stetige Verbesserung der Lebensbedingungen. Die Vertragsstaaten unternehmen geeignete Schritte, um die Verwirklichung dieses Rechts zu gewährleisten, und erkennen zu diesem Zweck die entscheidende Bedeutung einer internationalen, auf freier Zustimmung beruhender Zusammenarbeit an." Im Zusammenhang mit dem Bildungsanliegen wird im Art. 13 (3) festgestellt: "Die Vertragsparteien verpflichten sich, die Freiheit der Eltern und gegebenenfalls des Vormundes oder Pflegers zu achten, für ihre Kinder andere Schulen zu wählen, die den vom Staat gegebenenfalls festgesetzten oder gebilligten bildungspolitischen Mindestnormen entsprechen, sowie die religiöse und sittliche Erziehung ihrer Kinder in übereinstimmung mit ihren eigenen überzeugungen sicherzustellen." Auch der UNO-Weltpakt für bürgerliche und politische Rechte sucht in Erklärungen Ehe und Familie zu schützen:

2. 3. 4.

2. 3.

"Art. 23: 1. Die Familie ist die natürliche Kernzelle der Gesellschaft und hat Anspruch auf Schutz durch Gesellschaft und Staat. Das Recht von Mann und Frau, im heiratsfähigen Alter eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen, wird anerkannt. Eine Ehe darf nur im freien und vollen Einverständnis der künftigen Ehegatten geschlossen werden. Die Vertragsstaaten werden durch geeignete Maßnahmen sicherstellen, daß die Ehegatten gleiche Rechte und Pflichten bei der Eheschließung, während der Ehe und bei Auflösung der Ehe haben. Für den nötigen Schutz der Kinder im Falle einer Auflösung der Ehe ist Sorge zu tragen. Art. 24: 1. Jedes Kind hat ohne Diskriminierung hinsichtlich der Rasse, der Hautfarbe, des Geschlechts, der Sprache, der Religion, der nationalen oder sozialen Herkunft, des Vermögens oder der Geburt das Recht auf diejenigen Schutzmaßnahmen durch seine Familie, die Gesellschaft und den Staat, die seine Rechtsstellung als Minderjähriger erfordert. Jedes Kind muß unverzüglich nach seiner Geburt in ein Register eingetragen werden und einen Namen erhalten. Jedes Kind hat das Recht, eine Staatsangehörigkeit zu erwerben."

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Wie sich aus den Präambeln zur Deklaration und den UNO-Pakten ergibt, ist in diesen Dokumenten das Bemühen vorherrschend, alle Menschenrechte aus der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde (inherent dignity of the human person) abzuleiten und damit ihre natürliche Wurzel herauszuarbeiten16 • In beiden Fällen werden aber eher Grundsätze aufgestellt, als Rechtsansprüche begründet; deren Verwirklichung hängt mehr von den Staats- und Gesellschaftssystemen ab als von der juristischen Durchführung 17 • Auf europäischer Ebene hat die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 im

Art. 12 das Recht, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen anerkannt:

"Mit Erreichung des heiratsfähigen Alters haben Männer und Frauen gemäß den einschlägigen nationalen Gesetzen das Recht, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen. " In gleicher Weise nennt die Europäische Sozialcharta vom 18. Oktober 1961 das Recht der Familie auf sozialen und wirtschaftlichen Schutz im Art. 4 und 16 sowie der Mutter im Art. 17: "Art. 4 Das Recht auf ein gerechtes Arbeitsentgelt Um die wirksame Ausübung des Rechtes auf ein gerechtes Arbeitsentgelt zu gewährleisten, verpflichten sich die Vertragsparteien : 1. das Recht der Arbeitnehmer auf ein Arbeitsentgelt anzuerkennen, das ausreicht, ihnen und ihren Familien einen angemessenen Lebensstandard zu sichern; 2. das Recht der Arbeitnehmer auf Zahlung erhöhter Lohnsätze für überstundenarbeit anzuerkennen, vorbehaltlich von Ausnahmen in bestimmten Fällen; 3. das Recht männlicher und weiblicher Arbeitnehmer auf gleiches Entgelt für gleichwertige Arbeit anzuerkennen; 4. das Recht aller Arbeitnehmer auf eine angemessene vorherige Benachrichtigungsfrist im Falle der Beendigung des Arbeitsverhältnisses anzuerkennen; 5. Lohnabzüge nur unter den Bedingungen und in den Grenzen zuzulassen, die in innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgesehen oder durch Gesamtarbeitsvertrag oder Schiedsspruch bestimmt sind. Die Ausübung dieser Rechte ist durch frei abgeschlossene Gesamtarbeitsverträge, durch gesetzliche Verfahren der Lohnfestsetzung oder auf jede andere den innerstaatlichen Verhältnissen entsprechende Weise zu gewährleisten." 18 Alfred Verdross - Bruno Simma, Universelles Völkerrecht Theorie und Praxis, Berlin 1976, S. 001. 17 Internationale Dokumente zum Menschenrechtsschutz mit Hinweisen herausgegeben von Felix Ermacora, 2. Aufl., Stuttgart 1977, S. 56.

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"Art. 16 Das Recht der Familie auf sozialen gesetzlichen und wirtschaftlichen Schutz Um die erforderlichen Voraussetzungen für die Entfaltung der Familie als der Grundeinheit der Gesellschaft zu schaffen, verpflichten sich die Vertragsparteien, den wirtschaftlichen, gesetzlichen und sozialen Schutz des Familienlebens zu fördern, insbesondere durch Sozial- und Familienleistungen, steuerliche Maßnahmen, Förderung des Baues von familiengerechten Wohnungen, Hilfe für junge Eheleute oder durch andere geeignete Mittel." "Art. 17 Das Recht der Mütter und der Kinder auf sozialen und wirtschaftlichen Schutz Um die wirksame Ausübung des Rechtes der Mütter und der Kinder auf sozialen und wirtschaftlichen Schutz zu gewährleisten, werden die Vertragsparteien alle hierzu geeigneten und notwendigen Maßnahmen treffen, einschließlich der Schaffung und Beibehaltung geeigneter Einrichtungen und Dienste." Während die Europäische Menschenrechtskonvention ihrem Wesen und ihrer Absicht nach einklagbare subjektive Rechte für die Bürger der Vertragsstaaten begründet, stellt die Europäische Sozialcharta mit ihren auf die Familie bezogenen Artikeln - die ja insoweit in ihrem Inhalt über die Garantie der Europäischen Menschenrechtskonvention weit hinausgehen - wieder bloß einen Sozialgestaltungsauftrag an den Verfassungsgesetzgeber der einzelnen Vertragsstaaten dar.

m. Es ist sehr zu begrüßen, daß in unserer Zeit die Bedeutung der Familie auch in den Verfassungen als der Grundordnung der einzelnen Staaten und in internationalen Vereinbarungen anerkannt wurde; ist doch die Familie die beste Stätte für die Entfaltung der Persönlichkeit sowie die Grundlage Jeder Gesellschaft und jedes Staates. Jede Maßnahme des Schutzes und der Erhaltung der Familie dient dem Staate und damit über den Kreis der Familienangehörigen selbst dem Wohle aller. Familienpolitische Maßnahmen sind Dienst am Gemeinwohl. Diesen Dienst am Gemeinwohl werden aber Grundrechte zum Schutz der Familie nur dann erbringen können, wenn sie in Erkenntnis ihrer Relativitätsgebundenheit in ihrer Ausführung den jeweiligen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen angepaßt werden können. Dies verlangt eine elastische Formulierung, die aber keinen Raum für Gemeinplätze bieten darf. Es muß vielmehr der einfache Gesetzgeber unter Bedachtnahme auf die wirtschaftliche Situation und die soziale Lage der Familie die einzelnen Einrichtungen schaffen und die Werte ausführen, zu welchen sie der Verfassungsgesetzgeber selbst verpflichtet.

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Es sei aber zugegeben, daß die Relativitätsgebundenheit und Wertorientiertheit der sozialen Grundrechte im allgemeinen, der Grundrechte der Familie im besonderen in einer Verfassung nicht leicht zu berücksichtigen sein wird, die, wie z. B. in Österreich, mehr wertneutralen Charakter hat, d. h. keine Rangordnung der Staatszwecke angibt, sondern deren Bestimmung dem einfachen Gesetzgeber überläßt. Diese einfachgesetzliche Ausführung ist dann aus dem Erfordernis der Rechtssicherheit besonders geboten, wenn diese sozialen Grundrechte allgemein gefaßt sind. Welche Rechtsform immer der Grundrechtsschutz der Familie annehmen mag, stets sollte bewußt bleiben, daß die bestformulierte Positivierung dieses sozialen Fundamentalrechts die Sozialverantwortung des Zwischenmenschlichen gegenüber der Familie und innerhalb der Familie nicht ersetzen kann. Das Recht kann die Moral und der Verfassungsrechtssatz den Gewissensanspruch nicht ersetzen, wohl aber in bestimmten Fällen ergänzen. Der deutsche Richter und Rechtslehrer Fritz Werner hat schon treffend erkannt: "Die Erkenntnis, daß der Einzelne und die Welt auch unter außerrechtlichen Kategorien stehen, verkümmert. Daß Erbarmen, Liebe, Barmherzigkeit, Demut und manches andere rechtlich nicht zu Fassende unser Leben gestalten, ist eine Vorstellung, die mehr und mehr entschwindet1 8 ." In dieser Sicht mündet auch die Frage nach dem Grundrechtsschutz der Familie in die Frage nach Recht und Sittlichkeit lD • Der Staat hat als Sozialstaat die wirtschaftlichen Voraussetzungen zu schaffen, daß die Familie sowohl den Bereich für die Persänlichkeitsentfaltung des Einzelnen wie für jene Gemeinschaftsbildung bietet, welche die Grundlage jedes Gemeinwesens bildet, er hat aber neben al'len wirtschaftlichen und sozialen Bedingtheiten der Familie jene Freiheit über alles Ökonomische hinaus zu sichern, die erforderlich ist, daß Menschliches entstehen kann und erhalten bleibt. In dieser Sicht kann der Staat mit seinem Recht die Familie nie ersetzen, sondern ihr nur helfen. Es besteht ein w,echselseitiges Angewiesensein von Staat und Familie. Die Familie bedarf des Staates zu ihrem Schutz und der Staat der Familie zu seinem Bestehen; die Grundrechte dienen beiden.

18 Fritz Werner, Wandelt sich die Funktion des Rechts im sozialen Rechtsstaat?, in: Die moderne Demokratie und ihr Recht, 2. Band, Tübingen 1966, S.162. 19 Siehe dazu Arthur Kaufmann, Recht und Sittlichkeit, Recht und Staat, Heft 282/283, Tübingen 1964.

EHE UND FAMILIE - HERAUSFORDERUNG FüR KIRCHE, STAAT UND GESELLSCHAFT Von Ehrentraud und Willi Hagleitner* Wir leben in einem österreichischen Bundesland, nämlich Vorarlberg, in dem die Begriffe Föderalismus und Subsidiarität groß geschrieben werden. Beide beruhen auf dem Gedanken, daß alles, was die kleineren Gemeinschaften selber regeln können, nicht von den größeren übernommen werden sollte. Die Initiative "Pro Vorarlberg" ist der jüngste Beweis dafür, wie verwurzelt dieser Gedanke in der Bevölkerung ist. Es ist daher verständlich, daß uns die Familie als wichtigste kleine Gemeinschaft ein besonderes Anliegen ist. Die Medien bringen zum Thema Ehe und Familie viel Negatives. Deshalb ist es wichtig, daß sich manchmal auch in der Öffentlichkeit Ehepaare zu Wort melden, die in ihren Familien Freude und Erfüllung gefunden haben. Auch diesen Gesichtspunkt möchten wir mit einem Dank an unsere Eltern, die uns die Grundlagen für eine gute Ehe mitgegeben haben, nicht außer acht lassen. Leider fehlen in immer mehr Familien diese Voraussetzungen und sind primär für das fehlende Lebensglück der kommenden Generation verantwortlich. Die hohen Scheidungsziffern, die vielen nervösen Störungen bei Kindern und Jugendlichen, Drogensucht und Selbstmordversuche sprechen eine erschreckend deutliche Sprache. Diese Entwicklung nur zu beklagen, ist zuwenig. Zielführender ist es, den Familien wieder zu ihrem hohen Wert zu verhelfen, sie zu bestärken in ihrem Eigenleben und in ihren Aufgaben. Ebenso müssen Kirche und Staat, zwar in sehr verschiedener Weise, aber vorrangig darum bemüht sein, den Familien dabei bestmöglich zu helfen. Im Jahre 1956 richtete Papst Pius XII. folgende Worte an eine Delegation des Katholischen Familienverbandes Österreichs: "Es ist unsagbar, wie gegen die Familien gesündigt worden ist und gesündigt wird, bewußt oder unbewußt durch den Arbeitsprozeß, der sie auseinander-

* Die Probleme des Themas stellen sich aus der Sicht unserer eigenen Familie - wir haben 6 Kinder im Alter von 5 bis 14 Jahren - und aus der Zusammenarbeit mit Mitgliedern des Katholischen Familienverbandes sowie vielen Gesprächen mit Eltern und politischen Mandataren.

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reißt, durch Mißbrauch der Staatsgewalt. Wir denken dabei unter anderem an die rücksichtslose Ausnützung der menschlichen Anfälligkeit zu immer bequemerer Lebenshaltung durch die Erwerbsgier, an den Film und an die laizistische (frei von jeder religiösen Bindung im öffentlichen Leben) oder gar betont atheistische Zwangsschule. Die Dankbarkeit gegenüber der göttlichen Vorsehung mahnt uns aber gleich beizufügen, daß diese Jahrzehnte der Krise auch die fast unüberwindliche Kraft geoffenbart haben, die in der christlichen Ehe und Familie aufgespeichert ist. Diese Ehe und Familie hat immer noch und immer wieder still und unbemerkt Katastrophen verhindert, die ohne sie der Leichtsinn und die Gewissenlosigkeit einer laisierten und materialistischen Gesellschaft unvermeidbar gemacht hätten." Diese Aussagen sind heute noch aktueller als damals, besonders, wenn man sich einen kürzlich veröffentlichten Ausspruch eines österreichischen Politikers vor Augen hält, der erklärte, daß die Familie als letzter Tummelplatz der Autorität aufgelöst werden muß. Im Spannungsfeld dieser beiden Fronten müssen die Familien heute leben. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, möchten wir die wichtigsten Voraussetzungen zum Gelingen eines guten Familienlebens aufzeigen. Dies ist in gleicher Weise eine Herausforderung an die Familien selbst, sowie an Kirche, Staat und Gesellschaft.

I. Geborgenheit in der Familie In Ehe und Familie geht es um die Schaffung der Fundamentalmenschlichkeit: Achtung und Wertschätzung der Person, Aufbau eines gesunden Selbstwertgefühls, Bildung der Fähigkeit sich zu behaupten aber auch sich einzuordnen, Entfaltung von Feinfühligkeit, Toleranz, Belastbarkeit, Lebensoptimismus, Leistungsfreude, Verantwortungsbewußtsein. Um diese wichtigen Eigenschaften zu erlernen, braucht ein Kind in den ersten Lebensjahren Liebe und Geborgenheit. Die Anwesenheit einer ständigen Bezugsperson - natürlicherweise sollte es die Mutter sein - ist für das Kind unersetzlich. Auch der Vater sollte vom ersten Tag an Kontakt zu seinem Kind haben. Was in den ersten Jahren versäumt wird, läßt sich später nur sehr schwer nachholen. Viele nervöse Störungen, Ängste, mangelnder Leistungswille in den Schuljahren haben ihre Ursachen im Fehlen einer Bezugsperson in der Kindheit, die Wärme und Sicherheit ausstrahlte. Verantwortungsbewußte Elternschaft setzt ein hohes Maß an Bereitschaft voraus, Bedürfnisse des eigenen Ich zurückzustellen, solange die Kinder der liebenden Sorge ihrer Eltern bedürfen. Es darf nicht soweit kommen, daß Mütter. die sich ausschließlich dem Haushalt und der Kindererziehung widmen,

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als dumm oder gar als Volksschädlinge angesehen werden. Mütter, ganz besonders von Kleinkindern, sollten nicht aus finanziellen Gründen gezwungen sein, einer Erwerbsarbeit außer Haus nachzugehen. Eine derartige Zwangssituation treibt die Frau in eine unzumutbare Doppelbelastung. Mütter, die um der so modernen "Selbstverwirklichung" willen nicht bei ihren Kindern zu Hause bleiben, bringen sich selbst um ihre wichtigste und schönste Aufgabe, Kinder in ihrem Heranwachsen zu erleben und zu fördern. Es ist tragisch, wenn sie zu spät erkennen, daß sie diesen wertvollen Lebensabschnitt unwiederbringlich versäumt haben.

11. Berufstätigkeit der Frau und Mutter Es gibt aber Fälle, in denen die Frau zu einer außerhäuslichen Berufstätigkeit gezwungen ist. Möglichkeiten einer Teilzeitbeschäftigung sollten für solche Mütter vermehrt angeboten werden. Die Wiedereingliederung ins Berufsleben nach der Phase der Kindererziehung sollte möglichst reibungslos erfolgen können. Zudem sollten auch die wichtigen Kraftreserven der Frauen, die nicht im Erwerbsleben stehen, beachtet und aufgewertet werden. Durch Krankheit oder sonstige Zwischenfälle wird eine Familie, deren Mitglieder ausnahmslos erwerbstätig sind, stärksten Belastungen ausgesetzt. Hier kann durch Frauen, die hauptberuflich den Haushalt führen, wertvollste Hilfe und Arbeit geleistet werden. Auch die Betreuung betagter, hilfsbedürftiger Familienangehöriger oder Nachbarn wird dadurch möglich. Nicht zu übersehen ist, daß die sozialen Aufgaben von den Familien weit menschlicher, aber auch sparsamer bewältigt werden können. Das Mutter- oder Pflegegeld, das der Familienverband schon seit langem fordert, wäre eine äußerst positive und lohnende Maßnahme von seiten des Staates. Daß dies möglich wäre, hat der Staat schon selbst bewiesen, indem er einer Tagesmutter, die ein fremdes Kind betreut, pro Monat S 2100 bezahlt. Außerdem ist die Tagesmutter sozialversichert. Wäre es nicht besser, der leiblichen Mutter dieses Geld zu geben, damit sie selbst ihr Kind betreuen kann?

m. Schwangerschaft und Geburt Glücklicherweise gibt es heute wieder Bestrebungen, Schwangerschaft und Geburt als natürliche Ereignisse anzusehen. Es wäre zu wünschen, daß schwangere Frauen in ihrer Umgebung mehr Mitfreude und Zuversicht zu spüren bekämen, damit sie eine möglichst positive Einstellung zur Schwangerschaft erhalten. Diese wirkt sich nicht nur auf das körperliche und seelische Wohlbefinden der Mutter aus, sondern auch in oft noch zu wenig bekannter Weise auf das ungeborene

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Kind. Es ist nicht gleichgültig für die Entfaltung eines Kindes, ob es in Freude erwartet wird, oder ob die Mutter mutlos und bedrückt ist. Auch Liebe und Rücksichtnahme des werdenden Vaters ist von entscheidender Bedeutung. Die Mutter sollte ab dem ersten Tag der Schwangerschaft für ihr Kind mitdenken und mitfühlen. Das kann oft schwer sein, wenn es darum geht, auf verschiedene Gewohnheiten, wie beispielsweise Zigaretten, Alkohol und gedankenlose Tabletteneinnahme verzichten zu müssen. Es ist für beide Eltern ein tiefes Erlebnis, wenn der Vater bei der Geburt dabei sein kann. Auch eine Hausgeburt hat, wenn die Voraussetzungen für eine gute Pflege gegeben sind, heute noch ihre Berechtigung. Obwohl wir uns vieles an Schwarzmalerei und Bedenken anhören mußten, setzten wir es durch, daß alle unsere Kinder daheim zur Welt kamen. Es war auffallend, daß sich alle schon ab dem zweiten oder dritten Tag an eine siebenstündige Nachtruhe gewöhnten. Ihr Wohlbefinden in der von Anfang an gleichen Umgebung kam dadurch zum Ausdruck, daß sie mit drei Wochen zum erstenmal lächelten. Uns kam bei jeder Geburt wieder aufs neue der Gedanke, wie wenig viele Menschen heute von den tiefsten Ereignissen des Lebens erfahren: Geburt, Krankheit und Tod, alles wird abgeschoben in eine unpersönliche Klinik, oft fern von allen Angehörigen, die Hilfe bringen und dabei für ihr eigenes Leben unendlich viel lernen könnten.

IV. Kinderreiche Familie Die kinderreiche Familie wird vielfach negativ gesehen. In positivem Sinne erwähnt man sie bestenfalls als Steuerzahler und Rentenerhalter von morgen. Dabei wird übersehen, wie viele wertvolle Eigenschaften in einer Kinderfamilie ganz selbstverständlich eingeübt werden, z. B. Teilen, Verzichtenkönnen, Rücksichtnehmen, gegenseitiges Akzeptieren. Auch kommt bei mehreren Geschwistern eine Fülle verschiedener Begabungen zusammen, die für Eltern und Kinder sehr bereichernd, wenn auch manchmal anstrengend sein kann.

V. Atmosphäre in der Familie In unserem Bekanntenkreis gibt es eine Familie mit 9 Kindern. Ihre Wohnung ist knapp ausreichend, ebenso die finanzielle Lage eher angespannt. Trotzdem haben wir selten fröhlichere Kinder gesehen. Von der Mutter geht soviel Ruhe und Wärme aus, daß man sich in ihrer Nähe wohlfühlen muß. Jedes Kind ist in seiner Eigenheit geliebt und angenommen. Der Vater überträgt ein gesundes Selbstbewußtsein auf

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jedes seiner Kinder. Diese Eltern haben erkannt, was für eine gute Familienatmosphäre notwendig ist: Fröhlichkeit, Geduld, Liebe, Anerkennung und eine feste Ordnung. Es ist manchmal so bedrückend, Eltern mit ihren Kindern sprechen zu hören. Kritik, Ärger, Ungeduld und Mißtrauen kommen da zum Ausdruck, aufgestaute Agressionen werden an den Kindern ausgelassen. Ist es da verwunderlich, daß Kinder den Mut verlieren und völlig abschalten? Ein Lob oder ein Ausdruck des Vertrauens gibt einem Kind soviel Kraft und Freude, daß es oft wirklich erstaunliche Leistungen erbringt. Aber auch wenn es in einer Krise steckt (Trotz alter, Pubertät), oder nicht entspricht, muß es spüren, daß die Eltern zu ihm stehen und es nicht allein lassen. Gemeinsames Feiern, Spielen und Singen verstärkt das Gefühl der Zusammengehörigkeit; auch die Freunde der Kinder sollen in das Familienleben miteinbezogen werden.

VI. Gebet in der Familie Zur Gemeinsamkeit in der Familie gehört ganz wesentlich auch das Gebet, das gemeinsame Stehen vor Gott. Es braucht schon einige Anstrengung, bei den unterschiedlichen Arbeits- und Schul zeiten noch täglich eine Zeit der Besinnung zu finden, in der das gemeinsame Gebet möglich wird. Mit den kleineren Kindern geht es noch leichter, bei den größeren sind schon verschiedene Hemmungen da, die berücksichtigt werden müssen. Es ist sehr hilfreich, wenn außer den geformten Gebeten auch manchmal versucht wird, frei zu beten oder wenn die Kinder selbst passende Gebettexte auswählen dürfen. Durch das Gebet erfahren die Kinder und Jugendlichen den Sinn des Lebens über die irdischen Werte hinaus und bekommen die Grundlage für ihren persönlichen Glauben. Kinder sollten bei ihren Eltern das Vertrauen auf Gottes Güte und Liebe erleben. Wenn es wieder mehr Familien gäbe, die selbstverständlich auf einem religiösen Fundament stehen, wo der Glaube und die Nächstenliebe täglich gelebt wird, müßte es auch öfter möglich sein, daß junge Menschen im Priester- oder Ordensberuf ihren Lebensinhalt finden.

VII. Fernsehen in der Familie Die schwedische Dichterin Astrid Lingren sagte einmal: "Die Welt von morgen wird so ausschauen, wie sie heute in der Phantasie derjenigen ist, die gerade lesen lernen." Sie will damit sagen, daß die Entwicklung der Phantasie, der Traumwelt eines Kinder wichtig für seine

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geistige Entfaltung ist. Wenn man diesen Gedanken auf das Fernsehen überträgt, könnte es einem Angst werden, wie die Welt von morgen ausschauen wird. Was geistert doch in den Köpfen der Kinder herum, die täglich Stunden vor dem Fernseher zubringen; Werbung, niedliche Trickfiguren, gekünstelte Helden, und leider auch viele brutale Szenen, die Kinder überhaupt nicht verkraften können. Fernsehen sollte grundsätzlich nicht zur ersten Freizeitbeschäftigung in der Familie werden. Obwohl wir keinen Fernseher haben, kommt bei den Kindern keine Langeweile auf. Es bleibt dafür mehr Zeit zum Lesen, Basteln und Spielen. Der oft zitierte Informationswert des Fernsehens steht in keinem Verhältnis zur mangelnden Kreativität und zur Konzentrationsschwäche, die durch zu häufiges Fernsehen ausgelöst wird.

VIII. Lebensstandard Es ist klar, daß Eltern für ihre Kinder manchen Verzicht auf sich nehmen müssen. Trotzdem ist es nicht richtig, wenn ein Großteil der MehrkinderfamiIien unter die Armutsgrenze fällt. Auch für Eltern mit mehreren Kindern sollte ein angemessener Lebensstandard möglich sein. Es gibt viele Familien, die trotz großem Fleiß und sparsamer Haushaltsführung sehr knapp durchkommen, die sich weder einen einfachen Urlaub, noch ein paar Schitage oder Ähnliches leisten können. Es ist für Kinder schwer, wenn sie bei vielen Dingen aus finanziellen Gründen nicht mitmachen können. Hallenbäder und Liftgesellschaften könnten durch großzügige Ferienangebote vieles ermöglichen, ohne dabei wesentliche finanzielle Einbußen zu erleiden. Auch die Eltern könnten noch mehr zur Selbsthilfe greifen, durch Austausch von Kleidungsstücken und Sportartikel. Auch wenn man Kinder dazu erzieht, daß sie nicht alles bekommen können, ist es doch eine Zumutung, daß eine raffinierte und gewissenlose Werbung stets neue Bedürfnisse weckt. Die Forderung nach einem gerechten und wirksamen Familienlastenausgleich ist völlig legal. Vor allem der Mehrkinderfamilie müßte kräftig geholfen werden. Je mehr Kinder in einer Familie, desto kleiner wird das freiverfügbare Einkommen. Es wäre daher Sache eines gerechten Familienlastenausgleichs, einmal einen Teil der entstehenden Kinderkosten abzudecken und zum zweiten das Existenzminimum der Familie steuerfrei zu belassen. Jene Familien, die das Existenzminimum nicht erreichen, müßten vom Staat eine Ausgleichszahlung erhalten. Die derzeitige Entwicklung benachteiligt allerdings immer mehr die Mehrkinderfamilie.

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IX. Treue - Beständigkeit - Scheidung Die Weichen für das Scheitern einer Ehe werden oft schon vor der Eheschließung gestellt. Durch die heute so leichtfertig eingegangenen sexuellen Beziehungen verlieren viele junge Menschen das Gespür für die Voraussetzungen zu einer dauerhaften Bindung. Dabei wäre gerade die Zeit vor der Ehe so wichtig für die Einübung in echte Partnerschaft außerhalb der Sexualität. Gemeinsame Gespräche und Zärtlichkeiten können den Partnern helfen, sich wirklich innerlich kennenzulernen und näherzukommen. Und wenn der Verzicht auch nicht leicht fällt, dann ist er ein Geschenk, das jeder Partner in die Ehe mitbringt. Es zeugt von Selbstbeherrschung, Geduld und Rücksicht auf den anderen, Eigenschaften, die im Ehealltag lebensnotwendig sind. In seinem Buch "Mensch sein" schreibt Theodor Bovet über die Beständigkeit der Ehe: "In der Ehe ist das ausdrückliche Treueversprechen grundlegend. Geborgenheit ist der feste Grund, auf dem die Ehe steht. In der lebendigen Ehe fühlt sich ein Ehegatte beim anderen geborgen, weil er überzeugt ist, daß dieser es mit ihm gut meint, daß er nicht seinen persönlichen Vorteil sucht, sondern das, was für beide gut ist. Jeder Partner schafft um den anderen den gesicherten Raum, in dem er so werden kann, wie Gott ihn gemeint hat. Echte Liebe wird durch die Dauer nicht abgeschwächt, sie wird vielmehr vertieft, wird strahlender, erfüllender. Daher ist die Beständigkeit der Ehegatten ein wesentliches Element der Liebe." Wenn man diesen Worten die neuen Scheidungsgesetze gegenüber stellt, dann wird klar, wie wenig diese getragen sind von einer hohen Wertschätzung der Ehe. Jeder Kaufvertrag ist schwerer zu lösen als eine Ehe. Es wird so getan, als sei eine Scheidung die einzige Möglichkeit der Konfliktlösung. Der Gesetzgeber sieht nicht einmal den Versuch vor, die Ehe zu retten. Dabei gibt es durch die seit einigen Jahren bestehenden Eheberatungsstellen doch große Chancen, Konflikte zu beseitigen oder erträglich zu machen. Wieviel Leid eine Scheidung für die betroffenen Kinder und den verlassenen Partner bedeutet, interressiert den Gesetzgeber nicht. Die Ehe auf Zeit durch die Fristenautomatik bedeutet einen schweren Schlag gegen die Stabilität von Ehe und Familie.

x.

Schule

Die Aufgabe der Schule ist es, in enger Zusammenarbeit mit den Eltern Wissen zu vermitteln und die Entfaltung der Kinder zu fördern. Die Bestrebungen zur Ganztagschule müssen abgelehnt werden, weil die Kinder dadurch dem Elternhaus entfremdet werden. Auch in den Lesebüchern ist der Trend zu entdecken, ein negatives Bild der Familie 27 Festschrift Rossl

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zu zeichnen. Das Kind liest von Lieblosigkeit, erlebt Angst, Unverständnis, das Elternbild wird verzerrt. Der Boden wird bereitet für die Auflehnung als gutes Recht. Die Elternvereine haben die wichtige Aufgabe, sich gegen solche Literatur zu wehren. Der Verwirrung durch undurchschaubares Experimentieren gehört Einhalt geboten. Der rasche Wechsel von Lernbehelfen, Büchern und Methoden verunsichert Eltern und Kinder. Fast könnte man dahinter ein System vermuten, das darauf abzielt, den Eltern ihre Unfähigkeit in schulischen Angelegenheiten zu beweisen. Es grenzt schon an Zynismus, wenn den Lehrern und Eltern für Erstkläßler 13 verschiedene Fibeln zur Auswahl angeboten werden. Unter dem Deckmantel vermeintlicher Demokratisierung der Schule wird immer weniger auf die echten Bedürfnisse der Kinder und Eltern eingegangen. Auch bei der Festsetzung der Stundenpläne wäre mehr Rücksicht auf die Familie notwendig. Durch vermehrte Kompetenzverlagerung auf die Bundesländer könnte das Schulwesen überschaubarer gestaltet und den regionalen Bedürfnissen angepaßt werden.

XI. Selbsthilfe der Familien In Österreich bestehen schon an vielen Orten Familienrunden. Besonders in der Isolation der Großstädte können diese "Familien der Familien", wie Dip!. Ing. Dr. Hans Millendorfer sie nennt, sich gegenseitig große Hilfen bieten. Durch gemeinsames Gebet, Bibelgespräch, Erfahrungsaustausch und gesellige Unternehmungen stellen sie für jede Ehe und Familie eine Bereicherung dar. Auch die Kinder werden nach Möglichkeit in die Gemeinschaft einbezogen. Besonders ausgebaut werden sollte die Aufnahme alleinerziehender Mütter oder Väter in diese Runden, weil sie ja besonders in der Gefahr sind, zu vereinsamen. über die Familienrunden hinaus müssen die Familien eine Vertretung in der Öffentlichkeit haben. Dies führte vor 26 Jahren zur Gründung des Vorarlberger Familienverbandes, der sich, soweit es zur Wahrung gemeinsamer Interessen notwendig ist, dem Katholischen Familienverband Österreichs anschloß. Es wurde hier ganz bewußt das Prinzip der Subsidiarität gewahrt, wobei sich der Landesverband wiederum in selbständige Ortsstellen gliedert. Dadurch ist die so notwendige Basisarbeit und die Gewinnung von Mitgliedern gewährleistet. Tatsache ist, daß es durch die viele Kleinarbeit und den unerschütterlichen Glauben an den unersetzbaren Wert der Familie möglich war, vieles für die Familien zu erreichen. War es in der Gründungszeit hauptsächlich die Sorge um die materielle Absicherung der Familie, die Behebung der Wohnungsnot, die Gesundheitsvorsorge und die Sicherung der Pensionen, so geht es heute in vermehrtem Maße

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darum, das zur Gründungszeit noch mehr oder weniger selbstverständliche Fundament der Gesellschaft, nämlich Ehe und Familie, gegenüber Staat und Gesellschaft zu verteidigen. Und diese Sorge um das Fundament wird durch das Wissen und die bittere Erfahrung bestärkt, daß die Vernichtung des Lebens im Mutterschoß mit zu einem Bestandteil der heutigen Familienpolitik geworden ist. An der Mitgliederbewegung des Vorarlberger Familienverbandes ist auch klar der gesellschaftliche Wandel der letzten 26 Jahre erkennbar. Die in der Gründungszeit im Vordergrund stehenden Probleme bewogen viele Familien zum Beitritt. In den frühen 70er Jahren, zu Zeiten der Höchstkonjunktur, sank allerdings die Mitgliederzahl ab. Wie oft wurde gerade in jener Zeit uns und unseren Mitarbeitern gesagt: "Wozu brauchen wir den Familienverband? Es geht uns doch so gut wie nie zuvor!" Nun - die Zeiten haben sich gewandelt. Allmählich beginnen die Menschen in vermehrtem Maße sich auf die wesentlichen Werte zu besinnen und lassen sich nicht nur vom allzu vergänglichen wirtschaftlichen Wohlstand blenden. Seit drei Jahren können wir daher im Verband eine Zunahme von Mitgliedern feststellen, so daß sich zum Vorarlberger Familienverband heute rund 10200 Familien bekennen. Großen Anteil an der Entwicklung des Familienverbandes hatte einer der größten Familienpolitiker unserer Republik, der Ehrenobmann des Vorarlberger Familienverbandes, Herr Altnationalrat Dip!. Ing. Pius Fink aus Andelsbuch.

XII. Familienstimmrecht Mit einer Selbstverständlichkeit erwarten die Gesellschaft und der Staat von den Eltern, daß sie bis zur Geschäftsfähigkeit ihrer Kinder diese Aufgabe übernehmen. Es wird den Eltern mit Recht zugemutet, daß sie für ihre Kinder Verantwortung in allen Lebensbereichen zu tragen haben, selbst dann, wenn die Kinder auf Abwege geraten. Ist dann die Forderung nicht begründet, auch für diese ihre Kinder eine Stimme abgeben zu dürfen? Wie lange müssen wir eigentlich noch zusehen, wie leichtfertig über die Zukunft unserer Kinder entschieden wird? Es kann uns Eltern nicht gleichgültig sein, ob beispielsweise die Pornographie freigegeben wird, oder durch die Herausgabe von Unterrichtsbehelfen unsere Kinder immer mehr das Freiwild politischer Parteien werden und dadurch eventuell einer unerwünschten Gesellschaftspolitik in der Schule ausgesetzt werden. Für daraus resultierendes Fehlverhalten der Kinder und Jugendlichen werden dann aber natürlich die Eltern mit zur Verantwortung gezogen. Es kann den Eltern auch nicht gleichgültig sein, welche Wirtschafts- und Energiepolitik in einem Staate betrieben wird.

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Schließlich hängt diese eng mit der Zukunft unserer Kinder zusammen. All das sind Gründe, die Kinder durch ihre Eltern bei Wahlen zu Wort kommen zu lassen. Oder will man den Eltern die Fähigkeit absprechen, in diesem Bereich verantwortlich für ihre Kinder und Jugendlichen zu handeln? Ist es gerecht, den Kindern und Jugendlichen das Wahlrecht zu verwehren, ihnen in den späteren Jahren aber zuzumuten, die eventuellen Konsequenzen einer falschen Politik mitzutragen? Nach dem heutigen Wahlrecht wird einem anonymen Personenkreis widerspruchslos zugebilligt, daß er für die Kinder anderer Leute die politischen Weichen stellt. Und genau das sollte durch das Wahlrecht für Kinder - sprich Familienstimmrecht - verhindert werden. Ist es wirklich ein Unrecht, wenn wir für jeden Staatsbürger eine Stimme fordern, oder werden die Kinder erst ab dem 19. Lebensjahr vollwertige Menschen? Wäre das Wahlrecht nicht ein Grundrecht für jeden Menschen? Eine vehemente Verfechterin des Familienstimmrechts ist Frau Staatssekretärin Dr. Renate Hellwig in Rheinland-Pfalz. Sie wies in ihrem Referat am 29. April 1978 bei der Arbeitstagung des Familienbundes Deutscher Katholiken in Bamberg darauf hin, daß in der Bundesrepublik Deutschland die Familien zwar 70 Ofo der Wohnbevölkerung, aber nur 30 % der Wahlbevölkerung ausmachen, weil nämlich die übrigen alle minderjährige Kinder sind, die sich eben bei der Wahl nicht niederschlagen. Bereits eine überschlägige Berechnung ergibt, daß sich damit die Zahl der Wahlberechtigten um mehr als 25 Ofo erhöhen würde. Die Parteien wären gezwungen, weit stärker als bisher die Interessen der Familien zu vertreten. Die Politiker müßten um mehr als 25 Ofo zusätzlicher Stimmen kämpfen, in dem Bewußtsein, daß sie diese Stimmen nur erringen, wenn sie aktive Familienpolitik machen. In Österreich wäre die Situation nicht wesentlich anders. Wenn es allen Politikern mit der Familie so ernst ist, wie sie durch ihr Lippenbekenntnis versuchen, glaubhaft zu machen, wäre die Einführung des Wahlrechtes für Kinder eine radikale Umkehr zur echten Familienpolitik. Verwunderlich, daß sich bis heute noch keine politische Partei und nur wenige Eherechtsgelehrte dieser Materie annahmen. Diese Herausforderung einer zukunftsorientierten Politik sollte aufgegriffen werden. Die Kirche ging in verschiedenen Diözesen durch die Einführung des Familienstimmrechts bei Pfarrgemeinderatswahlen mit gutem Beispiel voran. Der Generationenkonflikt kann immer noch in der Familie am besten bewältigt werden. Daher ist auch eine Stimmabgabe der Eltern für ihre Kinder der beste Garant für eine Zukunft, in der unsere Kinder und Kindeskinder noch existieren können.

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XIll. Ehe- und Familienbildung der Diözese Feldkirch Abschließend möchten wir noch über ein neues Projekt berichten, das im Herbst 1978 in Vorarlberg begonnen wurde. Initiator dieses Projektes ist Dr. Elmar Fischer, Leiter der diözesanen Eheberaterschule und Rektor des bischöflichen Knabenkonvikts Marianum in Bregenz. Der Grundgedanke ist, daß es nicht mehr genügt, ausschließlich entstandene Schäden zu heilen, wie es in der Eheberatung geschieht, sondern wieder die Voraussetzung zu schaffen, daß gute Ehen gegründet werden. Ein paar statistische Zahlen belegen die Notwendigkeit dieses Angebotes: Im Jahre 1967 waren im Land Vorarlberg 2029 staatliche Eheschließungen zu verzeichnen, diesen standen 242 gerichtliche Ehescheidungen gegenüber - das sind 11,93 0/0. Im Jahre 1977 waren im Lande 1737 Eheschließungen zu verzeichnen, denen 407 gerichtliche Scheidungen gegenüberstanden, das sind 22,03 0/0. Würde die Anzahl der Scheidungen auf die Anzahl der Ersteheschließungen hin errechnet, wäre die Prozentziffer noch um einiges höher. Die Eheschließungsziffer selbst sank vom Jahre 1967, wo sie bei 0,77 0/0 lag, auf 0,59 % im Jahre 1977, sie liegt somit unter dem österreichischen Durchschnitt am unteren Ende der entsprechenden europäischen Ziffern. Während bis zum Jahre 1972 eigentlich alle jungen Leute, die ins heiratsfähige Alter kamen, auch - wenigstens standesamtlich - geheiratet haben, tut dies seit diesem Jahr eine wachsende Zahl (300 bis 700 jährlich) junger Paare nicht mehr. Die Hintergründe dieser Entwicklung sind nicht erforscht, lassen aber für die Zukunft eine starke Zunahme der menschlich-persönlichen Probleme erwarten. Im. Jahre 1967 wurden in Vorarlberg 5870 Kinder geboren, im Jahre 1977 waren es 4628. Die Geburtenziffer lag 1967 bei 2,220/0. Sie sank bis zum Jahre 1977 auf 1,56 % und bewegt sich somit gegen die Regenerationsgrenze hin. Dieser Rückgang der Geburten dürfte eine wesentliche Ursache in der zunehmenden Unsicherheit der Ehebindungen und den damit verbundenen Partnerproblemen haben. Diese und andere Fakten führten in enger Zusammenarbeit mit dem Vorarlberger Familienverband zur Gründung des diözesanen Ehe- und Familienzentrums. Trotz vehementen Widerstands durch die Sozialisten und Freiheitlichen wurde durch den Vorarlberger Landtag mit den Stimmen der ÖVP die Subventionierung dieses Projekts zugesichert. Das Zentrum für Ehe und Familie möchte in den kommenden Jahren folgende Aufgaben wahrnehmen und weiter ausbauen: 1. Zentllaler Bereich der primären Ehe- und Familienbildung:

Bildung der Beziehungs- und Partnerschaftsfähigkeit,

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Bildung für die Phasen der Ehe - vor, - mit, - nach den Kindern. Schulung der Erziehungsfähigkeit: Einsicht in die verschiedenen Entwicklungsphasen und deren pädagogische Erfordernisse, Einblick in verschiedene erzieherisch relevante Eigenheiten unserer gesellschaftlichen und kulturellen Situation und deren pädagogische Bewältigung. Leben und Erziehen ohne Partner. Pflegeeltern: Ausbildung und Betreuung für Sondersituationen. Bildung vor der Ehe: Seminare für die Altersstufe der 16/17-Jährigen mit der Thematik "Fähig werden zur Liebe", Seminare für die 18/19-Jährigen "Vorfragen der Partnerschaft", Seminare in unmittelbarer Ehevorbereitung. 2. Sekundäre Ergänzungsbildung:

Sachkenntnisse und Fertigkeitsbildung für die Ehe (z. B. Kochen, Nähen, Säuglingspflege, Gesundheitsfragen ...) Bildung in Fragen der Freizeitgestaltung, der Kreativität. 3. Öffentlichkeitsarbeit:

Um eine positive "Klimaveränderung" im Denken über Ehe und Familie zu schaffen, um die Bildungsarbeit in der Öffentlichkeit durch die verschiedenen Medien zu präsentieren, und auch dafür zu werben, ist eine sachkundige konstruktive Information der Bevölkerung in den Bereichen Ehe, Familie, Sexualität anzustreben. Ehe- und Familienbildung soll den Partnern jenes Rüstzeug geben, mit dem Lebensaufgaben und -problematiken konstruktiv zu lösen sind. Sie arbeitet prophylaktisch. Beratung und Therapie - so sinnvoll und notwendig sie sind - ist doch zu allermeist Arbeit mit nur einer Person oder doch sehr kleinen Gruppen. Bildungsarbeit wird in größeren Gruppen geleistet. Beraterische und sozialtherapeutische Erfahrung zeigen, daß Hilfen häufig erst dann aufgesucht werden, wenn destruktive Entwicklungen in der Partnerschaft oder Erziehung schon zu hohen psychischen oder physischen Belastungen, Fehlleistungen oder Katastrophen geführt haben. Die Arbeit der Sozialfürsorge schafft dieselbe Erkenntnis zutage. Demgegenüber will die Bildungsarbeit das Gespür für gesunde Entwicklung, für gemeinschaftsaufbauendes und -stärkendes Verhalten schärfen. Wir dürfen heute nicht mehr als Selbstverständlichkeit voraussetzen, daß die Kinder und Jugendlichen die Liebe und Geborgenheit der Familie erfahren. Um so mehr ist es notwendig, auf dem Sektor Ehe-

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und Familienbildung alle Anstrengungen zur Regeneration der Familien zu unternehmen. Unser großer Wunsch ist es, daß diese unsere Bemühungen auch von höchsten kirchlichen Stellen unterstützt werden. Durch eine intensive ideelle Unterstützung wäre es auch sicher möglich, Regierungen und öffentliche Stellen zur intensiven Förderung derartiger Projekte zu animieren. Wir sind überzeugt, daß jeder in derartige Bestrebungen investierte Betrag die Sozialbudgets der Regierungen auf längere Sicht um ein Vielfaches entlastet. Durch den besonderen Einsatz des Landeshauptmannes Dr. Herbert Keßler ist in Vorarlberg ein Anfang gesetzt, der hoffentlich eine Ausweitung erfahren wird und auch in anderen Ländern Nachahmung findet. Basis für einen gesunden und sozialen Staat sind lebenstüchtige und zu Eigenleistungen bereite Familien. Letzteres ist dann möglich, wenn der Familie vom Staat und der Gesellschaft ein hoher Stellenwert eingeräumt wird. Wenn aber die negative öffentliche Meinung und die familienfeindliche Atmosphäre überhand nimmt, werden immer weniger Menschen in der Lage sein, eine gute Familie aufzubauen. Es begegnen uns zwar selten Mitbürger und noch weniger Politiker, die offen gegen die Familie auftreten. Im Gegenteil, alle preisen die Familie und ihre fundamentale Bedeutung für den Staat. Steht die Realität aber im Einklang mit den vielen positiven Aussagen oder ist Familie mehr oder weniger zu einem Schlagwort geworden, das bis zur Bedeutungslosigkeit strapaziert wird? Ist es nicht so, daß die echten Anliegen der Familien im Kompetenzdschungel unseres komplizierten Staatswesens hängen bleiben? Die Gemeinde schiebt's auf's Land, das Land auf den Bund und umgekehrt. Wer auf der Strecke bleibt, sind aber die Familien. Wie ist es sonst erklärlich, daß bis heute nicht im Entferntesten daran gedacht ist, die Familie als unantastbare Einheit in der Verfassung zu verankern? Obwohl bekannt ist, daß die Renten schon in absehbarer Zeit nur dann noch abgesichert sind, wenn wir möglichst viele Mehrkinderfamilien haben, wird die Mehrkinderförderung systematisch zu Gunsten der Einkindfamilie abgebaut. Zudem wird das Konkubinat gegenüber der rechtmäßigen Ehe steuerlich und finanziell bevorzugt. Die ungeborenen Kinder, die Ehen und Familien wurden in unserem Staat seit der SPÖ-Alleinregierung gefährdet. Die Familien tragen heute in vermehrtem Maße zum Staatswohle bei. Es muß daher ureigenstes Interesse des Staates sein, die Existenzbasis der Familien zu sichern und auszubauen. Bei den politischen Weichenstellungen wird in Hinkunft vermehrt darauf Bedacht genommen werden müssen, daß die Familien und vor allem deren Kinder nicht all-

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mählich zu den Sklaven jener degradiert werden, die weder bereit sind, mit den Gütern dieser Erde sparsam und sinnvoll umzugehen, noch willens sind, selbst Kinder zu haben und die damit verbundenen Opfer auf sich zu nehmen, aber es für selbstverständlich halten, daß andere im Alter für sie sorgen. Die Weichenstellung erfolgt letztlich durch den Stimmzettel. Es werden künftig verschiedene einflußreiche kirchliche Stellen nicht umhin kommen, auch vor den Wahlen zu erklären, was für Christen noch tragbar ist. Schweigen vor derartigen Weichenstellungen, wie es Nationalratswahlen sind, bedeutet, sich mitschuldig machen an den heute schon herrschenden chaotischen Zuständen. Doch auch die Bundesländer haben vielfach Möglichkeiten, in ihren Kompetenzen die Familien zu fördern. Es ist, so glauben wir, ein Gebot der Stunde, zum Teil die Versäumnisse des Bundes im ideellen als auch materiellen Bereich auszugleichen. Familientarife für landeseigene oder vom Land geförderte Einrichtungen wie beispielsweise Seilbahnen, Bäder oder Erholungseinrichtungen müßten zur Selbstverständlichkeit werden. Die Wohnbaurichtlinien müßten auf ihre Familienfreundlichkeit hin geprüft werden. Wir wollen nicht, daß die Frau zum Werbeund Lustobjekt degradiert wird, und das Bild der Hausfrau und Mutter immer mehr verzerrt wird. Der geistigen Umweltverschmutzung gehört Einhalt geboten und den verantwortungslosen Geschäftemachern das Handwerk gelegt. Es kommt daher nicht von ungefähr, daß auch in diesen Bereichen die Kompetenzverlagerung auf die überschaubare Bundesländerebene gefordert wird. Im besonderen Maße liegt es an den Gemeinden, für eine familienfreundliche Atmosphäre und die Lebensqualität der Familien Sorge zu tragen. Die Anstellung von Familienhelferinnen, die Gestaltung familienfreundlicher Tarife, Gestaltung von Kulturveranstaltungen für die Familie, die Schaffung von Freizeiträumen, Kinder- und Jugendspielplätzen sollte zur Selbstverständlichkeit werden. Sämtliche Entscheidungen innerhalb der Gemeinden und Städte sollten auch nach ihrer Familienfreundlichkeit hinterfragt werden. Vieles könnte dadurch mit geringem Aufwand für die Familien zum Besseren bestellt sein. Die Grundlagen einer lebendigen Kirche sind christliche Familien. Die christliche Lehre stellt hohe Anforderungen an Ehe und Familie. Damit diese auch erfüllt werden können, muß die Kirche den Menschen vermehrt Orientierungshilfen geben. Alle, die sich um ein christliches Familienleben bemühen, sollen spüren, daß sie nicht allein gelassen sind. Sie brauchen von der Kirche in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung immer wieder Mut und Zuversicht. Die Seelsorge muß die Familie möglichst als Ganzes sehen, z. B. bei der Gestaltung von Ge-

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meinschaftsgottesdiensten und der Organisation von kirchlichen Veranstaltungen. Auch den Firm- und Kommunionrunden kommt eine große Bedeutung zu. Mehr Toleranz wäre oft nötig, wenn Eltern mit kleinen Kindern die Messe besuchen, weil auch die Kinder in die Gemeinschaft der Kirche hineinwachsen sollen. Die Eheleute sollen darauf hingewiesen werden, daß sie aus dem Sakrament der Ehe und dem Gebet immer wieder Kraft schöpfen, den Alltag zu bewältigen. Papst Pius XII. rief anläßlich einer Audienz im Jahre 1956 einer Delegation des Kath. Familienverbandes zu: "Heilig sei Euch die Eheschließung; Heilig sei Euch das Eheleben; Heilig sei Euch das Familienleben!" Wenn sich die Familien, und vor allem die Verantwortlichen in Bund, Ländern und Gemeinden an diese Leitsätze hielten, müßte uns um die Zukunft unseres Volkes nicht bange sein.

DIE FAMILIE IN PASTORALMEDIZINISCHER SICHT Von Gottfried Roth Die Erörterungen über das obige Thema müssen zweifelsohne vom Menschenbild jener Wissenschaft ausgehen, die theologische und medizinische Bereiche vereinigt, vom Formalobjekt der Pastoralmedizin, vom Menschen, der Natur- und Geistseele-Wesen ist (Geist als Seele des Leibes, Leib als Medium des Geistes, personale Ganzheit - E. Coreth 1973): Animal rationale und ens humanum, für sich (ens individuale) und auf ein menschliches Du (ens sociale) und auf ein göttliches Du (ens religiosum) hingeordnet, auf dem Weg (ens historieum, homo viator), homo ludens und homo faber; von Leid und Krankheit bedroht, gefährdet und behindert (homo patiens), mit vorgegebenen genetischen Möglichkeiten unterwegs, mit einem Leib relativer Eigenständigkeit (ens biologieum), Phasen und Krisen seines menschlichen Lebens durchlaufend, in Freiheit und Verantwortung (ens personale), in der Befristetheit seines Lebens (moriturus) bis zum Verlust seiner raumzeitlichen Gestalt im Sterben (moribundus), im Tod, der kein absolutes Ende ist. In dieser interdisziplinären Sicht ist der Mensch für sich, der Mensch in personaler und möglicher geschlechtlicher Gemeinsamkeit und der Mensch in seiner Verbindung zu Gott bestimmt: ohne die eben genannte dreifache Sicht wäre es wohl nicht möglich, dem aufgegebenen Thema gerecht zu werden. In einem ersten Teil soll die dreifache Weise menschlicher Verwirklichung näher dargestellt werden, um von dieser Basis aus in einem zweiten Teil ein Leitbild der zukünftigen Familie, die aus christlichem Geist lebt, zu entwerfen, unter besonderer Bedachtnahme der Erfahrung ärztlicher Menschenführung und ärztlicher Eheberatung.

Das Leben des Menschen verläuft in Phasen und Krisen, die ihn allmählich zu jener Reife führen, die die Bewältigung eines Lebens zu zweit und eines Familienlebens ermöglicht. Die Krisen sind notwendige Zeiten der Entscheidung und der Bewährung und führen jeweils in die nächste Phase über. Fehlentwicklungen erschweren einen zielstrebigen

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Lebensablauf; es kann auch zu neurotischen Behinderungen kommen, infolge Regression bzw. Retardierung oder Akzeleration. Schon sehr früh muß die Geschlechtserziehung des Kindes beginnen, die Bejahung der eigenen Geschlechtlichkeit, die Wertschätzung derselben durch die Eltern und Geschwister, die Erziehung zu gegenseitiger Achtung. Ganz allgemein: das Kind soll angenommen werden, es soll Geborgenheit vermittelt werden. Die Pubertät als erste Reifungskrise ist ein besonderer Lebensabschnitt, in dem sich entscheidet, ob in einer krisensicheren Weise die Entwicklung weitergehen kann oder aber, ob diese in eine Fehlform gerät. Im Zuge des körperlichen Wachstums kommt es zu einer deutlichen Ausprägung der primären und der sekundären Geschlechtsmerkmale, aber die Pubertät ist nicht nur eine Zeit sexueller Reifung, sondern auch eine Zeit der Persönlichkeitsentfaltung und der Suche nach einem menschlichen Du. Freilich, die Reifungskrise entläßt nicht den reifen Menschen, sondern den jungen Menschen mit beglückender Vitalität und jugendlicher Kraft. Die darauffolgende Jugendkrise ist ebenfalls eine milieuunabhängige Krise, die sich im körperlichen wie im seelischen Bereich manifestiert und den Jugendlichen lehrt, wie kompliziert, rauh und hart die Wirklichkeit ist, wie sehr sich das Erstrebte vom Erreichbaren, das Vorgestellte vom Wirklichen unterscheidet. Romano Guardini bezeichnete diese Jugendkrise als Krise der geistigen Geburt; nun entwickelt sich der Charakter mit Treue und Ehre, die innere Festigkeit der männlichen und weiblichen Persönlichkeit, die erst jetzt zum Vatersein und Muttersein befähigt, die stille Kraft des Festhaltens, des Ordnens, des Liebens. Fehlformen zeigen sich oftmals in manichäistischer oder sexualistischer Weise, in Sexualneurosen, die vielfach die Basis für das Unglück gegenwärtigen Familienlebens bilden. Sexualität bedarf der Einfügung in die Persönlichkeit, sie ist integrationsbedürftig wie andere menschliche, berufliche und kreative Bereiche. Gerade für den in seinem Werdensprozeß stehenden jungen Menschen bedarf es der vorehelichen Sittlichkeit im Sinne der Enthaltsamkeit; man kann dafür biologische, psychologische und anthropologische Gründe angeben. Wenngleich jeder Mensch nur als Mann oder Frau existiert und jeder diese seine Geschlechtlichkeit annehmen muß, um nicht in die Gefahr oder Verwirklichung einer neurotischen Destruktion zu kommen, so ist zu betonen, daß die volle Realisierung der menschlichen Person nicht an die Ausübung des Geschlechtsaktes gebunden ist. Sexuelle Betätigung ist etwas völlig anderes als die bewußte und vor allem die gemüthafte Annahme seiner eigenen Geschlechtlichkeit. Der jugendliche Mensch ist nicht daran gehalten, sich geschlechtlich zu betätigen, um er selbst zu

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werden - im Gegenteil, im Zuge einer vollmenschlichen Reifung, welche nicht einer verkürzten sexualisierten Daseinsweise entspricht, bedarf es zunächst der Freiheit von sexueller Bindung, welch letztere die Freiheit empfindlich einschränkt, es bedarf der Freiheit gerade auch von flüchtiger sexueller Bindung. Bedingte Reflexe im OrganischSexuellen des Menschen, die diesen nur mehr als Sexualobjekt begreifen und verstehen lassen, nicht als eine Person, bedingen eine irreversible Prägung, vermindern die Freiheit für eine künftige Wahl und Entscheidung. Auch ist die harmonische Ausbildung des (geschlechts-) hormonellen Gleichgewichtes unmittelbar nach der Pubertät noch nicht erreicht, die hormonellen Rhythmen müssen sich erst einspielen und eine allzufrühe Belastung unausgereifter biologischer Rhythmen gefährdet deren regelrechten Ablauf. Ungeordnete Sexualität bleibt infantil-fragmentarisch oder verwildert. Es kommt zu einer zunehmenden Entpersönlichung geschlechtlichen Verhaltens, der jeweils andere wird zum bloßen Objekt der eigenen Lustbefriedigung degradiert, weil durch das übergewicht einer allein biologisch gesteuerten Sexualität der Freiheitsraum für die Persönlichkeit als Ziel menschlicher Zuneigung verloren gegangen ist. Ein weiteres Motiv für die voreheliche Enthaltsamkeit ist die seelische Unreife der Jugendlichen; diese sind wohl körperlich ausgereift, doch fehlt ihnen der nötige Ernst für eine voll gelebte Geschlechtlichkeit. Mangelnde Not, fehlende Gefahr für das eigene Leben haben noch nicht genügend Bewährungssituationen gebracht, deren positive überwindung Erfahrung bringt für das "Abenteuer eines Lebens zu zweit"; tatsächlich Verantwortung für den anderen zu tragen, die Treue zu halten, zumal ja auch gemeinsame Schwierigkeiten noch nicht überwunden werden mußten. Die biologische Geschlechtsreife wird noch nicht getragen von einer allgemeinen menschlichen Reife. Vieles ist noch vorläufig, noch nicht genügend verpflichtend. Mit der Lösung der Funktionslust, mit der Entspannung der Sexualorgane ist es noch nicht getan. Verstört und hilflos, resigniert finden sich dann jene ein, um dem Arzt ihre Enttäuschung zu klagen und eine Entschuldigung zu finden. "Es ist kein Zeichen von Reife und auch keine Kunst, zum Geschlechtsverkehr zu kommen. Der Grad des Reifseins zeigt sich in der Fähigkeit zum Verzicht" (Hild). Ein wesentlicher Grund für die voreheliche Enthaltsamkeit ist die unabdingbare Einübung des Verzichtens. Das Leben in der Intimsphäre verlangt aus vielen Gründen Verzicht (Menstruation, Schwangerschaft, Müdigkeit, Krankheit). Wie sollte jemand verzichten können, wenn er es nicht eingeübt hat. Wie dankbar ist derjenige, wenn dieser Verzicht in Ausgeglichenheit und nicht in Unmut geübt wird. Die voreheliche Enthaltsamkeit wird nicht gefordert, um den Nichtverheirateten ein Erleben vorzuenthalten, sondern deswegen, um das künftige Glück zu möglichst

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voller Entwicklung kommen zu lassen. Jede vorzeitige Bindung greift störend in den Reifungsprozeß ein. Liebe von Mann und Frau bedeutet Bindung und bedeutet auch Einschränkung der Freiheit zugunsten des anderen, aus Liebe zum anderen. Aus all dem ergibt sich der Haupteinwand gegen den vorehelichen Geschlechtsverkehr: er ist ein Verstoß gegen die Liebe. Totale geschlechtliche Hingabe fordert den Raum einer gesicherten ehelichen Bindung für eine volle Sinnerfüllung. Der Charakter der Geschlechtlichkeit zielt aber nicht nur auf das gegenseitig gewährte Liebesglück, er ist auch dem Kind zugewandt, er ist familienstiftend. Eine Liebesbegegnung, die grundsätzlich das Kind ausschließt, ist hintergründig nur vom Lustgewinn gesteuert und bleibt ich-bezogen. Personale Hingabe kann nur vollzogen werden, kann nicht ausprobiert werden. Der krisensichere Weg für den Menschen nimmt seinen Ausgang von der personalen Zuneigung; von dieser aus erfolgt die Entscheidung, gegebenenfalls in Verantwortung und Treue diese Liebe bis in die Ekstase der Intimsphäre zu steigern und zu verwirklichen. Christa Meves schreibt in einem kleinen "Ehe-Alphabet" für ihre eigene Tochter und ihren zukünftigen Schwiegersohn folgende Mahnung: "Reißt die Sexualität nicht aus dem Zusammenhang, vergottet die Lust nicht, überwertet die Kunst im Bett nicht ... meßt den Grad Eurer Liebe niemals an derartigen Könnerschaften. Sexualität zum Lebensziel zu ernennen führt in die Sucht, ins Gieren nach raffinierten Neuerungen, in Abhängigkeit, Teufelskreise, zu Überdruß und Ekel. Sexualität ist eine Ausdrucksform der Liebe - die wunderbare Schale für ihr unsterbliches Feuer. Sexualität zum Gott zu ernennen, bedeutet Verrat an der Liebe und tötet sie über kurz und lang unweigerlich. Und ist dieses Paradies verspielt, führt kein Weg dahin zurück." In der Geschlechtserziehung soll die Dimension personaler Zuneigung die Ausgangsbasis sein, nicht die biologische Geschlechtsreife an sich; dann bedarf es mühseliger Sublimierungsbemühungen, die oftmals nicht ohne manichäistische Färbung bleiben. Auch läßt eine fehlverstandene Spiritualität der Ehe das gemeinsame Leben ohne Wärme und Geborgenheit. In einer Zeit, in der gerade Schlüsselbegriffe "umfunktioniert" werden, ist der Begriff Liebe mannigfachen Deutungen und Mißdeutungen ausgesetzt und wird häufig in einer einseitigen Verzerrung verwendet. Die griechische Sprache hat drei Wörter, aus deren Inhalt die Vielschichtigkeit besser abgelesen werden kann: Eros, Philia, Agape. Johannes B. Lotz hat diese Möglichkeiten deutlich gemacht. Der Sache nach meint Eros die sinnlich-triebhafte Liebe, die im Menschen

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als Leidenschaft aufbricht; sinnlich insofern, als der Lebensstufe der sinnlichen Erkenntnis zugehörend und dem Leibe verhaftet; triebhaft insofern, als Eros geradezu mit Naturnotwendigkeit hervorbricht und daher nicht wie das geistige Leben an der Freiheit teilhat. Philia ist die geistig-personale Liebe; geistig insofern als sie ihren Ursprung im menschlichen Ganzen unter Akzentuierung seines Geistes hat und insofern sie sich auf das richtet, was die Sinne allein nicht wahrhaben können; personal insofern, weil sie im Menschen als Person gründet und somit als die der Person eigene Liebe dem Tier versagt ist; weil sie aus Freiheit geschieht und weil in der Freiheit bereits die Einsicht mitgesetzt ist, die Einsicht einer Einung mit dem einmaligen unvertretbaren Du. Die dritte Gestalt des Liebens ist die der Agape, womit die göttlich-gnadenhafte Liebe gemeint ist, deren Wesensdarstellung dem Theologen zugehört. Sexus oder die Geschlechterliebe ist jene besondere Ausprägung und auch Steigerung des Eros, die aus der Verschiedenheit der Geschlechter oder aus der Eigenart von Mann und Frau entspringt. Damit ist vom Gehalt der Sprache her Wesentliches beigetragen zu einer Anthropologie der Geschlechtlichkeit. Sexualität ist in diesem Sinne etwas Verfügbares geworden, das integriert werden muß, das sich zunächst entwikkelt und reift und dann einer Leitung und Lenkung bedarf im Gesamt des menschlichen Lebens; gefährdet und bedroht von Fehlentwicklungen in allen Phasen und Stufen. Geordnet und integriert von der personalen Zuneigung der Philia, getragen vom Ungestüm des Eros der Leidenschaft, gewinnt die Liebe Gestalt, findet im Sexus ihren leiblichen Ausdruck und wird eingebettet in der den irdischen Bereich, den humanen Bereich transzendierenden Agape. Aus der bisherigen Darstellung ergaben sich die notwendigen Voraussetzungen für ein krisensicher geführtes Familienleben, ebenso auch Hinweise für mögliche Gefahren und Fehlhaltungen, denen die werdende Familie ausgesetzt ist. Aus der Sicht ärztlicher Menschenführung ist es möglich, ein Idealbild der christlichen Familie der Zukunft zu entwerfen, weil aus dem Versagen, aus Fehlformen deutlich wurde, wie sehr die gegenwärtigen weltimmanenten Zielsetzungen und Versuche ehelichen oder eheähnlichen Lebens ihr Ziel nicht erreichen konnten. Die ärztliche Erfahrung aufgrund von Eheberatung und überhaupt ärztlicher Menschenführung erlaubt ein Leitbild der zukünftigen christlichen Familie zu entwickeln, nicht nur vom Negativen; denn Therapie bedeutet ja Ausrichtung auf ein heilsames Ziel.

Das Werden der christlichen Familie geschieht aus vielfältiger christlicher Haltung heraus; anfangs wurde beschrieben, was der Mensch in pastoralmedizinischer Sicht sei: seinem eigenen Wesen verantwortlich,

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den Mitmenschen zugetan, nach oben geöffnet, im Naturhaften verwur~ zelt und dem Leiblichen verbunden, in der Würde seiner Person, in der integrierenden Geistigkeit, vor der Aufgabe der Verwirklichung seines eigenen menschlichen Lebens, das in seinen Möglichkeiten durch Begabung und Neigungen vorgegeben, aufgrund von Freiheit verwirklicht oder vertan werden kann.

In pastoralmedizinischer Sicht ist die Familie Verwirklichung gött~ lichen Schöpfungsauftrages, zu verantwortendes Leben, verantwortete Elternschaft, verpflichtende Übernahme eines ehelichen Lebens und Verpflichtung für ein familienstiftendes Leben; Ja-sagen zur Ordnung unter den Mitmenschen, zur Gerechtigkeit unter den Menschen, zwischen Mann und Frau und Kindern, in einer Gemeinschaft aus Liebe. Das bedeutet Ja-sagen zu den phasenspezifischen Gegebenheiten der allgemeinen und der geschlechtlichen Reifung, Übernahme der Verpflichtung zu Gesundheit, Vorbeugung gegenüber genetischer Gefährdung oder besonderer Bedrohung durch Krankheiten; bejahte Einfügung in Familien und Sippen. Im Falle von späterer Krankheit geht es um Treue und Hilfe für den leidenden Menschen, immer um Geborgenheit für Kinder und Großeltern. Verantwortete Elternschaft besagt Rücksicht auf kommende Kinder, die möglichst gesunde Eltern haben sollten, Eltern ferner mit entsprechender ökonomischer Basis, ohne Gefährdung durch physische Not. Verantwortete Elternschaft besagt ein harmonisches Leben der Ehegatten untereinander, eine Ausgeglichenheit in psychischer Hinsicht, Zufriedenheit für sich und für die Kinder; sinnvolle Aufteilung der beruflichen und häuslichen Aufgaben und Belastungen. Die Großfamilie der bäuerlichen und handwerklichen Lebensgemeinschaften ist heute von der Kleinfamilie der sehr arbeitsteiligen technischen Welt abgelöst worden. Die patriarchalische Eheform ist vielerorts durch ein partnerschaftliches Leben ersetzt worden. Beide Eheformen haben ihre Vorteile und ihre Nachteile, so daß man sich anfangs des gemeinsamen Lebens schon einig werden muß, welcher Lebensweise oder welcher zeitmäßig begrenzten Lösung man den Vorzug geben will. Aus einer geglückten oder verfehlten Wahl hängt die Harmonie der Familie ab. Soziologische Wandlungen können in dem einen Fall Befreiung und in dem anderen Fall Einschränkung oder gar Neurotifizierung bedeuten. Die jeweiligen soziologischen Gegebenheiten wirken sich oft tiefgreifend auf das Familienleben aus, gewähren Gesundheit und Harmonie, können aber auch jenes belasten und gefährden und mitunter sogar zerstören. Die Hilflosigkeit der Neugeborenen, der Anspruch der Kinder auf Geborgenheit in allen Lebensphasen verlangen eine sinngerechte Form des Familienlebens und krisensichere Lösungen. Patentrezepte wird es wohl kaum geben können, allerdings Zielvorstellungen. Die einen werden ein Ehe- und Familien-

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leben vorziehen, in welchem der Mann fast ausschließlich außer Haus tätig ist, die anderen eine mehr arbeitsteilige Lösung bei beruflicher Tätigkeit der Frau außerhalb der Familie. Die Sorge von Mutter und Vater muß der Einheit der Familie gelten, diese soll durch Sonderwünsche nicht gefährdet werden, da sonst das Familienleben auf einen funktionellen Rest reduziert wird und aus dem Nebeneinander der Familienmitglieder allzuleicht ein Zerfall der Familiengemeinschaft resultiert. Die christliche Familie der Zukunft wird nicht nur bemüht sein, eine rechtlich fundierte und sozial gesicherte Gemeinschaft zu sein, sie wird nicht nur die notwendige Hilfe für die Kinder berücksichtigen, sondern auch jene für die alten Familienangehörigen. Die Eltern dürfen die alte Generation nicht an den Rand drängen. Die Enkel dürfen nicht um ihre Großeltern und diese nicht um ihre Enkel betrogen werden. Die drei Generationen Kinder, Eltern und Großeltern verlangen, um recht und glücklich leben zu können, nach einem bewußt geführten Gemeinschaftsleben, mit allein und gemeinsam verbrachten Zeiten. Der Erfahrungsschatz der alten Menschen dient den jungen Generationen, die Hilfe der Großeltern ist nicht nur ein billiger Ersatz für andere Hilfen, sondern notwendige Ergänzung für deren Kinder und Kindeskinder. Die christliche Familie der Zukunft ist bestimmt durch das Leben aus ihrer Mitte, im Alltag und zu Festzeiten; unter Bedachtnahme auf die alltäglichen Pflichten und die notwendigen Erholzeiten des Feierabends und des Wochenendes. Aktivität und Erholung sollen sich maßvoll abwechseln und ergänzen und das Gemeinschaftsgefühl vertiefen. Die Feste sollen nicht von gemachter Stimmung geprägt sein, sondern aus der Freiheit für sinnvolles Miteinandersein. Im Erleben der weltlichen und der kirchlichen Feste während eines Jahres werden Werden und Vergehen bewußt und die Wohltaten Gottes für den Menschen. Das Leben der christlichen Familie wird geprägt sein von der Ehrfurcht vor dem menschlichen Leben, des ungeborenen wie des erlöschenden Lebens, des in Freude und Not gelebten Lebens. Die christliche Familie läßt weder ihre schwangeren Mütter allein, noch ihre hilflosen Kleinkinder, noch die hilfesuchenden Jugendlichen, noch ihre mündigen Mitglieder, weder ihre Kranken noch ihre Sterbenden. Sie ist immun gegen eine Außenlenkung weltimmanenter Zielsetzungen, gegen Impulse für die Bequemlichkeit auf Kosten anderer, immun gegen die Manipulationen werdenden und endenden Lebens, gegen kurzsichtige Lösungen, die bloß neue Konflikte heraufbeschwören. Sie ist immun gegen weltimmanente Haltungen, die den einzelnen gefährden und beleidigen: übervorteilung und Betrug, Ungerechtigkeit und Grau28 Festschrift Rossl

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samkeiten aller Art - jede menschliche Regung kann ja süchtig entarten -, nicht nur durch Ablehnung, sondern - principiis obsta - von Anfang an durch sinnvolles Leben, das kein Vakuum aufkommen läßt, keine Frustration und keine Langeweile. Die christliche Familie der Zukunft lebt aus den ihr eigenen Quellen der Kultur und des Vaterlandes, ihre Mitglieder wissen sich in lebendiger Verbindung mit ihren Vorfahren und ihren Nachfolgern, den Schatz lebenswerten Lebens weitergebend und vermehrend durch eigene Kunst und Wissenschaft. Die christliche Familie ist, sonst wäre sie es gar nicht, gegründet auf religiösem Fundament, sie lebt stets aus der Verbindung zum göttlichen Du: das Leben, ihre Freuden, alles ist ihr Geschenk. Die christliche Familie der Zukunft lebt in der Kirche, selbst kleinste Form der Kirche, im Bewußtsein, daß eine Abschließung vor dem göttlichen Du krank macht, daß Vereinsamung des Ich im analogen, aber auch im medizinischen Sinn krank machen kann. Dies alles scheint nicht neu, ist schon in der Gegenwart möglich und auch wirklich. Aber der Prozeß der Säkularisierung in der Gegenwart macht den Blick auf die Zukunft notwendig. Die Gefahr, die erkannt wird, ist weniger gefahrvoll als die unbekannte Gefährdung. Es gibt Anzeichen genug, die darauf hinweisen, wie notwendig die christliche Familie sein wird, um von vornherein jene Leerräume nicht aufkommen zu lassen, in welche ungeordnete Leidenschaften und religiöser Wildwuchs hineinwuchern und den Menschen in eine Sinnlosigkeit verfallen lassen. Die Pastoralmedizin, die gleicherweise den leiblichen und den personalen Bereich des Menschen sieht, weist vorbeugend auf mögliche Gefahren hin wie auf heilsame Wege. Die ärztliche Ethik schützt menschliches Leben vor jeglicher Manipulation: heute ist nicht das schlechthin Medizinische geboten, sondern das ärztliche Verantwortbare. Die Pastoralpsychiatrie kennt die Irrwege aus Fehlentwicklung, Fehlverhalten, das aus Irrtum oder Schuld, aus Verführung oder aus eigener Maßlosigkeit kommt. Zur Vorbeugung kommt die Heilung. Familientherapie muß aus einer vollmenschlichen Sicht kommen, sonst bleibt die Gefahr der Zerstörung bestehen und wird zunächst nur überdeckt. Die Pastoralmedizin wird dem Menschen durch ihre interdisziplinäre Basis gerechter als einzelne Sparten der Humanwissenschaften. Die Verwirklichung des menschlichen Lebens hat einen biologischen und einen personalen Aspekt, die somatische Dimension des "Natur- und Geistwesens" Mensch hat einen durchaus instrumentalen Charakter, aber sie ist unabdingbar notwendig, denn nur mit Hilfe des Leiblichen vermögen sich die Menschen zu verwirklichen. Der Arzt hat immer den ganzen Menschen vor sich, niemals ein isoliertes Organ, ihm

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ist die personale Ganzheit des gesunden und kranken Menschen vertraut. Der christliche Arzt, der das Leben des gesunden und des kranken Menschen begleitet, wird dieses nicht nur als einen biologischen Prozeß verstehen, sondern als einen Weg der Reifung und der Erfüllung. Er weiß um den inneren Zusammenhang von Heilung und Heil; er weiß, daß diese individuelle Biographie einem heilsgeschichtlichen Weg entspricht; er wird zwar die Weltanschauung des nichtchristlichen bzw. des religiös indifferenten Patienten respektieren, aber aus der Sicherheit seines Glaubens antworten, wenn er etwa nach dem Sinn des Lebens gefragt wird. Aus dem doppelten, dem zweifachen Fundament der Pastoralmedizin kommt ein besseres Verständnis als aus mancher engführender Einzeldisziplin, die vereinseitigt und insofern auch verfälscht. Die weitere Basis ist notwendig gerade für die biologischen und personalen Aspekte des Familienlebens. Aus primär personaler Zuneigung, aus dem Freisein von vorehelicher sexueller Prägung, aus der Fülle leiblich-geistseelischer Gemeinschaft, aus zeitgerechter maßvoller Leidenschaft und familienstiftender Neigung, in der Geborgenheit der eigenen Familien und in rechtlich fundierter Sicherheit, aus dem Geschenk sakramentaler Verbundenheit erwächst die christliche Familie der Zukunft, auf Basis individuell-persönlicher, sozialer und religiös-kirchlicher Gegebenheiten, in der lebendigen Verbindung des menschlichen Ich mit dem menschlichen Du und mit dem göttlichen Du in der Gemeinschaft der Familie, der Kirche und des Vaterlandes. Hildegard von Bingen, Äbtissin, Theologin und Ärztin gab in ihrer Heilkunde Causae et curae ein Leitbild der christlichen Familie: "Die Sexualität gehört zum Urstand, zur constitutio prima oder genitura mystica. Im Anbeginn wurden Mann und Frau konstituiert in honestate, ... beide sind geschaffen zum Liebesbund: in uno amore vivebunt. Sinn der Kopulation ist neben der Fruchtbarkeit die Lebensentfaltung der Partner: Mann und Frau sind ein opus alterum per alterum. Letztlich ist menschliches Liebesleben Abbild göttlichen Lebens."

Literatur (in Auswahl) P. Chauchard: Vom Instinkt zur Liebe. Elemente einer biologischen Sexualmoral, Olten - München 1965. - F. E. von Gagern: Eheliche Partnerschaft. Die Ehe als Lebens- und Geschlechtsgemeinschaft, 5. Auf!. München 1963. R. Guardini: Die Lebensalter. Ihre ethische und pädagogische Bedeutung, Würzburg 1957. - S. HHd: Sexualerziehung. Ein Ratgeber für Eltern, Gütersloh 1964. - A. Lips: Mann und Frau in der Ehe, Wien - Freiburg - Basel 28'

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Gottfried Roth

1967. - Jhs. B. Lotz: Die drei Stufen der Liebe: Eros, Philia, Agape, 2. Auf!. Frankfurt am Main 1979. - J. Pieper: über die Liebe, München 1972. B. Strätling: Sexualethik und Sexualerziehung, Donauwörth 1970. - K. Wojtyla (Papst Johannes Paul 11.): Liebe und Verantwortung, Vatikanstadt 1979.

VATERLOSE GESELLSCHAFT? Von J ohannes Schasching SJ Vielleicht ist es vorteilhaft, das Thema durch zwei konkrete Beispiele einzuleiten. Das erste stammt aus Rom. Der Sohn einer durchschnittlich bürgerlichen Familie fährt mit einigen Freunden im Wagen nach Marokko auf Ferien. Der Wagen wird angeblich gestohlen, und der Sohn will nicht ohne Auto nach Hause zurück. Der einfachste Weg, zu Geld zu kommen, ist der Verkauf von Haschisch. Die Ware wird günstig gekauft und nach Italien gebracht. An der Spanischen Treppe wird unauffällig nach Kundschaft gesucht. Diese stellt sich auch bald ein. Sie will allerdings ein größeres Quantum. Das steht auch gleich zur Verfügung. Beim Vorzeigen der Ware entpuppen sich die Käufer als Polizisten, und das Geschäft endet mit der Verhaftung. Bei der Untersuchung stellt sich heraus, daß der junge Mann nicht nur mit Haschisch handelte, sondern selber bereits drogenabhängig war. Die Eltern geraten in Verzweiflung. Sie hatten nicht die leiseste Ahnung, was in ihrem Sohn seit Jahren vor sich ging. Er machte einen durchaus geordneten Eindruck, und für längere Gespräche fehlte die Zeit, da der Vater beruflich viel unterwegs sein mußte und die Mutter ebenfalls berufstätig war. Das zweite Beispiel stammt aus der Welt des modernen Managements, jener Welt, in der so viele Männer in kleinerer oder größerer Rolle leben. Einer von ihnen machte es so: Da er nicht Zeit hatte, den kleinen Alltag der Familie mit Frau und drei Kindern zu teilen, setzte er "punktuelle Schwerpunkte". Ganz ähnlich wie er es in seinem Beruf machte. Er hielt Familiensitzungen in regelmäßigen Abständen, genauso wie er es im Betrieb tat. Er ließ sich vorher berichten, überprüfte Unterlagen, stellte Diagnosen, um dann während der anberaumten Familiensitzung Weisungen zu erteilen: für das Wirtschaftsbudget der Frau, für das schulische Verhalten der Kinder, für eventuelle ärztliche Untersuchungen usw. Bis an einem Sonntag Nachmittag während einer solchen "Vorstandssitzung" plötzlich die Frau und die Kinder zu weinen begannen und dem Mann plötzlich klar wurde, daß sich die Aufgabe des Vaters nicht in "punktuellen Schwerpunkten" erschöpfen dürfe, sondern daß dazu noch viel mehr gehöre.

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Die beiden Beispiele aus der Wirklichkeit des heutigen Lebens sollten ein wenig dafür sensibilisieren, was in den kommenden Ausführungen behandelt werden soll. Das Thema der "vaterlosen Gesellschaft" soll in zwei Gedankenreihen aufgegliedert werden. Im ersten sollen die gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge des Rollenwandels des Vaters aufgezeigt werden. Der zweite Teil wird sich mit dem inneren Wandel der Intimgruppe Ehe und Familie befassen. Abschließend sollen einige Imperative für das konkrete Handeln formuliert werden.

I. GesamtgesellschaftIiche Veränderungen und Rollenwandel des Vaters Der Rollenwandel des Vaters in der heutigen Familie und in der Gesamtgesellschaft muß in einem größeren Zusammenhang gesehen werden!. Dieser läßt sich kurz folgendermaßen skizzieren:

1. Wandel der Autorität und Herrschaft. Es gibt gesamtgesellschaftliche Prozesse, die sich im Lauf der Zeit auch auf die einzelnen Sozialgebilde und auf das zwischenmenschliche Verhalten auswirken. Eines der markantesten Beispiele dafür ist der Wandel dessen, was man als Autorität und Herrschaft bezeichnen könnte. Dieser Wandel läßt sich durch drei Stichworte aufzeigen: Von der ungeteilten zur geteilten Herrschaft. Am auffallendsten zeigt sich dieser Wandel im politischen Bereich. Wie immer auch die konkreten Erscheinungsformen aussehen mögen, jede politische Macht beruft sich heute auf die Teilnahme und Kontrolle des Volkes. Die gleiche Entwicklung zeigt sich auf dem wirtschaftlichen Gebiet. Die Zeit ist längst vorbei, wo der Besitzer der Produktionsmittel der einzige Herrschaftsträger war. In der modernen Industriewirtschaft ist die Entscheidungsmacht nicht nur zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern aufgeteilt, sondern auch der Staat hat einen wesentlichen Einfluß auf die Gestaltung der Wirtschaft. Schließlich zeigt sich diese Teilnahme an Autorität und Herrschaft auch im kulturellen Bereich. Man denke hier etwa an die Beteiligung und Mitverantwortung der Eltern im Bereich der Schulen, der Studenten am Geschehen der Universität und der Mitglieder von Ortsgemeinden am kulturellen Leben. Auch innerhalb der religiösen Gebilde haben sich in den vergangenen Jahrzehnten eine Reihe von mitverantwortlichen Gremien gebildet. Von der unbegründeten zur begründeten Herrschaft: Der Soziologe Riesmann hat eine interessante Theorie vom Wandel der Herrschaft 1 Eine interessante Studie zu diesem Thema bedeutet die Veröffentlichung des Katholischen Familienverbandes Österreichs: Die Familie im Wandel der Industriegesellschaft, Wien 1972.

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entwickelt: In einer traditionsgeleiteten Gesellschaft ist die naturgegebene Autorität jene, die über die Erfahrung und Tradition verfügt. Das ist im wesentlichen der alte Mensch. Diese haben daher eine natürliche Autorität, die keiner weiteren Begründung bedarf. In einer "vernunftgeleiteten Gesellschaft" herrschen letztlich jene, die über hohe Begabung und scharfen Verstand verfügen. In einer "außengesteuerten GeseIlschaft", in der weder Tradition noch große Theorien entscheiden, sondern die sich ständig verändernden technischen Prozesse und Organisationen, verfügen jene über Macht, die sich diesem Wandel am reibungslosesten anpassen und unterordnen. Das sind aber für gewöhnlich die jüngeren Menschen und jene, die nicht durch "Vorurteile" gehemmt sind. Wie immer man zu dieser Theorie auch stehen mag, eines ist deutlich sichtbar: Die moderne Gesellschaft ist skeptisch gegenüber Autorität und Macht, die sich nicht legitimieren kann. "Natürliche Autorität" wird sofort als repressiv bezeichnet und abgelehnt.

Von der zeitlosen zur vorübergehenden Herrschaft: Damit hängt eine dritte Form des gesamtgesellschaftlichen Wandels von Autorität und Herrschaft zusammen. Weil sich Herrschaft und Autorität in der modernen Gesellschaft immer nur auf eine bestimmte Funktion beziehen, kommt es zu einer dauernden "Rotation der Eliten". Das mag in der Praxis gelegentlich ganz anders aussehen, aber die Grundtendenz ist sichtbar und läßt sich in verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens aufzeigen. Auswirkungen auf die Rolle des Vaters: Es bedarf keiner langen Begründung, daß sich dieser Wandel im gesamtgesellschaftlichen Verständnis von Autorität und Herrschaft auf das zum Teil noch stark traditionsbestimmte Vaterbild auswirkt2 • Die gesamtgesellschaftliche Tendenz geht in die Richtung einer Vaterrolle, die partnerschaftlichen Charakter trägt. Das Ehe- und Familienrecht der meisten Staaten bringt das klar zum Ausdruck. Die "natürliche Vaterrolle" in Verbindung mit traditionellen Begründungen wird zunehmender Kritik unterworfen. Damit gehört der Dialog wesentlich zur Vaterrolle von heute. Das Gespür für die rechtzeitige Abgabe von väterlicher Herrschaft war auch früher schon von großer Bedeutung. Heute gehört das zur schweren Gewissensnot der Väter: Wo ist ein Entlassen in die Freiheit notwendig und wo braucht es bei aller Partnerschaft und allem Dialog auch das Durchhalten der väterlichen Autorität. 2 Peter Neysters, Zwischen Patriachat und Partnerschaft Zum Problem der Rollenunsicherheit des Vaters, in: AKF - Berichte 3/4, Bonn 1978.

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2. Moderne Wirtschaft und Rollenwandel des Vaters. Die Aussagen über die vaterlose Gesellschaft gehen nicht zuletzt auf eine Reihe von Wandlungen im modernen Wirtschaftsprozeß zurück. Er läßt sich vielleicht folgendermaßen skizzieren:

Von der selbständigen zur arbeitsteiZigen Wirtschaft: Noch vor gut hundert Jahren waren über 60 Ofo der Väter in den bäuerlichen und handwerklichen Familienbetrieben beschäftigt. Damit war ihre Anteilnahme am Familiengeschehen gesichert und die Erfüllung der Vaterrolle auf den ganzen Tag verteilt. In der arbeitsteiligen Wirtschaft ist dies anders. Auch wenn der Vater noch jeden Abend in die Familie zurückkommt, so ist die familiengünstige Zeit trotzdem sehr knapp, weil die langen Anfahrtswege nicht selten einen beachtlichen Teil der Zeit in Anspruch nehmen. Der Kontakt mit den Familienmitgliedern erschöpft sich meist in Kurzfristen oder wird auf das Wochenende verlegt. Darüber hinaus gibt es aber nicht wenige Fälle, wo sich die Abwesenheit des Vaters auf mehrere Tage erstreckt. Die Gruppe der Wochenpendler und der Arbeiter im Sondereinsatz ist beachtlich. Man denke hier etwa an die große Zahl der Fernlastfahrer, die Spezialarbeiter im Ausland, die Schichtarbeiter. In besonderer Weise sind von dieser Abwesenheit des Vaters natürlich die Familien der Gastarbeiter betroffen. Man hat darüber interessante Studien gemacht, z. B. unter den Familien Siziliens, deren Väter in Deutschland arbeiten. Es wurde festgestellt, daß der abwesende Vater, der für den Familienunterhalt regelmäßig beachtliche Summen schickt, in einem gewissen Sinn idealisiert wird. Es hat sich außerdem gezeigt, daß in solchen Fällen die Sippe bewußt die Aufgabe des abwesenden Vaters übernimmt. Schließlich kam es in nicht wenigen Fällen überhaupt zu einer Reduzierung der Kontakte zur Umwelt, also zu einer Art Einigelung der vaterlosen Familie3 • Von der schöpferischen zur erschöpfenden Arbeit: Man darf die bäuerlich-handwerkliche Arbeitswelt keineswegs nur idealisieren und in der modernen arbeitsteiligen Wirtschaft nur eine Gefährdung sehen. Aber trotzdem läßt sich nicht leugnen, daß weite Bereiche des heutigen Wirtschaftsprozesses der schöpferischen Initiative wenig Spielraum lassen. Das gilt nicht nur für die technische Produktion, sondern auch für die Verwaltungs- und Dienstleistungsbetriebe. Es kommt zu den verschiedenen Formen von Arbeitsstreß und beruflichen Frustrationen, die sich auf das Verhalten in Ehe und Familie auswirken. Von der Gesamtsorge zum geteilten Budget: In der Mehrzahl der Familien reicht das Einkommen des Vaters nicht für die Versorgung S

Pietro C. Tuminelli, Socializzazione e assenza deI padre, Roma 1976.

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der Gesamtfamilie aus. Das vor allem dann nicht, wenn ein bestimmter Lebensstandard als unverzichtbar festgehalten wird. Ganz abgesehen davon, daß für einen nicht geringen Teil der berufstätigen Frauen die außerhäusliche Arbeit auch eine persönliche Bedeutung hat, zeigt sich aber deutlich, daß die wirtschaftliche Vorherrschaft des Mannes in der modernen Familie stark abgebaut wurde. Es gibt durchaus nicht wenige Fälle, wo der Mann nach wie vor die wirtschaftlichen Entscheidungen trifft. Aber es gibt in zunehmendem Maße Fälle, wo die frühere wirtschaftliche Einheit der Familie durch das System der getrennten Budgets abgelöst wird.

Auswirkungen auf die Rolle des Vaters: Man braucht aufgrund dieser und ,einer Reihe anderer wirtschaftlicher Veränderungen nicht gleich von einer vaterlosen Gesellschaft zu sprechen. Diese Veränderungen haben aber ihren bestimmenden Einfluß auf das Verständnis und die konkrete Verwirklichung der väterlichen Rolle. Sie nehmen dem Vater weithin das, was man als die "soziale Bestätigung" bezeichnet, d. h. die Anschaulichkeit und Wichtigkeit seiner wirtschaftlichen Leistung in Gegenwart der anderen Familienmitglieder. Die zeitliche Abwesenheit des Vaters vom Geschehen der Familie reduziert nach verschiedenen Richtungen hin die gerade für die Persönlichkeitsbildung des Kindes wichtige Mitwirkung des männlichen und väterlichen Elementes'. 3. Bewußtseinswandel und Rolle des Vaters. Was damit gemeint ist, läßt sich in einer zweifachen Richtung aufzeigen. Entmythologisierung gesellschaftlicher Rollen: Manche gesellschaftliche Rollen erhielten im Verlauf eines vielfältigen geschichtlichen Prozesses einen geradezu geheiligten Symbolcharakter. Das geschah auch mit der Rolle des Vaters. Er war Ausdruck der Geborgenheit und Sinnbild liebender Sorge. Es ist daher nicht zu verwundern, daß dieser Symbolbegriff aus der Intimgruppe der Familie von Groß ge bilden übernommen wurde. Man sprach vom "Landes-vater", "Vater-Iand" und auch vom "Vater Staat". Als Folge dieser Kombinationen kam es zu einer wechselseitigen Rollenverstärkung und Rollenverfestigung. Die väterliche Autorität gewann durch die sprachliche Verbindung mit der staatlichen Obrigkeit an Prestige und Würde, und die staatliche Autorität erhielt durch die Vorschaltung des Väterlichen etwas an menschlicher Nähe und persönlicher Sorge. Von noch größerer Bedeutung ist die religiöse Legitimation des Vaterbegriffes. Die Identifizierung Gottes mit dem Bild des Vaters ist älter als das Christentum und findet sich in mehreren vorchristlichen 4 Berthold Strätling, Wenn der Vater ausfällt, in: AKF Bonn 1978.

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Religionen. Ich kann hier nicht näher auf den Ursprung und den kulturgeschichtlichen Hintergrund dieser Tatsache eingehen. Es kann aber mit Recht festgehalten werden, daß die Rolle des Vaters in der Familie und in einer religiös geprägten Gesamtgesellschaft wesentlich von der religiösen Sprachform mitbestimmt wurde. In einer Epoche zunehmender Entmythologisierung und Säkularisierung werden nicht nur die profanen Gebilde, wie Staat und politische Herrschaftsträger, ihres "väterlichen Charakters" beraubt, sondern es werden auch zunehmend die religiösen Begründungen gesellschaftlicher Rollen in den Hintergrund gedrängts.

Vaterfeindliche Ideologien: Zu dem gesamtgesellschaftlichen Großklima, das heute den Rollenwandel des Vaters mitbestimmt, gehören auch die weltanschaulichen Mächte. Dabei kommt es keineswegs darauf an, daß solche Weltanschauungen ein scharf formuliertes Programm haben, das sie der Öffentlichkeit mitteilen. Es gibt auch eine Praxis der Weltanschauung, die oft tiefer wirkt als abstrakte Theorien. In unserem Zusammenhang erhalten folgende Ideologien eine besondere Bedeutung: Die individualistische Ideologie: Stark vereinfacht läßt sie sich vielleicht so formulieren: Die bisherige Struktur der Familie hat vor allem das sexuelle Bedürfnis des Mannes verkürzt. Sie hat daher typisch repressiven Charakter. Der Bedarf an Lusterleben und an persönlichen Kontakten ist wesentlich größer, als dies in der traditionellen Familie möglich ist. Darum hat der Mann einen Anspruch auf Emanzipation aus der Zwangsrolle des bisherigen Vaterbildes. Konkrete Schritte dazu sind zum Beispiel die Ehen auf Probe oder Partnerschaftsabkommen auf Zeit. Wo dies aber aus wirtschaftlichen Gründen oder wegen des Druckes der öffentlichen Meinung nicht möglich ist, muß dem Mann durchaus das Recht eingeräumt werden, durch "flankierende Freiheiten" seinen individuellen Lustbedarf abzusättigen. Die kollektivistische Ideologie: Auch diese Ideologie wagt sich heute kaum mit einem offiziellen Programm an die Öffentlichkeit. Latent ist sie aber durchaus wirksam. Ihr liegt folgende überzeugung zugrunde: Die traditionelle Familie ist ein typisches Produkt einer individualistisch-bürgerlichen Gesellschaft. Sie bindet ihre Mitglieder so sehr an sich, daß sie unfähig werden, sich den gesamtgesellschaftlichen Notwendigkeiten und Planungen unterzuordnen. Darum muß darauf hingearbeitet werden, daß die bestehende Familie mit ihren traditionellen Rollen überwunden und auf eine höhere Ebene der Verfügbarkeit überführt wird. Das muß schrittweise auf zweifachen Ebenen versucht 6

Laszlo Vaskovics, Familie und religiöse Sozialisation, Wien 1970.

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werden. Einmal auf der Ebene der völligen Gleichberechtigung von Mann und Frau und dann dadurch, daß der bisherigen Familie eine Reihe Aufgaben durch Einrichtungen der öffentlichen Hand abgenommen werden, insbesondere die Erziehung und Versorgung der Kinder. Auf diese Weise kommt es dazu, daß die gesamtgesellschaftlicllen Großziele einheitlicher und zentraler gesteuert werden können.

Auswirkungen auf die Rolle des Vaters: Es ist nicht leicht, die konkreten Auswirkungen des Bewußtseinswandels auf die Rolle des Vaters aufzuzeigen. Aber niemand wird leugnen, daß diese unterströmigen Kräfte und Mächte oft tiefer einwirken als oberflächliche Veränderungen. Es darf dabei nicht übersehen werden, daß z. B. die modernen Massenmedien und die Werbung keineswegs ideologiefrei sind. Sie erzeugen ein Gesamtklima, das gerade im Durchschnittsmenschen einen schrittweisen Bewußtseinswandel auslöst.

11. Innerer Wandel der Intimgruppe Der Rollenwandel des Vaters in Ehe und Familie wird zweifellos von gesamtgesellschaftlichen Veränderungen mitbestimmt. Dies ist aber nur eine Seite in der Beantwortung der gestellten Frage. Dazu kommt noch ganz wesentlich ein innerer Wandel der Intimgruppe Ehe und Familie, der für das Verständnis der gewandelten Vaterrolle wichtig ist. Es mag auf den ersten Blick verwundern, daß diesem Aspekt eine solche Bedeutung zugemessen wird. Aber eine Reihe von empirischen Untersuchungen haben gezeigt, daß dieser Bereich heute eine besondere Aufmerksamkeit verdient. Wo findet der Mensch noch Heimat? Die Tatsache, daß der Mensch in den Arbeits- und Lebensprozessen der Industriegesellschaft eine vielfache Entfremdung und Verfremdung erfährt, hat nicht nur Karl Marx festgestellt. Der Mensch gerät in eine Reihe von inneren Konflikten mit sich selber und erlebt sich einsam trotz der körperlichen Nähe zu den anderen. Man hat versucht, die Gründe dafür aufzufinden und wirksame Lösungen anzubieten. Etwa dadurch, daß in einer sogenannten "klassenlosen Gesellschaft" alle Produktionsmittel vergesellschaftet und die angebliche Gleichheit aller hergestellt werde. Die Erfahrung hat gezeigt, daß damit zwar einige Probleme beseitigt, andere aber neu geschaffen werden. Die Grunderfahrung aber konnte nicht beseitigt werden: der Mensch fühlt sich auch in den klassenlosen Strukturen einsam und verfremdet. Weniger radikale Programme haben andere Wege versucht. Man hat die Welt der Arbeit vermenschlicht, Möglichkeiten zu persönlichen Kontakten geschaffen und verschiedene Formen der Mitverantwortung eingebaut. Man hat neue Wohnanlagen unter

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den gleichen Gesichtspunkten gebaut: mit einem Stück Grünland, mit aufgelockerter Bauweise und mit Möglichkeiten von zwischenmenschlichen Kontakten. Auch hier wurden gewisse Erfolge erzielt, eine Reihe ungelöster Probleme blieben zurück. Heute kommt man mehr und mehr zu einer Grundüberzeugung: Die moderne Lebens- und Arbeitswelt ist trotz aller Korrekturen und Planungen nicht imstande, dem Menschen von heute jenes Bewußtsein von Geborgenheit und Angenommensein zu vermitteln, das zu seinen Erwartungen und Hoffnungen gehört. Damit soll keineswegs das Bemühen um die weitere Vermenschlichung des Arbeits- und Lebensraumes herabgemindert werden. Nur müssen auch die Grenzen dieser Bemühungen zugegeben werden. Das bedeutet aber, daß die Intimgruppe Ehe und Familie eine Aufgabe hat, die durch andere gesellschaftliche Einrichtungen nicht ersetzt werden kann. Diese Aussage scheint selbstverständlich zu sein. Aber sie ist es noch lange nicht in dem, was man als Familienpolitik von heute bezeichnet.

Worin besteht der "FamiZienstreß"? Wahrscheinlich ließen sich eine ganze Reihe von Faktoren dafür anführen. Ich möchte mich auf den soziologischen Aspekt beschränken. Er läßt sich in einer zweifachen Richtung darstellen. Einmal in dem, was wir als die "überlastete Intimgruppe" bezeichnen könnten. Nehmen wir dafür ein konkretes Beispiel: Die bäuerlich-handwerkliche Familie war weithin eine Arbeitsund Lebensgemeinschaft. Das heißt mit anderen Worten: die zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen den Ehepartnern und den Kindern waren auf den ganzen Tag verteilt. Das konnte selbstverständlich auch Ursache von besonderen Spannungen sein, aber im großen und ganzen kam es zu keinen "Stauungen" der Beziehungen auf wenige Reststunden. Stauungen verursachen nicht selten überforderungen, das vor allem dann, wenn die einzelnen Mitglieder der Intimgruppe aus einem Alltag zurückkommen, der für sie einen Streß bedeutete, also eine seelische Spannung und das Bedürfnis zur Abreaktion. Das gilt sowohl für den berufstätigen Mann und die berufstätige Frau als auch für die Kinder. Die Intimgruppe Familie ist nicht selten überfordert, in wenigen Stunden die so komplexen Stauungen abzubauen und zwischenmenschliche Harmonie zu vermitteln. Dazu kommt noch ein Weiteres. Der modernen Familie sind eine Reihe von Aufgaben abgenommen. Sie ist nicht mehr die geschlossene Mehrzweckgemeinschaft. Es kam auch hier zu einer Art Arbeitsteilung zwischen der Familie und den anderen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Einrichtungen. Jede Arbeitsteilung bedeutet aber notwendig eine Spezialisierung. Für die Familie bedeutet dies: Da sie oft keine wirtschaftliche, kulturelle und Freizeitgemeinschaft mehr ist, muß sie

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sich um so mehr auf die Pflege und Vertiefung jener "Leistungen" einlassen, die ihr von Natur aus zukommen und die von anderen Gebilden nicht abgenommen werden können. Das heißt konkret: die Erfahrung des Angenommenseins und des Vertrauens, den Wert des Wohlwollens und der Liebe. Man weiß nur zu gut, wie schwierig es ist, gerade diese Werte und Erfahrungen auf die Dauer zu vermitteln. Aber man weiß ebenso, daß sie für das Glück des Menschen und für den Bestand einer menschenwürdigen Gesellschaft unabdingbar sind. Diese Einsicht gilt für alle Mitglieder der Familie. Sie gilt aber in besonderer Weise für den Vater.

Ist Vatersein erlernbar? Auf diese Frage gibt es klarerweise verschiedene Antworten. Die einfachste ist zweifellos die Erfahrungstatsache, daß es unzählige Väter gibt, die ihre "Rolle" auch in der gewandelten Umwelt und in der gewandelten Intimgruppe erfüllen. Wobei die Frage nach dem jeweiligen "Wie" durchaus noch offen bleibt. Es gibt aber auch die große Zahl jener Familien, wo die Rolle des Vaters nur schlecht oder überhaupt nicht erfüllt wird. Natürlich gibt es dafür viele Gründe, und es wäre eine Simplifizierung, sie auf einen einzigen zurückzuführen. Es ist auch nicht leicht, von Haupt- und Nebengründen zu sprechen. In einem Gesamtklima ist jeder Faktor wkhtig. Im Zusammenhang mit dem vorher Gesagten soll hier etwas näher auf einen Lernprozeß eingegangen werden, den wir aus der Gruppensoziologie kennen. Die Grundüberzeugung ist folgende: Das geglückte Zusammenleben von Menschen in Intimgruppen ergibt sich zwar zu einem hohen Grad aus der Spontaneität und Intuition der Mitglieder. Es braucht aber darüber hinaus noch ein bestimmtes Maß von bewußtem Verhalten und wiederholter Reflexion. Das vor allem dann, wenn die Spontaneität aus verschiedenen Gründen ermüdet und Abnützungserscheinungen auftreten. Dazu dienen bestimmte Grundregeln für das Leben in Intimgruppen6• Eine erste Norm betrifft die regelmäßige Kommunikation und Information. Da Intimgruppen wesentlich auf die persönliche Begegnung angewiesen sind, ist diese auf lange Sicht gesehen nicht ersetzbar. Das bedeutet nicht selten Grundentscheidungen, die Konsequenzen haben. Die persönliche Begegnung und Information verlangt die Fähigkeit des Anhörenkönnens. Nicht selten werden Intimgruppen durch das Unvermögen von Hinhören genauso gefährdet wie durch den Hang zum Monolog. Hier braucht es immer wieder bewußte Selbstkritik und 8 Paul Zulehner, Isidor Baumgartner und Karl Mühlek, Ehe bauen, Limburg 1978; A. Mandel, K. Mandel, E. Stadter und D. Zimmer, Einübung in Partnerschaft durch Kommunikationstherapie und Verhaltenstherapie, München 1975; L. Schwäbisch und M. Siems, Anleitung zum sozialen Lernen für Paare, Gruppen und Erzieher, Hamburg 1974.

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Korrekturen. Intimgruppen haben ihrem Wesen nach eine andere Führungsstruktur als Verbände und Organisationen. Das gilt in besonderer Weise für den "sozialen Bedarf" unserer Menschen, die unter der vielfältigen anonymen Herrschaftsstruktur leiden. Dazu kommt es in vielen Fällen bei Entscheidungen nicht zuerst auf die Effizienz an, sondern auf die Erfahrung der Mitverantwortung und der Partnerschaft. Das verlangt gerade von seiten des Mannes eine große Zurückhaltung und Selbstbeherrschung. Auf weite Sicht gesehen aber entscheidet sich hier das Gesamtklima einer Intimgruppe. Intimgruppen leben wesentlich aus einem "Urvertrauen", das heißt aus einer letzten Zuversicht und Treue. Gerät dieses Urvertrauen in Gefahr, können aucil noch so aufwendige materielle Zuwendungen den Schaden nicht beheben. Darum ist große Sorgfalt dafür aufzuwenden, dieses Urvertrauen zu erhalten. Intimgruppen beruhen wesentlich auf der wiederholten Erfahrung von Wohlwollen und Liebe. Diese Erfahrung schafft sich nicht selten ihr eigenes Zeremoniell. Es ist bedeutsam, an solchen Verhaltensweisen festzuhalten, auch wenn sie nicht immer die gleiche Intensität der inneren Anteilnahme auslösen. Wie in jeder Form des zwischenmenschlichen Zusammenlebens, so ist auch in Intimgruppen mit Konflikten zu rechnen. Man unterscheidet häufig zwischen Grundkonflikten und Alltagskonflikten. Die ersten betreffen das Grundverständnis voneinander und gehören in den Bereich des bereits erwähnten Urvertrauens. Die zweiten betreffen die vielfältigen Probleme des Alltags. Worauf es hier wesentlich ankommt, ist, daß die Alltagskonflikte in ihrer "Oberflächlichkeit" belassen werden und sich nicht zu Grundkonflikten ausweiten. Sie können nicht selten durch Sachargumente beseitigt werden und bieten durchaus reichliche Möglicilkeit zu Kompromissen. Die Erfahrung zeigt immer wieder, daß es viel schwieriger ist, Grundkonflikte mit Sachargumenten zu lösen. Hier handelt es sich nicht selten um Tiefenschichten der Persönlichkeit und um ein reichliches Ausmaß von Emotion. Darum erscheint es in den meisten Fällen wenig sinnvoll, durch endlose Ausspracilen derartige Konflikte zu beseitigen. Hier hilft konkretes Handeln meistens weiter. Dies sind nur einige Andeutungen über die Frage nach den Regeln des zwischenmenschlichen Verhaltens in Intimgruppen. Selbstverständlich betreffen sie nicht nur den Vater, sondern in entsprechender Weise auch die anderen Mitglieder der Familie. Aber darum geht es hier nicht unmittelbar. Wichtig erscheint noch einmal folgende Feststellung: Wie in anderen Bereichen unseres gesellschaftlichen Lebens so gibt es auch im zwischenmenschlichen Leben auf der einen Seite eine größere Belastung und auf der anderen Seite einen größeren Bedarf. Der heutige Durchschnittsmensch ist zwischenmenschlich labiler, aber auch anspruchsvoller als in einer bäuerlich-handwerklichen Gesellschaft. Die-

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sem sozialen Bedarf muß auch auf der Ebene der Bildung und des Wissens Rechnung getragen werden. Nicht als ob das Wissen um bestimmte Verhaltensweisen auch schon das richtige Verhalten garantieren würde. Aber das Wissen und die Einübung können wichtige Voraussetzungen dafür schaffen, daß das richtige Verhalten in der Intimgruppe gelingt.

Irr. Gesellschaftspolitische Leitsätze Aus der 'Zusammenschau des gesamtgesellschaftlichen Wandels und des Wandels der Intimgruppe Ehe und Familie ergeben sich für die Rolle des Vaters mehrere gesellschaftspolitisch bedeutsame Folgerungen. Dabei muß allerdings Folgendes vorausgeschickt werden. Soziologische Aussagen wollen nie die ganze Wirklichkeit erfassen, sondern beschränken sich auf einzelne Aspekte. Sie verlangen daher von sich aus die Ergänzung durch andere Sachgebiete. Darum bilden diese Aussagen keine unentrinnbaren Gesetze, sondern sind als Orientierungshilfen zu verstehen. Man muß auch hier mit den Möglichkeiten von gegenläufigen Entwicklungen und Überraschungen rechnen. Eine zweite Vorbemerkung erscheint ebenfalls wichtig. Die Rolle des Vaters ist wesentlich eine "Rolle im Verbund", das heißt, sie ist in Verbindung mit der Rolle der Frau und der Gesamtfamilie zu sehen. Von dorther erhalten mehrere der vorher erwähnten Gesichtspunkte unter Umständen eine Verschärfung oder aber eine Korrektur. Diese Zusammenschau war hier nicht beabsichtigt, sie ist aber gerade für eine gesellschaftspolitische Initiative im Auge zu behalten7• 1. Die Tatsache des Rollenwandels des Vaters ist an und für sich nicht neu. Sie wird aber heute stärker sichtbar und verläuft in verkürzten Fristen. Das trifft aber keineswegs den Vater allein, sondern genauso andere Rollen, z. B. die der Mutter, des Lehrers, des Priesters usw. Auf einen Rollenwandel gibt es verschiedene Reaktionsweisen. Man kann krampfhaft an der gestrigen Rolle festhalten und damit neue Konflikte schaffen. Man kann durch den Rollenwandel verunsichert werden und resignieren. Man kann aber auch den Rollenwandel akzeptieren und sich in einen sinnvollen Anpassungsprozeß begeben. Dieser setzt allerdings voraus, daß man über Ursprung, Verlauf und Zielsetzung dieses Wandels ein inneres Einverständnis findet.

2. Der Rollenwandel des Vaters ist zweifellos ein eminent gesellschaftliches Problem, das sowohl in seinen gesamtgesellschaftlichen 7 Vgl. dazu: Ehe und Familie im Spannungsfeld von personaler Partnerschaft und Institution. Eine Erklärung des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken für die gesellschaftspolitische Diskussion über diese Fragen, in: Berichte und Dokumente Nr. 39, Bonn 1979.

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Zusammenhängen als auch in den besonderen Wandlungsvorgängen der Familie als Intimgruppe gesehen werden muß. Für das christliche Verständnis der Familie genügen aber die soziologischen Aussagen nicht. Dazu bedarf es wesentlich der theologischen Dimension. Es ist in diesem Zusammenhang nicht möglich, eine Theologie der Familie zu geben. Aber für unsere Fragestellung erscheinen zwei biblische Aussagen fundamental: Eph. 3, 14: "Ich beuge meine Knie vor dem Vater, von dem jede Vaterschaft, sei es im Himmel, sei es auf Erden, ihren Ursprung hat ... ", und Eph. 5, 32: "Die zwei werden eins in einem Fleisch. Dies ist ein tiefes Geheimnis und Ausdruck der Beziehung zwischen Christus und der Kirche." Hier spricht der hl. Paulus von den zwei großen Geheimnissen in der Wirklichkeit des Menschen: vom Geheimnis des Lebens und vom Geheimnis der Liebe. Beide Geheimnisse werden in direkte Beziehung gesetzt zur Wirklichkeit Gottes und zur Wirklichkeit Christi. Jede Vaterschaft bedeutet Teilnahme an der Lebenskraft Gottes und besagt die bewußte Verantwortung für die Entfaltung und Reifung des gezeugten Lebens. Damit ist die Vaterschaft trotz allen Rollenwandels im letzten nicht abgebbar und nicht aufhebbar. Und das Geheimnis der Liebe "in einem Fleisch" als der zwischenmenschliche Intimraum ist mehr als ein nüchterner Rechtsvertrag mit ausgeklügelten Schutzklauseln. Die Familie als Abbild der Beziehung zwischen Christus und seiner Kirche besagt eine Urbeziehung der Liebe und Hingabe, die bewußt mit der Tatsache des Opfers rechnet. Dieses religiöse Grundverhältnis, das durch die sakramentale Gnade der Ehe ständig belebt wird, kann für den Christen durch keinen soziologischen Wandel der Intimgruppe ersetzt werden. 3. Die Vaterrolle ist wesentlich "eine Rolle im Verbund", das heißt sie wird wesentlich mitbestimmt von der Gesamtsituation von Ehe und Familie. Darum ist eine bewußte und umfassende Familienpolitik gleichzeitig auch die wirksamste Unterstützung im Prozeß des Rollen~ wandels des Vaters. Man kann durchaus zugeben, daß die Familienpolitik in den letzten Jahrzehnten in vielen Staaten neue Beachtung gefunden hat. Aber man muß ebenfalls feststellen, daß sie immer wieder in Gefahr gerät, in den individualistischen Grundtendenzen unseres modernen Wohlfahrtsstaates an den Rand der Gemeinwohlsorge gedrängt zu werden. Für nicht wenige ist die Institution Familie so "wertgeladen", daß sie nur sehr schwer im "wertfreien" Denkschema einer modernen Massendemokratie ihren Platz behaupten kann. Man darf sich über diese Tatsache keiner Täuschung hingeben. Darum gehört es zu den wesentlichen Aufgaben einer katholischen Familienbewegung, das familienpolitische Bewußtsein nachdrücklich zu sensibilisieren und in den zuständigen Gremien einzubringen8 •

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4. Unsere arbeitsteilige und großraumbezogene Wirtschaft und Gesellschaft wird auf längere Zeit mit einem gewissen Segment der Vaterlosigkeit zu leben haben. Dazu kommt als Dauerphänomen ein nicht unbedeutender Prozentsatz von vaterlosen Familien aufgrund der gefährdeten und zerbrochenen Ehen. Das bedeutet, daß hier ein gesellschaftliches Dauerproblem besteht, das der sozialpolitischen Obsorge bedarf. Dies betrifft zum Teil die öffentliche Hand, zum Teil überschreitet diese Sorge aber die Leistungsfähigkeit staatlicher Stellen. Hier sind die gesellschaftlichen Kräfte und Initiativen aufgerufen, insbesondere auch die kirchlichen. 5. Der Rollenwandel des Vaters wird zweifellos von einer Reihe gesellschaftlicher Veränderungen mitbestimmt. Diese Einflüsse sind aber keineswegs im Sinn eines eisernen Gesetzes zu verstehen, das von sich aus bereits ein optimales Resultat garantieren würde. Das vor allem deshalb nicht, weil der Intimraum von Ehe und Familie immer wieder Gelegenheit und Versuchung zugleich ist, "gegenläufig zu handeln", d. h. Verhaltensweisen zu praktizieren, die weder dem gesamtgesellschaftlichen Bewußtsein noch der entfalteten kirchlichen Auffassung von Ehe und Familie entsprechen. Darum bedarf es hier eines Lernprozesses der ständigen Bewußtseins- und Gewissensbildung. Es ist nun einmal eine Tatsache, daß in nicht wenigen Ehen die Partnerschaft ein bloßer Rechtsbegriff bleibt, der in der Praxis durch überholte Herrschaftsformen außer Kraft gesetzt wird. Ethische Verhaltensweisen lassen sich nicht durch Rechtsnormen erzwingen. Hier ist eine geduldige, aber konsequente Bildungsarbeit unersetzlich. Dafür aber sind jene Kräfte und Bewegungen primär zuständig, die über ein glaubwürdiges Wertsystem verfügen. Eine katholische Familienbewegung muß sich hier an erster Stelle angesprochen fühlen. 6. Es wurde in diesen Ausführungen wiederholt darauf hingewiesen: Je unpersönlicher und manipulierter die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Organisationen werden, um so lebensnotwendiger werden für die Erhaltung echter Menschlichkeit jene Gebilde, die Geborgenheit, Affektivität und Hingabe vermitteln. Die moderne Gesellschaft verfügt nur über wenige solcher Gebilde. Das weitaus glaubwürdigste davon ist die Familie. Trotz der erstaunlichen überlebenskraft ist die Zukunft der Familie keineswegs gesichert. Sie bedarf des sehr behutsamen, aber auch des sehr bewußten Schutzes. Das hat in doppelter Richtung zu geschehen: einmal in der Richtung der gesellschaftspolitischen Sicherstellung der Familie in all ihren Aspekten, dann aber in 8 Hermann Danninger, Zur wirtschaftlichen Lage der Familie in Österreich, Schriftenreihe des Katholischen Familienverbandes Österreichs, Wien 1979.

29 Festschrift Rossi

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der sinngemäßen Entfaltung der Binnenstruktur der modernen Ehe und Familie. Damit ist Familienpolitik im wahrsten Sinn des Wortes zugleich auch Kulturpolitik.

DAS RECHT AUF LEBEN* Von Ernst Kolb t Menschen- und Bürgerrechte sind durch Handlungen gegen Leib und Leben, gegen fremdes Vermögen, gegen die Freiheit, gegen den öffentlichen Frieden usw. gefährdet. Die Abwehr solcher Gefährdungen ist der Zweck des Strafrechtes, das zunächst ungeschriebenes Gewohnheitsrecht, später aufgezeichnetes Stammesrecht war. Das erste deutsche Reichsstrafgesetz erließ Karl V. 1532. Den Namen M. Theresias trägt das Strafrecht von 1768; im Jahre 1787 folgte das "Allgemeine Gesetz über Verbrechen und deren Bestrafung", im Jahre 1803 das "Strafgesetz über Verbrechen und schwere Polizeiübertretungen", im Jahre 1852 die "Neue durch spätere Gesetze ergänzte Ausgabe des Strafgesetzbuches von 1803". Die Reformversuche von 1867, 1874, 1912 sowie 1927 - 1933 scheiterten. Erst die Arbeiten der Strafrechtsreformkommission 1954 - 1962 führten zu der 1968 von Klecatsky (Nr. 706, 11. GP) und zu der am 16. November 1971 von Broda eingebrachten Regierungsvorlage (Nr. 30, 13. GP). Der Nationalrat beschloß sie in der Fassung des Ausschußberichtes (Nr. 959, 13. GP) am 27. November 1973 und bestimmte als Tag des Inkrafttretens den 1. 1. 1975 (BGBL 1974/60). Die Salzburger Landesregierung focht die im § 97 Z. 1 getroffene "Fristenlösung" als verfassungswidrig an, drang damit aber nicht durch (Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes mündlich verkündet 11. Okt. 1974, schriftlich ausgefertigt Feber 1975). Die "Aktion Leben" verlangte im Wege eines Volksbegehrens die Erlassung eines Bundesgesetzes zum Schutze des menschlichen Lebens (Nr. 135, 14. GP). Der Nationalrat (Ausschußbericht Nr. 510) lehnte das Volksbegehren am 11. Mai 1977 ab. Man muß sich also damit abfinden, daß die Tötung Ungeborener innerhalb der gesetzlichen Frist straffrei ist, obwohl Vieles und Gewichtiges dagegen spricht. Das weiß auch Bundeskanzler Kreisky, wenn er sagt, er könne sich vorstellen, daß die Fristenlösung für gläubige Menschen eine echte Gewissensfrage ist (10. Mai 1977 im Anschluß an den Ministerrat). Sie stellt sich vor allem deswegen, weil unbekümmert • Vortrag gehalten vor dem Stationsschwestern-Fortbildungskurs in Innsbruck am 20. Januar 1978. 29·

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um alle Parlamentsbeschlüsse, nach wie vor das fünfte Gebot und die christliche Sittenordnung gilt. Wer das nicht so deutlich sagen will, sondern lieber vom Naturrecht, von bleibenden Werten, festen Grundsätzen u. ä. redet, gibt ebenso zu, daß auf Dauer nur Bestand hat, was der Natur gemäß ist; daß es neben Vergänglichem und Vorübergehendem Bleibendes gibt; daß die Fundamente nicht erschüttert werden, wenn man Zwischenwände niederreißt. Die Geschichte bietet Beispiele genug dafür. Die französische Revolution ersetzte die 7 Tage-Woche durch die Dekade, die aber bald wieder aufgegeben wurde, weil der Mensch wie auf den Rhythmus des Pulsschlages, des Atemzuges, des Wechsels von Tag und Nacht, so auch auf den von 6 Arbeitstagen und einem Ruhetag eingestellt ist. Die russische Revolution verkündete den "Kampf gegen das Familienband"; das heutige russische Recht zeigt keine Spur mehr davon und die freie Auflösbarkeit der Ehe ist längst vorbei. Der Nationalsozialismus meinte, endgültig beseitigen zu können, was in seinen Augen minderwertig war - aber die Endlösung hat nicht das Judentum, sondern das tausendjährige Reich ereilt. Ein zweiter Grund ist die sonst in Verfassungs- und einfachen Gesetzen sowie in völkerrechtlichen Erklärungen und Vereinbarungen ausgedrückte Hochachtung vor dem menschlichen Leben. So sagt Art. 85 der Verfassung: "Die Todesstrafe ist abgeschafft" und § 22 ABGB "Selbst ungeborene Kinder haben von dem Zeitpunkt ihrer Empfängnis an einen Anspruch auf den Schutz der Gesetze." Art. 3 der Allg. Erklärung der Menschenrechte sagt: "Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person"; Art. 2 der MRK "Das Recht jedes Menschen auf das Leben wird gesetzlich geschützt". Der dritte Grund ist der Schluß vom Kleinen aufs Große. Gegen Umweltverschmutzung, gegen den Bau von Kernkraftwerken, gegen den Wehrdienst, gegen die Todesstrafe wird demonstriert und protestiert; erst kürzlich stand in einer Zeitung als Überschrift "AKW-Verbrechen an der Menschheit"; natürlich bei uns in Österreich, nicht aber dort, wo ihr Bau forciert wird und Demonstrationen nicht geduldet werden. Was hat es für einen Sinn, für Lebensqualität zu demonstrieren, das Leben selbst aber zu verneinen? Ist die Vernichtung schon vor der Geburt nicht schlimmer als die Verschrnutzung von Luft und Wasser, als die Einberufung zum Wehrdienst oder die Gefährdung durch Strahlen? Wer Lebensqualität will, muß erst recht das Leben selber bejahen. Ein vierter Grund ist die Entwertung der Verfassung. In seiner Ansprache an das Diplomatische Korps am 11. 1. 1978 sagte Bundespräsident Kirchschläger: "Wenn wir unsere Anstrengungen konzentrieren,

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Kämpfe, Gewalt und Unrecht aus den zwischenstaatlichen Beziehungen zu verbannen, ist es auch unsere Pflicht, darauf zu achten, daß Gewalt und Unrecht nicht in anderer Form das Zusammenleben der Menschen bedrohen. Der in verschiedenen Erscheinungsformen auftretende Terrorismus ist ebensowenig wie der Krieg ein taugliches Mittel, tatsächliches oder vermeintliches Unrecht zu beseitigen. Der Terrorismus bedroht die Lebensinteressen aller Völker und aller Staaten. Er erfordert daher auch das gemeinsame Handeln aller Regierungen." Das Handeln der Regierungen beginnt mit der Beteuerung, nicht an Strafverschärfungen zu denken, insbesondere nicht an die Wiedereinführung der Todesstrafe, obwohl die Terroristen sich anmaßen, Todesurteile zu verhängen und auch zu vollstrecken. Ein Todesurteil und eine Hinrichtung ist auch die Abtreibung. So erleben wir den erstaunlichen Widerspruch, daß die Verfassung, nach deren Art. 85 die Todesstrafe abgeschafft ist, einerseits den Schwerverbrechern garantiert, nicht hingerichtet zu werden, andererseits den Schwächsten und völlig Hilflosen jeglichen Schutz versagt. Ein fünfter Grund ist die meinungsbildende Wirkung, die die Fristenlösung hat. Was nicht mehr als Delikt gewertet ist, wird nicht mehr als Unrecht empfunden. In der "Tiroler Tageszeitung" vom 11. Mai 1977 hat ein Mitglied des parlamentarischen Sonderausschusses, der sich mit dem Volksbegehren befaßte, zum Stil, in welchem die Verhandlungen stattfanden, folgendes geschrieben: "Man diskutierte zunächst nicht die Fristenlösung - ein strafrechtliches Problem - sondern die Tatsache, daß es in manchen Bundesländern keine freie Abtreibung gebe. Damit ist eine Absicht deutlich geworden, die sonst peinlich kaschiert wurde: Die strafgesetzlich festgelegte Fristenlösung soll auch im Bewußtsein der Menschen Erleichterungen zur Abtreibung schaffen." Am gleichen 11. Mai 1977 bestätigte die Abgeordnete Annelies AIbrecht im Parlament selber den Bericht des vorzitierten Abgeordneten, indem sie lt. St. Prot. S. 5234 sagte: "Man bekommt immer wieder den Eindruck, wenn man hier die Diskussionsbeiträge hört, daß nun der Schwangerschaftsabbruch ,verordnet' werde". Ende August 1977 sah sich Frau NR Albrecht nochmals veranlaßt, zu betonen, "daß die gesetzliche Erlaubnis zum Schwangerschaftsabbruch keineswegs eine Empfehlung bedeute". Wäre die Fristenlösung eine Empfehlung oder gar ein Anspruch auf Abtreibung, dann wäre die Tatsache, daß es kein gerichtliches Preistreibereigesetz mehr gibt, sondern das neue Preisgesetz die Preistreiberei nur noch mit Verwaltungsstrafen bedroht, eine Empfehlung, Preise in die Höhe zu treiben. Wer sagt: "Ich habe niemand umgebracht, nichts gestohlen, keinen Brand gelegt", hat brav

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gemieden, was gerichtlich strafbar wäre. Wenn nunmehr das Umbringen während einer willkürlich festgesetzten Frist straffrei ist, fällt eine Orientierungshilfe weg und der Verwilderung der Sitten steht der Weg offen. Gewiß muß der Staat nicht alles strafrechtlich verfolgen, was sittlich abzulehnen ist. Wer gehässig, geizig, grantig, hochnasig, launisch, lieblos, liederlich, lügenhaft, mürrisch, neidisch, rücksichtslos, schwatzhaft, ungeduldig, unmäßig, usw. ist, macht nicht schon deswegen mit dem Staatsanwalt Bekanntschaft, sondern erst, wenn Haß, Rücksichtslosigkeit, Ungeduld oder Unmäßigkeit zu Handlungen gegen Leib und Leben (§§ 75 ff.), Geiz zu Geldwucher (§ 154), Lügenhaftigkeit zur falschen Beweisaussage (§§ 288, 289) oder Schwatzhaftigkeit zur Verletzung von Berufsgeheimnissen (§ 121) geführt hat. Weil der Staat nicht alles bestraft, was moralisch abzulehnen ist, erweist sich eine Handlung dadurch, daß sie der Staat nicht (oder nicht mehr) bestraft, nicht schon als moralisch einwandfrei. Ein sechster Grund ist die Gefahr von Weiterungen. Die Freigabe der Abtreibung durchbricht den prinzipiellen Schutz des menschlichen Lebens; sie wirft die Frage nach dem Schutz des menschlichen Lebens überhaupt auf. Ich behaupte nicht, daß die Befürworter der Fristenlösung auch die Euthanasie anstreben. Aber mit 3 Stimmen Mehrheit wurde die Tötung menschlichen Lebens an seinem Anfang freigegeben. Warum soll mit 3 Stimmen Mehrheit nicht auch beschlossen werden, daß das Leben Alter und Alternder vorzeitig beendigt werden darf? Es ist eine rechnerisch nüchterne Tatsache, daß die Alten eine Last für die in voller Schaffenskraft Stehenden sind - wie folgende Rechnung zeigt: Am 31. Dezember 1977 hat im öffentlichen Dienst der Jahrgang 1912 die Altersgrenze erreicht. Die Pension beträgt 80 % des zuletzt bezogenen Gehaltes, der Pensionsbeitrag machte 4 % des Gehaltes aus. Weil 4 in 80 zwanzigmal enthalten ist, sind 20 Pensionsbeiträge = 1 Monat Pension. Weil das Jahr 12 Monate hat, braucht es 12 X 20 Pensionsbeiträge, also die Pensionsbeiträge von 20 Jahren. Weil die gesamte Dienstzeit rund 40 Jahre ausmacht, erbringt sie 40 X 12 Pensionsbeiträge, also die Pension von 2 Jahren. Dabei ist außer Acht geiassen, daß der Pensionist nur in den letzten Dienstjahren die 4 Ofo vom zuletzt bezogenen Gehalt entrichtet hat, daß der Pensions beitrag früher nur 2,8 Ofo hoch war, daß der Pensionist des Jahrganges 1912 die Geldentwertungen von 1938 und 1945 erlebt hat - von "seiner" Pension also derart wenig vorhanden ist, daß sich das Berechnen und Verrechnen der Pensionsbeiträge gar nicht lohnt. Das Land Vorarlberg hebt deshalb von seinen Beamten keinen Pensionsbeitrag ein. Der 13. und 14. Monatsgehalt ändert die Rechnung nicht grundsätzlich.

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Das ASVG verlangt als Pensionsbeitrag 9,25 Ofo von der Höchstbemessungsgrundlage und richtet die Pension nur nach dieser. Auch die ASVG-Pension reicht nur für kurze Zeit, wenn nicht die in Arbeit Stehenden Beiträge und Steuern zahlen. Dazu kommt noch, daß die Lebenserwartung innerhalb eines Jahrhunderts (von 1850 bis 1950) von 42 auf 70 Jahre gestiegen ist; immer mehr Alte immer weniger Kindern gegenüberstehen; Wien 1977 nur 13034 Geburten hatte, aber 25663 Todesfälle usw. Die Internationale Vereinigung für Soziale Sicherheit (IVSS) hat einen Bericht veröffentlicht, auf den die Nachrichten des Internationalen Arbeitsamtes (IAO-Nachrichten) aufmerksam gemacht haben. Dort heißt es, daß eine Bevölkerung, von der 7 - 8 0J0 über 65 Jahre alt sind, als alt zu betrachten sei, jedocll fast alle europäischen Staaten diese Altersschwelle überschritten haben. Diese Tatsache stelle die modernen Gesellschaften vor die entscheidende Wahl "Wachstum oder Alter?" Es ergeben sich steigende Sozialausgaben für Renten, ärztliche Versorgung und Altersheime. "Wie hoch soll der Betrag sein, der im Staatshaushalt für diesen Zweck bereitgestellt werden soll? Kann er be'liebig weiter steigen oder muß eine Höchstgrenze festgesetzt werden?" Mit anderen Worten: "Ein total vergreistes Land wird äußerste Mühe haben, sein Rentnerheer auch nur mit kümmerlichen Renten zu versorgen, während alle, die noch im Arbeitsprozeß stehen, so gewaltige Abgaben leisten müssen", daß es zum Aufstand der Jungen gegen die Alten kommt. Deshalb schreibt ein alter Mann: "Ach ich bin vergeßlich, ungeschickt, langsam, verknöchert, ledern. Noch 5 Jahre, und ich zittere so, daß ich unappetitlich esse. Ich bin eine Zumutung für die überlasteten Angestellten. Schützt der Staat mein altes Leben? Wenn ich das wüßte! Mit Annahme der Fristenlösung fiel dieses jahrhundertealte Recht dahin: Wenn man von einem lebenskräftigen Ungeborenen sagen darf: ,Dieser Mitmensch kommt mir in den Weg. Bitte beseitigen', um wieviel mehr darf man das von denen sagen, die Anstalten und Heime füllen mit kränklichem, beschränktem, unästhetischem und kostspieligem Leben? Wenn man eine Frist setzt, vor deren Ablauf ein gesunder kleiner Mensch getötet werden darf, dann ist es doch mehr als logisch, auch gegen Ende wieder eine solche Grenze zu ziehen, jenseits welcher man einen Unnützen ,einschlafen lassen' kann! Die nächste schmerzstillende Spritze kann also sehr wohl die letzte für mich sein. - Wer wird es tun?" Sicher nicht Sie, sehr geehrte Damen und Herren Kursteilnehmer! Schauen Sie Ihre schönen Hände an, jede mit 8 Handwurzelknochen, 5 Mittelhandknochen, 2 Fingerknochen am Daumen und je 3 an den anderen 4 Fingern. Sie werden dieses kunstvolle 27gliedrige Gebilde

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nicht verwenden, um zu verletzen, zu zerdrücken, zu zerschlagen sondern um zu schützen, zu wärmen, zu bergen, zu hegen, zu pflegen. Ihr Beruf ist ja Krankenpflege.

DIE INHUMANE GESELLSCHAFT* Von Heribert Berger Die Geschichte der Menschen ist voll von menschlichem Versagen, ja von Unmenschlichkeit, von unglaublichen Rohheiten und Grausamkeiten, aber ebenso durchwirkt von Werken der Barmherzigkeit, größter menschlicher Anteilnahme und Zuwendung, von Hilfe und Opfern, von Liebe, von großer Liebe für den Bruder, die Schwester und das Kind in Not, durchwirkt von der Freude darüber, daß an dies Gute dem Menschen als Möglichkeit überhaupt geschenkt ist. Jede Generation weiß aus dem Erleben ihrer Zeit davon zu berichten. Erstaunlich ist nur dieses dauernde Nebeneinander von Gut und Böse, die ständige Herausforderung des Guten durch das Böse und der Liebe durch den Haß, das Böse und der Haß als Ursache aller unserer Not. Auch meine Generation weiß davon zu berichten. So gehört zu meinen stärksten Kindheits-Erinnerungen die verletzende parteipolitische Intoleranz und Mißgunst der damaligen Menschen und die Erinnerung an die in ihren Kampfmitteln nicht gerade wählerischen Freidenker. Ich erinnere mich sehr wohl noch an den Spott, den sie über jene ausgossen, die ihren christlichen Glauben bekannten. Eine Intoleranz, zu der auch Kinder angehalten wurden, wodurch so manches unschuldige gemeinsame Spiel in den Höfen der Mietshäuser und auf den Wiesen der nahen Umgebung verunmöglicht wurde. Ich erinnere mich, wie ich zusehen mußte, wie man sich wegen verschiedener politischer überzeugung nach Demonstrationsmärschen in den dunklen Straßen der Stadt mit Schlagringen und Stahlruten gegenseitig zu Krüppeln schlug. Ich vergesse nicht unseren Schulfreund Kurt und seine bedauerns~ werten EItern in den Tagen der Dreißigerjahre, als Schulkollegen von uns, Mitglieder der illegalen Hitlerjugend, ihn, der der älteste Sohn des ehrenwerten, von den Nazis aber gehaßten städtischen Polizeidirektors war, insgeheim derart terrorisierten, daß er, sensibel wie er war, dem auf ihn ausgeübten mörderischen psychischen Druck seiner Ver-

* Festvortrag gehalten zum 20jährigen Bestehen der diözesanen Hilfsstelle "Rettet das Leben" am 23. 11. 1979 in Innsbruck.

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folg er erlag und sich das Leben nahm. Ich erinnere mich an die Tage der "Kristallnacht", wo man die wenigen Juden unserer Stadt überfiel, sie schlug und verhöhnte, wo man ihre Geschäfte zerstörte und plünderte und wie man dem Hund eines dieser Geschäftsinhaber, des Herrn Schlesinger, vor seinen Augen Scherben der zertrümmerten Schaufenster ins Maul stopfte, bis das Tier schwer blutend aufheulte, um dann von den Peinigern zertreten zu werden, alles nur, weil dieses Tier der geschätzte, ständige Begleiter dieser jüdischen Familie Schlesinger war, anerkannte Bürger der Stadt übrigens, die vom neuen politischen Machthaber, den Nationalsozialisten, fast von heute auf morgen als unerwünscht und verwerflich erklärt wurden. Ereignisse, die man ohnmächtig, wie es schien, geschehen lassen mußte und die mich prägten. Ich erinnere mich an die große Lüge, mit der Angehörige von behinderten Menschen, Eltern von behinderten Kindern überredet wurden, diese armen Menschen in "Spezialheilanstalten" nach den heute besten Methoden "behandeln" zu lassen, die in ihrer Tötung bestand, nur weil diese Behinderten von der Staatsrnacht als unerwünscht und als soziale Last empfunden wurden. Und ich erinnere mich an die Gemeinheiten und Auswüchse der Soldateska des jeweiligen militärischen Siegers und Besetzers, an Raub, Vergewaltigung, Betrug und Totschlag. Wahrhaftig, der Mensch in seinem Niedergang ist die erklärte Beute des Bösen, das Diabolische ist die Pervertierung des Geistes zum Ungeist. Dieser Ungeist, der der Wahrheit, der Hoffnung und der Liebe total widerspricht, der ihr Gegensatz ist, der die kategorische Verneinung von Gottes Willen ist, er läßt ahnen, was mit dem ewigen Tod gemeint ist. Aber ich erinnere mich ebenso an die diesen Ungeist besiegende Kraft des Geistes, an die große Bejahung dieses Willen Gottes durch oft sehr einfache Menschen, die wiederum erahnen ließen, was ewiges Leben heißen kann. Immer sind in all diesem Elend die Werke dieses Geistes, die Werke des Erbarmens geschehen, gab es von diesem Geist der Liebe bestimmte Menschen, die dem Dürstenden Wasser reichten, den Hungernden Brot, die Hoffnungslose aufrichteten, die den Unterdrückten zeigten, daß sie nicht allein gelassen sind, die den von Ungerechtigkeit Zerfleischten den Balsam gerechter Güte erfahren ließen und den Trauernden und Leidenden durch ihr Gutsein und Mitleiden Stärkung gaben, auch wenn es in der Situation der äußeren Ohnmacht oft nur noch die gemeinsam vergossenen Tränen waren. Und ich war glücklich zu sehen, daß die, die diese Barmherzigkeit übten, vor allem Christen waren oder jedenfalls Menschen, die an einen personalen Gott glaubten, dem sie sich verbunden wußten.

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Wer solches heute feststellt, weiß, daß das eben Gesagte nicht unbedingt verstanden wird, daß man es für fromme Sprüche oder bestenfalls für eine romantische Formulierung von Ausnahmszuständen hält; denn die Menschen in dieser säkularisierten Welt haben sich die Möglichkeit, die volle Wirklichkeit zu sehen, wie sie ist, selbst eingeengt und sind damit verarmt. Dabei wäre es so wichtig, daß sie sich von der Wirklichkeit belehren 'ließen. Was ich hier an Erlebnissen aus meiner Erinnerung wach rief, ist nichts als reflektierte Wirklichkeit. Es sind nicht einmal exzeptionelle Erlebnisse; jeder von uns hatte und hat ähnliche Erlebnisse, mancher noch viel intensivere, schrecklichere. Warum ich dieses feststelle, gerade in dieser Stunde feststelle? Weil ich zutiefst besorgt bin. Die Welt ist wieder voll von Unrecht, von Menschen fabriziert. Dieser zitierte Ungeist treibt wieder in einem Maße sein Unwesen, das erschreckend ist. Denken wir nur ans eigene Land, in dem es so friedlich zuzugehen scheint. Wieder sind es zehntausende Menschen, kleine Kinder - um nur von ihnen zu sprechen - die ihr Leben lassen müssen, weil sie unerwünscht sind, weil sie vermeintlich eine soziale Last darstellen, weil sie angeblich eine Bedrohung sind. Wieder sind es Unschuldige, denen man in betrügerischer Absicht eine Schuld anhängt, wieder ist es eine Ideologie, eine Lüge, mit Hilfe derer das schlechte Gewissen von denjenigen,die da handeln, zum Schweigen gebracht werden soll. Wieder wurde ein Gesetz geschaffen und werden Einrichtungen zugelassen, die es nicht nur erlauben, sondern die dazu ermuntern, daß unerwünschte, noch ungeborene Kinder brutal beseitigt werden, nicht weniger brutal, als die oben erwähnten. Wieder gibt es Spezialkommandos, diesmal sind sie von Medizinern und ihren Helfern gebildet, kommandiert von rein opportunistischen überlegungen. Wieder gibt es aber auch Menschen, die diesen Kindern, die ins Leben gerufen wurden, um sogleich wieder im Stich gelassen zu werden, beistehen, die ihr Leben, das sie begonnen haben, so gut sie es vermögen, schützen, damit sie es fortsetzen und erfüllen können. Wieder gibt es Menschen, die in Not geratenen Frauen beistehen, die durch das Werden dieses Kindes überrascht wurden und verwirrt sind, die, um zu ihrem Kind stehen zu können, menschliches Verstehen und Hilfe brauchen, eine Stärkung gegen diese Kräfte des Ungeistes und der Zerstörung. Freilich bleibt noch viel zu tun. Auch und gerade in diesem Lande. Ich bin immer mehr davon überzeugt, daß in der Frage der Abtreibung und des Schutzes des Lebens nur eine sehr breite und fortdauernde gute Aufklärung der Menschen imstande sein wird, dieses zur Zeit stattfindende Massentöten zu bremsen. Die Menschen müssen begrei-

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fen und immer besser erfahren, müssen verstehen lernen, daß unser aller Leben eben nicht erst mit der Geburt beginnt, und auch nicht erst nach den ersten drei Schwangerschaftsmonaten, sondern eben im Moment der Vereinigung der mütterlichen und väterlichen Keimzelle. Es muß zum selbstverständlichen Wissensgut gehören, daß jedes menschliche Sein, jeder Mensch in diesem Moment zu sein beginnt und daß er das eben begonnene Leben fortsetzen möchte, wie Du und ich. Es muß klar sein, daß jeder Mensch ein natürliches und ein göttliches Recht hat auf dieses einmal begonnene Leben und daß jeder, der einem solchen Leben sein Recht streitig macht und es sogar zerstört oder zerstören läßt, sich ins Unrecht setzt, auch dann, wenn ein gegen dieses Grundrecht des Menschen verstoßender Gesetzgeber ein Gesetz erläßt, das eine solche Untat für erlaubt erklärt. Es besteht für mich kein Zweifel, daß hier der Gesetzgeber schwer im Unrecht ist. Man kann nur hoffen, daß die Politiker im gesetzgebenden Nationalrat diese Tatsache doch einmal einsehen werden und dann auch den Mut haben, dies auch einzugestehen und zu ändern. Das "Jahr des Kindes" wäre eine gute Gelegenheit dazu gewesen. Es hätte eine unvorstellbare Signalwirkung gehabt, wenn der Gesetzgeber eines kleinen, neutralen und - wie behauptet - christlichen Landes, die "Fristenlösung" aufgegeben und Gesetze geschaffen hätte, aus denen man hätte erkennen können, daß es dieser Staat mit dem Schutz des menschlichen Lebens, auch dem des ungeborenen Kindes, so wie es auch in den internationalen Deklarationen über das "Recht des Kindes" festgehalten ist, ernst meint. Man würde auch glaubwürdiger sein, wenn man Nachbarn darauf verweist, daß sie etwa die Schlußakte der Konferenz von Helsinki nicht einhalten. Die schönsten Reden zum "Jahr des Kindes" gelten wenig, wenn man sich nicht entschließt, dem guten Geist einer solchen Deklaration nachzuleben. Und in einem christlichen Staat oder, genauer gesagt, in einem Staat, in dem die Mehrheit der Bürger christlich Getaufte sind, - sogar die sozialistische Mehrheit stellt, wenn sie es für günstig hält, diese Tatsache fest - müßte man ja wohl erwarten dürfen, daß ein so grundlegendes Gebot christlicher Ordnung und christlichen Lebens - und Menschenverständnisses, wie das Recht zu leben, geachtet wird und auch in einem weltlichen Gesetz seinen Niederschlag findet. Das schließt, gerade in christlicher Sicht, nicht nur nie aus, sondern verlangt geradezu, daß einer Schwangeren in Not unbedingt geholfen werden soll, aber niemals damit, daß diese Schwangere zu einer Frau gemacht wird, die sie im Grunde gar nicht sein will, einer Frau nämlich, die, nachdem schon der Kindsvater an ihr und dem Kind schäbig gehandelt hat, auch noch das eigene Kind im Stich läßt, mehr noch, zu einer Frau, die jemanden dafür dingt, daß er dieses Kind heimlich beseitigt. Die "Fristenlösung" ist eine weniger als billige juristische Lösung

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für einen komplizierten Sachverhalt und eine schwierige menschliche Lage, die gewiß nicht im Dienste der Gerechtigkeit steht. Eine für das Kind, die Mutter und den Kindesvater gerechte Lösung ihren Niederschlag in einem guten Gesetz finden zu lassen, wäre wahrscheinlich eine der bedeutendsten juristischen Leistungen unserer Zeit, die allerdings längst überfällig ist. Eine solche gute Lösung dürfte keine Kompromiß- und damit auch keine Indikationenlösung sein, weil keine der in der Praxis bestehenden diesbezüglichen Modelle dem Kind wirklich Gerechtigkeit widerfahren 'läßt. Jede dieser Lösungen, die Anspruch darauf erhebt, nicht nur ein Gesetz zu sein, sondern auch ein auf Gerechtigkeit beruhendes Recht, muß zuerst als Grundlage den Schutz des Lebens des Kindes garantieren und zwar nicht von irgendeinem Zeitpunkt seines Lebens an, sondern eben von seinem Beginn, d. h. bei dem Stand der Wissenschaft in dieser Frage eben von der Empfängnis an, ein Umstand, der ja nicht zufälligerweise auch im Zivilrecht aus der genau gleichen Überlegung sehr wohl Berücksichtigung findet. Ich halte daher die Entscheidung des österreichischen Verfassungsgerichtshofes über die Klage des Bundeslandes Salzburg nicht zuletzt wegen dieser ungleichen Behandlung des "nasciturus" im Zivilrecht einerseits und im Strafrecht andererseits für mehr als unverständlich. Neulich stellte R. Kerrer in der Tiroler Tageszeitung die Frage, ob "die Zeit nicht mehr fern sei, wo as Recht eine Sache der Opportunität wird". Ich hoffe, Sie können meine Besorgnis verstehen. Man sage nicht, was hier an den Kindern geschieht, könne man nicht mit dem Vergleichen, was ich an Furchtbaren eingangs geschildert habe. Es ist ebenso furchtbar! Man kann vielleicht noch jene verstehen, die aus Unwissenheit meinen, daß beim Schwangerschaftsabbruch kein Menschenleben auf dem Spiel steht; daß aber jene, die als Politiker für sich in Anspruch nehmen, das Volk zu führen, diese ihre Verantwortung nicht auf klare Fakten stützen, ist unentschuldbar. Meine Besorgnis betrifft außerdem nicht nur die biologische Tatsache, daß unserem Volk bald eine halbe Million Kinder fehlen wird, weil wir es zuließen, daß sie in den letzten 5 Jahren als unerwünscht grausam um ihr Leben gebracht wurden; mindestens ebenso schwer wiegt die Schuld, die wir damit auf uns laden und daß wir mit dieser Schuld umgehen und mit ihr leben, als gäbe es sie nicht. Diese Haltung zerstört nicht nur das Leben ungeborener Kinder, sondern auch das eigene innere Leben und damit das des Volkes. Das ist keine pessimistische Aussage, das ist lediglich eine Feststellung von sehr ernsten Tatsachen, die jeder, der schauen kann, auch sieht.

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Wir würden deshalb die Situation in der Frage der Abtreibung und des "Schutzes des Lebens" nicht richtig einschätzen, wenn wir uns, so wichtig es ist, nur eine Lösung von einem staatlichen Gesetz erwarten. Ich bin überzeugt, daß nur die sittliche Festigung der Menschen, ihre bessere Einsicht in die Zusammenhänge und eine gerechte und wenigstens faire Einstellung zum Kind, eine richtige Entscheidung herbeiführen kann. Das Strafgesetz ist nur eine Stütze und ein gewisser Schutz. Noch ist der Schwangerschaftsabbruch auf die Mithilfe von mehreren Leuten angewiesen und damit nur halb anonym, weshalb noch gewisse Hemmungen bestehen, diese Untat durchzuführen. Auch die Brutalität des Eingriffes selbst läßt manche Frau davor zurückschrecken, ihn durchführen zu lassen; ebenso die Tatsache der Nebenwirkungen bei rund einem Drittel solcher Schwangerschaftsabbrüche. Was aber wird sein, wenn diese Anonymität total ist, wenn das Prostaglandin-Vaginalsuppositorium zu haben sein wird, an dessen allgemeiner Verfügbarkeit man intensiv arbeitet. Steht es einmal zur Verfügung, wird sich jede Frau ohne Wissen Dritter sozusagen im Selbstbedienungsverfahren ihre vermeintliche oder sichere Schwangerschaft abbrechen können. Man überlege sich, wie groß die Belastung für die Frau sein wird. Ich bin gewiß, man wird diesen Tag als den Tag der definitiven Befreiung der Frau feiern, obschon er der Ausgangspunkt einer neuen, noch schlimmeren Knechtschaft sein wird. Man stelle sich vor, was hier die einzelne Frau als Verantwortung auf sich nimmt! Wenn es nicht gelingt, die Persönlichkeitsbildung der Frau so verantwortungsbewußt zu gestalten, die Frauen für diese Stunde so gut vorzubereiten, daß sie imstande sind, die jeweils richtige und gerechte Entscheidung zu treffen, sind die daraus entstehenden Konsequenzen unvorstellbar ernst und schlimm. Man braucht kein Prophet zu sein, wenn man feststellt, daß sie heute dafür noch nicht genügend vorbereitet sind. Hier erwartet uns noch ein weites Feld in der Arbeit zum "Schutze des Lebens". Diese Feststellungen sollen Sie nicht verzagt machen, sie sollen nur aufzeigen, wo wir stehen und wie es wahrscheinlich weitergehen wird. Sie sollen uns helfen, Vorkehrungen zu treffen und unsere Anstrengungen zu intensivieren auf allen Ebenen: auf der politischen, der zwischenmenschlichen, der christlichen Ebene; jeder, wo er kann und soviel er kann. "Rettet das Leben" heißt, das Leben der vielen in Lebensgefahr befindlichen ungeborenen Kinder zu erhalten versuchen. "Rettet das Leben" heißt aber auch, und das wollte ich hier mit dem Gesagten aufzeigen, zu versuchen, das Leben der schon geborenen, der Verantwortung tragenden Erwachsenen zu retten, das eigentliche Leben, das mehr ist als bloß sein Körper; es geht wirklich in einem viel tieferen Sinn um Leben und Tod. Wenn wir das nur begreifen würden!

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Lassen Sie mich mit einer Lebensgeschichte, die auch eine Liebesgeschichte ist, schließen. Vor wenigen Monaten rief mich der Polizei arzt an. Er sei hier in einer Wohnung, sagte er mir, wo es zu Tätlichkeiten zwischen dem Ehemann und seiner schwangeren 38 Jahre alten Frau kam. Der Ehemann war wütend, weil seine Frau wieder, zum fünften Mal, schwanger war. Der Polizei arzt wollte wissen, ob mir bekannt sei, daß in der Wohnung dieser Familie ein 2jähriges Kleinkind mit einem Riesenhydrocephalus von seiner Mutter gepflegt würde. Meine Erkundigungen ergaben, daß es ein Kind war, bei dem nach der Geburt ein angeborener Hydrocephalus festgestellt worden war, dessen Operation aber von den Chirurgen als aussichtslos abgelehnt wurde mit dem Bemerken an die Mutter, daß das Kind nur noch wenige Wochen zu leben hätte. Aus diesen Wochen wurden zwei Jahre. Ich habe die Familie zu Hause besucht und treffe dort dieses bedauernswerte Kind, zwei Geschwister, Buben im Schulalter, den Vater, der sich inzwischen beruhigt hatte, und die Mutter, die das kranke Kind bewundernswert pflegte, und das in netten Kleidern in einem sauberen Bettchen lag. Wenn man die Szene sah, wie das Kind lächelte und Kontakt mit den übrigen Familienangehörigen hatte, wie die Buben mit ihrem pflegebedürftigen Brüderchen spielten, welche Zuwendung dieses Kind bei seiner Familie hervorrief und in welch großartigem Maße diese von diesen sehr einfachen Menschen gewährt wurde, dann wurde einem nicht nur klar, was "Rettet das Leben" bedeuten kann, sondern, was diese Liebesmöglichkeit für die vom Schicksal gewiß nicht verwöhnte Mutter bedeutete. Es war etwas wie erfülltes Leben in dieser Frau, eine großartig gelöste, schwere Aufgabe hatte sie zu einem bedeutenden Menschen werden lassen, dessen Wert sie wohl spürte, auch wenn er ihr wahrscheinlich nicht voll bewußt war. Mit ihr wuchs in dieser Familie Menschliches heran, an der auch die Nachbarinnen liebend und helfend partizipierten. In diesen Tagen starb das Kind, bis zur letzten Stunde seiner Mutter mit seinem Lächeln dankend. Eine Lebensgeschichte und, wie ich glaube, eine besondere Liebesgeschichte ging zu Ende. Ich will nur hoffen, daß sie nachwirkt und daß keine Leere in diese Mutter Einzug hält, weil sie das so geliebte Kind, eine für sie wesentliche Aufgabe, hergeben mußte. Hoffen will ich auch, daß das Kind, das sie in den nächsten Wochen zur Welt bringen wird, gesund sein möge und daß eine neue Liebesgeschichte einer Mutter beginnen bzw. ihre Fortsetzung finden kann l . 1 Die neue Liebesgeschichte hat inzwischen begonnen. Vier Wochen nach dem Tod des behinderten Brüderchens kam ein gesundes Mädchen zur Welt, gesund und von allen in der Familie bejaht ... und geliebt!

BEHINDERUNG IST EINE FORM DES LEBENS Von Hans Franc Eine Fülle von theoretischen Erklärungsmustern erlaubt es, behinderte Menschen zu beschreiben, zu definieren und einzuordnen. Diese Einordnungen arten nicht selten zu Schablonen aus. Schablonen wiederum verleiten dazu, daß das Ergebnis eines dynamischen Prozesses als Folge von "Zuständen gesehen wird. Zeigen die Probleme der Behinderten nicht unsere eigenen Probleme auf? Vertuschen wir nicht unsere Ratlosigkeit, indem wir ihre Hilflosigkeit bedauern? Betreiben wir nicht die elitärste Form der Ablehnung eines behinderten Menschen, wo wir ausschließlich aus Mitleid handeln? Die Lebenswelt behinderter Menschen begreifen, ihre Situation und ihre Bedürfnisse verstehen können wir erst dann, wenn wir ihnen die Möglichkeit geben, mit uns zu leben. Dabei müssen wir Vorleistungen erbringen und dürfen uns nicht hinter den vielfältigen Barrieren verschanzen und warten, bis diese abbröckeln. Voraussetzung für das Begreifen der Gesamtpersönlichkeit eines behinderten Menschen ist die Beantwortung von Fragen, welche bisher durch die nahezu ausschließliche Fixierung auf den jeweiligen Defekt behinderter Menschen übersehen wurden. Eine zentrale Frage müßte lauten: "Was bedeutet es für den behinderten Menschen, behindert zu sein?" Das Verständnis behinderter Menschen gäbe uns Gelegenheit, uns selbst, unsere Lebenswelt und unsere Mitmenschen neu zu begreifen.

I. Der Behinderte in der Gesellschaft Für den Behinderten ist es schwer, sich in die Gesellschaft zu integrieren, weil er immer wieder den Widerstand fühlt, der ihm von der Umwelt entgegengebracht wird. Durch seine Behinderung ist er viel feinfühliger und reagiert natürlich sofort auf jede Stellungnahme von Nichtbehinderten. Er ist ja, wenn er sich mit seiner Behinderung abge30 Festschrift Rossl

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funden hat, bemüht, die bei ihm vorhandenen Leistungsmöglichkeiten aktiv einzusetzen und setzt meistens seinen ganzen Ehrgeiz darein, ein nützliches Glied in der Gesellschaft zu sein. Er ist bestrebt, seinen Lebensunterhalt nach Möglichkeit durch Eigenleistung zu bestreiten. Hier beginnen jedoch die Schwierigkeiten und Hindernisse, die sich diesen seinen Bemühen entgegenstellen. Schon oft als Kind wird er von der Gemeinschaft abgesondert. Er kann nur sehr selten mit nichtbehinderten Kindern gemeinsam einen Kindergarten besuchen und er wird nicht immer in eine Regelschule aufgenommen. Er muß sich mit der Einweisung in einen Sonderkindergarten und in eine Sonderschule zufrieden geben, auch wenn die physischen und psychischen Voraussetzungen vorhanden sind, die ihm einen Besuch der Regelschule unter gewisse Voraussetzungen ohne Schwierigkeiten ermöglichen. Nur in seltenen Fällen finden sich Institutionen bereit, den Besuch einer Regelschule dem Behinderten zugänglich zu machen. Dort wo dies bisher geschah, hat man damit fast immer die besten Ergebnisse erzielt, die für eine leichtere Integrierung des Behinderten in die Gesellschaft nützlich waren. Doch schon nach der Geburt müßte bei verhaltensgestörten oder behinderten Kindern mit der entsprechenden Therapie eingesetzt werden. Durch die rechtzeitige Erkennung und Behandlung des verhaltensgestörten oder behinderten Kindes kann so manche Störung behoben oder weitgehend verhindert beziehungsweise eine Stabilisierung (Rehabilitation) der Gesamtpersönlichkeit des Behinderten erzielt werden. Die Zusammenarbeit von Pädagogik, Medizin, Therapie und Psychologie ist eine notwendige Voraussetzung, um die Vielschichtigkeit des Behindertenproblems weitgehendst lösen zu können. Je früher eine Behinderung erkannt und umfassend therapiert werden kann, je früher die Eltern Beistand und Hilfe erhalten, um einen gangbaren Weg zur Erziehung und Sozialisation ihres behinderten Kindes zu finden, je früher sie dadurch ihre Zukunfts angst überwinden können, desto eher wird eine schulische Integration möglich sein. Andererseits müßte aber auch trotz aller Integrationsforderungen klargestellt werden, daß gegebenenfalls eine zumindest zeitweise besondere schulische Betreuung des behinderten Kindes notwendig sein kann. Die Sonderschule betreut also einerseits die ihr anvertrauten Schüler, wobei es ihr aber vor allem darauf ankommen muß, die Durchlässigkeit nach allen Richtungen zu wahren. Das heißt: nicht nur der Weg in die Sonderschule ist möglich. Es muß auch der Weg in die Regelschule jederzeit wieder möglich sein, wenn besondere Maßnahmen oder therapeutische Notwendigkeiten nicht mehr gegeben sind.

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Integration bedeutet eine sehr umfassende und differenzierte Arbeit mit dem und für den Behinderten. Sie bedarf vor allem einer vorurteilslosen, von Abwehrreaktionen freien 'Zusammenarbeit aller an diesem Problem Interessierten. In diesem Zusammenhang ist es sicher zwingend erforderlich, durch permanente Aufklärung besondere Förderungen und die besonders zu Fördernden nicht zu stigmatisieren. Es muß gelingen, die heute noch in der Gesellschaft vorhandenen Vorurteile und Abwehrhaltungen gegenüber den Behinderten abzubauen. Das heißt, die Familien behinderter Kinder dürfen weder gewollt noch ungewollt randständig werden. Gerade sie bedürfen der besonderen Hilfe der Gesellschaft. Sowohl die Familie wie auch ihr behindertes Kind brauchen besondere Stütz- und Fördermaßnahmen, die sich nicht in ausschließlich befürsorgenden Maßnahmen erschöpfen dürfen. Viel wesentlicher ist die physische und psychische Aktivierung des behinderten Kindes, das Kompensieren von Einschränkungen, das Fördern und Entwickeln von Restfunktionen, und gleichzeitig müssen die Eltern in einer realistischen und positiven Haltung zu ihrem behinderten Kind gestärkt werden. Hat das behinderte Kind die schulische Ausbildung abgeschlossen, so kommen auf es noch größere Schwierigkeiten zu. Die Eingliederung in den Arbeitsprozeß. Im "Konzept zur Eingliederung Behinderter" des Bundesministeriums für Soziale Verwaltung werden die Grundsätze für die Beschäftigung Behinderter wie folgt beschrieben: "Soweit Behinderte nicht genug Leistungsfähigkeit haben, um auf dem offenen Arbeitsmarkt tätig sein zu können, aber dennoch in der Lage sind, Arbeit zu leisten, sollen sie die Möglichkeit einer Beschäftigung in einer geschützten Werkstätte haben." Diese Maßnahme ist zweifellos gut gemeint. Sie führt aber unwillkürlich zur wachsenden Unterbringung von Behinderten in geschützten Werkstätten anstatt auf dem offenen Arbeitsmarkt. Eine Behindertenpolitik, die primär ihre Eingliederung in die Gesellschaft anstrebt, muß alle Maßnahmen diesem Ziel unterordnen. Wenn ein Behinderter nicht die gleiche Leistungsfähigkeit wie ein Gesunder besitzt, so könnte der Ausgleich durch Ausgleichszahlungen erreicht werden. Eine Absonderung der Behinderten bietet kurzfristig zweifellos zahlreiche Vorteile; sie können "fachgerechter" behandelt werden. Die Gefahr bildet aber ihre zunehmende Isolation und ihre Herauslösung aus der Gesellschaft. Es ist verständlich, daß die Behinderten nicht so sehr neue finanzielle Zuwendungen fordern, sondern eine Gleichheit in den Chancen mit den Gesunden. Es gibt Beispiele, daß Querschnittsgelähmte bestimmte Arbeitsplätze, die ihnen die Entfaltung ihrer Fä30·

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higkeiten ermöglichen würden, nicht erhalten. Die Ernennung auf einen höheren Posten wird Behinderten versagt, weil die Meinung verbreitet ist, sie könnten im Wettbewerb der Wirtschaft versagen. Es handelt sich dabei um Vorurteile, die durch gesetzliche Schutzbestimmungen, etwa im Invalideneinstellungsgesetz, gestützt werden. Die Gesetzgebung für den Behinderten und die staatliche Behindertenpolitik wurden in den letzten Jahren soweit ausgebaut, daß für den einzelnen Menschen kaum mehr Möglichkeiten zur persönlichen Gestaltung des Lebens bleiben. Der Ruf nach mehr Schutz für den Behinderten machte ihn zum Abhängigen vom Staat und vielfach zum Außenseiter unserer Gesellschaft. Es muß wieder geprüft werden, inwieweit etwas weniger Schutz für den Behinderten seine Chancen im Bereich des Bildens, des Arbeitens und bei der Freizeitgestaltung vergrößern könnte. Der Freiraum zur Gestaltung des eigenen Lebens müßte für den Behinderten wieder vergrößert werden. Es ist gefährlich, den Behinderten gleichsam unter eine Schutzglocke zu stellen, die weder die Möglichkeiten bietet, Verantwortung zu übernehmen, noch die Chance, Anerkennung zu erfahren. Es ist zweifellos schwierig, den Ausgleich zwischen Schutz, dessen der Behinderte bedarf, und Freiheitsraum, der auch durch Wettbewerb, Leistungsdruck und Konfrontation geprägt wird, zu finden. Dies könnte dadurch gescl1ehen, daß mehr Hilfen gewährt werden. Geschieht dies nicht, so wird der behinderte Mensch zu einem Objekt, das behandelt, betreut, gelenkt und geleitet wird. Er wird zum versorgten Menschen. Die Leistungen, die auf Grund der Sozial- und Behindertengesetzgebung beansprucht werden können, werden meist nur dann gewährt, wenn bestimmte normativ festgelegte Kriterien erfüllt werden. Der Einzelne erwirbt Ansprüche gegenüber dem Staat. Auf die Bedürfnisse des Behinderten kann in einem solchen System nur soweit Bedacht genommen werden, als sie sich objektivieren lassen. Das hat zur Folge, daß jemand, der sicl1 seine Behinderung als Soldat oder im Beruf zugezogen hat, andere Leistungen erhält als jemand, der vom ersten Augenblick seines Lebens behindert ist, auch dann, wenn die Behinderung und seine finanzielle Situation genau gleich sind. Eine Orientierung der Hilfen für den Behinderten an seinen Bedürfnissen verlangt eine vollkommene Änderung des Systems der Sozialgesetzgebung. Maßnahmen, die die Eingliederung Behinderter auf dem Arbeitsplatz, in der Schule und bei der Freizeitgestaltung ermöglichen, sind wichtiger als Heime und Anstalten. Die Unterbringung von behinderten Menschen auf dem offenen Arbeitsmarkt müßte mehr gefördert wer-

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den als ihre Versorgung in geschützten Werkstätten. Für Behinderte, die in allgemeinen Schulen unterrichtet werden, sind zumindest die gleichen Geräte und Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen, wie Behinderten an Sonderschulen. Familien, die Behinderte aufnehmen, müßten Dienste angeboten werden, die die entstehenden Belastungen weitgehend mildern. Der Behinderte hat jedenfalls ein Recht darauf, mit dem ihm verbliebenen Möglichkeiten ein aktives, sinnerfülltes, gleichberechtigtes Leben in unserer Gesellschaft zu führen. 11. Wie sieht der Behinderte seine Behinderung? Wir Christen reden von einer heilen Welt, vom Reich Gottes und daß Gott das Heil will, erleben aber überall eine unheile Welt. Der Behinderte fragt sich eben, warum gerade er leiden muß, warum gerade er betroffen ist. Für ihn ist es schwer, an einen "lieben Gott" zu glauben. Es nützt nichts, wenn wir ihm sagen, daß er stellvertretend das Leid trägt, daß ohne Leid und Krankheit die Welt sicher noch viel grausamer wäre, weil keiner dem anderen helfen würde. Den Glauben können wir nur durch persönliche Gespräche und Beziehungen weitergeben. Behinderte werden allergisch, wenn Leute kommen und Religion belehrend weitergeben wollen. Sie müssen ihre eigenen Erfahrungen einbringen und von ihnen ausgehen können, um den Glauben zu begreifen. Wir machen natürlich auch die Erfahrung, daß bei vielen das, was sie heute ablehnen, später in ihnen fruchtbar wird. Ein behindertes Kind macht in der Pubertät ein großes Tief durch, in dem es sich gegen seine Situation auflehnt und oft Ersatzbefriedigungen sucht. Dieses Tief durchzustehen, mit dem Schicksal fertigzuwerden, ist eine wichtige Aufgabe, bei der das Kind viel beratende Hilfe und Gespräche braucht. Von Behinderten abgelehnt wird, wenn sie durch große karitative Aktionen VOn einer sozialen Öffentlichkeit mit frommen Durchhalteund Ermutigungsparolen empfangen werden. Es bringt ihnen nichts, wenn sie dauernd ihres Andersseins und ihrer Krankheit bewußt werden und Verständnis- und Mitleidsbezeugungen bekommen. Der größte Wunsch eines Behinderten ist, akzeptiert zu sein, wie jeder andere lustig sein zu können, Kontakte zu haben, natürlich und unbefangen anderen Menschen zu begegnen. Lassen wir einige Behinderte selbst zu Wort kommen: "Die Leute auf der Straße behandeln uns oft komisch. Besonders ältere Leute. Es fängt schon damit an, daß sie meinen, wir wären geistig nicht normal, dann meinen sie, daß wir nicht essen oder schreiben kön-

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nen und drücken uns Geld in die Hand. Kinder dagegen sind ganz natürlich und offen. Grad daheim ist so ein Mädchen, das mich dauernd fragt: "Sind die Arme noch nicht länger?" Das amüsiert mich. Die Eltern meinen dann oft, das beleidigt einen. Ich meine, für Behinderte ist das ja eine Tatsache, die man nicht leugnen kann. Aber man ist so behindert, wie man sich fühlt, und ich fühle mich nicht behindert." "Am besten ist, wenn uns die Leute ganz normal behandeln, so wie sie unter sich. Ich mag es nicht, wenn Leute mit mir Mitleid haben und sagen: "Mei, du armes Hascherl", dann geb' ich patzige Antworten, weil ich mich nicht so arm und krank füh!', und da mag ich nicht, wenn mich jemand auf meine Behinderung anredet." "Aber ich find', da gehört Mut dazu, einen Behinderten zu fragen, und da soll man schon Antworten geben und ihn über die Krankheit aufklären. Wenn man da eine patzige Antwort gibt, ist den Leuten und uns auch nicht geholfen." "Ich fange im September das Arbeiten an, davor habe ich ein bißchen Angst." "Es ist überhaupt schwer für Behinderte, eine Arbeit zu finden. Man wird immer abgesondert, weggeschoben, weil man meint, wir könnten die Arbeit eh nicht." "Wir können fast nur Büroarbeiten machen, meinen die Leute. Außerdem heißt es immer: Behinderte gehören zu Behinderten. Icll würde in der Arbeit gerne mit Menschen zusammenkommen oder mit Tieren; trockene Büroarbeit kann ich nicht machen, das liegt mir nicht." "Es wird immer gesagt, Behinderte kommen ins Büro. Wir werden irgendwo versteckt, da, wo die Leute gar nicht hinkommen, als wären wir eine Schande. Oft meinen sie auch, wir wären geistig behindert und könnten mit den Leuten gar nicht reden." "Wahnsinnige Angst habe ich vor dem Sterben, vor qualvollem Tod, Schmerzen, zum Beispiel Verbrennen oder Ertrinken; auch habe ich Angst vor dem politischen System." "Sorgen mache ich mir um meine Zukunft; ich habe Angst vor Unfreiheiten. " Diese Äußerungen Behinderter über ihre Umwelt und den Mitmenschen mögen uns die Einstellung der Behinderten zu ihrer Behinderung erkennen lassen. Sie zeigen uns aber auch, daß der Behinderte in den meisten Fällen nicht resigniert, sondern daß er trotz der vorhandenen Behinderung versucht, ein vollwertiges Glied in unserer Gesellschaft zu sein und auch im Arbeitsprozeß, je nach seiner Leistungsmöglichkeit, sich zu behaupten.

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III. Die Verantwortung der Gesellschaft gegenüber den Behinderten Die uneingeschränkte Aufnahme des Behinderten in unsere Gesellschaft ist noch weit von ihrer Verwirklichung entfernt. Ein großer Teil unserer Mitmenschen lehnt immer noch die volle Integrierung des Behinderten in die Gesellschaft und in den Arbeitsprozeß ab. Man will mit dem Leid und den Sorgen dieser Menschen nicht konfrontiert werden und möchte sie am liebsten aus dem Blickfeld verbannen. Man zieht wohl Grenzen zwischen den Körperbehinderten und den Sinnes behinderten. Der Gruppe der Körperbehinderten zeigt man da und dort bereits eine gewisse Aufgeschlossenheit und akzeptiert diese in manchen Bereichen. Jedoch den Sinnesbehinderten steht man zum größten Teil völlig ablehnend gegenüber. Diese Einstellung gesunder Menschen zu psychisch Kranken und Behinderten ist in besonderem Maß durch Angst und Unsicherheit geprägt. Häufig werden deshalb seelisch gefährdete Menschen in eine Situation gedrängt, die eine anfänglich leichtere Störung zu einer Krankheit oder einer bleibenden Behinderung werden lassen. Bei jeder Krankheit gibt es Fälle, in denen ärztliches Wissen nur ungenügend helfen kann. Geistes- und Gemütskrankheiten machen davon keine Ausnahme. Aber es sind Krankheiten, die in jedem Fall behandelt und gebessert werden können, wie andere auch. Jeder Mensch kann seelisch krank werden. Konfliktsituationen, einschneidende Erlebnisse, ungünstige Umweltbedingungen können die seelische Gesundheit stören, aber auch Hirnverletzungen, körperliche Erkrankungen, krankmachende Lebensgewohnheiten oder Lebenskrisen. Immer mehr Menschen leiden unter den Spannungen und Anforderungen des modemen Lebens und sind psychisch gefährdet. Bei rechtzeitiger Beratung gefährdeter Menschen und einer frühzeitigen Behandlung psychischer Krankheiten kann oft eine bleibende Behinderung vermieden werden. Psychisch gestörte Menschen sind häufig still und kontaktarm und wirken vielleicht ein wenig verschroben. Gerade sie brauchen Verständnis und menschliche Anteilnahme, um ihr Leben bewältigen zu können. Man schafft geschützte Werkstätten, man schafft Heime, in die man die Behinderten unterbringt und versorgt. Man versucht sie da und dort aus den Augen zu schaffen, sie abzusondern, damit sie uns nicht mahnen und erinnern, daß wir ihnen gegenüber eine Verpflichtung haben. Daß wir sie annehmen und in unsere Gesellschaft mit einbauen und als gleichwertige Glieder unserer Gesellschaft anerkennen. Die genau so ein Recht auf Leben und auf Teilnahme an unserem Gesell-

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schaftsleben haben. Die ohne weiteres schöpferisch tätig sein können und als nützliche Glieder unserer Gesellschaft ihren Lebensunterhalt durch eigene Arbeit erwerben können, wenn wir ihnen die Möglichkeit geben sie, nach ihrer Leistungsmöglichkeit, in den Arbeitsprozeß einzubauen und sie dadurch als vollwertige Glieder unserer Gesellschaft anerkennen. Wir müssen jedoch schon bei den Kindern beginnen. Unser Bemühen muß sein, größtmögliche Integration des körperbehinderten Kindes zu erreichen, damit diesem eine Erlebniswelt eröffnet werden kann, die über den engeren Kreis der Familie hinausgeht. Es heißt, daß es - wie das gesunde Kind - Spielgefährten haben sollte, denn das Element des Kindes, zumindest in den frühen Lebensjahren, ist das Spiel. Besonders wünschenswert im Sinne der Eingliederung ist es, wenn das körperbehinderte Kind auch gesunde Spielgefährten haben kann, und zwar auch dann, wenn es eventuell einen Sonderkindergarten oder eine Sonderschule besucht. Einmal wird ihm dadurch die Möglichkeit gegeben, wieder die auch durch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe gesetzten relativ engen Grenzen zu durchbrechen, zum anderen lernt es von klein auf, sich mit einer Umwelt auseinanderzusetzen, die "anders" ist und in die es doch hineinwachsen soll. Es ist selbstverständlich, daß das Kind dabei nicht überfordert werden darf, daß, wo nötig, Hilfen gegeben werden müssen. Eine ähnliche Bedeutung hat dieser Kontakt jedoch auch für die gesunden Kinder, die ebenfalls dabei lernen können, sich mit jemanden auseinanderzusetzen, der "anders" ist. Wenn wir uns auch darüber im Klaren sind, daß es wichtig und richtig ist, wenn körperbehinderte und gesunde Kinder zusammen spielen, so ist die Frage, wie man das erreicht, nicht immer einfach zu lösen. Wir meinen hier ja nicht das gelegentliche "Zusammenkommen", wir wollen nicht eine "gebende" (gesundes Kind) und eine "nehmende" Seite (das behinderte Kind) haben, sondern ein Miteinander und die Möglichkeit, Erlebnisse zu teilen. Voraussetzung dafür ist Unbefangenheit auf beiden Seiten. Für das gesunde Kind bedeutet das, daß auch Spielen mit dem behinderten Kind nicht ein "Muß" ist, kein gutes Werk, für das es besonders zu loben wäre. Hier muß die Hilfe und die richtige Führung durch die Erwachsenen einsetzen. Besonders wichtig ist die - möglichst unauffällige - Schaffung einer geeigneten Spielsituation, in der sich sowohl das behinderte wie auch das gesunde Kind entfalten kann. Das heißt eine Situation, die nicht dazu führt, daß sich das behinderte Kind aufgrund seiner Behinderung nicht beteiligen kann und die ebenfalls nicht dazu führt, daß sich das oder die gesunden Kinder gelangweilt fühlen, daß also doch eine lästige Pflicht daraus wird.

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Zur Aufrechterhaltung der eben erwähnten Unbefangenheit gehört, daß sie auch von den Erwachsenen geteilt wird. Je älter die Kinder werden, desto mehr wird ihnen das gegenseitige Anderssein auffallen. Sie werden Fragen stellen: Das gesunde Kind wird wissen wollen, etwa - sogar in Gegenwart des Spielgefährten - warum dieser nicht laufen kann, weshalb ein Arm fehlt oder ähnliches. Hier muß sachlich Auskunft erteilt werden entsprechend dem Aufnahmevermögen des Fragers. Die Eingliederung des behinderten Kindes sollte unter allen Umständen in die Regelschule angestrebt werden. Nur dort wo tatsächlich der Besuch der Regelschule dem behinderten Kind nicht zugemutet werden kann, soll diese in eine seiner Behinderung entsprechenden Sonderschule erfolgen, wobei die Durchlässigkeit nach allen Richtungen gewahrt bleiben muß. Das heißt: nicht nur der Weg in die Sonderschule ist möglich. Es muß auch der Weg in die Regelschule jederzeit wieder möglich sein, wenn besondere Maßnahmen oder therapeutische Notwendigkeiten nicht mehr gegeben sind. Der Übergang des behinderten Kindes von der Schule in den Arbeitsprozeß muß sorgfältig vorbereitet und geplant werden. Schon in der Schule ist auf die besondere Eignung des behinderten Kindes Bedacht zu nehmen und zu erkunden und zu prüfen, für welche Berufsausbildung besondere Eignung und Interesse vorhanden ist. Hiezu sind fachspezifisch ausgebildete Lehrkräfte, Mediziner, Therapeuten und Psychologen heranzuziehen, um die Vielschichtigkeit des Behindertenproblems weitgehendst lösen zu können. Die Eingliederung des Behinderten in die Berufsausbildung und Beschaffung von geeigneten Arbeitsplätzen hätte vordringlich zu erfolgen und müßte schon vor Beendigung der Schulpflicht gelöst sein. Es wird da oder dort nicht zu vermeiden sein, daß man für manche behinderte Kinder (besonders sinnbehinderte) keinen geeigneten Arbeitsplatz zu beschaffen in der Lage ist. Diese müßten sofort in geschützten Werkstätten oder arbeitstherapeutischen Werkstätten untergebracht werden, um zu vermeiden, daß sie sich als ausgestoßen und verfemt vorkommen. Nicht ganz zu vermeiden wird sein, daß wir für Schwerst- und Mehrfach behinderte, und hier vor allem auch für manche Sinnesbehinderte, eine Heimunterbringung benötigen. Diese Heime oder Behindertendörfer müssen jedoch so ausgestattet sein, daß deren Ausstattung den gegebenen Erfordernissen entspricht und daß neben der Betreuung auch für eine entsprechende Arbeitstherapie gesorgt wird, damit der

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Aufenthalt an diesen Orten der Menschenwürde entspricht und für die Heiminsassen erträglich und zufriedenstellend sein kann. Halten wir uns immer wieder vor Augen, daß auch wir, durch irgend ein Ereignis oder eine Krankheit schon morgen auch zum Kreis der Behinderten gehören können und daß wir unter einem Abschieben oder Ausstoßen aus unserem derzeitigen Gesellschaftskreis schwer leiden würden und dann ebenfalls auf die Hilfe der Nichtbehinderten angewiesen sind. Die gesunden Menschen müssen daher wieder beginnen, an das Können, die Verantwortungsbereitschaft und den Einsatzwillen der behinderten Menschen zu glauben. Sie müssen den Behinderten mehr Chancen für die Gestaltung ihres Lebens bieten. Verstehen und helfen, statt nur schützen, würde dem Behinderten mehr Chancen in unserer Gesellschaft bieten.

DER EINFLUSS DER KATHOLISCHEN SOZIALLEHRE AUF DIE FAMILIENPOLITIK IN ÖSTERREICH Von Wendelin Ettmayer I. Der Stellenwert der Familie in der katholischen Soziallehre 1. Wesen und Bedeutung der Familie Es gibt wohl keine andere Institution, der in der katholischen Soziallehre ein so bedeutender Stellenwert eingeräumt wird, wie der Familie. Sie zählt neben dem Eigentum und der Arbeit zu jenen drei Grundwerten, die sich gegenseitig bedingen. "Die Familie ist die aus der Ehe, über die Gott seinen Fruchtbarkeitssegen ausgegossen hat, sich entfaltende natürliche Lebensgemeinschaft der Eltern mit ihren Kindern (societas naturalis parentalis) und zugleich die Zelle der menschlichen Gesellschaft"l. Während aber die Theologie der Ehe auf eine lange Tradition zurückblickt, wurde die Theologie der Familie erst im industriellen 'Zeitalter in den Mittelpunkt gerückt, was daraus zu erklären ist, daß zwar die Ehe, nicht aber die Familie ein Sakrament ist. Die große Bedeutung der Familie in der katholischen Sozi all ehre ist darin begründet, daß es die Familie ist, die dem Menschen "das Zuhause, die Wohnung, das Heim schenkt"2, daß mit der Familie also bleibende Werte verbunden werden. Pius XII. hat die Familie als den Ursprung der Gesellschaft bezeichnet. Diese wird nicht "durch ein Aneinanderhäufen von Individuen gebildet, von verstreuten Einzelwesen, die einen Augenblick auftauchen um dann wieder zu verschwinden, sondern durch die wirtschaftliche Gemeinsamkeit und die sittliche Zusammengehörigkeit der Familie" 3. Auch die Bedeutung des eigenen Heimes für die Verwurzelung und den inneren Zusammenhalt der Familie wird besonders hervorgehoben. Pius XII. hat wiederholt betont, daß von allen Gütern, die privates Eigentum sein können, keines mehr der Natur entspricht als der Boden, das Stück Land, auf dem die Familie wohnt und von dessen Früchten sie ganz oder wenigstens zum Teil lebt. 1 2

3

Joseph Höffner, Christliche Gesellschaftslehre, Münster 1968, S. 96. Höffner, S. 98. utz / Groner, Soziale Summe Pius XII., Freiburg/Schweiz 1954, Nr. 1147.

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Die Familie ist die für die menschliche Gesellschaft wichtigste Erziehungs- und Bildungsgemeinschaft, wobei den Eltern eine von Gott verliehene Ursprungsautorität eingeräumt wird. Schon Thomas von Aquin bezeichnete die Familie "als die von der Natur eingerichtete Gemeinschaft zur Vorsorge für die Bedürfnisse des täglichen Lebens"4. Nach Thomas verdanken wir den Eltern dreierlei: Sie haben uns das Leben geschenkt, sie haben uns großgezogen, sie haben uns erzogen. Ziel der Erziehung ist dabei das Hinführen zur menschlichen Vollkommenheit. Die Familie ist gleichsam der zweite, geistige Schoß in dem das Kind zur sittlichen Persönlichkeit heranreifen soll. 2. Die Familie in der katholischen Soziallehre Schon Rerum novarum erklärte, daß die Familie älter ist als der Staat, wobei auch die Rolle des Familienoberhauptes hervorgehoben wird: "Die Familie, die häusliche Gesellschaft, ist eine wahre Gesellschaft mit allen Rechten derselben, so klein diese Gesellschaft sich auch darstellt; sie ist älter als jegliches andere Gemeinwesen und deshalb besitzt sie unabhängig vom Staat ihr innewohnende Rechte und Pflichten5 ." Gleichzeitig wird betont, daß das "sozialistische System, welches die elterliche Fürsorge beiseite setzt, um eine allgemeine Staatsfürsorge einzuführen", sich an der natürlichen Gerechtigkeit versündigt und gewaltsam die Fugen des Familienhauses zerreißt. Das Privateigentum soll dem Familienvater die nötige Freiheit und Unabhängigkeit sichern, deren er bedarf, um die ihm vom Schöpfer selbst auferlegten Pflichten hinsichtlich des leiblichen, geistigen und sittlichen Wohles der Familie erfüllen zu können. Quadragesimo anno bekennt sich klar zum "Familienlohn". Dem Arbeiter steht ein ausreichender Lohn "für seinen und seiner Familie Lebensunterhalt ZU"8. Frauen und Kinder dürfen niemals über das Maß ihres Alters und ihrer Kräfte belastet werden. Und weiter heißt es: "Familienmütter sollen in ihrer Häuslichkeit und dem, was dazugehört, ihr hauptsächliches Arbeitsfeld finden." Außerhäusliche Erwerbstätigkeit der Frau wird dann verurteilt, wenn der häusliche Pflichtenkreis darunter leidet. Positiv hervorgehoben werden von Pius XII. Zulagen, die gewährt werden um steigende Familienlasten zu erleichtern. Auch Johannes XXIII. tritt in der Enzyklika "Mater et magistra" dafür ein, "dem Arbeiter einen Lohn zu zahlen, der für ihn selbst zu 4

5

8

Alfred Klose, Die Katholische Soziallehre, Graz, Wien, Köln 1979, S. 79. Texte zur katholischen Soziallehre, Kevelaer 1975, S. 37. Texte zur katholischen Soziallehre, S. 117.

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einem menschenwürdigen Leben ausreicht und ihm ermöglicht, die Familienlasten zu bestreiten"7. Darüber hinaus heißt es in diesem Rundschreiben "über die jüngsten Entwicklungen des gesellschaftlichen Lebens und seine Gestaltung im Licht der christlichen Lehre": Die Weitergabe des menschlichen Lebens ist das Vorrecht der Familie; diese ist auf die eine unauflösliche Ehe gegründet, die für den Christen den Rang eines Sakramentes hat. In "Pacem in terris" zeigt der selbe Papst die unveränderte Grundhaltung der Kirche zu Ehe und Familie auf: Die Familie, die auf der unauflöslichen Ehe ruht, muß als die erste und natürliche Keimzelle der menschlichen Gesellschaft angesehen werden. Daraus folgt, daß für sie sowohl auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet als auch in kultureller und sittlicher Hinsicht möglichst gut gesorgt werden muß. Dies alles soll dazu dienen, die Familie zu festigen und sie in der Erfüllung ihrer Aufgabe zu unterstützen. Das Zweite Vatikanum behandelt die Familie und die Ehe vor allem in der Pastoralen Konstitution über die Kirche in der Welt von heute, in der Kirchenkonstitution, im Dekret über das Laienapostolat und in der Erklärung über die christliche Erziehung. Dabei werden "das Wohl der Person sowie der menschlichen und christlichen Gesellschaft zu innerst mit einem Wohlergehen der Ehe- und Familiengemeinschaft" in Verbindung gesetzt8 • Ehescheidung und freie Liebe werden als Entartung bezeichnet, die der Würde von Ehe und Familie entgegenstehen. Da Gott selbst der Urheber der Ehe ist, unterliegt sie im Hinblick auf das Wohl der Gatten und der Nachkommenschaft nicht mehr menschlicher Willkür. Rahner und Vorgrimler erklären dazu, daß man durch die Bezeichnung der Ehe als "Bund" von der Auffassung, die Ehe wäre ein Vertrag, loskommen wollte. Plädoyers für das Wort "Vertrag" wurden entschieden abgelehnt, die Beschreibung des "Vertragsgegenstandes" als gegenseitige Übertragung des "Rechtes auf den Leib" mußte erst recht als unerträgliche Verdinglichung abgelehnt werdenD. Auch das Zweite Vatikanum bestätigte, daß die Ehe ihrem Wesen nach auf die Zeugung und Erziehung von Nachkommenschaft ausgerichtet ist. Abtreibung und Tötung des Kindes sind verabscheuungswürdige Verbrechen. Es ist den Gläubigen auch nicht erlaubt, in der Geburtenregelung Wege zu beschreiten, die das Lehramt in Auslegung des göttlichen Gesetzes verwirft10• 7 Texte zur katholischen Soziallehre, S. 220. Karl Rahner / Herbert Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium, Freiburg i. Br. 1966, S. 497. 9 Rahner / Vorgrimler, S. 434. 10 Rahner / Vorgrimler, S. 503. 8

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Das Konzil spricht sich für eine "berechtigte gesellschaftliche Hebung der Stellung der Frau aus", die aber vor allem mit der "häuslichen Sorge der Mutter" bedacht werden soll. "Octogesima adveniens" stellt dazu fest: "Die Gleichberechtigung, wie Wir sie verstehen, darf sich natürlich nicht über die vom Schöpfer selbst grundgelegten Verschie~ denheiten hinwegsetzen, womit sie auch der bedeutsamen Aufgabe widerspräche, die der Frau nicht nur im Raum der Familie, sondern auch der Gesellschaft zukommt. Was dies angeht, müssen die künftig zu erlassenden Gesetze darauf achten, das, was der Frau durch ihre physische Konstitution als ihre besondere Aufgabe vorgegeben ist, zu schützen, zugleich aber ihre Unabhängigkeit als Person und ihre Gleichberechtigung im kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Leben anzuerkennenl1 • " Die katholische Soziallehre macht also im Hinblick auf die Familie wesentliche, politisch äußerst relevante Aussagen: Die Familie wird als grundlegende Institution dargestellt, die einen Freiraum gegenüber dem Staat haben muß. Dem Familienoberhaupt wird eine besondere Autorität eingeräumt, für den Familienerhalter wird ein Familienlohn verlangt. Trotz eines gewissen Wandels in der Betrachtung der Stellung der Frau wird ihre vornehmliche Rolle doch vor allem im Rahmen der Familie als Hausfrau und Mutter gesehen.

D. Auswirkungen der katholischen Soziallehre auf die österreichische Familienpolitik 1. Der Einfluß der katholischen Soziallehre auf die politischen Programme Die Schwierigkeit bei der Erfassung des Einflusses der katholischen Soziallehre auf eine die Familie betreffende Politik liegt darin, daß "Familienpolitik" die verschiedensten Bereiche des gesellschaftlichen Lebens betrifft: das Steuerrecht und die Bildungspolitik treffen die Familie genauso wie der Wohnbau, das Eherecht oder die Sozial- und Gesundheitspolitik. Es soll in dieser Darstellung zunächst einmal dargelegt werden, welche Bedeutung die Programme der beiden großen österreichischen Parteien ÖVP und SPÖ der Familie einräumen und wie weit sie dabei die von der katholischen Soziallehre dafür aufgezeigten Leitlinien vertreten. Vorweg sei bemerkt, daß die Österreichische Volkspartei und die Sozialistische Partei Österreichs der katholischen Sozi all ehre grundsätzlich einen unterschiedlichen Stellenwert einräumen. Während die 11

Texte zur katholischen Soziallehre, Kevelaer 1975, S. 495.

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ÖVP bereits in ihren Programmatischen Leitsätzen von 1945 für die Religion und für die religiöse Erziehung der Jugend eintrat und im Salzburger Programm von 1972 im Christentum die ständige Herausforderung für die Gestaltung der Welt sieht, war in der SPÖ die antiklerikale Tradition stets stark verankert. So sagte das Sozialistische Parteiprogramm von 1926 den Kirchen und Religionsgesellschaften den Kampf an, "welche ihre Macht über die Gläubigen dazu benutzen, dem Befreiungskampf der Arbeiterklasse entgegenzuwirken und dadurch die Herrschaft der Bourgeoisie stützen" 12. Gerade in der Haltung der Katholischen Kirche zur Familie, Ehe und zur Stellung der Frau wurde ein Ansatz für die Erhaltung dieser Abhängigkeit gesehen. In seiner Abhandlung über "Die Sozialdemokratie und die katholiche Kirche" hat Karl Kautsky bereits den Standpunkt v,ertreten, daß "die klerikalen Interessen und Traditionen in zu schroffem Widerspruch zur Emanzipation des Proletariats stehen, als daß nicht die kirchliche Organisation früher oder später jedem Versuch ihrer Mitglieder, am Klassenkampf des Proletariats teilzunehmen, kraftvoll entgegenträte" 13. Die Sozialdemokratie will daher den Einfluß der Kirche auf die Bevölkerung brechen, indem sie der kirchlichen Kultur die höhere Kultur der modernen Wissenschaft, den kirchlichen Almosen die Heranziehung des kapitalistischen Reichtums entgegensetzt. Gerade die Emanzipation der Frau wird von den Sozialisten im Zusammenhang mit ihrer Loslösung von religiösen Einflüssen gesehen. "Die grimmigsten Gegner des Stimmrechts der Frauen dürften die Geistlichen sein, und sie wissen warum. Die Herrschaft in ihrer letzten Domäne stünde in Frage 14 ." Bebel schrieb diesen Satz in seiner Abhandlung über "Die Frau und der Socialismus", wobei er davon ausging, daß für die politische Entscheidung der Frau ihre sozialen Interessen letztlich wichtiger wären als die religiösen Bindungen. a) Die Familie in den Programmen des ÖVP In ihren Programmatischen Leitsätzen trat die ÖVP 1945 für ein Eherecht ein, das die fakultative Zivilehe vorsah, so zwar, daß auch den kirchlich-geschlossenen Ehen staatliche Geltung zukommt, womit sie den Wünschen der Katholischen Kirche sehr entgegenkam. In einem Kommentar zu den "Leitsätzen" betonte Alfred Kasamas den hohen 12

Klaus Berchtold, Österreichische Parteiprogramme 1868 -1966, Wien 1967,

13

Karl Kautsky, Die Sozialdemokratie und die katholische Kirche, Berlin

S.259.

1902, S. 3l. 14 A. BebeI, Die Frau und der Socialismus, Berlin 1891, S. 22l.

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Stellenwert der Familie, die "die kleinste Zelle der menschlichen Gesellschaft ist"16. Die Eltern haben vor Gott und der Welt die Verpflichtung, für ihre Kinder zu sorgen, aber auch die Kinder haben ihren Eltern gegenüber eine moralische Verpflichtung. Ehe und Familie sind demnach sehr stark in der Religion begründet. In der Österreichischen Volkspartei wurde damit ein Gedankengut fortgesetzt, das vorher von der christlich-sozialen Bewegung vertreten wurde. Für Karl von Vogelsang war die Familie in Anlehnung an "Rerum novarum" die Urzelle, aus der sich das ganze gesellschaftliche Leben entwickelte, vor allem jene Familie, "die aus der sakramentalen, unlöslichen Ehe hervorgegangen ist; in der die Autorität des Vaters, die Liebe der Mutter, der Gehorsam der Kinder gleichsam wie zum Keime, so zum Prototyp der gesamten Sozialordnung wird"16. Ebenfalls beeinflußt von "Rerum novarum" glaubte Vogelsang, der Mann wäre berufen, Ernährer der Familie zu sein, die Frau habe das Erworbene im Haushalt zu verwalten. Demnach sprächen gegen außerhäusliche Frauenarbeit alle Gründe der Staatsweisheit, der Menschenliebe und der Religion. Ein besonders hoher Stellenwert wurde der Familie im "Linzer Programm der christlichen Arbeiter Österreichs" eingeräumt, das von Karl Lugmayer herausgegeben und kommentiert wurde. Es heißt dort: "Die Gesellschaft ruht auf drei Grundpfeilern: Familie, Beruf und Siedlung. Ihr stärkster ist die Familie, christliches Eherecht gibt ihr den Schutz, christliche Kindererziehung den Inhalt, Eigentum und Familienlohn die wirtschaftliche Möglichkeit17 • In seinem Kommentar beruft sich Lugmayer wiederholt auf Leo XIII. und stellt die Forderung auf, daß das Eherecht in erster Linie unter der Hoheit der Kirche steht, soweit es sich um Dinge handelt, die mit dem Ehevertrag wesentlich verbunden sind. Demnach kann kein Staat entscheiden, ob eine Ehe gültig geschlossen ist oder getrennt werden muß, dies ist ein Vorrecht der Kirche. Die Identität der Auffassungen zwischen den Lehren der Kirche und den christlich-sozialen Politikern geht auch aus einer Rede hervor, die Wilhelm Miklas als Bundespräsident im Rahmen einer Tagung zur Förderung der Familieninteressen hielt, wo er sagte: "Natur und Offenbarung sind die unvergänglichen Fundamente, die von Gott gegebenen 15 Alfred Kasamas, Programm Österreich Die Grundsätze und Ziele der Österreichischen Volkspartei, Wien 1949, S. 60. 10 Wiard v. Klopp, Die sozialen Lehren des Freiherrn Karl von Vogelsang, Wien - Leipzig 1938, S. 223. 17 Karl Lugmayer, Das Linzer Programm der christlichen Arbeiter Österreichs, Wien 1924, S. 7.

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Grundlagen der wahren Familie. Gott der Herr selbst ist der Gründer, hat sie eingesetzt und ihr die grundlegende Verfassung gegeben. Und nach den furchtbaren Verirrungen, die dem Sündenfall folgten, hat der Weltheiland sie wieder auf ihre ursprüngliche Grundlage zurückgeführt, gereinigt und geheiligt und durch sie die Welt wieder erneuert. So wurde die Familie nach Gottes Willen die erste menschliche Gemeinschaft, das erste kleine Gottesreich, das Vorbild jeder weiteren und größeren menschlichen Gesellschaft in Stamm und Sippe, in Volk und Staat und schließlich für die weltweite Menschheitsfamilie 18 ." Demnach ist die Ehe natürlich unauflöslich, an der Spitze der Familie soll als "sichtbare Autorität, zugleich als Stellvertreter Gottes", der Vater stehen. Obwohl sich die Österreichische Volkspartei von ihrer Gründung an als konfessionell ungebundene Partei verstand, blieben gerade ihre Aussagen zu Ehe und Familie sehr stark religiös motiviert. In dem 1946 vom Österreichischen Arbeiter- und Angestelltenbund beschlossenen "Wiener Programm" werden "das Recht auf Ehe und Familie und die Pflicht in der Ehe und in der Familie" als "wesentliche Rechtsbeziehungen der Menschen" anerkannt, die sowohl durch innerstaatliche als auch durch überstaatliche Rechtsordnungen zu schützen sind 19 . Im selben Jahr schrieb die Vorsitzende der Österreichischen Frauenbewegung, Nadine Paunovic, in einem Artikel über "Ehe und Familie in neuer sozialpolitischer Schau", daß die Geschlechter zwar gleichwertig sind, nicht aber gleichartig bei der Lösung konkreter Aufgaben. Der Mann ist der "ewig Planende, der die großen Linien der Organisation entwirft, er ist es, der immer dem Werk seinen Stempel der Kraft und Beherrschung aufzudrücken versucht"20. Die Frau ist die Mutter, wobei die Wesenszüge der Mutter Hingabe und Dienen sind. "Es ist fa:lsch, wenn eine unrichtig orientierte Frauenbewegung das dienende Merkmal auslöschen wollte und im Magdsein der Frau eine Entwürdigung sieht"21, weil die Frau sich erst im Dienen vollständig erfüllt. Die Familie bildet die natürlichste und geistigste Gemeinschaft zugleich, ist nach dem Ewigen im Menschen ausgerichtet und dient zugleich ewigen Werten. Der Vater schafft den Rahmen und die finanzielle Grundlage der Familie. 18 Nikolaus Hovorka, Der Bundespräsident spricht ... Von Österreichs Wesensart und Sendung, Wien 1934, S. 105. 19 Alois Mock, Für eine menschenwürdige Gesellschaftsordnung Das Wiener Programm des Österreichischen Arbeiter- und Angestelltenbundes, Gesellschaftspolitische Informationen Nr. 13, Wien 1976, S. 14. 20 Nadine Paunovic, Ehe und Familie in neuer sozialpolitischer Schau, Wien 1946, S. 3. 21 Paunovic, S. 4.

31 Festschrift Ross!

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1952 forderte die ÖVP eine Gesamtrevision der Sozialversicherung, wobei insbesondere auf den Familienstand Bedacht genommen werden sollte. Im Grundsatzprogramm der ÖVP von 1958 wird die Familie als Keimzelle der Gesellschaft bezeichnet, von deren gesunder Entwicklung letzten Endes das Schicksal des Staates abhängt. Familie und Heim sollten wieder zu einem Hort seelischen Wohlbefindens und kultureller Bereicherung werden. Vor allem sollte durch eine materielle Besserstellung der Familie der Zwang zur außerhäuslichen Berufstätigkeit der Mutter beseitigt wer~ den. Die junge Familie soll durch eine familiengerechte Wohnbau~ politik, durch steuerliche Maßnahmen und durch den Ausbau der Kin~ der- und Familienbeihilfen gefördert werden. Die Erhaltung der ehelichen Gemeinschaft sollte von allen richterlichen Instanzen angestrebt werden. Gleichzeitig wurde die Forderung eines "eigenen Heimes für jede Familie" aufgestellt. Im Klagenfurter Manifest von 1965 läßt sich die ÖVP vom "christlichen, familienhaften Menschen- und Gesellschaftsbild mit seinen zeitlos gültigen Werten" leiten24 • Die Familie ist als Keimzelle der GeseUschaft unantastbar und unersetzlich. Die ÖVP erklärt sich bereit, für einen familiengerechten Wohnbau, für eine Hausstandsgründung und für den Ausbau des Familienlastenausgleichs zu kämpfen. Zum ersten Mal wird aber auch die Rolle der berufstätigen Frau, die am Gedeihen der Volkswirtschaft wesentlich beteiligt ist, besonders hervorgehoben. Die Aussagen der ÖVP zur Familie haben sich also die längste Zeit ausschließlich an den Aussagen der katholischen Soziallehre orientiert. Der "ewige Wert" der Familie, ihre Bedeutung in einer natürlichen Ordnung, der Mann als Oberhaupt der Familie sowie die Rolle der Frau als Mutter zeigen dies sehr deutlich. Welch großen Einfluß diese Vorstellungen auf das konkrete Denken in der Praxis hatten, zeigt ein Artikel, den der langjährige Staatssekretär Prof. Dr. Franz Gschnitzer "Zur Neuordnung des Familienrechtes" schrieb. Dabei stellte er dem Satz "Die Ehegatten haben gleiche Rechte und Pflichten" seinen Grundsatz entgegen: "Jeder Gatte hat nach seiner Kraft zu den Lasten der Familie beizutragen." Gschnitzer argumentierte dabei damit, daß die Festlegung gleicher Rechte und Pflichten für die Ehegatten der Natur widerspricht und daher die Grenzen gesetzgeberischer Macht überschreitet. "Der Mann kann Kinder nicht zur Welt bringen, er kann sie nicht stillen, er kann ihnen auch kaum in den ersten Monaten und Jahren die entsprechende Pflege angedeihen lassen. Sind das nicht Haupt22 Klaus Berchtold, österreichische Parteiprogramme 1868 - 1966, Wien 1967, S. 397.

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pfiichten der Ehe? Wir sind hier beim Kern des Problems. Die biolo~ gische, physiologische und psychologische Ungleichheit der Geschlechter ist nicht wegzuleugnen, das Gesetz kann sie nicht außer acht lassen23 ." Zum seI ben Thema der Gleichstellung von Mann und Frau führte Gschnitzer im Parlament aus, daß diese im öffentlichen Leben, im Studium, ja selbst im Beruf möglich wäre, nicht jedoch in jener Verbindung, "von der es heißt, daß zwei Personen verschiedenen Geschlechts sich vereinigen". Erst das Salzburger Programm der ÖVP aus dem Jahre 1972 trug dem Wandel der Familie und vor allem der neuen Stellung der Frau entsprechend Rechnung und ging dabei über die Soziallehre der Kirche hinaus. Während das 1971 erschienene päpstliche Rundschreiben "Octogesima adveniens" zwar die Gleichberechtigung der Frau anerkannte, diese aber im Rahmen der vom Schöpfer selbst grundgelegten Verschiedenheiten sah, bekannte sich das Salzburger Programm der Volkspartei voll zu einer partnerschaftlichen Beziehung der Geschlechter zueinander24 • Vom Mann als Partner der Frau wird erwartet, daß er der Gleichwertigkeit der Frau in allen Lebenssituationen positiv gegenübersteht. Die Frau als Hausfrau und Mutter und die berufstätige Frau sollen in gleicher Weise Anerkennung finden. Die große Bedeutung der Familie, "die auch in Zukunft unersetzliche Aufgaben zu erfüllen hat", wird weiter betont, das innere Verhältnis der Familie soll aber partnerschaftlich gestaltet werden. An diesem modernen und zeitgemäßeren Rollenbild von Frau und Familie hat vor a'llem die Familiensprecherin der ÖVP, Dr. Marga Hubinek mitgewirkt. Dies kommt auch in einem von ihr vorgelegten Konzept "für eine sichere und glückliche Zukunft der Familien" zum Ausdruck, wo neben der Unersetzbarkeit der Familie auch die Entschei. dungsfreiheit der Frau betont wird, die ihre "Selbstverwirklichung sowohl als Hausfrau und Mutter als auch in jedem anderen Beruf erreichen kann". Mit dem Salzburger Programm hat die ÖVP jedenfalls dem gesellschaftlichen Wandel der Familie Rechnung getragen, wenn auch diese doch sehr entscheidende Neuerung nach außen hin nicht immer klar genug dargelegt wurde. Für die ÖVP war eine Reform gerade in diesem Bereich notwendig, weil der Familienbegriff der katholischen Soziallehre zum Teil noch sehr stark von der vorindustriellen RoUe der Familie geprägt war. 23 Franz Gschnitzer, Zur Neuordnung des Familienrechtes, Zukunft, Februar 1952, S. 42. 24 Texte zur katholischen Soziallehre, Kevelaer 1975, S. 495.

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Der Gesellschaft des vorindustriellen 'Zeitalters gaben die bäuerlichen und handwerklichen Familienbetriebe als wichtigste Einheiten der Produktion und des Verbrauches das Gepräge. Die Familie, das Haus, war ein wirtschaftliches und gesellschaftliches Zentrum, ein Ort, wo die Menschen gemeinsam lebten und arbeiteten und sowohl bei Krankheit als auch im Alter Unterhalt fanden. Die Stellung der Familie innerhalb der feudalen Gesellschaft war stark und jeder Hausvater nahm gleichsam an der Würde und Autorität des Monarchen teil. Von den Wandlungen in der modernen Familie wurden nach Rene König am stärksten die Autoritätsverhältnisse in der Familie betroffen. König konnte nachweisen, daß sich die Reste des alten Autoritarismus vor allem bei der Wohlstandsschicht gehalten haben, bei der Arbeiterklasse jedoch war schon lange die bedeutende Rolle der Mutter erkannt worden, so daß man geradezu den Ausdruck von "mutterzentrierter" Familie geprägt hat. Diese neue Stellung der Frau hängt auch mit ihrer zusätzlichen Rolle bei der außerhäuslichen Erwerbstätigkeit zusammen25 . Es lassen sich zahlreiche Ursachen wirtschaftlicher, sozialer, kultureller, geistiger, sittlicher und religiöser Art für den Funktionswandel der Familie anführen: das auf den Einzelnen, nicht auf die Familie abgestellte Lohnsystem, die Zunahme der Frauenarbeit, die Wohnungsnot, der soziale Geltungsverlust kinderreicher Familien, der Einbruch der Ratio in die Ehe, das Wohlfahrtsdenken, die religiöse Entwurzelung oder das Bestreben, den Kindern einen sozialen Aufstieg zu erleichtern. Es liegt auf der Hand, daß es für die Österreichische Volkspartei eine Notwendigkeit war, sich den modernen Gegebenheiten anzupassen. b) Die Familie inden Programmen der SPÖ Für die Sozialisten waren Ehe und Familie stets eine Einrichtung des positiven Rechts, die entsprechend den gesellschaftlichen Verhältnissen beliebig verändert werden konnten. Karl Renner formulierte dies in einer Abhandlung über die Familie sehr deutlich: Das, was wir heute mit der Vorstellung eines Zusammenseins von Vater, Mutter und Kind zu verknüpfen gewohnt sind, hat in der Urzeit nicht bestanden. "Weder eine Ehe in unserem Sinne, als dauerne Paarung zweier Erzeuger, noch ein individuelles Verhältnis zwischen Vater und Kind sind für die Urzeit nachweisbar"26, woraus Renner den Schluß zieht, die Vorstellung, daß das, was wir Familie nennen, wäre in irgend einer Weise die Keimzelle von Gesellschaft und Staat gewesen, ist falsch. 25 26

Rene König, Die Familie der Gegenwart, München 1974, S. 19. Karl Renner, Mensch und Gesellschaft, Wien 1965, S. 45.

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Man sieht bereits in diesem Ansatz den fundamentalen Unterschied zur katholischen Soziallehre, die in der Familie die Urzelle der Gesellschaft sieht. Das Programm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei von 1926 nimmt dann auch ausführlich Ste'llung zur "Frauenfrage", bekämpft die "Vorurteile, die sich der Gleichberechtigung der Frau entgegenstellen"27, und nimmt Stellung zur Bevölkerungspolitik und Geburtenregelung, die Familie wird jedoch nicht erwähnt. Die Programme der SPÖ erwähnen zwar den "Schutz der Familie" bzw. auch "die Geborgenheit in der Familie" als wesentliche Voraussetzung für die harmonische Entwicklung der Kinder28, die Familie bleibt aber eine den sozialen Gegebenheiten beliebig anzupassende Einrichtung. Sehr prägnant ist die sozialistische Auffassung über die "Gleichheit für die verschiedenen Formen des Zusammenlebens" im Alva-MyrdalReport zusammengefaßt. Dort heißt es: "Wenn die gegenwärtigen Hindernisse für die Gleichheit nach und nach beseitigt worden sind, muß in der Gesellschaft der Zukunft davon ausgegangen werden, daß jedes erwachsene Individuum für seine Versorgung selbst verantwortlich ist. Früher mit der Ehe verbundene Vorteile müssen abgeschafft werden oder allein von den Kindern abhängen. Kinder müssen juristisch und wirtschaftlich gesichert sein, das darf nicht davon abhängen, ob ihre Eltern verheiratet oder alleinstehend sind. Erwachsene sollen, unabhängig davon, ob sie allein oder in irgendeiner Form zusammenleben, von der Gesellschaft als gleich behandelt werden. Voraussetzung dafür ist eine gemeinsame Reform des Familienrechts, der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik und des Familiensteuersystems29 ." Herbert Kohlmaier hat daher zu Recht darauf hingewiesen, daß "der Bereich der Familienpolitik wie kein anderer grundsätzliche gesellschaftspolitische Unterschiede zwischen den Parteien erkennen läßt. Während wir die Familie als natürliche Gemeinschaft schützen und sie entlasten wollen, verkennen die Sozialisten die unentbehrliche Funktion der Familie bzw. lehnen sie sogar als Hindernis für gesellschaftsformende Maßnahmen ab. Sie betreiben nicht wie wir Familienpolitik, sondern Kinderförderung, wobei sie dem übergeordneten Prinzip folgen, daß der Mensch die Wohltaten aus der Hand der Gesellschaft empfängt". Kohlmaier kritisiert in seinen Thesen zur familienpolitischen Alternative der ÖVP auch, daß die Sozialisten seit dem Beginn ihrer Regierungstätigkeit konsequent darauf hinarbeiten, die familiären Bin27 Klaus Berchtold, Österreichische Parteiprogramme 1868 - 1966, Wien 1967, S.257. 28 Berchtold, S. 293. 29 Walter Menningen, Ungleichheit im Wohlfahrtsstaat Der Alva-Myrdal-Report der schwedischen Sozialdemokraten, Reinbeck: bei Hamburg 1971, S.95.

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dungen verschiedenster Art zu lockern. Auf Grund dieser Politik ist das Ausmaß des Familienlastenausgleichs im Verhältnis zum Volkseinkommen zurückgegangen, da riesige Mittel teils auf dem Wege des Postsparkassenamtes dem öffentlichen Kreditbedarf zugeführt wurden, teils zur Abdeckung öffentlicher Aufgaben herangezogen werden. Der sozialistische Standpunkt kommt auch sehr gut im "Problemkatalog für die Revision des Parteiprogrammes der SPÖ" zum Ausdruck, der im Auftrag des· Bundesparteivorsitzenden Dr. Kreisky von einer Arbeitskonferenz im Rahmen des Dr. Kar! Renner-Institutes ausgearbeitet wurde. Die Familie ist in dieser umfassenden, 1976 erschienenen Darstellung kein Thema mehr, die Beziehungen zwischen Mann und Frau werden vielmehr im "Exkurs über Liebe, Zärtlichkeit und die Reproduktion der Arbeitskraft" dargelegt. Danach haben Liebe und Zärtlichkeit heute in Folge der Fortschritte in der Technologie der Geburtenkontrolle die erhöhte Chance, sich von der Fortpflanzung loszukoppeln und können sich damit "der Verdinglichung in gegenseitigen Besitz- und Warenbeziehungen" entziehen. Im Bereich der Gestaltung von Sexual- und Liebesbeziehungen bestehen über die Sicherung des Prinzips der Freiwilligkeit hinaus keine staatlichen Regelungsnotwendigkeiten. Die "Reproduktionsgemeinschaften" beruhen heute hauptsächlich auf der Arbeitskraft der an ihnen Beteiligten. Mit der Anerkennung dieser Basis der Zusammenschlüsse in der Arbeitskraft der Beteiligten erübrigt sich auch jedes staatliche Insistieren auf Unauflösbarkeit. Regelungsbedürftig ist lediglich die gerechte Verteilung gemeinsam erarbeiteter Werte. Dieses Mißtrauen der Sozialisten gegenüber der Familie kommt auch im Antrag Nr. 803 zum Ausdruck, der von der Bezirksorganisation Brigittenau am letzten Parteitag der SPÖ eingebracht wurde. Dort heißt es zur Begründung der Notwendigkeit der Einführung der Ganztagsschule: "Je kürzer die Schulzeit eines Tages, einer Woche ist, desto eher ist das Kind den Einflüssen seines Elternhauses ausgesetzt. Diese Beeinflussung durch das Elternhaus bewirkt bei Kindern aus den Mittel- und Oberschichten, daß sie durch den Umgang mit den gebildeten Eltern auch außerha:lb der Schule erhebliche Wissenszuwächse erzielen, während Kinder aus Unterschichten-Familien bzw. Schlüsselkinder nicht diese zusätzliche Ausbildung im Elternhaus genießen. Es ist daher auch eine gesellschaftspolitische Forderung, möglichst die Ganztagschule einzuführen. " Im neuen Programm der SPÖ von 1978 bekennen sich die Sozialisten sowohl zur "demokratischen, partnerschaftlichen Familie als Form dauernden Zusammenlebens" - es werden eben Zugeständnisse an die Realitäten gemacht - aber auch zu "anderen positiven Formen des

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menschlichen Zusammenlebens"30. Die Offenheit "gegenüber größeren und neuartigen Formen des Zusammenlebens in der Gruppe, die von einer Intensivierung der Kontakte zwischen den Kernfamilien bis zu neuen FamiHenformen reichen können"3t, ist sich,erlich auch bezeichnend für die sozialistische Haltung gegenüber der Familie. Man kann also sagen, daß die Aussagen der katholischen Sozia'llehre zur Familie auf die sozialistische Programmatik höchstens insofern einen Einfluß ausübten, als die Sozialisten zunächst versuchten, eine bewußte Gegenposition dazu aufzubauen. Mit der Ausweitung ihrer Macht sind die Sozialisten dann zum Grundsatz übergegangen, ideologische Abstriche zu machen, wenn dies für die Machterhaltung bzw. Machterweiterung notwendig oder nützlich ist. So sind auch die unterschiedlichen Stellungnahmen in den Vorarbeiten zu den Programmen und im Programm selbst zu erklären. 2. Der Einfluß der katholischen Soziallehre auf die Familienpolitik

a) Initiativen zur materiellen und immateriellen Stärkung der Familie aa) Familienlastenausgleich Die katholische Soziallehre übte nicht nur einen entscheidenden Einfluß auf die Programme der ÖVP aus, auf Grund dieser Programme wurden auch entscheidende politische Initiativen gesetzt. Im März 1954 wurde von der Österreichischen Volkspartei im Parlament ein Antrag (78/A) auf Schaffung eines Familienlastenausgleichs eingebracht. Mit dem Bundesgesetz vom 15. Dez. 1954 betreffend die Herbeiführung eines Familienlastenausgleichs durch Gewährung von Beihilfen zur Familienförderung und betreffend die Abänderung des Kinderbeihilfengesetzes (BGBl. 18/1955) wurde dann ein umfassender Familienlastenausgleich geschaffen. Bereits im Jahre 1952 lagen von seiten des Österreichischen Arbeiterund Angestelltenbundes konkrete Pläne für die Errichtung von Familienausgleichskassen vor. In der Folge hatte sich vor allem ein familienpolitischer Arbeitskreis des von Dr. Karl Kummer gegründeten Instituts für Sozialpolitik und Sozialreform mit der Verwirklichung des Familienlastenausgleichs beschäftigt. Dem Institut ging es darum, die Bewegung zur Verwirklichung der christlichen Soziallehre zu stärken. Unter Familienlastenausgleich verstand das Institut "den Ausgleich jener finanziellen Mehrbelastungen, die die Ernährung, Bekleidung, 80

31

Das neue Programm der SPÖ, Wien 1978, S. 62. Hans Reithofer, Die Ausgleichende Gesellschaft, Wien - München - Zürich

1978, S. 232.

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häusliche Unterbringung und Erziehung von Kindern verursacht"32. Die im Rahmen des Institutes erarbeiteten Vorstellungen wurden vom ÖVP-Antrag weitgehend übernommen. Der Motivenbericht zum Familienlastenausgleichsgesetz verweist auf die Tatsache, daß durch die wirtschaftliche Entwicklung die mit der Erhaltung und Erziehung von Kindern verbundenen Belastungen den Lebensstandard der Familie um so mehr herunterdrücken, je größer die Kinderzahl der einzelnen Familie ist. Diese Umkehrung des Kindersegens in sein Gegenteil verletzt das Recht des Menschen auf Familie und hindert ihn daran, seinen natürlichen und rechtlichen Verpflichtungen zur Erhaltung seiner Kinder nachzukommen. Der Ausgleich der Familienlasten hat zwischen denjenigen zu erfolgen, die die Lasten im Interesse der gesamten Gesellschaft tragen, und jenen, die solche Lasten nicht zu tragen haben, jedoch bewußt oder unbewußt daraus Nutzen ziehen, daß es andere für sie tun33 . Der Einfluß der katholischen Soziallehre bei der Schaffung des Familienlastenausgleiches ist vor allem auch daraus ersichtlich, daß bereits vorher im Rahmen einer ähnlichen Debatte im Parlament erklärt wurde, ein Ausgleichsfonds habe den Zweck, den "Familienlohn" zu realisieren, denn schließlich und endlich soll die Kinderbeihilfe ein Teil des Lohnes sein34 . Welch bedeutenden Fortschritt die Schaffung des Familienlastenausgleichsfonds bewirkte, ist daraus ersichtlich, daß im Jahre 1951 der Aufwand für die damals alleinbestehenden Kinderbeihilfen 772 Millionen Schilling betrug, 1955 aber bereits 1639 Millionen Schilling über die Ausgleichsfonds den Familien zugeleitet wurden 35 • Unter der ÖVP-Alleinregierung wurde 1967 der Familienlastenausgleich durch die Gewährung von Familienbeihilfen und Geburtenbeihilfen weiter ausgestaltet. Damals wurde das bis dahin geltende unübersichtlich und uneinheitlich gewordene Beihilfenrecht vereinheitlicht und vereinfacht. Dieser Schritt brachte für die Beihilfenbezieher einen besseren überblick über die Rechtslage und versetzte die Finanzverwaltung in die Lage, Anträge rascher bearbeiten zu können. Dies wurde nicht zuletzt dadurch erreicht, daß es ab dem Inkrafttreten des Familienlastenausgleichsgesetzes 1967 nur mehr eine laufende Beihilfe (Familienbeihilfe) und eine einmalige Beihilfe (Geburtenbeihilfe) gab, 32 Wolfgang Schmitz, Der Ausgleich der Familienlasten, Wien 1955, S. 8. 38 419 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrates, VII G.P. 84 Stenographisches Protokoll der 32. Sitzung des Nationalrates, VI. G. P. am 25. 7. 1951, S. 2186. 35 10 Jahre Österreichischer Familienbund, Wien 1961, S. 13.

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während es bis dahin vier laufende Beihilfen (Kinderbeihilfe, Ergänzungsbetrag zur Kinderbeihilfe, Familienbeihilfe und Mutterbeihilfe) - und zwei einmalige Beihilfen (Geburtenbeihilfe und Säuglingsbeihilfe) gab 36 • Die Steuerfreibeträge für die mit dem Steuerpflichtigen veranlagten Personen sowie die Altersgrenze für die unterha:ltsberechtigten Kinder wurden hinaufgesetzt. In diesem Zusammenha:ng soll wohl auch erwähnt werden, daß in jener Zeit, in der die ÖVP die stärkste Partei im Parlament war, die Mitversicherung der Familienangehörigen in der gesetzlichen Sozialversicherung erreicht wurde. bb) Teilzeitbeschäftigung Vor allem aus familienpolitischen und gesellschaftspolitischen Gründen wurde von der ÖVP-Abgeordneten Marga Hubinek ein Antrag auf Regelung der Teilzeitbeschäftigung eingebracht37 • Der Frau sollte eine verbesserte Möglichkeit eingeräumt werden, neben dem Haushalt auch einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen, dabei aber doch noch Zeit für Familie und Kinder zu haben. Zusammen mit der gesetzlichen Regelung der Teilzeitbeschäftigung wurde der weitere Ausbau der Kindergärten, vor allem die Schaffung von Halbtagskindergartenplätzen, verlangt. Im Jahre 1971 wurde vom Statistischen Zentralamt eine Erhebung mit dem Ergebnis durchgeführt, daß es in Österreich 238 000 Menschen gibt, die gerne berufstätig sein möchten, wobei aber nur wenige eine Beschäftigung an allen Wochentagen annehmen könnten. Für zwei Drittel der Befragten kam nur eine Teilzeitbeschäftigung in Frage, wobei der Wunsch danach das Streben nach Saisonbeschäftigung oder nach Heimarbeit bei weitem überstieg. Es wurde daher die Frage aufgeworfen, warum dem Interesse nach Teilzeitbeschäftigung nicht in größerem Umfang entsprochen wurde. Dabei stellte sich heraus, daß die arbeitsrechtliche Schlechterstellung von Teilzeitbeschäftigten eine wesentliche Rolle spielte. Die Kündigungsfristen für sie waren kürzer, die Bestimmungen über Abfertigung und Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall kamen nicht zur Anwendung. Der Antrag über die Regelung der Teilzeitbeschäftigung verfolgte daher das Ziel, die sachlich nicht gerechtfertigte SchlechtersteIlung der Teilzeitbeschäftigten im Arbeitsrecht zu beseitigen.

36 Erfolg für Österreich Durchführung der Regierungserklärung 1966, Wien 1969, S. 144. 37 Antrag Nr. 33/ A, II-793 der Beilagen zu den stenographischen Protokollen des Nationalrates, XIII. G. P. v. 10. Mai 1972.

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Wendelin Ettmayer ce) Anrechnung von Zeiten der Kindererziehung als Ersatzzeiten in der Pensionsversicherung38

Diese parlamentarische Initiative der ÖVP ging davon aus, daß in Österreich etwa 1,4 Millionen berufstätige Frauen sowohl im wirtschaftlichen als auch im familiären Bereich erhebliche Leistungen erbringen. Diese Frauen sind einer Doppelbelastung in Familie und Beruf ausgesetzt, die dann am größten ist, wenn ein Kleinkind zu versorgen ist. Wenn sich nun die Mutter ganz der Erziehung und Betreuung des Kindes widmet, so bedeutet das nicilt nur einen Verzicht auf ein höheres Familieneinkommen, sondern auch die Unterbrechung der Berufslaufbahn sowie den Verlust wertvoller Jahre für eine eigene ausreichende Altersversorgung. Damit jene Frauen, die sich entschließen, ihre Berufstätigkeit zu unterbrechen, um sich der Pflege und Erziehung des Kindes zu widmen, keinen Nachteil in ihrer sozialversicherungsrechtlichen Anwartschaft erleiden, sollten die ersten drei Jahre der Erziehung eines Kleinkindes als Ersatzzeiten in der Pensionsversicherung berücksichtigt werden. dd) Unterhaltsvorschuß für Kinder aus unvollständigen Familien Die Praxis hat gezeigt, daß sich Väter unehelicher Kinder bzw. Väter von Kindern aus geschiedener Ehe sich selbst dann oft mit Erfolg den Unterhaltszahlungen entziehen, wenn die Mutter einen rechtskräftigen Unterhalttitel bereits in Händen hat. Die häufigsten Mittel, sich dieser Pflicht zu entziehen, bestehen im Wechsel des Arbeitsplatzes oder in der Junktimierung der Zahlungs bereitschaft mit Forderungen des Mannes an die Mutter seines Kindes. Die rechtlich meist unerfahrenen Mütter haben dann oft darauf verzichtet, die Forderungen im Rechtswege einzuholen. Ein von der Abgeordneten Dr. Hubinek im Parlament eingebrachter Antrag 39 sollte daher sicherstellen, daß rechtskräftige Unterha:ltstitel von Kindern aus unvollständigen Familien ohne weitere Formalitäten bei der Unterhalts abteilung des Reservefonds für Familienbeihilfen eingereicht werden können. Der Fonds übernimmt die Zahlungen des Unterhaltes so lange, als nicht die Einstellung von der Mutter oder dem Amtsvormund beantragt wird. 1976 wurde dann entsprechend diesem Antrag ein Unterhaltsvorschußgesetz beschlossen, das den Unterhalt minderjähriger Kinder 38 Antrag Nr. 24/A, der Abgeordneten Dr. Hubinek, II-463 der Beilagen zu den stenographischen Protokollen des Nationalrates, XIV. G. P. v. 31. März 1976. 39 Antrag Nr. 131/A der Abgeordneten Dr. Hubinek, II-3756 der Beilagen zu den stenographischen Protokollen des Nationalrates, XIII. G. P. v. 6. Nov. 1974.

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durch staatliche Vorschüsse sichert, die aus dem Familienlastenausgleichsfond gesichert werden. ee) Familienpolitische Initiativen des Österreichischen Arbeiter- und Angestelltenbundes der ÖVP Am 14. Bundestag des ÖAAB, der 1978 stattfand, wurden folgende Initiativen für die Familie gesetzt: -

Die Familienbeihilfen sollen progressiv nach der Anzahl der Kinder ausgebaut werden: Diese Initiative wurde damit begründet, daß der von den Sozialisten aufgestellte Grundsatz, jedes Kind müsse den gleichen Beihilfebetrag erhalten, deshalb falsch ist, weil gerade dadurch Kinder in größeren Familien benachteiligt werden. Eine Familie hat nämlich ein bestimmtes und damit begrenztes Einkommen. Mehrere Kinder senken das Pro-Kopf-Einkommen stark ab, der Lebensstandard wird beeinträchtigt. Diese Forderung ist auch deshalb berechtigt, weil eine zum seI ben Zeitpunkt zur Armut in Österreich durchgeführte Enquete feststellte, daß Kinderreichtum einer der wesentlichsten Armutsfaktoren ist.

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Die Familie soll im Lohn- und Einkommensteuerrecht wieder berücksichtigt werden: Mit 1. Jänner 1978 hat die Sozialistische Regierung den Kinderabsetzbetrag bei der Lohn- und Einkommensteuer gestrichen. Außerdem wurde die Haupteinnahme des Lastenausgleichsfonds, nämlich der Dienstnehmerbeitrag von 6 °/0 auf 5 °/0 oder um mehr als 3 Milliarden Schilling gekürzt. In der Einkommensteuer findet zwar die Alimentation für die geschiedene Frau Berücksichtigung, die Familie aber nicht mehr, was dem Steuergrundsatz der Verhältnismäßigkeit widerspricht.

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Familiengerechte Anpassung der Wohnbeihilfen und Schaffung einer Wohnstarthilfe; partnerschaftliche Gestaltung der Hinterbliebenenversorgung, mehr sozialrechtlichen Schutz für die junge Familie und eine sozialrechtliche Absicherung unschuldig Geschiedener: diese Initiativen zeigen, daß der ÖAAB Familienpolitik als umfassendes Prinzip in allen Bereichen der Politik und nicht als isolierte Sparte betrachtet. Das erfordert z. B. ebenso den familiengerechten Ausbau der Wohnbeihilfen wie einen entsprechenden familiengerechten Ausgleich im Rahmen der Sozialversicherung. Die Anpassung der Hinterbliebenenversorgung an das partnerschaftliche Familienrecht entspricht genauso diesem Prinzip wie die Verbesserung des immer noch ungenügenden sozialrechtlichen Schutzes der jungen Familie.

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All diese von der Österreichischen Volkspartei im Bereich der Familienpolitik gesetzten Initiativen zeigen sehr klar, wie sehr die Exponenten dieser Partei das Wesen und die Aufgabe der Familie von der katholischen Soziallehre herleiteten. Die Familie ist demnach eben nicht irgend eine Form des Zusammenlebens, sondern "erste und prägende Erziehungsgemeinschaft", die "auch in Zukunft unersetzliche Aufgaben zu erfüllen hat", wie es im Salzburger Programm heißt. Ziel dieser Familienpolitik ist es, "die Familie zur Erfüllung ihrer Aufgabe fähig zu machen und auch die äußeren Bedingungen zu schaffen, damit diese Fähigkeiten zum Einsatz kommen können", wie es Herbert Kohlmaier einmal ausdrückte 40 • Es geht dabei um die Schaffung finanzieller Voraussetzungen, weil die Familie bei der marktwirtschaftlichen primären Einkommensverteilung benachteiligt wird, aber auch um den ideellen Wert der Familie. Kohlmaier kritisierte auch, daß es der Volkspartei nicht gelang, Fehlentwicklungen der sozialistischen Familienpolitik besser aufzuzeigen und ein glaubwürdiger Anwalt der Familie zu sein. Dies wäre vor allem auf folgende Umstände zurückzuführen: -

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Die Fami'lienpolitik ist durch dauernde Vernachlässigung in der Tätigkeit der Interessenvertretungen, der Parteien und in der Berichterstattung der Medien allgemein an den Rand des Interesses gedrängt ,w orden. Die Partei hat im Bereich der Familienpolitik wie in vielen Fragen davor zurückgeschreckt, durch konsequente Verteidigung einmal erkannter Werte als "konservativ" abgestempelt zu werden und sie ist der allgemeinen Reformneurose verfallen. Wir sind dem Irrtum erlegen, die scheinbaren Geschenke der Sozialisten wären nur durch noch origine'llere oder höhere Gaben auszustechen. Die ÖVP hat Familien- und Frauenpolitik ähnlich wie die Sozialisten miteinander vermengt, obwohl diese beiden wichtigen Bereiche wesentliche Unterschiede und gesonderte Betreuung erfordern. b) Die Mitwirkung der Österreichischen Volkspartei bei den Neugestaltung des Familienrechtes aal Neuordnung der persönlichen Rechtswirkungen der Ehe

Die Reform des österreichischen Familienrechts hat 1960 mit der Neuordnung des Rechts der Annahme an Kindesstatt begonnen. Im Jahre 40

Herbert Kohlmaier, Was wird aus dem Familienlastenausgleich?, Wien

1973, S. 3.

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1970 wurde die rechtliche Stellung des unehelichen Kindes weitgehend der des ehelichen angeglichen, im Jahre 1973 mit dem sogenannten Volljährigkeitsgesetz das Volljährigkeitsalter von 21 auf 19 Jahren gesenkt. Ein entscheidender Schritt im Rahmen der Familienrechtsreform war dann das Bundesgesetz über die persönlichen Rechtswirkungen der Ehe aus dem Jahre 1975. Es hat die Grundsätze der Gleichberechtigung und des partnerschaftlichen Zusammenwirkens von Mann und Frau in ihren persönlichen Rechtsbeziehungen gesetzlich verankert. Die Ehepartner können die Verteilung ihrer Aufgaben in der Familie weitgehend frei vereinbaren. Die Führung des Haushalts gilt als vollwertiger Beitrag zum Familienunterhalt; sind beide Ehepartner berufstätig, haben beide an der Haushaltsführung mitzuwirken. Die Bedeutung dieses Gesetzes reicht über den Bereich des Familienrechtes hinaus, weil es auch in anderen Rechtsgebieten Impulse zu gesetzlichen Neuordnungen gegeben hat. Auf Grund von Alternativvorschlägen der Österreichischen Volkspartei enthält das Gesetz nun folgende, von der Regierungsvorlage abweichende Regelungen: -

Die Ehegatten haben gemeinsam zu ihrem Unterhalt beizutragen. Derjenige aber, der den Haushalt führt, leistet dadurch seinen Beitrag und hat gegenüber dem anderen Ehegatten einen Unterhaltsanspruch. Damit ist für den großen Teil der österreichischen Hausfrauen-Ehen die bisherige Rechtslage bewahrt geblieben. Die Regierungsvorlage hingegen wollte den bisherigen Unterhaltsanspruch beseitigen, jeder Ehegatte sollte für seinen eigenen Unterhalt selbst aufkommen müssen.

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Die Haushaltsführung erfolgt gemeinsam, jedoch unter Berücksichtigung der jeweiligen persönlichen Verhältnisse und des Ausmaßes der beruflichen Belastung der Ehegatten. Ist ein Ehegatte nicht erwerbstätig, so hat er den Haushalt zu führen.

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Die sogenannte "Schlüsselgewalt" (Befugnis der Frau, Rechtsgeschäfte des täglichen Lebens, die den Haushalt betreffen, mit verbindlicher Wirkung für den Mann abzuschließen) wird nun dem Ehegatten zugesprochen, der den Haushalt führt. Damit bleibt im wesentlichen die bisherige Rechtslage unverändert, eine "wechselseitige" Schlüsselgewalt der Ehegatten, wie es die Regierungsvorlage vorsah, wird nicht eingeführt.

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Die eheliche Beistandspflicht umfaßt auch die Mitwirkung im Erwerb des anderen Ehegatten, "soweit das zumutbar und nach den Lebensverhältnissen der Ehegatten üblich ist". Die sozialistische

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Wendelin Ettmayer Regierungsvorlage wollte die Mitwirkung im Erwerb des anderen Ehegatten gänzlich beseitigen, was für bäuerliche Betriebe und Gewerbetreibende große Probleme geschaffen hätte.

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Die Frage des gemeinsamen W ohnens und einer allfälligen Folgepflicht bei einem Wohnungswechsel wurde in der Regierungsvorlage gänzlich ungelöst gelassen. Nunmehr kann bei Meinungsverschiedenheiten über die Verlegung der gemeinsamen Wohnung auch bei aufrechter Ehe der Außerstreitrichter angerufen werden, es muß deshalb also nicht gleich zu einem Scheidungsverfahren kommen. bb) Neuordnung des Kindschaftsrechtes

Die Neuordnung des Kindschaftsrechtes erfolgte 1977 (BGBI Nr.4031 1977). Die rechtlichen Verhältnisse zwischen Eltern und Kindern wurden neu gestaltet. Im Vordergrund stehen die Grundsätze der Wahrung und Förderung des Wohls des Kindes, der gleichen Rechte und Pflichten von Vater und Mutter und der Partnerschaft zwischen Vater und Mutter. Beide Elternteile sind gemeinsam Träger der elterlichen Rechte und Pflichten. Sie haben bei der Vertretung des Kindes einvernehmlich vorzugehen. Vertretungshandlungen können jedoch, abgesehen von wichtigen Angelegenheiten, auch von einem Elternteil all eine gesetzt werden. Es haben beide Elternteile zur Deckung des Unterhaltes des Kindes beizutragen. Die Betreuung des Kindes im Haushalt gilt als Unterhaltsleistung. Im Fall der Trennung einer Ehe gehen die elterlichen Rechte und Pflichten, also Pflege und Erziehung, Vermögensverwaltung und gesetzliche Vertretung auf einen Elternteil über. Nach dem Grundsatz der Partnerschaft sollen also die Eltern ihre Rechte und Pflichten einvernehmlich ausüben. Auf Grund eines ÖVPAntrages wird aber nun im Gesetz ausdrücklich bestimmt, daß zur Pflege des Kindes mangels Einvernehmen derjenige Elternteil verpflichtet ist, der den Haushalt führt, in dem das Kind betreut wird. Daß das minderjährige Kind die Anordnung der Eltern zu befolgen hat, diese bei ihren Anordnungen und deren Durchsetzung auf Alter, Entwicklung und Persönlichkeit des Kindes Bedacht nehmen müssen, geht ebenfalls auf einen ÖVP-Antrag zurück. Diese Formulierung ersetzt die bisherigen Bestimmungen über das sogenannte Züchtigungsrecht. Eine gänzliche Streichung der "Durchsetzungsmaßnahmen" wie dies die SPÖ forderte, wurde von der ÖVP abgelehnt. Während die Regierungsvorlage in der Frage der Unterhaltspflicht die solidarische Haftung der Eltern vorsah, setzte sich die ÖVP damit durch, daß Vater und Mutter dem Kind den Unterhalt anteilig nach ihren Kräften schulden.

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ce) Neuordnung des Ehegattenerbrechts des Ehegüterrechts und des Scheidungsrechts Abgeschlossen wurde die Reform des Familienr,echts im Jahre 1978 mit der Neuordnung des Ehegattenerbrechts, des Ehegüterrechts und des Scheidungs rechts (BGBl 280/1978). Das gesetzliche Erbrecht der Ehegatten wurde verbessert, ein Pflichtteilsanspruch eingeführt. Die vermögensrechtlichen Folgen der Trennung einer Ehe wurden im Sinne der Gleichberechtigung von Mann und Frau neu geregelt. Der Ehegatte, der im Erwerb des anderen mitwirkt, hat einen Anspruch auf eine angemessene Abgeltung seiner Mitwirkung. Das eheliche Gebrauchsvermögen und die ehelichen Ersparnisse sind bei einer Scheidung zwischen den Ehegatten entsprechend ihrem Beitrag zum Vermögenserwerb aufzuteilen. Als Beitrag zum Vermögenserwerb gilt unter anderem auch die Führung des gemeinsamen Haushalts und die Pflege und Erziehung gemeinsamer Kinder. Neu eingeführt wurde die "Scheidung im Einvernehmen". Ebenso wurde Scheidung wegen Auflösung der häuslichen Gemeinschaft neu geregelt. Wenn die häusliche Gemeinschaft seit mindestens sechs Jahren aufgehoben ist, ist die Ehe jedenfalls auf Klage eines Ehegatten zu scheiden. Die versorgungsrechtliche Stellung des wegen Auflösung der häuslichen Gemeinschaft gegen seinen Willen geschiedenen Ehegatten wurde entscheidend verbessert. Er behält den Unterhalts anspruch wie bei aufrechter Ehe; unter bestimmten Voraussetzungen auch dann, wenn der Unterhaltspflichtige eine neue Ehe eingeht. Auch der Pensionsanspruch bleibt unter bestimmten Voraussetzungen so aufrecht, als ob es sich um einen hinterbliebenen Ehegatten aus aufrechter Ehe handelte. Abgesehen von der Ehescheidung wegen Auflösung der häuslichen Gemeinschaft seit sechs Jahren, wurde die Familienrechtsreform im Nationalrat einstimmig verabschiedet. Die Regierungsvorlage sah im Bereich des ehelichen Güterrechtes die Einführung eines sogenannten "Zugewinnausgleiches" im Scheidungsfall vor. Bei einer Scheidung sollte also die Wertsteigerung ermitte'lt werden, die jeder Eheteil in seinem Vermögen vom Beginn der Ehe bis zum Scheidungszeitpunkt erfahren hat. Die Hälfte der Differenz der beiden Wertsteigerungen sollte als Ausgleichsanspruch demjenigen Ehegatten zustehen, dessen Vermögen sich weniger vermehrt hat. Dies hätte zweifellos zur "Vermögensbildung in der Hand geschiedener Unternehmersgattinnen" geführt. Auf Grund der Vorschläge der ÖVP wurde der Ausgleichsgedanke in einer gänzlich anderen Konstruktion verwirklicht: -

Aufteilung des sogenannten ehelichen Gebrauchsvermögens, das sind die beweglichen und unbeweglichen körperlichen Sachen, die im gemeinsamen Gebrauch der Ehegatten während der Ehe standen.

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Auf teilung der ehelichen Ersparnisse

-

Ausgenommen von der Aufteilung sind Sachen, die ein Ehegatte in die Ehe eingebracht, von Todes wegen erworben hat oder als Geschenk bekam, die der Ausübung seines Berufes dienen oder zu einem Unternehmen gehören.

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Nur wenn sich die Eheleute im Zuge der Scheidung nicht selbst über die Aufteilung einigen können, entscheidet der Richter. Die Aufteilung erfolgt aber nicht mehr, wie in der Regierungsvorlage vorgesehen, je zur Hälfte, sondern "nach Billigkeit".

Ein besonderes Problem bildeten bei der Neuregelung des Scheidungsrechtes die zerrütteten Ehen. Eine Trennung solcher Ehen war zwar nach dem Gesetz möglich, eine starre Judikatur des Obersten Gerichtshofes erklärte aber praktisch jeden Widerspruch des schuldlosen Teiles als sittlich gerechtfertigt, was faktisch zur Untrennbarkeit solcher Ehen geführt hat. Die ÖVP sprach sich für eine Lockerung dieser starren Rechtslage aus, allerdings unter zwei Voraussetzungen: der Schuldlose, gegen seinen Willen geschiedene Eheteil müsse wirtschaftlich voll abgesichert werden, außerdem dürfe das Widerspruchsrecht in besonderen Härtefällen nicht gänzlich beseitigt werden. Auf Grund einer Anregung des Katholischen Familienverbandes wurde im Zuge der parlamentarischen Beratungen die Härteklausel in der Form einer "Härteabwägung zwischen den Ehegatten" neu formuliert. Der Richter sollte prüfen, welcher Ehegatte durch die Scheidung bzw. die Abweisung des Scheidungsbegehrens härter getroffen wird. Diese Härteabwägung wurde aber seitens der Regierungspartei zeitlich mit 6 Jahren Dauer der Trennung befristet. Die ÖVP lehnte eine Scheidungs automatik nach 6 Jahren Trennung ab, weil bei weiter dauernden Härten die zeitliche Begrenzung willkürlich und unsachlich ist, und weil die absolute Gewißheit, seinen Ehepartner nach einer 6jährigen Trennung unter allen Umständen loswerden zu können, eine gefährliche Rückwirkung auf die Ehegesinnung haben müßte. Die Österreichische Volkspartei hat also bei der Reform des österreichischen Familienrechtes entscheidend mitgewirkt. Dabei wurde einerseits dem Wesen der Familie als unersetzliche menschliche Gemeinschaft, aber auch der modernen Entwicklung aus einer offenen Sicht Rechnung getragen. Wenn dafür vor allem der Justizsprecher der ÖVP, Walter Hauser, das Verdienst in Anspruch nehmen kann, so wurde gerade in der Familienpolitik klar, daß in diesem Bereich und in der Beurteilung der

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RDlle der Frau durch das Salzburger PrDgramm grundlegende RefDrmen stattgefunden haben und auch die Grundlage für ein Dffeneres Denken gelegt wurde. Wenn das Salzburger PrDgramm VDn der NDtwendigkeit einer "neuen Auffassung VDn der RDlle des Mannes und der Frau in der Familie, in den Bereichen der Kultur und Bildung, der Wirtschaft und des öffentlichen Lebens" spricht, dann sind dies ganz andere Perspektiven als jene, die seinerzeit VDn PaunDvic Dder auch Gschnitzer vertreten wurden. Es wäre sicherlich nDtwendig gewesen, diese neuen Perspektiven stärker und VDr allem auch bewußter SDWDhl den eigenen Parteimitgliedern als auch der Öffentlichkeit darzulegen. Eine politische Erneuerung ist heute Dffensichtlich sO' lange nicht wirkungsvDll, als sie nicht mit spektakulären Effekten verbunden wird. 111. Kann eine politische Partei ihre Haltung in absoluten Werten begründen? 1. AbsDlute Werte und gesellschaftlicher Wandel

Gerade die starke Verankerung der Familie in der kathDlischen SDziallehre wirft für den PDlitiker eine wesentliche Frage auf: Lassen sich in einer sich stets ändernden Welt bleibende Werte vertreten? MDraltheDlDgische FDrderungen, wie sie in den päpstlichen Verlautbarungen fDrmuliert werden, beinhalten absDlute Werte, sie sind nicht nur allgemeine Verhaltensregeln der zwischenmenschlichen Beziehungen 41 • SO' sehr natürliche Zuneigung und Sympathie zu einem Eheversprechen führen mögen und auch sDllen, sO' ist nach den Lehren der Kirche die reale Bindung nicht durch diese Zusagen bestimmt, sDndern vielmehr durch das die Natur der Ehe nDtwendigerweise bejahende Gewissen. In diesem Sinne versteht sich das WDrt Pius XII.: "In der Einheit des Ehebandes erblickt Ihr das Siegel der Unauflöslichkeit. Das Ja, das unter dem Antrieb Eures Willens VDn Euren Lippen kam, schlingt um Euch das eheliche Band und bindet zugleich Euren Willen auf immer42 ." Bei Schwierigkeiten, dem diese Prinzipien in der Realität begegnen, verweist Pius XII. auf die Gnade, die alle menschlichen Schwierigkeiten zu überwinden vermag. Es darf eben keine Flucht VDr der metaphysisch begründeten Ordnung geben. Bei der Zeugung etwa steht nicht der physische VDrgang des ehelichen Aktes, sDndern seine EinDrdnung in einen gDttgewDllten Seinszusammenhang im VDrdergrund. 41 Arthur-Fridolin Utz, Pius XIII. Ehe- und Familiendoktrin als Beispiel seiner sozialethischen Methode, in: Herbert Schambeck, Pius XII. zum Gedächtnis, Berlin 1977, S. 345. 42 Utz / Groner, Soziale Summe Pius XII., Freiburg/Schweiz 1954, Nr. 905.

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Unübersehbar ist, daß in der katholischen Soziallehre die Stellung der verheirateten Frau die längste Zeit geprägt wird durch die Häuslichkeit, wo sie ihr Heim hütet und ihre Kinder erzieht. Das Zweite Vatikanische Konzil hat von der strengen metaphysischen Betrachtung insofern Abstand genommen, als es mehr das psychische Moment der gegenseitigen Liebe ins Blickfeld rückte. Man kann aber nicht von einem Abschied von der alten Metaphysik der Geschlechter sprechen, was Utz zum Schluß kommen läßt: "Gewiß war bislang die Ehemoral in manchen Punkten sehr stark von der mittelalterlichen Biologie geprägt43 ." Das selbe gilt etwa auch in der Frage der Autorität in Ehe und Familie, wo Pius XII. es als eine Wesensforderung ansah, daß dem Mann die Autorität in der Familie zugesprochen wird. Angesichts von 10000 Ehescheidungen im Jahr, von 1,4 Millionen berufstätigen Frauen und einer gänzlich gewandelten sozialen Struktur erhebt sich wohl die Frage, inwieweit eine politische Partei ein in der Metaphysik begründetes Weltbild vertreten kann, das in wesentlichen Bereichen offensichtlich überholt ist. Eine politische Partei kann einem sozialen Wandel oder dem Funktionswandel der Familie dann schwer gerecht werden, wenn ein unverrückbares, von der Natur, ja von Gott vorgegebenes Bild der Familie angenommen wird. Abgesehen davon, daß die katholische Soziallehre selbst in einigen Fragen dem Wandel Rechnung trug, ist es für eine Partei doch vorteilhaft, wenn in ihren Reihen neben jenen, die überbrachte Werte vertreten, auch solche Gruppen tätig sind, die sich aus rationalen Beweggründen zu einem humanistischen Menschenbild bekennen. Die Aufgabe des Politikers kann es eben nicht sein, überbrachte Werte unreflektiert zu vertreten, es geht vielmehr darum, diese Werte im Lichte der gesellschaftlichen Entwicklung und des sich stets neubildenden Wertbewußtseins zu sehen. Das heißt nicht, daß deshalb einem billigen Wertrelativismus das Wort geredet werden soll. Es liegt eben im Wesen der politischen Verantwortung zu beurteilen, was an einem Wert tatsächlich bleibend ist und welche Inhalte an bestimmte, zeitlich bedingte Gegebenheiten gebunden sind. Die Kirche selbst hat im "Kampf um die christliche Schule" und im "Kampf um die christliche Ehe" zeitweise "unveräußerliche Rechte", wie die Gerichtsbarkeit in allen Ehesachen oder die Beaufsichtigung der Schulen, vertreten, die dann, nach mehr oder weniger heftigem Kampf, aufgegeben wurden 44 • 43 Arthur-Fridolin Utz, Pius XII. Ehe- und Familiendoktrin als Beispiel seiner sozialethischen Methode, in Herbert Schambeck, Pius XII. zum Gedächtnis, Berlin 1977, S. 353. 44 Cölestin Wolfsgruber, Joseph Othmar Cardinal Rauscher, Fürstenbischof von Wien - Sein Leben und sein Wirken, Freiburg i. Br. 1888, S. 218.

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Offensichtlich muß im menschlichen Leben auch der Tatsache Rechnung getragen werden, daß zu bestimmten Zeiten in bestimmten Fragen eine Einheit zwischen Moral und allgemeinem Rechtsbewußtsein besteht, im Laufe der Zeit aber nicht nur im jeweiligen Bereich eine Änderung, sondern auch ein Zerfall dieser Einheit eintritt. Aufgabe des Politikers ist es, dabei als Vermittler zwischen seinen Wertvorstellungen und jenen des allgemeinen Rechtsbewußtseins aufzutreten.

2. Ideale Werte und harte Wirklichkeit Werden in einem politischen Programm Werte wie Partnerschaft, Geborgenheit in der Familie oder Chancengerechtigkeit vertreten, so erhebt sich die Frage, ob es mehr darum geht, diese Werte zu verteidigen oder eher darum, sie zu erreichen. Geht man davon aus, diese Werte wären lediglich zu verteidigen, nimmt man bewußt oder unbewußt an, sie wären ohnehin schon realisiert. Das Eintreten für hehre Ideale kann auch zu leicht eine Entschuldigung dafür sein, an der rauhen Wirklichkeit vorbeizusehen. Diese Gefahr besteht zweifellos, wenn es um die Familie geht. Da heißt es etwa im Handbuch der Gesellschaftsethik: "Keine Naturwirklichkeit bringt dem Menschen seine Beziehung zum Schöpfer näher als die Verantwortlichkeit und die Geheimnisse, die mit der Zeugung und Aufzucht seiner Kinder verbunden sind45 ." Wenn dann noch davon gesprochen wird, daß die am "gemeinsamen Tisch" geformte Familie die Aufgabe hat, den Trieb nach Frohsinn, Scherz und Unterhaltung zu fördern und den geistigen Austausch zu pflegen, erhebt sich doch die Frage: was ist hier Wunsch, was Wirklichkeit? Werden die Verhältnisse in den Familien richtig gesehen, wenn diesen bei der Erlangung der Erkenntnisse über das Naturrecht die entscheidende Funktion eingeräumt wird? So heißt es etwa im Kapitel über das Naturrecht im Katholischen Soziallexikon: "Wie kommt der Einzelmensch zur Erkenntnis der allgemeinsten Rechtsgrundsätze des Naturrechts? Sie ist ihm nicht angeboren, er erlernt das Verhalten nach diesen Grundsätzen in der Familiengemeinschaft mit der natürlichen Liebe und Achtung von Eltern und Kindern für einander, kommt damit zur Erkenntnis dieser Grundsätze selbst, sieht ihre Geltung als Voraussetzung für ein menschenwürdiges Leben aller Familienmitglieder ein, lernt sie in den verschiedenen Erlebnisbereichen der Familiengemeinschaft anwenden und erkennt auf Grund dieser Erfahrungen auch ihre Anwendungsweise im Leben der Gesellschaft46 ." 45 Johannes Messner, Das Naturrecht Handbuch der Gesellschaftsethik, Staats ethik und Wirtschaftsethik, Innsbruck - Wien - München 1966, S. 553.

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Vergleicht man diese Darstellung mit der Studie, die von amerikanischen Wissenschaftlern über "Abwegigkeit und Familie"47 durchgeführt wurde, erhebt sich die Frage, welches Bild als Grundlage für politisches Handeln dienen soll. In der erwähnten Studie werden empirische Untersuchungen über Kindermißhandlung, Scheidung, Alkoholismus bei Hausfrauen, Jugendkriminalität, Inzest und Ehebruch erörtert. Gerade wenn man einer Institution wie der Familie einen hohen Stellenwert einräumt, ist es notwendig, alle jene Bereiche zu untersuchen, die dem Ideal nicht entsprechen, um einen klaren Ansatz für eine zielorientierte Politik zu haben. Die von uns vertretenen Werte werden dann durch uns selbst bedroht, wenn unsere Politik nicht konkrete Chancen eröffnet, sie zu erreichen. Eine Bewußtseinsbildung, die nur von den gegebenen Unzulänglichkeiten geprägt ist, ohne auf von Werten getragene Lösungen hinzuzielen, ist genauso falsch wie ein Idealismus, der Mängeln nicht Rechnung trägt. Ein dringendes Erfordernis der gegenwärtigen Politik ist zweifellos die Ergänzung und Korrektur der Macht durch das Bewußtmachen von Werten. In diesem Sinne kann eine Einsicht in die Bedeutung der Familie vor allem dann vermittelt werden, wenn auch den Gegebenheiten Rechnung getragen wird .

.j6 Johannes Messner, Naturrecht im Katholischen Soziallexikon, Innsbruck - Wien - München 1964, S. 740. 47 Clifton D. Bryant and J. Gipson Wells, Deviancy and the Family, Arlington Heights, Illinois 60004 1973.

DIE FAMILIE IM LICHTE DER JÜDISCH-CHRISTLICHEN ÖKUMENE Von Otto Herz I. Die Familie in allgemein religionswissenschaftlicher Perspektive Im Lichte der vergleichenden Religionswissenschaften präsentiert sich "Familie" als naturgegebene Lebensgemeinschaft von Vater, Mutter und Kindern. Als elementarste Einheit! in den Sozial-, Wirtschafts-, FortpfIanzungs- und Erziehungsbereichen bildet sie die GrundzeIIe der menschlichen GeseIIschaft. Familie als Institution wird auch für die ältesten prähistorischen Epochen angenommen, da ohne ihren Zusammenklang der Fortbestand der Menschheit undenkbar wäre. Die sogenannte "evolutionistische Theorie" von einem uranfänglichen ehe- und familienlosen Stadium mit regeIIoser Geschlechtsverbindung (Promiskuität), aus dem etwa später die Familie hervorgegangen wäre, ist endgültig ausgeschlossen, weil widerlegt worden. Ethnologisch gesehen wird die Struktur der Familie zunächst von der Eheform geprägt. Die monogame Familie hat die weiteste Verbreitung und ist an keine bestimmte Kulturform gebunden. Die polygame Variante findet sich vor allem in differenzierten Kulturen, wo die komplexe Wirtschaft mit erhöhtem Bedarf an weiblichen Arbeitskräften, Prestigestreben des Mannes, Wunsch nach vielen Nachkommen und andere Faktoren ihr Ausbildung begünstigen. Der polyandrischen Familie schließlich, die relativ selten aufscheint, liegt zuweilen eine monogame Ehe zugrunde, wobei der Gatte anderen Männern (meist seinen Brüdern) in bezug auf seine Frau Eherechte einräumt. Polyandrie kann auf verschiedenen Faktoren beruhen: betontes Erstgeborenenrecht, Streben, den von Brüdern ererbten Besitz ungeteilt beisammenzuhalten, Frauenmangel, hohe soziale Stellung der Frau und anderes mehr. Eine weitere Prägung erhält die Struktur der Familie durch den jeweiligen sozialen und ökonomischen Status von Mann und Frau. Die bilaterale, gleichzeitig auch monogame Familie gründet in einer prinzipiellen Gleichberechtigung der beiden Geschlechter, wobei dem Vater die ihm naturgegebene Autorität zuerkannt wird. Die Familienform entspricht im wesentlichen der naturrechtlichen Auffassung. 1

Vgl. J. Haeckel, Familie, LThuK.

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Bei einseitiger Vorrangstellung eines der beiden Geschlechter spricht man von paternaler und maternaler Familie. Zu ihrer Ausbildung kommt es vor allem dann, wenn entweder dem Manne oder der Frau der Hauptanteil an der Nahrungs- und Güterversorgung oder der Hausbesitz zufällt. Die in der Menschheit tief verwurzelte Inzestscheu, die biologisch, emotiona'l, ethisch und religiös begründet ist und den Bestand der Familie gewährleistet, wird auch auf größere Familienverbände ausgedehnt. Eine Großfamilie besteht aus mehreren bluts- und heiratsverwandeten Einzelfamilien, umfaßt mehrere Generationen, bildet einen gemeinsamen Haushalt und steht unter Leitung eines Patriarchen oder einer Matrone. Die Religionsgeschichte dokumentiert, daß verschiedene Völker in der Familie eine Einrichtung sehen, die vom "Höchsten Wesen" oder einem "KuIturheros" eingesetzt wurde. Wenn gesagt wird, daß der "Hoch-Gott" zu Anbeginn das erste Stammelternpaar geschaffen hat, so wird auch der Ursprung der Monogamie zum Ausdruck gebracht. Der Familie, insbesondere der Großfamilie, kommen vielfach bestimmte kultische Funktionen zu. Der Familienvater kann im Rahmen des Toten- und Ahnenkultes als Priester auftreten. Die Großfamilie fungiert auch als Hüterin und Betreuerin von Kultobjekten. 11. Die Familie in der Bibel Die Familie ist die kleinste soziale Einheit in Israel, aus der sich die größeren: "Geschlecht" und "Stamm", aufbauen. Sie vereinigt als "Vaterhaus" alle, die von einem Ahnherrn abstammen, in einem starken Zusammengehörigkeitsgefühl. Ihre bürgerlichen und rechtlichen Angelegenheiten nimmt sie selbst in die Hand und vertritt sie notfalls mit äußeren Machtmitteln. überdies ist sie Kultgemeinschaft: die priesterlichen Funktionen übt der Vater aus 2 • Daher wird es begreiflich, daß sie bemüht ist, durch Heiraten mit anderen Familien an Einfluß zu gewinnen, sich anderseits aber, um die eigenen Traditionen rein zu erhalten, gegen fremde Frauen ("Töchter Kanaans") abweisend verhält3 • Die gegenteilige Praxis bleibt Ausnahme4 • Die Familie besteht aus Mann, Söhnen, Frau, Frauen der Söhne und Töchtern5 ; ihr Haupt ist der Vater, nach seinem Tod der Erstgeborene'. Der Mann baut die Familie auf, die Frau leistet ihm dabei Hilfe. Der 2 3 4

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Gn 21, 4; Ex 12, 3 ff.; Job 1,5. Ex 34,15 f.; Dt 7, 3 f.; Neh 13, 25. Ex 2, 21 f. Gn 7,13.

• Gn 24,29.

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Vater ist bestrebt, die Zahl der Familienmitglieder durch möglichst viele, besonders männliche Kinder zu vermehren. Sie sind ein Segen des Allerhöchsten7 und größtes Glücks. Dagegen gilt das Aussterben einer Familie als Unglück'. Aus der Sorge um eine zahlreiche Nachkommenschaft erklären sich die Polygamie 10, die Verbindung mit Sklavinnen ll , die Einrichtung der Leviratsehe 1!. Ehelosigkeit ist eine große Ausnahme 13 ; sie gilt gewöhnlich als Schande und Unglück14 • Das Gesetz befreit die Jungvermählten von Kriegsdienst und Lasten15 • Über das Familienleben, besonders die Kindererziehung, enthalten die Weisheitsbücher treffliche Ermahnungen16 •

111. Die Familie im Judentum Die Familie ist der Grundpfeiler der sittlichen Weltordnung. Das Familienleben wurde stets heilig gehalten; auf seiner Innigkeit beruhte zu nicht geringem Teil die Anziehungskraft jüdischer Spiritualität. Neben der Hochschätzung der Frau steht die Sorge für die geistige und körperliche Erziehung der Kinder, für deren Wohl die Eltern verantwortlich sind. Elternautorität findet ihre Schranken in den Geboten der Religion und Sittlichkeit. Von den Kindern wird anderseits Gehorsam und Dankbarkeit gefordert, aber ebenfalls nur in den Grenzen des sittlich Erlaubten. Mangel an Ehrerbietung und Elternrnißhandlung gelten als todeswürdige Verbrechen. Die Hebräische Bibel beginnt mit der Urgeschichte der Menschheit als einer Familienchronik: Es geht um Adam, seine Frau Eva und ihre ersten beiden Söhne Kain und Abel, mit denen die Sünde, die Entzweiung und der Brudermord in die Welt kamen. Die Bibel lehrt uns, daß jeder Mord ein Mord am Menschenbruder ist (vgL A. Eisenberg, Rede "Familienprobleme" , März 1978, Wien). Nach dem Scheitern der ersten Menschheit, als Gott die Erde mit der Sintflut überschwemmen ließ, beginnt die zweite Menschheit wiederum Ex 1, 21; Ps. 127,3 ff. Gn 24, 60. 8 2 Sam 14, 7. 10 Gn 29, 23. 28; Dt 21, 15. 11 Gn 16, 1 f.; 30, 3. 9. i ! Gn 38, 8; Dt 25, 5 - 10; Rt 4, 1 - 14. 13 Jr 16, 2. 14 Ri 11, 37; 1s 4, 1. 15 Dt 20, 7; 24, 5. 11 Vgl. E. B. Cross, The Hebrew Family (Ch 1937), R. de Vaux, Les institutions de l'Ancien Testament (P 1958) 37 - 91 (Lit 321 - 325) und L. Gross. Familie, LThuK. . 1

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mit einer Familie: Noach, seine Frau und deren drei Söhne, Sem, Harn und J aphet, die als die Begründer der heutigen Weltbevölkerung gelten. Kein Wunder also, daß die Propheten dann von der messianischen Endzeit als der Wiedervereinigung der zerklüfteten, gespalteten Menschheit sprechen, und zwar im Rahmen einer einträchtigen Völkerfamilie, die gemeinsam, wie einst vor dem Sündenfall, Dem Einen Vater-Gott dienen soll. Doch nicht nur das Alpha und das Omega der Weltgeschichte wird auf Hebräisch im Bildnis der Familie geschildert; auch das Volk Israel hat seine Keimzelle in der FamiIie des Erzvaters Abraham, seiner Frau Sarah und ihrem Sohn Isaak. Da alle Israeliten sich seit jeher als Söhne Abrahams verstehen, spricht die Bibel vom "Hause Israel", was in der Sprache der Patriarchen nichts anderes besagen will, als daß ganz Israel sich als eine Groß-Familie betrachtet - einschließlich ihrer "verlorenen Schafe", zu denen Jesus von Nazareth sich gesandt wußte. Daß Israel, als Gottesvolk, kein Selbstzweck sein darf, sondern zum Dienst an der Menschheit auserkoren wurde, ist ein biblisches Fundamentalverständnis, welches in der Verheißung Ausdruck findet, die schon an Abraham ergangen war - lange bevor es das Volk der Juden gab: "In dir sollen alle Familien des Erdbodens gesegnet werden!"17 - ein Wort, das unzweideutig die Heidenvölker vor allem als Sippschaften erachtet, die aus FamiIieneinheiten zusammengesetzt sind. Dies ist auch der tiefere Sinn vom symbolischen Schöpfungsbericht, demgemäß Gott Adam in einen Schlaf fallen ließ, um aus einer seiner Rippen Eva zu machen. Gemeint ist, daß sie von Anfang an ein unverzichtbarer Teil ihres Mannes ist, was schon auf Hebräisch in der Namensgebung zum Ausdruck kommt: Isch-Ischa (Luther übersetzt: Männin). Anders gesagt: Sie sind eine Zwei einigkeit, "Knochen von meinem Knochen und Fleisch von meinem Fleisch"18, wie Adam sagt. Warum schuf Gott die Eva ausgerechnet aus einer Rippe der Midrasch - und antwortet:

so fragt

Nicht aus seinem Kopf wurde sie geschaffen, auf daß sie ihm nicht befehle; noch aus seinen Füßen, damit sie ihm nicht untertan sei, sondern aus seiner Seite, um ihre Ebenbürtigkeit zu versinnbildlichen. 17 18

Gn 12, 3. Gn 2, 23.

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"Mann und Frau schuf ER sie19 ." Aus diesem Bibelwort entnehmen die Rabbinen, daß ein Junggeselle nur ein halber Mensch sei, der der Gattin zur Vervollkommnung bedürfe. Unter den Talmudmeistern war nur Rabbi Ben Asai als Junggeselle bekannt. Als man zu ihm kam, um ihm vorzuwerfen, daß er dem Fruchtbarkeitsauftrag nicht gerecht werde, lautete seine Verteidigung: "Was soll ich denn tun, da meine ganze Seele der Torah anhangt? Jede Ehe mit einer Frau wäre da ja nur Bigamie20 ." Daß der Hebräer in die Ehe tritt - und zwar dem alten Brauchtum gemäß mit 13 Jahren - ist für die Bibel selbstverständlich, denn es entspricht ja der Gott-gewollten Ordnung der Natur. Der Mann hängt an seiner Frau, so heißt es 2t, und kurz darauf: "die Frau hat Verlangen nach dem Mann"22 - woraus der Schöpfungs auftrag entspringt: "Seid fruchtbar und mehret euch, und füllet die Erde 23 !" So wird also der Fruchtbarkeitsauftrag, der an das erste Menschenpaar erging, als Gebot der Familienbildungzum Göttlichen Geheiß erhoben. In diesem Sinne heißt es im Talmud: "Unsere Meister lehren: Drei sind an einem Menschen beteiligt - Der Heilige, Gelobt Sei ER, sein Vater und seine Mutter. Zu der Zeit, da ein Mensch seinen Vater und seine Mutter ehrt, spricht Der Heilige, Gelobt Sei ER: Ich lasse es ihnen gelten, als ob Ich unter ihnen wohnte und sie Mich ehrten24 . " "Schaffe mir Kinder, oder ich sterbe!" so schreit Rachel ihren Mann Jakob an25 , worauf er antwortet: "Bin ich doch nicht Gott, Der dir deines Leibes Frucht nicht geben will! ... 26" Daß der Kindersegen zu einem erfüllten Leben dazugehört, ist seit den Erzvätern ein Zeichen der Gnade Gottes - und noch im Neuen Testament ist belegt, daß die Frau durch Kindergebären gerettet wird, wenn sie im Glauben und der Liebe verbleibt21 • Mann, Frau und Kinder - das ist die gegebene Grundgemeinschaft, auf der die Weltordnung der Bibel fußt. So wichtig sind Kinder, daß Kinderlosigkeit als Fluch oder zumindest als Unglück empfunden wurde. Martin Luther mißversteht dies, wenn er in seiner Bibelüber19

20 21 22 23

24 25

26 21

Gn 5,1.

Jebamot 63 b .

Gn 2, 24. Gn 3,16. Gn 1, 28.

Kidduschin 30 b.

Gn 30,1.

Gn 30, 2. 1 Tim 2, 15.

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setzung Sarah zu Abraham sagen läßt: "Lieber, lege dich zu meiner Magd, ob ich doch vielleicht aus ihr mich bauen möge28 ." Das Zeitwort "ebbaneh", das hier vom Worte "Sohn" (Ben) abgeleitet wird, bezeichnet nämlich jenen primitiven Rechtsakt, den Anthropologen als Adoption durch Scheingeburt bezeichnen. Er wird von Sarah, die zu Abraham über ihre Magd spricht, so beschrieben: "Daß sie auf meinen Knien gebäre!"29 - das heißt: Die Unfruchtbare nimmt die Gebärende auf ihren Schoß, und damit vollzieht sich die Identifikation. Ihr Schoß ist es nun, aus dem das Kind hervorgeht. Sie ist es - um es in altertümlicher Diktion zu sagen, die nun "bekindet" wird. "Ebbaneh" heißt also "ich werde besohnt"; und nicht wie Luther meinte, "erbaut werden". Aber auch der Mann, der keine Kinder hat, wie Abraham, "er vergehe". Ariri: auf Hebräisch, was a:lle übersetzer mit ,Kinderlos' wiedergeben. Das Bibelwort sagt jedoch etwas Bildhafteres aus - nämlich: "entblößt"; denn die Kinder sind für den Bibelmenschen das Lebensgewand, ja, der zweite Leib; eine Fortsetzung seines Lebens; der Garant, daß sein Name fortbestehe - auch nach dem Tod. Darum nennt Abraham sich nicht kinderlos, sondern: Kinderbloß, kinder-bar. In diesem Sinne faßt Psalm 128 den Lob für ein Gott-gefälliges Leben in zwei Versen zusammen: "Wohl dem, der Den Herrn fürchtet, und auf Seinen Wegen geht. Du wirst dich nähren von deiner Hände Arbeit; wohl dir! Du hast's gut. Dein Weib wird sein wie ein fruchtbarer Weinstock drinnen in deinem Hause; deine Kinder wie junge Ölbäume, um deinen Tisch ringsum. Siehe, so wird gesegnet der Mann, der Den Herrn fürchtet!" Wer aber glaubt, daß die jüdische Frau, die hier mit einem fruchtbaren Weinstock verglichen wird, sich mit "Kinder, Küche und Kirche" begnüge, und in der Familie eine untergeordnete Rolle zu spielen habe, der lese das Loblied der Hausfrau aus dem 31. Kapitel der Sprüche Salomos, das Juden allwöchentlich am Eingang des Sabbaths singen, wenn Mann und Sohn aus der Synagoge in ihr feierlich bereitetes Heim zur Mutter zurückkehren: "Wem eine tüchtige Frau beschert ist, die ist viel edler als köstliche Perlen. Ihres Mannes Herz darf sich auf sie verlassen ... "

Oft wird von Historikern die Frage gestellt, wie das jüdische Volk die nationale Katastrophe des Jahres 70 überleben konnte. Man bedenke! Zu jener Zeit wurde der Tempel zerstört, Jerusalem dem Erdboden gleichgemacht, hundert tausende Juden wurden von den Römern 28 "9

Gn 16, 2. Gn 16, 2 f.

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gekreuzigt oder erschlagen, über 200 000 als Sklaven verkauft, und ganz Judäa wurde von den Legionen des Vespasian erbarmungslos verwüstet. Als wäre das noch nicht genug, kam es hierauf zu einer weltweiten Zerstreuung, in der Israel, als machtlose, unterdrückte Minderheit fast zwei Jahrtausende lang in einer meist feindlich gesinnten Umwelt sein Dasein fristen mußte. Feststeht, daß kein anderes Volk in der Weltgeschichte solch eine Kette von Drangsalen als Volkskörper überleben konnte. Wenn man gläubige Juden nach dem Grund dieses Rätsels fragt, werden sie ohne Zögern auf die Göttliche Vorsehung hinweisen - aber im nächsten Atemzug die Kompaktheit des jüdischen Familienlebens nennen. Denn seit ihrem Untergang, als alles Wertvolle in Israel in Trümmern lag, und die alte Hoffnungskraft in Verzweiflung überzuschlagen drohte, kam es zur Rabbinischen Um deutung, die besagt: Seit dem Fall des Heiligtums, ist jede Familie ein kleiner Tempel Gottes; jeder Familientisch gilt vor Gott als geweihter Altar - und Salz und Brot sind die Opfergaben, die dem Herrn wohlgefällig sind. Die Bedeutung des Heimes im Judentum ist gar nicht hoch genug anzuschlagen. Von ihm geht seit Jahrtausenden alle Kraft der Ausdauer aus, die nicht nur die Zerstörung des Tempels, sondern auch häufige Brandschatzungen und Niedermetzelungen überwinden konnte. Daß der Tisch der Familienvater ist, ist keine Stilblüte, sondern eine religiöse Tatsache, da jedes Mahl durch Gebete geweiht und durch Danksagung beendet wird. Die regelmäßige Krönung erhält jede Woche durch den siebenten Tag, den Sabbath, dem die ganze liebende Fürsorge der Mutter gilt. Wenn die Familie am Freitag Abend aus der Synagoge nach Hause kommt, liegt der gedeckte Tisch bereits im warmen Licht der von ihr gesegneten Kerzen. Am Platz des Vaters steht der Kelch mit Wein und daneben die Sabbathbrote unter einer schönen Decke. Nachdem der Hausvater den Segen über Brot und Wein spricht, begrüßt ein uraltes Lied "die Engel des Friedens", die nun ihren Einzug halten, um jeden Sabbathtag zu einem Vorgeschmack der messianischen Endzeit zu machen. Nicht von ungefähr heißt die heiß-ersehnte Heilszeit im Rabbinischen Schrifttum "der Weltensabbath", denn an ihm wird der Welt jene vollkommene Friedensruhe gewährt, die als Kostprobe jeder jüdischen Familie allwöchentlich am Sabbath gespendet wird. Wenn die Familie der Kern des Volkes Israel ist, so stellt der Sabbath die Kathedrale des Judentums dar, an deren liturgischer Gestaltung Dutzende Generationen von Poeten, Rabbinen, Schriftgelehrten und Musikern mitgearbeitet haben. Und da Familienfeier und Sabbath-

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rhythmus seit undenklichen Zeiten zusammen gewachsen sind, liegt in dieser Einung von Gottesdienst und gelebter Glaubenssolidarität der Eckstein jüdischer Hoffnungskraft und Lebensbejahung. Diese Rolle der Sabbath-Heiligung im Judentum findet sich auch im Christentum, wo das Vorbild des häuslich festlich gedeckten Tisches zur Selbstbesinnung auf die Familie als "Kirche im Hause" wird. Wenn wir im Judentum die Familie als Kernstück Israels werten, so wird im christlichen Verständnis die Familie zur "Hauskirche". Im gemeinsamen Gebet der Familie kann genau so wie im Judentum von unseren christlichen Brüdern erfahren werden, daß Gott mit uns ist und tatsächlich in unserem Leben wirkt. Im Gebet bekommt menschliches Leben seinen letzten Sinn und seine letzte Tiefe. Ehegatten, die miteinander beten, Eltern, die mit ihren Kindern beten, lernen sich in neuer Weise achten und schätzen: nämlich als einmalige Geschöpfe und Partner Gottes, hier in dieser Welt. Hier erweist sich wieder einmal, daß im Judentum und Christentum ein Begriff zwei Deutungen zuläßt. Während der Jude sich an Gott im Gebet wendet, meint der Christ: "Wer den Namen Jesu anruft, wird gerettet werden." (Apg. 2, 213°.)

IV. Die Wertfrage in der zeitgenössischen Politik um die Familie Die Fragestellung nach jenen bleibenden, unveränderlichen, objektiven, von Zeitenläufen und menschlicher Einschätzung unabhängigen Werten, die in der Natur des Menschen begründet und als Eckpfeiler der vom Ewigen begründeten Institution "Familie" einzuschätzen sind, konturiert sich in einer Zeit permissiver gesellschaftlicher Veränderung als eine konstituierende Gemeinsamkeit von Juden und Christen im Abwehrkampf gegen den offen-militanten und latent-schleichenden Atheismus. Denn für Juden und Christen ist die Familie Ausgangspunkt und Grundlage für die freie Entfaltung des jungen Menschen. Sie prägt das Kind von seinem ersten Lebenstage an. Wie der Jugendliche die Chancen des Lebens nutzt und dessen Risiken bewältigt, hängt davon ab, welche Erfahrungen er in seiner Familie gewonnen hat. Wieviel Mensclrlichkeit und Geborgenheit in einer Gesellschaft vorhanden sind wird auch davon bestimmt, ob Kinder mit Liebe angenommen und erzogen werden. Der Jugend eine hoffnungsvolle Zukunft zu eröffnen heißt aber die Voraussetzungen für Geborgenheit in der Familie zu verwirklichen. Sie stellt den Born, die Quelle jener metaphysischen und doch so sehr biophysisch sichtbaren Kräfte dar, die der gläubigen jüdischen wie der gottverbundenen christlichen Familie über die Prüfungen des Lebens hinweghilft, aHzumal der jungen Generation. Daher $0

A. Kraxner, Ehe und Familie sind in Gefahr, in: Die Furche, 1.12.1978,11.

Die Familie im Lichte der jüdisch-christlichen Ökumene

509

ist es Ziel jüdischer wie christlicher Gesellschaftspolitik, der Familie im geschützten Freiheitsraum eine private Lebensgestaltung zu ermöglichen, statt sie für die Gesellschaft total verfügbar zu machen. Denn nicht die Familie hat ihre fortwährende gesellschaftliche Nützlichkeit zu beweisen, sondern die gesellschaftlichen Einflüsse sind vom Staat zu überprüfen, ob sie die Familie beeinträchtigen. Gewiß können die Funktionen der Familie im Gesellschaftssystem aus einem ethisch-religiösen, einem sozialen und einem ökonomischen Blickwinkel gesehen werden; al'le diese Perspektiven haben gemeinsam, daß sie vom Standpunkt der Grundwerte aus ihre Orientierungshilfen am Bilde, das heißt am Verständnis vom Menschen zu messen haben: für Juden und Christen gemeinsam zentriert der Grundwert der Würde der Person: "Der Mensch ist deswegen unantastbar und der Willkür der Mitmenschen entzogen, weil jeder einzelne von Gott gewollt und geliebt ist und weil jeder einzelne Gott lieben soll und darf 30 ." Grundwerte setzen ein bestimmtes Menschenbild voraus. Nach der Bibel gehören folgende Züge zu diesem Menschenbild: Der Mensch ist frei; er ist fähig zum Guten wie zum Bösen; für sich selbst, die Mitmenschen und die Welt verantwortlich; er hat ein Gewissen, das ihn zur Verantwortung, auch vor dem 'Ewigen und Einzigen ruft. Der Verfasser dieser ökumenischen überlegungen widmet diese in respektvoller Erinnerung an fünfzehn Jahre der interkonfessionellen Beziehung mit einer christlichen Persönlichkeit, in welcher er die Lauterkeit und Ehrlichkeit der Hinwendung des Zweiten Vatikanischen Konzils zum Gottesvolk der Juden erfahren durfte: der Kardinalpräsident des "Päpstlichen Rates für die Laien", Opilio Kardinal Rossi (durch fünfzehn Jahre Apostolischer Nuntius in Wien), präsidiert jenes Familienkomitee des Heiligen Stuhles, das sein besonderes Augenmerk der bedrohten Grundzelle der menschlichen Gesellschaft zu widmen hat; wie es Papst Paul VI. seligen Angedenkens am 4. 11. 1977 inspiriert hatte: "Wachsamkeit" und "Animation" zu erweisen. Wachsamkeit einerseits den modernen Strömungen gegenüber, die die biblische Auffassung von Ehe und Familie bekämpfen, Animation aber, Beseelung, Ermunterung, Erziehung im Geiste des Menschenbildes, das Juden und Christen als gemeinsame Offenbarung erfahren durften 31 . Der Gesprächskreis "Juden und Christen" des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken sucht nach der tiefsten Raison der theologischen Schwerpunkte des jüdisch-christlichen Dialogs, dessen jüdische Interpretation Martin Bubers Idee vom "dialogischen Menschen" und Papst 31 Vgl. Opilio Kardinal Rossi I Heinrich Segur, Grundwerte der Familie, in: Die Furche, 27. 10. 1978, 16.

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OttoHerz

Paul VI. s. A. berühmtes Rundschreiben "Ecc1esiam suam"32 über die Wege der Kirche belegen33 : Juden und Christen haben einen gemeinsamen Grund ihrer Hoffnung: den sich der Menschheit gnädig zuwendenden Gott Israels. Gemeinsam erwarten sie die volle Erfüllung ihrer Hoffnung; die endgültige Herrschaft Gottes. Juden und Christen sind durch das, was ihnen von Gott her widerfahren ist, und sie sind von der Welt, in der sie leben, zu einem gemeinsamen Zeugnis in "Zeitgenossenschaft", wie es der jüdische Religionswissenschaftler E. L. Ehrlich (Basel) so treffend formuliertM , herausgefordert. Nicht nur ihnen, so glauben sie, sondern allen Völkern gilt der einladende Ruf, im Jerusalem des lebendigmachenden Gottes Leben, Heimat und Frieden zu finden 35 • Indem sie sich selbst auf den Wegmachen zu diesem Jerusalem als der Stätte von Gerechtigkeit und Treue36, erfahren sie die Verpflichtung, allen Menschen die befreiende Kraft ihrer Bindung an Gott weiterzugeben, der Leben und Zukunft schenken kann und WilP7. Der Ruf Gottes nimmt sie in Dienst für die Gestaltung der Welt, macht sie zu Wegbereitung von Hoffnung gerade für jene, die keine Hoffnung haben. Dem Rufe Gottes folgend sollen sie zu ehrlichen und mutigen Sachwaltern der Gerechtigkeit Gottes und zu Fürsprechern seiner Barmherzigkeit werden. Im Judentum wie im Christentum, die ihre Existenz gemeinsam der Offenbarung des Gottes Israel verdanken, erwacht zunehmend ein "geistliches" Interesse aneinander. Juden und Christen bekennen sich zu der gemeinsamen Offenbarung durch eben dieses Interesse. "Ihr Interesse aneinander ist deshalb selbst ein Akt der Verehrung Gottes", wie es jüdische und christliche Gesprächspartner formulierten. Möge im Schoße der Familien der Segen des Ewigen und Einzigen Harmonie bewirken - und eine wirkliche Ökumene brüderlicher Liebe von Juden und Christen zueinander als das wandernde Gottesvolk auf dem gemeinsamen Wege der Hoffnung im Reiche Gottes.

32 Enzyklika Papst Paul VI., "Ecclesiam suam" (Die Wege der Kirche), 6. B. 1964. 33 Freiburger Rundbrief für christlich-jüdische Zusammenarbeit, 113/116. 34 E. L. Ehrlich / C. Thomen, Gibt es eine Mehrchrist-Theologie?, Schriftenreihe der europäischen A. D. L. Kommission des B. B., Wien 1978. 35 Vgl. Is 2, 1 - 5; Is 60. 30 Vgl. Is 1, 26. 37 Vgl. Jer 29,11.

DIE SITUATION DER FAMILIE IN EUROPA UND DIE ENTWICKLUNG UND ZUKUNFT DER EUROPÄISCHEN REGION DER INTERNATIONALEN UNION DER FAMILIENORGANISATIONEN (EIUFO) Von Helmuth Schattovits Der ThemensteIlung folgend, gliedert sich der Beitrag in zwei Teile, nämlich die Situation der Familie und die organisierte Vertretung der Familie in Europa. Im ersten Teil werden jene Entwicklungstendenzen kritisch beschrieben, die für die heutige Situation der Familie als wesentlich angesehen werden. Eine solche Betrachtungsweise erscheint dem Anliegen Familie dienlicher, als eine Beschreibung beispielsweise sozialpolitischer Maßnahmen in verschiedenen europäischen Ländern. An die kritisclle Analyse schließen einige Gedanken für eine notwendige Alternative zum praktizierten gesellschaftspolitischen Konzept. Der zweite Teil stellt den Versuch vor, eine organisierte Vertretung der Familien in Europa aufzubauen.

I. Die Situation der Familie in Europa Will man die Gesellschaft in Europa beschreiben, so kann wohl auf allgemeine Zustimmung gerechnet werden, wenn die Industrialisierung als Merkmal herangezogen wird. Vielfach gilt sie als die Kennzeichnung und daher wird von dieser Gesellschaft als der Industriegesellschaft gesprochen. Damit kommt zum Ausdruck, daß diese Produktionsweise auf unsere derzeitige Gesellschaft von bestimmenden Einfluß war und noch ist. Die Industrialisierung hat eine tiefgreifende Änderung darin bewirkt, wie der Mensch seine wirtschaftliche und soziale Lage sichern und verbessern zu können glaubt. Solche Veränderungen leiten einen Prozeß ein, der die Situation des Menschen, seine Bindung in der Gemeinschaft soziologisch und rechtlich nachhaltig beeinflußt. In der Folge kommt es auch zu einer Anpassung der politischen Verhältnisse im Gemeinwesen1 • I

A. Smith, Wohlstand der Nationen, hrsg. von H . C. Recktenwald, München

1974.

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Helmuth Schattovits

Es erscheint unmittelbar einsehbar, daß damit Auswirkungen auf die Familie in Staat und Gesellschaft, aber auch für den einzelnen Menschen nicht ausgeblieben sind. Die Feststellung wird wohl nicht übertrieben sein, daß von der Industrialisierung der bestimmende Einfluß auf die Familie ausgeübt wurde. Dabei hat die Familie ein Maß an Belastbarkeit, Anpassungsfähigkeit und Flexibilität gezeigt, das Erstaunen und Bewunderung hervorrufen muß. Allerdings treten in zunehmendem Maßüberforderungserscheinungen auf, die das Erreichen von Grenzen anzeigen. Eine Analogie zur Umweltproblematik erscheint richtig 2 •

1. EntwickZungstendenzen kritisch gesehen Wenn hier der kritischen Betrachtungsweise der Vorzug gegeben wird, so bedeutet das nicht, daß die Industrialisierung nur negativ zu beurteilende Auswirkungen mit sich gebracht hat oder gar zwangsweise mit sich bringen muß. So wäre wohl beispielsweise die weitestgehende wirtschaftliche Existenzsicherung so vieler Menschen in Europa ohne die Industrialisierung kaum möglich gewesen. Oder: selbstverständlich haben die beträchtlichen Leistungen beim Ausbau des Bildungswesens positive Auswirkungen auf die mit dem sozialen Wandel an den einzelnen nun verstärkt gestellte Verantwortung und Möglichkeit zur individuellen Lebensgestaltung gehabt. Diese "Aktivseite" wird ausreichend von den Inhabern der politischen Macht dargestellt, so daß eher die Gefahr des Zudeckens der "Passivseite" besteht, was an sich schon Grund genug wäre, diese aufzudecken. Hier soll das kritische Element insbesonders aufzuzeigen helfen, daß sich die Entwicklung nicht nur vollzogen hat, sondern so vollzogen worden ist. Desha'lb nimmt der gesellschaftspolitische Aspekt der Entwicklung einen relativ breiten Raum ein und werden Gedanken für Alternativen vorgestellt. Mit einer letzten Anmerkung sei darauf verwiesen, daß die aufgezeigten Entwicklungen nicht in jedem Land Europas den gleichen Stand erreicht haben. Es werden also Tendenzen aufgezeigt, die mehr oder weniger verwirklicht worden sind. Gerade diese Unterschiede im jeweiligen Zustand gestatten Prognosen, was allgemein eintreten dürfte, wenn die Entwicklung so weiter geht wie bisher. Welche für die Familie relevanten Veränderungen sind nun durch die Industrialisierung eingetreten? 2 H. Schattovits, Qualität des Lebens, in: Die Familie als Motor einer zweiten Phase der Sozialreform, hrsg. vom Katholischen Familienverband Österreichs, Wien 1973.

Die Situation der Familie in Europa

513

Soziologischer Aspekt Wenn wir uns zuerst der soziologischen Entwicklung zuwenden, muß wohl der übergang von der Mehrgenerationen- und Großfamilie zur Kernfamilie angesprochen werden. Die folgenden zwei Bilder veranschaulichen diese Veränderungen in der Struktur und ihre Auswirkungen auf die Kommunikations- und Interaktionsmöglichkeitens. Die Bilder sprechen für sich und müssen nicht näher erklärt wohl aber ergänzt werden, was die Bedeutung dieses Wandels noch unterstreicht. Der Realität der heutigen Kernfamilie entspricht eher ein Bild, in dem der Vater, wenn nicht schon auf Dauer, doch für die meiste Zeit, als ausgefallen anzusehen ist. Denken wir in diesem Zusammenhang an die Bezeichnung "vaterlose Gesellschaft". Dies bedeutet für die Kernfamilie die Reduktion der Familie auf nur einen Erwachsenen, die Mutter.. Auf diese Bilder angewendet heißt dies, daß die Kommunikationsmöglichkeiten von 6 auf 3 halbiert werden. übersteigt bei 4 Personen die Zahl der möglichen Kommunikationen jene der Personen, so gibt es bei 3 Personen nur ebensoviele Kommunikationsmöglichkeiten. Es darf nicht wundern, wenn neben anderen Gründen in dieser strukturellen Reduktion der Möglichkeiten auch die Mutter leicht dem System entzogen werden kann, beispielsweise durch die Angebote zum außerhäuslichen . Erwerb. Der vaterlosen Gesellschaft folgt so die mutterlose, und die Problemlösungskapazität der Familie erweist sich dann nicht nur reduziert, sondern auf Nullabgesunken, weil es praktisch keine Familie mehr gibt. Die Folgen zeigen sich in der Abschichtung der Generationen. Damit ist strukturell gemeint, daß die Erwachsenen in den Betrieben, die Kinder und die Alten in zumindest ganztägigen kollektiven Betreuungseinrichtungen sich aufhalten. Neben den dabei auftretenden organisatorischen und staatsfinanziellen Problemen, verstärkt sich jenes der Bindungs- und Beziehungslosigkeit zwischen den Generationen, ja zwischen den Menschen. So schiebt sich zwischen Eltern- und Kindergeneration die "elternlose Generation"4. Die Folgen können für die betroffenen Kinder selbst oder von diesen getroffenen Menschen im vollen Sinn des Wortes tödlich sein5 • 3 Katholischer Familienverband Österreichs, Die Familie im Wandel der Industriegesellschaft, Heft 1, 1978. 4 J. Duss-von Werdt, Der Familienmensch. Vortrag im Österreichischen Rundfunk am 20. 10. 1979. 5 eh. Meves, Seelische Gesundheit und biblisches Heil, 696 Herder, Freiburg 1979.

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Beispiele für Kommunikations- und InteraktionsmögZichkeiten in KernfamiZien

GV = Großvater, GM = Großmutter, V = Vater, M = Mutter, K = = Kinder, Kn = Knechte, Md = Mägde, 0 = Onkel, T = Tanten.

Beispiele für Kommunikations- und Interaktionsmöglichkeiten im GroßfamiZiensystem

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Die Situation der Familie in Europa

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Rechtliche Aspekte Im Rechtsbereich sollen zwei Tendenzen aufgezeigt werden, die Individualisierung und die Privatisierung von Ehe und Familie. Unter Individualisierung soll dabei die Tatsache verstanden werden, daß in der Gesetzgebung primär der Mann, die Frau, das Kind, der alte Mensch und kaum mehr die Familie als soziale Einheit, als Substruktur der Gesellschaft gesehen wird. Die soziologische Entwicklung zur sich auflösenden Kernfamilie kommt einerseits diesem Rechtsdenken entgegen, wird andererseits von diesem gefördert. Mit der überbetonung des Individuums kommt die soziale Komponente des Menschen zu kurz und damit eine dem Menschen in seiner Ganzheit entsprechende Rechtsordnung. Unter Privatisierung soll die Tatsache verstanden werden, daß in der Gesetzgebung Ehe und Familie immer weniger gesellschaftliche Relevanz beigemessen wird. Damit soll dem Anspruch der Pluralität entsprochen werden, in Wirklichkeit aber entläßt der Gesetzgeber ethische Werte in die Beliebigkeit einzelner. Dies erweckt den Eindruck, als gäbe es keine für das Wohl der Person und der Gesellschaft allgemein verbindlichen Werte oder seien diese selbst durch Zufallsmehrheit im Parlament austauschbar. Um Mißverständnisse zu vermeiden, soll die Auffassung festgehalten werden, daß Ehe und Familie eine höchstpersönlich wahrzunehmende Verantwortung und Aufgabe darstellen. Wie diese jedoch wahrgenommen wird, bleibt nicht ohne Wirkung auf den einzelnen Menschen und die Gesel'lschaft. In diesem Sinn ist es wohl nicht unerheblich, ob verantwortete Elternschaft die Abtreibung, also die Verfügungsgewalt über das Leben des Kindes, als mögliches Mittel einschließt oder nicht. Mit der Legalisierung der Abtreibung erklärt sich der Staat zum neutralen Beobachter, der dem Ungeborenen, der bedrängten Mutter keine gesetzliche Hilfestellung angedeihen läßt. Das Recht wird dem Stärkeren zur Seite gegeben. Diese Verfügungsgewalt stellt einen Rückgriff auf archaische Formen dar, selbst wenn heute auch die Mutter über den Tod des Kindes befinden darf. Eine ähnliche Regression liegt vor, wenn die Reform des Scheidungsrechtes gleichsam das Prinzip des Verstoßens einführt. Diese Willkür wird dadurch nicht fortschrittlicher, daß sie im Gegensatz zur vorchristlichen Zeit nun auch der Frau eingeräumt wird. Es scheint der Staat wieder als neutraler Beobachter auf, so als wäre es für Mensch und Gesellschaft einerlei, ob Treue oder Untreue gefördert wird. Jeder möge es halten, wie es ihm gefällt. Die in der praktizierten Gesetzgebung festzustellende Tendenz dieser Individualisierung und Privatisierung entzieht die für ein Gelingen 33'

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von Ehe und Familie möglichen und vielfach benötigten Stützmechanismen in der Rechtsordnung. Damit wird das verweigert, was auf dem Weg in das Jahr 2000 in die nachindustrielle Gesellschaft von entscheidender Bedeutung sein könnte, nämlich etwas zu zeigen, was heilig ist und nicht überschritten werden kann 6 • Poli tische Aspekte Eingangs wurde von der Anpassung der politischen Verhältnisse an die Veränderungen geschrieben. Dieser Mechanismus dürfte wohl in der Entstehungsphase der Industrialisierung vorherrschend gelten. Zweifellos sind mit dem übergang von der Groß- und Mehrgenerationenfamilie vielfältige Probleme entstanden, die häufig nicht von den Betroffenen in Eigenregie bewältigt werden konnten. Dabei hat der parallel sich vollziehende Prozeß der Urbanisierung problemverstärkend gewirkt. Die öffentliche Hand mußte helfend eingreifen, um Not und Leid zu mildern und ein funktionsfähiges Gemeinwesen zu sichern. Es ging also um die Bewältigung der im sozialen Wandel auftretenden Probleme. Mit dem zunehmenden wirtschaftlichen Erfolg der Industrialisierung, der im Wirtschaftsaufschwung nach dem zweiten Weltkrieg zum Durchbruch kam, trat ein anderer Mechanismus in den Vordergrund. Nicht mehr die Anpassung der politischen Verhältnisse an eine Entwicklung, sondern die Durchsetzung gesellschaftspolitischer Visionen wurden bestimmend. Nicht nur im Sinne eines steuernden Eingreifens sondern im geplanten Machen, dem sich der Mensch anzupassen hat. Der Glaube an das Machen-können kam voll zum Tragen. So ließ der wirtschaftlichtechnische Fortschritt vielleicht erstmals in der Geschichte die Möglichkeit real erscheinen, eine neue, bessere Welt zu schaffen, eine Welt ohne Sorge und Leid, eine Welt von andauerndem Glück und grenzenloser Freiheit. Der Versuch einer Emanzipation des Menschen und der Menschheit von Gott sollte Wirklichkeit werden können. Es wäre wohl der Mühe wert, die Gesellschaftspolitik der letzten 25 Jahre unter dem Paradigma der Urversuchung einer theologischen Reflexion zu unterziehen. Daraus müßten sich wichtige Schlüsse für die Evangelisation der Welt ziehen lassen. Wir wollen uns hier - unter dem früher gemachten Vorbehalt zur kritischen Betrachtung - einer anderen Emanzipation und ihrer Auswirkung auf die praktizierte Politik zuwenden, nämlich der Emanzipation des Menschen vom Menschen. Möglicherweise geht sie auf die 8 D. Bell, Towards 2000. Vortrag am 31. 3. 1979 in Wien vor dem Klub Pro Wien der ÖVP-Wien.

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gleiche geistige Wurzel zurück wie jene von Gott, eben einem ganz bestimmten Verständnis vom autonomen Menschen. Sie hat aber auch eine praktische Komponente im materialistischen Fortschrittskonzept. Das Machen-wollen erfordert einen steigenden Bedarf an Arbeitskräften und die ausreichende Verfügungsmöglichkeit über Menschen und Sachgüter. Darin findet die Vision einer Gesellschaft eine wesentliche Unterstützung, in der die Erwerbsfähigen an der Produktion teilnehmen und für die Kinder und Alten die Gesellschaft solidarisch sorgF. Dieses Leitbild anders formuliert bedeutet, daß Vater und Mutter als individuelle Aufgabe die Teilnahme an der Produktion zugewiesen wird und die Gesellschaft - das bedeutet heute die Machtinhaber im Staat - die Sorge für die Kinder sich vorbehält. Mit noch anderen Worten ausgedrückt: Es wird der Versuch unternommen, Nächstenliebe durch Bürokratien ausüben zu lassen. Ein solches Modell führt in eine Sackgasse, weil es dem Menschen nicht entspricht. Dadurch wird die Würde des Menschen verletzt, weil so sein Wert auf den eines Produktionsfaktors reduziert wird 8 • Hier liegt wohl ein grundsätzlicher Geg,ensatz zu einem christlich motivierten Verständnis von Struktur und Funktionsweise der Gesellschaft vor. Die praktischen Konsequenzen für die Politik können aus obiger Vision nur in Richtung eines Ersetzens von Familie laufen. Der dabei angewendete bzw. wirksame Mechanismus läßt sich so zusammenfassen: Ersetzen durch Entlasten. Seitens der politischen Entscheidungsträger wird demnach von der Familie nicht die Erfüllung ihrer Aufgaben gefordert und gefördert, sondern den Eltern die Abgabe von Aufgaben als richtig dargestellt. Die Übernahme dieser Aufgaben durch den Staat kann dann auch noch als Serviceleistung wahlwerbend eingesetzt werden. Dieser Phase des Glaubens an das Machen-können entsprechen durchaus auch weniger radikal formulierte Leitbilder, als die oben angesprochene Vision. So beispielsweise jenes Konzept, das in der Erziehung der Kinder eine Aufgabe besonderer Art sieht, die von der Gesellschaft Familien und anderen pädagogischen Einrichtungen übertragen wird9 • Hierin hat die Familie einen Platz, allerdings als Instrument der Gesellschaft - praktisch gleichbedeutend mit Staat. Vater und Mutter handeln demnach nicht kraft originärer Rechte und Pflichten, sondern als Beauftragte, die solange und insoweit legitimiert sind, wie P. Hornung, Experimente einer Wohlstandsgesellschaft, Mainz 1974. H. Schambeck, Die Grundrechte im demokratischen Verfassungs staat, in: Ordnung im sozialen Wandel, Festschrift für J. Messner zum 85. Geburtstag, Berlin 1976. • Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit der Bundesrepublik Deutschland, 2. deutscher Familienbericht, Bonn 1973. 7

8

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dieser Auftrag gilt. Nicht die Eltern sind es, die Teile ihrer Aufgaben unter Wahrung ihrer Gesamtverantwortung an den Staat zur Hilfestellung oder übernahme delegieren, sondern eben umgekehrt. Sie können daher nur im Rahmen dieses Auftrages von der Teilnahme an der Produktion freigestellt werden. Wer es selbst tut, muß ohne Unterstützung mit den daraus resultierenden wirtschaftlichen Folgen selbst fertig werden. Das beutet in der Praxis meist verschärfte finanzielle Enge, da ja durch das Ausscheiden beispielsweise der Mutter aus dem Erwerb sich das Einkommen der Familie stark verringert und gleichzeitig mit jedem Kind die Zahl der Köpfe steigt, die von dem so verminderten Einkommen leben müssen. Opfer dieser Art haben Eltern zu allen Zeiten auf sich genommen. Heute dürfte das jedoch besonders schwierig sein, da kaum ideelle oder strukturelle Stützen dafür vorhanden sind. Diese Phase des Glaubens an das Machen-können in der Politik führt zunehmend in eine dritte, nämlich den Zwang zum Machen-müssen. Eine solche Situation ähnelt jener im Märchen vom Zauberlehrling, der den gerufenen Besen nicht mehr los wird, oder in der Sprache der Systemtheorie jener der verstärkenden Rückkoppelung. Letzteres bedeutet, jede Information über die Reaktion des Systems löst eine Verstärkung der Reaktion in die gleiche Richtung aus, usw. Gerät eine solche Situation außer Kontrolle, führt das ~ur Beschädigung oder gar Zerstörung des Systems, in dem sie auftritt. Auf unsere oben dargestellten praktizierten Problemlösungsstrategien angewendet, läßt sich vermuten, daß diese Art Probleme zu lösen neue, größere Probleme schaffen. Es gibt empirische Anhaltspunkte für die Gültigkeit dieser Annahme. So gilt es als erwiesen, daß mit zunehmender übernahme von Aufgaben durch den Staat, die Fähigkeit der Gesellschaft abnimmt, die Erfüllung von Aufgaben selbst zu organisieren1o. Im individuellen Bereich zeigt sich, daß die Nachfrage nach mitmenschlicher Verantwortung und alltäglicher mitmenschlicher Kompetenz in dem Maß abnimmt, wie die Profis diese Kompetenz übernehmen l l • Dies bedeutet, daß der Mensch nicht zu mehr Mündigkeit gelangt, sondern in größere Abhängigkeit gerät und sich immer mehr als Klient erlebt. Letztlich führt ein solche Erscheinungen auslösendes Konzept in eine kollektive Unfähigkeit zum persönlichen Lebensvollzug. Zum Abschluß dieses Abschnittes soll die oben beschriebene Situation an konkreten Inhalten verdeutlicht werden, aber auch die Tatsache, daß der Zwang zum Machen-müssen zur Sisyphusarbeit wird, wenn nicht alternative Strategien eingesetzt werden. 10

11

E. Matzner, Wohlfahrtsstaat und Wirtschaftskrise, Hamburg 1978. R. . Liljeström, in Mitteilungen des Schwedischen Institutes, Nr. 1'76,

November 1977.

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Ein Merkmal der Industriestaaten Europas der 70iger Jahre sind die geradezu explodierenden Defizite ihrer Budgets. Der Konjunktureinbruch mag einen Teil davon erklären, als Symptom vielleicht den größeren. Die tiefere Ursache ist gesellschaftsstruktureller Art. Ein Staat ohne gesellschaftliche Feinstruktur auf der Basis funktionierender Familien kostet aus zumindest zwei Gründen viel, ja zu viel. Einmal erweisen sich kollektive Betreuungseinrichtungen der staatlichen Bürokratie teurer, als die Sicherung eines sozial gerechten Familieneinkommens, das die Bereitschaft unterstützt, für Kinder und alte Eltern selbst zu sorgen. Denken wir nur daran, was es kostet, müßten alle Kinder vom 2. bis 14. Lebensjahr bürokratisch voll betreut werden! Zum anderen sind die Eltern als soziale Puffer unerläßlich, um den Erfolg öffentlicher Maßnahmen sicherzustellen. Wird beispielsweise die Anwaltsfunktion der Eltern im Interesse einer reibungslosen Abwicklung öffentlicher Politik zurückgedrängt, wird strukturell gegen das Kindeswohl verstoßen, welches nie ein allgemeines sondern letztlich nur das Wohl jeden einzelnen Kindes ist. Das bedeutet, daß den Aufwendungen nicht der erwartete Erfolg, nämlich das Kindeswohl gegenübersteht. Ein anderes Beispiel liegt im Bereich der Sicherheit. Wir sprechen gerne vom System der sozialen Sicherheit. Gleichzeitig wird jedoch starke subjektive Unsicherheit bei den Menschen festgestellt. Die Systemsicherheit, wie sie mit den Worten soziale Sicherheit umschrieben wird, kann das subjektive Bedürfnis nicht abdecken, mag es noch so eng und aufwendig ausgestaltet sein. Die Ursachen dafür liegen nämlich auf einer anderen Ebene, jener der Werte und Strukturen1!. Dabei kommt der Familie als Umwelt für jeden Menschen eine wichtige Aufgabe zu. Wir finden bestätigt, daß eine Gesellschaft, ein Staat, ja der Mensch dann existenziell gefährdet erscheint, wenn die Familie in Bedrängnis gerät. Eine solche Situation dürfte erreicht sein.

2. Gedanken zur notwendigen Alternative Wir können davon ausgehen, daß graduelle "Verbesserungen" nicht ausreichen, um die Kluft zwischen Mensch und gemachter Welt auch nur zu stabilisieren. Lösungsversuche müssen die zugrundeliegenden Konzepte und Maßstäbe des praktizierten Konzeptes einbeziehen. Es genügt nicht, einfach die Frage nach Erhöhung der Effizienz des Systems zu stellen sondern zuerst nach dessen Effektivität. Dieses AnlieJ!

F. X. Kaufmann, Sicherheit, 2. Auflage, Stuttgart 1973.

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gen, diese Strategie soll mit den Worten "Gesellschaftsreform durch Gesinnungsreform" umschrieben werden. Mit der Verwirklichung kann jeder bei sich selbst beginnen und braucht sie nicht nur zu fordern. Diese persönliche Anstrengung verdient und bedarf der Abstützung und Förderung durch die Gemeinschaft, den Staat, soll sie allgemein leb bar sein. Inhaltlich geht es dabei um ein neues Verständnis von Lebens~ qualität, nämlich als Qualität der Beziehungen des Menschen zu Gott, zum Nächsten, zur Menschheit und zur Sachwelt. Mit einer solchen Neuorientierung wäre jene Entwicklung zu korrigieren, die zu einer einseitigen Bevorzugung des Systembereiches gegenüber dem Lebensbereich geführt hat? Dieses Anliegen findet erfreulicherweise in der Umweltpolitikbereits Beachtung, hingegen gibt es in der Familienpolitik kaum Anzeichen dafür. Im folgenden sollen drei konkrete Anregungen gegeben werden, wie Gesellschaftsreform durch Gesinnungsreform in der Politik umgesetzt werden kann. Neue Maßstäbe Wenn wir verfolgen, womit Politiker ihre Erfolge beweisen und andere deren Mißerfolge anprangern, so kommen wir zu dem Zauberwort "Sozialprodukt". Tatsächlich scheint darin der Maßstab für gesellschaftlichen Fortschritt gefunden worden zu sein. Hierin kommt auch zum Ausdruck, wie alles auf die wirtschaftliche Dimension reduziert wird. Kaum ein Politiker spricht davon, wenn Selbstmordziffern, Ehescheidungen, Abtreibungen u. ä. steigen. Viele brechen hingegen sofort in Panik aus, wenn das Sozialprodukt gar sinkt. Dabei liegt das Problem nicht nur allein in der Eindimensionalität des Maßstabes, sondern auch und gerade in seiner Struktur. Damit wird er gefährlich. Dieser Maßstab trägt nämlich dazu bei, daß Liquidierung menschlicher Substanz als Fortschritt ausgewiesen wird. Je mehr Autounfälle, je mehr Krankheit zufolge mangelnder Betreuung, je mehr Vermarktung von Diensten im persönlichen Bereich u. ä. desto stärker steigt das Sozialprodukt. In diesem Maßstab erscheinen Leistungen der Familie wie unbezahlter Dienst am Nächsten, Vermeidung von Krankheit u. ä. nicht auf. Damit trägt die funktionierende Familie nichts zum Fortschritt bei. Sie findet in der Sozialproduktmessung erst dann ihre Beachtung, wenn sie nicht funktioniert; dann allerdings sozialproduktsteigernd. Die Vermeidung von Krankheit, die Sorge um Kinder und Alte durch die Familie stellt demnach ein "unerwünschtes" Verhalten dar. Damit ist die Gefährlichkeit dieses Maßstabes, ja seine Widersinnigkeit offenkundig dargelegt. Die Notwendigkeit für ein mehrdimensionales, in sich stimmiges Maß liegt auf der Hand.

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Weiterentwicklung des Wahlrechtes Eine Möglichkeit, das Denken politisch Verantwortlich€r verstärkt auf die erforderliche Neuorientierung hinzulenken, liegt in einer Weiterentwicklung des Wahlrechtes. über diesen politischen Mechanismus wäre es möglich, von einer kurzfristig orientierten Politik zu einer mittel- und längerfristig orientierten zu gelangen. Davon kann erwartet werden, daß die Anliegen der Familien in der Politik mehr Beachtung finden. Derzeit gilt das Prinzip "jeder Mensch eine Stimme" bei politischen Wahlen als verwirklicht. Tatsächlich sind alle Staaten in Europa noch weit davon entfernt, anerkennt man, daß Kinder auch Menschen sind. Unter der ansonst allgemein anerkannten Tatsache, läßt sich die "Entfernung" sogar grob quantifizieren, nämlich rund 1/3 der Gesamtbevölkerung. Wir müssen davon ausgehen, daß alle Menschen gleiche Rechte haben, auch dann wenn sie diese nicht selbst wahrnehmen können. Diese Unterscheidung zwischen Rechts- und Geschäftsfähigkeit gilt für alle Lebensbereiche und Lebensphasen. Die Eltern nehmen richtigerweise die Geschäfte für ihre Kinder wahr, nur bei politischen Wahlen dürfen sie es nicht. Also gerade dort, wo für diese Kinder wichtige Entscheidungen fallen, ja ihre Lebenschancen wesentlich beeinflußt, wenn nicht sogar vorweggenommen werden. Die Eltern werden sich wohl auch die Frage stellen, was bedeutet diese Wahl entscheidung für die Zukunft meiner Kinder. Gerade diese Menschen bilden aber eine Minderheit unter den Wahlberechtigten, obwohl sie für eine Mehrheit der Kinder sorgen. So leben beispielsweise in Österreich in einem Drittel der Haushalte etwa 3/4 der Kinder. Diese gesellschaftsstrukturelle Wirklichkeit zeigt, wie den derzeitigen Spielregeln der Wahlentscheidung gemäß, die Anliegen so vieler Menschen zu kurz kommen, weil sie im politischen Kräftespiel nicht zählen und damit nicht mehrheitsentscheidend sein können. Für die Durchführung gibt es im Bereich der Kirche Beispiele und praktische Erfahrung. So können bei den Pfarrgemeinderatswahlen in manchen Diözesen Österreichs die Eltern für ihre unmündigen Kinder je eine halbe Stimme abgeben. Dazu werden weiße und gelbe Stimmzettel ausgegeben damit zwischen 1 und 112 zählenden Stimmen unterschieden werden kann. Familie der Familien Eine wichtige Hilfe in der Umsetzung der Neuordnung von Beziehungen liegt in dem Modell "Familie der Familien". Damit kann auch jener Entwicklung entgegengewirkt werden, die zu einer überwiegend

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multi hierarchischen und damit außengesteuerten Funktionsweise der Gesellschaft geführt hat, zulasten einer ökologischen und damit innengesteuerten13. Zweifellos besteht in der isolierten Kernfamilie ein Defizit an Kommunikations- und Interaktionsmöglichkeiten und damit auch an Problemlösungskapazität. Ein Zurückdrehen der Geschichte in Richtung damaliger Groß- und Mehrgenerationenfamilie geht in der Industriegesellschaft nicht, wäre aber auch nicht wünschenswert, weil dadurch die Vorteile der Kernfamilie verloren gehen könnten. Es soll daher auch für die Zukunft von der Kernfamilie, das sind die Eltern mit ihren unversorgten Kindern, ausgegangen werden. Diese Kernfamilien bleiben jedoch nicht isoliert, sondern bilden mit anderen Kernfamilien - auch unterschiedlicher Generationen - eine Art Familie der Fami.., lien. Es entsteht so ein Netz kooperierender kleiner sozialer Einheiten, die auf der Basis gelebter Nächstenliebe eine lebendige Gesellschaft verwirklichen. In einem solchen System werden auch Probleme innerlich und äußerlich unvollständiger Familien sowie sonst alleinstehender Menschen besser gelöst und mitgetragen. Diese Familie der Familien stellt eine strukturelle Stütze für das Gelingen der einzelnen Ehe und Familie dar. Bei der Verwirklichung der Gesellschaftsreform durch Gesinnungsreform kommt der Kirche, der christlichen Gemeinde und dem einzelnen Christen eine entscheidende Verantwortung zu. Erfreulicherweise gibt es vielfältige Anzeichen, daß dieser Dienst erkannt wurde und wird. Das Vatikanum 11 hat Ehe und Familie als pastoralen Schwerpunkt hervorgehoben. In Rom wurde die Kommission für die Familie mit Opilio Kardinal Rossi als Präsident prominent besetzt. Die entfalteten Aktivitäten stellen den Beweis für die Ernsthaftigkeit des Anliegens "Ehe und Familie" für die Kirche dar14, 15. Schließlich wird sich die 4. Session der Bischofssynode mit den Aufgaben der christlichen Familie in der heutigen Welt befassen. Die Bemühungen der Weltkirche finden auf nationaler Ebene ihre Unterstützung bzw. werden von dort angeregt. Für den praktischen Alltag hat besonders die Verantwortung der christlichen Gemeinde und ihr Dienst entscheidende Bedeutung. Es 13 eh. Gaspari und H. Millendorfer, Konturen einer Wende-Strategien für die Zukunft, Graz 1978. 14 O. Rossi, Familie und Weltkirche, Vortrag am 30.4. 1978 in Bamberg vor dem Familienbund der Deutschen Katholiken in Bayern. 15 O. Rossi, in Dokumentation zum europäischen Familienkongreß 1978, hrsg. vom Katholischen Familienverband Österreichs, Wien 1980.

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ist wohl nicht übertrieben oder gar falsch, wenn davon ausgegangen wird, daß ein Mißlingen von Ehe und Familie unter Christen auch als ein Zeichen für das Versagen der christlichen Gemeinde angesehen werden muß. Dieser Dienst der Kirche und von Christen wird von den Ehepartnern, den Vätern, Müttern und Kindern gespürt, er macht ihnen Mut und hilft offen zu werden für die Liebe Gottes, dem Urgrund menschlicher Liebe und ihr sicherer Garant. Wir werden es erleben, daß Christen auf die Frage, was sie tun um einen Menschen für Christus zu gewinnen, antworten können: "Ich lade ihn ein, ein Jahr in meinem Haus zu wohnen." Seht wie sie einander lieben, bleibt nicht geschriebene Vergangenheit, sondern wird gelebte Wirklichkeit in den und durch die christlichen Familien.

11. Entwicklung und Zukunft der Europäischen Region der Internationalen Union der Familienorganisationen (EIUFO) Die Familienorganisationen als solche sind vielfach erst nach dem 2. Weltkrieg entstanden. Dies ganz im Gegensatz zu anderen Interessenvertretungen wie beispielsweise der Gewerkschaft, die schon im vori.. gen Jahrhundert sich organisiert hat. Dies mag als Beweis angesehen werden, daß die Notwendigkeiten für die selbständige Vertretung der Familien im politischen Kräftespiel erst in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts aktuell geworden sind. Die Familie galt bis dahin nicht nur als grundlegendes Anliegen der staatstragenden politischen Kräfte, sondern war auch Mittelpunkt der praktizierten Politik. So hat beispielsweise die Gewerkschaft in Österreich noch bis in die 60er Jahre die Interessen der Familie des Arbeitnehmers entschieden mitvertreten. In der Kirche selbst datiert die organisierte Familienbewegung als solche erst aus den 50er Jahren. Ebenso stand nicht die Familie im Mittelpunkt pastoralen Mühens, sondern die Jugend, die Frauen, die Männer u. ä. Wie schon früher hingewiesen, wurde mit dem Vatikanum Ir (1962 - 1965) Ehe und Familie direkt als Schwerpunkt aufgegriffen. 1947, also bald nach dem 2. Weltkrieg, fand in Paris der Weltkongreß für Familie und Bevölkerung statt, um den Lebensstandard der Familie zu studieren und nach Mitteln für dessen Verbesserung zu suchen. In der Folge wurde zur Koordinierung der Arbeit aller an Familienfragen interessierter Personen und Gruppierungen die Internationale Union der Familienorganisationen (IUFO) mit Sitz in Paris gegründet. Die konstituierende Versammlung hat am 3. Juli 1948 in Genf stattgefunden. Sie war damals im wesentlichen von Organisationen aus Westeuropa und Nordamerika getragen. Die IUFO erhielt in den ein:" schlägigen Organisationen der UNO Beobachterstatus.

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Helmuth Schattovits

Das Anliegen, eine umfassende Weltorganisation zu sein, konnte allerdings erst im letzten Jahrzehnt vorangebracht werden. Heute gehören der Union Organisationen und Regierungen aus allen Erdteilen der Welt an. Dies findet auch in der Tatsache seinen Ausdruck, daß seit 1977 erstmals kein Europäer sondern der Tunesier und Mohamedaner Habib Guerfel Präsident der IUFO ist. Diese wünschenswerte Erweiterung hat besonders bei den afrikanischen und asiatischen Mitgliedern, aber auch bei den europäischen, den Wunsch nach Regionalisierung aufkommen lassen. Ein verständliches Anliegen, wenn man die vielfältigen Unterschiede selbst auf einem Kontinent bedenkt, die mit der Familienfrage auftreten. Neben dieser sachbezogenen Sicht waren auch gewisse politische Interessen der Regionalisierung förderlich. Selbstverständlich gilt es, die weltweite Koordinierung und Zusammenarbeit über die Union zu erhalten. So wünschenswert und fruchtbar die Regionalisierung auch sein mag, sie darf zu keiner Isolierung oder Abkapselung führen. Nicht nur aus sachlichen Gründen, weil so vieles verloren gehen würde an Information, sondern weil eine solche Entwicklung der selbstgewählten Aufgabe der Union direkt entgegenwirken würde, nämlich der Verständigung über die offiziellen Möglichkeiten von Staaten hinaus zu dienen. Wie schon oben angedeutet, konnte die Europäische Region nicht zur gleichen Zeit wie die Afrikanische, die Arabische und die Asiatische Region gegründet werden. Es erscheint verständlich, daß gerade am Gründungskontinent Probleme eigener Schwierigkeit zu überwinden waren und sind. Im Wissen darum wurde sehr sorgsam vorgegangen und zuerst ein vorbereitendes Komitee eingesetzt. Dieses konnte beim Treffen in Den Haag 1977 Entwürfe für Statuten erarbeiten, Probleme der Finanzierung sowie Unterbringung eines Sekretariates diskutieren und Vorschläge unterbreiten. Im September 1978 fand dann auf Initiative der IUFO in Freiburg in der Schweiz eine Konferenz statt, die zu einer provisorischen Konstituierung der Region geführt hat. Ein achtköpfiger Vorstand, dem auch der Verfasser angehörte, wurde bestellt und beauftragt, bis 31. 12. 1979 einen Statutenentwurf im Lichte der Diskussion von Freiburg vorzulegen. Auf der Basis dieser Beschlüsse hat der provisorische Vorstand mit Jänner 1979 die Europäische Region als Verein mit dem Sitz in Wien angemeldet. Damit war die formale Voraussetzung geschaffen, um die aufgetragene Arbeit in Angriff nehmen zu können. Die finanzielle Bedeckung für diese Arbeit erfolgte durch Unterstützung seitens der Österreichischen Bundesregierung und der Stadt Wien sowie durch die Organisationen und Länder, die im Vorstand vertreten waren, durch Übernahme von Reisekosten.

Die Situation der Familie in Europa

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Die aufgetragene Arbeit konnte zeitgerecht abgeschlossen werden. Damit waren die Voraussetzungen geschaffen für die konstituierende Versammlung. Diese fand auf Einladung der finnischen Regierung am 26. und 27. Jänner 1980 in Helsinki statt. Damit hat ein schwieriger Weg im Sinne der Familienarbeit erfolgreich zum Ziel geführt. Ein Ziel, das als neuer Anfang zu verstehen ist. Nach den vorliegenden Statuten wird die Europäische Region von den Mitgliedern der IUFO des europäischen Kontinentes gebildet. Andere Organisationen und Regierungen können als Beobachter an den Aktivitäten der Region teilnehmen. Die 'Ziele werden in den Statuten beispielsweise wie folgt festgelegt: -

Die Solidarität zwischen den europäischen Familien zu stärken und ihnen ihre gemeinsame Verantwortung für das Wohlergehen, die Gerechtigkeit und den Frieden bewußt machen.

-

Gemeinsam die Mittel und Wege zu suchen, um die Bedürfnisse der europäischen Familien sowie ihrer Hoffnung und Zwecke erfüllen zu helfen.

-

Zusammenkünfte zwischen Familienorganisationen zu organisieren, um so den Austausch von Ideen und Erfahrungen zu ermöglichen und zu fördern. Jene Forschungsanstrengungen zu unterstützen, die geeignet sind, den Familien zu helfen

-

Zur kulturellen Entwicklung und rechtlichen, sozialen und wirtschaftlichen Sicherheit der Familien beizutragen

-

Verbindungen zwischen jenen europäischen Organisationen und Ländern, die Mitglieder der IUFO sind und jenen, die noch nicht an ihren Aktivitäten teilnehmen, zu schaffen

Wenn die EIUFO sich nun konstituiert hat, besteht sicher nicht die Gefahr, daß ein Verein als Selbstzweck gegründet wurde. Die organisierte Vertretung der Interessen der Familien ist in zweifacher Hinsicht erforderlich. Einmal kann den Staaten so Hilfe bei der Lösung der Probleme in der Industriegesellschaft geleistet werden. Denn die Probleme können genausowenig als von der Familie erzeugt angesehen werden, wie die Luftverschmutzung der Luft angelastet werden darf. Die funktionsfähige Familie löst Probleme1G• Zum anderen gilt es, den jungen Menschen die Chance zu verbessern, ihre fundierten Erwartungen bezüglich Familie erfüllen zu können. 16 H. Schattovits, Die Familie löst Probleme der Gesellschaft, in: Die gestörte Familie, Linz 1978.

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Die EIUFO braucht bei den jungen Menschen nicht erst Verlangen nach Familie zu schaffen, sondern muß dafür eintreten, daß vorhandenes Familienbewußtsein durch die reale Welt nicht zerstört wird. So zeigen Untersuchungen in Österreich, daß Jugendliche der Familie einen geradezu einsamen Spitzenwert als für ein sinnvolles Leben entscheidend beimessen. Werte wie Treue, Kinderliebe und Zärtlichkeit erhalten dabei einen hohen Stellenwert zugedacht17 , 18. In der realen Welt gelingt es immer weniger Menschen, diese ihre Erwartung zu realisieren. Es entsteht so eine Kluft zwischen dem Menschen und der gemachten Welt. Diese Tatsache wird als menschliches Dilemma bezeichnet19 • Es wird Aufgabe der EIUFO sein, im Bereich der Familie dieses Dilemma verringern zu helfen. Daß dies notwendig ist, geht nicht nur aus der kritischen Sicht der Entwicklung hervor, wie im ersten Teil dargestellt, sondern wird von den verantwortlichen Politikern bereits selbst gesehen. So heißt es im Schluß dokument der 15. Konferenz der europäischen Familienminister im September 1977 in Bonn, "daß der rasche gesellschaftliche Wandel der letzten Jahre dazu geführt hat, das Selbstverständnis hergebrachter, bestehender Institutionen zu problematisieren. Dennoch ist nicht in Zweifel zu stellen, daß auch heute noch die Familie als wichtigste Kerngruppe der Gesellschaft anzusehen ist. Es ist allerdings eine Tatsache, daß in der modernen Gesellschaft die Schwierigkeiten für die Familie in vieler Hinsicht größer geworden sind ... "20 . Im Rahmen des im Oktober 1978 vom Katholischen Familienverband Österreichs angeregten und gemeinsam mit der evangelischen Familienhilfe durchgeführten europäischen Familienkongresses "Familie Hoffnung für die Zukunft Europas" gab die Vertreterin des Frauenkomitees der UdSSR und Professorin an der Moskauer Universität ein sehr interessantes Statement ab. Darin hieß es u. a.: "Heute kennen wohl alle die Tatsache, die von der Sorge der sozialistischen Gesellschaft um die Festigung der Familie zeugt, ... aber wir verstehen, daß trotz der günstigen Bedingungen, die in der Gesellschaft für die Frau, für die Bildung und Erziehung der Kinder gegeben sind, wir ebenfalls mit einer Reihe von Problemen konfrontiert werden. Erstens sind es Fragen der Gründung junger Familien. Die zweite Gruppe von Problemen ist die Konsolidierung oder Stabilisierung bereits bestehender 11 Institut für kirchliche Sozialforschung in Wien, Mitteilung Nr. 15, Februar 1977. 18 E. Brunmayer, Lebenskonzepte und Wertvorstellungen österreichischer Jugendlicher, hrsg. vom Osterreichischen Cartellverband (OCV), Wien 1979. 18 J. W. Botkin, M. Elmandjra und M. Malitza, Das menschliche Dilemma. Bericht an den Club of Rome, 1979. 20 Europarat, 15. Familienministerkonferenz, Straßburg 1977.

Die Situation der Familie in Europa

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Familien ... Die dritte Gruppe von Problemen hängt mit der Geburtenfreudigkeit zusammen. Die vierte Gruppe von Fragen ist schließlich die Vervollkommnung der Erziehung der Kinder in der Familie21 ." Es ist zu hoffen, daß möglichst viele Organisationen, Regierungen und Persönlichkeiten an der Erfüllung der Aufgaben der EIUFO teilnehmen. Nicht nur, damit diese nicht zum Tummelplatz einiger Aktivisten wird, sondern weil die Probleme europaweit sind und oft auch nur europaweit erfolgversprechend behandelt werden können. Eine umfassende Zusammenarbeit sollte der wirksamen Problemlösung förderlich sein. Sicherlich dürfen die dabei auftretenden Schwierigkeiten nicht unterschätzt werden. So gibt es in Osteuropa keine Familieorganisationen, wie im Westen, was bereits in den bisherigen Versuchen der Kontaktnahme gewisse Erschwerung gezeigt hat. Doch dürfte die Bereitschaft zur Lösung solcher Fragen vorhanden sein, was letztlich das Entscheidende ist. Gerade in dieser Abhandlung muß darauf hingewiesen werden, daß von religiösen Gruppierungen und den Kirchen Unverzichtbares in die europaweite Familienarbeit eingebracht werden kann und soll. Hier seien die christlichen Kirchen und die Christen besonders angesprochen. Ihr Verständnis von Ehe und Familie und die damit verbundenen Lösungsvorschläge für anstehende Probleme in diese Arbeit einzubringen, stellt wahrscheinlich den Dienst an der Welt in Europa dar, der heute von ihnen erwartet wird. Dabei wurde das Wort Dienst nicht wegen des oftmaligen Gebrauchs in kirchlichen Dokumenten verwendet, sondern aus der Erfahrung, wie wichtig die Gesinnung des Dienstes ist, um angenommen zu werden. Die Zukunft der Europäischen Region sollte keine Sorge bereiten, wenn wir die Fülle und Wichtigkeit der zu lösenden Probleme als Maß heranziehen. Was tatsächlich wird, hängt wohl vom guten Willen der Beteiligten ab; nicht zuletzt aber auch davon, ob der oben angesprochene Dienst gelingt.

11 G. Andrejewna, in Dokumentation zum europäischen Familienkongreß 1978, hrsg. vom Katholischen Familienverband Österreichs, Wien 1980.

DIE CHRISTEN UND DAS FAMILIENLEBEN IM MODERNEN INDIEN· Von Marie Mignon Mascarenhas und Alfred Mascarenhas

I. Einleitung Die Familie ist in Indien seit alters her als eine geheiligte und wichtige Institution angesehen worden. Viele kulturelle Traditionen, an denen unser Land so reich ist, werden gepflegt, erhalten und weitergegeben durch diese Familie. In der heutigen Zeit, in der das Familienleben und das Leben in der Familie weltweit von Seiten verschiedener Kräfte bedroht ist, erscheint es signifikant, daß die Kirche, deren Pflicht es ist, die Zeichen der Zeit zu prüfen und im Lichte des Evangeliums zu interpretieren, als Thema für die Bischofssynode 1980 "Die Rolle der christlichen Familie in der modernen Welt" gewählt hat.

11. Familienstrukturen in Indien Um die gegenwärtige Rolle der Familie in Indien voll zu verstehen, ist es notwendig, zuerst einen Überblick über die Familienstrukturen in Indien zu geben. 1. Die Großfamilie

Indien ist (zusammen mit anderen Entwicklungsländern) vielleicht der letzte Zufluchtsort für das System der Großfamilie geblieben. Die Mehrzahl der riesigen indischen Bevölkerung (82 0/0), die in ca. 600000 Dörfern lebt, tut dies seit unvordenklichen Zeiten im System der Großfamilie. Man muß nur ein paar Kilometer fahren und irgend ein indisches Dorf aufsuchen, und schon ist man mit diesem lebendigen System konfrontiert, wo das älteste (sozusagen patriarchalische) Paar zusammen mit seinen verheirateten und unverheirateten Söhnen und Töchtern, seinen Schwiegersöhnen und Schwiegertöchtern und deren kleinen Kindern lebt. In einem solchen System werden alle Zeugen der wichtigen Familienereignisse; schon in ihren frühen Jahren werden Kinder mit so lebens• Aus dem Englischen übersetzt von Heribert Franz Köck, Wien. 34 Festschrift Rossl

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wichtigen Vorgängen wie Geburt, Großjährigwerden, Heirat, Tod und dgl. konfrontiert. Man sieht oft, wieviel Schutz dieses System gewähren kann, etwa wenn irgendeinem Sohn, der im Leben finanziell oder sonstwie nicht gut durchkommt, geholfen wird, seine unmittelbaren Schwierigkeiten zu überwinden. In einem solchen System werden die Heiratsverbindungen junger Burschen und Mädchen schon frühzeitig von der ganzen Familie arrangiert, wobei ein Partner aus einer anderen Familie gleichen Status' gewählt wird. Es ist verständlich, daß in einem solchen System der Großfamilie dauernde Anpassung von vielen ihrer Mitglieder und insbesondere von jenen, die in eine solche Familie hineinheiraten, gefordert wird. Die Frustrationen der Schwiegertöchter, die sich stets den Entscheidungen ihrer Schwiegermutter unterwerfen und gleichzeitig mit den Quängeleien ihrer Schwägerinnen fertig werden müssen, sind wohlbekannt. Keinem einzelnen Glied dieser Großfamilie wird jemals gestattet, seine oder ihre individuelle Fähigkeiten zu entwickeln. Als Folge davon sind die Heranwachsenden und Erwachsenen nicht darauf vorbereitet, Entscheidungen zu treffen oder selbst irgendeine Wahl vorzunehmen. 2. Die erweiterte Familie

Langsam aber sicher ändert sich dieses System der Großfamilie dadurch, daß Familien in die größeren und großen Städte ziehen. In vielen Fällen haben wir dann die sog. erweiterte Familie, wo ein Elternteil, der sich zur Ruhe gesetzt hat, bei einer Kleinfamilie lebt. Dies stellt sich oft als Quelle der Hilfe für junge Frauen heraus, die Karriere machen und mehr erreichen wollen, als bloß zu kochen und den Haushalt zu betreuen. 3. Die Kleinfamilie

In den sieben großstädtischen Bereichen Indiens hat sich die Struktur eindeutig dahingehend gewandelt, daß die Kleinfamilie der Normalfall ist, wo Mann und Frau mit ihren Kindern allein unter einem Dach leben und für ihre eigene Wohlfahrt verantwortlich sind.

In.

Konfliktstoffe

Es gibt bestimmte Bereiche, wo Konflikte auftreten und die daher Aufmerksamkeit und Überlegung erfordern, insbesondere aufgrund der raschen Urbanisierung Indiens. Die Abwanderung der Menschen

Die Christen und das Familienleben im modernen Indien

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aus den Dörfern in die nächstgelegenen Städte geht sehr rasch vor sich. In Folge dessen sind nunmehr viele Familien gezwungen, mangels angemessener Unterbringung und finanzieller Grundlage als Kleinfamilien zu leben, wiewohl sie aus ihrem Dorf die Mentalität der Großfamilie mitbringen. Dieser Zwiespalt, eine bestimmte Mentalität zu haben, aber gleichzeitig in einem System leben zu müssen, das nach einer andersgearteten Mentalität verlangt, ist die Quelle zahlreicher Spannungen in vielen unserer indischen Familien. Dies ist auch der Grund für die steigende Zahl an Slums in den größeren und großen Städten Indiens, wo furchtbare soziale Zustände zu Alkoholismus, Drogenabhängigkeit, Krankheit, Verbrechen und Prostitution führen, vor allem unter jungen Menschen. 1. Religion und Familienleben

Die Religion stellt in Indien eine integrale und kraftvolle Dimension unserer Wirklichkeit dar, die das Leben unseres Volkes fast gänzlich bestimmt. Was besonders auffällt, ist der große religiöse Facettenreichtum unseres Landes. Beinahe 78 Ofo unseres Volkes bekennt ihren Glauben an Gott in der sehr alten und dennoch lebendigen HinduReligion. Ungefähr 14 Ofo bekennen sich mit Nachdruck zum Islam; 2,6 Ofo haben sich dem Christentum verpflichtet, während der Rest entweder anderen Religionen oder aber irgendwelchen säkularistischen Ideologien anhängt, wie sie sich insbesondere unter den Gebildeten immer mehr ausbreiten. Die Religion stellt demnach einen integrierenden Bestandteil des Familienlebens dar und trägt dazu bei, es in bestimmte Formen zu bringen. 2. Wirtschaftlicher Mangel und Kampf um eine Besserstellung

Indien ist ein Land, wo über 40 Ofo der Menschen unter der Armutsgrenze leben. Zählen wir jene Familien hinzu, die die Armutsgrenze gerade erreichen oder nur knapp über ihr sind, so steigt diese Zahl auf etwa 70 Ofo an. Diese Armut ist in großem Maße auf jene Unterdrükkungsstrukturen zurückzuführen, die in der Ansammlung von Reichtum und Macht in den Händen einiger weniger und im weitverbreiteten Fortbestehen des Kastensystems, aber auch des Kommunalismus und des Regionalismus bestehen. Die wenigen, die über die wirtschaftliche Macht verfügen, halten das Geschick der Massen in ihren Händen. Sie "kaufen" auch die beste Erziehung sowie die Dienste von Religion und Kultur auf Kosten der ausgebeuteten Mehrheit, die sich um eine Durchbrechung dieser Unterdrückungsstrukturen bemüht. 34'

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Marie Mignon Mascarenhas und Alfred Mascarenhas 3. Rascl1e kulturelle Veränderungen

Kulturell gesehen macht Indien eine Periode des raschen überganges durch. Unsere Sitten, Traditionen und Werte werden durch den weitverbreiteten Einbruch neuer Werte, Gegenwerte und Lebensstile in Frage gestellt. Die Jugend in der Stadt leidet geradezu unter einem "Kulturschock", der auf die westlichen Lebensstile zurückzuführen ist, die in unser Land eindringen. Die modernen Massenmedien wie Radio, Kino und Fernsehen tragen diese Werte, Haltungen und Lebensstile in die Städte und selbst in die entlegensten Dörfer und stellen die Autorität der Eltern, religiöser Führer und uralter Traditionen in Frage. 4. Der Kampf der Familie ums tJberleben

Viele Kinder aus bäuerlichen Familien kämpfen ums nackte überleben, indem sie vom Zeitpunkt an, wo sie noch kaum imstande sind zu gehen, bereits für ihr tägliches Brot arbeiten. Viele von ihnen haben eine Schule niemals von innen gesehen; und die Mehrheit jener, die tatsächlich zur Schule gingen, hat diese verlassen, noch bevor die Elementarerziehung abgeschlossen war. Auf der Suche nach einer besseren Zukunft ziehen sie in die Städte und vermehren dort die gewaltige Armee der Arbeitslosen und Unterbeschäftigten. Viele Kinder werden von ihren Eltern aufgezogen und als Hausarbeiter verwendet, bevor sie noch das zehnte Lebensjahr erreicht haben. Die meisten Ehen werden früh geschlossen, die Kinder kommen bald danach zur Welt, und Frauen wie Kinder leiden unter einem Mangel an Nahrung und schlechter Gesundheit. Unmäßiger Genuß von starkem, oft verfälschtem Alkohol ist weit verbreitet. Diese Zustände, die ein gesundes und glückliches Familienleben unmöglich machen, dauern endlos fort, nicht zuletzt deshalb, weil die Leute sich im allgemeinen resignierend in ihr Schicksal ergeben. 5. Erwerbsmäßig bedingte Familientrennung

Die Stabilität des Familienlebens wird auch dadurch stark in Mitleidenschaft gezogen, daß die Ehemänner schon bald nach der Eheschließung oft ihre Frauen für lange Zeit verlassen müssen, um anderswo günstigere Erwerbsmöglichkeiten zu suchen. Vielen erscheint es verlockend, in einem fremden Land oder einer anderen Stadt Arbeit zu suchen. Die Frau entbehrt auf diese Art der partnerschaftlichen Unterstützung und Liebe des Mannes, und die Kinder wachsen ohne Rollenvorbild auf und leiden unter dem Entzug eines Elternteiles.

Die Christen und das Familienleben im modernen Indien

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6. Die Familie und die Entwicklung der Frau in Indien

Nehru hat einmal gesagt: "Ich bewundere die indische Frau. Ich bewundere sie ob ihrer Schönheit, ihrer Bescheidenheit und ihrer Opferbereitschaft. Wenn jemand den Geist Indiens repräsentieren kann, ist es die Frau und nicht der Mann. " Schon seit dem Zeitalter der Veden (2500 - 1500 v. Chr.) hatten Frauen beträchtliche Bewegungsfreiheit in Familie und Gesellschaft. Sie nahmen an den öffentlichen Angelegenheiten intelligenten Anteil, wurden wie Männer einer Erziehung teilhaftig und heiraten im Alter von 16 bis 17 Jahren. Im Brahmanenzeitalter (1500 - 500 v. Chr.) griffen jedoch Veränderungen Platz, welche zu einer beträchtlichen Verschlechterung des Status der Frauen führten, wie er im Zeitalter der Sutras und Epen festzustellen ist (500 v. Chr. - 500 n. Chr.). Manche Mädchen wurden bereits mit zehn Jahren verheiratet; einen Sohn zu haben, wurde zu einer religiösen Notwendigkeit. Frauen wurden nicht mehr einer Bildung teilhaftig; und die Opposition gegen die Wiederverheiratung verwitweter Frauen stieg. Die Theorie "ewiger" Vormundschaft wurde von Manu dem Gesetzgeber propagiert. Sie unterwarf die Frauen völlig dem Mann und stellte sie weit unter ihn. Obwohl die Frau als Mutter im allgemeinen respektiert wird, ist es noch ein weiter Weg für die Emanzipation der Frauen in vielen Teilen unseres Landes. Der Analphabetismus ist bei Frauen mehr verbreitet, gemäß der bäuerlichen Mentalität, die ihnen versagt, nach höherer Bildung zu streben. Frauen werden dergestalt oft als Bürger zweiter Klasse betrachtet, die hinsichtlich Schutz und Sicherheit ganz von ihrem Ehemann abhängen, obgleich sie selbst ihren Lebensunterhalt verdienen. In städtischen Gebieten haben die Frauen bildungsmäßig gleiche Chancen und auch Zugang zu fast allen Berufen. Psychologisch bleiben sie jedoch nach wie vor nicht-emanzipiert, und soziale Zwänge üben einen großen Einfluß auf ihr Verhalten aus.

III. Christliche Werte Das Christentum kam schon im ersten Jahrhundert durch den hl. Thomas nach Indien. Seit dem 17. Jahrhundert gab es Bekehrungen vor allem in den Küstengebieten, dank der Arbeit verschiedener Missionare, insbesondere des hl. Franz Xaver. Soziale und kulturelle Bräuche sterben jedoch nicht leicht ab; und katholische Frauen unterscheiden sich in dieser Hinsicht nicht wesentlich von ihren hinduistischen Schwestern.

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Gegenwärtig gibt es kein klares Konzept christlicher Werte und ihrer Verbreitung. Man sollte annehmen, daß in Indien - wo die (im Weltrnaßstab gesehen) zweitgrößten Anstrengungen für die Errichtung eines katholischen Erziehungssystems mit vielen Schulen und Colleges gemacht wurden - die christliche Erziehung auch den Nichtkatholiken die wesentlichen Werte der Sorge für den Nächsten, von Ehrlichkeit und spiritueller Integrität mitgeteilt hätte. Es ist jedoch heute anerkannt, daß wir in dieser Hinsicht unserer christlichen Verpflichtung nicht gerecht geworden sind. Die Familie hat ebenfalls viele strukturelle und funktionale Wandlungen mitgemacht. In den ländlichen Gebieten herrscht immer noch die Großfamilie vor und befriedigt viele sozio-ökonomische Bedürfnisse. Der soziale Status der einzelnen Frau ist jedoch gering, insbesondere der jüngeren. Mehr und mehr jüngere Frauen sind mit dieser Situation nicht zufrieden und versuchen, in die städtischen Gebiete abzuwandern. Gerade hier kann die Kirche und können Frauenorganisationen eine positive Rolle spielen, was gleichzeitig auch dem Lande zugutekommen wird, mit seinen Millionen Frauen, deren Potential noch gar nicht erfaßt ist. Die arbeitende Frau hat eine zweifache Rolle zu spielen. Wenn sie von der Arbeit nach Hause kommt, wird von ihr erwartet, daß sie die traditionelle unterwürfige Rolle gegenüber dem Mann annimmt. Die sich aus dieser spannungsgeladenen Situation ergebenden Probleme werden deutlich in der steigenden Zahl von zerbrechenden Ehen, Trennungen und Selbstmorden. Die Kirche muß eine positive Rolle durch die Bereitstellung einer entsprechenden Ehevorbereitung und beratenden Diensten übernehmen. Es gibt zwei Fakten, die sich ganz klar zeigen und anerkannt werden müssen: zum einen, daß die indische Frau selbst ihr ärgster Feind ist, indem sie selbst gerade jene Sitten verewigt, die sie nach wie vor niederhalten, wie z. B. das Kastenwesen, die Aussteuer oder die Vorliebe für männliche Nachkommenschaft; zum anderen, daß (daher) die Frau der Schlüssel zu einer Befreiung der indischen Gesellschaft ist. Obwohl die Bildungsrate unter Katholiken weit höher ist als in jeder anderen größeren indischen Gemeinschaft, sind nur wenige an der Bildungsfront aktiv. Und diese werden von der kirchlichen Hierarchie nicht ausreichend unterstützt. Was die Pfarrebene anlangt, so fühlt man gerade dort stark die Notwendigkeit, die Familie in die Liturgie und Verkündigung einzubauen.

Die Christen und das Familienleben im modemen Indien

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IV. Die Antwort der Kirche in Indien auf die sich stellenden Herausforderungen Die Kirche in Indien, die sich der oberwähnten Probleme bewußt ist, hat die Notwendigkeit eines organisierten Apostolats zu dem Zweck eingesehen, den Bedürfnissen der indischen Familie Rechnung tragen zu können. Daher wurde eine Bischöfliche Kommission gebildet, die sich um die Bedürfnisse der Familie kümmern soll. Durch eine Runde regionaler Konferenzen, die in ganz Indien abgehalten wurden, hat man diese Bedürfnisse in den verschiedenen Bereichen des Familienapostolats dokumentiert und studiert. Ein Aktionsplan wurde aufgestellt, um in den verschiedenen Teilen Indiens Familienpastoraldienste in folgenden Bereichen einzurichten: Erziehung zu Familienleben in höheren Schulen und Colleges, Ehevorbereitung, Jugendberatung, Ehebereicherungsprogramme wie die Christliche Familienbewegung und Ehetreffen, verantwortliche Elternschaft durch natürliche Familienplanung, Ehe- und Familienberatung und schließlich Beratung und Unterstützung im Bereich potentieller Abtreibungen. 1. Zentren für Familienleben

Es war unbestritten, daß es zur Beistellung dieser Dienste auf einer organisierten Basis notwendig sei, in den verschiedenen Diözesen Indiens Zentren für Familienleben einzurichten. Demgemäß hat die Bischofskonferenz 1974 offiziell beschlossen, daß jede Diözese in Indien ein Zentrum für Familienleben einrichten solle. Die Kommission für die Familie und die Laienschaft wurde bei der Durchführung von Kursen zur Ausbildung von Personal für diese Zentren für Familienleben unterstützend tätig. Während der letzten 5 Jahre wurden annähernd 150 Personen entsprechend ausgebildet. Wir sind sehr glücklich darüber, daß derzeit 46 solche Zentren für Familienleben in den verschiedenen Teilen Indiens in effektiver Weise funktionieren. Im Jahr 1979 wurde ein nationales Treffen der Direktoren dieser Zentren für Familienleben abgehalten, in dessen Verlauf die verschiedenen bisher durchgeführten Programme diskutiert und für die Zukunft eine Strategie geplant wurde. Die anderen Diözesen, in denen bisher keine Zentren bestehen, werden in der Errichtung solcher unterstützt. 2. Erziehung zum Familienleben

Um das Programm zur Erziehung zum Familienleben zu erleichtern, hat die Kommission der Indischen Bischofskonferenz für die Familie ein Handbuch für Lehrer herausgebracht, das Lehrpläne für CollegeKurse über Erziehung zum Familienleben enthält. Derzeit werden

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Seminare durchgeführt, um Professoren an Colleges mit der Methodologie dieser Kurse vertraut zu machen. 3. Ehevorbereitung

Ehevorbereitungskurse sind in Indien in verschiedenen Sprachen erhältlich, und Zentren für Familienleben machen konzertierte Anstrengungen, um Kurse zur Ehevorbereitung auf regelmäßiger Basis durchführen zu können und gleichzeitig sicherzustellen, daß alle Pfarrer ihre Brautleute vor der Eheschließung zu solchen Kursen senden. Einige Diözesen haben solche Ehevorbereitungskurse zur Pflicht gemacht. 4. Ehebereicherungsprogramme

Die verschiedenen Ehebereicherungsprogramme sind in der Einführung der verheirateten Paare in die Werte, die hinsichtlich des Familienlebens bewahrt und an die jüngere Generation weitergegeben werden sollen, von großem Nutzen. Solche Ehebereicherungsprogramme werden nunmehr in verschiedenen Regionen Indiens sowohl in der englischen wie auch in der Volkssprache neu eingeführt. 5. Verantwortlidle Elternsdlaft

In Antwort auf die übergroßen Probleme, die von der Bevölkerungszahl und der damit zusammenhängenden Notwendigkeit der Familienplanung aufgeworfen werden, hat die Kirche in Indien positive Schritte zur Unterstützung der verschiedenen Methoden der natürlichen Familienplanung unternommen; solche Zentren und Kliniken für natürliche Familienplanung sind in den verschiedenen Teilen Indiens zahlreich vorhanden. Erst kürzlich konnte durch die massive Hilfe der bundesdeutschen Institution "Misereor" ein Trainingsprogramm für natürliche Familienplanung durchgeführt werden,so daß nunmehr eine große Zahl von Lehrern für diese natürliche Familienplanung zur Verfügung steht, um die entsprechenden Methoden möglichst vielen Paaren zu lehren, die ihr Wissen dann ihrerseits an befreundete Ehepaare weitergeben. 6. Eheberatung

Auf dem Gebiet der Eheberatung besteht derzeit eine große Lücke, und zwar wegen der geringen Zahl von ausgebildeten Eheberatern und einem Mangel an Geldmittel. Dabei ist gerade heute ein besonderer Bedarf an Eheberatung gegeben, und Zentren für Familienleben in Indien unternehmen große Anstrengungen, um ein Ausbildungsinstitut

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für Eheberatung ins Leben zu rufen, welches potentielle Berater ausbilden soll. Mittlerweile wird in verschiedenen Gebieten eine informelle Eheberatung durchgeführt, was aber hinter den Bedürfnissen zurückbleibt. 7. Elternerziehung

Es ist klar, daß solche Programme wie Erziehung zum Familienleben, Ehevorbereitung, Dienstleistungen zur Verhütung von Abtreibungen etc. die Erziehung der Eltern notwendig machen, die das Wachsen dieser Programme unterstützen sollten. Zentren für Familienleben und andere Institutionen sind nunmehr damit befaßt, ein Elternerziehungsprogramm durchzuführen, währenddessen Eltern mit den verschiedenen genannten Themen konfrontiert werden.

v.

Schlußfolgerungen

Die Herausforderung, der sich Christen in Indien auf dem Gebiet des Familienapostolats gegenübersehen, ist gigantisch. Wir sind glücklich, feststellen zu können, daß in der kurzen Zeitspanne von wenig über 5 Jahren die Kommission der Indischen Bischofskonferenz für die Familie durch das Nationale Familiensekretariat wie auch durch verschiedene Zentren für Familienleben und andere Forschungszentren wie etwa CREST (Centre for Research, Education, Service and Training in Family Life Promotion) viel erreicht hat. Solche Zentren bieten laufend Programme für junge Leute, verheiratete Paare, Lehrer, Seminarien, Klosterschwestern, Priester, Eltern usw. auf dem Gebiet der Erziehung zum Familienleben, Jugendberatung, einer verantwortlichen Elternschaft, Ehevorbereitungetc. an. Nunmehr wäre es notwendig, daß mehr und mehr Laienehepaare sich dem Apostolat widmen würden, so daß die Botschaft von einem glücklichen Familienleben nicht nur zu den wenigen Familien in den christlichen Gemeinden, sondern zu allen Familien in Indien gebracht werden kann, die bereit sind, sie aufzunehmen.

DIE FAMILIE UND IHR APOSTOLAT IMTANZANIEN VON HEUTE· Von Augustine Ndeukoya I. Einleitung Die Kirche in Tanzanien befindet sich derzeit in einer übergangsphase von der Natural- zur Geldwirtschaft. Es ist offensichtlich, daß diese Entwicklung auch das traditionelle Familienleben des tanzanischen Volkes berührt, sowohl was die Familie selbst anlangt, als auch ihr Apostolat. Ja die ganze christliche Gesellschaft Tanzaniens ist davon betroffen, eines Landes, das immerhin 30 Prozent Christen zählt, wobei zwei von drei Katholiken sind. Die traditionellen Bande zwischen den Eheleuten, aber auch zwischen Eltern und Kindern, lösen sich allmählich; neue Familien und Gesellschaften bilden sich. Auf diese Entwicklung versucht das christliche Apostolat steuernd Einfluß zu nehmen. Der wirtschaftliche und technische Fortschritt und die von ihm verursachten Änderungen der Familienstrukturen zeigen auch insofern eine direkte Auswirkung, als die aufwachsende Generation nicht mehr bereit ist, jene Beschränkungen auf sich zu nehmen, die die Großfamilie ihnen als solche auferlegt hat. In Folge dessen gibt es einen offenbaren Trend zur Auflösung von Ehen durch Trennung oder Scheidung. Dabei haben viele Männer und Frauen, die sich nicht zu den aus einer Ehe erwachsenden Verpflichtungen bekennen, Nachkommenschaft, die sie aufziehen müssen. Dort, wo solche nicht beabsichtigt ist, greift man zu empfängnisverhütenden Mitteln, aber auch zur Abtreibung. Darüber hinaus gibt es aber auch Fälle, wo Kinder - selbst ehelich geborene - vernachlässigt werden, weil sich nur die Mütter um sie kümmern und diese in vielen Fällen nicht die notwendigen Mittel für ihren Unterhalt haben. In einzelnen Fällen läßt man die Kinder überhaupt in der Gosse, von heiden Elternteilen aufgegeben, und zwar in ehelichen so gut wie in unehelichen Fällen. Diese Situation bedeutet für die Kirche Tanzaniens eine sehr ernste Herausforderung, insbesondere für das Familienapostolat. Dabei wird * Aus dem Englischen übersetzt und bearbeitet von Heribert Franz Köck, Wien.

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Augustine Ndeukoya

es vor allem darauf ankommen, in den folgenden Bereichen rasche und effektive Maßnahmen zu treffen. Was die Familien anlangt, die bereits bestehen und sich mit der äußerst schwierigen Situation des Überganges konfrontiert sehen, so muß ihnen die Kirche jede mögliche geistliche und gesellschaftliche Stütze sein. Insbesondere ist hier auf die sich aus einer Ehe ergebenden Verpflichtungen, einschließlich des Aufziehens der Kinder, hinzuweisen. Gleichzeitig sollte die Kirche aber auch die Errichtung von Waisenhäusern und Jugendzentren und die Schaffung von Arbeitsplätzen durch staatliche Projekte fördern, um so den bestehenden Problemen der vernachlässigten Kinder und der verwahrlosten Jugend zu begegnen. Hinsichtlich neu zu gründender Familien muß die Kirche der Jugend ihre Dienste anbieten und sie auf ihre in der neuen Freiheit vermehrte Verantwortung hinweisen. Braut- und Eheleute müssen auf die biblische Grundlage einer Beziehung zueinander hingewiesen werden, die von Liebe und Verständnis getragen ist. Die Familie sollte auch eine Einheit im Gebet sein, um als eine gesegnete Gemeinschaft zu bestehen.

11. Das Familienapostolat in seinem gegenwärtigen Stadium In diesem Zusammenhang können drei Aspekte unterschieden werden: eine Analyse der bestehenden Situation, die notwendigen Mittel zur Behebung von Mißständen, und eine Bestandsaufnahme der bisher getroffenen pastoralen Maßnahmen. 1. Gründe für das Scheitern von Ehen

Soweit dies heute beurteilt werden kann, gibt es eine Reihe von Gründen, warum Ehen in Tanzanien auseinandergehen. Diese Gründe lassen sich in vier Gruppen einteilen: traditionelles Eheverständnis, umgekehrt auch Verlust der traditionellen Familienbande, Mangel an richtiger Auffassung von der Ehe, und schließlich Armut und Laster. Nach überkommenem Eheverständnis ist der (fast) alleinige Zweck einer Ehe die Zeugung von Nachkommenschaft. Dies hatte vor allem wirtschaftliche Gründe, denn Kinder waren billige Arbeitskräfte; Töchter versprachen darüber hinaus bei Ausheiratung einen guten Preis. Eine Frau, die keine Kinder gebiert, taugt nichts. Kinderlose Ehen zerbrechen daher sehr leicht. Andererseits stellte eine funktionierende Großfamilie traditionellen Stils den sozialen Rahmen des Einzelnen dar, den nur wenige zu

Die Familie und ihr Apostolat im Tanzanien von heute

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sprengen sich veranlaßt sahen. Mit dem Zerfall der Großfamilie fällt diese Stütze weg. Aber es ist auch das christliche Ideal der partnerschaftlichen Familie, wo die Ehepartner mit ihren Kindern auch allein und ohne Hilfe der Großfamilie in gegenseitiger Unterstützung leben, noch nicht ausreichend verankert. Die heute eingegangenen Ehen haben daher weder Bindungen zum traditionellen noch· zum christlichen Eheund Familienverständnis.

In solchen Ehen fehlt es am Verantwortungsbewußtsein für den Partner; es existiert ein Mangel an Liebe und Hingebungsbereitschaft aneinander als Mann und Frau. Schließlich leiden viele Familien unter einem Mangel an auch den allernötigsten Subsistenzmitteln. Hauptsächlicher Grund hierfür ist die grassierende Arbeitslosigkeit; die durch sie erzeugte Armut treibt wiederum zahlreiche Menschen dem Alkohol in die Arme, mit all den für das Familienleben nachteiligen Folgen. 2. Die derzeitigen pastoralen Maßnahmen

In erster Linie ist es notwendig, den Gläubigen klar zu machen und sie zur Überzeugung zu bringen, daß die christliche Familie eine Quelle des Lebens darstellt, wenn es in seinen transzendentalen Dimensionen gesehen wird. Denn die christliche Familie ist die Wiege für die Liebe zu Gott und zum Nächsten. Gleichzeitig stellt die christliche Familie die wichtigste Schule für Kinder dar, aus der sie das Wissen um Verhaltensweisen in der Gesellschaft, aber auch und vor allem um die Werte in derselben mitnehmen (sollen). In diesem Zusammenhang ist es unumgänglich, daß die Jugend viel länger auf die Ehe vorbereitet wird. Christliche Brautleute müssen dazu gebracht werden, über die Bedeutung des Ehesakraments und das Wesen ihrer zukünftigen Verbindung nachzudenken. Die hiedurch geförderte eheliche Spiritualität wird Ehepartner und Familien auch dazu bringen, ihre eigene Sendung in der Kirche durch Formung des Glaubens der Kinder und die rechte Leitung der Jugend zu erfüllen, insbesondere im Bewußtsein der in der christlichen Familie liegenden pastoralen und apostolischen Bedeutung. Verschiedentlich sind auch Marriage Reconciliation Boards (Räte für die Versöhnung in der Ehe, oder auch: Ehe-Kittungs-Räte) errichtet worden, welche u. a. in den Priestern und allen am Apostolat Beteiligten ein stärkeres Bewußtsein von den verschiedenen Quellen der Probleme, denen sich Ehen heute gegenübers ehen, wecken sollen.

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Augustine Ndeukoya 3. Offene Probleme

Gerade in den Städten gibt es eine Reihe von ungelösten Problemen, die auf den Zusammenbruch der dörflichen Gesellschaft mit ihren Großfamilien zurückzuführen sind. Hier ist das Apostolat erst auf der Suche nach den richtigen Methoden für die Bereinigung dieser Probleme. Patentrezepte werden sich kaum finden lassen; vielmehr wird man die einzelnen oder ähnliche Fälle individuell angehen müssen. Schwierigkeiten ergeben sich aus der mangelnden Bereitschaft der Jugend, endgültige Verpflichtungen einzugehen. Dies führt nicht selten zu Probeehen, die dann natürlich noch viel eher aufgelöst werden als normale. Auch hier stellt sich die Erziehung der Jugend zu rechtverstandener Verantwortung als Hauptanliegen dar.

III. Doktrinelle Fragen der Ehe und Familie und ihre Auswirkungen auf das Familienapostolat In allen Bereichen der Ehe und Familie sind doktrinelle und praktische Fragen eng verknüpft. Dabei zeigt sich, daß durch die besondere Lage in Tanzanien (wie wohl in ähnlich gelagerten Gesellschaften Afrikas überhaupt) Probleme in den Vordergrund treten, die woanders nur zweitrangig sein mögen. In erster Linie ist hier die verantwortliche Elternschaft zu nennen. Kinder sollen nicht mehr quasi am Fließband gezeugt werden; die Wahl der rechten Kinderzahl und der richtigen Zeit für Kinder muß besonders unterstrichen werden. Die tanzanische Bischofskonferenz unterhält ein Programm, das darauf sein Augenmerk lenkt. Diese Frage ist eine, die die ganze Nation als solche berührt. Die eheliche Treue, insbesondere auch im Festhalten an einer einmal eingegangenen Ehe, stellt ebenfalls ein Ziel dar, das für die Ehepartner, aber auch für deren Kinder und somit für die ganze Familie, als solche Bedeutung hat. Die Kirche hat daher die Aufgabe, an der klaren Erkenntnis dieses Ziels und seiner willentlichen Bejahung mitzuarbeiten. Für die christliche Familie schließlich ist jener Akzent von Bedeutung, der auf die Ehe als ein Sakrament gelegt wird. Die Ehe ist so das Zeichen der lebendigen Präsenz des Heilands in der Welt; die Ehe wird zum Instrument der Schöpfungsidee Gottes. Daher ist bei der Glaubensunterweisung heute mehr Gewicht auf Ehe und Familie zu legen. Dies bedeutet, daß man sich den Charakter der Familie als "Hauskirche" mehr bewußt machen muß. Äußere Zeichen derselben sollen

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sein: die Treue der Ehegatten zueinander, die Solidarität der Familien'" mitglieder untereinander, die sich auch in der stets neu notwendigen und stattfindenden Versöhnung kundtut, und schließlich die Teilnahme für andere außerhalb der eigenen Familie. Der nächste pastorale Schritt ist es, diese "Hauskirche" mit anderen in eine Beziehung der Gemeinschaft zu setzen, indem die Familien zu kleinen christlichen Gemeinden (Basisgemeinden) zusammengefaßt werden. Wo dies bereits geschehen ist, hat es erfreuliche Früchte getragen. Die lokale Kirche ist durch diese Gemeinden, die die Einheit, Katholizität und Apostolizität der Kirche leben, in wirksamer Weise erbaut worden. Gleichzeitig hat hier eine angepaßte Kathechese die Jugend zu einem aktiven Christentum inspiriert. In diesen Kreisen ist es daher gelungen, in der Jugend Reife und das Gefühl für Verpflichtung und Verantwortung zu wecken. Dies hilft der Jugend, sich - in die Gemeinschaft eingebettet - sicherer zu fühlen; es gibt ihnen Mut, sich auf immer zu einem ehelichen Leben zu verpflichten. IV. Das Familienapostolat im Lichte pastoraler Erfahrungen Die bisherigen pastoralen Erfahrungen im Familienapostolat lassen eine Reihe von Diskussionsschwerpunkten entstehen. Aus ihnen ergibt sich dann, welche Maßnahmen vordringlich ergriffen werden müssen. 1. Familienapostolat ad intra und ad extra

Die christliche Familie hat heute, das zeigen die bisherigen Erfahrungen im Bereich des Familienapostolats, eine doppelte Mission zu erfüllen. Zum einen ist sie selber nicht nur Träger, sondern auch Gegenstand dieser Mission. Das setzt voraus, daß sich die Familie selbst in ihrer Eigenart, nicht nur als abstrakt-naturrechtliche Einheit, sondern auch als konkret-ethnisches Gebilde erkennt, als afrikanische Familie in einer ganz bestimmten, unverwechselbaren Umwelt. Nach dem Grundsatz "gratia naturam non mutat sed perficit" muß die innere Mission der Familie bei ihren konkreten Gegebenheiten ansetzen, sozusagen bei den kleinen Dingen ihres Alltags. Zum anderen hat die Familie aber auch eine Missionsaufgabe nach außen. Das, was sie nach innen ist und tut, muß ausstrahlen auf ihre Umgebung. Das gilt insbesondere für andere Familien. Die christliche Familie ist so ein Licht zur Erhellung der Probleme, eine Stütze in den Krisen der Familien von heute. Insoferne die christliche Familie diese Missionsaufgabe erfüllt, vollbringt sie ein Apostolat in der Welt und für

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die Welt. Dies mag von einer Zeit, die mehr auf die großen Veränderungen von oben denn auf die kleinen von unten vertraut, nicht in seiner Bedeutung voll erkannt werden; es stellt jedoch einen wichtigen Beitrag zur Gesundung der Gesellschaft als ganzer dar. 2. Neue pastorale Initiative

Die Welt von heute ist voll von sozialen Übeln und wirtschaftlichen Ungerechtigkeiten. Schon von daher sitzt die christliche Familie in einem Kahn auf stürmischer See. Darüber hinaus zeigt aber die Erfahrung, daß die christlichen Familien (oder, richtiger: die Familien der christlich Getauften) weiterhin den Sinn für Frömmigkeit verloren haben, was endlose Probleme und Krisen in sich birgt. Daher ist es erstes Anliegen der Kirche, neue Wege und Mittel zu finden, um in diesen Familien erneut den Geist des Gebets zu wecken und den Wunsch, am sakramentalen Leben der Kirche teilzunehmen. Von daher zeigt sich die Notwendigkeit, Familienbewegungen einzurichten, die unter der Leitung der Kirche stehen. Ein Ansatzpunkt in Tanzanien könnte die Union katholischer Frauen sein, die über das ganze Land verbreitet ist. Unter richtiger Führung würde sie sich bestens dazu eignen, Forum für die Ausweitung der Rolle der christlichen Familie in der Gesellschaft zu sein. (Gleichzeitig zeigt dieser Umstand wiederum, wie bedeutsam die Rolle der Frau für die Kirche gerade in Ehe und Familie ist. Es wäre zu überlegen, wie man dieser Bedeutung in der Kirche auch strukturell besser Rechnung tragen könnte.) Das Laienapostolat bemüht sich sehr darum, praktische pastorale Direktiven zu geben und die entsprechenden Aktionen zu setzen. Dies wird sicherlich dazu beitragen, unsere christlichen Familien zu konsolidieren und sie zu einem positiv-christlichen Leben zu führen.

v.

Zusammenfassung

Zu den wichtigsten Maßnahmen des Familienapostolats zählt heute zweifellos das Bemühen um die Einrichtung von christlichen Basisgemeinden. Sie sind der einzig effektive Weg, um eine lebende Lokalkirche zu schaffen, die sich nicht bloß im Priester oder sonstigen Gemeindeleiter personifiziert. Um aber den Anliegen der christlichen Familien innerhalb und außerhalb der Kirche mehr Gehör zu verschaffen, sollte in jeder Pfarre

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ein Elternrat eingerichtet werden. Nach außen wäre es dessen Aufgabe, vor allem auf das Recht einer christlichen Erziehung und andere Grundrechte der Familie hinzuweisen und auf ihrer Respektierung zu bestehen. Weiters müssen vor allem die Probleme studiert werden, die Familien von Taufscheinchristen darstellen, in denen keine Gewähr für die Bildung des Glaubens der Kinder gegeben ist. Ähnlich gelagert sind die Probleme jener Jugendlichen, die nicht mehr im Familienverband leben, vor allem in den Städten. All dies wird Konsequenzen für die Familienpastoral haben müssen, wenn sie glaubwürdig und effektiv sein will. Die zuständigen kirchlichen Gremien haben alle die genannten Fragen derzeit in reiflicher überlegung, damit die Ergebnisse danach wirksam durch das Familienpostolat in die Praxis umgesetzt werden können.

VI. Scblußbemerkung In Anbetracht all dessen, was heute in der Welt vor sich geht, hält es die Kirche für notwendig, offen ihre Meinung darüber zu sagen, was sie als die Rechte der christlichen Familie ansieht. Sie glaubt, damit nicht nur diesen, sondern allen Familien einen Dienst zu erweisen, weil sie nur Forderungen erhebt, deren Erfüllung für die Gesellschaft als ganze wohltätig sein wird. Es liegt auf dieser Linie, daß sich die Kirche gegen alle Mißbräuche wendet, die von bestimmten ideologischen oder politischen Systemen gepflegt bzw. propagiert werden, Mißbräuche, welche die natürlichen Rechte der Eltern und Kinder zu verletzen geeignet sind. Es kann jedoch kein Zweifel bestehen, daß kirchliche Aktionen nur dann Wirkungen zeigen werden, wenn die in einem einzelnen Staat ergriffenen Initiativen auf internationaler Ebene Ermutigung und Unterstützung finden.

DIE FAMILIE UND IHRE PASTORAL IN BRASILIEN* Von David Regan Eine vor kurzem abgehaltene regionale Versammlung von Bischöfen in Nordost-Brasilien stellte Betrachtungen über Fragen der Familienpastoral an. Auf der Grundlage einer groben Untersuchung eines repräsentativen Querschnittes von Familien erbrachten diese Überlegungen eine Reihe interessanter Empfehlungen. Diese Empfehlungen werden hier im folgenden wiedergegeben, weil sie nicht nur geeignet erscheinen, das Familienleben in Brasilien zu illustrieren, sondern auch Hinweise darauf geben, wie die Kirche heute in diesem Land beginnt, Probleme der Familienpastoral anzupacken. Einzelne Bemerkungen zu diesen Empfehlungen, vor allem im Lichte anderer jüngerer Erklärungen über die Familie, die von der Brasilianischen Bischofskonferenz erlassen wurden, können helfen, das Bild zu bereichern.

I. Familienpastoral und soziale Situation Brasilien ist das größte Land der Dritten Welt mit katholischer Bevölkerung. Was die Kirche hier als für ihre Familienpastoral als bedeutsam ansieht, liefert einige Hinweise auf die verschiedenen Aspekte der "Funktionen der christlichen Familie in der Welt von heute", mit denen sich die Bischojssynode 1980 auseinanderzusetzen hat. Diese "Allgemeinen Empfehlungen" lauten: (1) Pastorale Aktionen sollen die Familien sich dessen bewußt machen, daß die Wurzel ihrer Schwierigkeiten hauptsächlich im kapitalistischen Modell der Gesellschaft liegt; sie sollen daher nicht versuchen, ihr Leben dieser Gesellschaft anzupassen. (2) Die Familien müssen so organisiert werden, daß sie in konkreten Situationen nicht bloß Schutz vor den Folgen sozialer übel suchen, sondern gegen ihre Ursachen angehen. (3) Familien müssen Zugang zu politischer Bildung erhalten, die es ihnen erlaubt, Agenten einer sozialen Umwälzung zu werden. (4) Die Teilnahme der Familie an christlichen Basisgemeinden, Basisaktionen und Betrachtungsgruppen muß näher untersucht und gefördert werden. • Aus dem Englischen übersetzt von Heribert Franz Köck,Wien.

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(5) Familien müssen darin ermutigt und unterstützt werden, daß sie ganz bewußt in Organisationen gesellschaftlicher (Gewerkschaften, Mietervereinigungen, politische Parteien, etc.) oder religiöser Art mitmachen, die tatsächlich nach einer gesellschaftlichen Umwälzung streben. (6) Basisgemeinden müssen als privilegierte Bereiche der Familienarbeit anerkannt werden. (7) Familien müssen so organisiert werden, daß sie sich ein Recht auf die Teilnahme an Entscheidungen erstreiten, die den schulischen Erziehungsprozeß betreffen. (8) Die Ausrichtung der Kurse und sonstiger Formen der Vorbereitung auf die Ehe muß dahingehend geändert werden, daß sie dem sozialen Milieu, für das sie bestimmt sind, gerecht werden, wobei vorgefaßte Familienmodelle vermieden werden müssen. (9) Offene und unverblümte Debatten über das Familienleben betreffende Probleme (z. B. unbillige Verteilung von Land und Einkommen, Hunger, Arbeitslosigkeit, Wohnungsmangel, Mangel an politischer Erziehung, mangelnde Teilnahme an Entscheidungsprozessen, Familienplanung, ,Machismo' [übertriebener männlicher, bes. sexueller Geltungsdrang], Prostitution, Abtreibung, etc.) müssen gefördert und versucht werden, die Gründe für diese Probleme aufzudecken und zu bekämpfen. (10) Man muß sich um eine kritische Betrachtungsweise der Pseudowerte der bourgoisen Mentalität (Luxus, Erfolg, Konsumideal), die in den Massenmedien so stark propagiert werden, sowie darum zu bemühen, sie im Lichte der Werte der hl. Schrift zu sehen: Armut, Mäßigung und Teilen. (11) Man sollte Familien ermutigen, ihre Mitglieder untereinander in einer dem Evangelium entsprechenden Weise verkehren zu lassen sowie dazu zu bringen, auch andere, und zwar in erster Linie ihrer eigenen Klasse bzw. auf ihrem eigenen sozialen Niveau, zu evangelisieren. (12) In der Situation von Nordost-Brasilien, wo viele Menschen gar nicht in der Lage sind, eine Familie von rechtlicher oder sozialer Stabilität zu gründen, müssen pastorale Mittel und Wege gefunden werden, um jenen Haushalten und Einzelnen, deren Leben oft authentische Familienwerte verkörpert, zu begleiten und geistlich zu stärken. (13) Eine Erziehung in der Liebe und Gerechtigkeit des Evangeliums soll innerhalb und außerhalb der Familie ermutigt werden. (14) Ziel muß es sein, die eucharistische Feier so zu gestalten, daß sie die ihr eigene Forderung nach Gemeinschaft unter den Menschen, nach dem Teilen der materiellen Güter und der Teilnahme am Entscheidungsprozeß in der Gesellschaft klar zum Ausdruck bringtt.

Einige dieser Empfehlungen mögen dem europäischen Auge zu einfach erscheinen. Man muß jedoch bedenken, daß sie in einem Teil der Welt gemacht werden, der bis vor kurzem noch als kolonial anzusprechen war und heute noch äußerst abhängig ist, in einem Gebiet, wo die 1 Indicat;öes Para a Pastoral da Familia, XV AssembU~ia do Conselho Regional de Pastoral, Olinda, 14 a 18 mart;o de 1980, Documentos da CNBB NE 11, No. 2, Recife, S. 45 - 47.

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institutionalisierte Gewalt im Dienste wirtschaftlicher Ausbeutung ein barbarisches Faktum des täglichen Lebens darstellt. In einer solchen Situation, wo die Menschenwürde so offensichtlich der nackten Besitzgier geopfert wird und ein Hektar Land ein Menschenleben wert ist, nimmt die soziale Realität etwas von der Simplizität eines WildwestFilms an. Auf solcher Bühne tragen Gut und Bös durchsichtige Masken. Es kann durchaus nützlich sein, solche schwarz-weiß-Beispiele zur Meditation in den reicheren Ländern zu haben, wo die Lust an Geld oder Land und die Unterordnung anderer Leute Leben unter den finanziellen Profit euphemistischere Bezeichnungen tragen.

11. Familienpastoral - Anleitung zu praktischem Handeln Wie man aus den genannten Empfehlungen ersehen kann, ist deren Ausrichtung kein historischer oder soziologischer, viel weniger noch ein politischer; sie hat vielmehr pastoralen Charakter. Dies schließt die Benützung von Daten, die die Sozialwissenschaften erarbeiten, nicht aus; es erklärt lediglich, daß dieses Material, das eine genaue und objektive Kenntnis der Situation der Familien erlaubt, als Ausgangspunkt für theologische Reflexionen dient, die dann zu pastoralen Entscheidungen führen. Diese pastorale Ausrichtung, welche die "Methode des Sehens, Beurteilens und HandeIns" anwendet, stellt die gegenwärtige Praxis in Lateinamerika seit ihrer Annahme durch die Lateinamerikanische Bischofskonferenz in Medellin von 1968 dar; sie wurde auch im vergangenen Jahr in Puebla angewandt. Der Vorteil dieser Methode liegt darin, daß das pastorale Denken und Handeln der Kirche auf realen Grundlagen beruht und den Situationen angepaßt ist, nicht aber aus hinterfragten "Selbstverständlichkeiten" oder romantischen Mythen hergeleitet wird. Die seriöse Analyse konkreter Situationen, wie sie ein pastoraler Planungsprozeß vom "Sehen, Urteilen und Handeln"-Typ verlangt, fordert nicht nur eine Sammlung von Fakten, sondern auch eine Untersuchung der Hintergründe. Das trifft auch hinsichtlich der Position zu, die in dem von der Brasilianischen Bischofskonferenz als Beitrag zum Grundtext der Bischofssynode 1980 übermittelten Dokument bezogen ist. In der Einleitung zum Ersten Teil ihres Dokumentes stellen die Bischöfe folgendes fest: "Jener Teil, der sich mit der Situation der Familie in der Welt von heute befaßt, sollte sich nicht auf eine bloße Beschreibung der Fakten beschränken; er sollte die Analyse weiterführen und versuchen, die Gründe festzustellen und so den Weg für pastorale Lösungen zu bereiten, welche die Situation tatsächlich bewältigen können.

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Wir sollten die Lage der Gesellschaft als ganzer betrachten und die Fakto· ren untersuchen, welche auf die Familie einwirken, bevor wir eine phänomenologische Beschreibung der Familie selbst geben. Es ist wichtig, mit einer Analyse hauptsächlicher Faktoren zu beginnen, welche die Familie formen und auf sie einen bestimmenden Einfluß ausüben. Einzelne Familien oder Familienbewegungen haben auf diese Faktoren nur wenig Einfluß. Wenn das, was auf der Ebene von Familiengruppen oder Familienbewegungen angestrebt wird, effektiv sein und einen dauerhaften Erfolg haben soll, dann müssen zuerst Aktionen zur Änderung der allgemei-' nen Ursachen (wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und anderer Art), welche auf die Familie einen so bestimmenden Einfluß ausüben, gesetzt werden!." In Beziehung zur sozio-ökonomischen Situation, welche die Familien fest erfaßt hat, weist die Bischofskonferenz auf die folgenden Punkte hin: "Mit Rücksicht auf makro-ökonomische Faktoren ist die Familie eher als Opfer denn als Agent von Umwälzungen anzusehen. Die große Mehrheit unserer Familien ist arm, und das gesamte soziale System stellt für sie eine schwere Last dar. Besonders furchtbar ist die Situation der verlassenen oder sonst in Not befindlichen Kinder. Ungerechte Sozialstrukturen haben einen Einfluß auf die Familie. Nachteilige wirtschaftliche Bedingungen treffen besonders die weniger privilegierten Klassen und zerstören dadurch nicht nur viele Familien, sondern hindern auch die Bildung von neuen und gesunden. Zu diesen nachtei~igen Bedingungen zählen beispielsweise: Probleme der Nutzung und des Besitzes von Land, welche zur Landflucht und damit zur enormen Konzentration der Bevölkerung an den Peripherien der Großstädte führen; die Ausbeutung der Arbeiter; Mangel an Berufsschulung; schließlich Unterernährung als Wurzel weiterer Schwierigkeiten. Es besteht ein Mangel an Wohnungen sowie an Gesundheits- und Bildungseinrichtungen; die Arbeitskraft von Frauen und Kindern wird ausgebeutet3 ."

III. Die historischen Wurzeln der heutigen Familiensituation In Zusammenhang mit historischen Faktoren, deren Einfluß auf die Familie heute spürbar ist, erinnern die Bischöfe daran, daß der Begriff der "Familie" in der Kolonialzeit auf die Großgrundbesitzer beschränkt war; Sklaven wurden iücht als eine Familie besitzende angesehen,· und nur 4 % der Sklaven war offiziell verheiratet'. Es mag nützlich sein, daran zu erinnern, daß während der letzten Jahre des Bestandes der Sklaverei, als die Einfuhr von Sklaven bereits unmöglich war, die ! Valor es Bcisicos da Vide e da FamHia, Documentos da CNBB, 18, Edi!;öes Paulinas, Säo Paulo, 1980, S. 17, Nos. 9,10,11. 3 Ibid., S. 18. , Ibid., S. 20.

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Fazendeiros jede formelle Heirat unter Sklaven mit Absicht hinter-

trieben, damit im Falle der Krankheit oder Fortpflanzungsunfähigkeit des einen Partners dem anderen ein gesunder beigestellt werden konnte, damit die Zeugung neuer Sklaven weiterginge. Man tut gut daran zu erinnern, daß diese Situation noch vor weniger als einem Jahrhundert herrschte; dies hilft erklären, warum der ärmere und negroidere Teil der brasilianischen Bevölkerung auch heute Hochzeitszeremonien noch keine besondere Bedeutung beimißt - ihre Afrikanische Kultur war ausgelöscht worden, und die des weißen Mannes stand ihnen nicht zur Verfügung. IV. Familienpastoral verlangt soziales Engagement In einem Interview durch ein katholisches Magazin wiederholte Bischof Claudio Hummes, der Verantwortliche für den Familiensektor der Pastoralkommission der Bischofskonferenz, dieselben Ansichten über Familienpastoral in Brasilien. Er wies darauf hin, daß es nicht ausreiche, an den guten Willen der Familien zu appellieren oder sich bloß mit den negativen Symptomen des Familienlebens auseinanderzusetzen; vielmehr müsse die Wurzel aufgedeckt werden, und diese liege häufig außerhalb der Familie, im sozialen System. Dazu gehören die wirtschaftlichen und politischen Strukturen, in denen die Brasilianer leben müssen, und die den einfachen Menschen am Rande der Gesellschaft, zumeist unter Bedingungen ständiger und drückender Armut ansiedeln, und ihn der Krankheit, inhumanen Lebensbedingungen und Hungerlöbnen unterwerfen. Der Bischof vertrat die Auffassung, daß es die grundlegende Herausforderung für ein christliches Gewissen sei, diese Strukturen zu ändern. Dom Claudio fuhr dann mit der Bemerkung fort, daß die Kirche der Versuchung unterliegt, ihre Aufmerksamkeit auf die Familie zu konzentrieren und Anliegen der Familienpastoral als Alibi dafür zu verwenden, den wirtschaftlichen und politischen Übeln nicht ins Auge zu sehen5 • V. Ökonomische Ausbeutung in Brasilien Einige Statistiken zeigen, was die brasilianischen Bischöfe meinen, wenn sie von politischen und wirtschaftlichen Übeln und der schamlosen Ausbeutung der Armen sprechen. 1977 erhielten 60 % der 41 Millionen Beschäftigten weniger als zwei Mindestgehälter als Gegenleistung für jede von ihnen ausgeübte Tätigkeit. (Das Mindestgehalt beträgt etwa 70 US $ im Monat; und eine Familie kann nach herrschender Meinung nicht einmal sehr bescheiden von weniger als drei Min, Vgl. Familia Cristä, Säo Paulo, Jänner 1980.

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destgehältern leben.) Von den 24 Millionen Familien hatten 58010 Einkommen unter drei Minimumgehältern8 • Vielleicht noch schwerwiegender, auf jeden Fall aber für Europäer, deren Lebensstandard und Lebenshaltungskosten verschieden sind, leichter verständlich sind die Daten betreffend die Konzentration des Reichtums (und der Armut). 1960 bezog jenes eine Prozent der Brasilianer, das die höchsten Einkommen besitzt 11,7010 des gesamten Einkommens des Landes, während die ärmere Hälfte der Bevölkerung 17,7010 erhielt. 1970 war der Anteil des obersten einen Prozents auf 17,8010 des gesamten Kuchens angestiegen, während die ärmere Hälfte nur noch 13,1 Ofo bezog7 • Einer von hundert Brasilianern verdiente mehr als 50 seiner Brüder zusammen. Die Konzentration des Einkommens hat sich intensiviert, und dieser Skandal in den Ländern deli Dritten Welt wird immer sichtbarer. Brasilien ist selbstverständlich unter den abhängigen Ländern der armen Welt hinsichtlich der Einkommenskonzentration führend. Während in der Türkei z. B. das Durchschnittseinkommen der reichsten 10010 141/2 Mal so groß ist als jenes der ärmsten 40 010, und in Mexiko 151/2 Mal, lautet die betreffende Ziffer für Brasilien 28,9010. (Im Vergleich dazu ist die Ziffer in Schweden weniger als 4,5010.)8 Soweit die Analyse der Situation. Welche Empfehlungen geben die brasilianischen Oberhirten aber zur Änderung dieses Bildes ab? VI. Familienpastoral- Teil eines kirchlirhen Gesamtkonzeptes Erstens bestehen die brasilianischen Bischöfe in ihrem Beitrag zur Synode 1980 darauf, daß die Aktionen der Familienpastoral vermeiden müssen, elitär zu sein, und sich gänzlich in die organischen pastoralen Maßnahmen der Kirche einpassen müssen, deren Prioritäten sie zu akzeptieren haben9 • In den Generaldirektiven für Pastorale Aktionen der Kirche von Brasilien für die Jahre 1979 bis 1982 unterstreicht die Brasilianische Bischofskonferenz hinsichtlich der Familienpastoral neuerlich das Folgende: "Um zu vermeiden, daß Familien sich in sich selbst abschließen - insbesondere in christlichen Familienbewegungen - müssen die Aktionen der Familienpastoral gänzlich in die organische pastorale Tätigkeit der Kirche eingegliedert sein, welche auf die integrale Befreiung des Menschen abzielen. 6 Pesquisa Nacional por Amostra de Domicilios (PNAD), 1977, Rio, IBGE, 1979, SS. 37 und 58. 7 Säo Paulo 1975, Crescimento e Pobreza, Edi~oes Loyola, Säo Paulo, S. 65. 8 Vgl. Folha de Säo Paulo, 28/05/80, unter Heranziehung von Statistiken der Weltbank. 9 Vgl. Valores Bdsicos ... , No. 77.

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Pastorale Aktionen sollten Familien dazu führen, sich der Ursachen ihrer Probleme bewußt zu werden, von denen viele außerhalb der Familie und im ungerechten und drückenden sozialen Zusammenhang lägen ... Wir müssen lernen, die Situation besser zu kennen und den Einfluß christlicher Basisgemeinden und Betrachtungsgruppen auf die Familie zu stärken, weil gerade die armen Familien, welche in Brasilien die Mehrheit darstellen, von den bestehenden Formen der Familienpastoral kaum berührt werden10 ." In ihren an die Synode gerichteten Vorschlägen behandeln die Bischöfe noch viel ausführlicher die christlichen Basisgemeinden als einen neuen und besonders geeigneten Rahmen für Aktionen der Familienpastoral : "In christlichen Basisgemeinden stellen Aktionen der Familienpastoral nicht länger etwas ,Spezielles' dar, wie dies bis vor kurzem noch allgemein der Fall war, sondern werden ein integraler Teil eines organischen Ganzen. Christliche Basisgemeinden vereinen ganze Familien (Mann, Frau und ältere wie jüngere Kinder und nicht bloß isolierte Einzelne ...). In christlichen Basisgemeinden wird die Arbeit der sogenannten Familienpastoral nicht speziellen Bewegungen überlassen, sondern wird in allen und jeder einzelnen Gemeinde in voller Harmonie mit anderen pastoralen Aktivitäten durchgeführt. Christliche Basisgemeinden führen zu einem Zusammenschluß, zu Teilen und Teilnahme. Sie helfen, die Konsummentalität zu überwinden und neue Modelle des Familienlebens und einer christlichen Lebensweise zu schaffen. Aus ihnen erwachsen Berufungen für die verschiedenen Dienste. In dieser Sicht sollte auch die Möglichkeit, die Aufgaben des Priesteramtes Familienoberhäuptern zu übertragen, untersucht werden. Eine der Funktionen einer Familie ist es, Menschen dabei zu helfen, in ihrer Persönlichkeit zu wachsen. Heute sollte die Familie dies nicht allein tun, sondern Teil einer Gemeinschaft oder Basisgruppe werden. Gerade unter dem einfachen Volk - sei es in den Städten oder auf dem flachen Lande - entstehen christliche Basisgemeinden mit einem neuen Stil interfamiliärer Beziehungen und geben Anstoß zur Herausbildung neuer Typen des Familienlebens und selbst sozialer Beziehungen und Strukturen. Diese Verbindung von Familien in kleinen Gemeinden öffnet ihnen einen neuen Horizont - der gegenseitigen Evangelisierung, der gegenseitigen Solidarität zu allen Zeiten, der Vorbereitung der jungen Menschen für die Ehe 'und andere Sakramente. Es eröffnet auch die Möglichkeit, die Konsumgesellschaft und die mit ihr verbundenen Ungerechtigkeiten zu überwindenl l ." Aufgrund der prekären Bedingungen des Familienlebens unter den meisten Brasilianern, die auf ihre Armut zurückzuführen ist, entdecken die Bischöfe in den christlichen Basisgemeinden ein Zeichen der Hoffnung und ein Versprechen künftiger Änderung. Weil die Wurzel von so vielem, das faul ist in der brasilianischen Familie, in den ungerechten 10 Diretrizes Gerais da A~äo Pastoral da Igreja no Brasil 1979/1982, Documentos da CNBB, 15, Edicöes Paulinas, Säo Paulo. 11 VaZores Bdsicos ... , Nos. 79, 80, 81 (SS. 39 - 40).

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sozialen Strukturen liegt, sieht die Kirche ihre Aufmerksamkeit für die Familie im größeren Zusammenhang des Kampfes zur Befreiung des Volkes von der wirtschaftlichen Ausbeutung - von jener Situation, wo die Reichen immer reicher werden, auf Kosten einer fortschreitenden Verarmung der Armen. Die von der Lateinamerikanischen Bischofskonferenz vergangenes Jahr in Puebla vorgenommene Option für die Armen hat der Kirche in Brasilien geholfen, das Leben bis zu einem gewissen Grad vom Standpunkt jener aus zu sehen, welche die Opfer unserer Konsumwelt sind. Die Bischöfe wissen, daß die Massen der Armen sozial und politisch gebildet werden müssen, um sich selbst helfen und auf ihren Rechten bestehen zu können. VII. Internationale Ausbeutung als grundlegenstes Hindernis Auf der lokalen Ebene stellen die Armen mehr als die Hälfte der brasilianischen Bevölkerung. Auf internationaler Ebene sind die Armen jene Länder, von denen die wohlhabenden Nationen so viele Produkte beziehen, welche sie in immer größerer Menge konsumieren und für die sie ungerechte Preise bezahlen. Diese Preise sind deshalb ungerecht, weil sie nicht einmal annähernd geeignet sind, den Arbeitern der Dritten Welt zu erlauben, Löhne zu beziehen und Lebensbedingungen zu genießen, die denen der Arbeiter in den reichen Ländern gleichen. Das ist Ausbeutung, mit welch nettem Namen man es auch immer belegen will. Die Agenten dieser Ausbeutung, die für die Wohlhabenden in der Ersten Welt arbeiten, wobei sie nebenbei auch ihre Komplizen in den Ländern der Dritten Welt reich belohnen (man erinnere sich der Einkommensdisparität in Brasilien!), sind die multinationalen Gesellschaften. Sie sind es, welche für die reiche Auswahl an Importgütern auf den Stellagen der Supermärkte in Europa und Nordamerika sorgen und an die Investoren in denselben Gebieten hübsche Dividenden zahlen. Gestern waren es die Negersklaven in Brasilien, die den Preis vieler dieser in Überfluß vorhandenen Güter bezahlten; heute sind es ihre Nachfahren und ihre unterernährten und krankheitsgeschüttelten Kinder. Die ernstesten Probleme der Familie in Brasilien rühren von Ungerechtigkeiten und Übeln her, die weit über die Grenzen dieses Landes hinausgehen. VIII. Notwendigkeit internationaler christlicher Solidarität Allzulange hat der Skandal des Abstandes zwischen Reich und Arm in den "Katholischen" Ländern Lateinamerikas unverändert bestanden. Nun beginnt die Kirche endlich, in dieser Hinsicht etwas zu tun, im

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Namen des christlichen Evangeliums. Verständlicherweise reagieren die "Privilegierten" im Lande heftig. Es ist hoch an der Zeit, daß mehr Christen allüberall auf der Welt sich der internationalen Dimension dieser institutionalisierten Ungerechtigkeit bewußt werden.

BEVÖLKERUNGSPOLITIK: DIE MORALISCHE SEITE DES PROBLEMS· Von James T. McHugh Das Bevölkerungswachstum ist ein komplexes und vielschichtiges Problem. Ein umfassender Zugang zu Bevölkerungsfragen zwingt zu der überlegung, welche Faktoren Einfluß nehmen auf die Zunahme bzw. Abnahme der Bevölkerung (Geburten, Todesfälle, Abwanderung, Zuwanderung), die Altersstruktur und Bevölkerungsverteilung sowie die Zuweisung notwendiger Mittel, um den Bedürfnissen der Bevölkerung zu begegnen. Seit etwa einem Vierteljahrhundert wird die Sorge über die Zunahme der Weltbevölkerung in einer krisisbestimmten Sprache zum Ausdruck gebracht, die nicht selten zu apokalyptischen Voraussagen führt. Bücher wurden geschrieben über die unheilvollen Folgen einer raschen, unkontrollierten Bevölkerungszunahme, die allgemein als "Bevölkerungsexplosion" bezeichnet wird. Demographen mahnten allerdings in Bezug auf statistische Analysen stets zur Vorsicht, mit der Bemerkung, es sei nahezu unmöglich, künftige Trends über ein oder zwei Jahrzehnte hinaus vorauszusagen. Jetzt erkennt man allgemein, daß in den entwickelten Nationen die Geburtenzahl in den späten Fünfzigerjahren nachzulassen begann und der kontinuierliche Rückgang nun neue Probleme aufwirft, überalterung der Bevölkerung, Mangel an genügend Arbeitskräften und internationale Migrantenprobleme. Die 1974 in Bukarest abgehaltene Weltbevölkerungskonferenz der Vereinten Nationen forderte die Annahme einer Bevölkerungspolitik, die eine weitere Zunahme der Bevölkerung verhindern würde, während 1979 die UNOBevölkerungskommission Berichte erörterte, welche darauf hinweisen, daß die Welt augenblicklich vor einer demographischen Situation steht, nämlich: 1. Es gibt annähernd 1 Milliarde Menschen in den Industrieländern

der Welt, die in den letzten 20 Jahren einen ständigen Geburtenrückgang erlebten.

* Ins Deutsche übertragen von einem übersetzerteam des OsseTvatoTe Romano, Rom.

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2. Es gibt ungefähr 1 Milliarde Menschen in China, das in seiner Bevölkerungssituation eine gewisse Stabilität erreichen konnte. 3. Es gibt ungefähr 1 Milltarde Menschen in Entwicklungsländern, in denen die Geburtenzahl in den letzten Jahren zu sinken begann. 4. Es gibt ungefähr 1,4 Milliarden Menschen in Entwicklungsländern, in denen noch kein Geburtenrückgang eingesetzt hat. Trotz Abnahme der Raten des Bevölkerungswachstums konnten nicht alle Bevölkerungsprobleme gelöst werden. Bevölkerungsprobleme gehen in der Tat weit hinaus über statistische Berichte und Planungen. Die Raten von Wachstum und Rückgang müssen in Beziehung auf andere veränderliche Größen - Ernährung, Beschäftigung, Wohnung, Gesundheitsfürsorge, Erziehung, Naturschätze und Umweltbedingungen und wirtschaftliche Aussichten analysiert werden. Diese Faktoren haben eine direktere Beziehung zum Leben - und Lebensstil - der Menschen und schärfen das moralische und ethische Feingefühl für menschliche Würde, soziale Gerechtigkeit und Gemeinwohl. Während das rückläufige Bevölkerungswachstum die Bevölkerungsexplosion verringerte, beseitigte es also keineswegs die Notwendigkeit einer Bevölkerungspolitik, die sich auf religiösen und humanen Werten gründet und von moralischen und ethischen Grundsätzen bestimmt ist. Bis in die moderne Zeit spiegelte die Geburtenrate gen au die Entscheidungen - und Möglichkeiten - verheirateter Paare wider. Diese Entscheidungen und die Mittel zu ihrer Verwirklichung wurden im allgemeinen als private und persönliche Angelegenheit betrachtet, das heißt sie lagen außerhalb der Grenzen staatlicher Einflußnahme. Aber in den letzten Jahren wurde dem begrenzten Charakter der Welt und ihrer natürlichen Hilfsquellen, der zunehmenden Umweltzerstörung durch den Konsum und dem neuen Verständnis von der Stellung der Frau und ihrem Recht auf Gleichberechtigung erhebliche Aufmerksamkeit geschenkt. Das Ergebnis war eine intensive und ganz deutliche Kampagne für das Nullwachstum der Bevölkerung, verbunden mit Forderungen an die Regierung, auf die Erzielung niedrigerer Geburtsraten direkt Einfluß zu nehmen. Solche Regierungsmaßnahmen bedeuten in gewissem Grade Zwang und damit Bedrohung der menschlichen Freiheit. Hier erhebt sich auch die Frage der sittlichen Zulässigkeit eines solchen Vorgehens der Regierung.

I. Fundament, Sacltbezüge und Gestalt Die Entwicklung der katholischen Lehre zur Bevölkerungspolitik ist eine ganz und gar moderne Erscheinung, die sich in den Schreiben Papst Pauls VI. und des Zweiten Vatikanischen Konzils findet. Bedenken

Bevölkerungspolitik: Die moralische Seite des Problems

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zur Rolle der Regierung in Sachen Bevölkerungspolitik fanden Ausdruck in Casti Connubii Pius' XL, in der Ansprache Pius' XII. an den Italienischen Verband der großen Familien (kinderreichen Familien?) und in der Enzyklika Mater et Magistra Johannes' XXIII.; aber in diesen Dokumenten äußerten sich die Bedenken mehr in einer Mahnung oder Warnung an die Regierungen, die einzelnen nicht zur Anwendung der von der Kirche verbotenen empfängnisverhütenden Mittel zu zwingen. Beim Versuch, einen moderneren katholischen Standpunkt zur Bevölkerungspolitik zu zeichnen, wird diese Darstellung einen überblick über die diesbezüglichen Schreiben Papst Pauls VI. und einschlägige Dokumente des Hl. Stuhles während seines Pontifikats geben sowie die einschlägigen Abschnitte aus Gaudium et Spes (Nr. 87) besprechen. Ehe wir an den überblick und die Analyse gehen, ist es richtig zu betonen, daß das Lehramt staatliche Bemühungen zur Stabilisierung der Bevölkerungspolitik nicht abgelehnt, sondern darauf gedrängt hat, solche Bemühungen in positiver, die Menschenwürde stützender Weise durchzuführen. In den letzten Jahren ist es in den Vereinten Nationen, in den Parlamenten der ganzen Welt und in den Massenmedien zu Debatten und Diskussionen über die Bevölkerungspolitik gekommen. Praktisch ergaben sich zwei verschiedene Auffassungen: (a) die entwicklungsorientierte Auffassung, die die Notwendigkeit der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung betonte, welche zwangsläufig auf ein Sinken der Geburtenraten hinauslaufen würde; und (b) die Auffassung "Familienplanung zuerst", die als Vorbedingung einer Hilfe seitens entwickelter Nationen oder internationaler Behörden bestimmte Maßnahmen zur Senkung der Geburtenraten forderte. Der Hl. Stuhl befürwortete und ermutigte von Anfang an die entwicklungsorientierte Auffassung. Am 4. Oktober 1965 sprach Papst Paul VI. vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York. Seine Rede war ein überblick und eine Ermutigung der Bemühungen der Vereinten Nationen zur Erhaltung des Friedens und zur Förderung der Entwicklung der Völker. Papst Paul ging dabei auch auf die Bevölkerungsfrage ein. Indem er erklärte, daß "menschliches Leben heilig ist", beschwor er das Bild vom "Festmahl des Lebens" und richtete an die Vereinten Nationen die dringende Aufforderung, nach Wegen zu suchen, um die gesamte Menschheitsfamilie ausreichend mit Nahrung zu versorgen, wobei er die Auffassung "Familienplanung zuerst" ausdrücklich zurückwies: "Ihre Aufgabe ist es, sich aktiv dafür einzusetzen, daß die Menschheit genug Brot auf dem Tisch hat, aber nicht eine künstliche Geburtenkontrolle zu unterstützen, die irrational wäre und nur die Verringerung der Zahl derer zum Ziel hätte, die am Festmahl des Lebens teilhaben."

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Die einschlägigen Abschnitte von Gaudium et spes (Nr. 87) und Populorum progressio (Nr. 36 und 37) lauten ganz ähnlich, und da es

sich bei ihnen um die Grundtexte handelt, können sie gemeinsam überdacht werden. Beide Dokumente halten sich an die entwicklungsorientierte Auffassung und lehnen die Auffassung von der Familienplanung ab. Beide Dokumente stellen dann die folgenden Grundprinzipien auf: 1. Angenommen, daß rasches Bevölkerungswachstum den Entwick-

lungsprozeß hemmt, haben die Regierungen Rechte und Pflichten innerhalb der Grenzen ihrer Zuständigkeit zu versuchen, das Bevölkerungsproblem zu verbessern. Diese bestehen darin, für entsprechende Information über die aus der Bevölkerungszunahme erwachsenden Belastung zu sorgen, und in Gesetzgebung und Programmen, die den Familien helfen.

2. Entscheidungen über die Größe der Familie und der Kinderzahl sollten von den Eltern allein, ohne jeden Druck von seiten des Staates, getroffen werden. Diese Entscheidung setzt ein richtig gebildetes Gewissen voraus, das die authentische Auslegung des göttlichen Gesetzes im Hinblick auf die angewandten Mittel durch die Kirche respektiert. In der Gewissensbildung sollten die Ehepaare ihre Verantwortung gegenüber Gott, gegenüber sich selbst, gegenüber den Kindern, die sie schon haben, und gegenüber der Gemeinschaft oder Gesellschaft, zu welcher sie gehören, berücksichtigen. Populorum progressio hat die Kriterien verantwortlicher Elternschaft ausführlicher formuliert. 3. Die Familie ist die Grundzelle der Gesellschaft, sie sollte vor Zwangsmaßnahmen geschützt werden, die sie von der Verfolgung ihrer legitimen Ziele, besonders was die Größe der Familie angeht, abhalten, und hinsichtlich der Erziehung, stabiler sozialer Verhältnisse und des Wohlergehens ihrer Mitglieder sollte ihr von der Gesellschaft die nötige Hilfe zuteil werden. 4. In vielen Ländern besteht die Notwendigkeit zur Übernahme neuer Methoden in der Landwirtschaft und neuer gesellschaftlicher Organisationsformen. Manche veraltete Gewohnheiten, auch solche im Zusammenhang mit der Familie (z. B. Vererbung von Land, System der Mitgift) sollten geändert oder aufgegeben werden, wenn sie dem Entwicklungsprozeß hinderlich sind. Populorum progressio ist in der Frage der Änderung sozialer Bedingungen kl'arer und verlangt dringend, daß die Menschen über die wissenschaftlichen Fortschritte der medizinisch ungefährlichen und moralisch einwandfreien Methoden der Familienplanung informiert werden - ein Hinweis auf die natürliche Familienplanung.

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Das sind die beiden grundlegenden Texte, auch wenn andere Äußerungen Papst Pauls oder der Stellen des Hl. Stuhles detaillierter und präziser sein mögen.

Humanae vitae verwendete eigentlich dieselbe Sprache wie Populorum progressio, was die Rolle des richtig gebildeten Gewissens angeht (Nr. 10). Dann bekräftigt die Enzyklika das traditionelle Verbot künstlicher Empfängnisverhütung, Sterilisation und Abtreibung als Mittel der Familienplanung durch die Kirche (vgl. Nr. 10 -14). Humanae vitae forderte außerdem staatliche Stellen auf, die Familie vor gesetzlich gebilligten unmoralischen Praktiken im Zusammenhang mit Bevölkerungsproblemen zu schützen, und anstelle solcher Praktiken lieber die Bemühungen zur Schaffung einer gerechten und unparteiischen sozialwirtschaftlichen Ordnung zu erhöhen, die die Familie unterstützt und Ehepaaren bei der Einhaltung des Moralgesetzes behilflich ist (Nr. 23). In seiner Ansprache an die F AO (1970) und in Octogesima adveniens (1971) bemerkte Papst Paul erneut, daß Regierungen keinesfalls Ehepaaren die Geburtenkontrolle aufnötigen sollten, um die Bevölkerungsraten zu senken, sondern die Entwicklung und sozialwirtschaftliche Programme fördern, die die Lebenszelle Familie unterstützen. Dabei bezog er sich auf Mater et magistra und Populorum progressio. Das UNO-Bevölkerungsjahr 1974, und die Weltbevölkerungskonferenz in Bukarest boten dem Hl. Stuhl Gelegenheit zu einer Reihe von Erklärungen. Ende des Jahres 1973 schickte das Vatikanische Staatssekretariat den Bischofskonferenzen ein vom Familienkomitee vorbereitetes vertrauliches Dokument zu, um Informationen und Weisungen für die geplanten UNO-Aktivitäten bereitzustellen. Später wurde das Dokument veröffentlicht. Die Bischofskonferenzen wurden darin ersucht, mit dem Hl. Stuhl in der Vorbereitung des Bevölkerungsjahres zusammenzuarbeiten und ihre Leute zu informieren. Das Dokument legte als besondere Aufgabe der Bischofskonferenzen fest: (1) die moralischen Aspekte der Initiativen staatlicher Behörden und privater Organisationen; (2) zu analysieren und zu beurteilen; den Standpunkt der Regierung zu den vorgelegten Tagesordnungspunkten zu eruieren, und, wenn möglich, der Regierung einige Empfehlungen zu erteilen; (3) sicherzustellen, daß Vertreter der Bischofskonferenzen und katholischen Organisationen, Theologen und Gelehrte klar und offen die Lehre der Kirche vertreten, wie sie in Gaudium et spes, Populorum pTogressio und Humanae vitae enthalten ist. Das Dokument lenkte die Aufmerksamkeit auf die Gefahr, daß das Jahr der Bevölkerung zur Tribüne derjenigen in der Kirche werden könnte, die die offizielle 36 Festschrift Rossi

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Lehre zurückweisen, um ihre eigenen Ansichten vorzulegen und sie als "quasi-offiziellen Standpunkt" auszugeben. Das Dokument faßte sodann die in der Lehre der Kirche enthaltenen Punkte zusammen: Die Grundwerte, die der Morallehre nun in besonderer Weise zugrundeliegen müssen, sind unter anderem die Bedeutung der Kinderzeugung, die Verantwortung derer, die sie vornehmen, Achtung vor dem Leben und seiner Weitergabe, die Natur des ehelichen Aktes, der für die Fortpflanzung des Lebens offenbleiben muß, das Recht auf Leben, die Rechte der Familie als der Grundzelle der Gesellschaft, die Lebensqualität, Wesen und gerechte Forderungen nach nationalem und internationalem Gemeinwohl. Das Dokument legt auch Nachdruck auf ein positives Bemühen, das die Menschen zur Achtung vor dem menschlichen Leben, vor der menschlichen Person und vor der Familie bewegen soll. Außerdem stellt das Dokument fest, "das Jahr der Weltbevölkerung könnte der richtige Zeitpunkt sein für die Intensivierung unserer Sorge und unserer Anstrengungen im Dienst des Lebens und der Schaffung einer Atmosphäre sozialer Gerechtigkeit sowie sozialer Einrichtungen zugunsten des Lebens." Das Dokument erkennt zwei Extremhaltungen, die beide der Korrektur bedürfen: (1) die Auffassung, das Wachstum der Bevölkerung müsse auf jede nur mögliche Weise verlangsamt werden, "wir es nicht zulassen sollten, daß Menschen geboren werden, wenn ihr Leben von vornherein ohne jede Hoffnung wäre", und (2) die Tendenz, Bevölkerungsprobleme jeglicher Art überhaupt zu leugnen oder zu ignorieren. Die erste Richtung verwirft Lösungen, die der Würde des Menschen entsprechen, die zweite Einstellung läßt die Lehre der Kirche über eine verantwortungsbewußte Elternschaft unbeachtet. Das Dokument zählt eine Reihe von Punkten auf, die in einer Bevölkerungspolitik enthalten sein sollten: (1) entschiedene Unterstützung der Würde und Festigkeit der Institution der Familie; (2) Schutz der Rechte der Familienmitglieder durch Vermeidung einer Politik, welche Empfängnisverhütung, Sterilisation, Abtreibung und mangelnde Achtung für die Würde jeder Person begünstigt; (3) verstärkte Bemühungen zur Erlangung der sozialen Gerechtigkeit; (4) Bevölkerungspolitik als nur ein Aspekt einer gesunden Entwicklungspolitik; (5) Bemühungen zur Entwicklung einer positiven Haltung gegenüber der Sexualität einschließlich der Information über die Methoden der natürlichen Familienplanung.

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Dieses Dokument des Familienkomitees war wirklich umfassend, ging auf Einzelheiten ein und ist in seiner Skizzierung der Verantwortlichkeiten der Bischofskonferenzen wohl spezifischer als jedes andere vom Hl. Stuhl ausgearbeitete Dokument. Am 28. März 1974 traf Papst Paul VI. mit den für das Weltbevölkerungsjahr und die Tagungen verantwortlichen UNO-Beamten, Rafael Salas und Antonio Carillo-Flores, zusammen. Der Hl. Vater betonte neuerlich, daß die Aktivitäten des Jahres der Weltbevölkerung nützlich sein könnten, wenn sie allen Nachdruck auf die soziale Gerechtigkeit legten, nicht aber auf radikale Maßnahmen zur Senkung des Bevölkerungswachstums. Papst Paul forderte eine ganzheitliche Einstellung, welche allen Faktoren Rechnung trägt, lIder Forderung der sozialen Gerechtigkeit ebenso wie der Ehrfurcht vor den göttlichen Lebensgesetzen, der Würde der menschlichen Person ebenso wie der Freiheit der Völker, der primären Rolle der Familie ebenso wie der Eigenverantwortung der Ehepaare" . Für die Bevölkerungspolitik nannte Papst Paul folgende Kriterien: 1. Jede Bevölkerungspolitik muß im Dienst der menschlichen Person

stehen ... , indem sie alles beseitigt, was zum Leben selbst im Gegensatz steht oder die freie und verantwortliche Persönlichkeit des Menschen verletzt.

2. Jede Bevölkerungspolitik muß die Würde und Festigkeit der Institution der Familie gewährleisten, indem sie die Mittel bereitstellt, die es der Familie ermöglichen, ihre eigentliche Aufgabe zu erfüllen. 3. Bevölkerungspolitik muß immer Teil einer umfassenderen Verpflichtung bzw. eines Programms für die soziale Gerechtigkeit sein, das allen Menschen ein im Vollsinn des Wortes menschliches, mit Freiheit und Würde ausgestattetes Leben ermöglicht. Im Juni 1978 empfing Paul VI. Henry Labouisse, den Exekutivdirektor der UNICEF, und John Gru, den Leiter des von den Vereinten Nationen proklamierten Internationalen Jahres des Kindes. Im Laufe seiner Ausführungen, in denen er vielen der UNICEF-Programme zugunsten der Kinder Lob spendete, brachte Papst Paul die Absage des Hl. Stuhles an Projekte zum Ausdruck, "die direkt oder indirekt Empfängnisverhütung, Schwangerschaftsabbruch oder andere Praktiken begünstigen, die den hohen Wert des Lebens nicht achten". Ebenso warnte der Hl. Vater vor der Unterstützung von Programmen durch die UNO, deren Absicht es wäre, "Kinder weniger gern anzunehmen oder gar zu verhindern, daß sie in die Gesellschaft hinein geboren werden". Anfängliche Vorschläge für das Internationale Jahr des Kindes 36'

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trafen bei den Vereinten Nationen auf gemischte Reaktionen, und der Beobachter des Vatikans meldete einige Vorbehalte an. Zu den ersten Befürwortern eines Internationalen Jahres des Kindes gehörte eine katholische Organisation, das "International Catholic Child Bureau". Auch eine Reihe der Gruppen, die für Bevölkerungskontrolle eintreten, förderten das Zustandekommen des Internationalen Jahres des Kindes, was den Vatikan zu seinen Bedenken veranlaßte. Angesichts dieses Hintergrundes und der umfassenden Verbindungen Pauls VI. zu den Vereinten Nationen und ihren Bemühungen bildete diese Begegnung für den Papst eine Gelegenheit, der UNICEF und dem Internationalen Jahr des Kindes seine Ermunterung auszusprechen, gleichzeitig aber auch vor Versuchen zu warnen, das Internationale Jahr des Kindes in eine Tribüne für Bevö'lkerungskontrolle zu verwandeln. Als Papst Paul VI. im Juni 1978 den 15. Jahrestag der übernahme seines Pontifikats feierte, ging er bei zwei Anlässen auf die Enzyklika Humanae vitae ein. In seiner Ansprache an das Kardinalskollegium am 23. Juni 1978 wies Paul VI. darauf hin, daß ihm die Veröffentlichung von Humanae vitae schwer gefallen sei, daß aber das inzwischen verstrichene Jahrzehnt die Notwendigkeit und Bedeutung der Lehre dieser Enzyklika bestätigt habe. Er sagte außerdem, daß er auf den Beitrag der Kardinäle und aller Bischöfe bei der Unterstützung der Lehre von Humanae vitae zähle. Nicht ganz eine Woche später, am 29. Juni, bei der Ansprache zum Jahrestag seines Pontifikats am Fest Peter und Paul, gab der Papst einen überblick über die Bestrebungen und Lehren seines Pontifikats, die er selbst als die wichtigsten erachtete. Eingehender beschrieb er dabei Humanae vitae als wichtigen Teil seiner umfassenden Verpflichtung, "das Leben überall zu verteidigen, wo es in Gefahr ist, bedroht, gestört oder gar unterdrückt zu werden", - in Erfüllung des Auftrages des Zweiten Vatikanischen Konzils, menschliches Leben zu schützen (vgl. Gaudium et spes, Nr. 27 und 51). Papst Paul sagte, daß sein Programm der Achtung vor dem Leben die Betonung der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung, vor allem in der Dritten Welt, einschließe, wie es in Populorum progressio formuliert wurde. Es schließe auch die Verteidigung des Lebens vom ersten Beginn des Lebens an ein; Paul VI. zitierte hier die Verurteilung der Abtreibung aus Gaudium et spes (Nr. 51). Dann lenkte der Hl. Vater die Aufmerksamkeit auf Humanae vitae, wo er Ehe und Familie vor der staatlichen Gesetzgebung zu schützen versuchte, welche das unauflösbare Band der Ehe und die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens vom Mutterleib an bedroht. Papst Paul wies darauf hin, daß diese Gegebenheiten "in unserem

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ordentlichen Lehramt und in entsprechenden Stellungnahmen der zuständigen Kongregation" wiederholt dargelegt wurden. Der Hl. Vater betonte auch seine Liebe und Sorge für die Jugend, die am meisten unter der Zerstörung des Familienlebens zu leiden hat. In seiner Ansprache machte Paul VI. drei Bemerkungen, die weitreichende Folgen haben: 1. Paul VI. betonte erneut mit allem Nachdruck, daß die Nationen

Programmen zur sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung den Vorrang vor Empfängnisverhütung und Abtreibung geben müßten, wenn sie den Bevölkerungsproblemen zu begegnen versuchen.

2. Der Hl. Vater betonte, daß Humanae vitae die Lehre der Kirche über eine verantwortliche Elternschaft zum Ausdruck bringe, wobei die Enzyklika von seinem Bestreben ausging, die Ehe, die Familie und das ungeborene Kind vor gefährlichen gesellschaftlichen und politischen Experimenten zu schützen. 3. Papst Paul VI. bekräftigte seine Bindung an die Lehre von Humanae vitae und ihre besondere Bedeutung angesichts der fortgesetzten Angriffe auf die Familie und das Kind, und er betonte auch, daß dieselbe Lehre bei der ordentlichen Ausübung seiner Lehrverantwortung ständig wiederholt wurde. Diese zuletzt angeführte Stellungnahme liefert eine gute Zusammenfassung der Lehrverlautbarungen Papst Pauls VI., die mit Gaudium et spes im Einklang standen. Hervorhebenswert ist die Tatsache, daß Paul VI. die Lehre von Humanae vitae über die verantwortliche Elternschaft und besonders über das Verbot von Empfängnisverhütung, Sterilisation und Abtreibung als ein Ganzes mit den Aussagen von Populorum progressio und Gaudium et spes über die Rolle des Staates bei der Behandlung der Bevölkerungsprobleme sah. Eine von der Lehre Pauls VI. abweichende Position nehmen elmge katholische Theologen und Gelehrte ein, die darauf bestehen, die Kirche solle die Lehre von Populorum progressio und Gaudium et spes über die Bevölkerung von der Lehre von Humanae vitae über verantwortliche Elternschaft trennen, indem sie zum moralischen Verbot der künstlichen Empfängnisverhütung "in diskreter Weise schweigt" (vgl. Humanae vitae, Nr. 11). Sie argumentieren, daß der römische Katholizismus mit der Lehre über die Empfängnisverhütung allein dastehe, und daß selbst innerhalb der katholischen Kirche diese Lehre heiß umstritten sei und nicht von allen Bischöfen, Theologen und Gläubigen gehalten werde. Ein überblick über das theologische Schrifttum zeigt auf, daß zahlreiche Theologen und andere Gelehrte offen eine Sexualmoral vor-

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schlagen, die auf ein Abweichen von der Lehre von Humanae vitae gegründet ist. Manche katholische Gelehrte vertreten auch die Meinung, die Kirche solle, wenn sie Nationen zur Darlegung einer Bevölkerungspolitik ermutigt, zur künstlichen Empfängnisverhütung schweigen, weil es für Gesetze des Staates nicht nötig sei, jede moralisch unannehmbare Handlungsweise zu verbieten. Die gegenwärtige Diskussion über Bevölkerungspolitik ist freilich nicht darauf ausgerichtet, ob die Kirche auf ein Verbot der künstlichen Empfängnisverhütung durch den Staat bestehen solle, sondern vielmehr ob die Kirche geltend machen solle, daß Bevölkerungspolitik nicht in erster Linie Geburtenkontrolle sein dürfe. Die in den meisten Nationen zur Zeit geltenden Gesetze sind Gesetze, die den Staat berechtigen oder ermächtigen: 1. Informationen über Bevölkerungsziele, gewünschte Größe der Fa-

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milie (wie sie von Sozialplanern, Wirtschaftsexperten usw. vorgeschlagen wird), Methoden der Geburtenkontrolle und ihrer medizinischen Annehmbarkeit zur Verfügung zu stellen; sich mit der Erforschung von Bevölkerungsfragen und Methoden der Geburtenkontrolle abzugeben; die gegenwärtigen Methoden der Geburtenkontrolle jenen zu ermöglichen, die freiwillig darum ersuchen; gelegentlich bestimmte Personengruppen zur Anwendung besonderer Mittel zur Geburtenkontrolle zu nötigen (z. B. Entwicklungsgestörte, Fürsorgeempfänger, Träger von Erbkrankheiten oder Opfer genetischer Schädigungen im Mutterleib); fremde Nationen zu beeinflussen oder zu zwingen, dem Wachstum ihrer Bevölkerung bestimmte Grenzen zu setzen; für alle oben angeführten Aktionen öffentliche Gelder zu verwenden.

Wenn auch nicht alle, so sind doch viele dieser Absichten abzulehnen, weil sie sich auf unannehmbare philosophische Prämissen gründen. Außerdem ist da mit der Ausweitung der Bevölkerungspolitik des Staates ein subtiler Zwang verbunden. Die Frage, ob die Kirche öffentlich den katholischen Standpunkt von der Unmoral künstlicher Empfängnisverhütung bekräftigen oder diskret darüber schweigen solle, verdient eine weitere Überlegung. Zunächst gründet die traditionelle Lehre der Kirche auf dem Naturrecht, das für jedermann, nicht nur für Katholiken gilt. Sodann könnte ein Schweigen der Kirche für manche den Verzicht auf eine kirchliche Stellungnahme bedeuten. Noch wichtiger aber ist: wenn Pluralismus Schweigen über nicht allgemein akzeptierte Morallehren verlangt, schränkt das dann

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letztlich nicht in gewissem Grade den Umfang religiöser Freiheit ein? Einige führen die Kontroverse und die andauernden Meinungsverschiedenheiten über Humanae vitae innerhalb der Kirche an. Aber ist fortgesetzes Schweigen nicht ein Versäumnis an Lehrverantwortung seitens der Kirche, das heißt, Verzicht darauf, öffentlich Morallehren zu verkünden, die mit der Lehre Christi und der katholischen Überlieferung in Einklang stehen? Auch wenn die Lehre nicht unfehlbar definiert wurde, scheint sie gewiß eine unwandelbare Qualität zu besitzen, welche die Kirche sehr genau verkünden sollte, um ein besseres Verständnis der Gründe für die Lehre, der positiven Aspekte der Lehre über die ehelichen Beziehungen und die gegenseitige Liebe der Ehepartner und die Notwendigkeit des Vertrauens auf Gott und seine Gnade und nicht auf das übermäßige Befassen mit materiellen Dingen zustandezubringen. Die Kirche sollte also nicht schweigen, sondern ihre Lehre über die verantwortliche Elternschaft deutlich aussprechen, z. B. was Zahl und Abstand der Geburten angeht, die Kriterien für solche Entscheidungen von seiten der Ehepaare, und ihre entschiedene Ablehnung der Sterilisation und Abtreibung als Regierungsmaßnahmen. Der Einsatz der Kirche hat also zusammenfassend folgende Ziele: 1. Den Schutz der persönlichen oder menschlichen Rechte jedes einzel-

nen im Hinblick auf Fortpflanzung.

2. Den Schutz der Familie vor staatlichen Eingriffen und Zwangsmaß-

nahmen.

3. Die Vermeidung auch subtilen Zwanges, der sich aus einer Regie-

rungsmaßnahme ergibt, die die Kleinfamilie zum Regelfall macht oder begünstigt.

4. Die Achtung des Gewissens derer, die nicht gewillt sind, Familien-

planung aus Steuergeldern zu bezahlen.

5. Die Sicherung eines Klimas, in dem die Kirche weiterhin ihr natürliches Sittengesetz frei von Schmähung und Spott der Gesellschaft oder anderer Gruppen (z. B. Politiker, Intellektuelle, usw.) lehren kann.

6. Die Beteiligung der Regierung an der Erforschung und Entwicklung der Methoden natürlicher Familienplanung. 7. Die Abwehr des Versuchs, die staatliche Politik zur Plattform spezifischer Ideologien zu machen (z. B. sexuelle Befreiung oder "Freiheit der Fortpflanzung"), die - dem heutigen Verständnis nach Homosexualität, Ehebruch usw. einschließt.

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8. Die Sicherstellung, daß es sich bei staatlich geförderter Familienplanung um einen Gesundheitsdienst und nicht ein Wohlfahrtsprogramm handelt und daß dieses nur innerhalb des größeren Zusammenhanges der Sorge um die Gesundheit von Mutter und Kind vor und während der Geburt statthaft ist. 9. Förderung der Forschung auf dem Gebiet der Fortpflanzungsbiologie und verwandten Wissenschaften zur Verbesserung der Zuverlässigkeit natürlicher Familienplanung.

11. Schlußfolgerungen Im Lichte der Stellungnahmen des Hl. Stuhles zur Bevölkerungspolitik und des Überblicks über die Schreiben auf dem Gebiet der ethischen Wertung müssen alle Versuche, eine Bevölkerungspolitik zu führen, die sich auf die menschliche Würde gründet und den menschlichen Bedürfnissen entspricht, folgende Zielsetzungen einschließen: 1. Beim Entwurf einer Bevölkerungspolitik muß der erste Platz der

sozialen und wirtschaftlichen Gerechtigkeit, der internationalen Entwicklung und größeren Bemühungen der entwickelten Länder zur Unterstützung der Entwicklungsländer eingeräumt werden.

2. Bevölkerungspolitik muß ein angemessenes entsprechendes Wachstum und eine Bevölkerungsverteilung fördern, die einer Nation die Durchführung ihrer Entwicklungspolitik ermöglicht. In manchen Fällen ist es für eine Nation wünschenswert und moralisch vertretbar, ihre Bevölkerungszunahme zu bremsen, um mit ihrer Entwicklungsstrategie, ihren Nahrungs- und Wirtschaftsquellen sowie ihrer sozial-wirtschaftlichen Politik Schritt zu halten. 3. Bevölkerungspolitik muß Teil einer umfassenden Politik sozialer Entwicklung sein. Sie muß die Entwicklung ausreichender Mittel für die bestehende Bevölkerung und ihr geplantes Wachstum ins Auge fassen. Jeder Schritt, den die Regierung unternimmt, um die Menschen zur Berücksichtigung ihrer bevölkerungspolitischen Zielsetzungen zu bewegen, muß mit Bemühungen zur Verbesserung der sozialen Bedingungen einhergehen und eine Vielzahl sozialer Möglichkeiten - Beschäftigung, Wohnungen, Gesundheitsfürsorge, Erziehung - für alle Bürger bereitstellen. 4. Bevölkerungspolitik muß die Familie fördern, indem sie der Familie die Verfolgung ihrer eigenen Ziele ermöglicht, während sie ihre Verantwortung der Gesamtgesellschaft gegenüber erfüllt. 5. Bevölkerungspolitik muß dem einzelnen Ehepaar die entsprechende Freiheit bewahren, die von ihm gewünschte Zahl von

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Kindern zur Welt zu bringen und zu erhalten. Es ist die positive Pflicht des Staates, für Verhältnisse zu sorgen, die Zwangsmaßnahmen zur Beschränkung der Größe der Familie überflüssig machen. 6. Wenn Bevölkerungspolitik Erziehung und Hilfe bei der Familienplanung einbezieht, darf sie nur solche Mittel der Familienplanung einschließen, die mit dem Sittengesetz und der Würde der menschlichen Person in Einklang stehen. Sterilisation muß als Methode der Familienplanung ausgeschlossen bleiben. Die Annahme einer Hilfe bei der Familienplanung muß freiwillig bleiben, jeder Zwang muß gesetzlich verboten werden, besonders was die Armen betrifft, die nur allzu oft Zielscheibe der Familienplanungsprogramme sind. 7. Der Schutz des Rechts auf Leben in allen Stadien, besonders im Hinblick auf das Leben der Ungeborenen und der Alten, muß in jede Bevölkerungspolitik aufgenommen werden. Euthanasie und Abtreibung als Mittel der Bevölkerungskontrolle sind zu verbieten. 8. Bevölkerungspolitik muß die Forschung in allen Phasen des Familienlebens und die Untersuchung der Auswirkungen sozialer Trends auf die Familie sein. Geldmittel müssen auch bereitgestellt werden für die demographische Forschung und die wissenschaftliche Arbeit, die zur Entwicklung sicherer und sittlich einwandfreier Methoden der Familienplanung führen soll. g. Bevölkerungspolitik muß eine große Auswahl von Gesundheitsdiensten für Mutter und Kind vor der Geburt sowie für Kinderheilkunde und Ernährungsfürsorge bereitstellen. 10. Zur Förderung der Familien muß Bevölkerungspolitik auch Hilfsund Beratungsdienste einschließen, wie Erziehung zu menschlicher Sexualität, in Ehe- und Familienleben, voreheliche und eheliche Beratung.

LEBENSLAUF

Opilio Rossi wurde am 14. Mai 1910 in New York von italienischen Eltern (Angelo und Davidina Ciappa) geboren. Nach Italien zurückgekehrt, begann er seine ersten Studien im Collegium Alberoni in Piacenza (in welche Diözese er inkardiniert worden war), dem solche später in Rom am Juridischen Institut von S. Appolinare folgten, wo er das Doktorat des kanonischen Rechts mit einer Dissertation über den hl. Basilius erwarb. Am 11. März 1933 wurde er zum Priester geweiht und setzte dann seine Ausbildung an der Päpstlichen Diplomatenakademie (Pontificia Accademia Ecclesiastica) fort. Nach deren Abschluß wurde er vom damaligen Substituten Msgr. Giovanni Montini in das Staatssekretariat berufen, wo er im September 1937 als Attache eintrat. Im folgenden Jahr wurde er als Sekretär an die Nuntiatur in Brüssel gesandt, die damals vom späteren Kardinal Clemente Micara geleitet wurde. Im September 1939 wurde er an die Apostolische Nuntiatur in Haag versetzt. Vom Juli 1940 bis 1945 war Msgr. Rossi Uditore der Päpstlichen Vertretung in Berlin, geleitet von Erzbischof Cesare Orsenigo. Ende 1945 kehrte er an die Nuntiatur in den Niederlanden zurück, wo er ein Mitarbeiter des späteren Kardinals Paolo Giobbe war. Zwischen 1948 und 1951 gehörte er der Päpstlichen Mission in Deutschland an, die von Msgr. Luigi Muench geleitet und später in den Rang einer Nuntiatur erhoben wurde, welcher Msgr. Rossi als Nuntiaturrat angehörte. Am 21. November 1953 wurde er zum Titularerzbischof von Ancira (Ankara) und gleichzeitig zum Apostolischen Nuntius in Ekuador ernannt. Er leitete die Nuntiatur in Quito bis 1959. Am 25. März dieses Jahres wurde er zur Leitung der Apostolischen Nuntiatur in Santiago de Chile berufen. Am 23. September 1961 ernannte ihn Papst Johannes XXIII. nach dem plötzlichen Tod des damaligen Wiener Nuntius, Erzbischof Giovanni Dellepiane, zum Leiter der Apostolischen Nuntiatur in Wien, wo er bis zu seiner Erhebung zum Kardinal bleiben sollte.

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Lebenslauf

In den fünfzehn Jahren seines Wirkens als Apostolischer Nuntius in Österreich hat Opilio Rossi der Entwicklung der Beziehungen zwischen dem Heiligen Stuhl und Österreich besondere Impulse gegeben. Eine Reihe von Konkordatszusatzverträgen wurden von ihm geschlossen, darunter die beiden Schulverträg,e, di'e Verträge zur Errichtung der Diözesen Innsbruck und Feldkirch sowie zwei Zusatzverträge zum Vermögensvertrag. Die unermüdliche Aktivität von Opilio Rossi kam im Laufe seiner langen Karriere nicht nur im diplomatischen Bereich, sondern ebenso auch auf dem Gebiet der Seelsorge zum Ausdruck. "Der Nuntius", so sagte er, "ist das Bindeglied der doppelten Funktion eines Vertreters des Heiligen Vaters bei der Ortskirche einerseits und bei der Regierung andererseits. Aber alle Aktivität der Kirche hat als letztes Ziel die Seelsorge in des Wortes ursprünglicher Bedeutung." Anfang 1976 wurde Opilio Rossi von Papst Paul VI. zum Kardinal kreiert und im öffentlichen Konsistorium vom 24. Mai publiziert. Der Papst verlieh ihm die Diakonie S. Maria Liberatrice a Monte Testaccio. Kurze Zeit später wurde Opilio Kardinal Rossi zum Präsidenten des Päpstlichen Laienrates und des Päpstlichen Familienkomitees ernannt. Er ist auch Mitglied der Kongregation für die Bischöfe, für die Sakramente und den Gottesdienst sowie für die Glaubensverbreitung. Unter Opilio Kardinal Rossi hat der Päpstliche Laienrat, mit dem 1978 durch die Apostolische Konstitution Apostolatus Peragendi das Päpstliche Familienkomitee verbunden wurde, seine besondere Aufmerksamkeit den Kontakten mit dem Weltepiskopat gewidmet. Abgesehen von den regelmäßigen Kontakten zwischen ihm und jenen Bischöfen, die zu ihren ad limina-Besuchen nach Rom kommen, hat der Rat ein Treffen der für die Laienpastoral in Lateinamerika verantwortlichen Bischöfe 1979 in Bogota organisiert und plant ein entsprechendes Treffen für Europa in Wien 1981. In ähnlicher Weise wurden auch die Beziehungen zwischen dem Päpstlichen Laienrat und den verschiedenen Internationalen Katholischen Organisationen intensiviert. So nahm Opilio Kardinal Rossi an einer Tagung des Komitees dieser Organisationen in Freiburg/Schweiz im April 1978 teil und präsidierte auch dem ersten Treffen der Internationalen Kirchlichen Assistenten, das in Rom im Dezember 1979 stattfand, um die gegenwärtige und zukünftige Rolle dieser den Laienvereinigungen beigegebenen Assistenten zu durchleuchten. Opilio Kardinal Rossi leitete auch in Zusammenarbeit mit dem Sekretariat für die nichtchristlichen Religionen die Arbeitsgruppe zur Be-

Lebenslauf

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handlung der Frage der Teilnahme von Nichtchristen an verschiedenen katholischen Bewegungen, besonders in Asien. Im März 1980 organisierte der Rat eine einwöchige Tagung über die Entwicklung der Laienspiritualität. Dies war der vielleicht erste Versuch, ein wichtiges Vermächtnis des Zweiten Vatikanums weiterzuentwickeln und sich dabei die Erfahrung von mehr als einem Dutzend internationaler Bewegungen und Organisationen nutzbar zu machen. Opilio Kardinal Rossi nahm auch an den Versammlungen verschiedener Internationaler Katholischer Organisationen und sonstigen wichtigen Ereignissen der Laienbewegungen in den einzelnen Ländern teil, wie an der Internationalen Konferenz Katholischer Juristen 1979 in Manila und am Deutschen Katholikentag in Berlin im Juni 1980. Als Präsident des Päpstlichen Familienkomitees nahm Opilio Kardinal Rossi am Symposion der Bischofskonferenzen von Afrika und Madagaskar zum Thema "Die christliche Familie in Afrika" teil, das im Juli 1978 in Nairobi stattfand; desgleichen am Europäischen Familienkongreß im Oktober 1978 in Wien. Der Vortrag, den er auf Einladung des Landesverbandes Bayern des Familienbundes der Deutschen Katholiken zu dessen 25. Stiftungszubiläum hielt, wurde unter dem Titel "Familie und Weltkirche" (Bamberg, 1978) publiziert. Der Umstand, daß die Bischofssynode 1980, an deren Vorabend das vorliegende Werk erscheint, von Papst Johannes Paul II. die Familie zum Gegenstand ihrer Beratungen erhalten hat, zeigt, daß Opilio Kardinal Rossi in einem Bereich der Weltkirche in leitender Funktion tätig ist, dem besondere Aktualität und wohl auch für die Zukunft von Kirche und Welt große Bedeutung zukommt.

HERAUSGEBER- UND MITARBEITERVERZEICHNIS

Shin Anzei, Dr., o. Professor an der Sophia-Universität, Tokio/Japan Heribert Berger, Dr., o. Professor an der Universität Innsbruck und Vorstand der Universitätsklinik für Kinderheilkunde, Innsbruck Wendelin Ettmayer, Dr., Stv. Generalsekretär des Österreichischen Arbeiter- und Angestelltenbundes, Abgeordneter zum Nationalrat der Republik Österreich, Wien Alfans Fleischmann, Dr., Prälat, emer. o. Professor an der Universität Eichstätt Hans Franc, Direktor, Obmann des Österreichischen Wohlfahrtsdienstes, Wien Rosemary Goldie, Dr., Professor an der Päpstlichen Lateranuniversität, Konsultor des Päpstlichen Laienrates, Rom Ehrentraud Hagleitner, geb. Kolb, Hausfrau, Bregenz Willi Hagleitner, Kaufmann, Obmann des Vorarlberger Familienverbandes, Bregenz Otto Herz, D.D. and Litt.D.h.c., Dkfm., Beauftragter der Jüdischen Brudergemeinschaft Bnai Brith für den jüdisch-christlichen Dialog, Herausgeber der Schriftenreihe der Europäischen A.D.L. Kommission

Johannes Hirschmann, SJ, Dr., emer. a. o. Professor an der PhilosophischTheologischen Hochschule St. Georgen, Frankfurt/Main Hans Walther Kaluza, Dr., Rat des Bundesamtes für Eich- und Vermessungswesen, Universitätslektor an der Universität für Bodenkultur, Wien, Präsident der Arbeitsgemeinschaft Katholischer Verbände Österreichs, Wien Walter Kirchschläger, Dr., Leiter der Wien er Theologischen Kurse und des Fernkurses für theologische Bildung, Wien Heribert Franz Köck, Dr., M. C. L., Professor an der Universität Wien und an der Wiener Diplomatischen Akademie; Rechtsberater der Ständigen Vertretung des Heiligen Stuhls bei den internationalen Organisationen in Wien

Ernst Kolb t, Dr., emer. o. Professor an der Universität Innsbruck, Bundesminister für Handel und Wiederaufbau sowie Bundesminister für Unterricht a. D., Landesstatthalter von Vorarlberg a. D., Mitglied des Bundesrates der Republik Österreich a. D.

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Herausgeber- und Mitarbeiterverzeichnis

Franz König, DDr., Kardinal, Erzbischof von Wien, Präsident des Päpstlichen Sekretariats für die Nichtgläubigen (1965 - 1980) WiZheZm Korab, Dkfm., Dr., Sektionschef in der österreichischen Präsidentschaftskanzlei, Wien Friedrich Kronenberg, Dr., Generalsekretär des Zentralkomitees Deutscher Katholiken, Bad Godesberg Alfred Mascarenhas, Dr., MBBS, MS, FRCS, Professor und Leiter des Chirurgischen Instituts am St. John's College, Nationalsekretär der Familienkommission der Katholischen Bischofskonferenz Indiens und Direktor des Familienwohlfahrtszentrums, Bangalore/Indien Marie Mignon Mascarenhas, Dr., MBBS, DPH, MFCMRCP, FRIPHH (Eng.), Direktor des Zentrums für Forschung, Erziehung, Dienste und Ausbildung in Familienförderung (CREST - Centre for Research Education Services & Training in Family Life Promotion), Assoziiertes Mitglied der Familienkommission der Katholischen Bischofskonferenz Indiens und Konsultor der Weltgesundheitsorganisation für Bevölkerungserziehung und Natürliche Familienplanung, Bangalorel Indien James T. McHugh, Msgr., Mitglied des Päpstlichen Laienrates und des Päpstlichen Familienkomitees, Rom

Johannes Messner, DDr., Dr. h. c. mult., Prälat, emer. o. Professor an der Universität Wien PauZ Mikat, Dr., o. Professor der Universität Bochum, Kultusminister a. D., Mitglied des Deutschen Bundestages, Präsident der GörresGesellschaft zur Pflege der Wissenschaft AZois Mock, Dr., Bundesminister für Unterricht a. D., Abgeordneter zum Nationalrat der Republik Österreich, Bundesparteiobmann und Obmann des Parlamentsklubs der Österreichischen Volkspartei, Wien Josef Müller, Kammerrat, Stv. Vorsitzender der Gewerkschaft der Bauund Holzarbeiter im Österreichischen Gewerkschaftsbund, Vorsitzender der katholischen Arbeitnehmerbewegung Österreichs, Wien Augustine Ndeukoya, Generalsekretär der Bischofskonferenz von Tanzanien Pia Maria PZechZ, Dr., Journalistin, Mitglied des Päpstlichen Laienrates, Wien Robert Prantner, DDr., Dozent, ao. Gesandter und bev. Minister, Geschäftsträger der Botschaft des Souveränen Malteser-Ritter-Ordens in Österreich, Wien David Regan, Fr., B. A., Lic. theol., Assessor der Brasilianischen Nationalen Bischofskonferenz für den Familienbereich, Brasilia

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Gottfried Roth, Dr., Oberarzt, Famarzt für Neurologie und Psychiatrie, Universitätslektor für Pastoralmedizin an der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Wien, Hauptschriftleiter der Vierteljahrsschrift "Arzt und Christ", Wien Antonio Samore, DDr., Kardinal, Bibliothekar und Archivar der Heiligen Römische Kirche, Rom Herbert Schambeck, Dr., o. Professor an der Universität Linz, Stv. Vorsitzender und ÖVP-Fraktionsobmann des Bundesrates der Republik Österreich, Wien Johannes Schasching, SJ, Dr., o. Professor an der Päpstlichen Universität Gregoriana, Rom Helmuth Schattovits, Dipl.-Ing., Dr., Assistent an der Technischen Universität Wien, Präsident des Katholischen Familiverbandes Österreichs (1970 - 1978), Vorstandsmitglied der EIUFO, Wien Audomar Scheuermann, Dr., Prälat, emer. o. Professor an der Universität München, Vizeoffizial des Metropolitangerichts München, Erster Vizepräsident des Bayerischen Senats, München Bartolomeo Sorge, SJ, Dr., Chefredakteur der Zeitschrift ,La Civilta Cattolica', Rom Jessie Tellis-Nayak, Dr., Programm-Direktor des Frauenentwicklungsprogramms des Indischen Sozialinstituts und Mitglied des Päpstlichen Rates Cor Unum, New Delhi, Indien Mutter Teresa, Generaloberin der Kongregation "Missionaries of Charity", Calcutta/Indien Gustav Voss, SJ, M. A., Gründer und Direktor des Eikö-Gymnasiums in Kamakura/Japan und Präsident der Gesamtjapanischen Föderation Katholiscll.er Schulen Wolfgang Waldstein, Dr., o. Professor an der Universität Salzburg Rudolf Weiler, DDr., Msgr., o. Professor an der Universität Wien Eugeniusz Weron, SAC, Dr., Professor am Priesterseminar in Oltarzew und am Akademischen Studium in Warschau, Mitglied der Bischöflichen Kommission für Laienapostolat in Polen, Redakteur der Zeitschrift "Collectanea Theologica"