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German Pages 308 [316] Year 2017
Sprachgeschichte und Medizingeschichte
Lingua Historica Germanica
Studien und Quellen zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur Herausgegeben von Stephan Müller, Jörg Riecke, Claudia Wich-Reif und Arne Ziegler
Band 16
Gesellschaft für germanistische Sprachgeschichte e.V.
Sprachgeschichte und Medizingeschichte
Texte – Termini – Interpretationen Herausgegeben von Jörg Riecke
ISBN 978-3-11-051728-6 ISBN (Ebook) 978-3-11-052475-8 ISBN (Epub) 978-3-11-052468-0 ISSN 2363-7951 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Jörg Riecke Zur Einleitung | 1 Bernhard Schnell Die deutsche Medizinliteratur des Mittelalters. Vorüberlegungen zu einer historischen Darstellung | 3 Stefanie Stricker, Annette Kremer, Vincenz Schwab Die Leges barbarorum als Quelle der Medizingeschichte? | 21 Jürgen Wolf Medizinisches im Handschriftencensus – Zugänge, Fragestellungen, Hilfsmittel, Optionen, Zukunftsprojektionen | 37 Lenka Vˇanková Krankheitsbezeichnungen in der Chirurgia des Juden von Salms | 47 Lenka Vodrážková Konrad von Megenberg: Das Buch der Natur. Zu einer Handschrift aus Prag. | 63 Ortrun Riha Die deutsche medizinische Fachsprache des Mittelalters am Beispiel des Arzneibuchs Ortolfs von Baierland (um 1300) | 81 Melitta Weiss Adamson Medizinische Fachtermini im Arzneibuch von Cgm 415 der Bayerischen Staatsbibliothek in München | 97 Kathrin Chlench-Priber Ein Gebet wider die plag der malefrantzoß | 113 Anja Lobenstein-Reichmann Medizinisches im Frühneuhochdeutschen Wörterbuch (FWB) | 131 Wilhelm Kühlmann Materia medica als Problem. Sprachdiskussion und Lexikographie im Paracelsismus | 155
VI | Inhalt
Johannes Gottfried Mayer Fachterminologie und Übersetzungsstil im Leipziger Drogenkompendium und im Gart der Gesundheit, den größten deutschsprachigen Kräuterbüchern des 15. Jahrhunderts | 183 Ágnes Kuna Die sprachlichen Muster von Anweisungen in ungarischen medizinischen Rezepten des 16.–17. Jahrhunderts | 195 Józef Wiktorowicz Medizinisches Wissen in einem populärwissenschaftlichen Buch über den Kaffee aus dem Jahr 1686 | 211 Rainer Hünecke Das hundertjährige Alter. Medizinische Ratgeber aus dem 18. Jahrhundert | 217 Bettina Lindner In arte medica & chirurgica gegrndet - Medizinische Berichte des 18. Jahrhunderts in Handschrift und Druck | 235 Jörg Meier Medizinische Sprache in historischer Werbung | 253 Thomas Gloning Ein digitales Wörterbuch-System zur älteren Medizin. Textkorpus, Darstellungsformen, Kollaborationsformate | 275 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren | 299
Jörg Riecke
Zur Einleitung Nachdem sich der von Lenka Vˇanková ins Leben gerufene Arbeitskreis für Fachprosaund Fachsprachenforschung erstmals im Dezember 2011 in Ostrava getroffen hatte,1 schloss sich im November 2015 die hier dokumentierte Heidelberger Tagung zu einem der zentralen Bereiche dieser Forschungsrichtung an. Sie stand unter der Überschrift „Sprachgeschichte und Medizingeschichte. Texte – Termini – Interpretationen“ und sollte am Beispiel medizinischer Texte und Kontexte die in Ostrava diskutierte WiederAnnäherung von Fachprosaforschung und Fachsprachenforschung weiter vertiefen. Heidelberg schien dafür ein gut geeigneter Standort zu sein. Hier hatte Joseph Görres 1807 mit seiner Ausgabe Die teutschen Volksbücher. Nähere Würdigung der schönen Historien-, Wetter- und Arzneybüchlein, welche theils innerer Werth, theils Zufall, Jahrhunderte hindurch bis auf unsere Zeit erhalten hat eine erste Edition historischer Fachtexte vorgelegt. Gut 150 Jahre später konnte Gerhard Eis die Fachprosaforschung in Heidelberg zu einem wichtigen germanistischen Forschungszweig ausbauen. Sein umfangreicher Nachlass ist bis heute nicht vollständig ausgewertet. Auch mit dem Deutschen Rechtswörterbuch entsteht an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften ein umfangreiches Wörterbuch, das eine historische Fachsprache dokumentiert – ein vergleichbares Unternehmen wurde für die Medizin leider nie begonnen. In der Gegenwart setzte das „Internationale Wissenschaftsforum Heidelberg (IWH)“, das die Tagung in sein Programm aufgenommen hat, den Gesprächen einen angenehmen Rahmen, in dem sich der Gedankenaustausch entfalten konnte. Dies gelang auch deshalb, weil die germanistische Kompetenz der Teilnehmerinnen und Teilnehmer durch das gewichtige medizinische Wissen von Wolfgang U. Eckart (Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universität Heidelberg) als Mitveranstalter und Ortrun Riha (Karl-Sudhoff-Institut für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften, Universität Leipzig) erweitert wurde. Wilhelm Kühlmann hat als Heidelberger Literaturwissenschaftler und Frühneuzeitforscher die Tagung mit einem Abendvortrag zur „Materia Medica im Umkreis des Paracelsismus“ eröffnet. Ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis lässt das Ziel erkennen, die Traditionen medizinischer Texte im deutschen Sprachgebiet in zeitlicher und räumlicher Hinsicht – über das heutige deutsche Sprachgebiet hinaus – nachzuzeichnen. Bernhard Schnell leitet den Band mit einem Überblick über die deutsche Medizinliteratur von den Anfängen bis 1400 ein. Es schließen sich Beiträge zu Einzeltexten und Text-
1 Siehe dazu Lenka Vˇanková (Hrsg.), Fachtexte des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit. Tradition und Perspektiven der Fachprosa- und Fachsprachenforschung (Lingua Historica Germanica 7), Berlin 2014. DOI 10.1515/9783110524758-001
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gruppen, aber auch zu Hilfsmitteln wie dem Handschriftencensus (Jürgen Wolf) und dem Frühneuhochdeutschen Wörterbuch (Anja Lobenstein-Reichmann) an, die deren kulturgeschichtliche Bedeutung sichtbar machen. Die im 18., 19. und 20. Jahrhundert angesiedelten Texte zeigen zudem, dass die historische Fachsprachenforschung nicht zuletzt im älteren und jüngeren Neuhochdeutschen noch viele reizvolle Aufgaben vor sich hat. Auch wenn nicht alle Vorträge für den Sammelband zur Verfügung gestellt werden konnten – so fehlt etwa der Beitrag von Frau Squires zu den medizinischen Handschriften in der Universitätsbibliothek Moskau, dafür hat Agnes Kuna (Budapest) freundlicherweise nachträglich einen Text zu ungarischen medizinischen Rezepten zur Verfügung gestellt –, macht der Sammelband wie schon zuvor die Tagung die europäische Dimension des Themas deutlich. Schließlich fehlt auch die schriftliche Fassung des Vortrags meiner ehemaligen Studentin Ann-Kathrin Löffler zum medizinhistorischen Wörterbuch Max Höflers; die dem Vortrag zu Grunde liegende Wissenschaftliche Arbeit Max Höflers Krankheitsnamenbuch. Entstehung, Entwicklung, Analyse kann aber in Heidelberg eingesehen werden.2 Vom seinerzeit sehr verdienstvollen Wörterbuch Höflers richtet sich der Blick auf Fragen zu einem heute möglichen Umgang mit medizinischen Texten und Termini. Mit Thomas Glonings Frage „Wie kann ein modernes Dokumentationssystem zum deutschen Sprachgebrauch der Medizin von den Anfängen bis zur Gegenwart aussehen?“ und seinen Lösungsvorschlägen zum Textcorpus, den Darstellungsformen, Kollaborationsformaten und wissenschaftsgeschichtlichen Bezügen schließt der Band. Allen beteiligten Personen und Institutionen sei herzlich gedankt, besonders der DFG, durch deren großzügige finanzielle Unterstützung die Tagung überhaupt erst möglich wurde. Dank gilt nicht zuletzt Janine Luth für die Organisation und Kerstin Roth für die redaktionelle Bearbeitung der nun vorliegenden Texte. Heidelberg, im Februar 2017
2 Zu Höfler siehe auch: Jörg Riecke (2014): Über die Anfänge der Geschichte deutscher medizinhistorischer Wörterbücher im 19. Jahrhundert. In: Michael Prinz, Hans-Joachim Solms (Hrsg.): vnuornemliche alde vocabulen – gute brauchbare wörter. Zu den Anfängen der historischen Lexikographie. Hans Ulrich Schmid zum 26. Dezember 2012. Zeitschrift für deutsche Philologie. Sonderheft zu Band 132 (2014), 299–316; sowie ders. (2016): Vom Nutzen eines neuen medizinhistorischen Wörterbuchs. In: Anja Lobenstein-Reichmann, Peter O. Müller (Hrsg.): Historische Lexikographie zwischen Tradition und Innovation. (Studia Linguistica Germanica 129) Berlin/Boston 2016, 239–249.
Bernhard Schnell
Die deutsche Medizinliteratur des Mittelalters. Vorüberlegungen zu einer historischen Darstellung Wer sich über die deutsche Medizinliteratur des Mittelalters informieren will, wer etwa wissen will, welche Texte in den verschiedenen Jahrhunderten, sei es im 11. oder im 14. Jahrhundert, verfasst und überliefert wurden, welche Textsorten es überhaupt gibt und welche Werke dazu gehören, aus welcher Zeit beispielsweise der erste Aderlasstraktat in deutscher Sprache stammt, oder von wem und in welcher Region die Werke geschrieben und rezipiert wurden, steht vor einem großen Problem.1 Es gibt keinen Beitrag, schon gar kein Handbuch, das Antworten auf diese Fragen zu geben vermag. Weder die Geschichten der Medizin noch die Deutschen Literaturgeschichten bieten dafür eine Hilfe. Kein Wunder, da sowohl im Fach Geschichte der Medizin als auch in der Älteren deutschen Literaturwissenschaft deutsche medizinische Texte des Mittelalters nicht im Zentrum des Interesses stehen und bestenfalls am Rande behandelt werden. Den Forschungsstand in den beiden Fächern zu skizzieren, erspare ich mir. Ein umfassendes Verzeichnis der deutschen medizinischen Texte des Mittelalters, das auf dem heutigen Forschungsstand ist, gibt es nicht. Dabei hatte schon Karl Sudhoff, der 1906 in Leipzig das erste medizinhistorische Institut gegründet hatte und ein wahrer Kenner der mittelalterlichen Medizinliteratur war, diesen Traum gehabt. 1910 legte er auf 30 Seiten eine erste Zusammenstellung aller bis dahin publizierten deutschsprachigen medizinischen Texte des Mittelalters vor, insgesamt 50 Werke aus dem hoch-, mittel- und niederdeutschen Sprachraum sowie mittelniederländische, altnordische, alt- und mittelenglische Texte (Sudhoff: 1910). Nach seinen eigenen Worten stellte dieses Verzeichnis jedoch nur eine „Vorstudie“ dar. Sein erklärtes Ziel war, „[e]in zuverlässiges Verzeichnis aller erreichbaren mittelalterlichen, medizinischen Handschriften, sowohl in lateinischer, wie in romanischer, germanischer und slawischer Sprache bis zum Jahr 1500“ zu erstellen (Sudhoff 1910: 274). Dieses großgesteckte Ziel, noch dazu bei den damals kaum erschlossenen Handschriftenbeständen, blieb eine Wunschvorstellung und ist bis heute ein Desiderat der Forschung. Meine geplante Monographie ist der erste Versuch, die deutsche Medizinliteratur des Mittelalters in ihrer ganzen Breite und Vielfalt zu beschreiben. Sie soll sich sowohl an Philologen als auch an Medizinhistoriker richten, die sich für diese Epoche
1 Der vorliegende Beitrag nimmt Überlegungen vorweg, die ich in meiner im Entstehen begriffenen Geschichte der deutschen Medizinliteratur des Mittelalters weiter verfolge. DOI 10.1515/9783110524758-002
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interessieren. Gegenstand der Darstellung sind die uns überlieferten Texte, nicht der gesamte medizinische Diskurs. Sie sollte also nicht mit einer Geschichte der Medizin im Mittelalter verwechselt werden, in der vor allem die antiken und spätantiken griechischen und lateinischen Autoren und deren arabische Rezeption im Zentrum stehen müssten, welche die Grundlagen des medizinischen Wissens im Mittelalter schufen. Außerdem müssten hier auch nicht-schriftliche Quellen wie etwa Gegenstände, medizinische Instrumente oder Dinge aus dem medizinischen Alltag, Darstellungen in der Kunst sowie Befunde der Architektur oder von Ausgrabungen berücksichtigt werden. In diesem Beitrag möchte ich meinen methodischen Ansatz und mein Vorgehen vorstellen.
1 Die Begriffe ‚deutsch‘ – ‚Medizinliteratur‘ – ‚Mittelalter‘ Unter dem Stichwort ‚deutsche Literatur‘ verstehe ich Literatur in deutscher Sprache, nicht Literatur aus dem deutschen Raum und schon gar nicht Literatur aus einem wie auch immer gestalteten deutschen Herrschaftsbereich. Das medizinischnaturkundliche Schrifttum Hildegards von Bingen beispielsweise, vermutlich auf dem Rupertsberg bei Bingen verfasst, behandle ich nicht, da es in lateinischer Sprache abgefasst ist, die deutsche Rezeption, seien es deutsche Teilübersetzungen oder deutsche Exzerpte daraus, aber schon. Obwohl im Mittelalter unter den Begriff ‚deutsch‘ auch das Niederländische zählt, habe ich dieses nach dem Vorbild des Verfasserlexikons in meiner Untersuchung ausgeklammert. Wenn auch der Übergang vom Niederländischen bzw. Mittelniederländischen zum Niederdeutschen bzw. Mittelniederdeutschen fließend verläuft und die Trennung manchmal nicht leicht fällt, habe ich, nicht zuletzt wegen der großen Schwierigkeit bei der Beschaffung der notwendigen Literatur, darauf verzichtet. Dies lässt sich umso eher vertreten, als die mittelniederländische Medizinliteratur durch das grundlegende Repertorium von Ria Jansen-Sieben (1987) relativ gut aufgearbeitet wurde. Als Sonderfall habe ich die rhein-maasländische Schreiblandschaft betrachtet und das einzige Werk aus diesem Gebiet bis 1300, die Limburgischen Monatsregeln, aufgenommen. Dieser Text fehlt in der von Thomas Bein (2006) stammenden Übersicht zu den medizinischen Fachtexten aus dem Rhein-Maas-Raum, die in dem jüngst von Helmut Tervooren herausgegebenen Handbuch erschienen ist.2 Den Begriff ‚medizinisch‘ fasse ich sehr weit. Zum medizinischen Schrifttum zähle ich alle Texte, die Gesundheit und Krankheit von Mensch und Tier zum Gegenstand haben: also Schriften zur medizinischen Theorie, Texte zur Vorsorge, Untersuchung,
2 Den Hinweis verdanke ich Thomas Klein (Bonn).
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Behandlung bis hin zur Prognose gehören ebenso dazu wie Schriften über die Wirkung der Heilmittel und deren Herstellung. Einbezogen werden ferner Grenzbereiche, die wir heute als paramedizinische Praktiken einstufen, wie heilkundliche Zauber und Segen, sowie medizinisch-astronomische bzw. medizinisch-astrologische Schriften. Aufgenommen habe ich ferner Schriften, die sich im weitesten Sinne mit dem Gesundheitswesen beschäftigen, wie etwa die kaum bekannte Eichstätter Spitalordnung aus dem 13. Jahrhundert. Schließlich werde ich auch lateinisch-deutsche Vokabulare mit medizinisch-pharmazeutischem Wortschatz einbeziehen, die bislang kam untersucht wurden. Ausgeklammert werden dagegen Glossen, d. h. punktuelle deutsche Erläuterungen zu einer lateinischen Schrift, und in der Regel Einzelrezepte, abgesehen von den sehr frühen. Was die Glossen anbelangt, so sind speziell die Glossen aus der Frühzeit des Deutschen, dem Althochdeutschen, durch die zweibändige Habilitationsschrift von Jörg Riecke bestens erfasst (Riecke 2004). Über die zeitlichen Grenzen des Mittelalters gibt es in der Forschung eine rege Diskussion, die je nach Fach anders beantwortet wird. Ich halte mich auch hier ganz pragmatisch an den Usus des Verfasserlexikons. Unter ‚Mittelalter‘ verstehe ich die Zeit von der ersten Aufzeichnung deutscher Texte um 800 bis etwa 1480. Jedoch werden Texte aus dem letzten Viertel des 15. Jahrhunderts und dem ersten Viertel des 16. Jahrhunderts in die Planung miteinbezogen, um die endgültige Entscheidung, wie man mit dieser Übergangszone letztendlich verfährt, offen zu halten.
2 Die Überlieferungsgeschichte als methodischer Ansatz Als gewinnbringender Zugang für die Erschließung volkssprachiger Literatur hat sich der überlieferungsgeschichtliche Ansatz erwiesen, der besagt, dass jede Beschäftigung mit Literatur vom Überlieferungsbefund, d. h. von der Handschrift, die den Text tradiert, ausgehen soll. Diese überlieferungsgeschichtlich orientierte Methode der Texterschließung und Literaturgeschichte, die eng mit den Namen Hugo Kuhn3 und vor allem Kurt Ruh4 verbunden ist, hat die Interpretation von Überlieferungsbefunden ermöglicht und damit erst eine seriöse Literatursoziologie und die mediävistische Rezeptionsforschung mit ihrem bildungs- und sozialgeschichtlichen Interesse entwickelt.5 Die Handschriften sind nicht nur die wichtigsten Zeugen für die mittelalterliche Literatur, sondern sie sind auch der einzige direkte Zugang zu dieser Literatur und
3 Vgl. etwa Kuhn (1980). 4 Grundlegende Beiträge enthält z. B. der von Kurt Ruh (1985) herausgegebene Sammelband: Überlieferungsgeschichtliche Prosaforschung. Beiträge der Würzburger Forschergruppe zur Methode und Auswertung. 5 Vgl. dazu Fromm (1983: 116).
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zur Literatursituation der Zeit. Aus diesen Gründen kommt den Handschriften in ihrer Geschichtlichkeit eine völlig neue Wertschätzung zu.6 Die einzelne Handschrift wird nicht mehr als verdorbene Abschrift eines unbedarften Schreibers gescholten, der kein Eigenwert zukommt, sondern ist eine Größe sui generis, die mehr ist als ein Hilfsmittel auf dem Weg zurück zum Autor (vgl. Fromm 1976: 50). Was an ganz unterschiedlichen Gattungen mittelalterlicher Gebrauchsliteratur erfolgreich erprobt wurde,7 soll zur methodischen Grundlage für die Beschäftigung mit den medizinischen Denkmälern des Mittelalters werden. Der Überlieferungsbefund soll daher bei allen behandelnden Werken an erster Stelle stehen und einen ersten Schlüssel sowohl zur Texterschließung als auch zum Textverständnis liefern. Die medizinischen Handschriften bilden deshalb den Ausgangspunkt meiner Geschichte. Nach dem Vorbild von Hugo Kuhn (1980) habe ich schon vor vielen Jahren versucht, die deutschen Medizinhandschriften für jedes Jahrhundert zu erfassen. Für das 12. und 13. Jahrhundert konnte ich bisher dazu Studien vorlegen.8
3 Die Grundlage meiner Untersuchung Ausgangspunkt meiner Zusammenstellung war das Verfasserlexikon. Durch das Kopieren der einschlägigen Artikel hatte ich mir als erstes ein „Medizinisches Verfasserlexikon“ angelegt und dieses zunächst chronologisch, d. h. grob nach Jahrhunderten, angeordnet. Die zweite Hauptquelle bildet der in Marburg initiierte und bis heute fortgeschriebene Handschriftencensus, der die umfassendste Bestandsaufnahme der handschriftlichen Überlieferung deutschsprachiger Texte des Mittelalters bietet. Dieses grundlegende und unentbehrliche elektronische Hilfsmittel listet u. a. alle in der Datenbank bisher erfassten Textzeugen auf. Die dritte Hauptquelle stellt schließlich die Auswertung der in den letzten Jahrzehnten erschienenen Handschriftenkataloge dar. Sie wurden im Verfasserlexikon, was die medizinischen Texte anbelangt, ganz offensichtlich nicht systematisch ausgewertet. Außerdem wurden viele Kataloge erst nach dem Erscheinen des Verfasserlexikons publiziert.
6 Auf die Bedeutung der Handschriften für die Erforschung der mittelalterlichen Literatur hat Gerhard Eis (dem unstreitig das größte Verdienst um die Erforschung der Fachprosa zukommt) in zahlreichen Aufsätzen aufmerksam gemacht. Hingewiesen sei z. B. nur auf seinen Sammelband Forschungen zur Fachprosa (1971). 7 Vgl. dazu Kurt Ruh (1985: 262–272). 8 Zur Medizinliteratur des 12. Jahrhunderts siehe Schnell (1994) und Schnell (2003a) zum 13. Jahrhundert.
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4 Zum Stand der Texterschließung Wohl das größte Problem beim Schreiben dieser Geschichte der deutschen Medizinliteratur ist das Fehlen von Textausgaben. Besonders aus dem 14. Jahrhundert, das generell bisher meist nur am Rande der Forschung stand, sind viele Texte gar nicht bzw. nur mangelhaft erschlossen. Fast gänzlich fehlt noch der Abdruck der neu verbuchten Fragmente aus dem 13. und 14. Jahrhundert. Aber auch Altbekanntes muss überprüft und zum Teil neu herausgegeben werden, wie beispielsweise Wilhelms (1914/16) Denkmäler des 11. und 12. Jahrhunderts. Hier ist besonders das Problem, dass man heute manche Lesungen von Wilhelm im Grunde nicht mehr teilen kann. In nicht wenigen Fällen lässt sich eine gesicherte Grenze zwischen handschriftlichem Befund und Interpretation nicht mehr ziehen.9 Selbst Steinmeyers Ausgabe der Basler Rezepte (1916: 39) ist nicht perfekt. Zwar dachte er, als er die Lesart „weicher Weihrauch“ der Handschrift kurzer Hand in „weißen Weihrauch“ korrigierte, eigentlich richtig, aber ihm war der Sachverhalt, dass der weiße Weihrauch ein weicher Weihrauch sein kann, anscheinend nicht bekannt. Der Texteingriff war daher überflüssig. Dies ist freilich eine Lappalie. Sie zeigt uns aber, dass wir selbst „heilige Ausgaben“ nicht ohne Prüfung verwenden sollten.
5 Zur Überlieferung medizinischer Texte Der Abschreibevorgang mittelalterlicher Texte lässt sich generell wegen der Zufälligkeit und Lückenhaftigkeit der erhaltenen Überlieferung nur noch in Ausnahmefällen rekonstruieren. Er ist zum einen davon geprägt, dass die Autoren auf die Tradierung ihrer Werke keinen Einfluss mehr haben. Zum andern verläuft er bei den einzelnen Textzeugen in mehrfacher Brechung zwischen den beiden Grundpositionen Kopieren oder Bearbeiten. Das Spektrum reicht so von getreuer Abschrift bis hin zur bewussten Textveränderung, sei es etwa, dass man den Text selektierte oder mit anderen Texten kompilierte. Die Untersuchung der Überlieferung einer Reihe von Texten hat ergeben, dass medizinische Texte wegen ihres vielfältigen Gebrauchs und hauptsächlich wegen ihrer „offenen Form“10 im hohen Maße für Textveränderungen anfällig waren. Wie bei vielen anderen mittelalterlichen Sachtexten auch, handelt es sich bei ihnen um einen Texttypus, der bereits kurz nach seinem Entstehen unfest sein konnte und der daher in der Regel in der Tradierung nicht konsistent gehalten wurde, also jederzeit um-
9 Beispielsweise lassen sich nicht alle Lesungen Wilhelms (1914/16), etwa die zum Innsbrucker bzw. Bamberger Arzneibuch heute nachvollziehen. 10 Zu diesem Begriff siehe Fromm (1976: 49).
8 | Bernhard Schnell gebaut, verkürzt und erweitert werden konnte.11 Gerhard Eis und in seinem Gefolge Gundolf Keil und dessen Schüler haben diese Textveränderungen stets stark betont. Sie gingen schließlich davon aus, dass nahezu jede handschriftliche Abschrift ein Original darstelle oder, wie es Eis (1939: 23) formulierte: „Jede erhaltene Handschrift ist vielmehr für sich wertvoll, jede ist selbst ein mitteilenswertes kulturgeschichtliches Denkmal.“ Aus meiner Sicht ist diese Position zu einseitig, da sie zu sehr die Veränderung hervorhebt und die Stabilität der Texte unterschätzt. Die Unfestigkeit medizinischer Texte, speziell der von mir untersuchten Kräuterbücher und Arzneibücher bzw. Rezeptare, spielt sich vor allem auf der Korpusebene ab, nicht aber auf der Textebene. Während die Anzahl und Abfolge der einzelnen Kapitel durch Erweiterungen bzw. Kürzungen oder Neuanordnung starken Schwankungen unterworfen sein können, wird innerhalb der einzelnen Kapitel der Wortlaut relativ getreu übernommen. Aus diesem Grund habe ich daher von „Korpusvarianz und Textkonstanz“ gesprochen (Schnell 1989: 19–41). Inzwischen hat sich diese These, wie die Arbeit an der Edition sowohl des deutschen Macer (Schnell 2003b: 96) als auch des Kräuterbuchs von Johannes Hartlieb (Hayer/Schnell 2010: 59) gezeigt hat, bestätigt. Analoges scheint auch für die Arzneibücher zu gelten,12 wo ebenfalls auf der Kapitelebene oder auf der Ebene der einzelnen Rezepte der Wortlaut des Textes meist stabil bleibt, während Abfolge und Bestand der einzelnen Texteinheiten stark variieren können. Die Aussage, dass der Text innerhalb der einzelnen Kapitel, d. h. auf der Textebene, relativ getreu übernommen wurde, bedarf jedoch einer Präzisierung. An drei exemplarischen Textbeispielen (dem deutschen Macer, einem Steinbuch und einem Rezeptar) habe ich aufzuzeigen versucht, wie die Schreiber ihre Aufgabe, medizinische Texte zu reproduzieren, auf der Textebene, der Mikroebene also, bewältigt haben.13 Insbesondere ging ich der Frage nach, wie getreu sie den Wortlaut ihrer jeweiligen Vorlagen wiedergegeben haben. Wenn diese drei Beispiele auch nicht das gesamte Feld der deutschen Medizinliteratur des Mittelalters abdecken können, so lässt sich doch generell feststellen, dass medizinische Texte auf der Ebene des Aussagesinns relativ stabil überliefert wurden. Dagegen können die Texte auf der semantisch unbedeutenden Ebene, insbesondere im Bereich der für den Sinngehalt des Textes irrelevanten Kleinwörter, eine überaus hohe Varianz aufweisen. Veränderungen auf Grund neuer Erkenntnisse auf dem Gebiet der Medizin, die Einfluss auf die Abschriften hätten haben können, gibt es nicht. Und auch mündliches Wissen, das möglicherweise beim Abschreiben der Vorlagen hätte einfließen können, kann kaum nachgewiesen werden. In den einzelnen Kapiteln kommt weder eine neue medizinische Indikation
11 Vgl. dazu beispielsweise Schnell (2003b: 89 f.). 12 Zum Arzneibuch Ortolfs von Baierland vgl. Riha (2014); zum Bartholomäus Leidig (2004: 13), der Vergleich der frühen Handschriften aus dem 13. und 14. Jahrhundert, den ich im Rahmen einer Untersuchung der Textgeschichte des Bartholomäus vornahm, scheint Leidigs Vermutungen zu bestätigen. 13 Zur Überlieferung medizinischer Texte vgl. Schnell (2008a).
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noch eine neue Anwendungsweise vor. Bei einzelnen Wörtern, Varianten und kleineren Einfügungen kann freilich das Einfließen von Alltagswissen nicht ausgeschlossen werden. In der Regel haben sich die Schreiber als Bewahrer der schriftlich fixierten Tradition erwiesen. Selbstverständlich kann es, wie bei allen anderen Texten auch, beim Umsetzen einer Schreibsprache in eine andere zu Missverständnissen kommen. Besonders fehleranfällig sind stets die lateinischen Fachtermini, die zum Teil aus dem Griechischen stammen. In manchen Fällen werden sie von den Schreibern derart verstümmelt, dass sich kaum noch erahnen lässt, was gemeint ist. Die Ursache für das Bestreben der Abschreiber, den Text möglichst exakt, notfalls unter Zuhilfenahme eines weiteren Textzeugen, wiederzugeben, dürfte letztendlich in der Textsorte „medizinischer Text“ selbst begründet sein. Denn die richtige Wahl und Zusammensetzung der Bestandteile eines Rezepts und ihre korrekte Anwendung sind ausschlaggebend für ihre Wirksamkeit und damit für die Genesung des Patienten. Ein Irrtum dagegen könnte verheerende Folgen haben – Grund genug, den Text der Vorlage so getreu wie möglich abzuschreiben. Der restringierte Wortschatz, der Gebrauch von festgelegten Formeln, die schlichte Syntax, der an Metaphern arme Stil, die über Jahrhunderte hinweg vorhandenen Konstanten im Wortschatz der menschlichen Körperteile, Krankheiten, Heilmittel sowie der Zubereitungsverfahren sind wohl der Grund für die Textkonstanz. Die oft kaum zu beantwortende Frage, welche Lesart sachlich richtig oder falsch ist, wird von vielen Medizinhistorikern, nach meiner Erfahrung, oft voreilig und auf der Basis modernen medizinischen Wissens entschieden. Im Zweifelsfall vertraue ich der Überlieferung mehr als dem sogenannten medizinischen Wissen. Grundsätzlich sollte jedoch die Übertragung der in der Regel sehr schwammigen mittelalterlicher Krankheitsbezeichnungen auf unsere moderne, klar definierte Terminologie vermieden werden; sie dürfen keinesfalls mit einem heutigen Begriff gleichgesetzt werden.
6 Bedingungen der Textüberlieferung 6.1 Autor Im Gegensatz zu einem modernen Buch, in dem der Leser bereits im Titelblatt Basisinformationen zu Text, Autor und Titel des Werkes sowie Erscheinungsjahr und Entstehungsort erhält, müssen diese aus einer mittelalterlichen Handschrift erst mit aufwendigen Verfahren rekonstruiert werden. Oft sind diese Bemühungen allerdings ohne Erfolg bzw. sie führen nur zu einem sehr vagen Ergebnis. Von den Anfängen um 800 bis etwa in die Zeit um 1300 sind alle Texte anonym überliefert. Die Texte schweigen über die Person des Autors, vielleicht weil sich die Verfasser als Vermittler in einer langen Tradition und nicht so sehr als ‚Autoren‘ im Sinne eines ‚Urhebers‘ sahen. Wir haben wegen dieser Anonymität nicht die Möglich-
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keit, aus der Biographie des Autors Schlüsse auf das Werk zu ziehen. Wir wissen deshalb nicht, welche Ausbildung er besaß oder welchen beruflichen Werdegang er hatte, nicht einmal, ob der Verfasser ein Arzt oder ein medizinischer Laie war oder welche Ziele er mit seinem Werk verfolgte. Darüber hinaus lassen sich so auch keine Anhaltspunkte für die Abfassungszeit und für den Entstehungsort gewinnen. Erst mit Ortolf von Baierland, der um die Wende des 13. zum 14. Jahrhunderts einen Bestseller der deutschen Medizinliteratur verfasste, greifen wir den ersten namentlich bekannten Verfasser einer medizinischen Schrift in deutscher Sprache. Aber auch seine exakten Lebensdaten sind unbekannt, und sie können nur aus winzigen Spuren schemenhaft rekonstruiert werden.14 In der Regel haben die Autoren nicht eigene Erfahrungen niedergeschrieben, sondern lateinische Schriften ins Deutsche übertragen. Ihr Ziel war es indes nicht, reine Übersetzungen zu erstellen, bei denen der Wortlaut der Vorlage möglichst Wort für Wort übertragen werden sollte, vielmehr wollten sie gelehrtes lateinisches Buchwissen für ein weniger gelehrtes Publikum aufbereiten und popularisieren.15 Die Vermittlung dieses Wissens richtete sich sowohl an den lateinunkundigen heilkundlichen Praktiker als auch an den medizinischen Laien. Die mittelalterlichen Autoren, insbesondere die der Sachliteratur, verstanden sich dabei stets als Bewahrer und Vermittler der Tradition und weniger als Schöpfer von Neuem. Ihre Aufgabe sahen sie eher darin, das Wissen der Vorgänger zu sammeln, daraus auszuwählen, es neu anzuordnen und der Nachwelt zu vermitteln. Dies dürfte letztlich auch der Grund dafür sein, warum nahezu alle deutschen Werke auf verschiedenen Quellen beruhen und Kompilationen von lateinischen Texten darstellen. Bei der Beurteilung von Übersetzungen auf medizinischem Gebiet gilt es, grundsätzlich zwischen Sprach- und Sachkompetenz zu unterscheiden.16 Man muss sich hüten, voreilig von der Qualität der Übertragung auf die Person des Übersetzers zu schließen, etwa nach dem Schema: Wurden die medizinischen Begriffe korrekt übertragen, so war der Übersetzer ein lateinkundiger und daher studierter Arzt; weist die Übertragung jedoch Fehler auf, so war sie das Werk eines nicht studierten Wundarztes oder eines medizinischen Laien. Da wir über die Verfasser bzw. Bearbeiter fast nichts wissen, sollte man sehr vorsichtig mit so weitreichenden Schlüssen sein.
14 Zur Biographie Ortolfs und zur Werkdatierung zuletzt Schnell (2013). 15 Vgl. Schnell (2003b): bes. 96–100. 16 Auf diesen zentralen Punkt bei der Beurteilung von Fachliteratur, der bislang in der Medizingeschichte oft nicht zur Kenntnis genommen wurde, hat Jan-Dirk Müller (1994) nachdrücklich hingewiesen.
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6.2 Identifizierung von Werken – Werkbegriff Die Identifizierung eines Textes und die Bestimmung seiner Entstehungszeit sind die Grundvoraussetzung für seine Einordnung in eine Geschichte der Medizinliteratur. Dies ist aber beim derzeitigen Stand der Forschung nicht selten ein schwieriges Unterfangen. Typisch dafür ist, dass selbst in den neu erschienenen Handschriftenkatalogen die Texte kaum identifiziert werden konnten. Vor allem bei Fragmenten finden sich oft nur ganz allgemeine Hinweise wie beispielsweise „Medizinisches“ oder „medizinische Rezepte“. Die Ursache dafür ist nicht zuletzt das Fehlen einer Übersicht über die Medizinliteratur. Der Katalogbearbeiter steht so hilflos vor den 12 Bänden des Verfasserlexikons und weiß nicht, wo er nachschlagen soll, damit er „seinen“ Text finden kann. Erschwerend kommt hinzu, dass nicht alle Werke in Ausgaben, schon gleich gar nicht in kritischen Ausgaben, vorliegen. Bei der starken Variabilität der Texte stellt der Werkbegriff ein großes Problem dar. Die zentrale Frage ist: Wie lässt sich ein Werk von Bearbeitungen abgrenzen, ab wann wird die Bearbeitung dermaßen intensiv, dass man von einem neuen Werk sprechen muss? Diese Frage muss jeweils von Fall zu Fall geklärt werden. In den Schriften, die aus dem 9. bis zum beginnenden 14. Jahrhundert stammen, gibt es ferner auch keine verbindlichen Werktitel. Die in der Forschung verwendeten Bezeichnungen der Werke sind fast alle aus der modernen Forschung und wurden so keineswegs im Mittelalter verwendet. Der größte Teil von ihnen wurde erstmals beim Abfassen der Verfasserlexikonartikel spontan kreiert. In vielen Fällen waren sie eher ein Notbehelf, nicht selten dem Alphabet der nächsten Lieferung verpflichtet, als das Ergebnis einer systematischen Vergabe. In der Regel werde ich jedoch die Nomenklatur des Verfasserlexikons beibehalten und nur in begründeten Fällen von diesem Usus abweichen; so etwa bei den Basler Rezepten, die ich als Fuldaer Rezepte anführe. In diesen Fällen werde ich dann den Werktitel des Verfasserlexikons in Klammern hinzufügen. Allerdings die weit über die altgermanistischen und medizinhistorischen Fachgrenzen hinaus bekannten Merseburger Zaubersprüche in Fuldaer Zaubersprüche umzubenennen, habe ich mich nicht gewagt, obwohl diese Umbenennung schlagartig anzeigen würde, welch bedeutendes Zentrum Fulda im frühen Mittelalter selbst für medizinisches Wissen war. Dass man die beiden Texte nicht getrennt von einander betrachten darf, wird meine Darstellung zeigen.
6.3 Datierung der Texte Die Datierung der Werke spielt gerade bei einer Geschichte der Medizinliteratur eine zentrale Rolle. Aber bis ins 14. Jahrhundert haben wir von keinem einzigen Werk konkrete Angaben zu dessen Entstehungszeit. Nicht einmal die Textzeugen weisen eine
12 | Bernhard Schnell exakte Datierung für den Zeitpunkt ihrer Aufzeichnung auf.17 Erst in den Handschriften ab 1300 lassen sich gelegentlich textinterne Daten aus dem Prolog oder dem Einleitungssatz (Incipit) bzw. dem Kolophon oder der Schlussformel (Explicit) gewinnen. Soweit ich sehe, ist die älteste datierte medizinische Handschrift in deutscher Sprache ein Codex, der heute in Heidelberg aufbewahrt (Cod. Pal. germ. 214) und in der Forschung unter dem Titel Speyrer Arzneibuch bekannt ist. Am Ende des Registers steht hier die Eintragung: Anno domini 1321 iar da wart dis buch volle schreiben (Bl. 2vb). Die Möglichkeit, über die Person des Verfassers den Text zu datieren, gibt es nur für Texte nach 1300, da, wie bereits ausgeführt, alle bis dahin erhaltenen Werke anonym verfasst wurden. Andere Kriterien, wie etwa der Bezug auf historische Ereignisse oder Personen in den Werken, die eine Datierung ermöglichen würde, lassen sich ebenso wenig finden. Schließlich lässt sich auch in den Schriften die Auseinandersetzung mit anderen oder die Erwähnung anderer, vorausgehender Werke, die eine relative Chronologie der Texte erlauben würde, nicht nachweisen. Mit anderen Worten: Die gesamte Chronologie der Werke vom Beginn der schriftlichen Aufzeichnung um 800 bis circa 1300 hängt vom paläographischen Befund der überlieferten Handschriften ab. Die in den letzten Jahrzehnten verstärkte Publizierung von Katalogen der datierten Handschriften hat unsere Kenntnis des mittelalterlichen Schriftwesens auf eine neue Basis gestellt. Vor allem verfügen wir dank der grundlegenden Arbeiten von Karin Schneider (1987 und 2009) zu den gotischen Schriften in deutscher Sprache über solide Daten. Aus diesem Grund müssen alle älteren Datierungsversuche überprüft werden. In vielen Fällen sind diese alten Datierungen viel zu früh angesetzt und in nicht wenigen hat man sich um ein ganzes Jahrhundert vertan. Selbst im Verfasserlexikon weisen die Datierungen der medizinischen Handschriften, wie ein Vergleich mit den Marburger Handschriftencensus zeigte, eine Reihe von gravierenden Fehlern auf. Wenn sich auch mit paläographischen Mitteln die einzelnen Kodizes in der Regel annähernd auf einen Zeitraum von einem Viertel oder einem Drittel eines Jahrhunderts festlegen lassen, so bleibt die Entstehungszeit der Werke fast immer im Dunkeln. In der älteren Literatur, teilweise auch noch im Verfasserlexikon, fühlte man sich dennoch verpflichtet, ein Entstehungsdatum anzugeben. Man muss sich aber im Klaren sein, dass all diese Angaben auf Schätzungen, z. T. auf purer Phantasie beruhen. Auf die Angabe von Entstehungszeiten werde ich deshalb grundsätzlich verzichten, es sei denn, es gäbe Gründe dafür; die müssten aber dann im Einzelnen angeführt werden. Den einzigen exakten und nachprüfbaren Zeitpunkt kann man aus der Überlieferung
17 Vgl. etwa Schneider (1999), die darauf hingewiesen hat, dass „im Früh- und Hochmittelalter der Anteil der datierten Codices an der Gesamtproduktion verschwindend gering ist“ (141); die Situation ändert sich erst nach 1300.
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der Textzeugen gewinnen. Die älteste Handschrift stellt den Terminus ante quem dar, den Zeitpunkt also, vor dem das Werk entstanden sein muss. Ob dieser Zeitpunkt unmittelbar davor war oder ein oder mehrere Jahrzehnte bzw. ein oder mehrere Jahrhunderte früher, entzieht sich allerdings unserer Kenntnis. Nicht ausgeschlossen ist schließlich, dass der erste erhaltene Textzeuge das Entstehungsexemplar darstellt.
6.4 Lokalisierung der Texte Eine vergleichbare Situation zeigt sich bei der räumlichen Situierung der Werke bzw. ihrer Handschriften. Bis ins 14. Jahrhundert haben wir keine expliziten Vermerke, wo die Werke entstanden bzw. aufgezeichnet wurden. Auch hier können nur die erhaltenen Handschriften Aufschluss geben, sei es durch die Analyse der Schreibsprache oder durch die Rekonstruktion der Herkunft der Textzeugen. Auf Grund der Schreibart lassen sich die überlieferten Texte in der Regel nur großräumig einem Schriftdialekt (beispielsweise alemannisch, bairisch-österreichisch, thüringisch) zuordnen. Eine genauere dialektale Ortsbestimmung gelingt nur in Ausnahmefällen (am ehesten etwa für den Großraum Köln, Basel oder Augsburg).
6.5 Auftraggeber und Rezipienten „Mit der überlieferungsgeschichtlichen Forschung, die seit den siebziger Jahren intensiv betrieben wird, erhielt“, so Karin Schneider (1999: 189), „die Frage nach Gebrauch und Vorbesitz mittelalterlicher Handschriften einen wichtigen Stellenwert.“ Der Codex galt nicht mehr nur als ein untergeordnetes Vehikel der Textüberlieferung, sondern wurde immer mehr zu einem Dokument dafür, „welche Leser zu welcher Zeit und an welchem Ort Interesse an einem bestimmten Werk hatten“ (Schneider 1999: 189). Bei den Recherchen zu den Handschriftenbeschreibungen habe ich deshalb ein besonderes Gewicht auf das Aufspüren der Benutzer der Kodizes gelegt, um auch auf diese Weise Hinweise für die Gebrauchsfunktion der Textzeugen zu gewinnen. Es gilt vor allem zu fragen, aus welchen sozialen Schichten die Rezipienten, die Auftraggeber, die Käufer oder die zum eigenen Gebrauch tätigen Schreiber der Handschriften kamen. Bei der Ermittlung der Provenienz der Handschrift wird jedoch vor allem der mittelalterliche Geltungsraum18 berücksichtigt; die weitere Geschichte der Handschrift, insbesondere die Frage, wie und über welche Stationen sie in die heutige Bibliothek gelangte, soll dagegen weitgehend ausgeklammert werden. Ein Problem stellen die Handschriften dar, die zwar den mittelalterlichen Besitzvermerk eines Klosters aufweisen, der aber oft aus einer späteren Zeit als die Abschrift des Textes selbst stammt. Hier lässt sich nicht immer entscheiden, ob die Handschrift im Kloster auch benutzt 18 Zu diesem Begriff vgl. die grundlegende Studie von Wieland Schmidt (1938: bes. 280–298).
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oder nur aufbewahrt wurde. Kodizes, die z. B. im Laufe des 16. Jahrhunderts bzw. noch später in die stets aufnahmebereiten Klosterbibliotheken „angeschwemmt“ wurden, können keinen Aufschluss über die Gebrauchsfunktion des Textes liefern, da in dieser Zeit die Klosterbibliotheken die großen Sammelbecken für das mittelalterliche Schrifttum waren, in denen die Handschriften mehr aufbewahrt als tatsächlich gebraucht wurden. Bei der Bewertung der Daten ist zu bedenken, dass Handschriften im Privatbesitz grundsätzlich weniger Besitzvermerke aufweisen als diejenigen, die aus Klöstern oder geistlichen Institutionen stammen.
7 Latein und Deutsch Nahezu sämtliche medizinischen Werke, die in deutscher Sprache bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts entstanden, sind das Ergebnis eines lateinisch-deutschen Kulturtransfers.19 Wie die damals dominierende arabische Medizin seit Ende des 11. Jahrhunderts im lateinischen Abendland übersetzt und rezipiert wurde, so wurde in den folgenden Jahrhunderten das neu entstandene und sich entwickelnde lateinische Wissen in die Volkssprachen übertragen und weitergegeben. Die deutschen Texte basieren dabei alle auf vielfältigen lateinischen Quellen, die von verschiedenen Autoren und Provenienzen sowie aus verschiedenen Epochen stammen können. Sie stellen stets neue, unabhängige Entwürfe dar, die offensichtlich ohne Kenntnis der vorhandenen deutschen Schriften entstanden sind. Ohne historische Kontinuität setzen diese Übersetzungen, wie erratische Blöcke, immer neu ein und dies in ganz verschiedenen Literaturlandschaften. Die einzelnen deutschen Dichtungen und Prosatexte sind gleichsam „Inseln im Meer der lateinischen Schriftlichkeit“ (Klein 2015: 22). Erst in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts scheint sich die Situation allmählich zu verändern; es lassen sich erste Beziehungen zwischen einzelnen deutschen Texten feststellen. Im 15. Jahrhundert beginnt sich allmählich die deutsche Medizinliteratur von der bis dahin dominierenden lateinischen Schriftkultur zu emanzipieren. Übersetzungen medizinischer Texte aus anderen Volkssprachen sind dagegen überaus selten und bislang nur für das 15. Jahrhundert bezeugt.20 Eigenständige deutsche Werke von wissenschaftlichem Rang entstanden überwiegend auf dem Gebiet der Wundarznei bzw. Chirurgie. Bestes Beispiel dafür ist Heinrich von Pfalzpaint, der
19 Bereits 1918 hat der Ahnherr der deutschen Medizingeschichte, Karl Sudhoff, diesen Befund postuliert und formuliert: „Im allgemeinen muß man es sich selbst als Regel aufstellen: alles Deutsche, vor dem 15. Jahrhundert Entstandene ist von vornherein als übersetzt, und zwar aus dem Lateinischen übersetzt anzunehmen.“ (1919: 491) 20 Das bekannteste Beispiel dafür ist etwa der so genannte Jude von Salms, vgl. zu ihm Gundolf Keil (1983). Eine Sonderstellung nehmen die mittelniederländischen Texte ein, sie sind hier ausgeklammert; ihren Einfluss auf die deutschsprachigen Werke zu untersuchen, wäre eine lohnende Aufgabe für die Zukunft.
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die erste Beschreibung einer Nasentransplantation verfasste.21 Die von ihm beschriebene Operationstechnik wurde erst im 19. Jahrhundert, ohne Kenntnis von Pfalzpaint, an der Charité in Berlin wiederentdeckt. In der Regel sind die deutschen Texte aber, wie Klaus Grubmüller (2011: 150) treffend formulierte, nur „Absprengsel aus dem großen Kontinuum der dominierenden lateinischen Überlieferung“. Die lateinische Medizinliteratur müsste daher selbstverständlich in die Darstellung mit einbezogen werden. Es ist ein Manko, dass in meiner Geschichte der deutschen Medizinliteratur des Mittelalters nur die Medizinliteratur in deutscher Sprache behandelt wird. „Aber aus praktischen Gründen kann man gar nicht anders verfahren.“ Dieser Satz aus dem Vorwort der Literaturgeschichte von Bumke, Cramer und Kartschoke (2000: Vorwort), mit dem sie bedauern, dass sie die lateinische Literatur aus ihrer Darstellung der deutschen Literatur ausklammern mussten, lässt sich uneingeschränkt auch auf die Medizinliteratur übertragen. Obwohl die lateinische Medizinliteratur aus vielen Gründen ausgeblendet werden muss, soll dennoch bei jedem zu behandelnden Text versucht werden, die zugrunde liegende (lateinische) Quelle aufzuspüren.
8 Auswahl und Anordnung Nach einer ersten Sichtung der deutschen, medizinischen Werke bietet es sich an, den Stoff in zwei Teile zu gliedern. In einem ersten Teil werde ich die heilkundlichen Texte von den Anfängen um 800 bis um 1350 behandeln. Im zweiten Teil sollen dann die Werke von etwa 1350 bis 1500 vorgestellt werden, die sich in der Anzahl mit denjenigen der vorangehenden Jahrhunderte etwa die Waage halten und daher einen eigenen Band beanspruchen dürften. Das Ziel des ersten Teils ist es, alle bekannten Werke vorzustellen. Darüber hinaus werden nach Möglichkeit alle bis 1350 geschriebenen Handschriften und Fragmente vollständig erfasst. Von dieser systematischen Erfassung werden nur Zauber und Segen sowie Einzelrezepte, vor allem, wenn sie nur aus einer einzigen bzw. wenigen Aussagen bestehen, ausgenommen.22 Dieses weitgesteckte Ziel soll auch für den zweiten Teil, für die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts und für das 15. Jahrhundert, gelten. Ob es aber bei der Fülle der Handschriften erreicht werden kann, wird erst der Abschluss der Arbeit zeigen. Vermutlich muss man die Messlatte bei den Rezepten noch einmal
21 Zu Leben und Werk Heinrichs von Pfalzpaint vgl. Schnell (2008b). 22 Bis 1200 werden jedoch Zauber und Segen systematisch erfasst. Zu den späteren Fassungen sei auf das Verzeichnis von Verena Holzmann (2001) verwiesen. Das Anführen von Einzelrezepten verbietet sich aus mehreren Gründen: Zum einen sind sie überhaupt nicht erfasst und zum anderen würden sie vor allem wegen ihrer großen Anzahl den Rahmen der Arbeit sprengen; darüber hinaus kommt ihnen wegen ihrer Beliebigkeit ein geringer Erkenntniswert zu.
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höher legen und vermutlich auch kleinere Rezeptsammlungen von der Erfassung ausklammern, damit das Fernziel einer Geschichte der deutschen Medizinliteratur des Mittelalters doch noch geschrieben werden kann. Die interne Gliederung des ersten Teils (vom Beginn bis 1350) scheint mir unproblematisch zu sein. Nach einer Einführung werden jeweils die einzelnen Jahrhunderte vorgestellt. Nur das erste Kapitel Die Anfänge der deutschen Medizinliteratur im 9. bis 11. Jahrhundert behandelt einen längeren Zeitraum. Die althochdeutsche und altsächsische Literatur vom 8. bis zum Ende des 11. Jahrhunderts enthält nur sehr wenige medizinische Texte. Insgesamt sind aus dieser immerhin drei Jahrhunderte umfassenden Epoche nur sechs Rezepte und etwas mehr als ein Duzend heilkundliche Zauber und Segen erhalten. Die an verschiedenen Stellen edierten Texte werden alle ediert und übersetzt. Das zweite Kapitel, Die Deutsche Medizinliteratur im 12. Jahrhundert, umfasst wenige Texte, die alle nur einen geringen Umfang aufweisen und erste tastende Schritte auf dem Weg hin zu einem medizinischen Schrifttum darstellen. Erhalten sind nur Texte aus dem oberdeutschen Sprachraum. Ihre Anordnung erfolgt nach Sprachräumen, dem bairisch-österreichischen, alemannischen und dem rheinfränkischen Sprachraum. Auch hier werden alle Texte neu ediert und übersetzt. Im 13. Jahrhundert, Gegenstand des dritten Kapitels, verändert sich das Schrifttum grundlegend. Aus den einfachen Formen des 12. Jahrhunderts entwickeln sich Großformen, in denen die zentralen Themen der Medizin behandelt wurden. Mit dem Kräuterbuch und vor allem mit dem Arzneibuch, das von nun an eine dominierende Stellung im medizinischen Schrifttum einnimmt, werden grundlegende Formen geschaffen. Hier erfolgt die Anordnung nach den Textsorten. Im vierten und letzten Kapitel wird schließlich Die deutsche Medizinliteratur bis um 1350 thematisiert, die bislang nahezu unbekannt und am wenigsten erforscht ist. Der überwiegende Teil der Texte ist überdies nicht ediert. Es bleibt noch sehr viel zu leisten.
9 Anhang: Liste der einzelnen Werke Die mit Sternchen versehenen Texte sind neu gegenüber dem Verfasserlexikon. In der Regel habe ich sie erst in jüngster Zeit bei der Recherche zu meiner Geschichte entdeckt. Auf Literaturangaben habe ich hier verzichtet. Anfänge bis 1100 – Fuldaer (früher Basler) Rezepte – Contra paralysin, dt. (Berner, Münchner und Wolfenbütteler Fassung) – Heilkundliche Zaubersprüche und Segen (insgesamt 14; beginnend mit dem Merseburger Zauberspruch)
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12. Jahrhundert – Heilkundliche Zaubersprüche und Segen – Prüller Steinbuch – Prüller Kräuterbuch – Innsbrucker Rezeptar (Innsbrucker Arzneibuch) – *Innsbrucker Rezept Ad infirmitatem mulierum (aus: Frauengeheimnisse)23 – *Rezepte gegen den Blasenstein (Cod. Falkenstein, Text bei Wilhelm 1914/16: 53) – Tegernseer Prognosticon (Tegernseer Lunar) – *Bamberger Dynamidia, dt. (Text bei Wilhelm 1914/16: 246) – Bamberger Capsula eburnea – Arzneibuch Ipocratis (Züricher Arzneibuch) 13. Jahrhundert – Arzneibücher: – Bartholomäus – *Emmeramer Arzneibuch – Deutsches salernitanisches Arzneibuch – Das Arzneibuch Ortolfs von Baierland – Rezeptsammlungen: – Benediktbeurer Rezeptar (mit bisher unbekannten Ergänzungen) – *Frankfurter Rezept-Fragment (Frankfurt, UB, Ms. germ. oct. 19; Textabdruck fehlt) – *Grazer Fragment (Graz, UB, Cod. 1540; Textabdruck fehlt) – *Leipziger Fragment (Leipzig, UB, Cod. 1614, Bl. 15–16; Textabdruck fehlt) – *Oxforder Fragment (Oxford, Bodleian Libr., Ms. Laud. Misc. 237, Bl. 193v; Textabdruck fehlt) – *Südwestfälische Rezepte (Nederbergse geneeskndige recepten) – *Stuttgarter Fragment (Stuttgart, LB, Cod. Donaueschingen B VI 3, verso; Textabdruck fehlt) – *Wettinger Rezepte24 – Heilmittel: – *Wiener Kräuterbuch – *Wiener Macer (nur z. T. ediert) – Der deutsche Macer – Monatsregeln: – Grazer Monatsregeln – Limburger Monatsregeln
23 Wilhelm (1914/16: 46) hatte unter dem Werktitel Frauengeheimnisse irrtümlich völlig heterogene Texte zusammengefasst. 24 Zu diesem jüngst aufgefundenen Text siehe jetzt Schnell (2013b).
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– –
Heilkundliche Zauber und Segen Gesundheitswesen: – Eichstätter Spitalordnung – Medizinische Vokabulare: – *Göttinger Pflanzenglossar, lat.-dt., alph. (Textabdruck fehlt) – *Artemisia-Vokabular (Ausgabe fehlt) – Tiermedizin: – Meister Albrants Roßarzneibuch 1300–135025 – Kleines mittelniederdeutsches Arzneibuch (Utrechter Arzneibuch) – Speyrer Arzneibuch v. J. 1321 (Alexander Hispanus) – Stuttgarter Arzneibuch-Fragment – Ipocras – Das schädelchirurgische Fragment (Roger Frugardi) – Secretum secretorum, dt. (Fassung G3 ) – Freiberger Arzneimittellehre – Galgant-Gewürztraktat (Niederdeutscher Gewürztraktat) – Deutsche Physiognomik (Michael de Leone) – Über die Unglückstage – Löbauer Roßarzneibuch – Synonima apotecariorum
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Die deutsche Medizinliteratur des Mittelalters | 19
Fromm, Hans (1976): Die mittelalterliche Handschrift und die Wissenschaften vom Mittelalter. In: Mitteilungen der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz 8, Heft 2: 35–62. Fromm, Hans (1983): Germanistische Forschung in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Umschau 1981. In: Christoph Schneider (Hrsg.): Forschung in der Bundesrepublik Deutschland. Weinheim, 113–119. Grubmüller, Klaus (2011): Über die Bedingungen volkssprachlicher Traditionsbildung im lateinisch dominierten Mittelalter. In: Michael Baldzuhn, Christine Putzo (Hrsg.): Mehrsprachigkeit im Mittelalter. Berlin, 147–157. Hayer, Gerold/Bernhard Schnell (Hrsg.) (2010): Johannes Hartlieb, ‚Kräuterbuch‘. Zum ersten Mal kritisch hrsg. (Wissensliteratur im Mittelalter 47). Wiesbaden. Holzmann, Verena (2001): „Ich beswer dich wurm vnd wyrmin ...“: Formen und Typen altdeutscher Zaubersprüche und Segen. (Wiener Arbeiten zur germanischen Altertumskunde und Philologie 36). Bern. Keil, Gundolf (1983): Jude von Salms (Solms). In: ²Verfasserlexikon 4, 889–891. Klein, Dorothea (2015): Mittelalter. Lehrbuch Germanistik. 2. Aufl. Stuttgart/Weimar. Kuhn, Hugo (1980): Entwürfe zu einer Literatursystematik des Spätmittelalters. Tübingen. Leidig, Dorothée (2004): Frauenheilkunde in volkssprachigen Arznei- und Kräuterbüchern des 12. bis 15. Jahrhunderts. Eine empirische Untersuchung. Phil. Diss. Würzburg. Müller, Jan-Dirk (1994): Naturkunde für den Hof. Die Albertus-Magnus-Übersetzung des Werner Ernesti und Heinrich Münsinger. In: Jan-Dirk Müller (Hrsg.): Wissen für den Hof. Der spätmittelalterliche Verschriftlichungsprozeß am Beispiel Heidelberg im 15. Jahrhundert. (Münstersche Mittelalter-Schriften 67). München, 121– 168. Riecke, Jörg (2004): Die Frühgeschichte der mittelalterlichen medizinischen Fachsprache im Deutschen. 2 Bd.e. Berlin/New York. Ruh, Kurt (1985): Überlieferungsgeschichte mittelalterlicher Texte als methodischer Ansatz zu einer erweiterten Konzeption von Literaturgeschichte. In: Kurt Ruh (Hrsg.): Überlieferungsgeschichtliche Prosaforschung. (Texte und Textgeschichte 19). Tübingen, 262–272. Schmidt, Wieland (1938): Die vierundzwanzig Alten Ottos von Passau. Leipzig. Schneider, Karin (1987): Gotische Schriften in deutscher Sprache, I. Vom späten 12. Jahrhundert bis um 1300, Text- und Tafelband. Wiesbaden. Schneider, Karin (1999): Paläographie und Handschriftenkunde für Germanisten. Eine Einführung. Tübingen. Schneider, Karin (2009): Gotische Schriften in deutscher Sprache, II. Die oberdeutschen Schriften von 1300 bis 1350, Text- und Tafelband. Wiesbaden. Schnell, Bernhard (1989): Von den wurzen. Text- und überlieferungsgeschichtliche Studien zur pharmakographischen deutschen Literatur des Mittelalters. Med. Habil. Schrift masch. Würzburg. Schnell, Bernhard (1994): Vorüberlegungen zu einer „Geschichte der deutschen Medizinliteratur des Mittelalters“ am Beispiel des 12. Jahrhunderts. In: Sudhoffs Archiv 78, 90–97. Schnell, Bernhard (2003a): Die deutsche Medizinliteratur im 13. Jahrhundert: Ein erster Überblick. In: Christa Bertelsmeier-Kierst, Christopher Young (Hrsg.): Eine Epoche im Umbruch. Volkssprachliche Literalität 1200–1300. Cambridger Symposium 2001. Tübingen, 249–265. Schnell, Bernhard in Zusammenarbeit mit William Crossgrove (2003b): Der deutsche ‚Macer‘. Vulgatfassung. Mit einem Abdruck des lateinischen Macer Floridus ‚De viribus herbarum‘. (Texte und Textgeschichte 50). Tübingen. Schnell, Bernhard (2008a): Varianz oder Stabilität? Zu den Abschriften mittelalterlicher deutscher Medizinliteratur. In: Werner Besch, Thomas Klein (Hrsg.): Der Schreiber als Dolmetsch. Sprachliche Umsetzungstechniken beim binnensprachlichen Texttransfer in Mittelalter und Früher Neuzeit. (Zeitschrift für Deutsche Philologie. Sonderheft zum Bd. 127). Berlin, 27–47.
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Schnell, Bernhard (2008b): Heinrich von Pfalzpaint: Ein Ahnherr der Plastischen Chirurgie auf der Marienburg. In: Jarosław Wenta, Sieglinde Hartmann, Gisela Vollmann-Profe (Hrsg.): Mittelalterliche Kultur und Literatur im Deutschordensstaat in Preußen: Leben und Nachleben. (Publikacje Centrum Mediewistycznego Wydziału Nauk Historycznych UMK 1/Seria: Sacra Bella Septentrionalia 1). Toruń, 231–244. Schnell, Bernhard (2013a): Ortolf von Baierland. In: Dorothea Klein, Franz Fuchs (Hrsg.): Kulturstadt Würzburg. Kunst, Literatur und Wissenschaft in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Würzburg 2013, 49–66. Schnell, Bernhard (2013b) in Zusammenarbeit mit Catrinel Berindei, Julia Gold und Christopher Köhler: Neues zur Medizingeschichte des 13. Jahrhunderts: Die ‚Wettinger Rezepte‘. In: Rudolf Bentzinger, Ulrich-Dieter Oppitz, Jürgen Wolf : Grundlagen. Forschungen, Editionen und Materialien zur deutschen Literatur und Sprache des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. (ZfdA. Beiheft 18). Stuttgart, 439– 451. Sudhoff, Karl (1910): Die gedruckten mittelalterlichen medizinischen Texte in germanische Sprachen. In: Archiv für Geschichte der Medizin 3, 273–303. Sudhoff, Karl (1919): Beiträge zur Geschichte der Chirurgie im Mittelalter. Graphische und textliche Untersuchungen in mittelalterlichen Handschriften, Bd. 2. (Studien zur Geschichte der Medizin 11/12). Leipzig.
Stefanie Stricker, Annette Kremer, Vincenz Schwab
Die Leges barbarorum als Quelle der Medizingeschichte? 1 Einführung Will man eine Bestandsaufnahme unseres Wissens über mittelalterliche und neuzeitliche medizinische Texte und ihre Fachtermini erstellen, wird der Blick erwartungsgemäß auf medizinische Literatur gelenkt, also für das Mittelalter auf medizinische Zaubersprüche, Rezepte, heilkundliche Glossare oder Glossen zu Rezepten, insgesamt solche Quellen, wie sie Jörg Riecke seinem umfangreichen Werk zur Frühgeschichte der mittelalterlichen medizinischen Fachsprache im Deutschen (2004) zugrunde gelegt hat (zu medizinischen Fachtexten der frühen Neuzeit vgl. Habermann 2001). Daneben gibt es eine Quelle, die sich bei der Fragestellung der Tagung nicht unmittelbar aufdrängt: die im Frühmittelalter in lateinischer Sprache abgefassten Rechte der germanischen Stämme, die sogenannten Leges barbarorum. Auf den darin enthaltenen, sprachhistorisch wertvollen Bestand an volkssprachigen Wörtern der Medizingeschichte macht der vorliegende Beitrag aufmerksam.
2 Das Bamberger LegIT-Projekt Die Quelle der frühmittelalterlichen Stammesrechte wird derzeit an der Universität Bamberg mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft erschlossen. Das seit Oktober 2012 laufende Projekt Digitale Erfassung und Erschließung des volkssprachigen Wortschatzes der kontinentalwestgermanischen Leges barbarorum in einer Datenbank1 setzt sich zum Ziel, das volkssprachige Wortgut der Texte mit allen Belegen zu erfassen und philologisch aufbereitet online verfügbar zu machen.2 Die Belege werden systematisch aus ihren Quellen erhoben und nach festgelegten editorischen, grammatischen und semantischen Kriterien durchleuchtet. Um die Ergebnisse
1 Das Bamberger Leges-Projekt berücksichtigt die kontinental-westgermanische Überlieferung. Westgotisches Recht und die Lex Burgundionum sind ausgeklammert. Erfasst werden die drei oberdeutschen Leges (die Lex Baiuvariorum, Lex Alamannorum und Lex Ribuaria), außerdem die Gesetze der chamavischen Franken (Lex Francorum Chamavorum), Friesen (Lex Frisionum) und Langobarden (Leges Langobardorum), die Lex Saxonum und Thuringorum sowie die Lex Salica. 2 Die Datenbank läuft bereits online, ist derzeit allerdings nur für registrierte Benutzer zugänglich. DOI 10.1515/9783110524758-003
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der Analysen nutzbar machen zu können, wurde eine relationale Datenbank aufgebaut, in die die Daten eingespeist werden.3 Der vorliegende Beitrag basiert auf unserem aktuellen Projektbearbeitungsstand,4 bei dem derzeit längst nicht alle Lexeme und erst recht nicht alle Belege erfasst sind, sich aber doch zeigen lässt, dass dieses Wortgut als Quelle für die Medizingeschichte Beachtung verdient hat.
3 Zum Forschungsstand der Leges Die Leges stellen neben dem Wortschatz in Capitularien, Urkunden, Traditionsbüchern, Diplomen, Annalen, Viten und Briefen einen großen Bereich volkssprachigen Wortgutes in lateinischen Quellen dar (vgl. Seebold 2001: 62–67). Dieser Wortschatz ist zwar schon lange im Bewusstsein der Forschung,5 aber von der germanistischen Sprachgeschichtsforschung noch nicht umfassend editorisch und lexikographisch erschlossen worden. So fehlt für dieses Wortgut bis heute eine vollständige Edition, eine entsprechende Berücksichtigung in den großen lexikographischen Werken, eine Aufnahme in die Grammatiken und damit eine Berücksichtigung und Auswertung in der weiteren sprachhistorischen Literatur. Der Forschungsstand ist damit deutlich hinter dem der Glossen und erst recht der literarischen Denkmäler zurück (dazu auch Stricker/Kremer 2014: 238 f.).
4 Zu Umfang und Alter der Leges Die Leges werden in gut 300 Handschriften überliefert. Diese wiederum enthalten etwa 1.200 volkssprachige Wörter, die durchschnittlich bis zu 40-mal belegt sind. Verglichen mit der Textüberlieferung (die etwa 11.000 Wörter umfasst) und erst recht der Glossenüberlieferung (mit ca. 28.000 Wörtern) ist der volkssprachige Wortbestand in den Leges barbarorum als gering einzustufen (ca. 2,5 %). Die Belegzahl ist aufgrund der breiten Parallelüberlieferung jedoch auffällig hoch (ca. 7 %). Die Überlieferung der Leges setzt im 7. bzw. 8. Jahrhundert6 ein und endet – von Ausnahmen abgesehen7 – im 11. Jahrhundert. Ein Überlieferungsschwerpunkt lässt sich für das 8. bis 10 .Jahrhundert ausmachen. Die Entstehung der Leges weist aber in
3 Genauere Angaben zum Projekt finden sich bei Stricker/Kremer 2014 und auf den Seiten des zugehörigen Online-Portals unter http://legit.ahd-portal.germ-ling.uni-bamberg.de/. 4 Stand 01.11.2015. 5 Zu der älteren, inzwischen als klassisch zu bezeichnenden Leges-Forschung sieh Schott 1979. 6 Im Falle der Lex Salica, Ribuaria, Alamannorum, Baiuvariorum und Burgundionum. 7 Überlieferungen der Lex Frisionum beruhen auf der Editio princeps von J. Herold, Basel 1557.
Die Leges barbarorum als Quelle der Medizingeschichte? | 23
Tab. 1: Überlieferungsumfang nach Überlieferungsbereichen Überlieferungsbereich Leges Glossen Texte
Überlieferungszeit
Handschriftenzahl
Wörter (Types)
Belege (Tokens)
7./8. Jh. – 11. Jh. 1. Drittel 8. Jh. – 13. Jh. Ende 8. Jh. / um 800 – 1022
gut 300 um 1.440 125 (bei 74 Texten)
1.200 28.000 290.000
ca. 42.000 über 250.000
deutlich frühere Zeit zurück, für die Lex Ribuaria etwa in den Anfang des 7. Jahrhunderts. In die Merovingerzeit geht auch ein guter Teil des Wortschatzes der Lex Salica zurück, der sich in mehr oder weniger unveränderter Form über Jahrhunderte in jüngeren Leges-Überlieferungen gehalten hat. Infolge ihrer frühen Genese stellen die Leges-Wörter den ältesten volkssprachigen Wortschatz dar, dem sich zeitnah mit dem Wirken der Angelsachsen die Glossierungstätigkeit anschließt, die bereits im 8. Jahrhundert gut 50 Handschriften mit weit über 11.000 althochdeutschen Glossen hervorgebracht hat (vgl. Bergmann 1983: Nr. 1; Stricker 2009: 123–176, v.a. 124 f.). Die Textüberlieferung beginnt dann um 800 beziehungsweise im frühen 9 .Jahrhundert. Schon aufgrund seines hohen Alters gebührt dem volkssprachigen Leges-Wortschatz also die Aufmerksamkeit der Sprachgeschichtsforschung.
5 Besonderheiten des Leges-Wortschatzes und seiner Überlieferung Die Überlieferungsbreite (gut 300 Handschriften) und Streuung der Leges über mehrere Jahrhunderte (im Kernbereich vom 8. bis 11. Jahrhundert) und mehrere Dialekträume bringt eine Variantenfülle und -häufung (42.000 Belege) mit sich, die schon in quantitativer Hinsicht eine Herausforderung an die Forschung darstellt. In qualitativer Hinsicht eröffnet die Leges-Überlieferung aber gleichzeitig die Möglichkeit, über ihre spezifischen Wortformen Erkenntnisse über phonologische, morphologische und semantische Phänomene sowie über ihre geographische und zeitliche Verortung in der Frühzeit des Deutschen zu gewinnen. Das gilt auch dann, wenn man berücksichtigt, dass die Leges-Wörter wie kaum eine andere volkssprachige Überlieferung Wortentstellungen aufweist und damit nicht selten auch ein Textunverständnis der Schreiber zu erkennen gibt. H. Tiefenbach (2004: 283) hat für die bairische Leges-Überlieferung aber deutlich zeigen können, dass es neben älteren und jüngeren Handschriften mit geringem Zeugniswert vor allem auch ältere und jüngere Handschriften mit hohem Wert gibt, die es zu scheiden gilt.
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Der Wortschatz selbst ist auch unter anderen Aspekten äußerst heterogen, was durch vielfältige Variationen hinsichtlich der Entstehung, des Verwendungszwecks, von Aufbau, Stil, Wirkungs- und Geltungszeitraum, aber auch im Verhältnis von gesprochener und geschriebener Gerichtssprache und in Umfang und Art der Vereinigung von römischem und germanischem Recht bedingt ist. Zudem gehören die volkssprachigen Wörter der Leges nicht allein dem Althochdeutschen, sondern verschiedenen kontinentalgermanischen Dialekten an, wobei das Althochdeutsche deutlich dominiert. Schließlich repräsentieren die volkssprachigen Wörter nicht allein verschiedene Dialekte, sondern auch verschiedene Sprachstufen. Nicht selten verharren die Wörter nämlich in einer archaischen Lautform und lassen Veränderungen, die das Wort in der Gebersprache (z. B. dem Deutschen) erfahren hat, vermissen (z. B. leudis ‚Wergeld‘ mit erhaltenem frühgermanischem Diphthong, Beispiel bei Tiefenbach 2009: 962). Die Wörter zeigen auch keine einheitliche Form der Textzugehörigkeit und Textintegration. So begegnen mittellateinische Wörter germanischen Ursprungs, volkssprachige Wörter mit einer flexivischen Anpassung an das Lateinische, volkssprachige Wörter, die in den Text integriert und mit Einleitungen wie vulgo oder teutonice angekündigt oder als Glosse hinzugefügt worden sind (dazu Beispiele bei Stricker/Kremer 2014: 240 f.). Im Folgenden sollen weitere Attribute des Leges-Wortschatzes im Mittelpunkt stehen, die ihn für Fragen zur Medizingeschichte relevant machen.
5.1 Semasiologie und Onomasiologie Will man historisch tradierten Wortschatz unter dem Aspekt der Bedeutung oder der Bezeichnung, also semasiologisch oder onomasiologisch auswerten, so bedarf es nicht allein der überlieferten Wörter, sondern auch der realen Äquivalente, der historischen Sachen, Tatbestände oder tatsächlichen Gegebenheiten (vgl. Schmidt-Wiegand 1997: 56). Diese sind uns aber in der Regel nicht mitgeliefert, sondern bestenfalls ebenso nur sprachlich vermittelt und nicht unmittelbar greifbar, ein Problem, das altbekannt ist und zum Beispiel von Oskar Reichmann in seinem Beitrag Historische Lexikologie in Band I (2008) des großen Sammelwerkes Sprachgeschichte klar dargelegt wurde (vgl. auch Bergmann 2009a und 2009b: 1094–1099). Wenn in einem Sachglossar oder gar in einem alphabetischen Glossar das althochdeutsche Wort krampf als Interpretament zu lat. arthrisis (‚Gliederkrankheit‘), zu spasmus (‚Zuckung, Krampf‘), zu arthesis (‚Halserkrankung‘) sowie zu nervus (‚Nervenkrämpfe‘) oder nessia (‚Krankheitsbezeichnung‘) begegnet, ist der Anhaltspunkt für das Verständnis des volkssprachigen Wortes zunächst das lateinische Bezugswort. Demnach scheint das Wort vielfältige Missstände am Körper bezeichnet zu haben, darunter wohl auch das, was wir gemeinhin als ‚Krampf‘ bezeichnen (vgl. Riecke 2004: 372). Ganz genaue Vorstellungen erschließen sich uns damit aber schwerlich, auch
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wenn die Forschung philologische Methoden entwickelt hat, sich der Bedeutung über die Lemmata, über Parallelbezeugungen, über Funktionsanalysen der Texte, über die Mitüberlieferung und gegebenenfalls auch über archäologische Funde sowie weitere Wege zu nähern. Nicht selten muss die genaue Fassung des Gemeinten offen bleiben. Die Leges-Wörter erscheinen aber im Unterschied zu Glossarwörtern nicht als isolierte Worteinträge, sondern als integraler Bestandteil in einem lateinischen Kontext8 . Während der lateinische Text in vielen Fällen in variierender Ausführlichkeit den Tatbestand selbst beschreibt, auf den die rechtliche Bestimmung anzuwenden ist, liefert das volkssprachige Wort, oft ein Determinativkompositum, den entsprechenden Fachbegriff, der den Sachverhalt schlagwortartig erfasst (vgl. Tiefenbach 2009: 960). Das volkssprachige Wort bezieht sich damit auf einen ganzen Sachverhalt und nicht allein auf eine lateinische Wortentsprechung im Text. Auf diese Weise bietet der lateinische Kontext bedeutungsrelevante Aspekte, die eine genauere Fassung des Gemeinten erlauben. Dass mit der Vorstellung des Gemeinten noch nicht gleich eine im Neuhochdeutschen gebräuchliche und verständliche Bedeutungsangabe gefunden ist, wird weiter unten an Beispielen verdeutlicht (vgl. auch Meineke 1998: 66–69).
5.2 Wortschatzbereiche Unter dem Aspekt der in den Leges aufscheinenden Wortschatzbereiche sind die Inserte vor allem auch deshalb relevant für die historische Wortforschung, weil sie sich auf semantische Felder beziehen, die in der Text- wie auch in der Glossenüberlieferung nicht oder nur selten begegnen. Im Mittelpunkt der historischen Sprachforschung standen, was für die vorliegende Textsorte charakteristisch ist, bereits früh die Leges-Wörter aus dem Bereich Recht und Gesetz, wie sie vor allem von Ruth SchmidtWiegand (in zahlreichen Veröffentlichungen) und ihren Schülerinnen in mehreren Arbeiten erforscht worden sind (so zum Beispiel bei Olberg 1983, Hüpper-Dröge 1983, Niederhellmann 1983). Die Reduzierung allein auf diesen Bereich würde der thematischen Vielfalt der Lexeme allerdings nicht gerecht, denn darüber hinaus gibt es viele weitere semantische Felder, zu denen die Inserte beitragen, indem sie entweder unmittelbar zu anderen kulturhistorisch relevanten Sachbereichen gehören oder aber einen Übergang aus der Rechtsterminologie in andere Bedeutungssphären vollziehen. Die im Leges-Wortschatz aufscheinenden Themenbereiche können der Datenbank entnommen werden. Sie präsentiert dazu eine systematische, alphabetisch sortierte Übersicht. Aktuell werden zwölf Oberbereiche unterschieden, die zum Teil noch eine feinere Einteilung in weitere Unterbereiche erfahren haben.
8 Terminologisch werden die Wörter in der Forschung uneinheitlich erfasst. So werden die Lexeme von Rudolf Schützeichel (1986) als „volkssprachige Wörter der Leges“ bezeichnet, von Elmar Seebold (2001: 62) als „Einsprengsel“ und von Franz Beyerle (1956: 100 f.) als „Zitatwörter“. Wir folgen in unserem Vortrag dem jüngsten Vorschlag von Michael Prinz (2010) und sprechen von Inserten.
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Abb. 1: Themenbereiche volkssprachiger Lexeme in LegIT
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Den einzelnen Bereichen werden dabei zum einen die Lemmata zugeordnet, die auf Basis der Lesungen aus den Handschriften gebildet werden. Zum anderen sind bei komplexen Lemmata, namentlich bei Komposita, zusätzlich die einzelnen unmittelbaren Konstituenten einem Sachbereich zugeordnet: – Agrarwirtschaft (gahaio ‚Gehege‘, parch ‚Kornspeicher‘) – Alltägliches Leben (noffus ‚Holzsarg‘, scepfen ‚schaffen, schöpfen‘) – Architektur und Siedlungswesen (stupa ‚Badestube, -haus‘) ¯ ‚Flachs, Leinwand‘) – Handwerk (lin – Kampf und Kriegswesen (infanc ‚Angriff‘, herireita ‚Heerfahrt‘, rouba ‚Beute‘) – Maße und Währung (fuozmaz ‚Fußmaß‘, mezzan ‚messen‘) – Medizin und Heilkunde (dazu weiter unten) – Mythos und Religion (nasthait ‚Nesteleid‘, hereburgio ‚Hexendiener‘) – Namen (Personennamen wie Chlothar und Theodericus, Völkernamen wie Alamanni und Baiuvarii sowie Ortsnamen wie Catalonum) – Rechtswortschatz (ding ‚Gericht, Gerichtstag‘, stabsag¯en ‚unter Eid aussagen‘) ¯ az ¯ ‚Freigelassener‘, galasneo ‚Mit– Ständewesen und Personenbezeichnungen (fril nutzer der Mark‘) – Tiere (spurihunt ‚Spürhund‘, swarzwild ‚Schwarzwild‘) Der hier interessierende Bereich Medizin und Heilkunde ist nach dem Rechtswortschatz (mit bislang insgesamt 209 erfassten Lexemen) der Bereich mit der höchsten Lemma-Frequenz.
5.3 Medizingeschichtliches Wortgut Mit dem semantischen Bereich der Medizin und Heilkunde hat sich Annette Niederhellmann in ihrer 1983 erschienenen Dissertation zum Thema Arzt und Heilkunde in den frühmittelalterlichen Leges und bereits zwei Jahre zuvor in einem Aufsatz zu Schädelverletzungen und ihren Bezeichnungen befasst (Niederhellmann 1981). Ihre materialreiche Dissertation ist wie alle Arbeiten, die der Schule der germanistischen Rechtshistorikerin Ruth Schmidt-Wiegand entstammen, onomasiologisch ausgerichtet. An ihre Gliederung des Themas schließt sich die Grobstrukturierung der medizinhistorischen Domäne in LegIT an (vgl. Niederhellmann 1983: V–X): – Körperteile – Körpersekrete – Verletzungen und Krankheiten – Leben und Tod – Heilmittel und Therapeutisches – Schwangerschaft, Geburt und Abtreibung
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Insgesamt verteilen sich auf die einzelnen in LegIT erfassten Stammesrechte derzeit rund 150 für die Medizingeschichte relevante Lexeme. Dabei reicht die Beleglage von unikalen Formen, die vor allem in Gesetzestexten mit schmaler Überlieferung oder in individuellen Einzelglossierungen begegnen, bis hin zu Types, die rund 100 Tokens aufweisen, wenn sie in unterschiedlichen Leges und mehrfach pro Handschrift vorkommen. Exemplarisch kann hier aus dem Unterbereich Verletzungen und Krankheiten das Adjektiv hrevavunt ‚am Leib verwundet‘ genannt werden, das in bis zu drei unterschiedlichen Textstellen der Lex Baiuvariorum und mindestens einmal in der Lex Alamannorum begegnet und damit in zahlreichen Handschriften belegt ist. In den folgenden Abschnitten wird jeweils anhand eines Beispiels ein Aspekt des Leges-Wortschatzes dargestellt, der die Relevanz der Leges für die Medizingeschichte verdeutlichen soll. Die Beispiele sind dabei bewusst unterschiedlichen semantischen Bereichen entnommen worden, um die Vielfalt der Überlieferung aufzuzeigen.
5.3.1 Exklusive Bezeugung eines Wortes in den Leges Körperteile Das Wortgut der Leges begegnet in simplizischen Formen (wie beispielsweise adra ‚Ader‘ oder apful ‚Augapfel‘) ebenso wie in komplexen Bildungen. Dabei können beide Bestandteile eines Kompositums aus dem Bereich der Medizin stammen (wie hirniwuotig ‚tobsüchtig‘), oder es gehört nur ein Bestandteil in den Bereich der Medizin, der andere in ein anderes semantisches Feld (fuoz-maz ist wegen der Wortbildungsbedeutung ‚die Maßeinheit‘ unter Maße und Währung gebucht, als Beleg für ‚Fuß‘ aber auch unter Körperteile erfasst). Viele der stammessprachlichen Bezeichnungen sind ausschließlich in den Leges bezeugt. Der überwiegende Teil dieser Lexeme existiert in heutiger Zeit nicht mehr. Daraus ergibt sich einerseits das Problem der Bedeutungsermittlung und andererseits vor allem auch die Schwierigkeit der sprachlichen Umsetzung des Gemeinten in das Hochdeutsche unserer Zeit. Auch bei morphologisch durchsichtigen Bildungen ist die Bedeutungsfestlegung und -versprachlichung erschwert, wie an dem Beispielwort wa¯ veranschaulicht werden kann: sobuh Die Zusammensetzung besteht aus ahd. waso- ‚(Pflanz-)Grube, bestellbares Land, bestellter Boden, Erdscholle, feuchte Erde, Rasen(Stück)‘ (SchGW. X: 411 f.) und ahd. ¯ ‚Bauch, Leib‘ (KFW. I: 1478 f.). Die Bedeutungsangabe der beiden Kompositionsbuh glieder alleine kann das mit der Wortbildung Gemeinte allerdings nicht verdeutlichen. Eine morphologisch adäquate Übertragung unter Beibehaltung der Struktur würde zu
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Abb. 2: Themenbereich Körperteile
30 | Stefanie Stricker, Annette Kremer, Vincenz Schwab einem Kompositum *‚Rasenbauch‘ führen9 , das sich allein schon deshalb nicht anbietet, weil ein solches Wort in der Gegenwartssprache schlichtweg nicht existiert und als Okkasionalismus auch nicht aus sich heraus verständlich ist. Erst über den lateinischen Kontext wird die intendierte Bezeichnungsleistung ersichtlich: (1) LSal (D8) Tit. LXXIII: Si quis hominem ingenuum sine manus et sine pedes, quem inimici sui in via truncatum relinquent, occisserit, malb. uuasbucho, IIII den. qui f. sol. C. culp. iud. (MGH LL nat. germ. I,4,2, 122) Wenn einer einen frei Geborenen tötet und ihn seine Gegner ohne Arme und Beine auf einer Straße nur als Rumpf zurücklassen, was bei Gericht uuasbucho (‚Rumpf auf dem Rasen‘) heißt, dann sei er vier Denare schuldig, die 100 Schillinge ergeben.
Um den Gehalt des Wortes ausreichend erfassen zu können, bedarf es einer paraphrasierenden Übersetzung: ‚Rumpf auf dem Rasen; metaph.: Gegner, dessen Gliedmaßen abgeschlagen wurden und dessen Rumpf am Ort des Kampfes zurückgelassen wird‘. Die Wiedergabe durch ein im Neuhochdeutschen verständliches oder gebräuchliches Kompositum ist hier nicht möglich.
5.3.2 Erstbelege in den Leges Körpersekrete Die Leges-Quellen bieten zum einen für viele Wörter eine geschlossene Überlieferungskette seit den Erstbelegen, zum anderen finden sich zu zahlreichen Lemmata des althochdeutschen Sprachschatzes gerade die Erstbelege in den Stammesrechten. Das gilt zum Beispiel für das Wort Schweiß, dessen ältester Beleg sich in der Lex Baiuvariorum in dem Kompositum sweizkuoli¯ ‚Schweißqual, Schweißplage‘ aus der Zeit um 800 zeigt (München, Universitätsbibliothek, 8° 132, Südostbayern, vielleicht Regensburg). In der althochdeutschen Glossenüberlieferung kommt das Kompositum nicht vor. Das Simplex sweiz begegnet nur mit einem Beleg im 10. Jahrhundert (St. Gallen, Stiftsbibliothek 242; BStK.-Nr. 208), alle weiteren Belege sind jünger (vgl. SchGW. IX: 388). Relativ früh, aber später als der Beleg der Lex Baiuvariorum kommt das Verb vor: sweizen ist im Junius 25 (Oxford, Bodleian Library Jun. 25 [f. 87–107]; BStK.-Nr. 725 (I)) sowie in dem Reichenauer Bibelglossar Rd (Karlsruhe, Badische Landesbibliothek Aug. IC; BStK.-Nr. 296 II) aus dem Anfang des 9. Jahrhunderts bezeugt. Die Glossenüberlieferung tradiert zudem die Komposita sweizfang, sueizfano‚ sweiz-
9 So könnten sich ebenso gut die Übersetzungen *‚Landbauch‘, *‚Bodenbauch‘ oder *‚Erdbauch‘ ergeben; wegen der mutmaßlichen Herkunftsgleichheit von ahd. waso und nhd. Rasen (Kluge 2011: 972) wird hier allerdings *‚Rasenbauch‘ vorgeschlagen, um einen morphologischen und phonologischen Fortläufer zu bilden.
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lahhan, sweiztuoh mit der Bedeutung ‚Schweißtuch‘ sowie sweizbad ‚Schwitzbad‘ und sweizloh ‚Schweißpore‘ (SchGW. IX: 388–390). In den Textdenkmälern begegnet sueiz im Tatian und bei Notker, in dem Kompositum sweizlahhan im Tatian und in sweizduoh im Tatian und bei Otfrid; die Belege als Simplex wie als Bestandteil eines Kompositums sind allesamt jünger als das Insert der Bayernrechte (vgl. SchWB.: 325).
5.3.3 Exklusive Bedeutungen in den Leges Verletzungen Einige Wörter bieten zudem eine Bedeutung, die ausschließlich in den Leges-Quellen begegnet. (2) LAla (A) Tit. LVII, 57: Si autem intestinis maculatus fuerit, ut stercora exeant, 40 solidos conponat, quod Alamanni goravunt dicunt. (MGH LL nat. germ. I,4,1, 126) Wenn aber einer an den inneren Organen verwundet wird, sodass Eingeweide austreten, büße man mit 40 Solidi, wozu die Alemannen goravunt (‚an den Gedärmen verwundet‘) sagen.
Ahd. gor- st. N. ‚Kot, Mist‘ (SchGW. IV: 2 f.) ist andernorts in der Überlieferung des Althochdeutschen ausschließlich als Bezeichnung für den Mist von Rindern verwendet (‚Kot (wohl nur vom Tier), Mist, Dung‘ KFW. IV: 331), so beispielsweise wenn die Vitae patrum von der Beschaffung von Düngemitteln für Klöster handeln (vgl. Tiefenbach 1980: 49). Im alemannischen Gesetzestext ist der Bezug auf den Menschen unweigerlich, und so ist gor- hier nicht nur in einer unikalen Lesart bezeugt, sondern auch ein besonders früher Beleg für das Wort aus dem angehenden 10. Jahrhundert (Handschrift der Lex Alamannorum Wien, Österreichische Nationalbibliothek, 502). Das Wort ist in mittelhochdeutscher Zeit nicht mehr bezeugt (Lexer I: 1051) und begegnet in der Gegenwartssprache im schweizerdeutschen Dialekt und hochdeutsch nur in einer verwandten Bildung (nhd. garstig in der Bedeutung von ‚verdorben‘, vgl. Kluge 2011: 333).
5.3.4 Hapax Legomena in den Leges Heilmittel und Therapeutisches Schließlich weist die volkssprachige Leges-Überlieferung nicht wenige Hapax Lego¯ ¯ ‚mit mena auf. In der Lex Alamannorum begegnet ein schwaches on-Verb vir-skobbon einem Stopfen verschließen, mit Werg stopfen‘ (Schmidt-Wiegand 1978: 30), eine Entlehnung aus dem Lateinischen (Kluge 2011: 888) oder eine schwundstufige jan-Verb-
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Bildung (iterativ) zu einer indogermanischen Wurzel *steu- ‚stoßen, schlagen‘ (Riecke 1996: 580 f.). (3) LAla (B) Tit. LIX, 7: Si autem ex ipsa plaga cervella exierit, sicut solet contingere, ut medicus cum medicamento aut sirico stupavit, stupavit id est virscoppot et postea sanavit, et hoc probatum est, quod verum sit, cum 40 solidis conponat. (MGH LL nat. germ. I,5,1, 117) Wenn aber aus dieser Wunde das Gehirn heraustritt, wie es geschehen mag, so dass der Arzt es mit einem Verband oder einem weichen Tuch verbindet, das heißt virscoppot (‘mit einem Stopfen verschließt’), und später gesundet dieser und es wurde Beweis geführt, dass das wahrheitsgemäß ist, dann büße jener mit 40 Solidi.
Aus Perspektive der Medizingeschichte ist beachtenswert, dass bereits im Frühmittelalter ärztliche Eingriffe am Schädel vorgenommen wurden und für den Leidtragenden nicht zwangsläufig mit der Todesfolge verbunden sein mussten, sondern der Geschädigte wieder zu voller Gesundheit kommen konnte. Die Tatsache, dass ein volkssprachiger Begriff für solch eine Behandlungspraxis bestand, legt außerdem die Vermutung nahe, dass derartige operative Eingriffe nicht nur von der hohen klösterlichen und höfischen Medizin, sondern auch von der unteren Schicht der Laienärzte durchgeführt wurden (vgl. Niederhellmann 1986: 79). Dass derart schwere Verletzungen bei den widrigen hygienischen Bedingungen um die Jahrtausendwende überhaupt geheilt werden konnten, muss „selbst dem Arzt von heute noch Bewunderung abnötigen“ (Beyerle 1956: 139 f.).
6 Fazit Die Leges barbarorum und das deutsche Wortgut darin nehmen im Bewusstsein der historischen Sprachforschung seit jeher eine den althochdeutschen Texten und Glossen eher untergeordnete Rolle ein – und das, obwohl sie den beiden anderen Überlieferungsarten zeitlich noch vorausgehen. Es fehlte und fehlt in diesem Bereich noch weitgehend an Grundlagenforschung. Das Bamberger LegIT-Projekt erfasst alle Lexeme und alle Belege germanischen Ursprungs in diesem dritten großen Quellenkomplex der althochdeutschen Überlieferung. Sämtliche Belege werden unmittelbar den handschriftlichen Quellen entnommen, philologisch aufbereitet und in der LegIT-Datenbank entsprechend dargestellt. Dadurch ergibt sich ein valides und überlieferungsgeschichtlich geschlossenes Bild dieser mitunter ältesten Zeugnisse einer deutschen Fachsprache. Jede Handschriftenlesung wird grammatisch bestimmt, mit etymologischen Informationen versehen und es wird zentrale Forschungsliteratur bereitgestellt. Die Leges-Quellen bieten dabei auch für die mittelalterliche medizinische Sprache einen wertvollen Bestand an Wörtern, und zwar in einer für diese Zeit unvergleichbar großen Fülle an Belegen. Zudem ist mit Hapax legomena, mit Frühbelegen, mit zeit-
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nah ausgestorbenem Wortgut und vor allem mit neuen Erkenntnissen zur Bedeutung des historischen Wortmaterials zu rechnen. Durch die philologische Erschließung dieses Wortguts und seine Bereitstellung in einer Datenbank kann für ein medizingeschichtliches Wörterbuch eine ganz wesentliche Vorarbeit geleistet werden.
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Jürgen Wolf
Medizinisches im Handschriftencensus – Zugänge, Fragestellungen, Hilfsmittel, Optionen, Zukunftsprojektionen 1 Handschriftencensus Der Handschriftencensus (HSC) – eine internationale Arbeitsgruppe mit Vertretern aus Deutschland, Österreich und der Schweiz sowie Kontaktpartnern in der ganzen Welt1 – hat sich zum Ziel gesetzt, das gesamte deutschsprachige Handschriftenerbe des Mittelalters in einer frei zugänglichen Datenbank systematisch zu erfassen und damit einerseits das Wissen um diesen zentralen Schatz unseres kulturellen Erbes zu sichern und andererseits für vielfältige Forschungsfragen aufzuschließen. Das Vorhaben fußt auf Vorarbeiten der HSC-Arbeitsgruppe und einer in der Fachcommunity bereits etablierten und bestens vernetzten Online-Forschungsdatenbank (http://www.handschriftencensus.de/). Es schließt an vielfältige Repertorien, Katalogisierungs- und Forschungsprojekte an (aktuelle Übersichten zum Vorhaben und dessen Grundlagen: Heinzle et al. 2008; Krotz/Müller 2008; Klein 2009; Glassner 2009; Wolf 2009; Busch/Könitz 2011; Busch 2012; Wolf 2015). Die Erträge des HSC 1 Nachrichten, Mitteilungen, Korrekturen und Ergänzungen zum HSC kamen bisher aus Aachen, Aarau, Admont, Amsterdam, Andechs, Annaberg-Buchholz, Antwerpen, Aschaffenburg, Augsburg, Bamberg, Basel, Bayreuth, Berlin, Bern, Bernkastel-Kues, Bielefeld, Birmingham, Bloomington, Bochum, Bonn, Bozen, Brandenburg, Bremen, Breslau/Wrocław, Brühl, Brünn/Brno, Budapest, Budweis/České Budějovice, Cambridge, Mass., Chapel Hill, Chemnitz, Cluj-Napoca/Klausenburg, Coesfeld, Cunico/Asti, Darmstadt, Den Haag, Dortmund, Dresden, Eichstätt, Emmen, Niederlande, Ennetbaden, Erfurt, Erlangen, Essen, Euskirchen, Fayetteville, Florenz, Frankfurt a.M., Freiburg i. Br., Freudenberg, Fribourg/CH, Fulda, Genf, Gießen, Gotha, Göttingen, Graz, Greifswald, Guckheim, Halle/Saale, Hamburg, Hamm, Hannover, Heerlen, Heeswijk-Dinther, Niederlande –Heidelberg, Herrsching, Hildrizhausen, Hull, Igis, Kt. Graubünden, Innsbruck, Isny, Jena, Jerusalem, Karlsruhe, Kassel, Kiedrich im Rheingau, Kiel, Klagenfurt, Koblenz, Köln, Konstanz, Kopenhagen, Långshyttan, Schweden, Lausanne, Lecce, Leiden, Leipzig, Leutkirch, Linz, Ljubljana, London, Louvain-la-Neuve, Magdeburg, Mailand, Mainz, Mannheim, Marburg, Meckenheim/Issum, Metz, Mönchengladbach, Moskau, Mühlhausen, München, Münster, Naumburg, Neu-Ulm, New Haven/Conn., Newcastle, Nordhausen, Nürnberg, Oldenburg, Oosterhout NB, Niederlande, Osnabrück, Oxford, Oxford/Ohio, Paris, Pavia, Pescara, Pößneck, Prag, Prešov, Princeton NJ, Quedlinburg, Regensburg, Reinbek, Rhens, Rom, Rosolini, Rostock, Rotkreuz/Schweiz, Salzburg, San Diego/Kalifornien, Schwarzenbruck, Schwaz, Schwerin, Sharjah, Siegen, Solothurn, Sondershausen, St. Paul im Lavanttal, St. Petersburg, Stalden/Schweiz, Stockerau/NÖ, Stuttgart, Tallinn, Tauberbischofsheim, Thorn/Toruń, Toronto, Trier, Tübingen, Ulm, Vorchdorf, Waddinxveen/Niederlande, Warschau, Weimar, Wien, Wienhausen, Wiesbaden, Wittenberg, Wolfenbüttel, Worms, Würzburg, Yokohama/Japan, Zürich, Zwickau. DOI 10.1515/9783110524758-004
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werden via Online-Datenbank zeitnah und frei allen historischen Disziplinen zur Verfügung gestellt. Das betrifft in erster Linie die Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, aber auch die Historischen Wissenschaften, die Rechts- und Wirtschafts-, Frömmigkeits-, Wissenschafts-, Medien- , in Gestalt der illustrierten Handschriften auch die Kunstgeschichte sowie nicht zuletzt die Medizingeschichte. Die Form der digitalen Präsentation erlaubt es, die vorgehaltenen Informationen zu kodieren, um gezielt nach ihnen suchen zu können. Als dynamische Ressource ermöglicht die HSC-Datenbank zudem eine laufende Aktualisierung und Gestaltung der Daten und Benutzeroberflächen sowie eine vielfältige Vernetzung mit darüber hinausgehenden relevanten Informationen und anderen Datenbanken. Derzeit (Stand 12/2015) verzeichnet der HSC über 24.000 Handschriften und Fragmente in rund 28.000 Signaturen aus 777 Bibliotheksorten mit 1.495 Bibliotheken, Archiven, Sammlungen etc. sowie über 1.000 Textzeugen in Privatbesitz; darunter in überwiegender Zahl jedoch historischer Privatbesitz, d. h. viele dieser Handschriften befinden sich mittlerweile in öffentlichen Sammlungen; anderes gilt seit dem 2. Weltkrieg als vernichtet oder verschollen. Erfasst sind über 6.700 mittelalterliche deutsche Autoren und Werke. In der integrierten HSC-Literaturdatenbank sind ergänzend über 18.600 Publikationen zu den einzelnen Handschriften und Fragmenten nachgewiesen.
2 Medizinisches im Handschriftencensus Schon früh tauchen in der volkssprachig-deutschen Buchüberlieferung auch medizinische bzw. heilkundliche Texte auf (vgl. etwa die einschlägigen Medizin-Artikel im 2 Verfasserlexikon sowie Eis 1982; Schnell 1989; Schnell 2003 u. programmatisch Schnell 1994; Schnell 2003a; Riecke 2004; Schnell 2005). Nur wenige medizinische Texte – oft in fließendem Übergang zu Segen, Sprüchen, Beschwörungsformeln u. ä. – datieren noch in die althochdeutsche Zeit. Das Paderborner Repertorium (PbReb = http://www.paderborner-repertorium.de/) verzeichnet kaum mehr als 20 Handschriften mit ahd. Segen und einige Rezepte (z. B. Baseler Rezepte, Rezept gegen Stein). Echte Kräuter- oder Arzneibücher in der Volkssprache sind überhaupt erst seit dem 12. Jahrhundert fassbar: Arzenîbuoch Ipocratis, Innsbrucker Arzneibuch, Innsbrucker Kräuterbuch. Das Gros dieser Texte gehört dem 14. bzw. sogar in weit überwiegender Zahl dem 15. Jahrhundert an. Eine Durchsicht des HSC samt aller angeschlossenen Repertorien ergab für den Bereich Medizin mit allen Randgebieten mehr als 1.500, rechnet man unklare Textbestimmungen im weiteren Feld der pragmatischen Schriftlichkeit hinzu, sogar über 2.000 Handschriften und Fragmente (s. u. zur Relativität der Zahlen) mit medizinischem Textmaterial. Darunter befinden sich so bekannte, meist gut erschlossene Autoren/Werke wie (Stand 12/2015):
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Abdinghofer Arzneibuch 1 Hs. (vgl. HSC http://www.handschriftencensus.de/werke/2579 u. Temmen 2006) Meister Albrant: Roßarzneibuch 42 Hss. (vgl. HSC http://www.handschriftencensus.de/werke/677 u. Eis 1960) Arzenîbuoch Ipocratis 2 Hss. (vgl. HSC http://www.handschriftencensus.de/werke/27) Bartholomäus 32 Hss. (vgl. HSC http://www.handschriftencensus.de/werke/780) Gart der Gesundheit 2 Hss. (vgl. HSC http://www.handschriftencensus.de/werke/831) Macer (ältere dt. Vulgatfassung) 30 Hss. (vgl. HSC http://www.handschriftencensus.de/werke/6554 u. Schnell/Crossgrove 2003) Macer 8 Hss. (vgl. HSC http://www.handschriftencensus.de/werke/5887 u. Schnell/Crossgrove 2003) Macer (Jüngere Prosabearbeitung) 1 Hs. (vgl. HSC http://www.handschriftencensus.de/werke/6553 u. Schnell/Crossgrove 2003) Ortolf von Baierland: Arzneibuch 61 Hss. (vgl. HSC http://www.handschriftencensus.de/werke/700 u. Riha 2014) Secretum Secretorum 47 Hss. (vgl. HSC http://www.handschriftencensus.de/10376 u. Forster 2006)
Rechnet man zu diesen knapp 230 Handschriften mit relativ klar identifizierbaren Autor- bzw. Werkeinheiten noch einmal eine ähnlich hohe Zahl vergleichsweise sicherer Werk- bzw. Autoridentifikationen hinzu, erscheinen immerhin mehr als ein halbes Tausend medizinischer Handschriften des Mittelalters gut greifbar, was die oben genannten rund 230 Textzeugen bedeutenderer Medizinwerke betrifft, mit Editionen und/oder Spezialuntersuchungen sogar leidlich gut erschlossen.
2.1 Probleme: Was ist überhaupt Medizinüberlieferung im Mittelalter? Bei der Bewertung der Befunde ergibt sich jedoch ein großes Unschärfeproblem, denn die allermeisten medizinischen Texte sind von der Forschung eben gerade nicht mit eindeutigen Autoridentifikationen versehen oder mit Werktiteln fassbar gemacht worden. Zudem ist oft unklar, ob die Texte überhaupt als medizinisch klassifiziert werden können (z. B. bei Segen, Notizen, Einträgen, Rezepten etc.). Selbst größere Arznei-, Medizin- und Kräuterbuchsammlungen entziehen sich wegen ihrer überaus heterogenen Textkonglomerate oft einer genaueren Bestimmung. Bei der weitaus größten
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Abb. 1: Gesamtverzeichnis der Macer-Überlieferung im HSC (Quelle: HSC-Datenbank = http://www.handschriftencensus.de/werke/6554; Stand 12/2015)
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Menge medizinischen Textgutes handelt es sich gleich gar um kleinere bis kleinste Texteinheiten, und zwar nicht selten ein- oder nachgetragen: Rezepte, Beschreibungen, Notizen, Formeln, Segen uvm. Erschwerend kommt hinzu, dass deren Quellen/Vorlagen/Autoren bisher in der Regel kaum identifiziert wurden oder unklar ist, inwieweit sie überhaupt individuelles Textgut darstellen. So sind im HSC beispielsweise über 1.000 Textzeugen unspezifisch, unidentifiziert, summarisch im betreffenden Gattungsfeld erfasst: – Arzneibuch (allg.) ca. 90 Hss. – Kräuterbuch (allg.) ca. 80 Hss. – Medizin (allg.) ca. 600 Hss. – Medizinisches Sammelhandschrift ca. 30 Hss. – Rezept(e) (allg.) ca. 400 Hss. – Rossarznei (allg.) ca. 70 Hss. Hinzu kommt eine allenfalls grob abschätzbare Menge bisher noch nirgendwo beschriebener medizinischer Texte, denn viele, von der Forschung weder katalogisierte noch erschlossene lat.-dt. Sammelhandschriften des 15. Jahrhunderts enthalten kleine und kleinste Medizin(bruch)stücke. Deren Zahl lässt sich letztendlich noch nicht einmal grob schätzen: – Nicht erfasstes Medizingut ??? Hss. Wie die Zahlen vermuten lassen, ergibt sich hier ein schwer kalkulierbares quantitatives Problem. Durch Überschneidungen infolge von Exzerpt- und Teilüberlieferungen, fehlerhaften Identifizierungen und Zuordnungen und – so vor allem den im 2 Verfasserlexikon in großer Zahl anzutreffenden – Doppel- und Mehrfachnennungen (ein und derselbe Text unter dem Autor, unter dem Texttitel, unter größeren Werkeinheiten usw.) erscheint eine exakte quantitative Erfassung des Materials schlicht unmöglich. Ein Beispiel mag genügen, um die Brisanz für die Bewertung des gesamten Überlieferungsfeldes deutlich zu machen: Gundolf Keil verweist im Bartholomäus-Artikel des 2 Verfasserlexikons auf mehrere hundert Textzeugen. „Die ‚B.‘-Überlieferung setzt um 1200 ein, erfasst den ganzen dt. Sprachraum, hat in Fremdsprachen ausgestrahlt und erreicht durch Streuung die Zahl von mehr als 200 Textzeugen“ (Keil, Sp. 612). Tatsächlich nachweisbar sind aber kaum mehr als 30 Handschriften mit größeren Bartholomäus -Textpartien (aktuelle Überlieferungsübersicht: http://www.handschriftencensus.de/werke/40; Stand 12/2015), wobei selbst diese den oder einen Bartholomäus in aller Regel eben nur rudimentär, exzerpierend, bruchstückhaft enthalten. Für die vermeintlich mehr als 170 weiteren BartholomäusTextzeugen gilt, dass in den entsprechenden medizinischen, naturkundlichen oder ganz frei zusammengestellten Sammelhandschriften wenige, oft nur 1–2 Bartholomäus-Rezepte enthalten sind, die im Zusammenspiel mit anderen Exzerpten, Einträgen, Notizen bisweilen wieder völlig eigene Arzneibücher ergeben. Man muss hier also zwischen Corpus-Überlieferung, Exzerpt-Überlieferung und Streuüberlieferung trennen,
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doch ist dies weder hier noch überhaupt in der Medizinüberlieferung flächendeckend realisiert. Für die Sprach- und Wortschatzforschung sind gerade diese immer wieder neu entstehenden Sammlungsverbünde und darin vor allem die kleinen und kleinsten, schwer fassbaren Texte von höchstem Interesse, bieten sie doch lokales, individuelles, aktuelles und bisweilen höchst innovatives Sprachgut. Speziell in diesem Bereich kann man – weil nicht in der bzw. durch die Text-/Überlieferungstradition normiert – überproportional häufig auf neue, nicht kanonisierte, schnell wieder verworfene oder erst sehr viel später gebräuchlich gewordene Fachbegriffe treffen. Der HSC bietet mit seinen Zugriffsoptionen und – in der geplanten Ausbaustufe – Suchmasken einzigartige Möglichkeiten, solchem „verschütteten“ Material auf die Spur zu kommen. Auf ein weiteres Medizinphänomen sei in diesem Kontext ebenfalls relativierend hingewiesen: die für dieses Textfeld oft charakteristische bis in die Neuzeit reichende Überlieferung. Sie ist in den Repertorien (PbRep, MR13/14) und im Handschriftencensus (HSC) allenfalls rudimentär erfasst und im 2 Verfasserlexikon auch nur gelegentlich angedeutet. Für einige wichtige, besonders populäre, geradezu zeitlose Sammlungen wie Albrants Roßarzneibuch macht der neuzeitliche Teil aber überhaupt das Gros der Überlieferung aus. D. h. wenn man ein Textkorpus für die Wortschatzauswertung zusammenstellen will, reicht es für die mittelalterlichen Werke nicht, sie mit den ‚üblichen‘ Werkzeugen der germanistischen Mediävistik erschließen zu wollen. Und die Erschließungssituation für neuzeitliche Abschriften mittelalterlicher Werke sieht in der Regel schlecht aus.
3 Zukunftsprojektionen Ziel des HSC ist die flächendeckende Basiserschließung aller deutschsprachigen Handschriften und Fragmente des Mittelalters. Erfassungsgrundlage ist der in der Forschung gängige erweiterte Textbegriff, wie er dem Verfasserlexikon in seiner 2. Auflage zugrunde liegt. Er geht von literaturwissenschaftlichen Interessen aus, ist aber interdisziplinär angelegt, d. h. die gesamte Medizinüberlieferung inklusive kleiner und kleinster Texteinheiten steht im Sinn einer allumfassenden Überlieferungserfassung im Fokus des HSC-Sammlungs- und -Analyseinteresses. Dieser Aussage kommt für die Medizinüberlieferung in der Germanistik grundlegende Bedeutung zu, denn anders als in den bisherigen Buchpublikationen zu Einzelwerken bzw. Einzeltexten, Spezialuntersuchungen, selektierenden Lexikonartikeln (s. o.), aber auch zu den bislang allesamt unbefriedigenden, weil unvollständigen Versuchen, einen Überblick über die gesamte volkssprachige Medizinüberlieferung des Mittelalters zu liefern (s. o.), werden hier ungeachtet von Autorzuordnung, Quelle, Größe, Qualität und Singularität perspektivisch tatsächlich a l l e relevanten Medizintexte erfasst bzw. in Zukunft erfasst sein.
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Abb. 2: Sammelhandschrift – medizinische Texte nur rudimentär identifiziert (Quelle: HSCDatenbank = http://www.handschriftencensus.de/24053; Stand 12/2015)
Das Vorhaben steckt gerade wegen der hochproblematischen Überlieferungslage in diesem Textsortensegment allerdings noch in den Anfängen, doch wie skizziert, dürfte ein nicht unerheblicher Teil dieser Texte zumindest in Kurzbeschreibungen schon im HSC sichtbar sein (Beispiele in Abb. 2 und 3). Erschlossen ist davon freilich nur der geringste Teil. Für die Zukunft der deutschen Medizinüberlieferungsforschung werden deshalb drei ineinander verschachtelte Aspekte von zentraler Bedeutung sein: A) die weitere wissenschaftliche und editorische Erschließung bereits bekannter Überlieferungszeugen, Texte und Autoren, B) die Identifikation sowie wissenschaftliche und editorische Erschließung unbekannter/unidentifizierter/unerschlossener Texte in bereits erfassten Handschriften, C) die kontinuierliche Erfassung und Erschließung von Neufunden. Der HSC kann dabei Überlieferungsplattform, Forschungsplattform, Forschungsnetzwerk und Kommunikationsinstrument in einem sein. Unabdingbare Voraussetzung für den Erfolg eines solchen Ansatzes ist die Vernetzung der gesamten Forschungscommunity, und zwar über Fächer- und Institutionengrenzen hinweg. Nur so wird sich eine umfassende Gesamtaufnahme der Medizinüberlieferung des deutschen Mittelalters realisieren lassen. Deren Erträge ihrerseits für die Sprachforschung, die Semantik, die Fachgeschichte und diverse kultur- wie literaturhistorische Fragestellungen entscheidende Grundlagen liefern. Wir sprechen hier also von ‚noch zu leistender Grundlagenforschung‘ in erheblicher Dimension.
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Abb. 3: Neu entdeckter Medizintext; unidentifiziert (Quelle: HSC-Datenbank = http://www.handschriftencensus.de/23854; Stand 12/2015)
Abb. 4: Zukunftsprojektion ‚Medizin zwischen HSC und Forschung’
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Online-Ressourcen HSC = http://www.handschriftencensus.de/ (Stand 11/2015) HSC-Literaturdatenbank = http://www.handschriftencensus.de/forschungsliteratur (Stand 11/2015) PbRep = http://www.paderborner-repertorium.de/ (Stand 11/2015) MR13/14 = http://www.mr1314.de/ (Stand 11/2015)
Quellen Das Arzneibuch Ortolfs von Baierland. Auf der Grundlage der Arbeit des von Gundolf Keil geleiteten Teilprojekts des SFB 226 ‚Wissensvermittelnde und wissensorganisierende Literatur im Mittelalter‘ zum Druck gebracht, eingeleitet und kommentiert von Ortrun Riha (Hrsg.) (2014). (Wissensliteratur im Mittelalter 50). Wiesbaden. Der deutsche ‚Macer‘. Vulgatfassung. Mit einem Abdruck des lateinischen Macer Floridus ‘De viribus herbarum’. Bernhard Schnell in Zusammenarbeit mit William Crossgrove (Hrsg.) (2003). (Texte und Textgeschichte 50). Tübingen.
Literatur Busch, Nathanael (2012): www.handschriftencensus.de. Eine Datenbank sammelt Informationen zu deutschsprachigen Handschriften aus Hessen. In: Archiv-Nachrichten aus Hessen 12/1, 28–30. Busch, Nathanael/Daniel Könitz (2011): Editionen und Übersetzungen im ‚Handschriftencensus‘. In: ZfdA 140, 415. Eis, Gerhard (1960): Meister Albrants Roßarzneibuch. Verzeichnis der Handschriften, Text der ältesten Fassung, Literaturverzeichnis. Konstanz. Eis, Gerhard (1982): Medizinische Fachprosa des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur 48). Amsterdam. Forster, Regula (2006): Das Geheimnis der Geheimnisse. Die arabischen und deutschen Fassungen ¯ der pseudo-aristotelischen Sirr al-asrar/Secretum secretorum. (Wissensliteratur im Mittelalter 43). Wiesbaden 2006. Glassner, Christine (2009): Die Online-Bibliographie ‚Forschungsliteratur zu deutschsprachigen Handschriften des Mittelalters‘ im ‚Handschriftencensus‘. In: ZfdA 138, 556 f. Heinzle, Joachim u. a. (2008): Aktuelle Publikationen zum HSC: Zum aktuellen Stand der ‘Marburger Repertorien’. In: ZfdA 137, 134–136. Keil, Gundolf (1978): ‚Bartholomäus‘. In: 2 Verfasserlexikon I, Sp. 609–615. Klein, Klaus (2009): Grundlagen auf dem Weg zum Text: www.handschriftencensus.de. In: Wernfried Hofmeister, Andrea Hofmeister-Winter (Hrsg.): Wege zum Text. Überlegungen zur Verfügbarkeit mediävistischer Editionen im 21. Jahrhundert. Grazer Kolloquium 17.–19. September 2008. (Beihefte zu editio 30). Tübingen, 113–119. Krotz, Elke/Stephan Müller (2008): Das Paderborner Repertorium der deutschsprachigen Textüberlieferung des 8. bis 12. Jahrhunderts. In: ZfdA 137, 274 f.
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Riecke, Jörg (2004): Die Frühgeschichte der mittelalterlichen medizinischen Fachsprache im Deutschen, Bd. 1: Untersuchungen, Bd. 2: Wörterbuch. Berlin/New York. Schnell, Bernhard (1989): Von den wurzen. Text- und überlieferungsgeschichtliche Studien zur pharmakographischen deutschen Literatur des Mittelalters. Habil. (masch.) Würzburg. Schnell, Bernhard (1994): Vorüberlegungen zu einer "Geschichte der deutschen Medizinliteratur des Mittelaltersäm Beispiel des 12. Jahrhunderts. In: Sudhoffs Archiv 78, 90–97. Schnell, Bernhard (2003a): Die deutsche Medizinliteratur im 13. Jahrhundert: Ein erster Überblick. In: Christa Bertelsmeier-Kierst, Christopher Young (Hrsg.): Eine Epoche im Umbruch. Volkssprachliche Literalität 1200–1300. Cambridger Symposium 2001. Tübingen, 249–265. Schnell, Bernhard (2005): Als ich geschriben vant von eines wises meister hant. Die deutschen Kräuterbücher des Mittelalters – Ein Überblick. In: Ortrun Riha (Hrsg.): Heilkunde im Mittelalter. (Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 10,1). Berlin, 116–131. Temmen, Mareike (2006): Das ‚Abdinghofer Arzneibuch‘. Edition und Untersuchung einer Handschrift mittelniederdeutscher Fachprosa. (Niederdeutsche Studien 51). Köln/Weimar/Wien, 313–392. Verfasserlexikon (1978–2008) = Kurt Ruh (federführend bis Bd. 8) zusammen mit Gundolf Keil, Werner Schröder, Burghart Wachinger (federführend ab Bd. 9), Franz Josef Worstbrock (Hrsg.): Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Band 1–14. Berlin/New York. Wolf, Jürgen (2009): Handschriftencensus – Eine Bestandsaufnahme. In: ZfdA 138, 279 f. Wolf, Jürgen (2015): Handschriftenfragmente im Blick der germanistischen Forschung. Fragestellungen, Hilfsmittel, Projekte. In: Hanns Peter Neuheuser, Wolfgang Schmitz (Hrsg.): Fragment und Makulatur. Überlieferungsstörungen und Forschungsbedarf bei Kulturgut in Archiven und Bibliotheken. (Buchwissenschaftliche Beiträge 91). Wiesbaden, 223–230.
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Krankheitsbezeichnungen in der Chirurgia des Juden von Salms 1 Einleitung Unter in böhmischen und mährischen Archiven und Bibliotheken aufbewahrten medizinischen Handschriften1 befinden sich mehrere chirurgische Traktate, welche die Problematik, mit der sich ein mittelalterlicher Wundarzt auseinandersetzen musste, aus verschiedenen Perspektiven darstellen. In dem medizinischen Kompendium des sog. Juden von Salms begegnet man auf den Blättern 142ra–168rb einem Text, dessen Inhalt in vieler Hinsicht die chirurgische Praxis berührt, auch wenn er nicht aus der Sicht eines Wundarztes, sondern aus der eines natürlichen meisters, also eines Akademiker-Arztes, geschrieben wurde. Im Folgenden wird auf die Art und Weise eingegangen, wie das Fachwissen in diesem Text vermittelt wird, eingegangen, wobei die Aufmerksamkeit besonders auf die Anwendung und den Umgang mit Fachtermini gelenkt wird.
2 Die Chirurgia des Juden von Salms 2.1 Zur Autor- und Adressatenbezogenheit im Text Die Chirurgia ist Bestandteil der Handschrift Nr. 448 aus Český Krumlov/Krumau, in der das medizinische Kompendium des sog. Juden von Salms (Solms) vorliegt. Es handelt sich um eine Abschrift, die spätestens Ende der 40er Jahre des 15. Jahrhunderts geschrieben wurde, etwa 15–20 Jahre nach der Abfassung des Originalwerkes (vgl. Bok 1999: 88). Neben dem Krumauer Textzeugen sind noch zwei weitere bekannt: der eine befindet sich in Erlangen, der andere in Zürich. Der Krumauer Text ist der älteste davon (vgl. Bok: 2014: 65). Das Kompendium enthält mehrere thematisch unterschiedlich ausgerichtete Schriften:2 Es handelt sich um Kompilationen bzw. Übersetzungen 1 Eine Übersicht der in böhmischen und mährischen Archiven und Bibliotheken aufbewahrten Handschriften medizinischen Inhalts aus dem 14.-16. Jahrhundert ist unter www.osu.cz/medizinischehandschriften zu finden (vgl. auch Vaňková 2014a). Für eine kommentierte Auswahl von Texten, die einige für die deutsche medizinische heilkundliche Literatur des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit typische Textsorten repräsentieren, siehe Vaňková (2014b). 2 Die Krumauer Überlieferung besteht aus folgenden Teilen: einer Übersetzung von Passagen aus den Schriften von Avicenna, der eine Übersetzung von Secretarium practicae medicinae des angesehenen DOI 10.1515/9783110524758-005
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verschiedener medizinischer Texte ins Deutsche, in die der Autor Erfahrungen aus seiner eigenen therapeutischen Praxis eingearbeitet hat. Vom Juden von Salms ist wenig bekannt: einige Informationen über sein Leben bieten seine eigenen Bemerkungen in seinem Kompendium, denen zufolge er zur Arbeit an den Übersetzungen wahrscheinlich von seinem Gönner, dem Grafen von Sponheim-Starkenburg angeregt wurde (vgl. Bok 2014: 68). Da sich der Autor selbst manchmal als Hesse Jude von Solms bezeichnet, könnte man annehmen, er stamme aus der hessischen Grafschaft Solms. Bok (2014: 66)3 führt zu seiner Herkunft an: Viel wahrscheinlicher ist es jedoch, dass Hesse sein eigentlicher Name ist, der mit Hessen nichts zu tun hat. Zuweilen nennt er sich auch nach seinem Geburtsort, der entweder das etwa 65 km westlich von Straßburg liegende Salm in den Vogesen oder das im deutschsprachigen Teil Walloniens gelegene Vielsalm (etwa 60 km südwestlich von Liège) sein kann.
Die Chirurgia beginnt auf Bl. 142ra. In der Krumauer Überlieferung fehlt ihr Anfang, der erhaltene Text beginnt mit einem Antidotar, das mit dem Rezept für Juden pflaster Vnd also sal is gemacht einsetzt. In der Erlanger Überlieferung der Handschrift des Juden von Salms ist der Textanfang erhalten geblieben; Es wird hier Bartholomeus von Montfort (momfart, ain wunden maister (Hs. 1376, 134r) genannt, der – wenigstens für diesen Teil der chirurgischen Abhandlung – als Quelle betrachtet wurde (vgl. Keil 1978a). Der Jude von Salms beruft sich jedoch auch auf weitere in jener Zeit tätige bekannte Ärzte und anerkannte Autoritäten. Von den letzteren findet man im Text Verweise auf Isaak Israeli4 , Moses Maimonides5 , Albertus Magnus6 , Avicenna7 , Rhasis8 oder Galen9 . Galen wird auch im Zusammenhang mit dem buch daz ist genant passinodari10 erwähnt. Als eine andere Quelle wird Almansor genannt, eine medizinische Schrift, ¯ ¯ih al-Mansur ¯ verfasst wurde (vgl. Ullmann 1970: die von Rhases für den König abu¯ Sal 132). Von seinen Zeitgenossen nennt der Jude von Salms z. B. Johannes benisi (wahrscheinlich die verballhornte Form des Namens von Johannes Beris‘11 ), auf dessen
französischen Arztes Johannes Jacobi von Montpellier folgt. Die Chirurgia stellt den dritten Teil des Kompendiums dar; im vierten Teil ist ein Gesundheitsregimen (teilweise aus Isaak Judeus, vgl. Keil 2015: 19) zu finden, im letzten Teil dann die Übersetzung des lateinischen Drogenverzeichnisses Circa instans, das jedoch nur die Behandlung von Pflanzen von A-D enthält. Ausführlicher zum Inhalt vgl. Bok (2014: 68 f.) in Anlehnung an Keil (1961: 136, 139–141; 1983: 889–891). 3 Zur örtlichen Herkunft des Juden von Salms und zu seinem Namen vgl. auch Matuschka (1990). 4 Isaak Israeli (lateinisch Isaak Judaeus), Philosoph und Arzt des 9./10. Jahrhunderts (840/50–921) ist Autor mehrerer medizinischer Schriften, von denen Buch der Fieber‚ Buch über den Harn und das maßgebliche Werk über Nahrungsmittel-Diätetik zu den bedeutendsten gehören, vgl. Nägele (2001); Keil (2009). 5 Moses Maimonides (Ibn Maimon) (1138–1204), jüdischer Philosoph, Gelehrter und Arzt, ist vor allem dadurch bekannt, dass er sowohl Leib als auch Geist zu heilen versuchte (vgl. Schipperges 2005: 885).
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Werk er sich bei der Unterscheidung von Apostemen stützt, oder Meyster nattan de[n] artz zu montzbellere. Es geht wahrscheinlich um einen Zeitgenossen des Juden von Salms aus Montpellier, dessen Art der Therapie er erfolgreich angewendet hat: Vnd dissen bresten habe ich gesehen Meyster nattan dem artz zu montzbellere vnd habnt geseheen die blude von siner wysheyt vnd siner ertznye vnd waz er wurket (vnd also habe ich gewanheyt vnd habe daz getan zu male dick. (Bl. 150va) Mehrmals führt der Jude von Salms Namen von Ärzten an, von denen er das entsprechende Rezept übernommen hat. Von diesen konnten nur einige identifiziert werden, wie z. B. Meister Agrius von Brüne (im Text als agrius von vrüne, surdiacus des königs von Frankreich und des papstes leo bezeichnet). Er wird bei einem Rezept erwähnt, nach dem zur Behandlung von Halsdrüsen gebratene Hoden eines Pferds erfolgreich eingesetzt wurden (vgl. Bl. 162rb).12 Im Zusammenhang mit einem Pflaster gegen Brüche, Podagra, Grind und verschiedene Wunden wird Meister Joseph Benedictus (Bl. 146va), wahrscheinlich ein jüdischer Arzt, gelobt: daz hette dick meyster Joseph benedictus daz syn gelich wart nye geboren. Auf Bl. 157v beruft sich der Jude von Salms auf ein Buch über gegicht, dessen Autor meister julius focicus (= physicus), alchemat, konig von garnada sein soll. Man findet im Text auch weniger konkrete Angaben über die Quelle: Die salbe hant gemacht die meister von egypti. . . (144ra). Gelegentlich übernimmt der Jude von Salms auch Informationen aus zweiter (bzw. dritter) Hand. So erzählt er eine Geschichte, auf die er bei Rhases gestoßen ist. Dieser
6 Albertus Magnus (um 1200–1280), deutscher Philosoph und Autor, der „wie kaum ein anderer mittelalterlicher Denker das theologische, philosophische, naturwissenschaftliche und medizinische Wissen seiner Zeit beherrschte und seinen Zeitgenossen zugänglich macht.“ (Kübel 1995: 294–299). Für die praktische Medizin und Pharmazie wurden insbesondere sein ‚Tierbuch‘ und sein ‚Pflanzenbuch‘ wichtig. ¯ (980–1037) ist wahrscheinlich der bekannteste Vertreter der arabischen Medi7 Avicenna (Ibn S¯ina) zin. Sein aus fünf Büchern bestehender Canon medicinae zeigt eine durchdachte Systematik und hatte als wichtiges Lehrbuch Einfluss bis ins 17. Jahrhundert. (vgl. Schipperges 2005: 1334–1336). ¯ ¯i / Abu¯ Bakr Muh.ammad ibn Zakar¯iya) ¯ (865–925), ein vielseitiger Gelehrter, bedeu8 Rhases (Ar-Raz tender persischer Arzt, Autor von mehreren Werken zur Medizin, von denen am häufigsten ‚Liber nonus‘, auch ‚Liber Almansori‘ zitiert wird (vgl. Schipperges 2005: 217–1219). 9 Galen (ca. 131–200 n. Chr.), verhalf der hippokratischen Vier-Säfte-Lehre zu neuer und andauernder Geltung. Sein umfangreiches Werk wurde von den Arabern rezipiert und gelangte so in das mittelalterliche Abendland, wo er kanonische Autorität besaß (vgl. Bein 1989: 67). 10 Gemeint ist ‚Passionarius‘ (Galieni), eine medizinische Sammelhandschrift, die Gariopont (Warimbod, Guarimpot) zugeschrieben wird. Gariopont (11. Jahrhundert) war ein oberdeutscher, vielleicht langobardischer Arzt, einer der Ärzte der Schule von Salerno, der vor allem durch die Bearbeitung eines frühmal. Corpus Galens bekannt wurde (vgl. Wegner 2005: 457). 11 Johannes Beris (auch als Johannes von Paris bekannt) war ein moselfränkischer Wundarzt der 1. Hälfte des 15. Jahrhunderts, der im deutschsprachigen Raum großen Einfluss, u.a. auch auf Heinrich von Pfalzpaint, hatte (vgl. Keil 1978b: 724–725). 12 Vgl. auch Haage/Wegner (2007: 206).
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soll sie von einem Mönch gehört haben, der die Genesung eines seiner Gesellen schilderte. Der sei an Podagra erkrankt und kein Medikament habe ihm helfen können. Da habe er einen Traum gehabt, in dem die Herstellung eines Medikaments vorgeführt worden sei. Nach dem Erwachen habe er das entsprechende Medikament gemäß dem Traum zubereitet, eingenommen und ist genesen (vgl. Bl. 157rb–157va). Der Jude von Solms begnügt sich aber mit dem damals üblichen Zitieren von allgemein anerkannten Autoritäten nicht. Auch wenn die Autoren von mittelalterlichen Fachprosawerken meist nicht genannt werden und anonym bleiben, rückt der Jude von Salms in seinem Werk auf mehrfache Weise in den Vordergrund. Einerseits weist er auf seine eigene Person durch die Betonung seiner Zugehörigkeit zu einer Gruppe von Fachleuten (Ärzten) hin: Und die vnnaturlich meister hant eyn gewanheyt daz sie snydent die fistel uß vnd machent sie wyt Vnd mit der konst die sie dünt verderbent sie den menschen Und wir naturlich meister han eyn gewanheyt daz zu doden vnd zu stillen mit starckem poluer vnd erwiedet daz loch vnd also dünt sie. (151rb –151va)
Er deutet also an, dass er nicht zu den vnnaturlich meister gehört: Damit sind die Chirurgen gemeint, die – ohne Kenntnis der Res naturales – durch ihre operativen Eingriffe nur Schaden anrichten (verderbent den menschen). Naturlich meister – denen die Res naturales, non naturales et contra naturam bekannt sind (vgl. Schmitt 1999, VII: 750– 753) – gehen bei der Behandlung davon aus, dass Fisteln oder Krebs durch Applikation von entsprechenden Medikamenten geheilt werden können. Darüber hinaus tritt der Autor mehrmals im Text in der ich-Form auf, wobei er sich nicht scheut, an mehreren Stellen seinen Namen anzuführen und auf seine eigenen therapeutischen Erfolge aufmerksam zu machen. In diesen Passagen, die durch die Verwendung des Präteritums einen narrativen Charakter tragen,13 schildert er erfolgreiche Therapie-Beispiele aus seiner Praxis; einmal erscheint sogar er selbst als Patient: Item eyn plaster vor allen falle vnd brüche oder geleder die user ere stait sint vnd daz plaster hatte dick versucht der hoghe meyster benedictus vnd vand iz gerecht Ich hesse der Jude fyl ich vnd zu brache mir alle die rüppe die ich hatte an der lencken syten vnd brust vnd auch hynden geyn dem herczen vnd macht ich daz selbe plaster vnd naher dan funffe dage da waren mir die ruppen alle gancz vnd also sal gemacht sin. . . (147va)
Im Text des Juden von Salms tritt stark das für die mittelalterliche Fachprosa typische Verhältnis Lehrer – Schüler/Lehrling hervor, das von der „imaginären Vorstellung der direkten Unterweisung eines Schülers/Lehrlings“ (Habermann 2014: 26) (die ursprünglich mündlich realisiert wurde) ausgeht. Der direkte Adressatenbezug domi-
13 Diese Vorgehensweise erinnert an die in der Gegenwart besonders in der populärwissenschaftlichen Wissensvermittlung verwendete sog. narrative Inszenierung (vgl. Vaňková 2012: 134 f.).
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niert im ganzen Text: Man findet hier auch die direkte Anrede in der 2. Ps. Sg. mit dem Verb sollen, die meist als Markierung eines neuen thematischen Abschnittes erscheint: Nu wil ich dich leren wie du alle posteme erkennest . . . (Bl. 145rb) Nü wellen wir reden von der fistelen So saltu wißen daz. . . (Bl. 151ra) Nu wellen wir reden von dem krebiß Dü salt wyßen daz der krebiß. . . (Bl. 154va)
Instruktionen zur Herstellung des gegebenen Medikaments werden in der Regel mit der Form Nement eingeleitet. Die Endung -ent, die im Mhd. noch charakteristisch für die 3. Ps. Pl. Ind. war, kann im Md. außerhalb der 3. Ps. Pl. vor allem in der 2. Ps. Pl. vorkommen, wobei sie (neben Ind. und Konj.) teilweise auch im Imperativ (anstelle der Formen mit -et) verwendet wird (vgl. Reichmann/Wegera 1993: 248–249). Der Autor geht jedoch häufig in die 2. Ps. Sg. über oder verwendet beide Formen abwechselnd in demselben Rezept: Item eyn anders Nement attrement galganne peffer eyns als viel az des andern vnd stoiß alles zu poluer vnd dar nache nement honig vnd smerent off den schaden vnd dar nache sehe die vorgeschrieben poluer dar uff vnd lehe vff den schaden Vnd also dü vmmer dar alle dage eyns mit daz geheylt (153rb–153va)
Das Indefinitpronomen man, das eine Verallgemeinerung des Adressaten ermöglicht, und dadurch zur Entpersonalisierung „der in der frühen Fachliteratur fingierten Gesprächskonstellation führt“ (Habermann 2014: 25), ist im Traktat des Juden von Salms nur selten anzutreffen: Vnd also sal mann machen daz selbe poluer. . . (153vb). Ebenso selten erscheinen Passivformen, die es ermöglichen, auf die Nennung des Handlungsträgers zu verzichten: vnd also sal gemacht sin daz poluer. . . (154vb).
2.2 Zum Inhalt der Chirurgia Wie schon erwähnt, stellt der Text eine Verflechtung von verschiedenen Quellen dar: Zum großen Teil sind es Kompilationen aus Werken anerkannter Autoritäten oder Zeitgenossen des Juden von Salms, zum Teil werden hier Erfahrungen aus seiner eigenen therapeutischen Praxis gesammelt. Man kann sagen, dass er selbst die in der Chirurgia angewendete Vorgehensweise folgendermaßen charakterisiert: Nv will ich hie an lehen off die bresten az ich gelesen han jn vielen büchern mit kurczen worten (163ra). Der Text beginnt mit einem Antidotar, der insgesamt 13 Rezepte für verschiedene plaster und salben enthält. Diese sind vor allem für die Behandlung von eitrigen schaden bestimmt. Unter dem mhd. schaden verstand man verschiedenartige äußerliche Körperschäden, insbesondere Geschwüre und Verwundungen (vgl. Mildenberger 1997: 1688). So lesen wir am Anfang des Rezepts auf Bl. 144ra: ist gute vor alle schaden jn dem gemycht oder brüste vnd vor sancte anthonius füre schwarcz blatern wan sie gebrochen ist Andracks oder krebes oder alte ding dar mit fure gemenget ist.
52 | Lenka Vˇanková Dem Antidotar folgt ein Traktat über Aposteme: Nu wil ich dich leren wie du alle posteme erkennest wo von sie kumet von wilchen arte sie sint vnd wie mann sie heylen sal (145rb). Ihre Entstehung wird – entsprechend der klassischen Humoralpathologie – auf entartete Leibessäfte zurückgeführt. Medikamente (Pflaster und Salben) werden nacheinander geordnet, je nachdem, welcher Saft als herauslösender Faktor des Apostems betrachtet werden muss, wobei zuerst die Symptome aufgelistet werden: Doch mit dissen zeychen saltu alle sie erkenen won wilcher collera ygelich posteme ist wan die posteme an kompt von dem blude genant sangvinis so saltu pruben vnd wißen daz die posteme wirt zu male roit vnd hitzig vnd lidet groß wetun wan daz blut also hitzecht ist az eyn fure. (145rb–145va)
Der Indikationsbereich der in diesem Teil angeführten Heilmittel zeigt die bei Antidoten übliche Anwendungsbreite. Sie sind geeignet zur Behandlung von postemen, schaden, bresten, brüchen, fisteln, grint, gegicht bzw. qwetzeniß.14 Im dritten Teil dieses Buches geht der Jude von Salms auf einzelne konkrete Krankheiten ein. Nacheinander werden fisteln, kanker, krebs, st. Athonius fure, blatter, antrax, gegicht, brant, blutende nase oder fallende sucht besprochen. Es werden ihre Ursachen (Causa), Symptome (Signa) und Medikamente zur Behandlung (Cura) angeführt. An vielen Stellen versichert der Autor, dass die angeführten Heilmittel bewährt und außerordentlich wirksam sind, wobei er sich in seiner Legitimationsstrategie auch der Personalreferenz bedient: So geneset er mit ganzer warheyt vnd daz spricht er (= Rhasis) by sin Eyde daz ware ist (157rb); Vnd daz habe ich dick versücht vnd auch gesehen daz az so ist (162va). Neben der vorherrschenden Humoralpathologie sind in der Chirurgia auch andere Konzepte, welche die Ursachen der Krankheit zu erklären versuchen, belegt. Die Krankheit hatte in der Vorstellung des mittelalterlichen Menschen oft die Gestalt eines Wurmes angenommen, der sich im menschlichen Organismus einnistet und durch verschiedene Mittel herauszulocken ist. Interessant ist in dieser Hinsicht ein Rezept, das Moises Maimonides zugeschrieben wird: Und der hoig meyster meyster Moyses diß solden von Egipti hatte gewanheyt zü weme der den krebiß hatte daz er name eyn lebber von eym hůne vnd bant hart uff die bede enckel vnd liße also lang ligen dri dage vnd dar nach dette er die lebber abe vnd bant iz aber uff vnd inewenig xviij dagen da waz er genesen. (155ra)
In vielen Fällen geht die Therapie von der so genannten Signaturenlehre aus.15 Danach sind die drei Naturreiche – Steine, Pflanzen und Tiere – für ihren heilkundlichen Gebrauch nach ihren Erscheinungsformen (Gestalt, Form, Farbe, Geruch, Geschmack) „signiert“, d. h. die Erscheinungsformen deuten auf spezifische Eigenschaf-
14 Quetschung, Kontusion: stumpfe (Organ)verletzung. 15 Zur Signaturenlehre vgl. auch Müller-Jahncke (2005: 1330–1332).
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ten bzw. Verhaltensmuster (bei Tieren) und Namensbezeichnungen auf deren Heilkraft hin (vgl. Jüttner 1995: 1889), so dass „aus den Zeichen (Signaturen) der Natur der kundige Arzt auf das richtige Heilmittel schließen kann“ (Schnell 2013: 447).16 So wird z. B. im Text auf Bl. 152va empfohlen, einen Maulwurf zu verbrennen, denn so wie der Maulwurf in den unterirdischen Gängen die Würmer frisst, so frisst das aus dem verbrannten Maulwurf hergestellte Pulver den Fistelwurm in den Fistelgängen:17 Nement moltworff vnd die lehent in eyn nüwe duppen (=Topf) vnd zubrennent zu poluer vnd rybe vnd zu stoiß zu poluer vnd lehe daz poluer in die fistel biß daz sie drucken wirt wan sie dodet die fistel vnd auch den worm. (Bl. 152va) An mehreren Stellen wird die Therapie empfohlen, die als „transplantatio morbi“ (vgl. Fichtner 1968) bezeichnet werden kann, d. h. die Krankheit wird von einem Wesen auf das andere übertragen. Dies betrifft z. B. die im Rezept auf Bl. 155vab angeführte Therapie mit Hilfe von Krebsen, nach welcher der Mensch gesund wird, indem seine Krankheit auf den Krebs übergeht. Vnd ist eyn ander bresten der ist genant antrax vnd der selbe brest ist genant swartzblatern vnd die selbe swartzblatern sind vergifftig. Vnd als balde az du sie geware wirst da saltu nehmen eyn krebiß so lebick vnd bynde off die blater uber nacht so heylet sich vnd zuget die vergifft her uß Vnd wo du daz selbe nit dedest so saltu wißen daz die selbe blater lochert vnder sich vnd die vergifft geet zu dem herczen vnd stirbt das mensche Die heylung wan die schwarz blater kommet an daz mensche jn lant oder jn steden da man keynen krebiß fyndet So saltu nehmen von dem gute dryackels vnd nement werck vnd smerent off daz werck driakels vnd lehent uff die blatter Auch saltu ym geben zu drincken driackels Vnd wer is daz du nit driackels hettes oder krebiß So nement Triaca rusticorum daz ist in dutsche knobeloch vnd den stoiß wole vnd lehe off den schaden vnd da mit sint viel erneret. (155vab)
In der Chirurgia spiegelt sich an mehreren Stellen das Glauben an magische Kräfte wider. So wurde z. B. gebrannten Menschen- und Tierknochen eine antiepileptische Wirkung zugeschrieben: Auch spricht er (gemeint ist Galen) me eyn mensche zu heylen zu stunt wie woil daz er gefallen were jn eyn fure oder jn wasser daz er nement eyn doit mensche beyn vnd burnen zu poluer vnd gyp ym zu drincken so geneset is (167rb–167va).
Man hat nicht nur an die heilende Wirkung der königlichen (bzw. herrscherlichen) Hand geglaubt, sondern auch daran, dass man diese „Tugend“ mithilfe ritueller Praktiken erwerben kann: Nement eyn kint az balde iz geboren ist vnd mit beyden henden
16 Riha (2011: 229 f.) führt mehrere Beispiele aus Hildegards von Bingen ‚Causae et curae‘ an, die dieses Denkmuster verdeutlichen, und stellt fest, „dass es keinen anderen mittelalterlichen Text gibt, anhand dessen man diese Art des Denkens derart überzeugend belegt findet“ (2011: 229). 17 Maulwurf-Präparate erscheinen schon bei Hildegard von Bingen oder Konrad von Megenberg als bewährte Heilmittel, vgl. Schnell (2013: 447), Riha (2011: 230).
54 | Lenka Vˇanková rore off eyn doit mensche Ee daz keyn ander roit dem kynde geschyt So wirt daz kint des dogent daz er heylet. (162va).
3 Zu den Krankheitsbezeichnungen in der Chirurgia Im späten Mittelalter – mit der wachsenden Anzahl auf Deutsch geschriebener medizinischer bzw. heilkundlicher Fachtexte und deren thematischer Differenzierung nach einzelnen Bereichen – erweitert und stabilisiert sich auch die deutsche Terminologie.18 Man kann jedoch auf keinen Fall erwarten, dass die Fachwörter all die Eigenschaften aufweisen, die den heutigen Termini meist zugeschrieben werden wie Klarheit, Exaktheit, Eindeutigkeit, Genauigkeit, Explizitheit, Wohldefiniertheit und Kontextunabhängigkeit.19 Im Folgenden wird an Beispielen aus der Chirurgia demonstriert, welche Strategien der Autor bei Krankheitsbezeichnungen wählte und in welchem Maße man von den im Text verwendeten Fachwörtern auf moderne Krankheitsbezeichnungen schließen kann, also inwieweit sie für den heutigen Leser informativ sind. Da sich der Jude von Salms oft auf ursprünglich in Latein bzw. Griechisch geschriebene Quellen stützt,20 stellt sich zuerst die Frage, wie er in seiner Chirurgia mit lateinischen bzw. griechischen Termini umgeht. Am häufigsten kommt in seinem Text der Terminus postem vor. Es geht um eine eingedeutschte Form des Wortes apostema: Wenn man nach der Deutung dieses Terminus im online-Wörterbuchnetz sucht,21 findet man nur in drei der 24 zur Verfügung stehenden digitalisierten Wörterbücher eine Auslegung dieses Fachwortes. Meyers Lexikon verweist auf die griechische Herkunft des Wortes und führt an: ‚Eitergeschwür, Abszeß; apostematöse Entzündungen, solche, die zur Eiterung führen‘. Adelung ergänzt zur Herkunft: ‚ein ganz ohne Noth aus dem griech. und latein. apostema erborgtes Wort, ein Geschwür, einen Schwären zu bezeichnen‘. Im Mittelhochdeutschen Wörterbuch wird apostem ganz kurz (und wenig zutreffend) als ‚(eitriges) Geschwür’ charakterisiert. Dieselbe Interpretation ist auch bei Mildenberger (1997: 116–117) zu finden. Das Interpretament des Lemmas Apostem bei Höfler (1899: 15–16) bietet dagegen mehrere Bedeutungen an: 1. ‚die mit Eiter gefüllte Abscess-Geschwulst‘, 2. ‚Das 18 Ich möchte mich bei Prof. Gundolf Keil für seine wertvollen Ratschläge und Hinweise bei der Identifizierung von Krankheiten, deren Bezeichnungen im handschriftlichen Text angeführt werden, herzlich bedanken. 19 Unter dem Einfluss der modernen Linguistik und der Kognitionswissenschaften gerät diese traditionelle Vorstellung jedoch zunehmend in die Kritik (vgl. Fraas 1992). 20 Nach Keil (2015: 19) hat der Jude von Salms aber als Grundlage für seine Übersetzung oft eine altfranzösische Version dieser Werke verwendet. 21 Vgl. Projekt der Universität Trier: www.woerterbuchnetz.de.
Krankheitsbezeichnungen in der Chirurgia des Juden von Salms | 55
Empyema (Eiterbrust)‘, 3. ‚Drüsen-Abszess unter der Achsel und Leistengegend‘, 4. ‚Feigwarzen‘, 5. ‚Hydrothorax und Hydropericardium, d. h. Brustwassersucht‘. Höfler zählt auch einzelne Apostem-Arten auf, die in verschiedenen Körperteilen erscheinen können. Dieser Auslegung zufolge kann man erahnen, dass man in mittelalterlichfrühneuzeitlichen Texten mit dem Terminus apostem ganz unterschiedliche Erkrankungen bezeichnen konnte und dass sich diese Bezeichnung keineswegs nur auf Geschwüre beschränkte.22 Im Kompendium des Juden von Salms fängt die Abhandlung über Aposteme folgendermaßen an: Auch saltu wißn daz alle postemen sie sin wie sie sin sie hant viel namen doch sie kument von vier complexigen Die erst kumpt von Collera daz ist genant sangwinis vnd die selbe posteme ist genant placon Die ander kumpt von Collera rubea vnd die selbe posteme ist Carpus wan die posteme ist spicz vnd cleyne Die dritte kumpt von der meranckelye genant jn latyn Collera nigra vnd die selbe posteme ist genant Saner siliß Die viert kumpt von der flecma vnd die ist genant zema. (145rb)
In diesem Textauszug werden im Zusammenhang mit dem die Krankheit auslösenden Leibessaft spezifische (wahrscheinlich aus dem Griechischen stammende) Bezeichnungen für die einzelnen Apostem-Arten verwendet (placon, carpus, saner siliß, zema). Es ist jedoch nicht ganz sicher, ob diese Termini vom Schreiber, der die Abschrift des Kompendiums angefertigt hat, nicht verballhornt wurden. Denn zahlreiche im ganzen Kompendium vorkommende korrupte Formen beweisen, dass er sich in der medizinischen Problematik wenig auskannte und besonders fremde Termini bis zur Unkenntlichkeit korrumpierte. Auf jeden Fall werden die Bezeichnungen für die einzelnen Apostem-Arten an keiner anderen Stelle im Text wiederholt. Sie werden nicht einmal bei Medikamenten für die einzelnen Aposteme erwähnt. Medikamente (Pflaster und Salben) werden nacheinander geordnet je nachdem, welcher Leibessaft als herauslösender Faktor des Apostems betrachtet werden muss, wobei zuerst die Symptome aufgelistet werden: Vnd wen die posteme ankommet von der melangeleya genant collera nigra So maystu erkennen mit dissen zeichen daz die posteme wirt swartz vnd hart. (145va) Die Apostem-Art wird also nicht konkret benannt, sondern lediglich mit den auftretenden Signa (Symptomen) beschrieben (wobei die Farbe bei der Bestimmung des Apostems entscheidend ist). Bei der Indikation wird dann immer die allgemeine Bezeichnung posteme mit dem die Beschwerde auslösenden Leibessaft angegeben: Die posteme kompt von dem blude oder von der collera nigra . . . Item (145vb) Vnd were iz daz die posteme an qweme von der flecma oder von der collera nigra so saltu machen daz nachgeschrieben plaster . . . (146ra).
22 In der modernen Terminologie wird der Terminus „Apostem“ wegen seiner Polysemie nicht mehr verwendet (vgl. Pschyrembel 2007) oder allenfalls mit Abszess gleichgesetzt.
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Eine spezifische (konkrete) Benennung des Apostems mit dem Verweis auf die zitierte Quelle findet man auf Bl. 150rb–150va: Nu ist eyn ander posteme die ist in dem bucher23 genant Aluandi vnd die walen nennentz malmort vmb daz daz der bresten dodet den menschen vnd die selbe posteme waset zwuschen der aselen vnd etlich sint swartz vnd etlich glich wüße vnd hant keyn heupt vnd zu male breyt Vnd dissen bresten habe ich gesehen meyster nattan dem artz zu montzbellere . . . (150rb–150va)
Mit wallen sind hier Bewohner Walloniens gemeint: Diese Textstelle beweist, dass dem Juden von Salms die landessprachliche Krankheitsbezeichnung (malmort) – vertraut war, was die Hypothese unterstützt, dass er aus Vielsalm im deutschsprachigen Teil Walloniens stammte (vgl. 2.1). Die Krankheitsbezeichnung alfandi erscheint noch an einer anderen Stelle im Text: Auch ist eyn ander bresten daz ist genant alfandi vnd ist eyn blater der blatern anfang wirt az eyn lynße große vnd dar nach wirt sie az so große az eyn fuße vnd der selbe bresten weyst uff den schenckelen Auch sal sich keyn meyster an nehmen dan zu große heren vnd konige. (155rb–155va)
Interessant ist, dass diesmal die Symptome nicht in der Achsel, sondern auf dem Schenkel lokalisiert werden und dass nicht ihre Farbe, sondern ihre Größe vom Autor thematisiert wird. Die Tatsache, dass darüber hinaus die Krankheit ein Mal als postem, ein anderes Mal als blater aufgefasst wird, könnte zur Interpretation verleiten, es handle sich um zwei unterschiedliche Erkrankungen. Viel wahrscheinlicher ist jedoch, dass der Autor seine Informationen aus zwei verschiedenen Quellen geschöpft hat. Die Bezeichnung blater könnte man auf den ersten Blick als die heute üblichen Blattern/Pocken interpretieren. Im Mittelalter konnten jedoch unter blatern verschiedene Krankheiten verstanden werden (vgl. Höfler 1899: 49 f.); man kann annehmen, dass sich die hier angeführte Bezeichnung blater auf einen Hautausschlag oder eine Hautschwellung bezieht. Während im oben angeführten Beleg der fremdsprachliche Terminus (alfandi) mithilfe einer polysemen Bezeichnung blater und Charakteristik der Krankheit nach Aussehen und Ort des Vorkommens definiert wird, wird im folgenden Beispiel der wahrscheinlich aus dem Griechischen stammende Terminus Arpisititum nummis durch eine deutsche Bezeichnung dieser Krankheit – nit rore mit der hant – erklärt. Nit rore mit der hant ist die Übersetzung einer anderen dem Autor bekannten Bezeichnung dieser Krankheit – „Noli me tangere“: Nv ist eyn ander brest daz ist genant Arpisititum nummis Sie ist genant nit rore mit der hant wan roristu mit der hant so verdirfft den menschen mit enander. (155rb) Bei Höfler (1899: 258) wird beim Lemma Kanker ‚Noli me tangere‘ im Zusammenhang mit ‚Lupus-Geschwür, Kankrom‘ erwähnt. Beim Lemma Rühr mich nicht an gibt
23 Wahrscheinlich ist der ‚Passionarius Galeni‘ gemeint.
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Höfler (1899: 527) (im Bezug auf K. v. Megenberg) an: ‚das Epithelkarzinom im Gesicht‘. Heute wird darunter Tuberculosis cutis luposa, die Hauttuberkulose, der Hautwolf verstanden (vgl. Keil 2007: 285).24 Neben der Erklärung des fremdsprachigen Terminus durch einen einheimischen (vgl. auch Bl. 155v: Vnd ist eyn ander bresten der ist genant antrax vnd der brest ist genant schwartzblatern) erscheint in der Chirurgia eine umgekehrte Vorgehensweise: die deutsche Bezeichnung wird durch einen lateinischen Terminus näher spezifiziert: also schribet er zu dem gegicht25 das ist genant Artatyca (Bl. 157v). Lateinische (bzw. griechische) Termini erscheinen auch an einer anderen Stelle im Text: Es handelt sich um die Aufzählung der vier verschiedenen Typen der fallenden sucht (damit ist üblicherweise Epilepsie gemeint). Neben der Bezeichnung – fallende sucht – führt der Autor auch die volkssprachliche synonymische Bezeichnung sancte valentini plahe an. Diese Bezeichnung wird vom heiligen Valentin von Rhätien (Graubünden) abgeleitet, der Ende des 5. Jahrhunderts gelebt hat.26 Die Tatsache, dass er in Deutschland gegen Epilepsie angerufen wurde, wird auf den ähnlichen Klang seines Namens mit ‚fallen‘, das auch in ‚Fallsucht‘ enthalten ist, zurückgeführt: Nv wollen wir reden von der fallenden suchten die die lude nennent sancte valentini plahe Von der selben suchten sint vierley Die eyn ist genant Appoplicacia Die ander ist genant Applimancia Die dritte ist genant Acclimyncia Die viert ist genant Acatlimancia. (163ra)
Wahrscheinlich handelt es sich in all diesen Fällen aber nicht nur um Epilepsie. Mit Appoplicacia kann Appoplexie, also Hirnschlag (vgl. Peters 1997: 28) gemeint werden, unter Acatlimancia kann Katalepsie/Hysterie (vgl. Peters 1997: 274) verstanden werden (wobei die Katatonie mit einbezogen ist). Es ist die Frage, ob der Kopist die Termini richtig abgeschrieben/gedeutet hat. In der Antike und im Mittelalter wurden (nach Galen) drei Formen der Epilepsie unterschieden: Analepsie, Epilepsie und Katalepsie (vgl. Peters 1997. 27). Neben lateinischen/griechischen Krankheitsbezeichnungen taucht auf Bl. 161vb ein Terminus aus dem Französischen auf. Die Halsdrüse wird als heckrewilis bezeichnet, wobei heckrewilis auf das französische ‚écrouelles‘, d. h. scrofules (vgl. Höfler 1899: 654) zurückgeht. Die damals verwendete lateinische Bezeichnung ‚scropheln‘
24 Im Apostem-Traktat aus der Kuniner Hs. R 16 wird ein Rezept für geschwer oder apposten noli me tangere (ohne jegliche Beschreibung der Signa oder Causa der Krankheit) in dem Kapitel behandelt, in dem Rezepte zur Behandlung von Erysipel (Wundrose), Antrax und wilden Feuer angeführt werden (vgl. Vaňková/Keil 2010). 25 In der Chirurgia ist ein ganzes Kapitel dem gegicht gewidmet. Schon das Präfix ge- bei dieser Bezeichnung deutet an, dass das Wort gegicht als Sammelbegriff aufgefasst wird, mit dem verschiedene Arten von gicht gemeint sind. Im Text wird zwischen der kalten, hitzigen, laufenden Gicht oder Darmgicht unterschieden. 26 Man sollte Valentin von Rhätien nicht mit einem anderen Träger dieses Namens – dem heiligen Valentin von Terni – verwechseln, der als Patron der Liebenden verehrt wird (vgl. Zenz 2002).
58 | Lenka Vˇanková wird im Text gemieden: Zu die heckrewilis daz sint trußen die da waßent jn dem halse vnd sprungent hier vnd dar. Auch wenn der Autor die fremden Termini nicht meidet und oft durch ihre Verwendung seine Belesenheit betont, ist in der Chirurgia eine deutliche Tendenz bemerkbar, deutsche Krankheitsbezeichnungen anzuführen. Vnd eyn ander die ist genant sancte Anthonys fure vnd der bresten bedarffe große wysheyt vnd czitelich vmbgangen wan iß sprynget von eyme gelede zu dem ander vnd verdirbet recht hute vnd fleysche recht verderfniß vnd ist eyn gebrest daz nit yderman mache genesen vnd mach man da jn keyn ere begaden. (155rb)
Während in diesem Beispiel die Krankheit – St.-Antonius-Feuer27 – ziemlich eindeutig zu interpretieren ist, stößt man bei der Bestimmung der Krankheit, die im folgenden Beispiel als kanker bezeichnet wird, auf Probleme. Diese ergeben sich vor allem aus der Tatsache, dass das Wort Kanker mehrere unterschiedliche Interpretationen erlaubt. Was die Herkunft des Wortes betrifft, kann das Wort auf das germanische gongro (‚Auswuchs‘) oder das griech.-lateinische cancer zurückgeführt werden; Vielleicht handelt es sich bei kanker um eine Vermischung beider (vgl. Höfler 1899: 258). Was die Bedeutung anbelangt, bieten verschiedene Nachschlagewerke (vgl. www.woerterbuch-netz.de) unterschiedliche Auslegungen. Bei Lexer gibt das Interpretament bei Kanker ‚eine Art Spinne‘ an. DWB macht darauf aufmerksam, dass Kanker 1. als ‚Spinne‘ 2. als ‚Carcinoma, Krebsschaden‘ gedeutet werden kann. Die Kanker soll eine tödliche Krankheit sein, die epidemisch und in der brandigen Form im 9. –13. Jahrhundert in ganz Europa, besonders in Frankreich herrschte, wobei später die Krankheit nicht mehr erwähnt wird, doch soll sie unter einem anderen Namen – St. Antonius Feuer [!] – vorkommen. Das Wörterbuch der deutsch-lothringischen Mundarten bietet beim Lemma Kanker an: ‚Mundfäule, Mundschwamm (weiße, schwammartige Bläschen im Munde der Säuglinge)‘. Nach Höfler (1899: 258) kann Kanker auf zwei unterschiedliche Begriffe zurückgeführt werden: 1. auf ein Auswuchs mit Geschwürbildung (meist Krebsgeschwür, fressendes Geschwür/Krebs gemeint) 2. auf ein brandiges Geschwür (Gangrän). Und sieder daz wir angefangen haben von der fistele nü wellen wir aüch mit reden von der kanckeren vnd waz vnderscheyt ist zwuschen der fystelen vnd der kanckern wie man daz erkennen sal Nü saltü wißen daz die fistel gyt alwe wyße eyter vnd smackt obel vnd jn anfang der fistel blehet sich daz geleit da sie an kommen sal vnd macht sich dran eyn kleyn lochelgin vnd macht sich alwe dieff vnd nit breyt vnd die bort werdent hohe Vnd die kancker rynnet alwe bloit vnd nit eyters vnd die wunden werdent breyt vnd eben vnd wirt nit dieffe Vnd waz da her uß rynnet daz stynckt Vnd der worme ist swarcz vnd verist vmb sich vnd breyt sich vnd wilher kancker roret die beyn so ist ym numme zu helffen. [151rb–151va]
27 Die Bezeichnung Antoniusfeuer wird heute neben den anderen Bezeichnungen dieser Krankheit – Ergotismus, Kriebelkrankheit, Fliegendes, Heiliges, Höllisches Feuer u. a. – verwendet. Die Krankheit entsteht vom Mutterkorn im Brot.
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Da in der Chirurgia im nachfolgenden Textabschnitt krebiß behandelt wird, ist es klar, dass der Autor zwischen Kanker und Krebs28 einen Unterschied gemacht hat. Bei der Beschreibung von Krebs greift er nach der damals üblichen Metapher: So wie der Krebs als Tier alles um sich herum frisst, zerfrisst die Krankheit das güt fleysche.29 Nu wellen wir reden von dem krebiß Dü salt wyßen daz der krebiß ist eyne dyer daz frist vmbesich vnd von dage zu dage erwydet sich vnd weset mit krefften doit fleyß in dem bresten vnd alle dage macht rynnen gyfftig eyter vnd daz selbe eyter frist vmbe sich vnd verdirbt daz güt fleysche vnd dar vmbe mustü die nachgeschrieben ding machen vnd diß erczedye ist nit yederman kündick Vnd auch saltü wyßen daz vmbe den krebiß wasset eyn hart bort vnd ist az hart daz mit dem masser nit kan gesnyden. [154vb–155ra]
Die angeführten Beschreibungen deuten an, dass es sich bei kanker und krebiß in der Chirurgia um eine Differenzierung von äußeren und innerlichen Krebsarten, die von der Außenhaut (Krebs) oder von der Schleimhaut des Mundes (Kanker) u. ä. ausgehen, handeln kann. Es ist jedoch zu betonen, dass die im Text enthaltenen Informationen auch für Fachleute (Ärzte) für eine genaue Bestimmung der beschriebenen Krankheiten wenig aufschlussreich sein können.
4 Zusammenfassung Die Analyse der Krankheitsbezeichnungen in der Chirurgia des Juden von Salms hat auf folgende Merkmale beim Umgang von Fachtermini hingewiesen: – Die im Mittelalter verwendeten Krankheitsbezeichnungen sind nicht immer mit den heute verwendeten Termini in der Bedeutung deckungsgleich (vgl. blater =/ Blattern/Pocken). – Wegen lautlicher Varianz bzw. infolge der im Laufe des Abschreibens entstandenen Fehler kann der Ursprung der überlieferten Termini nicht immer eindeutig bestimmt werden. Als hilfreich für die Interpretation erweisen sich vielfach die genannten Symptome. Die Zuweisung dieser Symptome zu einer konkreten Krankheit verlangt jedoch auf jeden Fall Kenntnisse von Fachexperten (Ärzten).
28 Krebs wird heute mit dem Terminus Karzinom (vom Epithel ausgehender maligner Tumor, von Zellverbänden ausgehend, die innere oder äußere Körperoberfläche bedecken) gleichgesetzt, vgl. Pschyrembel (2007: 963). 29 Im ‚Apostem-Traktat‘ aus der Kuníner Hs. R 16 wird die Krebs-Metapher viel ausführlicher dargelegt (vgl. Vaňková 2014b: 137): Der kreps ist ain apposten von der melancoli [. . . ] Vnd wirt gehaissen der kreps von dryer aigenschafft wegen, die der kreps an im hat. Zum ersten so hat der kreps ain sinwelle figur als der kreps. Zum anderen mal, wann als der kreps stet helt, was er begreifft, also hanget der siechtag och vast. Zum dritten: Wann als der kreps hat vil bain vnd lang vnd knopffecht, also hat diser wetag vil adren vnd mangerlay die vmbvndvmb mit vil plüts von der melancoli . Man erkent den kreps also: Wann er naget vmb sich als ain tier mit ainer herti der leffzen vnd mit ainer röti von dem anfang [92v].
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In der Chirurgia des Juden von Salms ist eine Tendenz bemerkbar, deutsche Termini einzusetzen. Da viele dieser Termini noch nicht semantisch eindeutig sind, bedient sich der Autor der Charakterisierung der Krankheit mit Hilfe von Leitsymptomen. Sehr häufig werden dabei Bezeichnungen wie brest, schade, posten als Hyperonyme für eine Reihe von begrifflich nicht eindeutig untergeordneten Bezeichnungen verwendet. Die Zuordnung ist entsprechend schwankend. Die deutschen Termini sind oft Ergebnis eines Entlehnungsprozesses (postem), der (wortwörtlichen) Übersetzung (nit rore mit der hant), der Benennung nach Heiligen (Eponyme: sancte valentini plahe, st. anthonius fure) oder verschiedener Wortbildungsprozesse (gegicht). Die Interpretation der einzelnen Krankheiten in verschiedenen Nachschlagewerken (besonders bei Höfler) weist auf den polysemen Charakter vieler Krankheitsbezeichnungen hin.
Abschließend ist noch zu ergänzen, dass die angeführten Merkmale nicht verallgemeinert werden können: Jeder Autor mittelalterlich/frühneuzeitlicher Fachtexte zeichnet sich nämlich durch seinen individuellen Stil aus, der auch den Umgang mit Fachtermini betrifft. Der Jude von Salms zeigt sich in seiner Chirurgia als ein erfahrener Praktiker, der jedoch nicht nur von seinen eigenen reichen Erfahrungen ausgeht, sondern auch auf tiefe Kenntnisse der medizinischen Fachliteratur zurückgreifen kann.
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Krankheitsbezeichnungen in der Chirurgia des Juden von Salms |
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Lenka Vodrážková
Konrad von Megenberg: Das Buch der Natur. Zu einer Handschrift aus Prag. An dem bůch ze latein hat ain Maister gearbait funffzehen Jar alz vil vnd er sein gemacht hat vnd baut ecz gesampt vß der geschrift der hohen maister [. . . ] (Prag, Knihovna františkánů u P. Marie Sněžné na Novém Městě pražském [Klosterbibliothek der Franziskaner zu Maria Schnee in Prag-Neustadt], Sign. Ve 2, fol. 334r ).
1 Einleitung Das Werk Konrads von Megenberg Das Buch der Natur, das als Lehr- und Hausbuch mit der gesamten Summe des mittelalterlichen Wissens in zahlreichen, bis heute mehr als 701 bekannten Handschriften überliefert ist, befindet sich auch in z w e i Exemplaren in Prag. Es handelt sich um eine Hs. von 1397 aus der Bibliothek des Nationalmuseums (Knihovna Národního Muzea Praha, Sign. XI A 26, 143 Folioblätter),2 die zur Reihe der Überlieferungen der sog. Widmungsfassung gehört, und um eine Hs., die die Handschriftengruppe mit dem strophischen Prolog und dem gereimten Epilog, also die Überlieferungsgruppe der sog. Prologfassung, erweitert.3 Die andere Handschrift wurde im Rahmen des Forschungsprojekts GA AV ČR, Nr. IAA90186901 unter dem Namen Soupis a základní filologické vyhodnocení německých středověkých a raně novověkých medicínských rukopisů dochovaných v českých zemích [Verzeichnis und grundsätzliche philologische Auswertung der deutschen mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Handschriften, die in den böhmischen Ländern aufbewahrt werden, 2009–2012]4 unter der Leitung von Prof. Dr. Lenka Vaň-
1 Der Text ist insgesamt in mehr als 170 Überlieferungen erhalten, und zwar in rund 70 Handschriften, 14 Fragmenten, in sechs Inkunabel-Drucken und in ca. 90 Teilabschriften, Exzerpten und Bearbeitungen überliefert; diese Tatsache deutet auch auf die Wirkungsmächtigkeit des Werks vom 14. bis zum Anfang des 16. Jahrhunderts. Vgl. dazu Hayer 1998: 1. 2 Die digitalisierte Version der vorliegenden Handschrift Des Buchs der Natur befindet sich in der Databasis von Manuscriptorium. Weiter vgl. http://www.manuscriptorium.com/apps/main/index.php? request=show_tei_digidoc&virtnum=0&client. Die Handschrift gehört nach sprachlichen Aspekten zur österreichisch-bairischen Provenienz (Wien?) und weist Fehlkapitel (V 6, 7) und Kapitelumstellungen (I 13/15/14/16, III D 8/10/9/11, III E 29/32/30/31/33–35/37/36) auf. Der Text ist zweispaltig und wird dem einzigen Schreiber namens Oswald zugeschrieben. Weiter hierzu Hayer 1998: 243–245. 3 Zur sog. Prolog- und Widmungsfassung vgl. Hayer 1998. 4 Weiter vgl. http://www.osu.cz/medizinische-handschriften/. DOI 10.1515/9783110524758-006
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ková vom Lehrstuhl für Germanistik der Philosophischen Fakultät der Universität in Ostrava entdeckt und unter Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Václav Bok vom Lehrstuhl für Germanistik der Südböhmischen Universität in Budweis in den Jahren 2012–2015 weiter bearbeitet.5
2 Beschreibung der Handschrift Die vorliegende Papierhandschrift des Buchs der Natur Konrads von Megenberg befindet sich zurzeit in der Klosterbibliothek der Franziskaner zu Maria Schnee in PragNeustadt (Knihovna františkánů u P. Marie Sněžné na Novém Městě pražském) unter der Signatur Ve 2 und umfasst insgesamt 347 Folien; der Text des Buchs der Natur wird auf den Folioblättern 1r –334r aufgezeichnet und fängt mit einem Register mit Blattverweis an (fol. 1r –11v ). Dem Text Konrads von Megenberg wird die erste systematische Schrift über Obst- und Weingärtnerei mit Ergebnissen der praktischen Arbeit und persönlichen Erfahrungen, das Pelzbuch Gottfrieds von Franken (fol. 334r – 347r ), angeschlossen. Die Hs. ist in Halbleder aus der späteren Zeit (17.–18. Jahrhundert) gebunden. Das Format des Halbledereinbandes beträgt 279 x 199 mm. Auf dem ersten Folioblatt (fol. 1r ) steht: „Pro Conuent B. [eatae] Mariae ad Niues, Pragae Ae: [Anno]6 1627“; nach dieser zeitlichen Angabe und in Bezug auf die historischen Ereignisse in den böhmischen Ländern hat der Prager Franziskanerorden zu Maria Schnee diese Hs. enzyklopädischen Charakters in dem Jahr erhalten, als die Verneuerte Landesordnung, der zufolge die persönlich freien Nichtkatholiken das Land verlassen mussten und ihr Besitztum konfisziert wurde, erschienen ist. Wegen mangelnder Informationen bleibt aber die ganze Überlieferungsgeschichte der vorliegenden Prager Hs. unbekannt. Die Schrift des einspaltig geschriebenen Textes lässt sich bei dem ersten Schreiber (1. Hand: fol. 1r –95v ) der gotischen Kursivschrift zuordnen, bei dem zweiten Schreiber (2. Hand: fol. 96r –347r ; die Hände lösen sich mitten im Kapitel Von dem furren ab) hat sie allgemeine Züge der Bastardschrift des 14.–16. Jahrhunderts. Bei den beiden Schreibern der behandelten Handschrift kommt es noch zu einer Differenzierung zwischen lateinischen (humanistischen) und nationalsprachlichen (gotischen) Ausführungen.7 Die Schrift der ganzen Hs. ist recht klar lesbar, wie es auch sonst bei den Hss. dieses Werkes der Fall ist. Die Hs. weist nicht übermäßig viele Kürzungen auf. Sie 5 Vgl. dazu Václav Bok/Lenka Vodrážková: Eine unbekannte Prager Handschrift mit Konrads von Megenberg ‚Buch der Natur‘ und Gottfrieds von Franken ‚Pelzbuch‘ (Prag, Kloster zu Maria Schnee, Ve 2). In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur (i. D.). 6 ae = aere, a. e.c. = anno aerae communis. 7 Die Brechungen kommen deutlich in der Schrift der beiden Schreiber vor; in paläographischer Hinsicht unterscheiden sich die beiden Hände in einigen Merkmalen. Die Kursivformen der Schrift der ersten Hand sind allgegenwärtig: Die meisten Minuskeln sind im Wesentlichen in einem Zuge ohne
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ist mit schwarzer und roter Tinte geschrieben, wobei die rote Tinte meistens zur Hervorhebung von Überschriften der einzelnen Kapitel diente; gleichzeitig wird sie für fein verzierte Initialbuchstaben der Textabschnitte benutzt. Die Kapitelanfänge sind zuweilen durch unziale Majuskelbuchstaben hervorgehoben. Die vorliegende Hs. der deutsch geschriebenen allgemeinen und systematischen Naturgeschichte ist auf dem Papier mit schwarzer Tinte geschrieben. Auf dem Papier der ganzen Hs. lässt sich das Dreiberg-Wasserzeichen (ca. 65 mm x ca. 20 mm) deutlich erkennen: Seine Ausmaße und seine Form stehen dem bei Piccard (1996: 36–37) in einer Hs. vom Jahr 1442 im Kloster Heilsbronn bei Ansbach festgestellten am nächsten.8 In Bezug auf die Schriftart und auf das Wasserzeichen lässt sich daher vermuten, dass die behandelte Handschrift des Buchs der Natur Konrads von Megenberg um die Mitte des 15. Jahrhunderts bzw. in der Zeit vom Anfang der zweiten Hälfte bis zum letzten Viertel des 15. Jahrhunderts9 abgefasst wurde.
3 Zu den sprachlichen Merkmalen Die vorliegende Hs. des Buchs der Natur Konrads von Megenberg gehört zu den Überlieferungen, die über ihren Geltungsraum keine genaue Auskunft geben. So steht
Absetzen geschrieben, Bogenverbindungen sind häufig; das bauchige, einstöckige /a/ wird abgesetzt. Über dem /i/ sind ganz feine gekrümmte Haarstriche. Auch andere Buchstaben weisen zum Teil feine Flämmchen auf, z. B. /n/ und /t/. Lange Schäfte der Buchstaben /l/, /h/, /b/ und des runden/d/ bilden Schlingen, die Unterlängen von Lang-s, /f /, /z/ entbehren eine Schleifenbildung; Lang-s und /f / haben deutliche Schwellschäfte. Teilweise beginnen /v/, /w/ und /m/ am Wortanfange mit einer zur Unterlänge reichenden Rundung und auch die Wortenden werden mit einer Rundung nach unten abgeschlossen, z. B. bei /m/ und /n/. Die Bögen von /g/ sind deutlich gebrochen und die Unterlänge wird mit Schwung hochgeführt, so dass sie den Buchstaben oben flach schließt und zugleich als Schopf dient. Die Schrift der zweiten Hand weist eine Vereinfachung der Buchstabenformen mit regelmäßigem Ansetzen der Schäfte auf. Die Buchstaben sind nicht zusammengesetzt geschrieben. Bei den in die Oberlänge reichenden Buchstaben Lang-s, /f / und /l/ treten lange Schäfte ohne Schleifen auf. Die Buchstaben /s/, /f /, /z/ werden unter die Unterlänge verlängert. Die Buchstabengestaltung von /d/ entspricht einer Unzialform. Das /a/ hat eine kursive, einstöckige Form. Bei den beiden Schreibern besteht das runde /s/ aus einem Strich oder Bogen links und einer flachen 3 rechts („Rücken-s“). Eine Ligatur entsteht in /sz/. 8 Das Filigran mit dem einfachen Dreibergmotiv entstammt dem Zeitraum 1312–1666, weit überwiegend jedoch dem 15. Jahrhundert. 9 Den Endpunkt der handschriftlichen Überlieferungen markieren die Inkunabeldrucke. Der Schwerpunkt der Überlieferung der Enzyklopädie Konrads von Megenberg liegt in den Jahren zwischen 1430 und 1460, wobei der Höhepunkt in die Zeit um das Jahr 1440 fällt. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts richtete sich die Verbreitung vom dominanten bairisch-österreichischen Raum nach dem Westen. Zur Abgrenzung der Datierung und zur räumlichen Verbreitung vgl. Hayer 1998: 426–427.
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auch hier die Charakteristik der Schreibsprache im Vordergrund, um den vermutlichen Entstehungs- oder Wirkungsraum zu bestimmen.10 Unter sprachlichem Aspekt haben die oberdeutschen bzw. genauer die schwäbischen regionalen Merkmale in der Hs. die Oberhand; das gilt für beide Schreiber der vorliegenden Hs. Hinsichtlich der Festlegung und Distribution der Graphien belegt die Hs. Schwankungen in Umlautbezeichnung, neben z. B. gedächtnuß, henden, stercker, behendikait, wechst, epfel, grebbt, behelt, kreftig, schönest, göttlichen, köpfflin, natúrlichen erscheinen z. B. hanget, gottlicher, funfczigist. Ferner kommen hier graphische Varianten des mhd. Diphthongs /ei/ vor, wie z. B. ‚ai‘ in clarhait, clain, baidenn, allermaist, hailig und ‚ay‘ in zwayerlay, wayß, taylt sich; diese Schreibvarianten werden im 14. und 15. Jahrhundert in Hss. im Bairischen, Schwäbischen und den östlichen Teilen des Hochalemannischen gebraucht (Moser 1929: § 19; Reichmann/Wegera 1993, § L 27). In der vorliegenden Hs. gibt es auch Varianten der Diphthongschreibung des mhd. /î/, das mit ‚ei‘ (z. B. zeittig) oder ‚ey‘ (z. B. leyb) wiedergegeben ist; im Schwäbischen wurde die Schreibung ‚ai‘ für mhd. /ei/ im Gegensatz zu ‚ei‘ für mhd. /î/ in ihrer Durchführung nie ganz erreicht (Moser 1929:§ 21.2 u. § 79, Anm. 15, 23 u. 28). Im Bereich des Vokalismus herrschen in der vorliegenden Hs. die alten Monographien vor: Der Vokalwandel von /u:/ zu /au/ wird noch nicht vollständig durchgeführt, z. B. vff, vffgang, uß, daruß, heruß, fledermus; im Falle der Pflanzennamen mit ‚Kraut‘ enthält die Hs. neben kycherkrut, schweinkrut, manczelkrut, pfefferkrut, magenkrut, borttelkrut auch krautt, kicherkraut, kresselkraut, eyssenkraut; in diesem Zusammenhang ist gleichzeitig auf die Schwankungen biessenkrutt in der Überschrift und biessenkraut im Grundtext, magenkraut in der Überschrift und magenkrut im Grundtext hinzuweisen. Auf eine Abweichung dieser Art geht auch z. B. weintruben – traub zurück. Bei vff und uß handelt es sich um Belege, die zu einigen von der nhd. Diphthongierung ausgenommenen Wörtern gehören: vff ist in den Hss. dieser Gebiete bis Mitte des 16. Jahrhunderts gewöhnlich und bis Ende des Jahrhunderts häufig, uß bleibt noch oft das ganze 16. Jahrhundert hindurch handschriftlich erhalten (Moser 1929: § 77 [Anm. 5]). In der vorliegenden Hs. erscheinen dann bei der zweiten Hand die beiden Varianten uf und auf sowie uß und auß (Reichmann/Wegera 1993: § L 16 [Anm. 5]; Moser 1929: § 77). Von der graphischen Varianz von mhd. /î/ befinden sich in der Hs. neben der Digraphie-Schreibung ‚ei‘ und ‚ey‘ auch ‚i‘ und ‚y‘, z. B. alzit, Ertrich, daby. Die Durchführung der nhd. Diphthongierung ist bereits konsequent bei mhd. /iu/ mit den graphischen Varianten ‚eu‘ oder ‚ew‘ nachgewiesen, z. B. schiffleut, fewren, tewtsche oder teutsch, keusch. Die eu- oder ew-Schreibung deutet u. a. auf den schwäbischen Einfluss (Moser 1929: §80) hin.11 Im Falle des mhd. /ou/ gibt es in der Hs. sowohl ‚ou‘ als auch ‚au‘, wobei ‚au‘ hier dominanter ist, z. B. vrloub – augenplick, haupt; ‚au‘ 10 Der Entstehungsort und der mittelalterliche Geltungsraum müssen sich nicht immer decken. 11 Die nhd. Diphthongierung breitete sich erst in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts über das ganze Ostschwäbische und in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts über das Westschwäbische aus und
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ist im Fnhd. u. a. im Bairischen, Ostschwäbischen und nordöstlichen Hochalemannischen seit dem 14. Jahrhundert belegt, im Westschwäbischen überwiegt ‚ou‘ noch bis in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts (Moser 1929: § 24; Reichmann/Wegera 1993: § L 28); die Leitgraphie ist ‚au‘, in Bezug auf die w-Graphie wird der Graphiekomplex ‚ouw‘ zu ‚ow‘ bzw. ‚aw‘ gekürzt, z. B. frawen. Von weiteren regional geprägten Erscheinungen ist die Monophthongierung von mhd. /ou/ > /a:/ zu erwähnen, die städtische Mundarten im Bairischen und Schwäbischen betrifft (Moser 1929: § 79 [Anm. 6]; Reichmann/Wegera 1993: § L 18). Im Bairischen wurden mhd. /ou/ und /öu/ vor Labialen und vor /ch/ zu /a:/ monophthongiert, was in Hss. vom 14.–17. Jahrhundert zum Ausdruck kommt. Im Schwäbischen wurden /ou/ und /öu/ zu /o:/ im 14. und 15. Jahrhundert (Reichmann/Wegera 1993: § L 18). In der Hs. variieren nebeneinander /a:/ und /o:/, z. B. mandelbam, pam, byrpam und cippreßbom, bomöl; die schon mhd. Diphthongformen sind häufiger bei dem zweiten Schreiber, z. B. baum, paum. Schreibungen mit Graphien ‚ou‘ oder ‚au‘ statt mhd. /â/ und /ô/ sind seit dem 13. Jahrhundert u. a. im Westschwäbischen belegt; im 14./15. Jahrhundert sind solche Schreibungen in Hss. häufig (Weinhold 1863: § 52; Moser 1929: § 75.3), z. B. in kriechischer sprauch, von lateinischer sprauch, schlauff. In obd. Hss. kommt es im 14. und 15. Jahrhundert bzw. bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts aus Unsicherheit in der Zeichenverwendung zu einer starken Vermischung der Zeichen für die beiden vorderen Vokalreihen, wobei der Anteil der hyperkorrekten Schreibungen häufig recht groß ist (Moser 1929: § 66). So stehen in der vorliegenden Hs. neben mhd. i- und e-Formen, wie z. B. kimftig, wirdig, wirdiklich, wirdikait, welczt, häufig hyperkorrekte Schreibungen von ‚ü‘ und ‚ö‘ (z. B. stürbt, württikait, würckt, wölczt, wöll). Besonders im Schwäbischen und Alemannischen sind die zahlreichen als „Überrundung“ bezeichneten Schreibungen wohl eher auf zugrundeliegende lautliche Prozesse zurückzuführen als auf bloße hyperkorrekte Reflexe der Entrundung. Im Schwäbisch-Alemannischen und in angrenzenden Gebieten kommen im Frnhd. häufig Schreibungen mit ‚ö‘ und ‚ü‘ anstelle von mhd. ‚e‘, ‚i‘ und ‚î‘ besonders nach ‚w‘ und vor ‚l‘, seltener vor anderen Konsonanten (z. B. vor Labialen), vor; in der vorliegenden Hs. betrifft dieser Vokalwandel z. B. erdäpffel – erdöpffel. In den Hss. des 14. und 15. Jahrhunderts erscheinen gerundete und ungerundete Vokale nebeneinander am häufigsten im Niederalemannischen und Schwäbischen (Moser 1929: § 66 [Anm. 9]; Reichmann/Wegera 1993: § L 36). Zu regionalen Besonderheiten gehört der Lautwandel des mhd. Vokals /a:/ zu /o:/ vor den Konsonanten /m/, /n/, /l/, der in der vorliegenden Hs. im Falle von ane nicht eingetreten ist; die Belege der a-Schreibung vor r, m, n sind im Schwäbischen und Alemannischen selten und beschränken sich auf das 14./15. Jahrhundert. Erst gegen Ende des 16. Jahrhunderts konzentrieren sich die
gelangte in westlichen und südlichen Grenzgebieten möglicherweise erst zu Anfang des 16. Jahrhunderts zur völligen Herrschaft; bis zur zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts erscheinen hier noch die langen Vokale, erst dann sind die Hss. der nhd. Diphthongierung zugänglich und bis um die Mitte des 16. Jahrhunderts gilt der gemischte Typus. Vgl. Moser 1929: §77.
68 | Lenka Vodrážková o-Schreibungen im Niederalemannischen auf die Stellung vor Nasal (Moser 1929: § 75). Ferner wird das mhd. /u/ nicht zu /o/ vor Nasal gesenkt, z. B. küng, kunigin, sunnen, kumpt. Im Obd. hält sich die u-Schreibung zum Teil bis ins späte 17. Jahrhundert (Moser 1929: § 74; Reichmann/Wegera 1993: § L 33; Paul, Wiehl, Grosse 1989: § 50). An weiteren sprachlichen Merkmalen gibt es hier die Derivationssuffixe -lich, das sich im obd. Raum – mit Ausnahme des Bairischen, wo die diphthongierte Form -leich verwendet wird – findet, z. B. wunderlichn, tugentlichn, gottlicher, wirdiklich, und -nus bzw. -nuß, das in südlichen Gebieten des deutschsprachigen Raumes dem mhd. Suffix -nisse entspricht, z. B. vmsternuß, gedächtnuß, vancknuß, geleichnuß. Bei den Diminutivsuffixen lässt sich auf das obd. -lin (z. B. seydenwúrmlin, kindlin, hauptlin) und -el (z. B. kindel, vischel, stainel, leowel, wörttel, menschel) hinweisen; dem Schwanken unterliegen hier z. B. prústlin – prustel. In Bezug auf die Nebensilbenvokale zeigen sich in der vorliegenden Hs. auch andere Vokalgraphien als -e (z. B. schönest): Im Komparationssuffix des Superlativs kommen hier ‚i‘ (z. B. funfczigist, neunvndvierczigisten) und ‚o‘ vor, z. B. obrost bzw. oborost, adelichost, geweltigosten, und zwar im 14. und 15. Jahrhundert besonders im Westobd. Im 16. Jahrhundert tritt es in diesem Raum zurück (Stopp 1973: § 52 – § 54). In der Flexion halten sich zum Teil volle Vokale, und zwar vor allem die Variante mit ‚o‘, z. B. vertilgot, harnot, begegnot; in Hss. ist die o-Schreibung seltener als ‚a‘ im Schwäbischen, Alemannischen und Bairischen und sie ist vor allem ans Alemannische gebunden. Der Text weist synkopierte (vor allem bei den Flexionsendungen, z. B. wunderlichn, tugentlichn) und apokopierte Formen (z. B. sach, leut) auf; in dieser Hinsicht war das Obd. in der frnhd. Zeit konsequenter als das Md. Im Bereich des Konsonantismus deutet auf die obd. Provenienz der Stand der 2. Lautverschiebung hin, und zwar die Affrikate /pf / im Anlaut (z. B. pflagent) sowie im Inlaut (z. B. scharpf, scherpfer) und /kχ/, die in der Hs. vereinzelt mit ‚ch‘ wiedergegeben sind (z. B. trinchent); im schwäbischen Schriftgebrauch wird noch bis in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts neben den anderen Varianten ‚ch‘ verwendet (Moser 1951, § 139 u. § 150.3). Auf die Schreibvariante mit ‚k‘ weisen hier vor allem im Anlaut regelmäßig z. B. küng, kumpt, kunigin hin; diese Schreibvariante herrschte im Niederalemannischen und teilweise im Schwäbischen im 15.–17. Jahrhundert (Moser 1951: § 149 [Anm. 4]; Reichmann/Wegera 1993: § L 49). Ferner überwiegt in der vorliegenden Hs. in Initialstellung die p-Schreibung, die im Obd. bis ins 17. Jahrhundert greifbar ist (Moser 1951: § 138), z. B. payde, pist, praytt sich, pringt, pruders, prunnen, ainer praytten prust, pesser, pitter, prústlin, plůt, plyczen, plumen, plůmen, plomen, purg, pletter, playch, pild, plind; diese kommt auch in indirekter Initialstellung vor (z. B. himelprot, verporgen, verprennt, verprannt, augenplick). Daneben ergibt sich hier ein Schwanken zwischen der historischen Schreibung mit ‚p‘ und der fränkischen mit ‚b‘ sowohl in der Initialstellung, wie z. B. půch – bůch, baum – paum, perg – berg als auch in indirekter Initialstellung, z. B. geprechen – vngebrechen, mitgebrechen, geporn – geborn. Diese Doppelstellung erscheint in obd. bzw. in alemannischen und schwäbischen Hss., in bairischen Hss. des 14. und 15. Jahrhunderts kommt im unmittelbaren Anlaut durch-
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gehend oder regelmäßig ‚p‘ vor (Moser 1951: § 137.1 a–b). In den obd. Hss. wird ‚t‘ statt ‚d‘ in einer kleinen Zahl bestimmter Wörter häufig gebraucht, von denen in der vorliegenden Hs. z. B. tewtsche zu nennen ist. Um einen Reflex der binnenhochdeutschen Konsonantenschwächung handelt es sich bei Lehnwörtern aus dem Romanischen wie z. B. brobst, was in der betreffenden Zeit im Obd. häufiger war. Im Zusammenhang mit der Lenisierung steht im Text des zweiten Schreibers als Einzelbeleg vndertann. Auf den lautlichen Wandel /w/ > /b/ im Inlaut zwischen bzw. vor Vokal beziehen sich Beispiele wie leobin, leoben; eine Schwankung belegt hier leowel. Im Schwäbischen sind die Formen mit /b/ nach dem Vokal vom 14. Jahrhundert bis zum Ende der frnhd. Zeit bewahrt (Moser 1951: § 131.3 u. § 137.2). In der behandelten Hs. findet sich das obd. wellen, was noch im 14. Jahrhundert ganz allgemein war; selten bleibt es bis ins 16. Jahrhundert bezeugt (Reichmann/Wegera 1993: § M 146). Daneben tritt seit dem 15. Jahrhundert vor allem obd. wöllen als Rundungsform zu wellen. Ferner deutet hier gan (z. B. vfgat, gant) auf die â-Form, die u. a. im Westobd. bzw. Alemannischen im 13.–15. bzw. noch bis zum 16./17. Jahrhundert erhalten ist (im Gegensatz zum bairischen gên) (Paul – Wiehl – Grosse 1989: § 280; Weinhold 1863: § 11; Moser 1929: § 75). Die kontrahierte Form nit erscheint besonders in westobd. Quellen und sie kommt hier häufiger vom 14. bis zum 16. Jahrhundert vor (Walch/Häckel 1988: § 113 [Anm. 5]). Auf Grund der sprachlichen Analyse lässt sich feststellen, dass die Hs. mit ihren vorwiegend schwäbischen Merkmalen aus sprachlicher Sicht zur südwestoberdeutschen Provenienz gehört. Die schwäbischen Merkmale gehen dabei auf die Faktoren wie auf die Sprache des Schreibers bzw. der Schreiber, die engere Beziehung zu einer Handschriftengruppe bzw. auch auf das räumliche Wirkungsgebiet der Handschrift zurück (Eis 1944: 35).
4 Zum Vergleich der Prager mit der Heidelberger Handschrift In Bezug auf die Provenienz und auf die schwäbischen Merkmale wurde die Hs. des Buchs der Natur Konrads von Megenberg aus der Klosterbibliothek der Franziskaner zu Maria Schnee in Prag textuell und sprachlich mit der vollständigen Handschrift aus dem Jahr 1442, die in der Universitätsbibliothek Heidelberg aufbewahrt wird (s. Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. germ. 286, http://digi.ub.uniheidelberg.de/diglit/cpg286) verglichen; gleichzeitig stellten dabei wichtige Indizien für die Beschäftigung mit der Heidelberger Hs. die Monographie Gerold Hayers Konrad von Megenberg „Das Buch der Natur“. Untersuchungen zu seiner Text- und Überlieferungsgeschichte (Tübingen 1998 [Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters, Bd. 110]) und die Bestandteile des ganzen Ko-
70 | Lenka Vodrážková dexes, der neben dem Megenberger Buch der Natur auch das Pelzbuch Gottfrieds von Franken umfasst, dar.
4.1 Zum Textbestand Die Prager und die Heidelberger Hss. beginnen mit dem identischen Text des Prologs: AIn wirdig weibes kron In wöllichem klaid man die ansicht, so sind ir tugentlichn werck an kainem end verhandelt [. . . ] (Prag; fol. 12r ) – Ain wirdig weibes kron In wellichem klaid man die ansicht, so sind Ir tugentlichn Werck an kainem end v[er]handelt (Heidelberg; fol. 1ra , http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg286/0005). Sowohl die Prager als auch die Heidelberger Hss. umfassen in einem Band neben dem Buch der Natur Konrads von Megenberg nur noch das Pelzbuch Gottfrieds von Franken.12 Die Zusammenhänge mit Konrad von Megenberg ergeben sich aus Hinweisen in Gottfrieds Text als einer der benutzten Quellen (Eis 1944: 24–25); diese Tatsache führte auch dazu, dass die beiden Texte in verschiedenen Hss., also auch in der behandelten Hs. aus Prag, nebeneinander aufgezeichnet wurden. In der Prager Hs. ist Gottfrieds Pelzbuch dem Buch der Natur direkt angeschlossen13 und beginnt – ohne mit einem Inhaltsverzeichnis eingeleitet zu werden – wie folgt (fol. 334r ): Man sol erkennen vnd mercken ainen siechtagen der manigen bam ankompt dauo[n] er vnfruchtper wirt [. . . ]. Der in der Hs. unvollendete Text Gottfrieds von Franken beträgt 14 Blätter (fol. 334r –347r ) und reicht inhaltlich bis zum Kapitel 69 bzw. 69a, das in dieser Fassung mit folgenden Worten beendet ist: [. . . ] oder nim ain ror oderr ain halm oder ain ander ring ding vnd bestreich (fol. 347r ). Auch in Bezug auf die Struktur der behandelten Hs. aus Prag handelt es sich um eine gekürzte Fassung von Gottfrieds Pelzbuch; es fehlen z. B. die Kapitel 60–63a, 65–66 und 68. In Bezug auf die Reihenfolge der Texte und auf die Struktur der einzelnen Kapitel des in Auszügen der Fassung B aufgezeichneten Textes von Gottfrieds Pelzbuch korrespondiert die vorliegende Hs. aus Prag mit der Heidelberger Hs.; diese Hs. aus dem Jahr 1442 scheint nach Gerhard Eis (1944: 39) die älteste angefertigte Niederschrift von alemannischen Handschriften des Pelzbuchs Gottfrieds von Franken zu sein.
12 Rund vierzig bekannte Hss. dieser Schrift über die Obst- und Weinkultur sind überliefert. 13 Der Text des Pelzbuchs wurde in der vorliegenden Hs. vom zweiten Schreiber verfasst und sprachlich stimmt es auch mit dem Text des Buchs der Natur überein, d. h. sie gehört in die schwäbische Provenienz.
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Tab. 1: Zum Vergleich der Prager und Heidelberger Hss.: Reihenfolge der Teile des Buchs der Natur Teil
Prag, Sign. Ve 2
Heidelberg, Cod. Pal. germ. 286
I. II. III. III. A
Von dem menschen In ainer gemain Von den himeln vnd von den siben planeten Von den tiern In ainer gemain Vn[d] des ersten von den die da gand auf der erden (im Text; Einleitung zum Teil III) Von dem gefügel In ainer gemain Von den merwundern Von den vischen Von den schlangen Von den wurmen Von den päumen Von dem wolschmeckenden bäumen Von den krewttern Von dem edel gestein Von dem geschmeyd Von dem wunderlichen prunnenn
Von dem menschen In seiner gemain Von den himeln und von den siben planeten Von den tier in ainer gemain Vnd des ersten von den die da gant auf der erden (im Text; Einleitung zum Teil III) Von dem gefugel in ainer gemain Von den merwund[er]n Von den vischen Von den schlangen Von den wurm[en] Von den pamen Von dem wolschmeckenden paumen15 Von den kreutt[er]n Von dem edelgestein Von dem geschmeÿd Von den wunderlich[e]n prune[n]
III. B III. C III. D III. E III. F IV. A IV. B V. VI. VII. VIII.
4.2 Zu den Teilen und Kapiteln Die Werkstrukturen der Prager und der Heidelberger Hss.14 korrespondieren und die Gliederungssystematik der Heidelberger Hs. wird in der Prager Hs. bewahrt. Das betrifft auch die Reihenfolge der einzelnen Teile in den beiden Hss.: Hinsichtlich des Umfangs überliefert die Prager Hs. – gleich wie die Heidelberger Hs. – die Enzyklopädie Konrads von Megenberg v o l l s t ä n d i g; von allen mehr als 600 Kapiteln16 weist die Prager Hs. keine Fehlkapitel und keine Kapitelumstellungen auf.17 Im Register der Prager Hs. (fol. 1v –11r ) werden neben allen Teilen auch alle Kapitel in Übereinstimmung mit der Heidelberger Hs. angeführt. Die Titel der einzelnen Kapitel der Prager und der Heidelberger Hss. sind in Auswahl18 wie folgt aufgezeichnet:
14 Zum Vergleich der Prager und Heidelberger Hss. geht man im vorliegenden Aufsatz von der digitalen Version der Heidelberger Handschrift des Buchs der Natur Konrads von Megenberg aus; den zitierten Beispielen aus der Heidelberger Hs. werden aus praktischen Gründen die Folienangaben statt einem Zitierlink hinzugefügt. u 15 In der Hs.: pamen. 16 Das Buch der Natur der sog. Prologfassung umfasst zusammen mit Prolog, Epilog und den Einleitungskapiteln zu den einzelnen Teilen 627 Kapitel; wenn man noch die Abschnitte des umfangreichen Kapitels I dazu zählt, handelt es sich insgesamt um 659 Kapitel. Hayer 1998: 54–55. 17 Von 51 Hss. der sog. Prologfassung weisen 32 Überlieferungen Fehlkapitel auf: 22 Hss weniger als 10 und 3 weniger als 20 Fehlkapitel. Ebenda: 55. 18 Die Kapitelauswahl stützt sich auf Hayer 1998.
72 | Lenka Vodrážková
Tab. 2: Zum Vergleich der Prager und Heidelberger Hss.: Reihenfolge der ausgewählten Kapitel des Buchs der Natur Buch 1 Prag, Sign. Ve 2 Von der brůst (fol. 12v –13r ) Von den brustlin (fol. 13r) Von der leber (fol. 13v –14r ) Von dem hertz (fol. 8ra –8vb ) Von denn tramen (fol. 40r –41r )
Heidelberg, Cod. Pal. germ. 286 Von der Brust (fol. 7va –7vb ) Von den Brustlin (fol. 7vb–8ra) Von der leber (fol. 8vb –9ra ) Von dem herz (fol.13r –13v ) Von den träumen (fol. 17vb –18va )
Buch 2 Prag, Sign. Ve 2 Von dem morgenstern (fol. 45v –47r ) Von dem kaffhern (fol. 47r ) Von dem mônn (fol. 47r –49v ) Daz sind die syben planetten in ainer gemain (fol. 49v –50r ) Von dem Erdbidem (fol. 75v –80r )
Heidelberg, Cod. Pal. germ. 286 Von dem Morgenstern (fol. 21rb –22rb ) Von dem kaffherren (fol. 22rb ) Von dem Mon (fol. 22rb –24ra ) Das sind die Syb[e]n planet[e]n in ainer gemain (fol. 24ra ) Von dem ertpidem (fol. 42rb –46ra )
Buch 3 A Prag, Sign. Ve 2 Von dem leo (fol. 97v –99v ) Von dem leoparden (fol. 61ra –61va ) Von dem lamÿ (fol. 100r )
Heidelberg, Cod. Pal. germ. 286 Von dem leo (fol. 59vb –61ra ) Von dem leoparden (fol. 61ra –61va ) Von dem lamÿ (fol. 61va )
Buch 3 B Prag, Sign. Ve 2 Von dem calader (fol. 115v –116r ) Von dem Elbis (fol. 116r ) Von dem Coristen (fol. 116v ) Von dem starchen (fol. 116v ) Von dem Calander (fol. 117r ) Von dem rappen (fol. 117r –118r )
Heidelberg, Cod. Pal. germ. 286 Von dem calader (fol. 73vb –74ra ) Von dem Elbis (fol. 74ra –74rb ) Von dem Coristen (fol. 74rb –74va ) Von dem storchen (fol. 74va –74vb ) Von dem Calander (fol. 74vb –75ra ) Von dem rappen (fol. 75ra –75vb )
Buch 4 B Prag, Sign. Ve 2 Von dem Cardamom (fol. 234r –234v ) Von dem Bidelpaum (fol. 234v –235r ) Von dem Balsambam (fol. 235r –237v ) Von dem Cynamom (fol. 237v –238v )
Heidelberg, Cod. Pal. germ. 286 Von dem Cardamom (fol. 150ra –150rb ) Von dem Bidelpaum19 (fol. 150rb ) Von dem Balsambam (fol. 150 rb –151vb ) Von dem Cynamom (fol. 151vb –152va )
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Buch 5 Prag, Sign. Ve 2 Von der hanßwnrcz [sic!] (fol. 256r ) Von dem Biessenkrutt (fol. 256r ) Von der Gamillen (fol. 256 r –256v ) Von dem Zwiual (fol. 256v –257r )
Heidelberg, Cod. Pal. germ. 286 Von der huswurtz (fol. 162vb –163ra ) Von dem Biessenkrut (fol. 163ra ) Von der Gamillen (fol. 163ra –163rb ) Von dem Zwiual (fol. 163rb –163va )
Von der latnckenkraut [sic!] (fol. 269r –269v ) Von der lylien (fol. 269v –270r ) Von der Alran (fol. 270r –270v ) Von der pappelen (fol. 270v –271r )
Von der latuckenkrut (fol. 170vb ) Von der lylien (fol. 170vb –171rb ) Von der Alran (fol. 171rb –171vb ) Von der Pappeln (fol. 171vb )
Von der kresselkrant [sic!] (fol. 274r –274v ) Von dem Schweinaug (fol. 274v ) fol. 274v weltplům Von der Gersten (fol. 274v –275r ) Von dem petersyl (fol. 275r –275v )
Von der kresselkrut (fol. 173va ) Von dem Schweinaug[en] (fol. 173va –173vb ) fol. 173vb : veltplumen Von der Gersten (fol. 173vb –174rb ) Von dem Petersyl (fol. 174rb )
Vor de[r] Nessel (fol. 282v –283r ) Von dem eyssenkrant [sic!] (fol. 282v –283r ) Von der wycken (fol. 283r ) Von dem Violkraut (fol. 283r –283v ) Von dem Ingb[er] (fol. 283v –284r )
Von der Nessel (fol. 178ra –178va ) Von der ysenkrut (fol. 178va ) Von der wyck[e]n (fol. 178va –178vb ) Von dem Violkrut (fol. 178vb –179ra ) Von dem Ingber (fol. 179ra –179rb )
Die Namen der Kapitel der Prager und Heidelberger Hss., die im Wesentlichen übereinstimmen, weisen einige abweichende Lesarten bzw. unterschiedliche Lesartvarianten auf, z. B. Von der brůst (Prag, fol. 12v –13r ) – Von der Brust (Heidelberg, fol. 7va –7vb ), Von dem herz (Prag, fol.13r ) – Von dem hertz (Heidelberg, fol. 8ra –8vb ). Einige Unterschiede gehen auf die Schreibkompetenz des Schreibers der Prager Handschrift zurück, z. B. Von denn tramen20 (Prag, fol. 40r –41r ; es folgen z. B. träwm, travm [fol. 40r ]21 ) – Von den träumen (Heidelberg, fol. 17vb –18va ), Von der latnckenkraut (Prag, fol. 269r –269v ; es folgt latuchen [fol. 269r ]) – Von der latuckenkrut (Heidelberg, fol. 170vb ); diese inkorrekten Schreibungen weisen darauf hin, dass vermutlich Berufsschreiber am Werk waren, die ihre Arbeit formal gekonnt, jedoch ohne Sorgfalt und in offensichtlicher Eile durchführten; es lässt sich voraussetzen, dass es sich um ungewollte, mechanische Abschreibefehler handelt: Der Schreiber der Prager Hs. hatte z. B. ‚u‘ als ‚n‘ gelesen. Schließlich unterscheiden sich die Namen der Kapitel in sprachlicher Hinsicht, z. B. Von dem Erdbidem (Prag, fol. 75v –80r ) – Von dem ertpidem (Heidelberg, fol. 42rb –46ra ), Von dem starchen (Prag, fol. 116v ) – Von dem storchen (Heidelberg, u
19 In der Hs. steht: Bidelpam. 20 In einigen Textstellen vertauschte der Schreiber den vermeintlichen Diphthong durch einen Langvokal. v 21 In der Hs. steht: tram.
74 | Lenka Vodrážková fol. 74va –74vb ) und schließlich variieren diphthongierte und monophthongierte Formen: Von dem Bidelpaum (Prag, fol. 234v –235r ) – Von dem Bidelpam (Heidelberg, fol. 150rb ), Von der haußwurcz (Prag, fol. 256r ) – Von der huswurtz (Heidelberg, fol. 162vb – 163ra ), Von dem eyssenkrant (Prag, fol. 282v –283r ) – Von der ysenkrut (Heidelberg, fol. 178va ), Von dem kresselkrant (Prag, fol. 274r –274v ) – Von der kresselkrut (Heidelberg, fol. 173va ), Von dem Violkraut (Prag, fol. 283r –283v ) – Von dem Violkrut (Heidelberg, fol. 178vb –179ra ).
4.3 Zum Textvergleich Das Buch der Natur zeichnet sich durch die Sorgfalt der deutschen Formulierung aus. In Bezug auf die Intention des Autors hat diese umfangreiche Naturkunde einen informierenden Charakter: Es ist für fachlich interessierte Rezipienten bestimmt, wobei hier vor allem der Anspruch auf Objektivität und Faktizität des Angeführten zu beachten ist. Die präzise Ausdrucksweise ist vorwiegend durch einfache und zusammengesetzte Aussagesätze in der Form des Indikativ Präsens in Sachverhaltsbeschreibungen gekennzeichnet. Im Vergleich mit der Heidelberger Hs.22 belegt die Prager Hs. Einzelabweichungen, die vor allem die Texttilgung betreffen. Man kann annehmen, dass die Textlücken als mechanische Abschreibefehler entstanden sind. Es gibt hier keine Textzusätze oder -umstellungen sowie keinen Wort- und Textersatz. Eine beachtenswerte Textlücke befindet sich im Kapitel Von der Basilig (Teil V Von den krewttern, Kap. 13, fol. 255v –256r ), das sich ohne rubrizierte Überschrift direkt dem vorausgehenden Kapitel Von der Bethanien folgendermaßen anschließt: „[. . . ] der weinet ain tail daz kraut haist auch Tragunthea oder Serpenthoia oder Columbina vnd ist zwaÿrley [. . . ] (fol. 255v , Zeile 12–14); dieser restliche Teil des Kapitels korrespondiert dann völlig mit der Heidelberger Fassung auf dem Folioblatt 162vb . In der Prager Hs. fehlt der Anfang des Kapitels, der in der Heidelberger Hs. die letzten drei Zeilen (fol. 162va ) umfasst: Basilicon haizt ain Basilig, das ist ain kraut, das hat gar ain edeln schmack (Heidelberg, Von der Basylig, fol. 162va ; das ganze Kapitel: fol. 162va – 162vb ). Weitere Abweichungen von der Heidelberger Hs., wie eine Textauslassung oder -umformulierung, sind in der Prager Hs. nicht belegt. Selten findet sich in der Prager Hs. eine Wortauslassung, z. B. decz Balsams velt durch fuchtet aber andern stetten (Prag, Von dem Balsambam, fol. 235v ) – des Balsams velt durchveicht [Korrektur: füchtet], aber an and[ere]n stetten (Heidelberg, Von dem Balsambam, fol. 150va ).
22 Zum Vergleich der Heidelberger Hs. mit der Erstausgabe des Buchs der Natur von Franz Pfeiffer (1861) hinsichtlich des Wortersatzes und -zusatzes sowie der Textlücken vgl. Hayer 1998: 101–102, 169– 170.
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Ferner fallen in der Prager Hs. die Kapitel Von den Delphin und Von dem echen (Teil III D Von den vischen, Kap. 13) zusammen: dem Kapitel Von dem echen (fol. 166v – 167v ) fehlt die rubrizierte Überschrift, die in der Heidelberger Hs. marginal höchstwahrscheinlich nachträglich im Rahmen der Textkorrekturen auf dem Folioblatt 107va aufgezeichnet wurde (Heidelberg, Von dem Echen, fol. 107va –108ra ); in der ursprünglichen Fassung der beiden Hss. wird keine rubrizierte Überschrift als Gliederungsmittel des Textes eingetragen, sondern der Name des Kapitels geht in den Grundtext des vorausgehenden und des betreffenden Kapitels über: Der Text der Prager Hs. knüpft in Zeile 25 (fol. 166v ) direkt an das vorausgehende Kapitel Von dem visch delphin (fol. 166v ) an. Die Fassung des ganzen Kapitels in der Prager Hs. stimmt ganz mit dem der Heidelberger Hs. überein. In der Prager Hs. befinden sich im Unterschied zu der Heidelberger Hs.23 keine marginalen Textkorrekturen und Text- oder Einzelworteinschübe, z. B. im Kap. Von den brustlin (Prag, fol. 13r ) – Von den Brustlin (Heidelberg, fol. 7vb –8ra ). Die Textzusätze24 in der Heidelberger Hs. werden in der Prager Hs. teilweise berücksichtigt, z. B.: Ist aber daz sich der satz verenndert; (Prag; Von der leber, fol. 13v ) – ist aber daz [sich] der satz v[er]endert (Heidelberg; Von der Leber, fol. 8vb ), ir natur ist ainer senftigen gestalt (Prag; Von der leber, fol. 14r ) – ir natur ist ain[er] senftigen [ge]stalt (Heidelberg; Von der Leber, fol. 8vb ), daz der môn sein schein verlirt wen[n] er die Sunnen verlirt (Prag; Von dem mônn, fol. 47v ) – daz der môn sein schein verlirt [wen[n] er die Sun[n]en v[er]lirt] (Heidelberg; Von dem Mon, fol. 23rb ), mit seinen gar starcken scharpfen armen (Prag; Von dem lamÿ, fol. 100r ) – mit seinen gar starcken scharpfen armen (Heidelberg; Von dem lamÿ, fol. 61va ), so maistrot er sich mit den andren an den weg (Prag; Von dem Elbis, fol. 116r ) – so waistrot [maistrot] er sich mit den and[er]n an den weg (Heidelberg; Von dem Elbis, fol. 74rb ), wann alz groß zeit die muetter verzerent, ob den kinden alz groß zeit verzerent die kind ob den muettern (Prag; Von dem starchen, fol. 116v ) – Wann als große zeit die muetter verzerent, [ob den kinden als grozz zeit verzerent] die kind ob den muettern (Heidelberg; Von dem storchen, fol. 74va –74vb ), die Jungen rapplin siben tag aim alles essen vnd an dem sibenden tag so schwarczend sie (Prag; Von dem rappen, fol. 117v ) – die Jungen rapplin siben tag [aim alles esse[n] vnd an dem sybenden tag] so schwartzend sy (Heidelberg; Von dem rappen, fol. 75rb ), der rapp ist starck vnd macht mangerlay Stim (Prag; Von dem rappen, fol. 117v ) – der rapp ist schräkick [starck] vnd [macht] mangerlay Stim (Heidelberg; Von dem rappen, fol. 75rb ); zum Teil werden die Textkorrekturen in der Prager Hs. nicht reflektiert, z. B. das hercz leyde auch als die andern gelyder (Prag; Von dem herz, fol. 13r ) – das hertz [lebt das aber das hertz leÿde] auch als die and[er]n gelider (Heidelberg; Von dem hertz, fol. 8va ), der da hieß Byso vnd spricht daz (Prag; Von dem herz, fol. 13v ) – der da hieß Pyso [vnd sprach] daz25 23 Die Heidelberger Hs. enthält gerahmte Hinweise zur medizinischen Verwendung von tierischen und pflanzlichen Drogen und zu Indikationen. Weiter vgl. Hayer 1998: 169. 24 Die Textkorrekturen in der Heidelberger Hs. werden fett in eckigen Klammern angeführt. 25 In der ursprünglichen Fassung steht [. . . ] vnd spricht [. . . ].
76 | Lenka Vodrážková [. . . ] (Heidelberg; Von dem hertz, fol. 8va ), vnd ist ze tewtsch gesprochen ain fræmdlicher (Prag; Von dem mônn, fol. 47r ) – vnd ist ze teutsch gesproch[e]n ain fremdlicher [fræmdliechter] (Heidelberg; Von dem Mon, fol. 22rb ), wenn aber die Sun[ne] In seytz (Prag; Von dem mônn, fol. 47v ) – Wenn aber die sun[ne] in [be]seytz (Heidelberg; Von dem Mon, fol. 22va ), das ist dauon, das daz Inwen[n]dig sandig ist (Prag; Von dem Erdbidem, fol. 80r ) – daz ist dauon, daz das [ertrich] Inwenndig sandig ist (Heidelberg; Von dem ertpidem, fol. 45vb ). Das gilt auch für rubrizierte lateinische Marginalien in der Heidelberger Hs., z. B. im Kapitel Von dem hertz, fol. 8r –8v ), Von dem ertpidem (fol. 46ra ). Ferner reflektiert die Prager Hs. auch die Textpassagen, die in der Heidelberger Hs. nicht mehr zu entziffern sind, z. B. Vnd spricht auch Matheus, daß Joseph sÿ nit erkan[n]t vncz daz sÿ genaß Irs erstgebornen sunß (Prag; Von dem mônn, fol. 48r ) – vnd spricht auch mat[. . . ] (Heidelberg, Von dem Mon, fol. 23va ). Die Übereinstimmungen der Prager und Heidelberger Hss. sind auch im Bereich des fachbezogenen deutschen und lateinischen Vokabulars nachzuweisen, z. B. im Teil V Von den krewttern – Von den kreutt[er]n, wo die Pflanzen mit ihren lateinischen und verdeutschten Namen präsentiert, Hinweise auf Sammelzeit und Aufbewahrung angeführt, sowie ihre Anwendung beschrieben werden (Schnell 2011: 144–148): Barba Ionis haizt huß wurcz (Prag, Von der hanßwnrcz [sic!], fol. 256r ) – Barba Ionis haizt haußwurtz (Heidelberg, Von der huswurtz, fol. 163ra ), Betha oder blitus haizt Biessenkraut oderr Mangolt (Prag, Von dem Biessenkrutt, fol. 256r ) – Betha oder blitus haist Biessenkraut oder Mangolt (Heidelberg, Von dem Biessenkrut, fol. 163ra ), Mandragora haist alran (Prag, Von der Alran, fol. 270r ) – Mandragora haizt alran (Heidelberg, Von der Alran, fol. 171rb ), Malua haist papel (Prag, Von der pappelen, fol. 270v ) – Malua haizt papel (Heidelberg, Von der Pappeln, fol. 171vb ), Orpinn[um] haist kresselkraut vnd haist auch ze latein Grassula (Prag, Von der kresselkrant [sic!], fol. 274r ) – Orpinu[m] haizt kresselkraut vnd haizt auch ze latein Grassula (Heidelberg, Von der kresselkrut, fol. 173va ), Oculus porti haist ain weltplům vnd haizt auch zelatein flos camppi (Prag, Von dem Schweinaug, fol. 274v ) – Oculus porti haizt ain veltplum vnd haizt auch ze latein flos camppi (Heidelberg, Von dem Schweinaug[en], fol. 173va ), Urtica haist Nessel (Prag, Vor de[r] Nessel, fol. 282v ) – Urtica haizt nessel (Heidelberg, Von der Nessel, fol. 178ra ), Uerbena hayst Eyssenkraut (Prag, Von dem eyssenkrant [sic!], fol. 282v ) – Uerbena haizt Eysenkraut (Heidelberg, Von der ysenkrut, fol. 178va ), Uicia haizt wick daz krant [sic!] (Prag, Von der wycken, fol. 283r ) – Uicia haizt Wick das kraut (Heidelberg, Von der wyck[e]n, fol. 178va ), Uiola haist vil des krautes pletter plům (Prag, Von dem Violkraut, fol. 283r ) – Uiola haizt viol des krautes plett[er] plům (Heidelberg, Von dem Violkrut, fol. 178vb ). Aus dem Textvergleich lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass der Text der ersten Hand der Prager Hs. die Korrekturen in der Heidelberger Hs. nur zum Teil beachtete; die rubrizierten lateinischen und deutschen Marginalien der Heidelberger Hs. werden in die Prager Hs. überhaupt nicht miteinbezogen. Die zweite Hand der Prager Hs. ist präziser in Bezug auf die Berücksichtigung der nachträglichen Textkorrekturen in der Heidelberger Hs. und folgerichtiger in der Aufzeichnung des betroffenen
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Textes. Die Absenz von eigenen erklärenden und präzisierenden Texterweiterungen, kein Wort- und Textersatz sowie keine Kapitel- oder Textumstellung, die Textlücken und die fehlerhafte Schreibung in der Prager Hs. deuten auf die beiden Schreiber als Kopisten hin, die getreu und gedankenlos ihre Arbeit verrichteten und die sich auch keine selbstständigen Eingriffe in den Text zutrauten.
5 Fazit Der textuelle und sprachliche Vergleich der Prager und Heidelberger Hss. des Buchs der Natur Konrads von Megenberg belegt, dass die beiden schriftlichen Denkmäler lehrhafter Prosa zu einer Gruppe der überlieferten Hss. südwestdeutscher bzw. schwäbischer Provenienz gehören, die im 15. Jahrhundert bzw. um die Mitte des 15. Jahrhunderts entstanden sind. Die Zugehörigkeit der beiden Voll-Handschriften zu einer gemeinsamen Überlieferungsgruppe der sog. Prologfassung und ihre enge Verwandtschaft werden durch textuelle Übereinstimmungen, von denen nur fehlerhafte Schreibungen, seltene Textauslassungen und die Absenz von Zusatztexten sowie nachträglichen Textkorrekturen in der Prager Hs. abweichen, nachgewiesen: Die Prager Hs. ist wahrscheinlich als Abschrift der Heidelberger Hs. entstanden oder die beiden Hss. haben eine gemeinsame Vorlage südwestdeutscher bzw. schwäbischer Herkunft gehabt. So zählt die Prager Hs. „der ersten Naturgeschichte in deutscher Sprache“26 , die Das Buch der Natur vollständig in seinen acht Teilen überliefert, zu den zahlreichen deutsch geschriebenen Fachprosatexten, deren Entstehungsgeschichte mit den deutschen Ländern verbunden ist und die dann dank enger historischer Kontakte mit Böhmen als einem Land am Rande des deutschsprachigen Raumes ihren Aufbewahrungsort in Böhmen gefunden haben.
Abkürzungsverzeichnis – – – – – –
Frnhd. / frnhd. Frühneuhochdeutsch / frühneuhochdeutsch Hs. / Hss. Handschrift / Handschriften Md. / md. Mitteldeutsch / mitteldeutsch Mhd. / mhd. Mittelhochdeutsch / mittelhochdeutsch Nhd. / nhd. Neuhochdeutsch / neuhochdeutsch Obd. / obd. Oberdeutsch / oberdeutsch
26 Diese Charakteristik geht auf Franz Pfeiffer zurück, der das Werk auf diese Art und Weise im Untertitel seiner Ausgabe (1861) bezeichnet.
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Ortrun Riha
Die deutsche medizinische Fachsprache des Mittelalters am Beispiel des Arzneibuchs Ortolfs von Baierland (um 1300) 1 Ortolfs Arzneibuch: Inhalt und Bedeutung Das Arzneibuch des aus dem Herzogtum Bayern stammenden (vgl. Riha 2015) und in Würzburg tätigen Chirurgen Ortolf ist das erste systematische Lehrbuch der Medizin, das auf Deutsch verfasst wurde (vgl. Schnell 2003a). Für die Erschließung des mittelhochdeutschen medizinischen Wortschatzes ist der Text insofern eine unverzichtbare Grundlage. Über 200 handschriftliche Belege, darunter rund 60 (fast) vollständige Überlieferungen, sowie sechs Inkunabelauflagen sind Zeugnis für die Bedeutung des Werks bis zum Ende des Mittelalters (Ortolf 2014: 16–36). Seinen Erfolg verdankt das Arzneibuch seiner stringenten Gliederung auf mehreren Ebenen (vgl. Keil 1987) und der merksatzartig verdichteten Sprache (vgl. Keil/Riha 1993). Der Text ist mit rund siebzig heutigen Druckseiten nicht sonderlich umfangreich, deckt jedoch – mit Ausnahme der Materia medica – alle wesentlichen Themen der mittelalterlichen Heilkunde ab (Riha 2014: 15–17): Im ersten Teil (Kap. 1–30) werden die Grundlagen der Medizin (Säftelehre, therapeutische Prinzipien) dargestellt, dann folgen eine Harnschau (Kap. 31–54) und eine Pulslehre (Kap. 55–66). Den vierten Abschnitt bilden hippokratische Lehrsätze aus den ‚Aphorismen‘ und ‚Prognosen‘ (Kap. 67–72) (Riha 1992: 123–134), die um einen spätantiken pseudohippokratischen Text, der meist als ‚Capsula eburnea‘ bezeichnet wird (vgl. Sudhoff 1916), erweitert sind und in einen kurzen Aderlasstraktat (Kap. 73) einmünden, der sich in der Überlieferungsgeschichte oft verselbstständigt hat (vgl. Boot 1993). Der umfangreichste Teil ist eine Krankheitslehre, in der verschiedenste Leiden von Kopf bis Fuß vorgestellt werden (Kap. 74–140). Zum Schluss gibt es noch Anweisungen zur Behandlung von Wunden und Verletzungen (Kap. 141– 167). Die Vorlagen für den Harntraktat (Riha/Fischer 1988, Riha 1992: 64–101) waren der um 900 entstandene Liber de urinis des Isaak Judaeus (vgl. Peine 1919) sowie das um 1200 verfasste Lehrgedicht De urinis Gilles’ de Corbeil (Aegidius Corboliensis, vgl. Choulant 1826). Vom gleichen Autor verwendete Ortolf auch das Carmen de pulsibus (Riha 1992: 101–111). Die Quelle für Nosologie und Chirurgie, das um 1235 von Gilbertus Anglicus zusammengetragene Compendium medicinae (Riha 1992: 150–208, 213–221; Riha 1994), ist ein wichtiger Terminus post quem für die Datierung des Arzneibuchs. Aus Vorlagen und Inhalt des Arzneibuchs ergeben sich die im Folgenden zu besprechenden Themengebiete des Wortschatzes: Wir beginnen mit den Namen von Geweben, Organen, Körperteilen usw. und gehen dann zu den Bezeichnungen für pathoDOI 10.1515/9783110524758-007
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logische Erscheinungen (Krankheitsauslöser, Beschwerden, Krankheiten) über. Hier werden wir auf Termini aus dem Lateinischen bzw. Griechischen mit deren Übersetzungen stoßen. Da Semiotik bzw. Diagnostik nur Mittel zum eigentlichen Zweck der Medizin – der Behandlung – sind, werden anschließend die von Ortolf genutzten Therapieformen gestreift, ohne jedoch in die Problematik der Drogennamen vertieft einzusteigen. Die Beispiele können nicht den gesamten Wortschatz Ortolfs erfassen und es werden auch nicht sämtliche, sondern nur exemplarische Belegstellen angegeben, dennoch dürfte die Breite des Spektrums zeigen, wie lohnend eine Analyse dieses Arzneibuchs ist. Alle Zitate stammen aus der Neuausgabe (Ortolf 2014).
2 Körper und Körperfunktionen Eine Konzentration anatomischer und physiologischer Wörter und Begriffe findet sich in Kapitel 4–5 (Säftelehre, Temperamente), Kapitel 7–11 (Organe und ihre Funktion, Gewebe und ihre Primärqualitäten), Kapitel 32 (Verdauungsvorgänge) und Kapitel 73 (Gefäße bzw. Aderlassstellen). Im nosologischen Abschnitt (Kapitel 74–140) folgen weitere Körperteil-Bezeichnungen und natürlich die meisten Krankheitsnamen. Aber auch sonst sind einschlägige Vokabeln über den Text verteilt. Der menschliche Körper wird als leib (5.3d) bezeichnet und ist von hawt (21.2; 152.1e) bzw. vel (135.2c) bedeckt. An Gewebetypen unterscheidet Ortolf fleisch (Muskulatur, 11.1b), senen (Sehnen und wohl auch Bänder, 11.1b) und feistigkeit (Fett, 11.1b), wobei das letztgenannte Wort auch ‚Fettleibigkeit‘ bedeuten kann (siehe unten). Pein kann für ‚Knochen‘ (8.3a; 11.1b) stehen, aber auch für ‚Bein‘ (8.3b; 132.5c; 164.1) sowie gelegentlich für die Schädeldecke (8.2) und für Knochensplitter (141.2a). Mit ader sind – wie im Neuhochdeutschen – oft ‚Adern‘ im Sinn von Arterien plus Venen gemeint. Es scheint aber auch die Assoziation eines länglichen Gefäßes ganz allgemein durch, entsprechend dem medizinischen Gebrauch des z/,B./schen Wortes vas, wenn z. B. der Harnleiter als ader an dem rück bezeichnet wird (51.3). Wenn der Arzt aderlaszen soll (Kap. 16), geht es um eine Vene, wenn die ader slecht (78.4e), handelt es sich um eine Arterie (‚Schlagader‘). Auch der Pulsschlag selbst kann als ader bezeichnet werden (4.2c), obwohl daneben das Wort puls benutzt wird (4.1c/3c/4c und im gesamten Pulstraktat). Wenn es in 78.3d heißt die ader ist trege vnd vol, erkennt man die Doppelbedeutung sehr deutlich. Ansonsten sei vermerkt, dass unter den Körperstrukturen die Nerven fehlen. Von den vier Säften der Humoralpathologie sind nur das Blut (sehr häufig) und die [Gelbe] galle (selten, z. B. 124.2g) explizit genannt. Die Schwarze Galle ist nicht erwähnt und auch der zweimal vorkommende sleym (17.1c; 112.7d) ist wohl nicht i. S. v. Phlegma zu verstehen, sondern als eine pathologische Schlacke im Magen. Weitere Körpersäfte sind speichel (4.1e/2f/3i; 78.1e), haren (4.1b), milch (21.1) bzw. frawenmilch (156.2b) und sweysz (85.10b). Sweysz ist darüber hinaus auch eine Metapher für Kör-
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pervorgänge, die mit Seihen oder – modern gesprochen – Filtern zu tun haben: Der Chylus figuriert so als Darmfiltrat (32.4), der Harn als Nierenfiltrat (32.10b). Diese Vorstellung von einem Seihvorgang ist analog zur Arzneiherstellung zu sehen, wo die Anweisung renne (75.2d) bzw. öfter seyge (76.1e) es durch ein tuch ständig vorkommt. Eher an der galenischen Vorstellung von einem Kochvorgang orientiert ist dagegen der schawm deß pluts (32.9b). Der Kot heißt stul (15.1b) oder lewtsmist (163.4a). Die Organe werden in Anlehnung ans Lateinische gelider genannt (7.1; 11.1a; 77.1b), gelider ist jedoch gleichzeitig noch ein Oberbegriff für sämtliche Strukturen im Körper (7.1/2; 10.1b) und auch die Gliedmaßen (Extremitäten) heißen so (86.2b; 89.3b’). Die vier membra principalia – von Ortolf als furstinne übersetzt – sind das hiren, die leber, das hercz vnd dÿ nÿren (7.1). Im Gehirn sind die funf synn und das verstentnusz (7.2) lokalisiert, wobei ‚Sinn‘, ‚Verstand‘ und ‚Bewusstsein‘ wie heute auch oft ineinander übergehen (vgl. pey seynen synnen seyn 44.1b). Aus Kapitel 90 lässt sich implizit erschließen, dass für Ortolf Geisteskrankheiten Gehirnkrankheiten sind, und in die gleiche Richtung weisen die Abschnitte über Kopfverletzungen mit Verwirrtheitszuständen, Eintrübung u. ä., die auf eine Hirnschädigung zurückgeführt werden (z. B. Kap. 132). Der Leber kommt aufgrund ihrer Hitze eine Schlüsselfunktion bei der Verdauung zu (32.4) und ihr ist in der Krankheitslehre das Kapitel 123 gewidmet. Das Herz ist nicht nur ebenfalls ein lebenswichtiges Wärmezentrum im Körper, sondern auch Sitz der Seele (7.3). Die niren – synonym erscheint das Wort lenden (35.2d; 38.3; 73.19b/20a) – sind einerseits für die Harnproduktion zuständig (32.10a), anderseits für die Produktion des männlichen und weiblichen ‚Samens‘ (7.5). Außer diesen Hauptorganen kennt Ortolf noch lungen (9.1c; 32.9b), magen (9.1b; 10.1a; 11.2a; 32.1; 77.1c/2b), milcze (11.1b; 32.9d; 42.1b; Kap. 125), plösz (11.2a) bzw. plasze (32.10b; 41.1/2) und gall (i. S. v. Gallenblase, 32.9c). Beim Gedärm (derem 11.2a) werden Dünndarm (clein gederem 116.3c; cleiner darem 162.1), Dickdarm (in dem groszen gederem 116.3d; der grösser darem 162.2) und Mastdarm (maszdarem 43.10a, 122.1) terminologisch unterschieden. Der Zwölffingerdarm ist dagegen der darem, der jn den magen geet (32.3a) und das Jejunum ein anderer darem (32.3b). Ob Ortolf mit dem Ausdruck von eynem darem jn den anderen (32.12) sonstige Darmabschnitte andeuten wollte, muss offen bleiben. Darüber hinaus werden verschiedene Körperteile bzw. Körperregionen mehr oder weniger exakt bezeichnet: Am haupt (4.1d) bzw. kopf (78.4b) werden hirenschal (141.1b) und hirenschedel (141.2a) mit dem har (5.4d; 74.3; 76.2e) einerseits und antlicz (4.1g/3e/4d; 5.2d; 78.3c) anderseits differenziert. Dort finden sich stiren (4.1d; 78.1b), slaff (Schläfe, 83.7e), oren (20.1b), augen (20.3) mit wintpran (Augenbrauen und Wimpern, 137.3b), nasz (148.1) mit naszlöcheren (20.1c; 95.3b), münd (sowohl Mund 4.3i als auch Mundraum mit Rachen 9.1a) mit lebsen (102.1), zunge (4.2e; 46.4b; Kap. 98), zen (97.1) und zanfleisch (96.2a/3a; Kap. 102). Als kinprack (158.1) wird der Unterkiefer bezeichnet. Innen im hals (153.1; 154.1) ist die kel (4.2e) mit dem plat (Zäpfchen, Kap. 103). Im oberen Rumpfbereich befindet sich die prust, was weniger den ‚Brustkorb‘ (Thorax) meint als die Lunge (12.3c; 45.2a), manchmal auch das von dieser explizit
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abgegrenzte Brustfell (Pleura, 48.2b/d), manchmal wohl auch beides zusammen. Unter dem Rippenbogen liegt mittig das grüblein (Magengrube, 116.3b), während die rechte seytten (73.18a) mit der Leber assoziiert ist und die lincke seyten (94.6d) mit der Milz. In der Bauchmitte liegt der nabel (132, 6d), wohin sich Beschwerden der permüter (36.7a) bzw. müter (41.3) projizieren, während der Mann über ein gemecht (94.7f; 128.3d) verfügt. Die dorsale Rumpfseite ist der rück (73.19a; 128.5b). Die oberen Extremitäten beginnen proximal mit den achseln (154.2b) oder vchsen (160.1), an die sich der arem (160.1a) anschließt. Nur aus dem Kontext lässt sich erschließen, dass mit achselpein (160.1a) das Schultergelenk bzw. der Oberarmkopf gemeint sein muss. Ansonsten gibt es elenpogen (160.1c), hant (81.6c), dawmen (79.1b) und vinger (8.3c) sowie den pal zwischen dem dawmen vnd den vingeren (Daumenballen, 137.3f). Am Arm finden sich auch drei für den Aderlass wichtige Venen, die Ortolf mit einem Fachausdruck versehen hat – die leberader (Vena basilica auf der Kleinfingerseite, 73.18b), die haubt aderen (Vena cephalica auf der Daumenseite, 79.1b) und die meng ader (Vena mediana in der Ellenbeuge, 73.17b). Das Bein beginnt proximal mit dem diche (Oberschenkel, 130.12b; 138.8), weist knyschewben (73.20a; 130.12b) auf und verengt sich am enckel (Knöchel, 73.20b). Am fuesz (73.20a) sind die mynste zehen und die gröste (73.21b) beschrieben sowie die sülen (Fußsohlen, 83.3). Ortolf benutzt also üblicherweise volkssprachige Begriffe für Körperteile und regionen. Nur in drei Ausnahmefällen nennt er die lateinischen Fachtermini: Uvula . . . das plat (103.1), splen . . . ein milcz (125.1) sowie renes . . . dy lenden (126.1). Dennoch sind die Bezeichnungen (trotz einzelner Unschärfen durch Mehrfachbedeutungen) präzise. Das soll aber nicht darüber hinweg täuschen, dass es durch das Fehlen bzw. Vermeiden von Fachausdrücken auch Körperteile ohne Namen mit bisweilen sogar unbeholfen klingenden Paraphrasen gibt: So wird auf den Kehlkopf mit dem Eingang zu Luft- bzw. Speiseröhre mit dem Eingangssatz Zwey löcher seyn in dem münd (9.1a) abgehoben und auf den Kehldeckel mit der Spezifizierung Daz loch [jn dem münd] hat ein überlit (9.3a). Die Blasenmuskulatur besteht aus czwey ding die sy [d. h. die plosz] zusammen drücken (32.11a). Die Nebennieren werden als daz veiste ob den nyren (38.1b) bezeichnet und der Harnleiter als ader an dem rück (51.3) bzw. aderen dy da geet von dem rück (128.2c). Auch große Gefäße werden nicht mit ihrem gängigen Fachterminus vorgestellt: Über die Pfortader sowie die obere und untere Hohlvene heißt es stattdessen vsz der leber ein grosz ader . . . so teylt sy sich entczwey (32.7). Die Vena saphena ist grundsätzlich die [ader] vnder dem enckel (73.20b) und die Arteria temporalis die aderen an dem slaffe (78.1d). Für andere Lassstellen gibt es allerdings in der Tat entweder keinen verbindlichen Fachbegriff oder sie sind ohnehin nur sehr allgemein angedeutet (aderen in dem rück oberhalben der lenden 73.19b; auf den füeszen pey der mynsten zehen oder pey der grösten 73.21b; aderen mitten an der stiren 83.10; auf der rechten hant 94.6c; an der lincken hant 94.6d; aderen vnter der züngen 97.4, 98.3a). Nicht ganz vergessen werden soll der Wortschatz zu Körperfunktionen, wie zum Beispiel edemen (44.1b), slaffen (4.3a) – sei es ohne oder mit trawmen (78.4f), essen vnd trincken (22.8) bzw. hünger vnd . . . dürste (30.3) oder lüsten (28.7b, auch gelus-
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ten 29.2c; gelust, Appetit in 15.2) und dürsten (78, 2b), swiczen (16.8b), nyesen (132.7), geneczen (Wasser lassen, 43.10b), entzeben (wahrnehmen 22.2b, auch dünckt jn 78.2d). Mit vnkeusch(eit) wird ohne moralische Dimension der Geschlechtsverkehr bezeichnet (87.5), das Adjektiv vnkeüsch (21.4) bedeutet ‚sexuell aktiv‘. Für die Menstruation gibt es die Bezeichnungen ir [d. h. der Frau] rechtes (ires rechten 73.20a; 131.1), frawensucht (132.2a) oder ir sucht (132.4). Eine zentrale Rolle spielt dewen (15.1a) bzw. gedewen (28.6a) und regelmäßiges zu stul gen (22.6/7a; 43.10b; 79.6c). Dabei muss der Transport von Stoffen im Körper funktionieren (in 15.3 als gan/geen bezeichnet); Kapitel 32 ist besonders reich an aktiven Verben, die den Verdauungsprozess zwischen Magen, Darm, Leber, Körperperipherie und Nieren schildern (drückt 32.3a, zeucht an sich 32.6, nert sich davon 32.2/6, sendet 32.9a, seigen 32.10b usw.).
3 Krankheitsauslöser Die mittelalterliche Medizin hat nicht nur den kranken, sondern auch den gesunden Menschen im Blick und setzt damit die antike Tradition der vorbeugend ausgerichteten Diätetik fort. Auch bei Ortolf spielt der gesunt (1.2b; 12.3a) bzw. die gesuntheit (14.1) im ersten Teil des Arzneibuchs eine gewisse Rolle; auch als Adjektiv kommt gesund vor (5.1b; 12.1b). Das Wort gesuntheit wird sogar gelegentlich im Sinne eines präventiven Effekts zur Erhaltung der Gesundheit verwendet (z. B. 16.1a: an aderlaszen ligt grosz gesuntheit). Diese Stärkung des Körpers durch gezielte Nutzung zuträglicher Dinge und Maßnahmen ist auch nötig, denn das Spektrum möglicher negativer Einflüsse ist groß und Ortolf wird nicht müde, es systematisch darzustellen. Zunächst einmal gibt es idiopathische (autochthone, essentielle) Leiden, für die man keine Ursache identifizieren kann (siech von seiner eygen krangheit 77.1a, von jm selber siech 77.2a). Endogene Krankheiten können jedoch auch durch Fernwirkung von anderen gelideren ausgelöst werden, z. B. Beschwerden im Kopf durch das Hirn, aber auch vom Magen (77.1b/c) oder Epilepsie durch Gehirn, Magen und Blase (86.4). Überragend im humoralpathologischen Konzept ist jedoch der Einfluss der Säfte, wobei nur die Auslösung von vberflüssigem plut (77.4b) explizit genannt ist. Die drei anderen humores sind (merkwürdigerweise) durch ihre Primärqualitäten repräsentiert: Der Schleim ist mit vberflüssiger kelten vnd von feuchtigkeit (77.4c) gemeint, die Gelbe Galle mit hicz vnd von dürre (77.4d) und die Schwarze Galle mit kelten vnd von dürre (78.4a; 90.6a). Auch allein von vberiger hicz (82.1c) können Beschwerden resultieren. Außer zu einer Gleichgewichtsstörung, bei der einer dieser Säfte die Oberhand gewinnt, kann es nach diesem Modell auch zur Bildung pathologischer Substanzen kommen (von pöszem plut 79.4a; für lat. materia peccans: pösz materig 117.3f). Ein Schlüsselbegriff in diesem Zusammenhang ist das schillernde und vieldeutige Wort natur, das nicht für die Welt, die Beschaffenheit der Dinge und ihre Gesetzmäßigkeiten steht, sondern für Temperament und Charak-
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ter des Menschen (5.1b), für Konstitution und Krankheitsneigung (1.3c; 5.1b), manchmal auch nur für Primärqualität(en) (3.4a; 5.1a; 36.2b/3b/4), darüber hinaus aber auch speziell für Vorgänge und deren Steuerung im Körper (32.12), für natürliche Neigung, Kraft und Antrieb (35.4b) sowie für die ‚Lebenskraft‘ (28.2b). Aus allen diesen Faktoren zusammengenommen resultieren die Krankheiten von jnwendiger sach des menschen (77.4a). Äußere Einwirkungen (von auszwendig des leibs 77.3a) gibt es in noch größerer Zahl. Neben Verletzungen (slege 8.2 bzw. slahen 7.3b, vellen 8.2 bzw. vallen 77.3b, hawen 89.3a usw.) spielen giftige Dämpfe (Miasmata) eine große Rolle (gestanck vnd . . . poszer smack 12.3a, poszer lufft 14.3b, von vngesundem luft 90.2e, vnreyner pradem, der von den menschen gat 18.3c, pradem, der darjnn bliben ist 82.1d). Ein solches Miasma kann z. B. durch ein vnreynes angesicht oder faul wunten (18.3b) ausgesandt werden. Ansonsten ist gift (124.2e; Kap. 139) – wie in der Alten Medizin üblich – eine omnipräsente Erklärung für Erkrankungen; eine Sonderrolle spielen giftige tyre (140.1b) und dabei noch einmal die Tollwut, auf die indirekt z. B. ein tobender hunt (140.1a), ein vnsiniges tier (90.2d) oder ein tobendes thir (124.2f) verweisen. Ebenso häufig wird eine Erkrankung auf einen Diätfehler zurückgeführt: Entweder wurde zu viel gegessen (von vberigem essen und trincken 28.3b; 88.7a) oder Speise und Trank waren schlecht zubereitet (versalczner speysz 21.3a, pitter kost 21.3b) bzw. verdorben und ‚giftig‘ (vnrein vnd pösze kost 17.1b, vnrein kost 21.3a, von pöszem essen 90.2b). Ersteres führt zu vberiger fülle desz magen (113.2b), letzteres eher zu vil sleyms in dem magen (17.1c). In den diätetischen Bereich gehören jedoch auch mangelnde Bewegung (von vbriger eytelkeit des leibs 113.2a/3a), ungeordnetes Sexualleben (von vnkeusch 89.2d) und übertriebene Affekte (von zoren 89.2b, 90.2f; von vberiger trawrigkeit 90.2g).
4 Beschwerden und Zeichen Wie im Mittelhochdeutschen üblich, benutzt Ortolf für ‚Krankheit‘ das Wort sucht bzw. siechtag (22.1); das zugehörige Adjektiv ist siech (1.2b; 4.1a). Selten hat sucht eine prägnante Sonderbedeutung, entweder als ‚Aussatz‘ (18.2a) oder als „Monatsblutung (43.11a), und nur vereinzelt wird vngesunt i. S. v. ‚krank‘ verwendet (21.2), sonst meint es ‚unzuträglich‘. Das Wort kranckheit steht manchmal für allgemeine Beschwerden (22.2b), meistens ist es mit ‚Schwäche‘ korrekter übersetzt (25.4), sei es die körperliche Schwäche des Patienten oder die Schwäche (das Versagen, die Insuffizienz) eines Organs oder einer Körperfunktion. Das Gleiche gilt für das Adjektiv kranck mit dem Komparativ krencker (16.3d; 22.3c), wobei an der einen oder anderen Stelle der Übergang zu siech fließend sein mag. Ein erster Hinweis ist die Konstitution: Während ein Gesunder wol pey leib (83.10) ist und ein feistes Gesicht den Typus des Phlegmatikers auszeichnet (5.4c), stellen feis-
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tigkeit bzw. veiste (Fettleibigkeit, 21.5; 89.7a) sowie an dem leib swer Risikofaktoren dar (6.4b/5a). Mager (6.2b/3a; 16.3b; 21.5), erst recht mager vnd kranck (89.8a), sowie die Verbindung mit pleich (6.2c; 78.3c) sind ausgesprochen negativ konnotiert: Eine verswentnüsz alles des leibes (53.2) bzw. eine verswindung vnd ein abnemüng (38.2a), also die dürre (6.3b) bzw. eine swintsucht (109.1), ist immer ein Warnsignal für eine chronische, „konsumierende“ Erkrankung. Unter den Beschwerde-Ensembles, auf die Ortolf besonders großen Wert legt, figuriert die Plethora (von überigem plut siech 4.1a) an erster Stelle (vgl. Riha 1993) – der traditionelle Fachbegriff fehlt. Wieder und wieder werden die rote varb (6.2a) des Gesichts, der rote, dicke und trübe Harn (4.1b) und der Stirnkopfschmerz (voren an der stiren desz hauwbts . . . we 4.1d) angeführt. Es gibt noch weitere Zeichen: Es sind die gelider swer (16.2b) bzw. daz haubt ist swere (78.1c), die stiren ist heysz (78.1b) vnd die aderen an dem slaffe ist im grösz (78.1d). Subjektiv im Vordergrund stehen beim Patienten Schmerzen (hinden in dem haubt wee 78.3b; an der lincken seyten des kopfs wee 78.4b; in dem leib vnd in dem magen we 17.2d), deren Lokalisation von Ortolf oft mit einer zugrunde liegenden Krankheit in Verbindung gebracht wird, insbesondere ist der wetag in der rechten seyten (39.4c; 43.6; 49.4; 50.1) das Zeichen eines Leberleidens, während wee . . . jn der lincken seyten ein Milzleiden (42.1b) oder eine Lungenkrankheit (43.5c) anzeigt. Wenn es dem Kranken vnter dem nabel wee ist, bedeutet es eine kranckheit desz gedermsz (43.7) oder einen siechtag der plöszen (49.3b). Bisweilen handelt es sich allerdings nicht (nur) konkret um Schmerzen, sondern eher um allgemeine Beschwerden (z. B. augen we 18.2f). Besonderes Augenmerk richtet Ortolf auf die Verdauungsvorgänge, was damit zusammenhängt, dass seine wichtigsten Arzneien Brech- und Abführmittel sind: Wenn jemand jn dem leib hert ist (45.4; 81.3a), gibt es ein großes Angebot an Medikamenten. Die mildeste Störung ist die Appetitlosigkeit (vngelust bzw. nicht lusten 17.2a), gefolgt von Übelkeit und Brechreiz (wullen 17.2b); auch das Schwangerschaftserbrechen (Hyperemesis gravidarum) ist Ortolf bekannt (19.2c), es wird aber terminologisch nicht von vngelust abgegrenzt. Das Erbrechen wird als wider geben (17.3) oder verlassen (23.2a) bzw. verleusen (142.2c) bezeichnet, wobei letzteres sowohl für Vomitus (verliesen 17.2c) als auch für Diarrhoe (20.2) stehen kann. Das Gleiche gilt für vndewen (Stuhlgang und/oder Durchfall haben 20.2, Erbrechen 25.5a); erfahrungsgemäß tritt beides ja nicht selten gleichzeitig auf. Ergänzt werden muss die Variante vndewent werden (27.5b), was am ehesten mit ‚Stuhldrang empfinden‘ zu übersetzen ist. Die rür ist der normale Stuhlgang (22.6; 28.3b), manchmal auch Durchfall (43.3a) und gelegentlich die Wirkung eines zu starken Abführmittels (27.3). In den beiden letzten Fällen ist der Patient weich in dem leib (19.3c: Effekt von Abführmitteln; 20.4: Durchfall). An begleitenden Beschwerden treten grimmen jn dem leib (24.4) und pöszer wint jn dem leib (48.1f) auf. Was mit einer brechung der gederem (49.1d), die (nur?) durch schaumigen Harn angezeigt wird, genau gemeint sein könnte, muss offen bleiben. Während geswulst für die eng beieinander liegenden Befunde ‚Geschwulst‘ und ‚Schwellung‘ (43.10b; 44.3d) steht, umfasst geswer die unterschiedlichen Phänomene
88 | Ortrun Riha Schwellung bzw. Geschwulst für lat. tumor (43.10a; 44.3d) und Geschwür für lat. ulcus (44.5b) und entspricht damit dem Bedeutungsumfang des griechischen Fachterminus apostema. Ein geswer in dem haubt (82.1b) ist somit nicht eindeutig zu übersetzen, aber auch die swerenden augen (155.3; 156.1a) erlauben keine exakte Interpretation. Belegt sind auch die Partizipien verswollen (118.9b) und geswollen (5.2b; 165.1a), wobei Letzteres wiederum Zeichen eines geswer sein kann (118.3b). Eine besondere Art von Geschwür (Ulcus cruris) ist der wolf an den pein (18.2c; 163.1a), der zu den faul wünten (18.2d) bzw. zum fawl fleisch (156.3f) gehört. Aber auch im Körperinneren gibt es faulüng (6.7), wenn z. B. der ödem stincket (6.7). Das Verb fawlen ist nicht nur intransitiv (36.10a), sondern kann auch im Sinn von ‚verfaulen lassen‘ benutzt werden (43.5b). Hautveränderungen – z. B. als schuppen (75.1d), pfinnen (137.3e) und platteren (15.3) – spielen an verschiedenen Stellen eine Rolle: Man kann serigk an dem haubt (75.1a/2a) sein bzw. ein pösz haubt vnd grindig (75.3a) haben oder auszgeprosten (136.6) und vnter den augen vbel gestalt (95.9i) sein. Vermutlich synonym zu auszprechung wird rewden (95.9k) verwendet, am defensivsten wohl mit ‚Ausschlag‘ zu übersetzen. Eiterbildung (eyteren 141.4c) und vistelen (163.1a) sind ebenfalls erwähnt; zu den Wucherungen gehören lieddörner (156.3f) und fleisch in der kelen (Kap. 104). Dass mit vnmechtig werden (27.4a) und amechtigkeit (43.8) die Ohnmacht gemeint ist, bereitet keine Übersetzungsprobleme, dagegen ist sein synn verliesen (40.8; 45.5b; 47.10) doppeldeutig, denn es könnte sich um den Verlust des Bewusstseins ebenso wie des Verstandes handeln; wer vnsanfft slefft vnd seyner synn nicht enhat (44.1c) ist eben ‚nicht bei Sinnen‘. Vnsinig bedeutet sowohl ‚wahnsinnig‘ (18.2g) als auch ‚verwirrt‘ (82.1a). Eine weitere Bewusstseinstrübung bezeichnen slae f (6.5b: Schläfrigkeit, nicht ‚Schlaf‘) und slaffende sucht (83.9b; Kap. 84). Weitere Krankheitszeichen sind Auswurf (würffet vast ausz 106.9a), (sere) husten (18.2b), Atemnot (den adem draette vnd vnsanfft zeühet 44.1c; czeuhet seinen adem vnsanfft 106.12c), krampf (27.1), Schluckauf (hesch 26.1), Inkontinenz (des harnes nicht behalten mügen 35.2d; 42.5), Lähmungen (an eyner seyten tot vnd lam 88.4b), das nicht eindeutig zu klärende vel in den augen (155.1) und der ebenfalls unbestimmte pösze flüsz (163.1a), der sich als flusz desz haubtes (43.5b; 48.2b) konkretisieren kann, aber es gibt auch andere flüsze (79.3). Das pluten ausz der naszen (41.5d) kann dagegen ein Zeichen des Besserung sein und ersticken (15.4c) wird im Zusammenhang mit dem Herzen verwendet. Ein – nicht nur bei Ortolf – unlösbares Problem sind viele der genannten Harnfarben (vgl. Zaun/Geisler 2011). Wenn z. B. der Urin rot ist, ist das ein Zeichen des Übermaßes an Blut und der Überhitzung (4.1b); der Befund ist nicht identisch mit Blut im Harn (Kap. 128). Goltvarr ist die physiologische Harnfarbe des Sanguinikers (5.2c) und des Jugendlichen (37.2), wobei die nähere Bestimmung rot als ein golt (46.1) nicht viel weiterhilft, ebenso wenig wie der Vergleich citrina . . . als ein margramapfelschal (45.1). Weysz ist ein Zeichen von Kälte (4.3b) und im Alter normal (37.3). Auch die anderen Harnqualitäten machen Interpretationsprobleme: Dick ist die der ‚Feuchtigkeit‘ zugeordnete Harnqualität (4.1b/3b; zusammenfassend 36.2–5), dünn gehört dagegen
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zur ‚Trockenheit‘ (4.2b/4b) – wir würden genau umgekehrt sagen, dass durch erhöhte Flüssigkeit der Urin verdünnt und bei Austrocknung konzentriert wird. Eine Übersetzung ohne Anführungszeichen würde hier sicher Irritationen bei mitdenkenden Lesern auslösen.
5 Krankheiten Es ist nicht ganz einfach, in der Alten – und damit auch in der mittelalterlichen Medizin –zwischen Beschwerden, Krankheitszeichen, Symptomen und Diagnosen zu unterscheiden; so betrachten wir heute z. B. wassersucht (42.2; 44.5c) und gelsucht (49.2) als Symptom, nicht als Krankheit. Erst recht lassen sich „unsere“ Krankheiten nur selten und selbst dann bloß unter Vorbehalt identifizieren, was auch nicht erstaunlich ist, denn schließlich benutzen wir nicht mehr das Modell der Säftelehre. Die medizintheoretische Diskussion um retrospektive Diagnosen wurde in letzter Zeit intensiv geführt und soll hier nicht wiederholt werden (vgl. Leven 1998, Graumann 2000, Radestock 2015). Im Folgenden werden diejenigen Begriffe genannt, die Ortolf, seiner Quelle folgend, tendenziell eher als Krankheit denn als Krankheitszeichen verstanden zu haben scheint; viele davon lassen sich nicht sicher oder nicht eindeutig übersetzen. Auf die Verletzungen gehe ich hier nicht ein (z. B. geprochen pein 164.1). Nicht alle Krankheiten haben einen eigenen Namen bekommen, sondern viele figurieren als Versagen oder Schwächung des betroffenen Organs (siechtag der lenden 42.4; siechtag der lenden oder der plöszen 49.3a, 50.4; krankheit der lüngen 43.5a; sucht der prust 45.2a; krankheit der prust 49.1b). Unter den deutschen Namen findet sich der vallend wee (6.5c; 18.2e; 42.3; Kap. 86; ‚Fallsucht‘, Anfallsleiden, Epilepsie); auch würem (43.8; 97.6a; 100.1d) und veigplatteren (Hämorrhoiden, Kap. 121) sind hier zu erwähnen, ebenso der stein (35.4a; 44.2), der jn der plöszen oder in den lenden (52.1) auftreten kann und oft mit harenwinden (127.13a, schmerzhaftes Wasserlassen, Strangurie) verbunden ist. Mit ritten (29.1a; 36.10b) ist vermutlich ‚Fieber‘ gemeint, ohne dass es unseren Fieberbegriff i. S. v. erhöhter Körpertemperatur schon gegeben hätte (vgl. Hess 1993); ritige hicz (38.1c) und riten als Beispiel für ein vnnatürlich hicze (39.4d) gibt es zusätzlich. Der vierteglich ritten (41.4b) wird konventionellerweise als Malaria quartana interpretiert, der ritten . . . an dem dritten tag (43.2a) als Malaria tertiana, wie Ortolf überhaupt verschiedene Arten von ‚Wechselfiebern‘ kennt (ritten, der alle tag angeet oder an dem dritten oder an dem virden 125.2c). Das Wort gegicht (73.21a) wird zwar mit Lähmungen (paralisis, Kap. 89) in Verbindung gebracht, wahrscheinlich fallen jedoch auch allgemein ‚Schwäche‘ sowie ‚Gliederschmerzen‘ darunter und eventuell auch die heute als ‚Gicht‘ bezeichnete Stoffwechselkrankheit, die mit Gelenkschmerzen und Nierensteinen verbunden sein kann. Mehrere Bedeutungen hat auch dürre und bedeutet optional Trockenheit (z. B. 53.2; so-
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wohl durch Wassermangel als auch aufgrund einer Dominanz der abstrakte Primärqualität), ‚Schwindsucht‘ als konsumierende Erkrankung (abnemung, verswindung, siehe oben) und die chronische Lungenkrankheit Phthisis, die ebenfalls als ein derre oder ein swintsucht (109.1) charakterisiert ist – das kann gelegentlich, muss aber keineswegs die Tuberkulose sein. Folgende Krankheitsnamen und sonstige Termini lateinisch-griechischer Provenienz hat Ortolf übersetzt: Apoplexia . . . der gehe tod (88.1), Paralisis . . . ein gegicht (89.1), Mania . . . ein vnsinigkeit (90.1), Catarrus . . . der flusz des haubtes (93.1), Sangwis a naribus fluens . . . daz die naszen plut (94.1), Fetor oris . . . ein stinckender mündt (96.1), Skrofule . . . dy drüsz (99.1), Tvssis . . . ein hüst (106.1), Phtjsis . . . ein derre oder ein swintsucht (109.1), Bolismus . . . der geycz (111.1), Singultus . . . ein hesch (113.1), Djssenteria . . . das plut mit der rüre (116.1), Lvmbrici . . . spulwürem (119.1), Emoroida . . . ein veigplater (121.1), Jctericia . . . dy gelsucht (124.1), Lapis . . . der stein (127.1), Idropisis . . . ein wassersucht (135.1), Scabies . . . ein rewdigkeit vnd ein auszprechung des leibs (136.1), Lepra . . . dy auszeczigkeit (137.1), Toxicacio . . . ein vergifft (139.1). Bisweilen war eine Paraphrase vonnöten: Polipus . . . jm wechset fleisch in den naslocheren (95.1/3b), Fastidium . . . daz den menschen nit zu essen gelustet (112.1), Colerica ist ein sucht, daz man so sere vndewet vnd zu stul geet, daz man wenet es wöll daz gederem ausz im varen (115.1), Diarria . . . dy rure, vnd ist nit plutes dapey vnd dy kost ist gedewet (117.1), Tenasmon jst ein sucht, daz eynen menschen gelust zu stul gen vnd mag doch nicht von im kummen (120.1, vgl. schon 25.1a ohne griechischen Begriff), Exitus ani . . . so den lewten der maszdarem zu dem leib auszgeet (122.1), Sangwis cum vrina exiens . . . wenn ein mensch plut harnet (128.1), Concepcionis impedimentum . . . daz ein fraw nit kint treyt (134.1). Manche Übersetzungen sind nicht gelungen: Apostema ist nicht nur ein geswer desz magen 114.1), Dolor dencium ist mit siechtag der zen (97.1) sehr unkonkret, ebenso Colica als sucht jn dem vnderen darem (44.3b, 118.1), Squinancia . . . ein geswer . . . etwen in der kelen, etwen auszen an (105.1–2) oder Cardiaca . . . ein krangheit desz herczens vnd ein zitterung (110.1). Emoptoica ist konkret das Bluthusten, nicht jede Situation, daz . . . plut ausz dem münde get (107.1). Zumindest missverständlich sind Passio matricis . . . ein sucht der muter vnd der frawen vnd sy wirt vber czwölf jar vnd wert zu virczig iaren oder zu funftzigen (130.1a/b), Suffocacio matricis . . . dy hebmuter (132.1a) und Precipitacio matricis . . . daz dy muter von eyner stat zu der anderen vert (133.1a) – Frauenheilkunde war offenbar nicht Ortolfs Stärke. Dazu gibt es auch echte Fehler: Scotomia . . . jm swindelt (92.1), Empima . . . dy da eyter auszrechsent (108.1) und insbesondere Diabetes . . . die den haren nicht behaben mügen (129.1). Bemerkenswert, aber nicht leicht zu interpretieren ist im Hinblick auf Ortolfs Fachwortschatz das Fehlen gängiger Fachbegriffe: Er vermeidet so geläufige Ausdrücke wie Epilepsie, Melancholie, Tollwut (Rabies, Lyssa) und Hysterie (statt dessen fälschlich suffocacio matricis). Er spricht nirgends von Krebs (cancer) und ihm fällt auch das treffende Wort für ‚Nachgeburt‘ nicht ein: Statt wie andere medizinische Au-
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toren z. B. von secundina, büschel oder afterburt zu sprechen, sagt er gepurt dy nach den kinden sal komen (134.13a).
6 Behandlung Es ist sympathisch, dass Ortolf bei schwierigen Herausforderungen nicht aufgibt, sondern auch bei unheilbaren Leiden wenigstens symptomatische Maßnahmen ergreift. Also sal man im helfen bzw. Also hilff in o.ä. sind Überschriften oder Einleitungssätze in jedem zweiten Kapitel des nosologischen Teils. Für ‚behandeln‘ benutzt Ortolf ferner erczneien (19.3c), das auch ‚Arzneimittel verabreichen‘ heißen kann (Variante: erczeney . . . thun 79.2, 81.4a). Seltener kommen püssen (87.Überschrift) und verthün ([Blut] stillen, 94.2b; 99.6) vor. Ercznei ist gleichzeitig die Heilkunst (1.1b/2a) und das Medikament (1.1b; 22.2a), meistens als Abführ- oder Brechmittel, aber sonstige Behandlungsformen sowie ganz allgemein die Abhilfe gegen Beschwerden sind eingeschlossen. Ziel ist das bekern (30.1a) des Patienten bzw. die bekerung (39.6a; 79.2). An Therapieformen präsentiert Ortolf das ganze Spektrum der mittelalterlichen Optionen, oft diätetisch beginnend mit spezieller, leichter speysz (13.2a) bzw. kost (13.4a) (Variante: gib im zu essen, gib im zu trincken). Einem Temperaturausgleich von außen dienen paden (Wasserbad, 13.3a; 22.10a) und strewen (22, 9a) von kühlenden Unterlagen. Im Sinne der evacuatio sind sweyszpad (85.5b) sowie nyesen machen (85.2) zu verstehen, aber die wichtigste Rolle spielt der Aderlass (aderlaszen 16.1a; lassen 19.3b; zu der aderen lassen 22.8); den Ausdruck des ‚Aderschlagens‘ verwendet Ortolf ebenfalls (slecht oder lesset 103.7) und natürlich schröpft er auch (horner seczen 130.12b, 131.2c; secze ir köpff 132.5c; schrapf 126.10b). Darüber hinaus sind ihm prende (89.9), das Kauterisieren, nicht unbekannt. Wenn ein Medikament verabreicht werden soll, benutzt Ortolf meistens das Verb geben (22.7a), überwiegend im Imperativ (gib 79.5g; auch: gib es jm zu nüczen 80.4f). Die flüssige Arznei ist ein (ge)tranck, manchmal als Abführtrank (19, 3c) oder Brechmittel (17, 3) zu konkretisieren. (Ge)tranck kann jedoch auch allgemein für ‚Getränk, Trunk‘ (21.3a) bzw. die eingenommenen Getränke (31.3b), einen kräftigen Schluck von etwas (22.7b) sowie für die zugeführte Flüssigkeit, die bei Leberversagen zu Anasarka wird (135.1c), stehen. Weitere häufige Zubereitungsformen sind Latwergen (lectuarien 25.4), Sirupe (siropel, syropel 79.5a), pillen (80.3a) bzw. pillullae (24.1a) und korenlein (93.11e). Nicht alle Zubereitungen darf man allerdings verschlucken, daher gibt es Gurgel- (gorgeln 103.5b/6e, lasz es in dem münde vmb lauffen 98.1d) und Lutschmittel zum in den münt legen (103.9a) oder in dem münde haben (93.9), die der Patient wieder ausspucken muss (vnd spey es wider ausz 103.6f): Vnd hüte dich, daz du es icht in dich trinckest. (98.1e)! Abführmaßnahmen werden als weichen (85.3b), reynigen (116.5a) und purgieren (purgir in 96.8b) bezeichnet. Ein Einlauf sowie die Klistierspritze ist ein clister (83.4a’/4g), das „eingegossen“ wird (gewsz 83.4g), ansonsten
92 | Ortrun Riha werden zepflein (83, 5e) eingeschoben (schewb 83.5f) oder eingedrückt (drück 118.8). Ausnahmsweise wird auf diese Weise bei Amenorrhoe auch ein Kräutertampon appliziert, der vielleicht als Abtreibungsmittel zu verstehen ist (secklin . . . in ir scham drücken 130.14d/f). Äußerlich angewandt werden salben (76.2a) und Öle (z. B. loröl, camillenöl 93.5c), verbunden mit den Verben salben (75.2h; 76.2a), streichen (7.2), bestreichen (81.1c), smirben (105.7b) bzw. smiren (106.7a). Dazu kommen Einreibungen mit Salz und Essig (reib 83.3), das Aufstreuen (strewen 162.2) von puluer (79.6a), das Auflegen (legen 24.4) von Umschlägen (pflaster 20.4, 81.1a) und medizinische Bäder (pad, paden 79.3; in ein pad seczen 25,1b), in die auch Säckchen mit lindernden Stoffen eingelegt werden können (lasz den siechen . . . darauf siczen 25.1c). Auch Waschungen (czwahen 75.1c; 76.1g bzw. twahen 20.1c; weschen 75.3b bzw. waschen 85.6) mit frisch zubereiteten Lotionen (laugen 80.2a) kommen zum Einsatz. Eine weitere Maßnahme ist das rauch entpfahen (93.10) durch verschiedene Körperöffnungen, meistens von unten (lasz den siechen darvber siczen, daz im der rauch vnden zu gee 122.6a, 131.3e). Was schließlich noch den chirurgischen Wortschatz angeht, so ist von sneyden (99.5b) bzw. absneyden (95.8), neen (148.1) und verstricken (verstricke sy mit dem vadem 153.1) die Rede, außerdem von ausz prechen (97.7), inzidieren (stich . . . darein 99.3d) und verätzen (ecze es ausz 99.3e). Wenn der Meister ein rein tüchlein darein pflocken (141.6a) soll, dient das oft zum Offenhalten der Wunde. An speziellen Substantiven seien nur süchel (Sonde, 151.2a) und meysel (151.5b), eine Wieke aus Enzianwurzel (auch 95.6; 163.2) zum Erweitern des Wundkanals, genannt.Allgemeine Einführung in das Mittelhochdeutsche und die verschiedenen Sprachstadien des Deutschen Ortolf hat zahlreiche Rezepte in sein Arzneibuch eingestreut, eingeleitet meistens mit mach jm (80.2a). Was aber seine Drogenkunde angeht, so kann die Diskussion um Möglichkeiten und Grenzen der Interpretation historischer Bezeichnungen hier nicht geführt werden (vgl. z. B. Schnell 2003). Die Eindeutigkeit der modernen chemischen und botanischen Nomenklaturen ist jedenfalls nicht zu erwarten: Mit Glück kann man die Pflanzengattung erkennen (z. B. Wegerich), die Arten lassen sich nicht spezifizieren. Wie mittelalterliche Fachbegriffe aus der damaligen Materia medica zu deuten sind, dazu gibt es neben bewährten Handbüchern (z. B. Marzell 1943–1979) eine Reihe fundierter Untersuchungen (vgl. z. B. Rohland 1982, Müller 1997), die teilweise einen eindrucksvollen Umfang annehmen (vgl. Mildenberger 1997) und manchmal sehr optimistisch hinsichtlich der Eindeutigkeit der Termini sind (vgl. Richter 2004). Für eine vorsichtige Interpretation von Ortolfs Drogennamen sei auf meine kürzlich vorgelegte Übersicht (Riha 2014: 95–159) sowie auf den Stellenkommentar und das Glossar zur Neuausgabe (Ortolf 2014) verwiesen. In unserem Zusammenhang sei nur erwähnt, dass bei Ortolf zahlreiche deutsche Bezeichnungen vorkommen (z. B. kümmel, pappelen, gerstenwasser, weinstein, quecksilber, weirauch, wermut, ywisch, leinsamen, jngwer, zwifel, haüszwürcz, frawenmilch, enczian, cleie, lorber, essig, salcz, honig, pawmöl, sweynesmalcz, pilsensamen, saluay, wachalterper). Manchmal hat Ortolf auch Fachbegriffe eingedeutscht und in einigen
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Fällen eine gewisse Verballhornung in Kauf genommen (z. B. margram (opfel), tragant, mastig, kardelmünen, carioffel, opperment, zimin, camillen, galgan, laccericze). Systematisch ist er bei der Übersetzung nicht vorgegangen, denn wie es Fälle gibt, in denen er ausschließlich den lateinischen Namen verwendet (z. B. cassia fistula, rewbarbarus, capillus veneris), gibt es auch ein Wechseln zwischen deutschen und lateinischen Drogennamen (z. B. pibergail – castoreum, rauten – ruta, zucker – zuccarum, camillenöl – oleum camille, weirauch – olibanum, negelein – carioffel, tost – origanum, kriechisch hew – fenum grecum). Ab und zu lassen uneindeutige Bezeichnungen den Leser im Unklaren (deß craütes daz da heyszt sangwinaria oder bursa pastoris 94.4; dy heydenischen wuntchrawt peyde mit den gelben plümen 149.1a). Die Fertigarzneimittel, die aus der Apotheke besorgt werden müssen, werden grundsätzlich mit dem Fachterminus bezeichnet (z. B. siropus violaceus 24.2b, oximel diureticum 24.2c, zuckarum rosaceum 24.3a, diarrodon abbatis 25.4, rosata novella 25.5c, dyacyminum 26.2f, dyacitoniton 27.3., diatragantum 81.7b, diamargariton 25.4, pliris 81.7a, diantos 81.7a, pillulae arabice 81.3b), darunter auch das Wundermittel gegen jede Art von „Gift“, der Theriak (tyriaca). Für einige mit einem Namen versehene Arzneimittel wird auch ein eigenes Rezept geliefert, so für die Eibischsalbe dyaltea (25.2g), die Pappelsalbe populion (79.1d; Kap. 167), das rot puluer (Kap. 145) und apostolicum (Kap. 146). Von den Arzneien abgesehen sind Fremdwörter bei Ortolf insgesamt selten. Außer den bereits erwähnten, wie pillulae, lectuarien und purgirn, gibt es noch temperiren (gleichmäßig vermischen, 3.2a) oder tempern (107.10c), getemperirt (gleichmäßig zusammengemischt, 22.2b; ausgeglichen 35.5) sowie das Substantiv temperirung (gleichmäßige Mischung).
7 Schlussfolgerungen für ein fachsprachliches Lexikon Am Beispiel von Einzelbefunden sowie bei den Krankheits- und Drogennamen wurde schon darauf hingewiesen, dass eindeutige Übersetzungen nur eingeschränkt möglich sind. Diesbezügliche Deutungen müssen also unter Vorbehalt und kontextbezogen geschehen und bedürfen dazu eines Kommentars; wie das Beispiel des achselpein zeigte, gilt das auch für vermeintlich einfache Vokabeln. Während die überschaubaren Fremdwörter und Entlehnungen aus dem Lateinischen (und Griechischen) relativ selten und meistens recht gut zu übersetzen sind, dominieren volkssprachige Ausdrücke, die lediglich im medizinischen Kontext mit speziellen Bedeutungen aufgeladen werden. Die häufige Polysemie erfordert demzufolge grundsätzlich eine Angabe der Belegstelle, was wir schon bei so banalen Verben wie verlieren bzw. verlassen als Stuhlgang und/oder Erbrechen festgestellt haben. Ein weiteres Beispiel wäre das Wort frucht, das Geschöpf (2.1b; 3.1a), Obst und Feldfrüchte (2.1b), aber auch Nachkommen (7.5) bedeuten kann; als Leibesfrucht (Fötus) ist es bei Ortolf nicht belegt,
94 | Ortrun Riha da dieser in solchen Fällen von kint spricht (19.1a). ‚Luft‘ ist – wie auch Feuer, Wasser und Erde – ein Element (2.1a) und gleichzeitig der menschliche Atem (ödem 9.1c). Die Luft, die man einatmet, ist oft konkret im Sinn der Umwelteinflüsse (entsprechend dem lat. aer) (12.3a) zu interpretieren, denn pösze luft (vnreiner pradem) zählt zu den Krankheitsauslösern. Mit heisz und kalt ist ab und zu die (Außen)Temperatur (2.2a; 3.1a/b) gemeint, manchmal gleichzeitig die jeweilige Primärqualität (2.2a), meistens aber nur die Primärqualität (3.3 und Krankheitslehre). Die Gleichzeitigkeit mehrere Bedeutungsnuancen, der im Neuhochdeutschen in der Regel kein Äquivalent gegenüber steht, dürfte ein charakteristisches Übersetzungsproblem darstellen. Die beiden letzten Beispiele zeigen, dass damit zu rechnen ist, dass die künftigen Lexikoneinträge auch konzeptionelle Informationen liefern müssen, die die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Bedeutungsnuancen erläutern: Hitz kann die lebensnotwendige Wärme (7.3) sein, aber ebenso ein Krankheitszeichen (28.5a; 30.5b), wie grösz vnreine hicz (38.2b), albeg starcke hicz (82.2d) und pösze hicze vnd prinnet an allem seinen leib (53.2). Feuchtigkeit bzw. feuchte bedeutet überwiegend die Primärqualität (3.3, 6.6b), manchmal gleichzeitig auch den ‚Wassergehalt‘ (2.4a) oder gar Überwässerung (feuchtigkeit vnd . . . nesz 2.2b), kann die dem Körper zugeführte Flüssigkeit (35.2b) meinen sowie im Anschluss die von der Leber verteilte nötige Ernährung des Körpers (7.4), ist ferner ein Charakteristikum des Lebendigen (3.5; 36.10a, vgl. auch feüchte der natür 28.5b) und schließlich noch eine hervorstechende Eigenschaft des Blutes (6.6a). Insgesamt ist zu erwarten, dass bei einer für ein fachsprachliches Lexikon unabdingbaren Zusammenführung aller bereits erschlossenen mittelhochdeutschen Texte viel interdisziplinäre Kooperation gefragt sein wird, um die Kompetenzen zu bündeln. Viele Fragen werden offen bleiben und Raum für Spekulationen lassen, so dass zwecks Nachvollziehbarkeit große Transparenz hinsichtlich der jeweiligen Textgrundlage zu fordern ist. Die Möglichkeiten der elektronischen Datenverarbeitung – z. B. eine Verlinkung mit Online-Ausgaben – bieten sich hierfür idealerweise an.
Quellen Aegidii Corboliensis carmina medica. Ludwig Choulant (Hrsg.) (1826). Leipzig. Goltz, Dietlinde (1976): Mittelalterliche Pharmazie und Medizin. Dargestellt an Geschichte und Inhalt des Antidotarium Nicolai. Mit einem Nachdruck der Druckfassung von 1471. (Veröffentlichungen der Internationalen Gesellschaft für Geschichte der Pharmazie e.V., N.F. 44). Stuttgart. Hartlieb, Johannes: Kräuterbuch. Gerold Hayer, Bernhard Schnell (Hrsg.) (2010). (Wissensliteratur im Mittelalter 47). Wiesbaden. Macer Floridus: De viribus herbarum [. . . ]. Ludwig Choulant (Hrsg.) (1832). Leipzig. Der deutsche ‚Macer‘. Vulgatfassung. Mit einem Abdruck des Macer Floridus ‚De viribus herbarum‘. Bernhard Schnell, William Crossgrove (Hrsg.) (2003). (Texte und Textgeschichte 50). Tübingen.
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Medizinische Fachtermini im Arzneibuch von Cgm 415 der Bayerischen Staatsbibliothek in München 1 Einleitung Seit Beginn des neuen Millenniums hat Cgm 415, ein medizinisch-diätetischer Papierkodex der Bayerischen Staatsbibliothek in München aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts wiederholt die Aufmerksamkeit von Germanisten auf sich gezogen, mit dem Ergebnis, dass uns heute bereits drei moderne Editionen der zwei darin enthaltenen Kochbücher vorliegen. Anna Martellottis Edition der deutschen Version des Liber de ferculis et condimentis, genannt daz púch von den chósten (fol. 1r–20v) mit moderner italienischer Parallelübersetzung ist Teil einer größeren Studie über die arabische Gastronomie im Abendland (Martellotti 2001). Ihr folgte 2013 die dynamische Edition desselben púch von den chósten von Verena Friedl im Rahmen einer Masterarbeit am Institut für Germanistik an der Karl-Franzens-Universität Graz (Friedl 2013). Ebenfalls diesem Institut entstammt die 2013 beendete Masterarbeit von Natascha Guggi, die die dynamische Edition des zweiten unbetitelten Kochbuchs im Münchner Kodex zum Inhalt hat (fol. 37v–98r), das mit einem blanc manger Rezept und den Worten ain weizz gemùess oder ain weizz chost mach also beginnt (Guggi 2013). Sowohl Friedl als auch Guggi bringen eine gute kodikologische Untersuchung von Cgm 415, die über die Beschreibung des Kodex von Karin Schneider wesentlich hinausgeht (Schneider 1973: 205–208). Einige ihrer kodikologischen Beobachtungen, die auch für das Arzneibuch relevant sind, sollen hier kurz zusammengefasst werden. Danach folgen Überlegungen zur Kompilation des medizinisch-diätetischen Korpus und der Person des Kompilators, zum Inhalt des Arzneibuchs, sowie die Beschreibung einiger besonderer Merkmale der deutschen Übersetzung. Diese reichen von der Sprache der Indexwörter, der Verwendung lateinischer Zitate und der Personalpronomen ,ich‘ und ,wir‘ über Erklärungen medizinischer Fachtermini durch den deutschen Übersetzer bis hin zu den zahlreichen Lücken im Text. Abschließend soll anhand der Gebrauchsspuren im Arzneibuch gezeigt werden, welche Drogen und Anwendungen für das bairische Publikum von besonderem Interesse waren.
DOI 10.1515/9783110524758-008
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2 Der Kodex Der Kodex besteht aus zwei Faszikeln, Bl. 1r–278v und Bl. 279r–348v, die durchgehend jeweils von einer Hand in Bastarda geschrieben wurden. Der Einband enthält einen vorderen Pergamentspiegel mit Umrechnungstabellen von Maßen, Gewichten und Münzen, und einen hinteren mit einer Tabelle, um die Zeit nach den Sternen zu bestimmen (Friedl 2013: 29, Guggi 2013: 26, vgl. auch Schneider 1973: 208). Bemerkenswert an den Pergamentspiegeln ist, dass sie von der Hand des Schreibers des zweiten Faszikels zu stammen scheinen, die sich auch in Randnotizen des ersten Faszikels wiederfindet, etwa auf Bl. 132v. Daraus schließen Friedl und Guggi, dass der Schreiber des zweiten Faszikels der Besitzer des ersten gewesen sein dürfte, der beide Faszikel zu dem Kodex in seiner heutigen Form binden ließ. Die Tatsache, dass der erste Faszikel am Ende fehlende Lagen und Feuchtigkeitsschäden aufweist, deutet ihrer Ansicht nach darauf hin, dass er längere Zeit ungebunden und ungeschützt aufbewahrt worden war, was beim zweiten Faszikel nicht der Fall gewesen zu sein scheint (Friedl 2013: 27, Guggi 2013: 23, 28). Was die Gebrauchsspuren im ersten Faszikel betrifft, so unterscheidet Friedl zwei Gebrauchshände, die bereits erwähnte des Schreibers des 2. Faszikels und eine weitere, die sich im Arzneibuch als die dominantere erweist.1 Die Marginalien im ersten Faszikel, sofern sie nicht von dessen Hauptschreiber selbst stammen, geben uns wertvolle Hinweise auf die Rezeption des medizinischdiätetischen Korpus. Sie bestehen im Wesentlichen aus Unterstreichungen, Randnotizen, Nota-Hinweisen und Nota-Händchen. Während im ersten Kochbuch nur eine einzige schwer lesbare Randnotiz erscheint (fol. 12r), nehmen die Anmerkungen ab Bl. 20v, zunächst primär in Form von Nota-Hinweisen und Nota-Händchen, ständig zu, um dann im Arzneibuch in über 500 Gebrauchsspuren zu kulminieren. Für die Datierung von Cgm 415 stützte sich bereits Karin Schneider auf die im Kodex befindlichen Wasserzeichen Glocke, Ochsenkopf, Dreiberg und Mohrenkopf, die allesamt auf die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts und den Raum Süddeutschland und Italien deuten (Schneider 1973: 205). Die Verbindung von Süddeutschland und Italien manifestiert sich auch im Inhalt und der Tradierung der Texte des ersten Faszikels. Seit Karin Schneiders Beschreibung von Cgm 415 aus dem Jahr 1973 hat sich in der Fachwelt die Ansicht durchgesetzt, dass der erste Faszikel aus vier Teilen besteht, dass sich also zwischen der deutschen Fassung des Liber de ferculis et condimentis (Bl. 1r–20v) und dem fragmentarischen Arzneibuch (Bl. 98r–278v) zwei separate Texte, nämlich die deutsche Fassung von ,De vindemiis‘ (Bl. 20v–37r[!]) und das unbetitelte zweite Kochbuch (Bl. 37v–98r) befinden. Daher wurde von Guggi auch das Kochbuch ohne Weinbuch ediert, obwohl in der Handschrift keine räumliche Trennung von Weinbuch und Kochbuch zu beobachten ist und das Arzneibuch im Titel als dritt puoch bezeichnet wird (Bl. 98r).
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3 Das Textkorpus Das gesamte medizinisch-diätetische Korpus des ersten Faszikels wurde, wie ich bereits andernorts argumentativ darstellte und hier nur kurz zusammenfassen möchte, mit großer Wahrscheinlichkeit im 13. Jahrhundert in Padua oder Venedig von dem Mediziner Zambonino da Gaza de Cremona kompiliert, dem verballhornten Jamboninus von Cremona, der in der Münchner Handschrift als Übersetzer des lateinischen Liber de ferculis aus dem Arabischen genannt wird.2 Die arabischen diätetischen Rezepte ˇ waren ursprünglich Teil eines umfassenden Arzneibuchs, das Ibn Gazla im 11. Jahrhundert in Bagdad verfasst hatte (Adamson 2006). Zambonino könnte sie exzerpiert und, wie das im Mittelalter durchaus üblich war, mit Hilfe eines Arabisch sprechenden Juden ins Lateinische übersetzt haben. Dem ersten Kochbuch dürfte er Material, das bereits in lateinischer Sprache zur Verfügung stand, wie das Weinbuch Burgundios, das den byzantinischen Geoponica des 10. Jahrhunderts entstammt, und Auszüge aus Palladius’ Opus agriculturae aus dem 4. Jahrhundert angeschlossen haben, um schließlich aus einer Vielzahl von Quellen das zweite Kochbuch und das Arzneibuch zu kompilieren. Was dem heute fragmentarisch vorliegenden medizinischdiätetischen Korpus fehlt, ist ein Regimen sanitatis, aber auch ein solches hat Zambonino 1298 verfasst. Das Regimen mit dem Titel Tractatus de conservatione sanitatis ist uns in einer Pergamenthandschrift aus Padua erhalten. Zambonino, der Provinz Cremona entstammend, wurde vom Abt eines Franziskanerklosters erzogen, studierte einer nicht mehr erhaltenen Grabinschrift zufolge in Paris scientia und medicina, lebte danach in Venedig, wurde 1262 als Professor der Medizin und Naturwissenschaften in Padua aktenkundig, und dürfte um 1300 gestorben sein. Alle Quellen des zweiten Kochbuchs in Cgm 415 von Serapions Aggregato‘, Rhazes’ Almanso‘ und Avicennas Canon, Isaac Judaeus’ Liber dietarum, einem Antodotarium, dem Regimen sanitatis Salernitanum, Constantinus, Hippokrates und dem Tacuinum sanitatis sind im Arzneibuch ebenso vertreten wie die Autoren, die Zambonino für seinen Tractatus de conservatione sanitatis heranzog, wobei es sich um Werke von Aristoteles, Avicenna, Hippokrates, Johannes Damascenus und Galen handelt. Die im umfangreichen Arzneibuchfragment am meisten benutzte Quelle ist der Canon medicinae Avicennas, der an die 400 Mal genannt wird, wobei in erster Linie auf das dritte Buch verwiesen wird, gefolgt vom vierten und fallweise dem zweiten. Die zweite Hauptquelle ist der Almansor, also Rhazes‘ Liber de medicinae ad Almansorem mit nahezu 240 Nennungen. Auf Mesues Heilmittellehre wird an die 75 Mal verwiesen, und an die 50 Mal auf Isaac Judaeus, Galen und Constantinus, dessen Viaticus auch noch separat 40 Mal im Text auftaucht. Zusätzlich zu ,Almansor‘ finden sich 37 Verweise auf Rhazes allgemein, 35 auf Serapio und 27 auf Dioskurides. Zwischen ein und neun Mal werden Gerhard von Parma, Salerno und die Frauen von Salerno, das Tacuinum, Palladius, Aristoteles, Macer, Guido von Arezzo, Kyranides, Hunain, Rufus, Abulcasis, Hippokrates, Paulus, Dionisius, Johannes Damascenus, Platearius, Alchamzi, Ko-
100 | Melitta Weiss Adamson nig Salaym, Musarah, ein Antodotarium, Plinius und Meister Berchthold genannt. Bei einigen Quellen dürfte es sich nicht um tatsächlich vom Kompilator der lateinischen Vorlage des Arzneibuchs benutzte handeln, sondern um indirekte Stellenangaben, die er bereits in der medizinisch-pharmazeutischen Literatur, wie etwa dem Circa instans, vorfand.3 Wie meine Analyse der genannten Arzneibuchquellen gezeigt hat, so waren die Hauptquellen Teil des Curriculums der medizinischen Schulen in Paris und Montpellier im späten 13. Jahrhundert und viele der restlichen Quellen deuten auf Italien hin, und speziell Oberitalien, vor allem was den Ort der Entstehung beziehungsweise lateinischen Übersetzung betrifft: Mesues Drogenbuch, Serapions Aggregator, Gerhard von Parma, Trotula und die Frauen von Salerno, das Tacuinum sanitatis, Palladius’ Opus agriculturae und Guido von Arezzo. Die Dominanz der Schulmedizin und die oft detailierten Stellenangaben im Münchner Arzneibuch sprechen für einen universitär gebildeten Autor beziehungsweise Kompilator wie Zambonino und erinnern an die penible Zitierweise eines Konrad von Eichstätt aus dem frühen 14. Jahrhundert, dessen lateinisches Regimen sanitatis zur Matrix der deutschen Gesundheitslehren des Spätmittelalters wurde (Hagenmeyer 1995).
4 Inhalt des Arzneibuchs Was den Inhalt des Arzneibuchfragments betrifft, so setzen sich die 300 Einträge wie folgt zusammen: 208 Pflanzen und pflanzliche Produkte, 39 Tiere und Tierprodukte, 42 Mineralien, und der Rest zusammengesetzte Drogen oder Nahrungsmittel wie Wasser, Rosenwasser, Essig, Agrest und dergleichen. Die meisten Pflanzeneinträge finden sich auch in anderen Herbarien wie etwa dem Hortus sanitatis, mit dem Cgm 415 an die 160 gemeinsam hat.4 Über 140 Pflanzen und Mineralien finden sich auch im Circa instans.5 Als Beispiel für eine pflanzliche Droge in Cgm 415 sei hier Dill angeführt (aNetum, Bl. 118r–v, siehe Appendix 1).6 Bei den Tieren sind es vor allem solche, die in der Küche Verwendung fanden, also Henne und Hahn, Ente, Rebhuhn, Wachtel, Kranich, Flusskrebs, Hirsch, sowie Pferd und diverse Tierprodukte von Schmalz und Butter über Hirn, Herz, Haupt, Haut, Leber und Galle zu Nieren- beziehungsweise Schwanzfleisch und Gedärmen.7 Zu den anderen tierischen Arzneien zählen Meeresschnecken, Löwen- und Igelfleisch, Eidechsen, Spinnweben, Ambra (aMbra, siehe Appendix 2), gebranntes Haar, Hundeurin, Elfenbein, Vogelzungen und dem menschlichen Körper entstammende Heilmittel wie Sperma, Harn, Kot, verbranntes Menschenhaar, Menstrualblut, Muttermilch, Speichel, Zähne, Mumienstaub und pulverisierte Knochenasche.8 Die Mineralien erscheinen zunächst vereinzelt unter dem entsprechenden Buchstaben, wie etwa Arsen, Gold, Silber, Alaun (aLumen, siehe Appendix 3) und Antimon unter A,9 und kurz vor Ende des Arzneibuchfragments werden unter
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lApis neun verschiedene Steine gelistet: laczuli, armenus, Iudaicus, calamacis, Smaragdus, Magnetis, lincis, agapïs und Spongie (Bl. 273v–275r). Das Arzneibuch ist halbalphatbetisch angeordnet, das heißt nach dem Anfangsbuchstaben folgt keine alphabetische Reihung, Dem lateinischen Indexwort folgt dann jeweils eine deutsche Übersetzung desselben, soweit eine gefunden wurde. Der Beginn des Arzneibuchs gibt allerdings einen Hinweis darauf, dass anfangs auch eine Übersetzung des Indexwortes selbst angestrebt, der Plan aber bereits beim ersten Eintrag aufgegeben wurde, vermutlich um die Alphabetisierung des Textes zu wahren.10 Vereinzelt sind die Indexwörter latinisierte arabische Termini, wie sie in den lateinischen Versionen der Werke eines Avicenna oder Rhazes etwa häufig anzutreffen sind. Beispiele dafür sind aScedenigi (Bl. 124v–125v), aLkekchengi (Bl. 137v–138r), aLkerna (Bl. 138r) oder cVbugi (Bl. 205v). Was die den Indexwörtern folgenden Einträge betrifft, so wurde offensichtlich eine möglichst vollständige Übersetzung ins Deutsche angestrebt. Nur bei einigen wenigen pflanzlichen Heilmitteln, so etwa bei aLeum (Bl. 124v–125v), bVglossa (Bl. 149r–v), bEtonica (Bl. 149v–150r) und eNula (Bl. 223v–224v), finden sich lateinische Zitate. Bei aLeum (Bl. 125v) wird auf eine Quelle verwiesen, nämlich den Macer, und eine deutsche Übersetzung hintangefügt. Die Verse erscheinen allerdings in geänderter Reihenfolge im Vergleich zum Macer, entsprechen aber interessanterweise denen im Regimen sanitatis Salernitanum.11 Im Gegensatz zu aLeum wird bei bVglossa (Bl. 149v) und dem nachfolgenden Eintrag für bEtonica (Bl. 150r) in Cgm 415 zuerst die deutsche Übersetzung mit Verweis auf den Macer und bei bEtonica zusätzlich noch auf Guido von Arezzo angeführt und danach der lateinische Text, der jeweils das Ende des Eintrags bildet. Die lateinischen bVglossa Verse im deutschen Text entsprechen dem gesamten Eintrag im Macer.12 Die anschließenden Worte confirmant periter medici pluresque poete Et cum lactucas hec herba comesta salubris Nam calor dat temperiem cum frigore mixtus (Bl.149v) in Cgm 415 stammen allem Anschein nach aus der lateinischen Vorlage für das Arzneibuch und bieten einen, wenn auch ganz kleinen, Einblick in den Wortlaut der lateinischen Kompilation. Beim lateinischen Vers im Eintrag für eNula (Enula campana reddit precordia sana, Bl. 223v) fehlen sowohl Quellenangabe als auch deutsche Übersetzung. Es ist dies ein bekannter Merkvers, der sowohl im ,Circa instans‘ als auch im Regimen sanitatis Salernitanum enthalten ist.13 Eine der Hauptquellen des Arzneibuches dürfte das Circa instans gewesen sein, das allerdings nie mit Namen genannt wird.14 Ihm entnahm der Kompilator der lateinischen Vorlage allem Anschein nach die Information über die Primärqualitäten einer Droge, sowie ihre Beschreibung und Herkunft. Bei aNetum (Appendix 1) und aMbra (Appendix 3) ist dies der Fall, nicht jedoch bei aLumen (Appendix 2).15 Hier wird sofort zu Beginn Dioskurides als Quelle genannt. Betrachtet man nun die Einträge im Arzneibuch, die nicht im Circa instans enthalten sind und die mit einer Nennung der Quelle beginnen, so zeigt sich, dass die meisten Informationen aus Avicennas Canon und Rasis‘Almansor bezogen wurden, gefolgt von Dioskurides, Galen und Ysaac Judaeus. Viele dieser Neueinträge betreffen tierische Produkte und unterstreichen den
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diätetischen Charakter des Textkorpus in Cgm 415, der auch im Arzneibuch zu spüren ist. Mit den Circa instans, sei es in seiner usprünglichen Fassung, die in Salerno Mitte des 12. Jahrhunderts angefertigt wurde, oder in einer um den Liber de gradibus des Constantinus Africanus und Liber iste erweiterten, teilt das Arzneibuch in Cgm 415 ein Hauptmerkmal der beiden großen deutschen Kräuterbücher des Spätmittelalters, dem Leipziger Drogenkompendium von ca. 1435 und dem Gart der Gesundheit, der 1485 in Mainz gedruckt wurde und bis in die Goethezeit nachwirkte (Mayer 2014: 133–142). Darüber hinaus sind die anderen gemeinsamen Quellen des Leipziger und Mainzer Drogenkompendiums, nämlich der Aggregator Pseudo-Serapions und der Macer floridus im Münchner Arzneibuch ebenfalls vertreten. Auch was die Anzahl der Drogenmonographien betrifft, ist das bisher von der Forschung kaum beachtete Arzneibuch in Cgm 415 mit den beiden anderen Kräuterbüchern vergleichbar. Das Leipziger Drogenkompendium umfasst 328 oft mehrseitige Einträge pflanzlicher, tierischer und mineralischer Drogen, und der Gart der Gesundheit 435. Handelte es sich beim Münchner Arzneibuch nicht um ein Fragment, das nur die erste Hälfte des Alphabets beinhaltet, so wäre es vermutlich sogar das umfangreichste deutsche Drogenkompendium des ausgehenden Mittelalters.
5 Die deutsche Übersetzung Wie in dem vorangehenden Weinbuch (Bl. 20v–37r[!]) und dem zweiten Kochbuch (fol. 37v–98r) werden im Arzneibuch wiederholt die Personalpronomen ,ich‘ und ,wir‘ verwendet. Ob es sich dabei um persönliche Beobachtungen des lateinischen Kompilators oder des deutschen Übersetzers handelt, ist in Ermangelung der lateinischen Vorlage heute nur schwer festzustellen. Es dürfte jedoch eine Kombination von beidem sein. In einem Fall spricht eindeutig der Übersetzer. Unter cAstorum ist nämlich zu lesen, dar Inn man Innwendig gaill vint vnd daz vnnütz ist vnd daz nennen wir kasslopp (Bl. 159r). Bei den Einträgen zu aMigdala (Bl. 130v), cVcurbita (Bl. 177v–178r) und cArui (Bl. 161r) spricht vermutlich der lateinische Kompilator und bei dIagredium ziemlich sicher der letztere, wie aus folgenden Zitaten ersichtlich wird: (1) So wir auer wellen scherffen dï ercznei mit Scamonea so sied wir sew in solicher mazz (Bl. 208v) (2) Vnd dï Scamonea Wirt auch in den lantten geandert manigerhand als vast daz ich han gesehen in etleichen puchern der erczt sein dosis id est das ist Wï man das geben schol manigerhand gewicht (Bl. 209v).
Wie letzteres Beispiel zeigt, gibt der Übersetzer Erklärungen für Fachtermini, die meistens mit dem Kürzel für id est (.I.) und dem nachfolgenden daz ist eingeleitet werden. Neben ,Dosis‘ wird auch ,Rezept‘ erklärt, mit den Worten, recept ist Wenn man von mer dingen tzesamen gelegt ain ercznei macht (Bl. 203v). Erklärungen dieser Art finden sich im Arzneibuch bei den einfachen Drogen sowohl nach den Indexwör-
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tern als auch innerhalb der Einträge und darüber hinaus bei Maßen und Gewichten, medizinisch-pharmazeutischer Terminologie, zusammengesetzten Heilmitteln und vor allem Krankheiten. Zu den Maßen und Gewichten zählen ana (gleich uil yeders, Bl. 156v), aneri (ain wenig mynner wann ain dragma, Bl. 132v), das später mit dragma gleichgesetzt wird (Bl. 134r), anluset (ain vncz vnd γ, Bl. 107r)16 , aureorum (viij aureorum daz ist acht dragma in ainem andern IX, Bl. 113r)17 , carat (gewicht vir gerstchorner, Bl. 219r)18 , cotillus (ain gewicht, Bl. 112v)19 , dauikch (gewicht viij gerstchorner oder ainer halben dragma, Bl. 219r), exagium (von der mitt vncz an daz end, Bl. 110v, awz ainem gewichte daz do exagium haizt, Bl. 235v), fit (ist gewicht xx vnczen, Bl. 215r), oblus (ain oblus ist gewicht xij gerstchorner, Bl. 186r), daz Zeichen für das Apothekergewicht scrupulum ʒ wird immer mit scruffulis (Bl. 218r), scrofoli (Bl. 222v, Bl. 255v), scrupuli (Bl. 228v, Bl. 238v, Bl. 274v) oder scroffel (Bl. 252v) erklärt, allerdings ohne genauere Gewichtsangabe, im Gegensatz zum Hohlmaß sextarius (ist xx dragma, Bl. 181v) und zu tasanagi (dreier gerstchornell swar gewicht, Bl. 198v). Zu den medizinisch-pharmazeutischen Ausdrücken zählen per ambotum (daz ist durch ainen trichter, Bl. 244v), apoczima, das einmal als Pflaster (pflaster, Bl. 185r) und zweimal als Trank (getrankch, Bl. 169v, trang, Bl. 220v) erklärt wird, apostolicon (salb, Bl. 197r, 212r), colirium (augensalb)20 , epythimatibus calidis (ertzneyen, Bl. 134r), fare (pflaster, Bl. 197r), fomentum (pradem, Bl. 235v), magdaleones (daz ist chuglächte salben clainer chügel, Bl. 226r)21 , pillulas (puluer, Bl. 229v), psilotrum (phlaster, Bl. 204v), oleum sambocinum (holleröl, Bl. 132v), sapor (sals, Bl. 227r, 232v), scudellum (schappell, Bl. 148r), Sinapissmus (daz ist daz man dar Inn ain tüechel netczt Inn vnd awzzen vnd daz auf den slaff legt vntter den augen, Bl. 243v), siringa (id est daz ist ain czeug oder ain ding im ol ain eysen oder silberin czeug do man mit hin in dasselb tut daz pricht den stayn, Bl. 193r, daz haizzent di erczt Syringa dasselb ist ain claine silbrinn röre ffur den altten chramm asma, Bl. 256r), subtiliativa (chräwtter oder ander ercznei, Bl. 103r), suppositorium (ain vntterlag von pawmwoll gemächt, Bl. 148r, tzeppfell, Bl. 212r) und der Konfekt trociscorum (vierekchächt knollen, Bl. 153v), trociskchen (würflacht küechel, Bl. 174r), trociscos (würfflacht vierekchicht stukchel, Bl. 184v). Als Latwergen bezeichnet werden benedicta (Bl. 209r), blanca (Bl. 209r), dyasene (Bl. 209r), anacardium (Bl. 119v, 217v, anacardi, Bl. 209r), yeralogodion (Bl. 217v, 269r), das auch als Konfekt bezeichnet wird, dyabriginatum (Bl. 120r), dyadragantum und theodoricon (Bl. 209r, 217v) und osi laxatiua (Bl. 209r); als tzelttell ferner dyagredium (Bl. 208r) und Scamonea (Bl. 208r, 209r), und als Konfekt gariofilatum (242r), obsomogora (Bl. 199r), oxi czacharo (Bl. 170r), penidijis (Bl. 167r), setamabin (Bl. 182r) und obige trocisces. Oxo zachara wird einmal als Syrupp erklärt (Bl. 232v), und confectt einmal mit gemachten erczneien (trifera vnd sinther, Bl. 238v). Bei den Krankheiten und Krankheitssymptomen sind es über einhundert, die vom Übersetzer mit Erklärungen versehen werden. Aus Platzgründen sollen hier lediglich einige herausgegriffen werden: adubelati (daz ist der nyeren drüs, Bl. 234v), alpbara (der posen röte oder pukchellen, Bl. 109v, dï schewzleichen pukchelen albara, Bl. 276v), alchola (fawlchait in dem munt, Bl. 160v), alcuczet (swären chrampf, Bl. 118v, dem fe-
104 | Melitta Weiss Adamson wchten alchuczer, Bl. 159v), algarab (ain geslecht der awzzsetzigen gestalt, Bl. 184v), alopicie (den chalen di nicht har habent, Bl. 106v), apoplexia (den amechtigen, Bl. 107r, sprachlosser chranchait, Bl. 189r, so der mensch nicht reden mag apoplexio, Bl. 215v), apostema (drüs, Bl. 185r, 185v, 187r, 189v, 221r, 234v, 272v, druess Bl. 240r, drüs des hinttern, Bl.199v, den aspostema der lungel rören, Bl. 233v), artheticam (vergicht in den gliddern, Bl. 126v, für dï gichtig chrankchait, Bl. 151r, arteticon [...] gicht der glidder, Bl. 218r, dï gicht artetica, Bl. 250r, dï gicht der glidder artetica, Bl. 252v, fur die lentten gicht vnd glidder gicht vnd gancz gichtichen dï do von der gicht nider ligen id est sciaticis arteticis paraliticis, Bl. 253v), asmatis (ercznei asmatis vnd des attems verstellung, Bl. 163r, mit dem chrymmigen asmaticis vnd snellung des attems, Bl. 250r, gut asmaticis id est fur den selben chramm von chaltter sach, Bl. 276r), bolismus (daz ist so der mensch hungrig ist daz er stain verdayen mocht, Bl. 271r), cardiaca (chrankchait des hertzen, Bl. 119v, di do an dem hertzen chrankch sint, Bl. 145v, hertzen krankchait, Bl. 149v, den daz hercz we tütt, Bl. 174v, herczsucht, Bl. 241v), cyragra (troppf der hentt, Bl. 218r, hentt gicht, Bl. 221v, gicht cyragra der hentt, Bl. 252v), dissenteria (der flüz des plüts, Bl. 122v, plutigen flüzz, Bl. 137r, fur den darm plütfluzz, Bl. 149r, gut fur den pauch plütflozz vnd der derm plütflozz id est dissintheria vnd heutheria vnd der frawen plütflözz, Bl. 194r, ffur das plüt, Bl. 239r, fur den flüzz des pauchs, Bl. 263r, fur den plüt flüzz, Bl. 272r, des plüts dissintheria, Bl. 272v), dissuria (so der harm tropphend von dem menchen get id est strangwinea vnd dissuria, Bl. 191v, harmwintt Ist dï chrankchait von der vntten glidder schädlichait, Bl. 247r), elephancia (grozz geswolne pain id est lewcoflancia oder elephancia, Bl. 218r, pflaster czu den grozzen dikchen geswollen paynn di man elephantia nennt, Bl. 270r), emigraneam (chrankchait in ainem tail des haubts, Bl. 179r, dï chrankchait des haubts dï sich wandelt in dem haubt von ainer stat czu der andern, Bl. 179r, emigranea daz ist auch chrankchait des haubts von ainer stat an dï ander, Bl. 217r), emoptoicam passionem (fur den fluzz oder plut speiben zu dem muntd, Bl. 147v, macht gesunt emotoicos pricht den stain, Bl. 150r, emotoycis daz ist den dï allweg in dreien tagen plüt speibent von der lungel gepresten oder von den tzeprochen drüsen, Bl. 196r–v, aytter speiben emotoycam, Bl. 243v), emoroydes (arsswirmen, Bl. 186v, ffür di ayzz vnd drüss Im hinttern, Bl. 239r, fur dï drüs emoroydibus id est di Im hinttern sint, Bl. 262v, fur dï drüs Im hinttern, Bl. 273v, dï drüs emoroydas Im hinttern, Bl. 277v, der drüs Im hinttern emoroydarum, Bl. 277v), glosa (der münt erstökchung, Bl. 162v), inpetigo (auf di flechten, Bl. 111v), lacerti (di hertten adern von den armen, Bl. 269v), litargiam (haubtdrus, Bl. 192v, drüs des hirns, Bl. 214v), menster (der frawen siechtum, Bl. 174v, frawen chrankchait, Bl. 233v, Bl. 245v, der frawen chranhait, Bl. 239v, menstrum der frawen chrankchait, Bl. 246r, der frawen gewonleichew chrankchait, Bl. 246v, das plüt der frawen menstrum, Bl. 252r, raiczt der frawen menstrum, Bl. 256v, czu raytzend der frawen menstrum, Bl. 259r), morfea (der Aussetzigen gestalt daz do haizt morfea, Bl. 143r, dï röte vngestalt als rote flekch ain czaichen der awzsetczichait, Bl. 188r, di flekch morpheam et albaras, Bl. 198r, dï vngestallt der rotten flekch, Bl. 198v, awzsetczig gestalt, Bl. 203v, der awzseczigen gestalt, Bl. 206r), obtalmia (chrankchait obtalmia daz ist der augswär der hitzigen, Bl. 154v, krankchait des aug, Bl. 235r, ain bestreichung den geswollen fluzzigen augprau
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obtalmia, Bl. 246r), paralisi (gicht paralisi, Bl. 159v, di do das vergicht in den gliddern haben, Bl. 126v, paralisis di gicht, Bl. 218r, gancz gichtichen dï do von der gicht nider ligen, Bl. 253v), periplemonicis et epaticis (dï drüsig sint in lungel vnd in leber, Bl. 185r), pestilencz (drüssüchtichait, Bl. 190r), podagram (daz gicht, Bl. 146v, macht gesuntt den tropfigen sanat podagram, Bl. 160r, tropphen, Bl. 218r, 221v), polipus (der nasen chranchait, Bl. 187r), sciatice (chrankchait sciatice daz ist in den diech geslozzen, Bl. 134r, czu den oben diechen chrankchait scia, Bl. 167v, den lentsiech sciaticis, Bl. 171v, lentsiechtum, Bl. 173r, den in den lentten we ist vnd di chrankchait sciatica, Bl. 173v, lent gicht sciatice vnd der chrankchait der glidder, Bl. 224v, fur di lentten gichte, Bl. 253v), scrofulis (di drüss Im hals, Bl. 146v, 276v, di drüs vnd geswer Im hals, Bl. 276r), sincopim (chrankchait sincopim, Bl. 160v, fur den slag sincopis so man fur chrankchait nicht reden makch, Bl. 241v, sprachlöss chrankcheit, Bl. 243r, von der chrankchait so der mensch nicht reden chan vor chrankchait Sincopis, Bl. 271v, von sprachloser chrankchait, Bl. 273r), singultus (chelsucht oder sluntsucht, Bl. 137v, der sluntzigung in der chel, Bl. 269r), soda (chrankchait dï do haizt soda vnd aygentleich samniaron, Bl. 114v, chrankchait des haubts, Bl. 217r, 224r, des haubts chrankchait, Bl. 249r), thetano (dï den chrampff habent, Bl. 107r, den cram atetanis vnd spasmis, Bl. 205v), uve (chrankchait di do chumpt von der czungen dauon der mensch nicht reden mag, Bl. 247v) und yliaca (daz ist dem Siling, Bl. 184v, gicht in den lentten id est yliaca passio, Bl. 218r, yliacam vnd colicam passionem daz ist fur den Siling vber dem napel vntten vnd oben, Bl. 223v, den Siling von den lentten yliacam, Bl. 246r, den siling, Bl. 247r, fur den siling yliaca, Bl. 252v, Bl. 255v).
6 Lücken Insgesamt enthält das Arzneibuchfragment noch176 Lücken, in die vermutlich später die entsprechenden deutschen Termini eingefügt werden sollten, wozu es aber nicht kam. Da uns die lateinische Vorlage nicht bekannt ist und lediglich vereinzelt der zu übersetzende Terminus der Lücke vorangeht, lässt sich nur mit Einschränkungen erkennen, was dem Übersetzer am meisten Schwierigkeiten bereitete. Vor allem dürfte es das Krankheitsvokabular gewesen sein, gefolgt von Arzneien und ihren Zutaten. Weniger häufig scheinen es allgemeine, das heißt nicht krankheitsspezifische, lateinische Ausdrücke, Maße und Gewichte, Eigennamen und Werktitel gewesen zu sein. Wie sich zeigen wird, sind auch eine Reihe von Ausdrücken dabei, die an anderer Stelle im Arzneibuch erklärt werden (siehe 5. Die deutsche Übersetzung). Zu den mit Lücken versehenen medizinischen Termini zählen mola (Bl. 137v), wohl die mola uteri des Aristoteles; dyafragmates (Bl. 143v), die Bauchatmung, diaphragma; tenasmo (Bl. 145r), Harn- oder Stuhldrang, obwohl Blase oder Darm leer sind (tenesmos, tenesmus, Glare 1982: 1921); discrasiam (Bl. 147r), die schlechte Säftemischung in der Humorallehre (dyscrasia, Souter 1949: 115); ptisum (Bl. 148v, ptisicis, Bl. 149r), Phthisis, Tuberkulose (Glare 1982: 1376); rigores (Bl. 140r), Krampf, Starre (Glare 1982: 1655); diureticam
106 | Melitta Weiss Adamson (Bl. 150r, 161r), diuretisch (Souter 1949: 111); ascarides ( Bl. 161v), Würmer im Gedärm (Souter 1949: 23); complex (Bl. 270v), Säftemischung in der Humorallehre, complexio; adip (Bl. 126r, 229r, 229v), Fett (adeps, adips, Glare 1982: 39). Bereits andernorts, bisweilen sogar wiederholt, mit deutschen Erklärungen versehen, jedoch wie folgt auch mit Lücken sind die Termini chrankchait cardiaca (Bl. 142v), sincopiczantibus (Bl. 141r, sincopim, Bl. 149r, de sincopi, Bl. 155r), emotoicis (Bl. 149r), Emigranea (Bl. 155r), podagram (Bl. 160r), glosa (Bl. 162v), apoplexiam (Bl. 167v), asmati (Bl. 130v, 131v, 137v, 140r, 250v), sciatica, sciaticam (Bl. 167v, sciaticis, 171v). Interessant ist die Terminologie für die Infektion des Augenlids, die sowohl deutsch erklärt als auch mit einer Lücke versehen ist, daz gerstchornell des augen [Lücke] ordealum (Bl. 194v). Zu den Heilmitteln, die dem Übersetzer offensichtlich nicht bekannt waren, zählen cantaridibus (Bl. 126r), spanische Fliegen (Müller 2008: 295), carakis antiquis (Bl. 250v), vielleicht das bei Dioskurides genannte Schilfrohr (carax, Souter 1949: 39) coryczam (Bl. 129v, Bl. 264v), wohl Johanniskraut (corissum, Glare 1982: 445), pesariczatum (Bl. 140r), und pessario (Bl. 160r), Pessar (pessarium, Souter 1949: 301), enemate (Bl. 153r), Klistier (enema, Souter 1949: 123); yerapig (Bl. 165v), Yerapigra, pulverisiertes Abführmittel22 und das andernorts erklärte fomentum (Bl. 221v). Zur materia medica gehörende Termini, die mit Lücken versehen sind, zählen iusquermo (Bl. 140r), Bilsenkraut? (iusquiamus, Müller 2008: 300), emblicorum nature (Bl. 147v), Mirobalani emblici (Müller 2008: 302), stafisagia (Bl. 150r), Rittersporn (staphisagria, Müller 2008: 307), turbith (Bl. 156r), Abführmittel aus der Wurzel der Winde, Trichterwinde (Müller 2008: 308), squinantum (Bl. 161v), Kamelheu (Müller 2008: 307), littargiam, litargie (Bl. 159r–v), Goldglätte (lithargyrus aurea, Müller 2008: 301), nerden (Bl. 233r), wohl Narde; und fraxino (Bl. 236r), Esche (Müller 2008: 299). Arabische Termini, wie sie sich in den lateinischen Übersetzungen der Werke von Avicenna oder Rhazes häufig finden, bereiten dem bairischen Übersetzer, wie zu erwarten ist, große Schwierigkeiten. Dazu gehören Ausdrücke wie secacul (Bl. 142r), baurachia (Bl. 142v), albudacha (Bl. 147v), Mechie (Bl. 145v), rob (Bl. 152v), alrabath (Bl. 161v), aczimbecza (Bl. 188r), ascaraliti (Bl. 190v), alkubugi (Bl. 199r), alatoni (Bl. 233r), adhubna (Bl. 237r), duragi (Bl. 237r), assabuth, asabuth (Bl. 237v), birsem (Bl. 152v), sabara (Bl. 153v), masen (Bl. 235v) und cherffat (therffat?) (Bl. 243r). In seltenen Fällen, wie etwa beim Terminus bothor, werden nicht nur Lücken sondern auch Erklärungsversuche geboten: bothor id est dï plattern awz den augen (plattern awz den augen ist ausgestrichen, Bl. 125r), augen chrankchait bothor [Lücke] (Bl. 251v), dï drüs bothor (Bl. 276v). Allgemeine lateinische mit Lücken versehene Ausdrücke sind unter anderem graminosus (Bl. 136r), grasähnlich (Glare 1982: 771); vola (Bl. 139v), hohle Handfläche bzw. Sohle (Glare 1982: 2097); cronicus (Bl. 137v), chronisch (chronius, Souter 1949: 49), colla (Bl. 148v), Genick, Cervix (collum, collies, Glare 1982: 354), mucilaginosam (Bl. 172r), zähflüssig, sämig (Souter 1949: 258), und defecatur (Bl. 245v), klären, reinigen (Glare 1982: 498). Wie in den dem Arzneibuch vorangehenden Kochbüchern und Weinbuch zeigt der Übersetzer hier ebenfalls Schwächen, was Maße und Gewichte
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betrifft. So finden sich auch Lücken bei den andernorts erklärten Termini exagium (Bl. 131v, 145r, exagio, Bl. 229v), obolus (Bl. 143r), dem Zeichen für das Apothekergewicht scrupulum (Bl. 159r, 160v), karactes (Bl. 131r), annileser (Bl. 224v, anulus et, Bl. 260r) und cotillis (Bl. 249v). Einige Lücken erscheinen des weiteren nach Autorennamen und dürften sich auf Buchtitel oder Kapitelüberschriften beziehen. Bei Rasis Im puch dictum [Lücke] Im capittel d (Bl. 211v) ist das bestimmt der Fall, bei Serapio [Lücke] daz selb pech oder harcz (Bl. 132r) ist das weniger offensichtlich. Nach Dyonisius von Emigranea (Bl. 155r) findet sich hier eine Lücke zum Terminus für Migraine. Dem arabischen Wort fen, das für die Einteilung der einzelnen Bücher von Avicennas Canon gebraucht wurde, folgt ebenfalls zweimal eine Lücke: Auicenna in dem dritten puch fen [Lücke] xij von der versïgung (Bl. 163r). Um denselben fen xij, allerdings hier mit Almansor-Zuschreibung, dürfte es sich beim zweiten Eintrag handeln, wobei versïgung hier mit mynnerung übersetzt wird: Almansor fen xij [Lücke] von der mynnerrung (Bl. 134r).
7 Rezeption Wie bereits erwähnt, sind wir beim Arzneibuch in Cgm 415 in der glücklichen Lage, einen Einblick zu bekommen, welche Arzneimittel dem bairischen Publikum von besonderem Interesse waren. Von den 300 Einträgen enthalten 118 Gebrauchsspuren in Form von Nota-Händchen, Nota-Hinweisen, Unterstreichungen und Randnotizen. Bei den Unterstreichungen handelt es sich einerseits um solche der Lemmata und andererseits um ganze Textpassagen. Die Randnotizen reichen von deutschen Arzneinamen am oberen Rand als Orientierungshilfe zu Marginalglossen unterschiedlicher Länge. Erstellt man nun eine Liste der im Arzneibuch am meisten annotierten Einträge, so ergibt sich folgendes Bild: aLeum (Bl. 124v–126r) und cOagulum (Bl. 193r–194r) liegen mit jeweils 26 Gebrauchsspuren weit voran, dahinter kommen cOralli (Bl. 195– 196v) und eLeborus albus (Bl. 214r–216r) mit jeweils 14, bVtirum (Bl. 143v–144v), cAmillen (Bl. 184r–185r) und cAseus recens (Bl. 207r–v) mit jeweils 13, aCetum (Bl. 101r–104r), eNula vnd elempinum (Bl. 223v–224v) und gAlline et gallus (Bl. 249r–250v) mit jeweils 12 und bOrrago (Bl. 141r–v), cItonia (Bl. 179v–182v), fIcus viridis (Bl. 233r–234v) und fErrum (Bl. 238v–239r) mit jeweils 11. Alle hier genannten Heimittel von Knoblauch, dem Theriak der Bauern, bis zum Huhn sind Hausmittel, von denen die meisten im Bayern des 15. Jahrhunderts heimisch waren oder relativ leicht erhältlich. Nur Korallen und grüne Feigen waren exotische Importware. Die nächste Gruppe von Arzneimitteln mit 10 bis 5 Gebrauchsspuren besteht aus bolus armenIcus (Bl. 147v–149r) (10)23 , dRagagantum (Bl. 211v–212v) (10)24 , bErbena (Bl. 151v–152r) (8)25 , cArui (Bl. 161r) (8), cInnamomum (Bl. 164v–166r) (8), cEpe (Bl. 187v–188v) (8), gAlanga (Bl. 242v–243r) (8), aqua (Bl. 98r–99r) (7), aLumen (Bl. 127r–v) (7), cEntaurea (Bl. 170v–172r) (7), gAriofili (Bl. 241r–242r) (7), aRgentum (Bl. 120r–121r) (6), aDeps (Bl. 126r–v) (6), cRocus (Bl. 152r–
108 | Melitta Weiss Adamson 153v) (6), cVcurbita (Bl. 176r–178r) (6), cAntabrum (Bl. 202r–203r) (6), aUrum coctum (Bl. 119r–120r) (5), aRistologia (Bl. 123v–124v) (5), cAstanea (Bl. 183r–v) (5), fEniculum (Bl. 231v–232v) (5), fEx (Bl. 240r) (5) und iVniperus (Bl. 255r–257r) (5). In dieser zweiten Gruppe herrschen relativ weit verbreitete Kräuter, Gewürze und Mineralien vor. Völlig exotische Arzneimittel wie cAro leonis (Bl. 184r), Löwenfleisch, sind auch hier nicht zu finden. Betrachtet man nun die Anwendungen der am meisten annotierten materia medica, so sind einfache medizinische Rezepte und Mittel zur Ungezieferbekämpfung von besonderem Interesse. Knoblauch etwa soll gesotten Läuse aus den Kleidern entfernen, Zahnweh lindern, sowie die Kehle und Stimme erhellen. Die stockende Wirkung von Lab, wobei neben Hasenlab auch Lamm-, Kitz-, Kalbs- und Hirschenlab erwähnt werden, wird zum Stoppen des Flusses, vom Blutfluss der Frauen bis zur Ruhr empfohlen. Männliches Hasenlab vom Mann und weibliches von der Frau benutzt soll die Schwangerschaft begünstigen. Korallen eigneten sich sowohl zum externen Gebrauch und in pulverisierter Form zur inneren Anwendung. Extern seien sie gut zum Abwenden von Blitzen, vallendem siechtum, Magenkrankheiten und für Schwangere und Mütter nach der Geburt. Wie Lab sollen sie bei innerer Anwendung den Blutfluss stoppen und sich auch zur Entfernung von Zähnen samt Wurzeln und zum Kräftigen des Zahnfleisches eignen. Bei der weißen Nieswurz wird besonders unterstrichen, dass sie gegen Gicht, Ohrwürmer und Mäuse helfe. Butter, wie Knoblauch als Theriak bezeichnet, ist von Interesse vor allem wegen ihrer lindernden Wirkung auf Brust, Lunge und Kehle, bei Natternbiss und bei Kindern als Zahnwachsmittel. Bei der Kamille werden ihre kräftigende, harn- und menstruationsfördernde und steintreibende Wirkung hervorgehoben ebenso wie ihre Eignung als Mittel gegen Gelbsucht. Sofern die Gebrauchsspuren im Arzneibuch als Hinweis auf Auswahl und Anwendung einzelner Heilmittel zu werten sind, so deuten sie auf eine Behandlung weitverbreiteter Krankheiten mit einfachen Hausmitteln, wie dies im Franziskanerkloster in München, dem der Kodex einst gehörte, durchaus der Fall gewesen sein mag.
8 Fazit Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Übersetzer wohl kein Arzt und auch kein Apotheker war, was sich in erster Linie in seiner Wortwahl äußert, die in Ermangelung des enstprechenden Fachvokabulars bisweilen recht kreativ ausfällt. Die Lücken im Text verleiten zur Annahme, dass er einfache Termini wie emigranea, podagra, glosa, apoplexia, sciatica oder fomentum nicht kannte. Bei genauerer Analyse des umfangreichen Arzneibuchs stellt sich allerdings heraus, dass die Termini andernorts mit einer zumeist richtigen deutschen Erklärung versehen sind. Dies könnte auf einen zweiten, weniger versierten Übersetzer an einigen Stellen des Werkes deuten. Eine ähnliche Vermutung äußerte bereits 2001 Anna Martellotti in Bezug auf den ersten Traktat, den
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Liber de ferculis et condimentis in seiner deutschen Fassung (Martellotti 2001: 63). Eine dynamische Edition des Arzneibuchs, die eine Stilanalyse ermöglichen würde, könnte hier vermutlich wesentlich zur Aufklärung der Übersetzerfrage beitragen. Auf Grund der Länge des Arzneibuchs sollte die Edition von einem Team von Wissenschaftlern besorgt werden, das durch die reichhaltigen und oft genauen Quellenangaben im Text auch die lateinische Vorlage zu einem großen Teil rekonstruieren könnte, ähnlich wie Christa Hagenmeyer in kleinerem Rahmen die Quellen für das lateinische Regimen sanitatis Konrads von Eichstätt in ihrer Edition identifiziert hat (Hagenmeyer 1995). Die Lücken im Arzneibuch von Cgm 415 könnten Anlass zur Befürchtung geben, dass fehlende Information bei schweren Drogen möglicherweise fatale Folgen nach sich zog. Jedoch zeigt die Analyse der Gebrauchsspuren, dass das Hauptaugenmerk bei der Rezeption auf einfachen diätetischen Mitteln lag, die sowohl in der Küche als auch im Krankenzimmer Anwendung fanden und bei deren Einträgen im Arzneibuch auch nur wenige bis gar keine Lücken auftreten. Die Hausmittel unterstreichen einmal mehr den diätetischen Charakter des gesamten ersten Faszikels von Cgm 415 und sorgen außerdem heute für eine gewisse Beruhigung, dass Patienten des Münchner Franziskanerklosters am Ausgang des Mittelalters im Allgemeinen wohl nicht durch falsch oder mangelhaft übersetzte Arzeimittel zu Schaden kamen.
Quellen und Editionen München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 415. Choulant, Ludovicus (1832): Macer floridus de Viribus Herbarum una cum Walafridi Strabonis, Othonis Cremonensis et Joannis Folcz Carminibus similis argumenti. Leipzig. de Renzi, Salvatore (1852–59) (Hrsg.): Collectio Salernitana. 5 Bde. Neapel. Friedl, Verena (2013): Daz púch von den chósten. Dynamische Edition des deutschen Jamboninus von Cremona nach Cgm 415. Mit einem Glossar und Zutatenregister. Masterarbeit. Graz. KarlFranzens-Universität. Guggi, Natascha Stefanie Chantal (2013): ain weizz gemùess oder ain weizz chost mach also. Dynamische Edition des Kochbuchs der Handschrift Cgm 415. Mit Glossar und Rezeptregister. Masterarbeit. Graz. Karl-Franzens-Universität. Hortus sanitatis. Mainz: Jacob Meydenbach 1491. Martellotti, Anna (2001): Il Liber de ferculis di Giambonino da Cremona. La gastronomia araba in Occidente nella trattatistica dietetica. Fasano. Wölfel, Hans (1939): Das Arzneidrogenbuch Circa instans in einer Fassung des XIII. Jahrhunderts aus der Universitätsbibliothek Erlangen. Text und Kommentar als Beitrag zur Pflanzen- und Drogenkunde des Mittelalters. Diss. math.-nat. Berlin. Friedrich-Wilhelms-Universität. Konsultiert in Kombination mit Konrad Goehl, Circa instans. Transkription der Handschrift Erlangen, Universitätsbibliothek, Ms. 674.
110 | Melitta Weiss Adamson
Literatur ˇ Adamson, Melitta Weiss (2006): Ibn Gazla auf dem Weg nach Bayern. In: Andreas Speer, Lydia Wegener (Hrsg.): Wissen über Grenzen: Arabisches Wissen und lateinisches Mittelalter. (Miscellanea Mediaevalia 33). Berlin/New York 357–376. Adamson, Melitta Weiss (2014): Vom Arzneibuch zum Kochbuch, vom Kochbuch zum Arzneibuch. Eine diätetische Reise von der arabischen Welt und Byzanz über Italien ins spätmittelalterliche Bayern. In: Andrea Hofmeister-Winter, Helmut W. Klug, Karin Kranich (Hrsg.): Der Koch ist der bessere Arzt. Zum Verhältnis von Diätetik und Kulinarik im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Fachtagung im Rahmen des Tages der Geisteswissenschaften 2013 an der KarlFranzens-Universität Graz, 20. 6. – 22. 6. 2013. (Mediävistik zwischen Forschung, Lehre und Öffentlichkeit 8). Frankfurt am Main 39–62. Glare, P. G. W. (Hrsg.) (1982): Oxford Latin Dictionary. Oxford. Green, Monica H. (2001): The Trotula. A Medieval Compendium of Women’s Medicine. Philadelphia. Hagenmeyer, Christa (1995): Das Regimen Sanitatis Konrads von Eichstätt. Quellen - Texte - Wirkungsgeschichte. (Sudhoffs Archiv Beihefte 35). Stuttgart. Mayer, Johannes Gottfried (2014): Das ‚Leipziger Drogenkompendium‘ und der ‚Gart der Gesundheit‘. Ein Vergleich. In: Lenka Vaňková (Hrsg.): Fachtexte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Tradition und Perspektiven der Fachprosa- und Fachsprachenforschung. (Lingua Historica Germanica 7). Berlin 133–142. Müller, Clemens (2008): Goldpillen und gestählter Wein. Pharmakotherapie und Pharmazeutik im medizinischen Werk Jakob Rufs. Mit drei Glossaren. In: Hildegard Elisabeth Keller (Hrsg.): Jakob Ruf. Werk und Studien. Band 5. Die Anfänge der Menschwerdung. Perspektiven zur Medien-, Medizin- und Theatergeschichte des 16. Jahrhunderts. Zürich 268–340. Schneider, Karin (1973): Die deutschen Handschriften der Staatsbibliothek München: Cgm 351–500. Wiesbaden. Souter, Alexander (1949): A Glossary of Later Latin to 600 A.D. Oxford.
Internetbelege ortus sanitatis, http://www.sil.si.edu/digitalcollections/herbals/TitleImages.cfm?book_id=002 (Stand 09. 07. 2015).
Appendix 1 [Bl. 118r] aNetum Till ist ain chrawt vnd sein sam ist gleich gehaizzen als daz chrawtt vnd ist erczenleich czum andern mal dï wurcz czum dritten mal daz chrawtt von demselben chrawt macht man till öl den sam des Tills mag man behaltten drei Iar vnd den claubt man so der czeitig ist Vnd ist pezzer daz man den schon trükchent vnd Iärleich vernew ain wenig Vnd Ysaac spricht daz der till warm ist an dem end der andern staffen vnd
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trukchen in der mitt So man den vintt Nim Till sam vnd der ist czulegen czu der ercznei. Till sein wirmung ist czwisschen der andern vnd dritten staffell vnd sein awztrukchnung czwisschen der ersten vnd der andern vnd so der wirtt gederrt auf ainer schaufel czum fewr so wirt darawz awztrukchung in dem andern staffell der Till ist czeitigmachund der chaltten fewchtung vnd straygmachen der wintt vnd czu gleicherweis sein öl vnd hat an Im dï letst waichung vnd sein natur ist nahen der materie dï do öffennt vnd dï do trukchen ïst dïselb ist snellerr losung oder macht sneller zu ergeen Dï stät nütczung des tills chrankcht daz gesicht Auicenna Till ist warm vnd vnbecham dem magen vnd macht widderczam vnd mërt dï milch vnd macht den pauch waich. Almansor Choch Till in wasser vnd missch dem selben wasser darczu hönig vnd Salczwasser vnd salcz vnd gib daz tze trinkchen vnd wenn du daz beschawst daz du wellst dem vndäwen vertzihen vnd verharren [Bl. 118v] vnd so du dasselb nuttzs so machst du wol vndawen ob du gifft oder ichts in dich trunchen hast Almansor in dem puch von den gifften in dem ersten capittel des anuangs Till gemischt mit mërwasser oder salczwasser ist warm vnd ist den gut dï vndäwen wellen vnd so man daz nach dem essen nütczt so ist ez schädleich Almansor Vnd awz demselben Till als man spricht ist auch etlicher gar hilfleich für den swären chrampf der do haizzt alcuczet daz man till saff sied vnd dar Inn ainen leon welff oder ain hunts welff oder ain fuchs welff vnd daz also kocht vncz daz ez tzu gët darnach schol man den chrankchen czwir dar Inn taufen oder netczen oder paden Auicenna in dem dritten puch Canonem von dem chrampff der till hat natur czu waichenn vnd czu rainigen vnd tzeitt machen vnd wettig cze setczen Gerhardus permensis Vnd hat gesprochen mesue daz till öl ist seczleich der smertzen vnd ist lösleich vnd auch raytzenleich des swaiss vnd dauon ist ez hilfleich dem swaren fiber so man den rukch oder den dorn des rukchen domit bestreicht vnd dï eddrigen glidder der till raiczt den slaff vnd hilft dem wetag des haubts vnd czerlost dï drüs vnd dï hertichait vnd der sinn seiner wurkchung ist als daz camillen öl.
Appendix 2 [Bl. 127r] aLumen Ist alawn vnd ist warm vnd trukchen auf den dritten staffen Spricht dyascorides dï gestalt [Lücke] ist manigerlay vnd awz den allen sint dreyerlay dï man nutczt czu der ercznei daz zesnitten vnd daz fewcht vnd daz sinnwäll daz zesnitten ist weizz vnd genaigt czu gelchait vnd hertigit vnd dar Inn ist sawrchait daz ez ezzichgt vnd ist als ob ez dï pluem von alawn wär Vnd wirt funden in stainig gestalt vnd daz hat nicht an Im hertigung bey dem gesmakch vnd daz selb ist nicht von dem geslächt aluminis Alumen [Lücke] hat an Im verhabung vnd awztrukchung vnd verhabt den flüzz ains yeden plüts vnd verhabt den lauf der überfluzzichait vnd irr vergiezzunng in sein hertigung ist grozzer wann dï hertigung bedegar vnd aigentleich wenn sein rintt vnd sein wurcz vnd zu gleicherweis sterkcher wann all sein ding. Auicenna26 Alumen ist gêher hertichait vnd festund dï wagunden tzend Almansor Alawn gepuluert als alcohol mit amyd gleich so
112 | Melitta Weiss Adamson uil vnd geplasen in dï naslocher vërstellt den flüz des plüts Almansor Alawn gemengt mit waßer ist gut der weizz der dikch vnd tzeschruntten nägeln Dyascorides Wer do lews In den augen hat der schol dï waschen mit alawn Rasis Alumen rametum ist von dingen dï daz wasser clar machent vnd saygent ob man desselben dar in ain wenig tüt geriben Almansor Alawn mit rosen öl ist gut fur dï anczunttung des fewrs Viaticus27 von der anczünttung des fewrs Alawn mit êntten smalcz [Bl. 127v] ist nütcz den dikchen nägelln vnd der weizz Vnd verscherff Viaticus von der scherff vnd awz den dingen dï do gêherr hilff sint tzu der waichung des tzandflaisch Vnd ist daz man dï fuez mit alawn in ainem czelaßen wasser chraczt vnd reibt so bewigt man den swaizz der fuezz vnd vertreibt den domit Almansor Von alawn vnd von staub mël28 daz in der mül steubt vnd wegreich saff macht man ain gut pflaster fur den chrewzz das contra cancrum
Appendix 3 [Bl. 128r] aMbra haizt dï natur des walfissch etleiche sprechent ez sei von der rainigung von der gepurtt daz do awzgelazzen wirt noch der gepurt Aber ez ist falsch wann dasselb ist vnrain vnd plutuar aber ambra daz ist hausen sam oder natur daz ist weiz vnd vintt man dasselb in graber gestaltt vnd daz ist auch pezzer daz swartz ist czemischt Man välscht dasselb auch mit aloes holczs puluer vnd mit storm [Lücke] halm vnd laudano daz ist ain taw der an etlichen steten in chriechen vellt auf etleich chrautter vnd wirt cläbrig als ain leim wï man dasselb chlaubt daz vintt man in seinem capittel .L. vnd lazt daz in rosenwasser czu geen dartzu tüt man ain wenig ambra daz ist hausensam Aber man erchennt daz ob er gefälscht ist oder nicht wann der falssch lazzt sich peern vnd der gerechte nicht Ambra ist warm vnd trukchen vnd man versiecht sich daz sein wirm sei in dem andern vnd trükchen in dem ersten Ez chumpt zu staten den altten lewtten von der leichtichait wegen seiner29 wirm Ez ist nütcz dem gehirn vnd den synnen Auicenna Ambra ist warm vnd macht daz hirn vnd den leip starkch Almansor Spricht Mesue in dem ersten puch in der ersten tailung dy ambra ist ain lobleich ertznei chreftigt daz hirn vnd daz hertz vnd den magen vnd all glidder vnd macht däwung vnd der daz nütczt den macht ez fröleich vnd wirmt dï glidder der narunghait ez ist hilfleich den altten lewtten vnd den dï chaltter natur sint vnd den weibern vnd den siechtumen in der müter vnd desselben [Bl. 128v] misschung ist daz Nim Cymmerintten etc. als doselbs Ambra daz ist hausen sam gemischt mit laudano daz ist in dem taw den man vintt in chriechen als in seinem capittel aigentleicher geschriben stet von dem .L. lescht awz daz vnczeitig todgeporn chint vnd dï rainigung noch der gepurtt Abber Ambra ist güt vnderraucht widder dï verstopfte müter mit wol30 swekchunden chrawttern oder stuppen also daz man den smak fur dï naslöcher hab Gerhardus parmensis.
Melitta Weiss Adamson
Medizinische Fachtermini im Arzneibuch von Cgm 415 der Bayerischen Staatsbibliothek in München Fußnoten: 2 Kodex Fußnote 1: Friedl (2013: 25–26). Guggi (2013: 28) spricht nur von einem Schreiber im 1. Faszikel, der für die Anmerkungen verantwortlich sei. Sie kommt daher zu dem wohl nicht ganz richtigen Schluss, „dass der Schreiber des zweiten Faszikels den ersten Faszikel nachträglich bearbeitet hat,was eine intensive Beschäftigung mit dessen Inhalt voraussetzt. Der Inhalt des zweiten Faszikels kann daher als Ergänzungangesehen werden“ Guggi (2013: 11).
3 Das Textkorpus Fußnote 2: Zur Kompilation der lateinischen Vorlage des Textkorpus, der Person des Kompilators und den benutzten Quellen siehe Adamson (2014: bes. 55---59). Fußnote 3: Die im Circa instans erwähnten Quellen sind: Antidotarium, Apothecarii, Auctor, Auctores, Auctores omnium herbarum, Compendium Salern., Constantinus, Damascenus, Diascorides, Galienus, Macer, Mulieres, Phisici, Platearius, Saraceni, Salern (quedam Salernitana mulier, Mulieres Salernitanae, Salernitanae, Salernitani) und Rustici. Siehe Wölfel (1939: XVIII).
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4. Inhalt des Arzneibuchs Fußnote 4: Hortus sanitatis (Mainz: Jacob Meydenbach, 1491); siehe ortus sanitatis http://www.sil.si.edu/digitalcollections/herbals/TitleImages.cfm?book_=002. Fußnote 5: Zum Vergleich der Einträge herangezogen wurden die Edition des Circa instans inWölfel (1939) und die Transkription der Handschrift von Dr.KonradGoehl, die die Fehler in derWölfel Edition imApparat vermerkt. Für die Zusendung der Goehl Transkription von MS. 674 (fol. 53ra---98ra) der Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg danke ich Dr. Johannes Gottfried Mayer. Fußnote 6 Bei den meisten Indexwörtern des Arzneibuchs verwendet der Schreiber von Cgm 415 Kleinschrift für den Anfangsbuchstaben und Großschrift für den zweiten Buchstaben. Fußnote 7 gAlline et gallus (Bl. 249r---250v), aNas uel aneta (Bl. 122v---123r), cVbugi (Bl. 205v), cOturnices (Bl. 205v), gRues (Bl. 248v), cAncer fluuialis (Bl. 206r---v), cEruus (Bl. 183v---184r), eQuus (Bl. 228v), aDeps (Bl. 126r---v), bVtirum (Bl. 143v--144v), cErebrum (Bl. 198v---199v), cOr (Bl. 199v), cAput (Bl. 199v), cVtis (Bl. 199v--200r), ePar (Bl. 229r---230r), fEl (Bl. 237r---238r), cAuda (Bl. 199v), iNtestina et viscera (Bl. 261r,Titel ohne Text). Fußnote 8: bElliculi marini (Bl. 151r), cAro leonis (Bl. 184r), cAro ericij (Bl. 184r), lAcertus (Bl. 271r---v), aRanca(Bl. 126v---127r), aMbra (Bl. 128r---v), cApilli adhusti (Bl. 199v), cAnis vrina (Bl. 204r---v), lImatura eboris (Bl. 265v), lIngua auis (Bl. 269r), hOmo (Bl. 251---252r).
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Fußnote 9: aRsenicum et dragagantum et auri pigmentum et lempmas idem (Bl. 116r---v), aVrum coctum (Bl. 119r---120r), aRgentum (Bl. 120r---121r), aLumen (Bl. 127r---v), aNtimonium (Bl. 135r). Fußnote 10: Beim ersten Eintrag fürWasser wurde aqua zwischen Arzneibuchtitel und Indexwort eingefügt (Bl.98r). Fußnote 11: Choulant (1832: 56), IV Allium: Hunc ignotarum potus non laedit aquarum. Nec diversorum mutation facta locorum, / Allia qui mane ieiuno sumpserit ore, Cgm. 415 (Bl. 125v) Aleum: Alea qui mane Ieiuno sumpserit ore / hunc egritarum non ledit potus aquarum / Nec diversorum mutatio facta locorum, vgl. Collectio Salernitana (1859) § 15. Allia qui mane jejuno sumpserit ore, / Hunc ignotarum non laedet potus aquarum, / Nec diversorum mutatio facta liquor uni. Fußnote 12: Choulant (1832: 74 f.) XXXIV Buglossa. Fußnote 13: Wölfel (1939: 48) de enula; Collectio Salernitana (1859) § 36. Enula. Fußnote 14: Nur zweimal wird auf ein Buch Platearius verwiesen, wobei es sich unter Umständen um das Circa instans handeln könnte. Fußnote 15: de aneto. Anetum calidum est et siccum in secundo gradu. Anetum herba est cuius semen principaliter competit usibus medicine, radix secundario, herba tercio. Unde cum invenitur in receptione, de semine intelligendum est. § In vere autem debet colligi semen in ipsa herba exsiccatur, servatur autem per triennium in multa ecacia. Melius tamen est singulis annis renovari. Wölfel (1939: 17) de ambra.
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Ambra calida est et sicca in secundo gradu. Ambra dicitur esse sperma ceti. Alii dicunt quod sit secundina que post partum emittitur. Hoc autem est falsum. Illiud enim impurum est et sanguineum habet colorem. Ambra albi coloris est et si inveniatur grisei coloris melior est. Sophisticatur autem cum pulvere ligni aloes et storace calamita et ladano resolutis addito musco soluto in aqua rosarum, apposita ambra in modica quantitate. Cognoscitur quia sophisticata malaxari potest ut cera, vera ambra non potest. Wölfel (1939: 14).
5. Die deutsche Übersetzung Fußnote 16: anulus war dem Übersetzer und Schreiber oensichtlich nicht bekannt. Auf Bl. 107r wird aninset ausgestrichen und mit anluset ersetzt. Vermutlich handelte es sich dabei um anulus et in der lateinischen Vorlage. Die nachfolgenden Schreibungen von anulus in der Handschrift variieren enorm, von annileser (Bl. 224v), Anuleser (Bl. 238v), anulus et (Bl. 260r) zu annuluset (Bl. 275r). Fußnote 17: aureus wird auf Bl. 193v, 216v und 236r mit dragmagleichgesetzt, auf Bl. 156v und Bl. 166v allerdings alsmynerwann ain dragmabezeichnet, in letzteremFall mitdemZusatz abermannympt ez daz dragma fur ain aureus. Fußnote 18: Auf Bl. 167r werden IX carannt als iiij daguaken[?] vnd ain halbz erklärt. Bei daguaken könnte das spätere dauikch (Bl. 219r) gemeint sein. Fußnote 19: Die genaue Bedeutung ist dem Übersetzer oensichtlich unbekannt. Auf Bl. 249v wird beim ersten Auftreten gar keine Erklärung gegeben und beim zweiten eine Lücke gelassen. Es handelt sich bei dem Wort wohl um cotula, das im Oxford Latin Dictionary mit „A small cup; a liquid measure containing six cyathi, about half a pint‘‘ erklärt wird (Glare 1982: 453).
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Fußnote 20: colirium ist der am meisten erklärte medizinisch-pharmazeutische Terminus im Arzneibuch: ercznei der augen (Bl. 100r), augen ercznei (Bl. 121v), ain clister oder ainen leinntaig dauon gemacht id est colirium (Bl. 165v), augensalb (Bl. 190v), ain salb (Bl. 191r), dünn salb tzu den augen (Bl. 228v), augensalb (Bl. 232r), ain fluzzig augsalb (Bl. 232v), ain waiche dünn augensalb (Bl. 246r), augsalb (Bl. 266v), waiche augen salb (Bl. 278v). Fußnote 21: magdaleones werden auch im vorangehenden Kochbuch erwähnt, siehe Bl. 59v.
6. Lücken Fußnote 22: Für die englische Fassung einer in Wasser oder Pillenform verabreichten Yerapigra Galyeni, die dem Antidotarium Nicolai entstammt, siehe Green (2001: 196).
7. Rezeption Fußnote 23: Dabei handelt es sich wohl um armenische Tonerde und nicht um den vom Übersetzer angegebenen plütstain, vgl. Müller (2008: 295). Fußnote 24: Bocksdorngummi, Traganth, vgl. Müller (2008: 298). Fußnote 25: Obwohl als letzter Eintrag unter dem Buchstaben B gelistet, dürfte es sichumVerbena, Eisenkraut, handeln, vgl. Müller (2008: 308).
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Appendix 2 Fußnote 26: Nota-Händchen am rechten Rand. Fußnote 27: Nota-Händchen am rechten Rand. Fußnote 28: Nota-Händchen und unleserliches Wort am linken Rand. Fußnote 29: Nota-Händchen und Glosse dy ambra medicina optima am rechten Rand. Fußnote 30: Nota-Händchen und darüber das Wort ambra am linken Rand.
Kathrin Chlench-Priber
Ein Gebet wider die plag der malefrantzoß 1 Einleitung Das Gebet wider die plag der malefrantzoß ist nach derzeitigem Stand in neun Textzeugen des 15. und 16. Jahrhunderts auf uns gekommen. 1. Augsburg, Stadt- und Staatsbibliothek 4° Cod. 149, 372v [Sammelhandschrift des Kalligraphen Leonhard Wagner; Einzelaufzeichnung; Augsburg bis 1522; schwäbisch] 2. Budapest, Nationalbibliothek Cod. germ. 16, 70v–71v [Gebetbuch der Magdalena vom Stein, illustriert; Augsburg um 1509/1510; bairisch-österreichisch] 3. München, BSB Cgm 467, 168v–169v [Medizinische und Haus- und Gartenbaurezepte, Segen, (Gebet nachgetragen 1637 von Christopherus Krell, Stadttürmer zu Landshut 1646 und später um 1650 zu Freising; mittelbairisch)] 4. München, BSB Cgm 5351, 178r–179v [Gebetbuch illustriert; 15. Jahrhundert; bairisch] 5. München, BSB Clm 6047, 171v [lat. geistl. Literatur; 1498, deutsche Gebete später nachgetragen; bairisch] 6. München, UB 8° Cod. 266, 1v (fragmentarisch) [Gebetbuch; 1513, Gebet später nachgetragen; bairisch] 7. München UB 8° Cod. 267, 188r–189v [Gebetbuch; 1502, Gebet später nachgetragen; Augsburg?; schwäbisch] 8. Moskau, Bibl. der Lomonossow-Universität, Dokumentensammlung Gustav Schmidt, Fonds 40/1, Nr. 48 (früher Halberstadt, Bibl. des Domgymnasiums, ohne Sign. (6); Einlageblatt aus Halberstadt, Bibl. des Domgymnasiums, Cod. 1461 ) [vor 1476; niederdeutsch] 9. Wien, Johann Winterburg, [1503/10(?)]. Einblattdruck Fur die platern Malafrantzosa2
1 Der Trägerkodex ist verschollen; eine Handschriftenbeschreibung ohne die Erwähnung des Einlageblatts findet sich bei Schmidt (1881): 11. Die Provenienz der Handschrift wird nicht angegeben. Da sich in Cod. 146 jedoch Exzerpte einer St.-Ulrichs-Vita sowie Texte über die große Pest in Magdeburg 1463 finden, könnte sie aus dem Umfeld des Klosters „Unser lieben Frauen“ zu Magdeburg stammen. Dem Probst des Klosters, dessen Bestände in die Gymnasialbibliothek Ende des 19. Jahrhunderts übergingen, wurde 1349 das Patronat über die St. Ulrichs-Kirche zu Magdeburg übertragen. Vgl. Schmidt (1878): 4. 2 Nr. 04418 im Gesamtkatalog der Wiegendrucke, Einbl 648. VE15 G-30. Langer II,2. BSB-Ink (G-96). ISTC ig00112400. Vgl. http://gesamtkatalogderwiegendrucke.de/docs/BLATTER.htm (Stand: 2.7.2014). Frieder Schanze präzisiert die lange Zeit transportierte Datierung von um 1500 auf nach 1503 und vor DOI 10.1515/9783110524758-009
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Es handelt sich um acht Manuskriptzeugen und einen Druck. Die Handschriften Nr. 2, 4, 6 und 7 überliefern den Text in Privatgebetbüchern oder im Fall von Nr. 5 im Kontext geistlicher lateinischer Literatur und entstanden allesamt um 1500. Lediglich die Augsburger Handschrift des Kalligraphen Leonhard Wagner ist als gemischte Sammelhandschrift zu charakterisieren, da sie diverse Texte in sich vereint, die bis ins Jahr 1522 zusammengestellt wurden. Cgm 467 enthält medizinische Haus- und Gartenbaurezepte nebst Segen aus dem 15. Jahrhundert; das hier behandelte Gebet wurde erst 1637 von Christopherus Krell, dem späteren Stadttürmer zu Landshut und zu Freising nachgetragen. Eine Sonderstellung nehmen die letzten beiden Zeugen ein. Sowohl bei der Moskauer Handschrift, dem einzigen niederdeutschen Textträger, als auch beim Druck handelt es sich jeweils um ein einzelnes Blatt als Überlieferungsträger. Das Gebet wurde in der medizinhistorischen wie auch germanistischen Forschung bereits zur Kenntnis genommen, diskutiert und sogar vierfach ediert. Ein erster Textabdruck des niederdeutschen Zeugen findet sich 1877 bei Gustav Schmidt im Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung (vgl. Schmidt 1877: 64– 65, Nr. 2c), die zweite Edition des niederdeutschen Gebets und des Einblattdrucks jeweils samt Faksimile besorgte Karl Sudhoff 1912 (vgl. Sudhoff 1912a: 23–24, Taf. XXII), ein weiterer Abdruck der hochdeutschen Version des Einblattdrucks stammt aus dem Jahr 1996 von John L. Flood (vgl. Flood 1996: 208), und schließlich erarbeitete Catherine Squires eine dritte Edition des niederdeutschen Zeugen, der sie eine weiterführende Untersuchung voranstellt (vgl. Squires 2008). Während es Schmidt vor allem darum ging, ein Manuskript der damaligen Halberstädter Bibliothek öffentlich zu machen, beschäftigten sich Sudhoff, Flood und Squires vor allem oder zumindest in Teilaspekten mit der im Gebet verhandelten Krankheit. Im Folgenden möchte ich das Gebet wider die plag der malefrantzoß untersuchen und dabei die Darstellung des Heilkonzepts, die Wahrnehmung der beschriebenen Krankheit sowie die genannten Krankheitsnamen samt ihrer Semantik in den Blick nehmen und dabei auf die forschungsgeschichtlichen wie aktuellen Debatten um das Gebet eingehen.3
1510. Vgl. Schanze (2000): 75–76 (Nr. 36). Ein Abdruck des Flugblatts findet sich bei Sudhoff (1912a), 23, Tafel XXI; ebenso bei Flood (1996): 208. 3 Vgl. u. a. die Diskussion im Handschriftencensus von Catherine Squires und Gisela Kornrumpf. http://www.handschriftencensus.de/8235 (Stand: 31.7.2014).
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2 Das Heilkonzept Formal ist der hier zu untersuchende Text in zwei Teile gegliedert: die Gebetsbeischrift und das Gebet.4 Die Beischrift weist den je nach Überlieferungsträger nachfolgenden oder vorangehenden Haupttext eindeutig als Gebet aus.5 Dies wird auch durch die Überlieferung des Texts in Gebetbüchern sowie die einseitige Sprecherrolle gestützt, welche sich an eine höhere Macht, den „Herrn des Himmels“, wendet, so dass die oftmals schwierige Abgrenzung von Beschwörung, Segen und Gebet in diesem Fall nicht diskussionsbedürftig, wohl aber auszuschärfen ist (vgl. Hampp 1961: 138).6 Gleichzeitig informiert die Beischrift darüber, wie das Gebet anzuwenden ist: o
Id is to weten, dat dit bet gud is vor (de m)ala francosa vnde is gevunden in (en)em olden to stotten closter in franckrike in eyner steynen sule maliers genant; dat het ge stan twe hundert iar vnde ver iar na cristus bort vnde do het me disse crancheit genant de bledderen sunte iob. we dit bet bi sik drecht edder alle dage spricket mit rechter andacht, de is seker vor den bladderen genant iobs bledderen edder malafrantzosa, vnde mescal to den ersten spreken v pater noster vnde dit bedeken.7
Durch das Sprechen des Haupttexts soll ein Schutz vor der Krankheit erreicht werden, welche als bledderen sunte iob oder malafrantzosa bezeichnet wird;8 das Heilkonzept lässt sich also als das eines vorsorglichen Gesundbetens charakterisieren und rückt das Gebet gemäß seiner Verwendung in die Nähe der Beschwörung. Denn unter einer Beschwörung sind gemäß RGG4 mächtige Worte zu verstehen, „die selber etwas direkt leisten sollen“ (Alles 2000: 483). Laut Beischrift wird die Macht des Gebets jedoch nicht nur durch Sprechen, sondern auch durch seine Verwendung als Amulett entfaltet. Es liegt hierbei die Vorstellung zugrunde, dass die Macht des Wortes auf sein Trägermedium, den Beschreibstoff Papier, Pergament, Wachs oder aber auch etwas Essbares, wie Brot, Käse oder eine Hostie, übergeht.9 Das Mitführen des Schriftstücks, welches das Gebet verzeichnet,
4 Zusätzlich weisen die drei erstgenannten Zeugen eine Überschrift auf; der Einblattdruck verfügt neben einer Überschrift außerdem über einen Holzschnitt, auf dem Hiob mit Hautausschlag (vgl. Iob 2,8), der ihn geißelnde Teufel (vgl. Iob 2,7), zwei Musikanten und im Hintergrund ein brennendes Haus (vgl. Iob 1,16–19) abgebildet sind. Ikonographisch sind die Darstellung Hiobs mit dem geißelnden Teufel sowie die Hiobs mit Musikanten ein häufig dargestelltes Motiv. Vgl. Terrien 1996: 107–126; Opel 2013: 131–136; Heymel 2013: 160. 5 Die Beischrift fehlt in der Budapester und den Münchener Handschriften UB 8° Cod. 266 und Clm 6047; sie wurde als Superskription in der Augsburger Handschrift, Cgm 5351 und dem Moskauer Manuskript notiert, in den drei übrigen Zeugen als Subskription. 6 Zum Verhältnis von Gebet und Zauberspruch vgl. Pfister 1930/31. 7 Text wiedergegeben nach der Moskauer Handschrift; eine moderne Interpunktion wurde hinzugefügt, Abkürzungen recte aufgelöst, beschädigte Stellen wurden rund geklammert. 8 Zur Verwendung des Namens Hiobskrankheit vgl. Bloch 1901: 82–83. 9 Zu Trägermedien von Beschwörungstexten und deren Verwendung vgl. Schulz 2003: 20–22.
116 | Kathrin Chlench-Priber schütze – so die Gebetsanweisung – vor der beschriebenen schrecklichen Krankheit.10 Der Gebrauch von Amuletten wurde in der theologischen Diskussion insofern als problematisch bewertet, als Amuletttragen auf heidnische Gebräuche zurückgeht und zudem nicht der angerufene Gott oder Fürsprecher die im Gebet vorgetragene Bitte gewährt oder befördert, sondern bereits das gesprochene oder geschriebene Wort direkt seine Wirkung entfaltet.11 Nichtsdestotrotz war der Gebrauch von Textamuletten in Spätmittelalter und früher Neuzeit weit verbreitet, auch wenn nur wenige solcher Schriftstücke auf uns gekommen sind. So ist es ein glücklicher Zufall der Überlieferung, dass sich nicht nur ein Einblattdruck erhalten hat, der theoretisch als Amulett hätte verwendet werden können, sondern auch ein handschriftlicher Zeuge, nämlich das Blatt der Bibliothek der Lomonossow-Universität Moskau aus der Dokumentensammlung Gustav Schmidt. O leue here hymmels vnde der erden, de du den geduldigen iob dorch dyne vor hengnenisse letest slan dorch den vint der mynschen mit den heftigen plagen, dat neyn mynsche gewan mit so groter lemynge der lede van den voten wente to dem schetele vor seriget wart, sulke plage weddervmme hest van ome genomen dorch syner groten gedult. ik vor mane dik, schepper himmels vnde der erden, des ge loftes mit noe, des vor esschinge abrahe, des iuramentes na der ordineringe melchizedech, der erwachtinge symeonis, den du allen des olden testamentes geleistet hest in ewicheit. hef vp disse plaga der bladderen, mala franczosa genant, vnde lat mik armen sunderinnen nich beflecket werden. gedencke der hilgen vorsonynge mit noe twischen dik vnde den mynschen, den sintflot nummer to senden. gedencke ab(r)ahammes biddinge iegen sodoma vnde gomorra vnde vorlat mik sulker plaga dorch disse hilgen vormanynge vnde vnutsprekelike barmherticheit. behode vnde beschutte vnder dyne beschuttinge vor dem slanden engel disser plage, de dubist god vader mit dem sone vnde dem hilgen geiste van ewicheit to ewicheit iummer mer vnde ewichliken. Amen.
Der Gebetstext beginnt mit der Invocatio Gottes als Herr über Himmel und Erde, der die Geschicke des Menschen aktiv beeinflussen kann. Im Anschluss wird auf das alttestamentliche Buch Hiob 2,7 referenziert: egressus igitur Satan a facie Domini percussit Iob ulcere pessimo a planta pedis usque ad verticem eius. Hiob führte ein überaus gottgefälliges Leben und war mit Kindern und Reichtum gesegnet. Der Satan zweifelte Hiobs Gottestreue an, doch nachdem Gott Hiob seinen Reichtum und seine Kinder genommen hatte, hielt dieser weiter an Gott fest. Dies ließ den Satan, im Gebet als vint der mynschen charakterisiert, nicht eher ruhen, bis er die Erlaubnis Gottes be-
10 Zu umfassenden Untersuchungen zur Verwendung und Überlieferung von mittelalterlichen Textamuletten vgl. Skemer 2006; Skemer 2001; Skemer 1999. 11 Zur Bewertung von Amuletten bei Augustinus und dem weit reichenden Einfluss seiner Sichtweise im Mittelalter vgl. Skemer 2006: 30–33, zur unterschiedlichen Bewertung von Amuletten und der Verwendung von schwarzer oder weißer Magie im 12. und 13. Jahrhundert vgl. Skemer 2006: 58–64; zur gemäßigten Bestrafung der Amulettverwendung durch die Kirche und im Gegensatz dazu der strikten Zurückweisung durch Inquisition und Prediger im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit vgl. Skemer 2006: 65–68; zum Amuletttragen als in Beichtspiegeln gerügte Verfehlung und zur Position der Kirche samt ihrer Vertreter vgl. Holzmann 2001: 23–28.
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kam, Hiob zusätzlich mit einer furchtbaren Hautkrankheit zu schlagen. Da Hiob diese Prüfung aber geduldig ertrug und letztlich nicht von Gott abfiel, gab ihm Gott seine Gesundheit zurück.12 Mit dem Aufrufen der alttestamentlichen Hiobserzählung wird daran erinnert, dass Gott nicht nur die Macht hat, Krankheiten zu schicken, sondern auch wieder zu heilen. Diese Vorstellung von Krankheiten als Zeichen Gottes ist in Mittelalter und früher Neuzeit typisch.13 Insofern ist das Beten um göttliche Gnade für Heilung noch vor allen medizinischen Therapien, die eine von Gott gesandte Krankheit allein nicht zu heilen vermögen,14 die erste Maßnahme – auch wenn die Beischrift suggeriert, dass der Gebetstext an sich schon eine schützende oder heilende Funktion habe.
3 Die Wahrnehmung der beschriebenen Krankheit Im Gebetstext schließen sich an die Hiobsgeschichte drei Erinnerungen an, und zwar an das Versprechen Gottes an Noah15 , an das Anliegen Abrahams,16 den Schwur nach der Ordnung Melchisedeks17 und an die Erwartung18 Simeons, die allen Altvorderen des Alten Testaments zuteil werden soll. Eine genauere Erklärung dessen, was sich hinter den angesprochenen Ereignissen verbirgt, unterbleibt vorerst. Stattdessen folgt eine Bitte um göttliche Hilfe gegen die Franzosenkrankheit, welche durch den Gebrauch der Imperative nahezu Befehlscharakter hat: „hef vp disse plaga der bladde-
12 Hiob fungierte aus diesem Grund im Mittelalter und auch darüber hinaus als Patron gegen Hautkrankheiten, vgl. Flood 1996: 207–208. 13 Zur vorherrschenden Auffassung von Krankheiten als Zeichen Gottes, welche als Prüfung oder aber als Strafe für Sünden zu interpretieren sind, vgl. Stein 2003: 39–52. 14 Zur Auffassung der Unheilbarkeit der Hiobskrankheit vgl. Arrizabalaga 1997: 52–54. 15 Gn 9,11: statuam pactum meum vobiscum et nequaquam ultra interficietur omnis caro aquis diluvii neque erit deinceps diluvium dissipans terram. [Ich habe meinen Bund mit euch geschlossen: Nie wieder sollen alle Wesen aus Fleisch vom Wasser der Flut ausgerottet werden; nie wieder soll eine Flut kommen und die Erde verderben.] 16 Als Bezugstext wurde der Wortlaut der Moskauer Handschrift gewählt; die Überlieferung der restlichen Überlieferungsträger weicht jedoch ab. 17 Gn 18–20: at vero Melchisedech rex Salem proferens panem et vinum erat enim sacerdos Dei altissimi / benedixit ei et ait benedictus Abram Deo excelso qui creavit caelum et terram / et benedictus Deus excelsus quo protegente hostes in manibus tuis sunt et dedit ei decimas ex omnibus“ [Aber Melchisedek, der König von Salem, trug Brot und Wein heraus. Und er war ein Priester Gottes des Höchsten / und segnete ihn und sprach: Gesegnet seist du, Abram, vom höchsten Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat; / und gelobt sei Gott der Höchste, der deine Feinde in deine Hand gegeben hat. Und Abram gab ihm den Zehnten von allem.]; Ps 109,4: „iuravit Dominus et non paenitebit eum tu es sacerdos in aeternum secundum ordinem Melchisedech. [110,4 Der Herr hat geschworen und es wird ihn nicht gereuen: Du bist ein Priester ewiglich nach der Weise Melchisedeks.] 18 Als Bezugstext wurde auch hier der Wortlaut der Moskauer Handschrift gewählt; die Überlieferung ist jedoch stark variant.
118 | Kathrin Chlench-Priber ren mala franczosa genant. vnde lat mik armen sunderinnen nich beflecket werden.“ Squires weist auf die übertragene Bedeutung von beflecken (nhd. verschmutzen) als Zeichen der seelischen Beschmutzung hin und auch Flood will „Pockennarben als äußeres Zeichen der inneren Sündhaftigkeit“ verstanden wissen (vgl. Flood 1996: 208; vgl. auch Squires 2008: 345). In der vorgängig erwähnten Hiobserzählung ist jedoch seine schreckliche Hautkrankheit gerade nicht als Zeichen seiner Sündhaftigkeit zu verstehen. Hiob wurde nicht aufgrund von schlechtem Verhalten durch die Krankheit bestraft, sondern vielmehr handelte es sich um eine Prüfung seiner Glaubensfestigkeit. Die Sichtweise, eine Krankheit nicht durch moralisch verwerfliche Handlungen provoziert zu haben, sondern trotz einer tadellosen Lebensweise akzeptieren zu müssen, ist also im Gebetstext impliziert. Erst im Anschluss an die vorgetragene Bitte wird das Versprechen Gottes an Noah, die Sintflut nicht zu wiederholen (vgl. Is 54,9–10)19 , ausgeführt. Die Franzosenkrankheit wird offenbar als ähnlich bedrohlich wie eine Katastrophe wahrgenommen, welche die gesamte Menschheit ausrotten könnte. Als nächstes wird an Abrahams Gebet für die Gerechten Sodoms und Gomorras erinnert, die Gott bei der Vernichtung Sodoms verschonen wollte (vgl. Gn 18,23–32).20 Die Parallelisierung mit der Situation So-
19 Is 54,9–10: sicut in diebus Noe istud mihi est cui iuravi ne inducerem aquas Noe ultra super terram sic iuravi ut non irascar tibi et non increpem te / montes enim commovebuntur et colles contremescent misericordia autem mea non recedet et foedus pacis meae non movebitur dixit miserator tuus Dominus. [Ich halte es wie zur Zeit Noahs, als ich schwor, dass die Wasser Noahs nicht mehr über die Erde gehen sollten. So habe ich geschworen, dass ich nicht mehr über dich zürnen und dich nicht mehr schelten will. / Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer.] 20 Gn 18,23–32: et adpropinquans ait numquid perdes iustum cum impio / si fuerint quinquaginta iusti in civitate peribunt simul et non parces loco illi propter quinquaginta iustos si fuerint in eo / absit a te ut rem hanc facias et occidas iustum cum impio fiatque iustus sicut impius non est hoc tuum qui iudicas omnem terram nequaquam facies iudicium / dixitque Dominus ad eum si invenero Sodomis quinquaginta iustos in medio civitatis dimittam omni loco propter eos / respondens Abraham ait quia semel coepi loquar ad Dominum meum cum sim pulvis et cinis / quid si minus quinquaginta iustis quinque fuerint delebis propter quinque universam urbem et ait non delebo si invenero ibi quadraginta quinque / rursumque locutus est ad eum sin autem quadraginta inventi fuerint quid facies ait non percutiam propter quadraginta / ne quaeso inquit indigneris Domine si loquar quid si inventi fuerint ibi triginta respondit non faciam si invenero ibi triginta / quia semel ait coepi loquar ad Dominum meum quid si inventi fuerint ibi viginti dixit non interficiam propter viginti / obsecro inquit ne irascaris Domine si loquar adhuc semel quid si inventi fuerint ibi decem dixit non delebo propter decem. [Er trat näher und sagte: Willst du auch den Gerechten mit den Ruchlosen wegraffen? / Vielleicht gibt es fünfzig Gerechte in der Stadt: Willst du auch sie wegraffen und nicht doch dem Ort vergeben wegen der fünfzig Gerechten dort? / Das kannst du doch nicht tun, die Gerechten zusammen mit den Ruchlosen umbringen. Dann ginge es ja dem Gerechten genauso wie dem Ruchlosen. Das kannst du doch nicht tun. Sollte sich der Richter über die ganze Erde nicht an das Recht halten? / Da sprach der Herr: Wenn ich in Sodom, in der Stadt, fünfzig Gerechte finde, werde ich ihretwegen dem ganzen Ort vergeben. / Abraham antwortete und sprach: Ich habe es nun einmal unternommen, mit meinem Herrn zu reden, obwohl ich Staub und Asche bin. / Vielleicht fehlen an den fünfzig Gerechten fünf. Wirst du wegen der fünf die ganze
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doms und Gomorras verdeutlicht, dass die Krankheit als eine alles auslöschende Kraft betrachtet wird, von der der Beter jedoch bei gottgefälliger Lebensführung und durch einen Fürsprecher hofft, verschont zu bleiben. Durch den oben genannten Verweis auf die Ordnung des Melchisedek (Ps 109,4), der Abraham mit Brot und Wein speiste und segnete (Gen 14,18–20), die nach typologischem Verständnis der Kirchenväter die unblutigen Opfergaben die Eucharistie vorausbilden (vgl. Böttrich 2014), wird auf die Erlösung der Menschheit durch Christus hingedeutet. Diese Vorausdeutung würde auch zu dem gerechten und frommen Simeon passen (vgl. Lc 2,25)21 , der bei der Darstellung Jesu im Tempel im Jesuskind den Messias erkennt. Da der Passus über Simeon starke Überlieferungsvarianten aufweist und im Gebetstext nicht wieder aufgegriffen wird, ist die eindeutige Zuordnung zu einer Person schwierig. Das Moskauer Manuskript schreibt von der erwachtinge (= Erwartung) symeonis und ließe sich auf den neutestamentlichen, bei Lukas erwähnten Simeon beziehen. Dies gilt auch für die Augsburger Handschrift, in der von der aufenthaltung (= Duldung, Aushalten) S:meon des gerechten zu lesen ist. Alle anderen Handschriften weichen im Wortlaut ab. In der überwiegenden Zahl der Überlieferungsträger ist von der erhebung (= Erhebung, Heiligsprechung) S:meonis bzw. Simons zu lesen.22 Denkbar wäre es auch in diesen Handschriften, dass auf den gerechten und frommen neutestamentlichen Simeon verwiesen wird, der als Heiliger verehrt wurde. Infrage kämen aber ebenso Simeon der Bischof von Jerusalem, der Bruder oder Neffe Christi, welcher den Märtyrertod erlitten hat oder sogar der alttestamentliche Simon der Makkabäer (vgl. 1 Mac 13,1–16,22), der das Volk der Juden mit Gottes Hilfe zum Frieden führte und zum Fürsten und Hohepriester gemacht wurde. In der Münchener Handschrift 8° Cod. 267 lautet die Stelle mit Folgepassus Dar vm ermanen ich dich [...] der verenderúng Símeonis mätteren des alten testamentz dú verhaisen haúst. Es wird von der Veränderung Simeons gesprochen. Inwiefern die Nominalgruppe mätteren des alten testamentz als Apposition auf Simeon zu beziehen ist, geht aus dem syntaktischen
Stadt vernichten? Nein, sagte er, ich werde sie nicht vernichten, wenn ich dort fünfundvierzig finde. / Er fuhr fort, zu ihm zu reden: Vielleicht finden sich dort nur vierzig. Da sprach er: Ich werde es der vierzig wegen nicht tun. / Und weiter sagte er: Mein Herr zürne nicht, wenn ich weiterrede. Vielleicht finden sich dort nur dreißig. Er entgegnete: Ich werde es nicht tun, wenn ich dort dreißig finde. / Darauf sagte er: Ich habe es nun einmal unternommen, mit meinem Herrn zu reden. Vielleicht finden sich dort nur zwanzig. Er antwortete: Ich werde sie um der zwanzig willen nicht vernichten. / Und nochmals sagte er: Mein Herr zürne nicht, wenn ich nur noch einmal das Wort ergreife. Vielleicht finden sich dort nur zehn. Und wiederum sprach er: Ich werde sie um der zehn willen nicht vernichten.] 21 Lc 2,25: et ecce homo erat in Hierusalem cui nomen Symeon et homo iste iustus et timoratus expectans consolationem Israhel et Spiritus Sanctus erat in eo. [Und siehe, ein Mann war in Jerusalem, mit Namen Simeon; und dieser Mann war fromm und gottesfürchtig und wartete auf den Trost Israels, und der Heilige Geist war mit ihm.] 22 Vgl. Budapest, Nationalbibliothek Cod. germ. 16, München, BSB Cgm 5351 sowie im Druck; dieser Passus ist nicht in München, UB 8° Cod. 267 und München, BSB Cgm 6047 zu finden; lediglich Cgm 467 schreibt erhörung s:meonis.
120 | Kathrin Chlench-Priber Umfeld nicht klar hervor, da die Satzstruktur defekt ist.23 Der Text dieser Handschrift könnte am ehesten auf den alttestamentlichen Simeon, den zweitältesten Sohn Jakobs, bezogen werden, der Josef, den Lieblingssohn seines Vaters, töten lassen wollte und zornig auf seinen Bruder Juda war, weil dieser die Tat abwendete; im apokryphen Testament Simeonis bereut er seinen Zorn. Insgesamt erscheint es zwar denkbar, dass Simeon, in eine Reihe gestellt mit weiteren alttestamentlichen Persönlichkeiten (Noah, Abraham und Melchisedek), als Person des Alten Testaments anzusehen ist. Da der Großteil der Zeugen jedoch sprachlich am ehesten eine Lesart von Simeon als einem Märtyrer oder Heiligem stützt und zudem der Augsburger wie auch der niederdeutsche Zeuge beide auf Simeon den Gerechten deuten, ist anzunehmen, dass sich der Gebetstext auf den neutestamentlichen, bei Lukas erwähnten Simeon den Gerechten bezieht.24 Ohne auf den Gedanken der Erlösung der Menschen durch Christus, die durch den Verweis auf Melchisedek anklingt, oder auf die Bedeutung Simeons einzugehen, schließt sich direkt an die Erinnerung an das Gebet Abrahams die Bitte um Verschonung vor der Krankheit an. Es folgt eine weitere Bitte für den Schutz vor dem schlagenden Engel, dessen Erwähnung einen Rückbezug zur eingangs erwähnten Hiobsgeschichte herstellt, da dort der vint der mynschen als derjenige erwähnt wurde, der die Menschen mit den heftigen plagen schlug. Der Text endet mit einer Gebetsschlussformel. Die Struktur des Gebets erscheint kompliziert, da die Hiobserzählung und die Erinnerungen an die biblischen Personen miteinander verwoben wurden. Beide Erzählkomplexe fungieren als Historiola: die in der Vergangenheit geschehene göttliche Heilung Hiobs und die Rettung Noahs, das Gebet Abrahams sowie die Erwartung Simeons sollen auf die gegenwärtige Situation übertragen werden: Vergangenheit und Gegenwart werden zu einem verschmolzen (vgl. Schulz 2003: 29–33).25 Die durch das Gebet zu bannende Krankheit wird mit der in der Bibel dargestellten furchtbaren Hautkrank-
23 Der genaue Wortlaut von München UB, 8° Cod. ms. 267 lautet: Dar vm ermanen ich dich schöpfer himels vnd der erden des pactz mit Noe. Der haisung Abrahe. Des gelipts ward der ordnúng Melchisedech vnd aúch (189r) der verenderúng Símeonis mätteren des alten testamentz dú verhaisen haúst / geschworen vnd gelopt durch dúrch [sic!] deinen hailigen nam jn ewigkait. 24 Simeon der Gerechte wurde lediglich am 16. März im französischen Apt, am 8. Oktober in Salzburg und am 2. Februar in Halle an der Saale verehrt. Dies ist insofern ein interessantes Detail, als Halle an der Saale in geographischer Nähe des Dialektraumes liegt, aus welchem das niederdeutsche Gebet stammt. Vgl. sub voce Simeonis iusti. Grotefend: 2007. 25 Eine solche epische Einkleidung zeigt sich auch als einleitender Teil einer ganzen Reihe von mittelalterlichen zweiteiligen Zaubersprüchen, Beschwörungen und Segen, doch anders als charakteristischerweise in diesen sind die mehrfach formulierten Bitten um Heilung und Verschonung im Gebet nicht direkt an die Historiola angeschlossen und auch nicht an die Krankheit, sondern an Gott gerichtet. Zur nicht immer zweifelsfreien Kategorisierung von Zaubersprüchen, Beschwörungen und Segen nach ihrer äußeren Form vgl. Hampp 1961: 174–265; Holzmann 2001: 79–80, 115–116, 125–126; Riecke 2004: 106–110.
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heit Hiobs, die als Prüfung zu verstehen ist, sowie den Katastrophen der Sintflut und der Zerstörung Sodoms und Gomorras, welche als Strafe für Sünden geschahen, in Beziehung gesetzt. Die wahrgenommene Bedrohung durch die plaga der bladderen mala franczosa ist ganz erheblich, ebenso wie die Wertschätzung des Gebets als wirksamer Schutz gegen die Krankheit. Die Vorderseite des ältesten erhaltenen Überlieferungsträgers aus Moskau wurde von einem geübten Schreiber gefertigt; das Einrichtungsmuster mit Rubrik, Initiale und andersfarbigem Gebetstext entspricht einem gängigen Typus von spätmittelalterlichen Privatgebetbüchern – eine Vorlage in diesem Bereich könnte angenommen werden. Ganz anders jedoch die Rückseite des Dokuments, welche in einer nachlässigen Kursive von mehreren Händen mit kaufmännischen Notizen beschrieben wurde. Beides will nicht zusammenpassen, erlaubt aber immerhin den Schluss, dass dem Gebetstext eine solche Wertschätzung entgegengebracht wurde, dass man ihn von einem professionellen Schreiber anfertigen ließ. In den beiden illuminierten Handschriften Budapest in Cod. germ. 16 und Cgm 5351 ist das Gebet genau wie der Großteil der übrigen dort verzeichneten Gebete in ordentlicher Textura notiert, wobei in der Budapester Handschrift allerdings die Beischrift weggelassen wurde, welche die Verwendung als Textamulett erklärt. Anders verhält es sich bei den übrigen Textzeugen, in denen das Gebet als Einzelaufzeichnung greifbar wird. In den Gebetbüchern der Münchener Universitätsbibliothek 8° Cod. 266 und 8° Cod. 267 sowie in Clm 6047 ist der Text nachgetragen und in äußerst nachlässiger Schrift notiert, die im Clm zudem so klein und liederlich ist, dass sie kaum entziffert werden kann. Dies erweckt den Eindruck, als handle es sich um eilig aufgeschriebenes Arkanwissen. Davon zeugen auch die Aufnahme in die Sammelhandschrift des Kalligraphen Leonhard Wagner sowie der Nachtrag in Cgm 467. Der Bedarf, dieses Gebet als Schutz vor Krankheit festzuhalten, ging sogar so weit, dass der Drucker Johann Winterburg Abstriche bei der Textqualität in Kauf nahm und das Gebet trotz einiger stark entstellter Passagen druckte: O herr hymels vnd der (e)rden26 der du den gdultigen iob durch verhengnuß liesest slahen Durch den veint des menschen mit den haftigen platern So die kain mensch nie gewan mit so grosser leng. Der glider von fueß piß auf die schaitln verletzt ward. Soliche plag widerumb von Im auf gehaben.
Inhaltlich wie syntaktisch ist diese Stelle defekt. Über Hiobs Leiden wird in den anderen Überlieferungsträgern berichtet, dass er mit sölicher lemung der gelider27 , mit ainer o söllich erkr˝ymung seiner gelider 28 , mit einer solchen verserung der glider29 oder mit sol-
26 Schlecht oder nicht lesbare Zeichen wurden in runde Klammern gesetzt. 27 Vgl. Augsburg, Stadt- und Staatsbibliothek 4° Cod. 149; Budapest, Nationalbibliothek Cod. germ. 16; München, BSB Cgm 467; Moskau, Bibl. der Lomonossow-Universität, Dokumentensammlung Gustav Schmidt, Fonds 40/1, Nr. 48. 28 München, BSB Cgm 5351. 29 München, BSB Clm 6047.
122 | Kathrin Chlench-Priber cher zamenziechúng der gelider30 geschlagen wurde.31 Die Lesart des Drucks jedoch, mit so grosser leng, welche höchstwahrscheinlich als Verlesung von leng aus lemung32 zu Stande kam, nennt nicht das Krankheitssymptom, sondern ließe sich höchstens auf die Krankheitsdauer beziehen. Den beiden Folgesätzen, welche durch die Interpunktion eindeutig als solche markiert sind, fehlen das Subjekt bzw. das finite Verb.33
4 Die Semantik der im Gebet verwendeten Krankheitsnamen Um auf die im Gebet genannten Krankheitsnamen und deren Bedeutung einzugehen, greife ich zunächst den niederdeutschen, genauer den ostfälischen34 Textzeugen heraus; alle anderen Überlieferungsträger stammen aus dem östlichen oberdeutschen Sprachraum. Catherine Squires, die das Moskauer Blatt ausführlich untersuchte, hat als erste nach Karl Sudhoff auf die überregionale Tradition des Gebets hingewiesen und außerdem einen Datierungsvorschlag von ca. 1476 gemacht. Sie nahm aufgrund des paläographischen und materialwissenschaftlichen Befundes an, dass die kaufmännischen Notizen auf der Rückseite des Blattes, wo die Jahreszahl 1476 zu lesen ist, kurz nach der Vorderseite mit dem Gebetstext beschrieben worden sei. Später habe man dann das Blatt beschnitten, um es zu der heutigen Form zusammenzufügen (vgl. Squires 2008: 348, 349).35 Der frühe Datierungsvorschlag des Überlieferungszeugen um oder vor 1476 erscheint auf den ersten Blick deswegen bemerkenswert, weil in
30 München, UB 8° Cod. 267. 31 Zum Zusammenhang der beschriebenen Symptome im Kontext weiterer frühneuzeitlicher Quellen der Franzosenkrankheit vgl. Stein 2003: 68–71. 32 Unsicherheiten der Lesart spiegeln sich auch in Cgm 467, wo lemung aus lenung durch einen übergeschriebenen Bogen korrigiert wurde, und in 8° Cod. 266, wo leginne zu lesen ist. 33 Der glider von fueß piß auf die schaitln verletzt ward. fehlt das vom Prädikat geforderte Subjekt, da Der glider wohl schwerlich als Nominativ bestimmt werden kann. Wenn man den Satz als Relativsatz zu ‚mensch‘ auffasst, ein zweites der ergänzte, so dass der Satz der der glider von fueß piß auf die schaitln verletzt ward lautete, dann würden zumindest das ergänzte Subjet und das Prädikat verletzt ward kongruieren. 34 Charakteristisch hierfür sind die östfälischen Kennformen mik und dik für den Dativ und Akkusativ des Reflexivpronomens (§ 403, Anm. 2), disse als Form für den Akkusativ Singula femininum des zusammengesetzten Demonstrativums (§ 407, Anm. 1 besonders vor dem 15. Jahrhundert); weten ohne Tondehnung ist wahrscheinlich durch westf. Orthographie beeinflusst (§ 69, Anm. 1). Alle Paragraphenangaben beziehen sich auf Lasch 1974. 35 Da, wie anhand des Faksimiles erkennbar ist, die ursprünglich vorhandenen Schäfte der untersten Zeile des Haupttextes der Vorderseite zer- bzw. abgeschnitten sind, muss das Blatt erst nach dem Beschreiben zugeschnitten und zusammengeklebt worden sein. Warum die Vorderseite vor der Rückseite beschrieben wurde, kann ich dem Faksimile nicht entnehmen. Vgl. das Farbfaksimile bei Squires 2008: 351–352.
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Beischrift und Gebetstext dreifach die Krankheitsbezeichnung mala francosa bzw. mala frantzosa belegt ist. Schon in der frühen Neuzeit wird die Franzosenkrankheit mit dem Terminus Syphilis synonym verwendet. Girolamo Fracastoro (um 1476–1553) hatte den Krankheitsnamen Syphilis durch sein Lehrgedicht Syphilis sive Morbus Gallicus etabliert und verstand darunter die Krankheit, welche sich, durch die Mannschaften Kolumbus’ 1493 nach Europa gebracht, von Barcelona aus rasch über Europa nach Indien ausbreitete (vgl. Keil 1997: 380–318).36 Geht man von der Hypothese aus, dass mala francosa auch in dem hier besprochenen Gebet die seit 1493 auftretende Krankheit bezeichnen soll, dann müsste man die Datierung des Moskauer Zeugen ungeachtet der Untersuchungen Squires’ aus diesem Grund anzweifeln. Lässt man aber den Gedanken zu, dass mala francosa ein bereits existierender Terminus sein könnte, welcher später auch für die unter dem Namen Syphilis firmierende Krankheit verwendet wird, dann kann die Moskauer Handschrift mit ihrer Datierung für diese These als ein Kronzeuge fungieren. Tatsächlich lassen sich Quellen des 15. und 16. Jahrhunderts finden, welche die Krankheitsbezeichnung Gallicum, malum Franciae, mala franzosa oder mal Franzoso für Infektionen verwenden, die vor das Jahr 1493 datiert werden. Ein Teil dieser Dokumente wurde jedoch selbst erst nach 1493 aufgeschrieben oder gedruckt, weswegen die dort angeführten Belege nicht als Beweis für das tatsächliche Vorhandensein der Begriffe angesehen werden können. Hierzu zählt die Handschrift München, BSB Clm 1012, 66v, aufgeschrieben im bayerischen Aldersbach, in welcher die Franzosenkrankheit quam vulgo francois vel gallicum appellant als für 148837 virulent beschrieben wird; das Manuskript wurde aber erst im 16. Jahrhundert verfasst. Weitere Belege dieser Kategorie finden sich bei Johannes Baptista Fulgosus: De dictis fatisque memorabilius collectanea a Camillo Gilino latina facta libri IX. Mediolan 1509, wo eine 1492 auftretende Krankheit Gallicus genannt wird, bei Johannes Widmann (Salicetus): De pestilencia. Tübingen 1501, der eine Erkrankung von 1457 als Malum Franciae bezeichnet, bei Alexander Seitz: Ein nutzlich regiment wider die bosen Frantzosen. Pforzheim 1509, der den Ursprung der Krankheit 1491 annimmt.38 Zu dieser Kategorie zählen auch die Belege in den Annales Danicae Petri Olai von 1772, wo eine 1483 in Dänemark grassierende Krankheit als Morbus gallicus bezeichnet wird, sowie aus der Ausgabe des auf den 5. April 1488 datierten Briefs von Petrus Martyr Anglerius an seinen Lehrer Arius Lusitanus (Epistel 68) von 1530, in welchem zu lesen ist, dass die Erkrankung des Lehrers in Italien als Morbus gallicus bezeichnet werde.39
36 Zur Inkommensurabilität der heutigen, modernen Krankheitsauffassung von Syphilis, welche sich seit dem 18. Jahrhundert ausprägte, und dem frühneuzeitlichen Verständnis der Krankheit vgl. Arrizabalaga 1997: 1–4; Stein 2003: 13–26. 37 Max Höfler gibt fälschlich die Jahreszahl 1480 an, vgl. Höfler 1891: 64. 38 Vgl. die Zusammenstellung der angeführten Stellen sowie deren kritische Diskussion bei Proksch 1895: 317–318, 358–360. 39 Die Belegzusammenstellung wurde entnommen aus Friedberg 1865: 286–288.
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Jedoch gibt es auch Handschriftendokumente, die selbst vor dem fraglichen Jahr verfasst wurden und zeigen, dass die Termini mala franzosa oder mal Franzoso schon vor 1493 belegt sind. Max Höfler hatte im Rahmen seiner Forschungen zum Leonhardskult in Bayern auf eine Nennung der Franzosenkrankheit aus dem Jahr 1446 hingewiesen; allerdings wird aus seinen Ausführungen nicht deutlich, aus welchem der Mirakelbücher über den Heiligen Leonhard sein Beleg stammt (vgl. Höfler 1891: 64–65).40 Bei einer Überprüfung aller infrage kommenden Manuskripte konnte ich diesen Beleg nicht bestätigen: Clm 7685 verzeichnet nur Wunder bis 1435; Clm 4322, ein kurzes Fragment im Einband des Codex, enthält keinen Beleg; Cgm 1772 enthält zwar eine ganze Reihe von Belegen für frantzosen (z. B. 4r),41 behandelt aber ausschließlich Mirakel der Jahre 1498–1512 und wurde um 1512 geschrieben. Es käme allein der in der Mitte des 15. Jahrhunderts geschriebene Clm 27332 infrage. Er verzeichnet zwar die Wunder des Heiligen Leonhard, allerdings ließ sich trotz intensiver Lektüre der bislang nicht edierten Seiten 126v–168v, die Mirakel aus den Jahren 1436–1447 verzeichnen, kein Beleg für die Franzosenkrankheit finden.42 Bleiben also allein zwei Manuskripte, die vor 1493 verfasst wurden und Belege des Krankheitsnamens enthalten:43 1. Stiftsprotokoll von St. Viktor, Mainz (Mainz, 1472) – verschollen 2. Kopenhagen, Königliche Bibliothek, Codex Thottske 250 8°, 20v–21r und 59v–60v (Bologna, 1440–1450) Franz Joseph Bodmann ediert den Beleg Mala Franzos aus dem Mainzer Stiftsprotokoll bereits 1819 (vgl. Bodmann 1819: 199). Weitere Abdrucke des Protokolls erfolgten durch Conrad Heinrich Fuchs (1850: 5), Alois Geigel (1867: 242–243) und Johann Karl Proksch (1895: 373): D. Jovis post festum pentecost. exhibuit N. litteras, supplicans, quatenus sibi concedatur, ut a choro sequestratus in domo sua se continere possit propter fetulentum morbum, qui dicitur Mala Franzos . . . , cui praedicta venia concessa fuit et injunctum, quod chorum et capitulum intrare non debeat, priusquam d. decano et capitulo ex testimonio cyrurgicorum de plena et perfecta ejusdem absolutione sufficenter cautum fuerit et comprobatum. (Zit. nach Geigel 1867: 242–243)
Da das Protokoll während der Okkupation des Rheinlandes verloren gegangen ist, entzieht es sich einer nachträglichen Überprüfbarkeit. Als verlässlichster Zeuge darf die Kopenhagener Handschrift italienischer Provenienz gelten. Sie wurde ausführlich von Karl Sudhoff untersucht.44 Sudhoff ließ
40 Vgl. zu diesem Beleg auch die Rezension von Puschmann 1894: 335. 41 Für die Belege von frantzosen vgl. das Sachregister in Dafelmair 1988: R29 sub vocibus Frantzosen und Frantzosen und lem. 42 Eine Edition der in der Handschrift verzeichneten Wunder vor 1436 vgl. ASS Novi III, 183–204. 43 Beide Manuskripte wurden von Squires als ergänzende Hinweise im Handschriftencensus zur Moskauer Handschrift angeführt, vgl. http://www.handschriftencensus.de/8235 (Stand: 31.7.2014). 44 Eine ausführliche Besprechung der Handschrift bei Sudhoff 1912b.
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die Datierung des Manuskripts (1440–1450) mehrfach absichern, allerdings steht eine zeitgenössische Untersuchung der Wasserzeichen des in der Handschrift verwendeten Papiers noch aus, um dies zu bestätigen.45 Vorbehaltlich der Richtigkeit der Datierung geht aus dem Manuskript hervor, dass der Terminus Mal Franzoso zumindest in Italien in der Gegend um Bologna in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts in der Volksmedizin bekannt gewesen sein muss. Sudhoff und seine medizinhistorischen Kollegen befanden sich im ausgehenden 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einer heftigen Debatte, in der sie die geographische Herkunft der Syphilis diskutierten. Während die Amerikanisten davon ausgingen, dass die Krankheit nach der Entdeckung Amerikas nach Europa importiert wurde, postulierten die Anti-Amerikanisten, zu denen auch Sudhoff und Höfler gehörten, dass es die Syphilis schon längst in Europa gegeben habe.46 Um die eigenen Thesen zu stützen und gleichzeitig die der Gegner zu demontieren, durchforsteten die an der Debatte beteiligten Medizinhistoriker akribisch riesige Bestände von Handschriften und von frühneuzeitlichen Drucken. Sie trugen genauestens dokumentierte Belegsammlungen aus verschiedensten Quellen zusammen, die sowohl Krankheitsnamen als auch Beschreibungen von Krankheiten enthielten, welche in ihrer Auseinandersetzung nützlich erschienen (vgl. Fuchs 1843 und 1850; Bloch 1901 sowie weitere Arbeiten desselben; Proksch 1895; Sudhoff 1912a und 1912b sowie weitere zahlreiche Veröffentlichungen desselben). Sudhoff feierte die Kopenhagener Handschrift geradezu als das Medium, welches die Franzosenkrankheit oder Mal Franzoso „zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit mit Namen [nennt]“ (Sudhoff 1912b, 17). In einem zweiten Schritt schließt er aus den im Manuskript beschriebenen therapeutischen Maßnahmen, dass sich genau dieser Krankheitsname auf die Syphilis beziehe und damit ihre Existenz in Europa vor der Entdeckung Amerikas gesichert sei (vgl. Sudhoff 1912b: 19–21). Diese von Sudhoff überaus vorsichtig formulierte und rhetorisch brillant inszenierte Folgerung ist höchst problematisch, da letztlich die Existenz einer Krankheit aus der Existenz eines Krankheitsnamens abgeleitet wird, gleichwohl die Zuordnung Krankheit und Bezeichnung natürlich arbiträr ist. Als Fußnote sei angemerkt, dass der Streit zwischen Amerikanisten und Anti-Amerikanisten immer noch nicht abschließend geklärt ist, auch wenn es theoretisch wohl schon möglich wäre, die Syphiliserkrankung an menschlichen Überresten durch paleopathologische Techniken nachzuweisen (vgl. Arrizabalaga 1997:16). Für die hier angestellten Überlegungen zum Gebet wider die plag der malefrantzoß ist zusammenfassend festzuhalten, dass der Name Mal Franzoso im Zeitraum von
45 Sudhoff druckt einen abgezeichneten Umriss des Wasserzeichens ab, das er als Pferd identifiziert. Vielmehr dürfte es sich jedoch um einen Teil eines Drachen mit Zackenrücken handeln, vgl. Sudhoff 1912b: 9 und http://www.wasserzeichen-online.de (Stand: 10.11.2015). 46 Auf der Seite der Amerikanisten ist als federführend Iwan Bloch zu nennen, auf der Seite der AntiAmerikanisten stehen Karl Sudhoff und Karl Johann Proksch. Vgl. den kurzen Abriss der Auseinandersetzung bei Stein 2003: 19–20.
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1440–1450 für Italien als bereits belegt gelten muss, solange es keine begründete Umdatierung der Kopenhagener Handschrift gibt. Er ist auch in den 1470er Jahren im deutschsprachigen Gebiet durch das Mainzer Stiftsprotokoll nachweisbar, das – auch wenn es verschollen und damit nicht überprüfbar ist – auch heute noch für ein zitierwürdiges Dokument gehalten wird.47 Reicht doch die Erstedition Bodmanns von 1819 vor die Debatte der Amerikanisten und Antiamerikanisten zurück, so dass hier zumindest keine Manipulationsabsicht anzunehmen ist. Auf welche Krankheit der Name in beiden Fällen jedoch genau referenziert, ist nicht einwandfrei zu klären. Dasselbe Ergebnis hat Catherine Squires in ihrer Untersuchung des von ihr als recht früh datierten Moskauer Dokuments unter dem Gesichtspunkt der Wort- und Textsemantik herausgearbeitet: Die im Gebetstext verwendete Bezeichnung bladdere, welche synonym zu bledderen sunte iob und malafrantzosa verwendet wird, ist zu allgemein, um die angesprochene Erkrankung mit einer konkreten Krankheit identifizieren zu können (vgl. Squires 2008: 343–348). Sicherlich wird durch die Verwendung des Wortes bladdere deutlich, dass es sich um ein Leiden handelt, dessen Symptome an der Haut sichtbar werden, eine Identifikation der erwähnten Erkrankung mit der Syphilis ist jedoch nicht notwendigerweise anzunehmen.48 Um das Verhältnis des ostfälischen Zeugen zu den oberdeutschen Handschriften zu untersuchen, wird ein Textvergleich bemüht, der die oben bereits nach dem Druck zitierte Stelle untersucht, da sie in der Überlieferung eine starke Varianz aufweist. Im ostfälischen Gebet ist zu lesen: . . . mit den heftigen plagen, dat neyn mynsche gewan mit so groter lemynge der leden van den voten wente to dem schetele vorseriget wart.
Schon Christoph Walther erachtete es 1877 als notwendig, das Wort gewan in diesem Nebensatz der von Gustav Schmidt besorgten Erstedition zu kommentieren. Er merkte an: „müsste as. gio hwanna lauten = ahd. io wanne, jemals“ (Schmidt 1877: 64). Dieses im Niederdeutschen nicht frequente, aber durchaus verständliche Temporaladverb entspricht in den oberdeutschen Texten folgenden Fügungen (siehe Tab.). Mit Ausnahme von 8° Cod. 266 entspricht das Temporaladverb gewan des niederdeutschen Texts in allen Überlieferungsträgern einer finiten Verbform bzw. einem Verbalkomplex mit finitem Verb. Die starke Varianz der verschiedenen Zeugen wird erklärlich, wenn man annimmt, dass die oberdeutschen Texte nach ursprünglich niederdeutscher Vorlage gearbeitet wurden. Das mittelniederdeutsche Temporaladverb gewan wurde fälschlich als Präteritalform des starken Verbs gewinnen interpretiert. Das gleichzeitige Vorhandensein von zwei finiten, nicht durch eine koordinierende Konjunktion verbundenen Verbformen innerhalb eines Satzes erforderte eine syn-
47 Vgl. http://www.handschriftencensus.de/8235 (Stand: 31.7.2014). 48 Zu verschiedenartigen Bedeutungen des Wortes Blatter als Krankheitsname vgl. sub voce Blatter in Höfler 1899: 49–51.
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4° Cod. 149, 372v
Cod. germ 16, 70v–71r
Cgm 467, 168v Cgm 5351, 178r–178v
Clm 6047, 171v
8° Cod. 266, 1v 8° Cod. 267, 188r–188v
Druck
. . . mit den allerschwersten geschwern der beinen / mit welchen kain mensch nie versert worden ist mit sölicher lemung der gelider / das von49 den solen der fies / bis in die schaittel / kain gesundhait an jm was / . . . mit den aller schweresten a:ssen verhenngt hast ze schlagen mit wölhen (kain)50 mensch nie geschlagen (w)orden mit sölher lem:inge (der) geliden. das von solen der fieß biß in die scha:ttel versert wardt. . . . mit den giftigen platern so khain mensch nie gewan mit so grosser lemung51 der gelider von fúes pis aúf die schaidl mit den aller schweresten geschweren geschlagen hast lassen mit wöllio chen n˝ye kain mensch geschlagen ist worden mit ainer söllich erkr˝ymung o seiner gelider das er von der solen seiner fues. Bis in die schaittel versert was mit den aller schwergistn geschwern geslagen hat lassen werden mit welchen nie kain mensch geslagen ist worden mit einer solchen verserung der glider daser von der solen seiner fues pis auff die schaitl verseret ward . . . mit den heftigen platre so ka:n mensche n:e gwan mit So grosser leginne52 der geliden von fúoss pis zw dem haúbt verletz ward. . . . mit schwarzen vnd grosen geschwerer mit welchen der mensch vor nie was gepeiniget vnd geplaúgt mit solcher zamenziechúng der gelider Das er von der fersen der fiessen bis aúf die schaittel des haúpß vol was der geschwerr . . . . . . mit den haftigen platern So die kain mensch nie gewan mit so grosser leng. Der glider von fueß piß auf die schaitln verletzt ward.
taktische Anpassung. Diese wurde unterschiedlich umgesetzt: Im Falle des Drucks geschah dies nur durch die Interpunktion und hinterließ syntaktisch defekte Satzstrukturen. Der Augsburger Kalligraph Leonhard Wagner verfuhr freier; dennoch scheint auch bei ihm eine ältere Textschicht durch: das niederdeutsche gewan wurde durch einen mehrteiligen Verbalkomplex ersetzt und auch der hintere Satzteil wurde in einen syntaktisch korrekten Nebensatz mit einem anderen Verbalkomplex verwandelt. Anhand des Textvergleichs kann also die Überlieferungsrichtung des Gebets vom Niederdeutschen ins Oberdeutsche plausibel gemacht werden. Die Tatsache, dass die Moskauer Handschrift eine ältere Textschicht des Gebets als die übrigen oberdeutschen Überlieferungsträger transportiert, lässt sich mit einer frühen Datierung des Moskauer Zeugen, wie sie Catherine Squires annahm, in Einklang bringen, gleichwohl dieser Befund nicht als Beweis für den konkreten Datierungsvorschlag von 1476 gelten kann.
49 Durchstrichenes Wort, darüber von nachgetragen 50 Schlecht lesbar 51 lemung aus lenung korrigiert durch übergeschriebenen Bogen 52 lenginne gemeint?
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Vor diesem Hintergrund soll nun nochmals die Bedeutung der Krankheitsbezeichnung mala frantzosa reflektiert werden: Aufgrund von Faktoren auf der Ebene der Wort- und Textsemantik lässt sich die Krankheit, auf welche im ostfälischen Gebet mit dem Terminus mala frantzosa referenziert wird, nicht eindeutig ermitteln. Dieses von Catherine Squires bereits formulierte Ergebnis behält seine Gültigkeit.53 Der Vergleich der Überlieferungsträger hat gezeigt, dass die Textschicht, welche durch die von Squires mit Abstand als älteste klassifizierte Handschrift repräsentiert ist, als Vorlage für die oberdeutschen Gebete fungierte. Während es mir nicht gelungen ist, niederdeutsche Schriften aus der Zeit vor 1493 zu finden, in denen der Krankheitsname mala frantzosa verwendet wird, gibt es für den Zeitraum, in dem die oberdeutschen Manuskripte entstanden, eine Vielzahl von ebenfalls oberdeutschen Texten, die den Terminus verzeichnen.54 Dieser referenziert in dieser Zeit und diesem geographischen Raum auf die Krankheit, welche man später als Syphilis bezeichnen wird.55 Ohne erneut in die Falle zu tappen, sich in die nicht abgeschlossenen Diskussionen der Amerikanisten und Anti-Amerikanisten zu verstricken, erscheint es mir sinnvoll, bei der Bezeichnung mala frantzosa, welche sogar in ein- und demselben Text, aber in unterschiedlichen Kontexten belegt ist, einen semantischen Sprachwandel in Betracht zu ziehen, der sich als Bedeutungsverengung beschreiben lässt.
Quellen und Editionen ASS Novi III = Acta sanctorum Novi III (1910), 183–204. http://gateway.proquest.com/openurl?url_ver=Z39.88-2004&res_dat=xri:acta&rft_dat=xri: acta:ft:all:Z500000868 (Permalink) Bodmann, Franz Joseph (1819): Rheingauische Alterthümer oder Landes- und Regiments-Verfassung des westlichen oder Niederrheingaues im mittleren Zeitalter. Mainz. Dafelmair, Elisabeth (1988): Das Inchenhofener Mirakelbuch von 1498–1512. Edition einer mittelalterlichen Handschrift mit statistischen Auswertungen zum damaligen Wallfahrtswesen. München. Sudhoff, Karl (1912a): Graphische und typographische Erstlinge der Syphilisliteratur aus den Jahren 1495 und 1496 (Alte Meister der Medizin und Naturkunde in Facsimile-Ausgaben und Neudrucken 4). München.
53 Zur Problematik um die Gleichsetzung von mala frantzosa und Hiobskrankheit vgl. Bloch 1901: 82– 83. 54 Vgl. die zahlreichen Belegsammlungen und Texte bei Proksch 1895, Bloch 1901, Sudhoff 1912a und 1912b sowie Stein 2003. 55 Aus diesem Grund wird das Gebet in der Klassifikation der Handschriftenkataloge der beiden Münchener Manuskripte der Universitätsbibliothek jeweils als „Gebet um Befreiung von der Syphilis“ überschrieben, vgl. Kornrumpf 1968: 251, 262. Zur Problematik der Gleichsetzung von Syphilis und Franzosenkrankheit vgl. nochmals Arrizabalaga 1997: 1–4; Stein 2003: 13–26.
Ein Gebet wider die plag der malefrantzoß | 129
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Anja Lobenstein-Reichmann
Medizinisches im Frühneuhochdeutschen Wörterbuch (FWB) 1 Präludium Lexikographen, wie der Name schon sagt, schreiben Bücher über Wörter. Lexikographen des Frühneuhochdeutschen sind einerseits Historiographen, da sie den Wortschatz der historischen Epoche von 1350 bis 1650 semantisch analysieren und dem modernen Sprecher interpretierend zugänglich machen. Sie sind Chronographen, die zeigen, zu welchen Zeiten welches Wort mit welchen Bedeutungsziffern gebraucht wird. Mit ihrer feingliedrigen Ausarbeitung semasiologischer Felder von Einzelwörtern werden sie geradezu zu Wortbiographen. Fragt man nach dem Wort medizinisch, das sich so selbstverständlich nicht nur in den Titel dieses Beitrags fügt, sondern das Leitthema des gesamten Bandes vorgibt, so ist man überrascht. Es findet sich in keinem historischen Wörterbuch als Stichwort. Während das Substantiv Medizin im Frühneuhochdeutschen Wörterbuch (FWB) seit 1444 belegt ist, finden wir medizinisch dort nicht, übrigens ebenso wenig wie die Wörter Behandlung oder Praxis in der Bedeutung: ‚Ort, an dem man medizinisch behandelt wird‘. Im Deutschen Wörterbuch (DWB) gibt es medizinisch als leicht zu überlesendes Anhängsel zum Stichwort Medizin. Der Erstbeleg stammt wohl von Jean Paul. Als Eintrag im modernen Duden Universalwörterbuch (Duden Universalwb.: 1001) schließlich fand ich eine Erklärung: medizinisch bedeutet 1. ‚die Medizin betreffend‘, wie in medizinische Zeitschriften und 2. ‚nach den Gesichtspunkten der Medizin hergestellt‘ wie bei einer medizinischen Zahncreme. Der frühneuhochdeutsche Wörterbuchgegenstand, der mit medizinisch umrissen wird, wäre dann wohl: die Medizin betreffender Wortschatz. Denn nach den Gesichtspunkten der Medizin hergestellter Wortschatz wäre etwas eigentümlich. Aber was heißt Medizin? Im DWB (12: 1838 f.) ist zu lesen: medizin, f. aus dem lat. medicina (sc. ars) volksmäszig übernommen; zunächst im sinne von heilkunde: medela, medicina medicyn Dief. 352c (niederrheinisch, 15. und 16. jahrh.). Interessant sind die dazu dokumentierten zwei Belege, da sich in ihnen zum einen die holistische Medizin der Zeit spiegelt und zum andern die Ratlosigkeit darüber, wo Medizin anfängt bzw. aufhört, vor allem für einen, der sie erlernen möchte: „was ist disz für ein species der medicin, wann einer am haupt krank wäre, und wolte die füsz unten her mit heilsamen öl bestreichen? Schuppius 747; wo soll ein anfängling der medicin seinen anfang nehmen. unw. doct. 444“ (ebd.) Was für das Medizinische schon in historischen Zeiten fraglich ist, nämlich, was gehört zur Heilkunde dazu und wo soll man damit anfangen, gilt umso mehr auch für den Wortschatz, der in einem die Heilkunde betreffenden Wörterbuch beschrieDOI 10.1515/9783110524758-010
132 | Anja Lobenstein-Reichmann ben werden könnte oder sollte. Über das Wort Wörterbuch1 steht im bereits zitierten Deutschen Wörterbuch (DWB 30, 1559): WÖRTERBUCH n., ‚lexikon, dictionarium, wortsammlung, wortverzeichnis‘. [. . . ] 1) auf dem gebiet der eigentlichen sprache, das ganze oder teile des wortschatzes einer sprache betreffend. [. . . ] 2) als erklärende sammlung der zu einem bestimmten sachgebiet und wissensbereich gehörigen begriffe, stichworte und kunstwörter, von alphabetisch geordneten, einzelbeiträge enthaltenden werken enzyklopädischen charakters. [. . . ] 3) in übertragenem gebrauch. a) für den wortvorrat, der innerhalb eines bestimmten lebens- oder sachgebietes bezeichnend zur verfügung steht.
Mit diesen einleitenden Ausführungen sind die wichtigsten Fragen angesprochen, über die im nachfolgenden Beitrag nachgedacht werden soll. 1. Zur Diskussion stehen die im Deutschen Wörterbuch genannten Stichwörter eigentliche sprache, wortvorrat eines bestimmten lebens- oder sachgebietes, werke enzyklopädischen charakters. Es geht also um Fragen der Abgrenzbarkeit von Sach- und Sprachwörterbuch sowie von Fachsprache und Allgemeinsprache hinsichtlich der Sinnwelt Medizin und zwar für die historische Sprachstufe Frühneuhochdeutsch. Unter Fachsprache versteht Hadumod Bußmann im Lexikon der Sprachwissenschaft s. v. Fachsprache (Bußmann 2002: 211): Sprachliche Varietät mit der Funktion einer präzisen, effektiven Kommunikation über meist berufsspezifische Sachbereiche und Tätigkeitsfelder. Wichtigstes Merkmal ist der differenziert ausgebaute, z. T. terminologisch normierte Fachwortschatz (Sprachnormung), dessen Wortbedeutungen frei sind von alltagssprachlichen Konnotationen und dessen Umfang in einzelnen Fachsprachen den der Standardsprache (mit ca. 70 000 Einheiten) übersteigt.
Als Besonderheiten werden genannt: differenzierter Gebrauch von Wortbildungsregeln, Fachmetaphorik, Nominalstil, überregionale Standardisierung, Exaktheit und Ökonomie der Informationsvermittlung. Mit Thorsten Roelcke (1999: 61 ff.) möchte man noch die Kriterien „Festlegung von fachspezifischen Bedeutungen im Rahmen von Definitionen“, „Exaktheit“, „Normiertheit“, „Wohlbestimmtheit“, „Eindeutigkeit“, und „Autonomie“ ergänzen. Im Hinblick auf den letzteren Punkt schreibt Roelcke (ebd.: 67):
1 Herbert Ernst Wiegand definiert in „Wörterbuchforschung“ (Wiegand 1998: 58): „Ein Nachschlagewerk ist ein Buch (hier verstanden als etwas Gedrucktes) mit wenigstens einer definierten äußeren Zugriffsstruktur, dessen genuiner Zweck darin besteht, daß ein potentieller Benutzer aus den lexikographischen Textdateien Informationen zum Gegenstandsbereich des Nachschlagewerkes gewinnen kann.“ Bezogen auf die Sprachlexikographie bedeutet das speziell: „Ein Sprachwörterbuch ist ein Nachschlagewerk, dessen genuiner Zweck darin besteht, daß ein potentieller Benutzer aus den lexikographischen Textdaten Informationen zu sprachlichen Gegenständen gewinnen kann.“
Medizinisches im Frühneuhochdeutschen Wörterbuch (FWB) | 133
Unter Autonomie wird dabei im Rahmen systemlinguistischer Ansätze die Fachwortunabhängigkeit vom Kontext und Kotext fachsprachlicher Äußerungen im Hinblick auf Exaktheit und Eineindeutigkeit verstanden. Dieses Autonomiepostulat bringt die Wortschatzkonzeption der älteren Fachsprachenforschung auf den Punkt: Fachwörter sollen in ihrer Bedeutung durch Definition so festgelegt sein, dass sie in jedem beliebigen Kontext hinreichend exakt und eindeutig sind und so keine kommunikativen Missverständnisse zulassen.
2. Es muss zweitens erörtert werden, wie ein Dictionarium der Heilkunde für das Frühneuhochdeutsche aussehen würde, wenn man sich an diese Fachsprachekriterien hielte. Geklärt werden müsste dazu die Frage, was in dieser Zeit als medizinisch gefasst werden kann und was nicht. Gehören in ein solches Wörterbuch nur genuin fachsprachliche Wörter oder Fremdwörter wie amalgamieren, acetosität, apoplexia, asthmatisch, caducisch? Oder müssten auch Wörter wie Schmerz, Kunst, Gesundheit, Bauch, Herz, Tugend, arbeiten, büssen als Elemente eines bestimmten lebens- oder sachgebietes aufgenommen werden, obwohl diese weder exakt, noch wohlbestimmt, noch autonom bestimmbar sind? Wer also bestimmt, was ein Fachwort ist und wie man diese Stichwörter beschreiben soll? Inwieweit können sie überhaupt adäquat beschrieben werden, wenn man berücksichtigt, dass auch jedes vermeintliche Fachwort immer nur in einem pragmatischen Gebrauch einer bestimmten Kultur, Sozialität und Zeit zu resemantisieren ist? So berichtet z. B. das Lexikon des Mittelalters sub voce Schmerz (LexMA 7: 1502), dass dieser für „den antiken und ma. Menschen [. . . ] eine Form des Leidens der Seele (Passiones animae), nicht des Leibes, also eine unlustvolle Selbstwahrnehmung der Seele aufgrund einer Einwirkung des Leibes (dolor) oder der Seele selbst (tristitia) [sei]“. Das Wort Schmerz wurde nach diesem Verständnis nicht, wie man es nach heutigen Vorstellungen wohl sagen würde, nur metaphorisch für seelisches Leid verwendet, sondern die Seele scheint zentraler Ausgangsort des Schmerzempfindens zu sein. Für naturwissenschaftlich geprägte Menschen, die mit einem materialistischen Krankheitsverständnis leben, welches noch zu Zeiten Freuds selbst psychische Störungen somatisch verursacht sah, wird die Welt mit solchen Vorstellungen scheinbar auf den Kopf gestellt. Und dies schlägt sich notwendigerweise auch im Sprechen dieser anderen Welt nieder. Ein moderner Lexikograph ist also mit besonderen Herausforderungen konfrontiert, wenn er das Medizinische der Zeit zwischen 1350 und 1650 gemäß der damals vorherrschenden Kultur und Sozialität zu beschreiben hat. Eine solche ist die Bewusstmachung gerade dieser ideologischen Andersartigkeit medizinischen Denkens. Welche Folgen dies für die unterstellte medizinische Fachsprachlichkeit hat, soll im Folgenden diskutiert werden. Ich werde dies jedoch nicht theoretisch angehen, sondern das Pferd von hinten aufzäumen und auf der Grundlage der Konzeption und des bereits bearbeiteten Materials des Frühneuhochdeutschen Wörterbuches (FWB) erörtern.
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2 Das FWB als Allgemeinsprachliches Wörterbuch und seine fachlexikographischen Anteile Das FWB definiert sich ausdrücklich als allgemeinsprachlich orientiert, im Sinne Jacob Grimms wäre das die eigentliche Sprache. Das Adjektiv allgemeinsprachlich gilt, selbst bei Anerkennung breiter Überlappungsbereiche, als Gegensatz zu fachsprachlich. Es wäre also ein Wörterbuch im Sinne der zitierten Bedeutung 1 im DWB. Wenn man sich nun in der ‚Lexikographische[n] Einleitung‘ über das Verhältnis von Allgemein- und Fachsprache zu orientieren versucht, dann findet man folgendes Bild: Das FWB ziele erst einmal ohne Wenn und Aber auf die Allgemeinsprache, es öffne sich aber – so der Tenor – zu fachlichen Wortgebräuchen verschiedenster Art; es wolle diese mit ins Visier nehmen, allerdings ohne den Bezug auf die Allgemeinsprache in Frage zu stellen. Während die klassische Fachsprachenlexikographie gemäß der Wüster’schen Fachwortideologie nur einen kleinen Teilbereich des jeweiligen Allgemeinwortschatzes behandelt, und zwar denjenigen, den man in einer Festsetzungsdefinition (nicht in einer Sachdefinition) als fachsprachlich definiert (vgl. dazu Wüster 1934; 1991), ist der Erfassungsrahmen des FWB damit im vollen Rahmen um den pragmatischen Bereich des Sprechens außerhalb des Expertendiskurses, also auf die Allgemeinsprache ausgerichtet.2 Die Fachsprache wird damit nicht als Exklusivwortschatz einzelner Experten exkludiert und isoliert betrachtet, sondern ganz bewusst in die Allgemeinsprache implementiert. Allgemeinsprache wäre im Sinne der FWB-Herausgeber der Ort, an dem sich das Sprachlichste an der Sprache, nämlich das Ertexten, Ersemantisieren, Erpragmatisieren soziokognitiver bzw. soziopragmatischer Entitäten vollzieht. Ich hätte auch sagen können: Die Allgemeinsprache ist der Ort, in dem Sprechende und Hörende, Schreibende und Lesende durch die Tatsache, dass sie miteinander kommunizieren und dass sie in bestimmten, darunter medizinischen Praktiken stehen, seinerseits geschichtstypisch Vorgegebenes um- bis neuertexten und in den dann ebenfalls geschichtstypischen Kreislauf einbringen. Im Zentrum des FWB steht daher das allgemeinsprachliche kommunikative Handeln von Sprechern und nicht die Exklusivität einer Fachsprache. Dabei sind offene Grenzen des Einen zum Anderen und Überlappungsbereiche die Regel. Die zentrale Position der Allgemeinsprache, die das Fachliche als Besonderes, Spezielles eines Allgemeinen begreift (und nicht umgekehrt), impliziert eine ganze Reihe theoretischer Vorannahmen. Diese betreffen (1) die Rolle der Medizin in einem Sinnweltenkonzept des Frühneuhochdeutschen, (2) die semantische Offenheit der sog. Einzelbedeutungen/Sememe innerhalb des semasiologischen 2 Das bedeutet, dass man sich nicht prioritär auf die so genannten Nennwortarten, vor allem auf Substantive konzentriert, sondern auch allen weiteren Wortarten wie das Adjektive, die Verben und Partikel ins Visier nehmen muss. Semantisches spielt dabei dann eine ebenso wichtige Rolle wie Ausdrucksterminologien.
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Spektrums eines lexikalischen Zeichens, (3) damit unter onomasiologischem Aspekt korrelierend der hohe Grad der Polysemie lexikalischer Zeichen, (4) die Verwischung der Frame-Grenzen lexikalischer Einheiten. Beschrieben werden im FWB demnach nicht nur allgemeinsprachliche Lemmata wie Baum oder Strauch, Maus oder Sperling, Hagel oder Schnee, sondern vor allem auch heute eher unverständliche Ausdrücke des Typs apoplexia ‚Schlaganfall‘, caducus ‚durch den Einfluss der Elemente bedingte Fallsucht, Epilepsie‘, glauch ‚geschwollen‘, gleicher ‚Kreis der ptolemäischen Epizykeltheorie‘, gleichig ‚gelenkig‘ oder gleichling ‚Hoden‘. Doch während die Allgemeinsprachlichkeit von baum und strauch ebenso wenig wie die Fachsprachlichkeit von apoplexia und caducus zur Diskussion stehen, ist die Zuordnung der zuletzt genannten Ausdrücke disponibel. Diese Ausdrücke markieren diesen weiten Überlappungsbereich, der besonders in einem allgemeinsprachlichen Wörterbuch deutlich wird. Sie repräsentieren damit nicht nur einen Teilbereich des Wortschatzes, der sinnweltenübergreifend ist. Sie stellen auch die Abgrenzbarkeit dieser zentralen Wortschatzbereiche hinsichtlich einer medizinischen Fachsprache im Frühneuhochdeutschen überhaupt in Frage.
2.1 Der Lexikographische Praxistest Dies zeigt auch der Praxistest, bei dem das Material des Frühneuhochdeutschen Wörterbuches nach dem Kriterium ‚medizinisch‘ abgefragt wird. Nimmt man ein Dutzend Informationspositionen an, die im FWB gefüllt werden können, so ergibt sich eine Charakterisierung als medizinisch nach 12 Worteigenschaften bzw. lexikographisch gesprochen unter ca. 12 Aspekten. Die Erfassung gilt hinsichtlich jeder Informationsposition des Wörterbuches. Die Wichtigsten wären: 1. ein als medizinisch charakterisiertes Lemmazeichen, 2. eine als medizinisch charakterisierte Einzelbedeutung eines Lemmazeichens, eine Bedeutungsvariante oder eine Bedeutungsnuance eines Lemmazeichens, 3. ein als medizinisch charakterisierter Symptomwert, das wären im vorliegenden Zusammenhang vor allem Textsortenzuordnungen und damit verbunden gruppenspezifische Zuordnungen z. B. zum Expertendiskurs, 4. ein als medizinisch charakterisiertes Phrasem, 5. eine als medizinisch charakterisierte Syntax, 6. als medizinisch charakterisierte Wortbildungen, 7. bis hin zu medizinisch relevanten Belegen, die nicht notwendigerweise, teils gar nicht aus medizinischen Fachtexten stammen, n. usw. (z. B. Morphologie, Schreibvarianten). Fragt man das FWB nach medizinisch gekennzeichnetem Wortschatz ab, so erhält man eine Liste, deren Fachsprachlichkeit nach den oben genannten Kriterien höchst fraglich ist. Oder um es vorwegzunehmen: Es zeigt sich in der lexikographischen Pra-
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xis, dass das Autonomieprinzip ebenso wie die meisten der genannten Fachsprachekriterien eher als systemlinguistisches Ideal anzusehen sind, denn als in der lexikographischen Praxis anzutreffende Realität; die Praxis schlägt gleichsam quer in die ideologischen Vorgaben hinein, beißt sich mit diesen (vgl. Lobenstein-Reichmann 2010: 143). Aus diesem Grund soll hier eine kleine Auswahl an Lemmata gezeigt werden, die intensional wie extensional medizinverdächtig ist. Abheilen, anheilen, abwiz, aberwiz, achsel 1, aloe, altfater 5, ameisei, anfechtung 5, apollinisch, apostem, apostemkraut, arbeiten 10, arcana, arznei (+ weitere Wortbildungen, z. B.: arzneibuch, arzneibüchse (dazu bdv.: salbenbüchse), arzneiküchlein, arzneimacher, arzneipulver, arzneitrank (mehrmals), arzneituch, giftarznei, hausarznei, purgierarznei, rosarznei, schlafarznei, speiarznei, wundarznei), arzt (+ weitere Wortbildungen), 1 asche, ausmerkig, aussatz (+ weitere Wortbildungen), ausschauen, auswerfen 4, ausziehen, avicennisch, bachbunge, bad, baden, barbierer, bauchärzenei, bauchgrimmen, baumöl, baumwolle 2, begen, beinschrötig, beispielband, benemen 7, beschleimen, bessern 1, pestilenzwurzel, betriese, blatter, bluten, blutflus, blume 5, blutgang, blutspeien, bolus, böse 3, bosheit 3, brand, brandsalbe, 1 bruch, bucke(l), purgieren, büschel, 1 busse, büssen 3, pustel, putreficieren, cholera, dia, 2 diet, ding 4, disziplin, derre, derren, dienen 16, dirigieren, distel, drachenblut, drachma, erde, feuer, gagel, gagelkraut, galban(um), galgan(t), galget, galanga, galitzenstein, 1 galle, 2 gal, 2 galle, galla, gallaun, garbensaft, 2 garbe, 2 garwe, garwel , gauchheil, geäder, geätzt, gebrest, gebrist, gefülen , geharnen, geisbone, geismilch, geismist, geist 3, geistkrankheit, gerechtigkeit 9, gereinigen, gerste, gerstenmel, gerstenwasser, geschwer 1, geschwulst 2, geserlichkeit, gezeug 1, gicht, glätte, gliedwasser, gloriet, gnetzig, gold, grad, gradieren, griffel, grim, grind, 2 gut, hanf, harn, harnglas, 3 harm, harnen, 2 harmen, 3 harz, harzen, hauptader, hauptfleisch, hauptsucht, heft, heften, heil (+ weitere Wortbildungen), heimlichheit, heis, henken, henker, herausschwären, herte, herz, härte, hertung, hertigung, herz, herzgesperre, herzwasser, hitzig, instrument, judicium, 2 kampfer, kanonisch, kauterisieren, klar, kalt, kraft, krank, krankheit (+ weitere Wortbildungen), krampf, kraut (+ weitere Wortbildungen, z. B. badekraut, fieberkraut (auch biberkraut), gebärkraut, harnkraut, herzkraut, heilkraut, lauskraut, lungenkraut balsamkraut, papageienkraut, pappelkraut, pfauenkraut, pfeffer 1, pfeilkraut, katzenkraut, täschelkraut), kolbe 5, krebs 3, kunst 4, labung, 1 lak, lassen 6, lasser 1; 2, 1 lauge 4, leinsame, leinsat, leschen 2, lewenmilch, liebstöckel, lorber, loröl, lorberöl, luft, lunge, margtropf, masse 13 / 14, materie 3, mechanisch, medizin (+ weitere Wortbildungen), melancholei, mellifluisch, mieselsucht, milz, milzsucht, patich, pestilenz, phlegmaticus, physica, praktik, reinigung, ritte, sänften, schaden, schmerz, seuche, steche, sterbdrüse, 1 stich, stichelsucht, stillen, tafelsilber, tannenpech, tinctur, tingieren, 2 tartarisch, test 3, tobsucht, träge 1, tugend 8, unsinnigkeit, warm, wasser, wetag, wetum, zittersch.
Fremdwortbereich: amalgamieren, acetosität, apoplexia, asthmatisch, atrament, attractiv, caducisch, caducus ‚durch den Einfluß der Elemente bedingte Fallsucht, Epilepsie‘, cancer, cancrenisch, complexion, componieren, compositum, contagion ‚Ansteckung mit Krankheitserregern‘, corrosiv, corrosive, discrasia, gomorea, klistier, klistieren, klistiersak, klistierung, linimentum, malefiz, maturieren ‚[. . . ] sich entwickeln (von einer Krankheit)‘, menstruum, panacea, paralis, purgatif, purgation, purgieren, temperament, temperanz (+ weitere Wortbildungen)
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Man kann diese Liste aufgliedern in folgende medizinische Themenbereiche: – Heilmittel und ihre Herstellung (Medizin / Pharmazie / Alchemie): – drachma 1 ‚Achtelunze bzw. Viertellot‘; Einheit für Gewichte (Medizin, Alchemie). – arcana ‚nach einem Geheimrezept hergestellte Medizin‘; im Bergbau: ‚geheime Schmelzkünste‘. – baumwolle 2 ‚Verbandsstoff‘. – 2 kampfer, ganfer ‚besonders als Medizin genutzte, aus dem Holz des Kampferbaumes gewonnene harzartige Verbindung‘. – 1 lauge 4 ‚Getränk, Aufguß, Mixtur aus einer Flüssigkeit (z. B. Wasser oder Wein) und verschiedenen Kräutern, Gewürzen oder Mineralien zu medizinischen Zwecken; Salbe‘. – materie 3 ‚heilender Stoff, Substanz von Arzneimitteln. –
Heilmethoden: – lassen 26 ‚(jn.) zur Ader lassen, aus medizinischen Gründen (bei Menschen, aber auch Tieren, z. B. Pferden) Blut aus der Ader nehmen‘. – heft 2 vor allem medizinisch: ‚Stich (zum Nähen einer Wunde), Naht‘; vgl. heften 3. – henken 1 ‚etw. mit dem oberen Ende an einem Ort / Gegenstand befestigen, wobei der restliche Teil (durch die Schwerkraft) nach unten gezogen wird‘; sehr selten: ‚jn. mit einem Körperteil (z. B. den Füßen) an etw. aufhängen (um eine medizinische Behandlung durchzuführen); daneben auch: ‚etw. hängen lassen‘. – herausschwären: medizinisch: ‚aufbrechen, eitern (von Abszessen)‘. – büssen 3 ‚(jm) etw., z. B. Krankheiten, vertreiben, heilen‘. – arztfinger ‚derjenige Finger, mit dem der Arzt den Puls befühlt‘. – Bdv.: goldfinger; herzfinger.
–
Pathologie der Krankheiten und Krankheitsereignisse (Symptomatisches, Intensitäten usw.): – pustel in der Medizin ‚Pickel, Hitze-, Eiterbläschen auf der Haut‘. – putreficieren in der Medizin ‚in Fäulnis übergehen, verwesen, faulen‘. – 2tartarisch ‚durch krankhafte Stein- und Sedimentbildung im menschlichen Körper bedingt‘. – geschwulst – [. . . ] auch der Tiermedizin. – hauptsucht 1 ‚Krankheit, welche mit vorwiegend cerebralen Erscheinungen einhergeht: Phrenesis, Delirium, auch einfacher Kopfschmerz‘. – lämde, veitstanz, mieselsucht, pest, franzosen. – altfater 5 eine Krankheit. – bärauge eine Krankheit der Gebärmutter. – malefiz 3 ‚beschwerliche Krankheit‘.
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– – – – – – – – –
steche, stich 7 ‚stechender Schmerz‘; Ütr.: ‚seelischer Schmerz, Verwundung der Seele‘; speziell: ‚Seitenstechen‘. artikel 6 ‚auf ein Krankheitssymptom bezüglicher Teil einer Diagnose‘; metonymisch: ‚Symptom, Krankheitsmerkmal‘. paralisisch, paralitisch: ‚Paralysesymptome zeigend‘. paraliticus ‚an Paralyse oder einer in den Symptomen vergleichbaren Krankheit Leidender, Gelähmter, Gichtbrüchiger‘. bedeuten 8 ‚ein Symptom, Anzeichen für etw. (eine Krankheit) sein; den geometrischen Ort für etw. bilden‘. blaterzeichen ‚Zeichen, Symptom für Blattern‘; vgl. blater 2. indicium ‚Anzeichen, Verdacht erregender Umstand; Symptom‘. intervallum 2. ‚die Zeit zwischen Weihnachten und Fastnacht; symptomfreie Zwischenzeit bei Erkrankungen‘. böse 3 ‚bösartig, entzündet, nicht heilend, krank (von menschlichen und tierischen Körperteilen sowie Erkrankungen)‘.
–
Körperteile als Ort von Krankheiten bzw. Disziplinen der Medizin: – Körperteile, Organe: arm, bauch, bein, lunge, magen, darm, bauch usw. (Diskussion deren Fachsprachlichkeit). – bauchärzenei ‚innere Medizin‘. – baucharzt 1 ‚Arzt für innere Medizin‘.
–
‚Medizinisches‘ Personal: – arzt, doctor 2, barbier, henker. – lasser 1 ‚Person, die eine andere Person oder ein Tier aus medizinischen Gründen zur Ader läßt‘; vgl. lassen 26. – arzt-, heil-, medizin- und Wortbildungen.
–
Inferenzen in Theologie, Magie und Philosophie: kraft, tugend, materie usw.
Lemmatisiert und allgemeinlexikographisch aufbereitet wurde demnach das weite Spektrum frühneuhochdeutschen Sprechens über Körperliches, Pathologisches und Heilkunde zwischen Laienbeschreibung und Expertendiagnostik. Thematisch geht es um Krankheitsnamen, Krankheitsbeschreibungen, Intensitätsklassifikationen von Schmerz- und Leidenszuständen (z. B. als böse oder arg), um Therapiemethoden wie Kauterisieren, Purgieren oder Baden, um Verbandsstoffe wie baumwolle 2, allgemein um pharmakologische Heilmittel- und Kräuterkunde und ihre Aufbereitungen in Aufgüssen, Salben und Tinkturen. Wir finden das zeitgenössische Sprechen über Anatomie und Körperfunktionen (bluten), aber auch Metasprachliches zu Heilung und Medizin wie in den Bezeichnungen zum heilenden Personal zu sehen ist, außerdem in Rechtsinterferenzen zu artikel 6 oder indicium. Spätestens in der Semantik
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der Berufsbezeichnungen findet außerdem das Aushandeln des sozialen Standes all derer statt, die in diesem Metier tätig sind. Man könnte gesamtsprachbezogen dieses Sprechen zwar in einen Laiendiskurs, einen Fachdiskurs und einen Pädagogisierungsdiskurs untergliedern, doch muss man sich dabei vor Augen führen, dass es sich bei einer solchen Trennung bereits um eine hermeneutische Interferenz aus der Gegenwart in die historische Zeit handelt. 1. Der Laiendiskurs umfasst das allgemeinsprachliche, darunter das alltagssprachliche Sprechen über Heilen und Heilung, über Körperlichkeit und Körperfunktionen. Es betrifft jeden einzelnen Menschen, dessen Existenz letztlich immer auf dem Spiel steht. Laienmedizinisch beinhaltet zahlreiche Komponenten, die prinzipiell zurückverweisen auf andere alltagsrelevante Diskurse, vor allem auf Theologisches, Magisches und Philosophisches. 2. Der fachmedizinische Diskurs ist im klassischen Sinne Teil eines Expertendiskurses mit einer bestimmten Terminologie, die basal aus dem Lateinischen und Griechischen stammt, aber durchaus deutschsprachige Ausdrücke integriert. Er beruht ebenfalls auf philosophischen Traditionen. (Seine symptomfunktionale Abgrenzungsfunktion kann aufgrund der volkssprachlichen Ausrichtung des Corpus nicht diskutiert werden.) 3. Im Sinne der Pädagogisierungsbestrebungen mancher Autoren zeigt sich eine deutliche Tendenz hin zur Volkssprache, bei der bestimmte Ausdrucksformen den Experten- und den Laiendiskurs zu einem deutschsprachigen Fachdiskurs in Verbindung bringen.
2.2 Die Frage nach der Fachsprachlichkeit im Praxistext Betrachtet man die gefundenen Ausdrücke hinsichtlich ihrer Fachsprachlichkeit und zwar konkret nach den Kriterien Eindeutigkeit, Wohlbestimmtheit, Normiertheit, Ökonomie, Exaktheit, überregionale Standardisierung und nicht zuletzt Fehlen alltagssprachlicher Konnotationen, so lässt sich vor allem semasiologisch und onomasiologisch konstatieren: 1. Bei den gefundenen Wörtern stammt der Großteil aus dem Alltagswortschatz. Schon beim ersten Blick sieht man die vielen Bedeutungsanzeiger. Das heißt die meisten der hier aufgeführten Ausdrücke sind polysem, zum Teil hochgradig. So wurde das Verb zum zentralen therapeutischen Verfahren Aderlass lassen als 37-fach polysem angesetzt. Das medizinisch relevante Aderlassen erscheint im semasiologischen Feld von lassen im Bedeutungsansatz 26. Bei einer zum Teil so hochgradigen Polysemie kann weder von Eindeutigkeit und Normiertheit die Rede sein noch von einem Fehlen alltagssprachlicher Konnotationen auf der Langueebene. 2. Eindeutig Fachsprachliches bietet höchstens der Fremdwortbereich. Doch auch hier können die Fachsprachekriterien nicht angewandt werden, da in den einzelnen Semantiken nur selten klare, eindeutige, exakte Bedeutungen angesetzt werden konn-
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ten. Der Lexikograph hat dann zwar ein vermeintliches Fachwort mit in der Regel lateinischem Ursprung, aber er kann dieses selten sofort diagnostizieren. Bezeichnenderweise ist die ausdrucksseitige Deformation bzw. Variation manchmal so ausgeprägt, dass nur der etymologische Fachmann es zuzuordnen vermag. Semantische Vagheit kennzeichnet also auch den sogenannten medizinischen Wortschatz des Frühneuhochdeutschen. 3. Dieser Befund zeigt sich noch einmal hinsichtlich der Onomasiologie. Die Bezeichnungsvielfalt steht in klarem Widerspruch zur Terminologisierung, jedenfalls im Wüster‘schen Sinne. Von Wohlbestimmtheit, Exaktheit, Normiertheit kann also keine Rede sein. Dies kann man am Beispiel der Krankheitsausdrücke demonstrieren.
2.2.1 Das Kriterium Exaktheit am Beispiel der Krankheitsausdrücke Viele deutschsprachige Krankheitsbezeichnungen sind vage, müssen disambiguiert werden oder haben nur einen bestimmten regionalen Verwendungsrahmen. Nicht selten lässt sich eine große Anzahl konkurrierender Bezeichnungen nachweisen, deren begriffliche Intension immer nur fallbezogen spezifiziert werden kann. Im Fremdwortbereich kommt noch das Problem der Lemmavarianten hinzu. Für den Lexikographen sind dies alles enorme Herausforderungen, was man an den Lemmata paralyse und gesüchte sehen kann. Im Artikel paralysis fallen nicht nur die vielen Schreibvarianten auf, die regionale Begrenzung auf den oberdeutschen Raum, die zahlreichen und ebenso vagen Bedeutungsverwandten wie gebreche, läme, ritte, schlag, schlagflus, siechtag, siechtum, suchttropf, sondern auch die recht unspezifische Bedeutungserläuterung. paralis, parilis, parlis, parlei, perlis, das. [. . . ] – Zu mhd. paralis (Lexer 2, 205), dies aus griech.lat. paralysis ‚Lähmung‘ (Pfeifer, Etym. Wb. des Dt. 1993, 970). ‚Paralyse, motorische Lähmung, Schlagfluß, Hirnschlag, Apoplexie, Muskelkrampf; Gicht‘. – Nur obd. Belege. Sudhoff, Paracelsus 1, 83, 4 (um 1520): Der schlag hat in im etlich krankheiten, welche mit vil namen begriffen werden, als apoplexia, paralysis, lethargus. Gilman, Agricola. Sprichw. 1, 375, 10 (Hagenau 1534): Daß dich das Parle růre / die Paralysis. Also flůchen die Francken und Voytlender / und ist der schlag / da eyner in seitten gantz lam wirt / oder stirbt von stunden an / darnach es yn trifft. Sappler, H. Kaufringer 25, 125 (schwäb., Hs. 1472): Der viert gepräch fröudenlär, | [. . . ] | der ist genant paralisis. | [. . . ] | die gelider er zesammenzwingt, | das er kain werk volbringen mag. (literarisch-didaktischer Text).
Während Paracelsus das Wort in einem nahezu fachterminologischen Sinne erklärt und geradezu monosemiert, aber eben auch auf die übliche Bezeichnungsvielfalt hinweist, zeigen die nichtmedizinischen Texte das Laiensprechen der Zeit und damit die
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Vagheit der Ausdrücke. Die Fokussierung auf Sprache und vor allem den Alltagswortschatz lässt den Lexikographen Abstand nehmen von einer im Ernstfall sogar bewertenden sachlexikographischen Erläuterung, bei der eine richtige von einer falschen Bedeutung unterschieden und das Wort einer modernen monosemistischen Exaktheit unterworfen würde. Ist die hauptsucht 1. ‚„Krankheit, welche mit vorwiegend cerebralen Erscheinungen einhergeht: Phrenesis, Delirium, auch einfacher Kopfschmerz“‘ oder 2. ‚zu Haarausfall führende Hautkrankheit (Alopezie)‘? Ausdrücke für Krankheit gibt es im Frühneuhochdeutschen viele: aussaz 3, bane, blödigkeit 1, brech 2, elend, gebrechen (der) 2, gebrest 2, geserlichkeit (rib.), gesüchte, jammer 1, kränke 1, leibsbeschwerde, malefiz 3, notdurft, pestilenz 1, ritte, schmerz, schwäche, seuche, siechtage, siechtum, stichelsucht, sucht, todseuche, wetag, wetum, wiederwärtigkeit.
Auffällig häufig findet man semasiologische Übergänge von allgemein bis spezifisch wie bei gesücht. Es ist vorwiegend im Oberdeutschen belegt und dort nicht nur in medizinischen Fachtexten, sondern vor allem in Texten der Sinnwelt Religion und Didaxe. Es bedeutet zunächst einmal allgemein Krankheit, dann speziell Rheuma und dann als drittes in einem humoralpathologischen Sinne krankheitserregender Stoff. gesüchte, das. 1. ‚Krankheit (meist:) des Menschen, (vereinzelt:) von Tieren (allgemein)‘; oft ‚diejenige Krankheit, die im Text als bekannt vorausgesetzt wird und deshalb nicht im heutigen Sinne identifiziert werden kann‘. – Gehäuft obd.; Texte der Sinnwelt ‚Religion / Didaxe‘. – Bdv.: krankheit, ritte, siechtage, siechtum. 2.
‚rheumatischer Schmerz in den Gliedern, Gelenkrheumatismus (vereinzelt auf analog gesehene Erscheinungen von Tieren bezogen)‘. – Wobd./oobd.; einschlägige Fachtexte sowie Texte der Sinnwelt ‚Religion‘. – Phras.: das schlafende gesüchte ‚Unempfindlichkeit der Glieder / Adern‘. – Bdv.: flus, gegicht, geschwulst 2, krankheit, podagra, schweinung, tropf, zipperlein; vgl. rheuma. [. . . ]. Wbg.: 2gesüchtig 2 ‚rheumatisch, in den Gliedern sitzend‘, gesüchtisch, gesüchtsalbe ‚Salbe gegen Rheumatismus‘ (17. Jh.). Bihlmeyer, Seuse 45, 18 (alem., 14. Jh.): Im [Seuse] wurden die fůsse vol gesúhtes: do geswul˚ werden. len ime dú bein, als ob er wassersúhtig wolti ´ alles das gesúht in dem bain Ott-Voigtländer, Rezeptar 210r, 1 (Hs. nalem., um 1400): Fvr vnd fúr / den tropfen in allem lib vnd in allen / gelidern: nim holder ber. Menge, Laufenb. Reg. 1679 (Hs. nalem., um 1470): was den füssen krankheit schafft | Als geswulst vnd gesúchte | Wonn sú sindt kalte vnd fúchte. Adrian, Saelden Hort 6742 (alem., Hss. E. 14./15. Jh.): meniger hand fruht, | die tropfen und gesúht | gar hailent und swainent. Sudhoff, Paracelsus 3, 176, 8 (1526/7): in den cassaten und gesüchtischen krankheiten wirket es [ein Wasser].
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Ebd. 7, 358 (1529): solcher art [der Cura juncturarum] sind siben, eine die in die krüme get der glider, eine in die düppel, eine in die hüft, eine auf die artetisch art, eine in die nerven, eine gesüchtig und eine knöpfig. Ebd. 10, 198, 20 (1536): Es werden auch etwan wunden in den wassersüchtigen, flüssigen, gsüchtigen, arthetischen, podagrischen geschlagen. Maaler 177r (Zürich 1561): Gesüchte (das) Morbus articularis. Gesüchte oder kranckheit der gleychen / wo die seygind / als das Zipperle in den henden / in den fůssen das pedagra genant. Artuum dolor. – Päpke, Marienl. Wernher 7284; Vetter, Schw. zu Töß 53, 6; Buck, U. v. Richent. Chron. Conz. 137, 8; Schmidt, Hist. Wb. Elsaß 139; 141; Schweiz. Id. 7, 286 f.; 290; Schwäb. Wb. 3, 570. 3.
‚krankheitserregender Stoff, im Übermaß vorhandener Humor (Saft, Körperflüssigkeit)‘. Follan, Ortolf. Arzneib. 28, 4 (rib., 1398): Ef eynen menschen eyn sucht wyl besteyn, [. . . ], so saltu merken, ef et von ouerricheme blode sy eder von anderme gesuchte. Keil, Peter v. Ulm 241 (nobd., 1453/4): kew daz vnter den zennen, daz zeucht daz gesucht vnd die überflußigkeit auß, vnd jm wirt paß zuhant. Rohland, Schäden 413; Foltz, UB Friedb. 1, 182; Schweiz. Id. 7, 287; 290; 806.
Von Exaktheit und Wohlbestimmtheit ist also auch hier keine Spur. Dies wird auch nicht wirklich besser hinsichtlich von scheinbar spezifizierenden syntagmatischen Verbindungen oder Phrasemen wie das schlafende gesüchte ‚Unempfindlichkeit der Glieder/Adern‘ oder all den Phrasemen zum Stichwort krankheit: aranische krankheit ‚von der Spinne herrührende Krankheit‘; astralische krankheit ‚von den Sternen beeinflußte Krankheit‘; aufblasende krankheit wohl ‚Flatulenz‘; crapulische krankheit ‚durch Alkoholgenuß verursachte Krankheit‘; französische krankheit ‚Syphilis‘; fräuische / natürliche / weibliche krankheit ‚Menses‘; hinfallende krankheit ‚Epilepsie‘; hohe kranheit ‚Typhus‘; leprosische krankheit ‚Aussatz‘; martialische krankheit ‚aggressive Krankheit‘; materialische krankheit ‚physische Krankheit‘; melancholische krankheit ‚Melancholie‘; mikrokosmische krankheit; mineralische krankheit; paralitische krankheit ‚Lähmung‘; physikalische krankheit; spiritalische krankheit ‚psychische Krankheit‘; queksilberische krankheit; sulphurische krankheit ‚dem Schwefel zugeordnete Krankheit‘; tatarische krankheit ‚durch Weinstein hervorgerufene Krankheit‘; ungarische krankheit ‚Psychose‘; weisse krankheit; dummerische krankheit; elementische krankheit.
Der Lexikograph steht also immer wieder vor dem Problem, dass er zwar keine Diagnose über die Diagnose machen kann, es aber dennoch muss. bet|riese, die; ‚schwere Krankheit, Bettlägerigkeit‘. Bäumker, Geistl. Liederb. 13, 5, 1 (oobd., 2. H. 15. Jh.): Von ffieber, petrys, wassersucht | macht er vil menschen hie gesunt.
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patich, die; Etymologie? eine Art der Wassersucht. Haage, Hesel. Arzneib. 14v, 2 (Hs. ‚sl‘ noobd./md., E. 15. Jh. ‚sr‘): Nu merck, maister, dreyerlay basser sucht, die der mensch an im hat. Die erst basser sucht hayst die patich, die ist gemüscht mit basser und mit plutt. Wer die selben gebinnet, der musz sterben.
2.2.2 Fehlende Wohlbestimmtheit durch Bezeichnungsvielfalt bzw. stilistische Variation Betrachtet man außerdem die onomasiologischen Vernetzungen der Ausdrücke, so findet man nicht selten eine verwirrend hohe Zahl an Bedeutungsverwandten, die, wie es sich für eine Sprachepoche ohne Leitvarietät durchaus erwarten lässt, zum einen auf regionale Gebrauchsvarianten verweisen, zum anderen auf stilistische Variationen mit ideologischem Erklärungscharakter (wie die bei hand gottes) im Falle üblicher Bezeichnungen für den Schlaganfall. Schlaganfall: apoplexia, gächtod (rib.), 2gut (wobd.), hand gottes, läme, margtropf, paralis.
Die vielen Bezeichnungen von Hautkrankheiten dokumentieren aus der historischen Distanz nicht etwa eine differenzierte Diagnostik derselben, sondern regionale Gebrauchsvarianten. abgrind, ansprung 4, äres, 2 atze, aussaz 3, ausschlag 14, aussetzekeit, aussetzel 2, aussetzige, aussetzigkeit 1, aussezheit, cambucca, parseln, beissige, blater 2, donschlecht, feigwarze, flechte, gnaz, 2 gneist, grind 1, jucken 3, juckung, krätze, krätzigkeit, lepra, mal, malazei, maselflechte, masenschlag, maser, meltau, mies, mieselsucht, milbe, reude, reudigkeit, schäbigkeit, schorf, schwäre, test 3, unflat, warze, zittermal, zittersch.
Während einige Ausdrücke durchaus überregional gebräuchlich sind, so grind oder meltau, kommen einige nur regional begrenzt vor. Preußisch: ansprung 4 ‚Grind des Kopfes‘. Nürnberg: 2 gneist, der ‚Grind, Schorf‘; möglicherweise auch für einen von Grind (o. ä.) befallenen Menschen sowie für den Kahlköpfigen gebraucht. test 3 ‚Schorf, Grind‘; Ütr.; Fischer, Folz. Reimp. 14, 243 (Nürnb. um 1520): Seyn hawbt enplöst er [edelman] und lyß sehen | Seyns grindes flader und den test. Wobd./oobd.: mies, das; ablautend zu mos (Lexer 1, 2133). ‚Moos (sowohl als Pflanze wie als Binde- und Füllmaterial, z. B. beim Pfropfen von Bäumen); Moosflechte‘; ütr.: ‚dem Moos verglichener Hautschorf, Grind; moosähnlicher Hautauswuchs‘; auch: ‚sumpfiges Gelände‘.
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Obd.: donschlecht, die; ‚Hautausschlag‘; Strauss, A. v. Villanova dt. 170 (obd., Hs. 1421): vnd wirt der mensche vßsetzig vnd gewinnet die donschlecht vnd die parßeln vnd wirt vßsclagen vnder den augen.
Man fragte sich allerdings, welche der vielen Bezeichnungen des Hautauschlages zur physischen Segregation der Betroffenen und damit zur Verweigerung von Hilfe, von alltäglichen Berührungen, von Rechten, wie der gemeinsamen Brunnennutzung führte? Welche Diagnose ist ein judizium in seiner semantischen Vagheit zwischen rechtsrelevantem Gerichtsurteil und medizinischer Diagnose?3 Sudhoff, Paracelsus 1, 178, 1 (um 1520): das ir so lang geacht habet und iudicia gesezt dem menschen auf die natur der sternen. Ebd. 8, 275, 19 (1530): diser nun [. . . ] der weißt vorzusagen und anzuzeigen (als irs nenen die nativiteten oder iudicia) ob der mensch fallend wird in diese krankheit oder nit.
Welche der Diagnosen des Hautausschlages haben moraltheologische Komponenten und das heißt moraltheologische Folgen für die Betroffenen? Linguistisch gefasst: Was also sind die Semiotiken und nicht zuletzt die Deontiken dieser Wörter? In einer Kultur, in der Aussatz als äußeres Zeichen für innere Sündhaftigkeit der Seele, damit für göttliche Strafe und Ausgrenzung betrachtet wurde, und dies nicht nur bei Predigern wie Berthold von Regensburg oder Geiler von Kaysersberg, stehen mit den Wörtern Schicksale auf dem Spiel. Welches dieser Wörter hat eine solche Macht, welches nicht? Und nicht zuletzt: Wie wichtig sind diese Ausdrücke außerdem als Ausgrenzungsmetaphern außerhalb des Gesundheitsbereiches? Die Pragmatik dieser Ausdrücke lexikographisch zu erfassen, steht, dies sei nebenbei bemerkt, als große Herausforderung noch vor uns. Im FWB gehen wir sie an.
2.3 Ergebnisse Von exakten Diagnosen kann man kaum sprechen. Kontext- und situationsabhängige, das heißt fallspezifische Interpretationen sind nicht nur für den damaligen Arzt, auch für den heutigen Lexikographen nötig, wobei letzterer wahrscheinlich noch hilfloser ist, als der damalige Arzt, der großen Wert auf die Arzt-Patienten-Kommunikation legen musste, wollte er wissen, was seinem Patienten fehlt (vgl. dazu LobensteinReichmann 2015). Für den Lexikographen werden kaum definitorische Klassifikationen überliefert. Die Wörter erklären sich und die diagnostizierte bzw. in Frage kommende Krankheit nicht von selbst. Kurzum: Es gibt keine Wohlbestimmtheit, keine
¯ 3 Vgl. dazu: judicium, das; alle Belege mit lat. Flexion; aus lat. judicium ‚Urteil‘ (Georges 2, 482) Bedeutung: ‚Urteil, Urteilskraft; Diagnose‘.
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Exaktheit und auch daher keine Terminologisierung auf der Languebene. Dies liegt nicht nur an der holistischen Medizin der Zeit, sondern nicht zuletzt auch an der Tatsache, dass das Frühneuhochdeutsche eine pluralistische Sprachform ohne normierte Leitvarietät ist. Höchstens auf der Ebene der Parole kann der Lexikograph versuchen, dem in einem Text vorgestellten Fall mit viel Gespür für eine nicht sprach- und fachsprachlich standardisierte Zeit nahezukommen. Dass er aber gerade dies zum Gegenstand seiner Bemühungen machen sollte und nicht das Fachterminologische, steht zumindest für uns außer Frage. Es zeigt sich ja gerade in den semantischen Überlappungsbereichen und in den Sinnwelteninterferenzen das eigentlich Interessante am Medizinischen im Frühneuhochdeutschen.
3 Medizinische Semantik als Teil umfassenderer Semantiken oder die Frage nach der Abgrenzbarkeit von Sinnwelten Unter einer Sinnwelt ist derjenige Kommunikations-, Einstellungs- und Handlungskontext und diejenige soziale Praxis zu verstehen, von dem bzw. von der aus kommunikative Sinnstiftung erfolgt. Als Sinnwelten des Frühneuhochdeutschen gelten nach einem diesbezüglichen konzeptionellen Wurf und einschlägigen Arbeiten der Freiburger Schule der Alltag, die Religion, die Institution, die Wissenschaft, die Dichtung. Demnach wäre die Religion eine der Sinnwelten, von der her die Semantik und Pragmatik des Wortschatzes bestimmt würden. Die Medizin erscheint ebenso wie zum Beispiel das Recht in der Freiburger Liste nicht; sie wäre demnach kein Zentrum sprachlicher Sinnstiftung. Das kann nur bedeuten, dass man die Bereiche, die man heute als Medizin zu bezeichnen und als weitgehend eigendynamisch zu betrachten pflegt, in frnhd. Zeit irgendwie anders zu verorten hat. Medizin wäre dann keine Sinnwelt mit eigener Deutungshoheit über pragmasemantische Inhalte; vielmehr unterläge sie der Pragmatik des Alltags, vor allem aber der Deutungs- und Wertungshoheit der Religion, insofern höchstens eingeschränkt den Erkenntnissen von Wissenschaft (die zwar als Sinnwelt anerkannt wird, dies damals aber im heutigen Sinne sicher nicht ist). Lexikographiepragmatisch bedeutet dies, dass medizingeschichtlich relevante Sememe immer auf ihre Beeinflussungen, Nuancierungen, Spezialisierungen, Tropisierungen von Seiten der Texte der Sinnwelten ‚Religion‘ und ‚Alltag‘ her befragt und entsprechend beschrieben werden müssen. Genau das ist im FWB geschehen. Würde man an ein größeres Historisches Wörterbuch der Medizin denken, so wäre das Quellenkorpus entsprechend auszurichten. Während also die Lemmata, die aus dem Fremdwortbereich stammen, relativ unwidersprochen als fachsprachlich gelten könnten, wird es mit Ausdrücke wie bad, böse 3, bosheit 3, derre, disziplin, maße, aber auch büssen 3 ‚(jm) etw., z. B. Krankheiten,
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vertreiben, heilen‘ schwieriger. Der zentrale Wortschatz, der sich aus der Temperamentenlehre bzw. der Vier-Säftelehre speist, kann nicht fachterminologisch allein betrachtet werden, sondern muss in den Rahmen ganzheitlicher Methoden gestellt und nach seinen philosophischen Grundsätzen befragt werden. Gerade diese Ausdrücke sind in der Regel hochgradig polysem. Dies betrifft z. B. tugend, träge, kraft, macht, träge, heiß, kalt, warm, feucht, reinigen, vor allem aber auch maße als maßgebliche philosophische und moraltheologische Kategorie. Bei einer Gesamtbetrachtung der semasiologischen Felder dieser Ausdrücke ergibt sich ein Bild, das nicht nur die holistischen Ansätze der frühen medizinischen Diskurse semantisiert, sondern auch deren fortbestehende Verzahnung im Frühneuhochdeutschen. Ganzheitlich heißt hier tatsächlich auch ganzheitlich semasiologisch. Natürlich könnte man, vor allem nach heutigen naturwissenschaftlichen Ideologien, die Polysemie dieser Wörter als sinnweltenbezogene semantische Ausdifferenzierung ansehen. Dann wäre arbeiten im Ansatz 10 ‚auf etw. einwirken, eine treibende Wirkung auf etw. haben (z. B. von Kräften oder von Medizin gesagt)‘ nur sinnweltenbezogen und damit in medizingeschichtlich relevanten Texten zu finden, so bei Konrad von Megenberg. Tatsächlich kommt es nicht nur dort vor, sondern auch im Fremdwörterbuch Rots als Bedeutungsverwandtschaft zu operieren (vgl. auch Chronik Nürnberg 2, 305, 16). ˚ Rot 333 (Augsb. 1571): Operirn, Würcken / wercken / arbeyten / ist ein Apoteckerisch wortel / das sie brauchen von jren purgatzen vnd Recepten. Pfeiffer, K. v. Megenberg. B. d. Nat. 71, 31 (oobd., 1349/50): daz feur, enprant in grüenem holz, prennet vester wann in dürrem, wan es muoz sêrer arbeiten in grüenez wann in dürrez. alsô tuot der hailig gaist, der arbait vester in die sêl der jungen läut [. . . ] danne in der alten sêle.
Letztlich bleibt auch das Wissen um die Semantik der anderen Sinnwelten, in denen das Wort üblich ist, erhalten. Deutlich wird nicht nur die Einbettung und Interferenz der einen Sinnwelt in eine oder mehrere andere, sondern auch der reziproke, sich wandelnde Konstruktcharakter von Semantiken, deren Abgrenzungen nur dann klar werden, wenn man sie isolationistisch betrachtet. Denn medizinische Semantik ist sinnweltenübergreifend. Anbei einige Beispiele: Medizinische Sinnwelt und Alltagswortschatz: arbeiten 10, lassen 26 Medizinische Sinnwelt und Recht: artikel, judicium, henken, büssen 6 Medizinische Sinnwelt und Philosophie: maße, tugend, 1 derre Medizinische Sinnwelt und Theologie: 1 busse 1, büssen 3, gesund, krank, beschleimen, heil + Wortbildungen, arzt + Wortbildungen Medizinische Sinnwelt und Psychologie: 1 galle.
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4 Medizinische Sinnwelten und der Alltagswortschatz Eine konsequente Antwort auf die medizinische Not der Patienten ist die volkssprachliche Pädagogisierungswelle, bei der traditionelles, zum Teil aus der Antike überliefertes, medizinisches Wissen einem interessierten Laienpublikum vom Bader zum Hausvater transferiert wird. Genutzt wurde hierzu der Alltagswortschatz der Patienten. Wortbildungen aus alltagsnahen Wörtern werden eingeführt, Metonymisierungen und Metaphorisierungen werden vorgenommen. Doch der Verweis auf eine Art Verdeutschungswelle reicht für die hohe Anzahl medizinischer Semantiken nicht aus. In einer Welt, in der es den Arzt im heutigen akademischen Sinne nur als Ausnahmeerscheinung reicher Leute gab, in der sich das heilende Personal eben aus ganz unterschiedlichen Wurzeln rekurrierte, speist sich das Medizinische sicher weniger aus der sich als Stand etablierenden akademischen Ärzteschaft mit ihrem symptomfunktionalen Fachjargon, sondern vor allem aus dem Alltag seiner mit Krankheit und Tod konfrontierten Patienten. Dies zeigt sich an folgender Liste: arbeiten 10, lassen 26, abhauen 1 ‚jm. etw. (ein Körperglied, vor allem den Kopf, als Straftat z. B. einen Finger, als Strafe vor allem die Hand oder Finger) abschlagen‘, je nach Verwendung dann ‚enthaupten, köpfen‘, ‚amputieren‘ usw.; ablieden ‚etw. (z. B. eine Rede) abbrechen, beenden‘; wohl Ütr. zu ‚(ein Glied) abhacken, amputieren‘; arsdrängen ‚jm. ein Klistier verabreichen‘; ausfürben 2 ‚(den Darm) gründlich leeren, purgieren‘; gereinigen, V. ‚etw. / jn. rein machen, säubern‘; speziell: ‚jn. heilen‘; abledigen 3 ‚jn. von etw. (z. B. einer Krankheit) befreien; sich von etw. befreien‘; abnemen 22 ‚jn. von etw. (z. B. einer Krankheit) befreien, etw. beseitigen, etw. (Belastendes) von jm. nehmen‘; abreden 7 ‚irre reden (aus Krankheitsgründen)‘, auch wertend für: ‚irres Zeug reden‘; abwiz ‚Unverstand, Verrücktheit, Geistesschwäche, Irrsinn (sowohl als nicht krankhafte Verhaltensform wie als Krankheit)‘; 1 alt 12 ‚seit längerer Zeit vorhanden, bestehend, chronisch (speziell von Krankheiten)‘; alteration ‚Veränderung, Störung‘, auch: ‚krankheitsähnliche Störung‘; anbrennen 5 ‚ausbrechen (von Krankheiten)‘; anfallen 2, angrif 9 ‚Anfall von etw. (z. B. einer Krankheit)‘; zu angreifen 15; ankommen 11 ‚jn. überkommen, befallen, jm. zustoßen, jn. ergreifen (meist von Negativem wie z. B. Krankheiten gesagt)‘; anreizung 1 ‚Anreiz, Ansporn, Veranlassung, Regung, Antrieb‘; spezialisiert: ‚Anfall, Ausbruch einer Krankheit‘; anzünden 6 im Beleg als Part. Prät.: ‚infiziert, entzündet, voller Krankheitskeime‘ (bildlich); loch 8 ‚durch ein Geschwür o. ä. verursachtes Loch in der Haut; als Loch gedachte / wahrgenommene Wunde, Verletzung am oder im Körper‘; in 1 Beleg: ‚Pore‘ usw.
4.1 Medizinische Sinnwelt und Recht Bei den Interferenzen zwischen Medizinischem und Juristischem böte es sich sicher an, auf den Henker als einem der üblichen Orthopäden der Zeit einzugehen oder auf das Verb büssen, dessen Semasiologie explizit medizinische, juristische wie theologische Komponenten hat. Auf die Semantik von judicium wurde schon verwiesen. Das Wort bedeutet eben nicht nur juristisches Urteil, sondern bei Paracelsus auch Diagno-
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se. Doch auch medizinische Urteile waren folgenreich. Sie entschieden z. B. über die Segregation der Lepra- oder Pestkranken, später der Syphilispatienten, insofern haben medizinische Semantiken immer auch juristische Komponenten. Dies gilt auch für den Professionalisierungsdiskurs. Schon mit dem Berufstitel wird ausgehandelt und in späteren Zeiten abgeklärt, welche Rechte welcher Heiler für welche Heilmethoden hat.
4.2 Medizinische Sinnwelt und Psychologie Der Bereich psychischer Erkrankungen steht am Rande des hier Vorgetragenen. Als Lexikograph weiß man nicht einmal mit Sicherheit, ob man psychische Erkrankungen in frühneuhochdeutscher Zeit überhaupt in die Kategorie Krankheit und Pathologie einordnen soll, oder nicht. Ausdrücke wie aberwiz, abwiz, anfechtung 5, geistkrankheit, mania, melancholei4 , milzsucht, taubsucht, tobsucht, tobigkeit, unsinnigkeit, unwürdigkeit, urleuge, wüten oder hauptkrank, hauptsiech, mänig töricht, tol 1 verlaufen oft an den Grenzen zwischen geistiger Behinderung, körperlicher Defizienz und religiösem Unvermögen bzw. Versagen. So ist ein grütling ein „geistig verkümmertes Geschöpf“ (so Schwäb. Wb. 3, 888; 14. Jahrhundert), ein Krüppel ein in einem geistigen wie in einem körperlichen Sinne Behinderter, ein Tor aber kann die Bandbreite zwischen einem zum Teil hochintelligenten Hofnarren bis hin zum geistig Behinderten ausloten. Deutlich wird bei nahezu allen Semantiken, dass es eine Leib-SeeleTrennung, wie wir sie heute vornehmen, kaum gab. Ausdrücke wie gesund, krank oder z. B. verletzen betreffen in der Regel den ganzen Menschen als Leib-Seele-Einheit (vgl. dazu Lobenstein-Reichmann 2015). Das Adjektiv las 1 ist ‚[. . . ] körperlich gebrechlich aufgrund von Alter und Krankheit‘; ütr. auch auf seelische Zustände, dann: ‚geistig und seelisch niedergeschlagen, erschöpft; unmotiviert, lustlos, depressiv‘. Die Grenzen sind kaum fassbar. Zu den üblichen Erklärungsversuchen für Depression und Melancholie, die nicht explizit als Krankheit definiert, sondern eher als besonders schlecht ausbalanciertes Temperament gesehen wird, gehören die Viersäfte- und die aristotelische Temperamentenlehre, deren Ideal eine optimale Mischung von warm, kalt, trocken, feucht der Kardinalflüssigkeiten: Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle ist. Die Semasiologien von Wörtern wie galle oder derre sind das Ergebnis dieser Humoralpathologie. Sie zeigen nicht nur deren zeitüblichen Erklärungswert für psychische Konstellationen, sondern auch die humoralpathologische Metaphorisierung: 1 galle,
die; -n/-n, 2* gal, die; zu mhd. galle ‚Galle, Bitteres‘ (Lexer 1, 729). – Gehäuft im medizinischen und religiösen Schrifttum.
4 Vgl. dazu Simon Musäus (1569): Wider den melancholischen Teuffel. In: Staiger (2005: 210–255).
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1.
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‚die Galle als menschliches oder tierisches Organ; die in der Gallenblase gespeicherte bittere gelbgrüne Absonderung der Leber, die vor allem der Verdauung von Fetten dient; Gallenblase‘. – Wbg.: gallenblat ‚Gallenblase‘ (a. 1466), gallenfell ‚Gallenblase‘ (1. H. 14. Jh.), gallenhaut ‚Gallenblase‘ (v. 1452), gallensucht ‚Erkrankung der Galle‘. Follan, Ortolf. Arzneib. 32, 17 (rib., 1398): De lunge, dy dut den schumen dez blůdez an sich; de galle, daz heyze blod. J. W. von Cube. Hortus 73, 35 (Mainz 1485): Sie haben macht zů stercken vnd zů stopffen stůll geng. Vnd widder das brechen daz do kompt von der gallen. Sudhoff, Paracelsus 2, 467, 21 (1525/6): durch vil acetosische seuri der gallen kompt zittern in den glidern.
2.
‚die bittere, gelbgrüne Absonderung der Leber‘; metonymisch ‚bittere Flüssigkeit‘. Neumann, Rothe. Keuschh. 2662 (thür., 1. H. 15. Jh.): mit dissen dingen ess ubel tud | unnd vellet in di laster alle | unnd wirt ym bitter alss ein galle. Eis u. a., Asanger Aderl. 2, 44 (sböhm., 1531): man sol [. . . ] rayne gaißmilich vnd aines geyers gal alles mit einander müschen vnd jn ain rain glas thuen.
3.
‚Ärger, Bitternis, Falschheit, Groll‘; ütr. zu 2; personifiziert ‚ein Mensch als Verkörperung des Bösen, Falschen‘. – Synt.: des neides / todes, der hölle / sünde / unkeusche g., g. und gift, ein mensch voller / one g.; bittere / böse / falsche g. Pfeiffer, Nic. Jerosch. Chron. 153 (preuß., um 1330/40): din süze ist wordin galle. v. d. Broek, Suevus. Spieg. 176v, 33 (Leipzig 1588): Ob er wol [. . . ] jhn seinen lieben bruder nennet / so ist doch sein Hertz voller Gall vnd Gifft. Karsten, Md. Paraphr. Hiob 12502 (omd., 1338): Tu in loz, daz er icht valle | Noch stige in dis todes galle. Chron. Strassb. 110, 3 (els., 1362): Swebel, bech und ouch die gallen | Güßet der tüfel in sie alle. Vetter, Pred. Taulers 26, 30 (els., E. 14. Jh.): alle die die dis ie gesmahtent, den ist alle dise welt ein bitter galle. Barack, Zim. Chron. 1, 243, 4 (schwäb., M. 16. Jh.): das der loblich könig Rupprecht ain herr sei gewesen ganz milt und voller tugenden, auch ain könig one gallen und arich. Klein, Oswald 4, 53 (oobd., 1431/2): wie leiden kompt von gottes witz, | gedultig sei des fro, | wann leiden swennt der sünden gall.
1 derre,
1.
dörre, die ‚Trockenheit‘; im Beleg vielleicht vor humoralpathologischem Hintergrund: ‚Melancholie‘.
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Primisser, Suchenwirt 40, 99 (oobd., 2. H. 14. Jh.): Tzwo pein dem neider sint erchorn, | Die derr auf erd, und dort die hell. 2.
‚Schwindsucht, Lungentuberkulose‘; vgl. auch darre 2. – Wbg.: dersucht. Follan, Ortolf. Arzneib. 109 (rib., 1398): Ptysys heyszet de derre eder de swinsucht vnde comet eme von geswer eder van eyner vulnisze der lungen [. . . ] vnde is eyn dotlich suche. Leidinger, V. Arnpeck 593, 9 (moobd., v. 1495): aus grossem triebsal viel sy [frau Jacoba] in di krankayt der derrsucht.
4.3 Medizinische Sinnwelt und Philosophie Mit der Humoralpathologie und dem Ideal der Balance sind nicht nur Diätetik und Ernährungslehren angesprochen (Bergdolt 1999: 143 u. ö.), es ist auch der Übergang zur Philosophie überschritten. Philosophisches und Theologisches markieren insgesamt die zentralen Interferenzen zum Medizinischen. Wichtigstes Stichwort ist die Maße. Im FWB wurde 1 masse achtzehnfach polysem angesetzt. Das semasiologische Feld umfasst dabei nicht nur von 1–11 Maßeinheiten aller Art, ab den Ansätzen 12, 13 und 14 wird es zum Schlagwort für eine Tugend und Besonnenheitssemantik, die Ordo- und Lebenslehren der Zeit auf den Punkt bringt. Wird diese Temperamentenlehre, wie man sie auch nennt, als ordo vitalis betrachtet, wie dies Thomas von Aquin tat, so greift sie selbstverständlich ins Politische hinein (Bergdolt 1999: 143). Den deontischen Gedanken des rechten Maßes formulieren auch die Wortbildungen temperament im Sinne von ‚richtiges Maß, Mittelmaß; Mäßigung‘, temperanz ‚Mäßigung‘ (Georges 2, 3045) ‚Mischung; Mäßigung‘ oder temperatur, das eben 1. ‚die Mischung‘, das ‚(richtige) Mischungsverhältnis‘ bedeutet hat und nicht nur 2. ‚(in Graden meßbarer) Wärmezustand, Temperatur‘. temperei bedeutete nicht nur ‚Mischung; Mäßigung; Maß‘, sondern auch: ‚Mixtur, Arznei; warme Luft‘. Pyritz, Minneburg 5391 (nobd., Hs. um 1400): Got herre, syt daz du nů hast | Gegeben manig temperye, | Fur alle smertzen ertzenye, | Fur hitz, fur kelt und auch fur vergift.
Mit dem letzten Beleg ist man mitten in der eigentlichen Medizin der Zeit und damit bei den Interferenzen zwischen Theologie und Medizin, auf die hier nur noch sehr marginal eingegangen werden kann.
4.4 Medizinische Sinnwelt und Theologie In der zuletzt zitierten Minneburg wird Gott in der Rolle des Heilenden gesehen. Dies in einem modernen Sinne als Metapher zu verstehen, wäre ebenso an der Zeit vorbeigedacht, wie wenn man die Medizin als Heilkunst vom jeweiligen Heilkult tren-
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nen würde. Denn, so Bergdolt (1999: 110): „[. . . ]wie bei allen Hochkulturen ist es aus heutiger Sicht schwierig, zwischen religiös-kathartischer und praktisch-hygienischer Motivation zu unterscheiden.“ Im Neuen Testament bilden Krankheits- und Heilungsgeschichten, die Schlüsselszenen (ebd.: 114), in denen Christus zum Hoffnungsträger für die körperlich, geistig, wie geistlich leidende Kreatur erhoben wird. Christus Medicus, theologia medicinalis, pharmacologica sacra (Staiger 2005), die christliche Seelenapotheke sind nicht nur Metaphern für soteriologische Aspekte des christlichen Heils, wie sie sprichwörtlich beim Arzt und Sprichwortsammler Henisch zu finden sind: „Der Tod in Christo ist ein selige artzney wider die sünd.“ (Henisch 1973/1616: 129) „Messe, Beichte, Kommunion“ sind wichtige „Komplementärtherapien, die das zu heilen versuchten, was sich mit konventionellen Methoden nicht behandeln ließ.“ (Jütte 1991: 161) Es war oft genug die göttliche Apotheke, auf die die Menschen in frühneuhochdeutscher Zeit wohl am meisten vertrauten. Die gesamten Wortbildungsfelder von gesund, krank und heil sind bezogen auf Krankheit und Gesundheit der Seele und des Körpers. Den Bezug zwischen Sünde und Krankheit stellt schon die Bibel her: „WEr fur seinem Schepffer sündigt / Der mus dem Artzt in die hende komen.“ (Luther. Hl. Schrifft. Jes. Sir. 38, 15) Dazu die Marginalie, bzw. Randglosse Luthers: „Betten hilfft mehr denn ertzneien / Vnd der Priester thut mehr denn der Artzt.“ In entsprechender Weise verspricht das Sakrament, Christus Medicus und natürlich Gott die wahre Heilung, nicht nur die des Körpers. Wenn der katholische Priester in der Eucharistiefeier die Hostie mit den Worten das Johannesevangeliums hochhält, so spricht er: „Siehe das Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünde der Welt.“ (Joh 1, 29. 36) Die Gemeinde antwortet: „Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.“ (vgl. Luther Hl. Schrifft 1545, Lk 7, 7; Mt 8; Joh 4) Seelenstatus und Körperstatus sind untrennbar verbunden. Sündigt der Mensch, wird die Seele krank, aber eben auch der Körper. Die Vorstellung von Krankheit als Strafe von persönlicher Sündhaftigkeit konnte so weit gehen, dass man an der Art der Krankheit die vorausgegangene Sünde zu erkennen glaubte und sogar die Heilmittel danach ausrichtete. Man könnte fast von einer Parallele zum Spiegelstrafensystem der Zeit sprechen (vgl. dazu auch das semasiologische Feld von büssen). Es ist hier nicht der Ort, um auf die vielschichtigen Korrelationen des Heilkultes und der Heilkunst einzugehen, die von den ahd. Zaubersprüchen über die christliche Frage nach dem Verhältnis von Erbsünde und Krankheit, damit nach den Kompetenzen der weltlichen Mediziner (die sprichwörtlich auch als „vnsers Herren Gottes flicker“ bezeichnet wurden; Henisch 1974/1616, 128) bis hin zu nachaufklärerischen Exorzismen reichen würde. Es sei jedoch auf den theologischen Sinnstiftungsaspekt von Krankheit als Chance zur Besinnung und Umkehr hingewiesen, wie er in vielen frühneuhochdeutschen Erbauungstexten behandelt wurde. Wenn, wie Emil Angehrn (2012: 37) und andere Philosophen, immer wieder betonen, der Mensch ein fundamentales Bedürfnis nach Sinn und Sinnstiftung hat, dann ist die theologische Begründungsrhetorik des Krankseins als Gottesferne wie das Trostpotential einer möglichen Rückkehr
152 | Anja Lobenstein-Reichmann in die unio mystica mit Gott, selbst wenn dies erst auf dem Sterbebett eintreten sollte, auch psychosomatisch nicht ganz unbedeutsam.
5 Schluss und Ausblick Welche Konsequenzen hätte das Beschriebene für ein medizinhistorisches Wörterbuch des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit? Ziel eines solchen Unternehmens sollte es sein, den Expertendiskurs in seinem Verhältnis zum Alltagsdiskurs zu betrachten und damit alle Wortschatzebenen zu integrieren. Ideal wäre ein Wörterbuch, in dem sowohl die Fachliteratur als Station auf dem Weg zur deutschsprachigen Fachsprachlichkeit als auch das allgemeine frühneuhochdeutsche Sprechen über Heilen und Heilkunde dokumentiert ist. Aufgabe wäre es, 1. die Regionalität des medizinischen Sprechens deutlich zu machen, 2. die entsprechenden medizinischen Semantiken im fachgebundenen wie im alltäglichen Sprechen so auszuweisen, dass deren spezielle Deontiken und Pragmatiken deutlich werden, auch im Hinblick auf ihre Spuren in der Gegenwartssprache, 3. den Professionalisierungs- und Medikalisierungsdiskurs (Loetz 1993) nachzuvollziehen, der von seiner Art her ein semantischer Kampf um die Deutungshoheit, also ein Kampf um das Besetzen von Begriffen ist, 4. die Medizinideologie der Zeit in ihren medizinethischen Zusammenhängen zu erfassen, 5. die Einbettung des medizinischen Sprechens in alle lebensrelevanten Sach- und Sinnwelten deutlich zu machen und dabei jeden Isolationismus zu vermeiden. Letztlich ginge es darum, das Sprechen der zeithistorischen Menschen dort abzuholen, wo es gesprochen und uns überliefert wurde, nämlich in seiner alltäglichen Semantik, Pragmatik und Soziologie und nicht in einer, späteren Zeiten geschuldeten Fachabgrenzung, die es in dieser Weise nur bedingt gegeben hat. Gegenstand wäre dann ganz im Sinne Jörg Rieckes eine fachbezogene Alltagssprache (Riecke 2004: 77), in der das Zusammenwirken von Laien und Praktikern im Alltag (ebd.: 486) beschrieben wird, also die Kommunikation zwischen den Ärzten und Betroffenen, und nicht die zwischen einem kleinen akademischen Expertenkreis, der sich vor allem im Frühneuhochdeutschen erst noch gegen die Konkurrenten durchsetzen musste. Man möchte daher die Bitte äußern, dass ein medizinhistorisches Wörterbuch ein Wörterbuch der Sprecher, nicht das einer Fachsprache werden soll.
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154 | Anja Lobenstein-Reichmann
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Wilhelm Kühlmann
Materia medica als Problem. Sprachdiskussion und Lexikographie im Paracelsismus Mit dem Begriff Materia medica benutze ich die latinisierte Form des Titels Peri hylěs iatrikěs der größten arzneikundlichen Enzyklopädie des Altertums aus der Feder des Pedanius Dioskurides (auch: Dioscorides; 1. Jahrhundert n. Chr.). Nach dem Erstdruck (Venedig 1499) erschien dieses Werk bis 1800 in fast hundert Editionen und bildete zusammen mit den entsprechenden Büchern von Plinius’ d. Ä. Naturalis historia und anderen Überlieferungen den verheißungsvollen, doch in mancher Hinsicht auch problematischen Fundus der abendländischen Drogen- und Pflanzenkunde,1 von mittelalterlichen Bemühungen ganz abgesehen.2 Problematisch auch deshalb, weil Dioskurides im Sachgehalt auf die Mittelmeerflora Bezug nahm, in der Referenz seiner Bezeichnungen jenen zahlreichen Verfassern nicht wenige Fragen aufgab, die sich seit der Renaissance, Dioskurides folgend, in ganz Europa in Kompilationen, Editionen, Kommentaren und Scholien um die pharmakologische Nomenklatur bald auch in Gestalt zahlreicher lateinischer und muttersprachlicher Pflanzenbücher3 bemühten. Auf einschlägige Autoritäten, alle sich stützend zunächst auf Dioskurides, wie Konrad Gessner (1516–1565), Amatus Lusitanus (ca. 1511–1568), Andreas Matthiolus (1501–1577), Jean Ruel/Ruellius (1474–1537), Johannes Lonicerus (1499–1569), Ha-
1 In meinem Beitrag benutze ich folgende bibliographische Abkürzungen: CP = Corpus Paracelsisticum. Dokumente frühneuzeitlicher Naturphilosophie in Deutschland. Der Frühparacelsismus. Bde. I–III/1–2. Tübingen bzw. Berlin/Boston 2001–2013; „VL 16“ = Frühe Neuzeit in Deutschland 1520–1620. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon. Hrsg. v. Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller, Michael Schilling, Johann Anselm Steiger, Friedrich Vollhardt. Bd. 1 ff. Berlin/Boston 2011 ff.; „KK“= Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. 2. vollständig überarbeitete Aufl. Hrsg. v. Wilhelm Kühlmann in Verbindung mit Achim Aurnhammer u. a. Bd. 1–12 und 13 (Register). Berlin/New York 2008–2012. – Der zweite Teil dieses Beitrags stützt sich nach mehrfacher Überarbeitung auf meinen Aufsatz (2002): Rätsel der Wörter. Zur Diskussion von Fachsprache und Lexikographie im Umkreis der Paracelsisten des 16. Jahrhunderts. In: Vilmos Àgel, Andreas Gardt, Ulrike Haß-Zumkehr, Thorsten Roelcke (Hrsg.): Das Wort. Seine strukturelle und kulturelle Dimension. Festschrift für Oskar Reichmann zum 65. Geburtstag. Tübingen, 245–261. 2 Dazu s. exemplarisch Jörg Riecke: Die Frühgeschichte der mittelalterlichen medizinischen Fachsprache im Deutschen. 2 Bde. Berlin/New York 2004, sowie Willem F. Daems: Nomina simplicium medicinarum, ex synonymariis medii aevi collecta: Semantische Untersuchungen zum Fachwortschatz hoch-und spätmittelalterlicher Drogenkunde. New York u. a. 1993. 3 Wieweit die botanologische Nomenklatur der diversen frühneuzeitlichen Pflanzenbücher (zu studieren vorab in deren Registern) in neueren Wörterbüchern abgebildet ist, wäre ein interessante Frage, die hier jedoch außer Betracht bleiben muss. DOI 10.1515/9783110524758-011
156 | Wilhelm Kühlmann drianus Junius (15111–1575), Euricius und Valerius Cordus (1486–1535 bzw. 1511–1544)4 bezog sich der als Dichter und Publizist verdienten Ruhm genießende Johann Fischart (1546/47–1590) in der Leservorrede seines mit dem ebenfalls zeitweise in Straßburg lebenden Paracelsisten Johannes Toxites (1514–1581)5 kompilierten und herausgegebenen zweiteiligen medizinisch-pharmazeutischen Onomasticum (Straßburg 1574),6 zu dem mittlerweile eine hilfreiche lexikologische, weniger historisch-quellenkundliche als strukturalistisch-deskriptive Untersuchung von Wilfried Kettler vorliegt.7 Die Sinnhaftigkeit des vorgelegten mehrsprachigen Synonymenwörterbuchs begründete Fischart im Verweis auf Dioskurides, da ja auch dieser aus überaus mannigfachen und sprachlich höchst divergenten Quellen geschöpft habe. Was hier angesprochen wird, ist, wenn ich recht sehe, das auch noch den heutigen Lexikographen beunruhigende Problem der lemmatischen Corpusbildung, der bi- oder gar multilingualen Nomenklatur in oft konkurrierender mündlicher wie schriftlicher Überlieferung verschiedener sprachlicher Varietäten und, daraus folgend, der referentiellen Zuverlässigkeit abseits etablierter fachsprachlicher Normativität (ich übersetze):8 Wir sehen und nehmen in diesem Wörterbuch zur Kenntnis, wie eine jede Pflanze in den Sprachen der verschiedenen Völker verschiedene Bezeichnungen bekommt, [diese] dennoch aber in der eigentlich gemeinten Pflanze übereinstimmen. Dass sie [die Bezeichnungen] aus dem medizinischen Erfahrungsnutzen stammen und so festgesetzt sind, wird niemand in Abrede stellen, wenn er nur die Etymologien erforscht, die meistens entweder die Form oder die Wirkung der Sache enthalten. Deshalb sammelte Dioscorides, das Oberhaupt der Mediziner, in bester Absicht die Pflanzennamen der verschiedenen Völker: der Afrikaner, Römer, Araber, Libyer, Gallier, Syrer, Hebraeer, Chaldaeer, Griechen, Meder, Ägypter, Phoeniker, Daker, Spanier, Punier, Cyprier, Etrusker, Lateiner etc., außerdem die wundersamen Namen der Magier, der Salbenhändler von Seplasia [Straße im antiken Capua, in der Salben verkauft wurden], der Pflanzenkundler, Heilmittelhändler, Apotheken und Chemiker, die hier nun alle eingefügt sind und zur Verfügung stehen.
4 Zu diesen Autoren und ihren Werken mit weiteren Literaturhinweisen CP III/1, 408–411. 5 Maßgeblich zu ihm mit Vita und Edition, Kommentierung, ggf. auch Übersetzung der Paratexte eines Großteils seiner Editionen CP II, Nr. 40–70, 41–523; dazu auch der Artikel von Joachim Telle. In: KK, Bd. 11 (2011), 567 f. Den besten Zugang zu Fischart bietet nun der Artikel von Ulrich Seelbach. In: VL 16, Bd. (2012), Sp. 358–383. 6 ONOMASTICA II. I. PHILOSOPHICVM, MEDICVM, SYNONYMVM ex varijs vulgaribusque linguis. II. THEOPHRASTI PARACELSI hoc est, earum vocum, quarum scriptis eius solet usus esse, explicatio.[...] o. O. (Straßburg: B. Jobin) 1574; Ndr. Hildesheim u. a. 2007; die Vorreden von Toxites‘ und Fischarts zweiteiligem Werk sind abgedruckt, übersetzt und kommentiert in CP II, Nr. 55, S. 321–331 (Toxites) bzw. CP III/1, Nr. 115, 397–412 (Fischart). 7 Wilfried Kettler: Untersuchungen zur frühneuhochdeutschen Lexikographie in der Schweiz und im Elsaß. Strukturen, Typen, Quellen und Wirkungen von Wörterbüchern am Beginn der Neuzeit. Bern u. a. 2008, Kap. 36, 853–878 (noch ohne Kenntnis von CP II, 2004!). 8 Zit. in meiner Übersetzung nach Fischart in CP III/1, Nr. 115, spez. 405, dort vorher der lateinische Text.
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In diesem bereits im Altertum vorgegebenen transnationalen Problemhorizont werden mehrsprachige Lexeme gesammelt, wie z. B. zu dem noch relativ simplen ersten Lemma Perlein (S. 1 f.):9 [linke Spalte] Unter dem Lemma „Perlein“: „Gallicè Marguerite. Italicè Perla. Anglicè Pearle. A Medicis, Chymicis et Pharmacopolis uariè redditur“ [in der rechten Spalte parallel] unter dem Lemma „Albula“: „Arouofora. Albida. Albalo, Chadched: Hebraice. Dargiofra. Gemma“, fortgesetzt mit weiteren 22 Bezeichnungen, mit denen offenbar auch variante lokale Specimina des lemmatischen Gegenstands gesammelt werden (wie am Ende: „Indicus lapis“ und „Erythraeus lapis“).
Die Identifikation des sprachlich Gemeinten hat sich bei der Lektüre frühneuzeitlicher Texte dennoch keinesfalls als Problem verflüchtigt, wie ich vor kurzem bei der Lektüre einer kleinen lateinischen Beschreibung feststellen konnte, die der berühmte pfälzische Jurist und Historiker Marquard Freher (1565–1614)10 von seinem Landgut in Oberlustat bei Germersheim formulierte. Gerühmt wird darin die Fruchtbarkeit des Landes, wo nicht nur Zwiebeln und Lauch angebaut würden, sondern auch eine Pflanze namens Crocus silvester, deren spontane Identifikation mit einer Art des Safrans in lexikalische und agrargeschichtliche Abgründe führt.11 Das Problemknäuel verdichtete sich, als neben der galenistischen, vornehmlich botanologisch gegründeten Medizin seit etwa 1560 die Publikationsoffensive der sog. Paracelsisten einsetzte, zu der am Oberrhein maßgeblich neben dem bereits erwähnten Michael Toxites in erster Linie Adam von Bodenstein (1528–1577)12 und der aus Flandern stammende Gerhard Dorn (ca. 1530/40–ca. 1584)13 beitrugen. Obwohl Paracelsus wiederholt als „neuer Luther“, also auch als wissenschaftlicher Heilsbringer, gefeiert wurde,14 verfocht er zwar mehrmals die Abkehr vom Latein als Monopolsprache der Wissenschaften, doch lag es weder in seiner Absicht noch in seinem Vermö-
9 Zit. nach Ebd., 412. 10 Zu ihm der Artikel von W. Kühlmann. In: VL 16, Bd. 2 (2012), Sp. 429–440. 11 Nach fachlicher Auskunft, für die ich Frau Rosmarie Wiegand danke, scheint Freher mit dem Pflanzennamen Crocus sylvestris (die Bezeichnung vielleicht nach Plinius, naturalis historia 21,17,31) wahrscheinlich auf den sog. falschen ‚Safran‘ (lat crocus), auch ‚Färberdistel‘ genannt, zu verweisen; die Pflanze wurde im 16. Jahrhundert in Deutschland in klimatisch günstigen Lagen angebaut; so Leonhard Fuchs: New Kreüterbuch [. . . ]. Basel 1543, Cap. 167 (unpag.), sowie Udelgard Körber-Grohne: Nutzpflanzen in Deutschland. Stuttgart 21988, 423–427. 12 Zu Bodenstein s. CP I, Nr. 6–30, 194–545, sowie den Artikel von Joachim Telle. In: VL 16, Bd. 1 (2011), Sp. 307–312. 13 Zu Dorn s. CP II, Nr. 83–91, 823–963, sowie der Artikel von Wilhelm Kühlmann. In: VL 16, Bd. 2, Sp. 164–171, ferner Didier Kahn (1994): Les débuts de Gérard Dorn [...]. In: Joachim Telle (Hrsg.): Analecta Paracelsica. [...], Stuttgart (Heidelberger Studien zur Naturkunde der frühen Neuzeit, Bd. 4), 59–126. 14 Vgl. zum Beispiel (zu verfolgen auch anhand der Register) CP I (Nr. 11), CP II, Nr. 40, 46, 60 und 57 (Toxites) sowie Nr. 72 und 76 (die Schlesier); exemplarisch CP III/1, Nr. 130, 622 f. (Penot an Libavius, 1600): Deus autem, qui suo nutu cuncta regit et moderatur, eodem tempore duo luminaria excitauit: alterum inter Theologos Martinum Lutherum: alterum inter medicos Theophrastum Paracelsum. Luthe-
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gen, die normativ artikulierbare Basis einer frühneuzeitlichen deutschen Fachsprache systematisch zu formulieren oder gar zukunftweisend und vorbildlich in seinen Texten sichtbar zu machen. Zwar unterschied er zwischen Fach- und Umgangssprache, zielte oft genug emanzipatorisch auf das muttersprachlich gebundene Publikum der Laienmediziner und Wundärzte, vermittelte in diesem Rahmen weit über pharmakologische und therapeutische Praezepte hinaus auch anthropologische Modelle und kosmologische Weltbilder, verdeutschte dabei, oft sprachschöpferisch, zahlreiche naturkundliche und philosophische Bezeichnungen, bereicherte, bewegte und erregte also den nationalsprachlichen Fundus,15 doch blieb seine Diktion lexikalisch, semantisch, aber auch syntaktisch bezogen auf ein Ich-Subjekt, das sich immer wieder von neuem an den Grenzen dialektal gebundener Regionalität und Oralität16 bzw. idiomatischer Spontaneität, aber auch, oft in Form von Sprachmischungen, an Transformationsversuchen der lateinischen Rhetorik und Idiomatik aufrieb. Zugleich ist Joachim Telle zuzustimmen, der feststellte, dass Paracelsus im Gegensatz zu älteren sprachhistorischen Diagnosen und patriotischen Mythen keineswegs ein literarisch „noch ungeebnetes Terrain“ betreten habe und dass er von der Mehrheit jener Fachschriftsteller nicht als Vorbild anerkannt worden sei, deren Bücherwälder medizinischer, pharmazeutischer und alchemischer Provenienz erst in jüngerer Zeit sehr allmählich ans Licht treten.17 Grundsätzlich wird man trotz aller Fraglichkeiten einer zentralen These Pörksens18 zustimmen können (wobei, soweit ich sehe, in den sprachhistorischen Forschungen der neuralgische Unterschied zwischen Paracelsica, Deuteroparacelsica und Pseudoparacelsica nicht immer hinreichend Beachtung findet):
rus quos potentisimos hostes sibi creauerit, manifestum est. Idem penitus Paracelso euehit, qui lumine Naturae praeditus exoletam medicinam in pristinum splendorem reuocauit. 15 Zu den sprachlichen Leistungen Paracelsi s. (zusammenfassend im Anschluss an seine älteren Forschungen) Karl-Heinz Weimann (1993): Sprache und Wortschatz bei Paracelsus. In: Heinz Dopsch, Kurt Goldammer, Peter F. Kramml (Hrsg.): Paracelsus (1493–1541) „Keines andern Knecht. . . “. Salzburg, 211–216; Uwe Pörksen (1994): Paracelsus als wissenschaftlicher Schriftsteller. Ist die deutsche Sachprosa eine Lehenbildung der lateinischen Schriftkultur? In: Ders.: Wissenschaftssprache und Sprachkritik. Untersuchungen zu Geschichte und Gegenwart. Tübingen (Forum für Fachsprachenforschung, Bd. 22), 37–83; ders. (zusammenfassend, mit guten Textbeispielen): War Paracelsus ein schlechter Schriftsteller? Zu einer im 16. Jahrhundert entstehenden Streifrage: In: Nova Acta Paracelsica N. F. 9 (1995), 25–46; hervorragend aus meiner Sicht Michael Kuhn (1996): De nomine et vocabulo. Der Begriff der medizinischen Fachsprache und die Krankheitsnamen bei Paracelsus (1493–1541). Heidelberg. 16 Wie Zeitgenossen zu berichten wussten, hat Paracelsus offenbar manche seiner Texte nur diktiert. 17 Joachim Telle (1981): Die Schreibart des Paracelsus im Urteil deutscher Fachschriftsteller des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Rosemarie Dilg-Frank (Hrsg.): Kreatur und Kosmos. Stuttgart/New York, abgedruckt in Udo Benzenhöfer (1993) (Hrsg.): Paracelsus. Darmstadt, 271–304. Kritisch auch Gisela Böhm-Bezing (1966): Stil und Syntax bei Paracelsus. Wiesbaden. 18 Pörksen (1995, wie Anm. 15), 40 f.
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Die Sprache Hohenheims ist in mancher Hinsicht die Rückseite einer lateinischen Tapete. Sein Deutsch ist durchsetzt von dem Vokabular der lateinisch überlieferten Fachsphäre – ein ‚Fachwerkstil‘. Die Wurzeln seiner Sprache sind rauhe Mundart, die Sprache des Evangelium und eine zwischen Deutsch und Latein pendelnde Gebrauchsrhetorik. Er beruft sich auf die Tradition des ‚sermo humilis‘ und gehört ihr an. Ein berserkerhaftes Erkenntnisverhalten befähigt ihn, aufgrund dieser ihm beweglich verfügbaren ‚Stilgrammatik‘ zu einer kaum überschaubaren, in unterschiedlichem Grade durchgearbeiteten Hinterlassenschaft.
Die energischen Vorkämpfer des Frühparacelsismus hatten sich demnach nicht nur den Problemen der fragwürdigen Hinterlassenschaft des Hohenheimers zu stellen, die sich meist nur in Abschriften, Mitschriften oder fremden Übersetzungen greifen ließ. Was selbst die glühendsten Anhänger und Editoren in eingestandene Verlegenheit stürzte und das Editionsgeschäft selbst, also das elementare Verständnis der Textvorlagen, mithin auch die medizinische Praxis, behinderte, waren rätselhafte, demgemäß neue, demgemäß (teilweise bis heute!) dunkle Ausdrücke und Phrasen, deren begriffliche Eindeutigkeit, elementare semantische Zuordnung oder Ableitung bzw. praktisch-medizinische oder naturkundliche Referenz sichtlich der Klärung bedurften. Man hatte sich dabei gegen eine illustre Phalanx gelehrter Kritiker wie den Heidelberger Professor Thomas Erastus (1524–1583)19 oder den lutherischen Schulmann Andreas Libavius (1555–1616), einem namhaften aristotelisch gesonnnen Alchemiker, zu wehren, die Paracelsus und seinen Anhängern nicht nur dogmatische Monströsitäten, sondern auch den Mangel an sprachlicher Präzision sowie didaktische und kommunikative Unfähigkeit vorwarfen.20 Einer der möglichen Wege, die man früh auf Seiten der Paracelsisten, kulminierend und konkurrierend in den Jahren etwa von 1565–1585, und doch letzthin fast ohne Erfolg beschritt, war der Versuch, Paracelsus-Lexika anzulegen, gemäß der von der Bibelexegese genährten Hoffnung, dunkle Formulierungen mittels anderer, heller Stellen verstehen zu können: frühe Beispiele des Typus Autorenlexikon,21 die zumeist jedoch – und dies gerade bei problematischen Lexemen
19 Zu ihm den zusammenfassenden Artikel von Joachim Telle. In: VL 16, Bd. 2 (2012), 236–246. 20 Vgl. zu beiden Autoren Wilhelm Kühlmann (2006): Das häretische Potential des Paracelsismus, gesehen im Licht seiner Kritiker. In: Hartmut Laufhütte, Michael Titzmann (Hrsg.): Heterodoxie in der Frühen Neuzeit. Tübingen (Frühe Neuzeit, Bd. 117), 217–242, zu Libavius ferner CP III/1–2, Nr. 130, 609– 616, Nr. 137, 684–689 u. ö., sowie den Artikel von Wolf-Dieter Müller-Jahncke. In: KK, Bd. 7 (2010), 394– 396; außerdem Bruce T. Moran (1998): Alchemy, and the Control of Language: Andreas Libavius versus the Neoparacelsians, In: Ole Peter Grell (Hrsg.): Paracelsus. The Man and his Reputation. His Ideas and their Transformation. Leiden u. a. (Studies in the History of the Christian Thought, Vol. LXXXV), 135–150. 21 Beiläufig weise ich darauf hin, dass Art und etwa gleichzeitige Entstehung der Autorenlexika zu antiken Verfassern (z. B. Lukrez, Plautus, Pindar von Heidelberger Gelehrten ), ebenfalls aus onomastischen Konkordanzen und editorischer Arbeit erwachsend, soweit ich sehe, noch ganz im Dunkeln liegt. Wieso in Handbüchern zur Lexikonarbeit deutscher Autoren Lexika zur antiken Überlieferung nicht oder kaum beachtet werden, ist mir nicht einsichtig; der Germanistik-Begriff des 19. Jahrhunderts ist für die Frühe Neuzeit vollständig gegenstandslos.
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– nicht über die Sammlung onomastisch zusammengehöriger Belege hinauskamen, also nicht mehr als die Funktion eines Wortindex oder einer Werkkonkordanz erfüllen konnten. Die Reihe dieser mehr oder weniger erfolgreichen, deutlich miteinander rivalisierender Versuche reichte von Bodensteins Onomasticon, zuerst gedruckt 1566 als Beigabe des Paracelsischen Opus Chirurgicum, überarbeitet gedruckt 1574,22 über den besagten Versuch des Michael Toxites (ebenfalls 1574)23 sowie Werke von Leonhard Thurneisser (1574, Teil 2: 1583)24 bis hin zu dem nur noch paracelsistisch tingierten, bedeutungs- wie referenzsemantisch allerdings anspruchsvolleren, bewußty zweisprachigen, Wörter (verba) und ‚Phrasen‘ (phrases), aber auch ‚Dinge‘ (res) explizierenden Lexicon Alchemiae (1612) des namhaften kaiserlichen Leibarztes Martin Ruland d. J. (1569–1611).25 Ruland sprengte die Grenzen eines Autorenwörterbuches in seinem bis auf die Antike zurückreichenden Quellenfundus sowie im Rundblick auch auf eine ansehnliche Bandbreite des von Paracelsus ganz unabhängigen älteren und zeitgenössischen alchemischen, mineralogischen, metallurgischen und anderen naturkundlichen Fachschrifttums. Auch wusste er dabei die Art seiner Lemmata dergestalt zu profilieren, dass die Schematik der älteren Onomastica in Richtung einer umfassenderen alphabetisierten Realienkunde ausgeweitet, stoffliche Species geographisch und funktional differenziert, mehrfach auch Verfahrensanleitungen gesammelt und in methodischer Hinsicht manchmal auch die Tabulatur der damals aktuellen ramistischen Begriffsdi22 Vgl. Karl Sudhoff: Bibliographia Paracelsica. Besprechung der unter Hohenheims Namen 1527– 1893 erschienenen Druckschriften. Berlin 1894. Nachdruck Graz 1958, Nr. 75, 117 f. Abdruck der Vorrede der Ausgabe von 1574 (an den paracelsistischen Arzt Melchior Wiel) samt Kommentar in CP I, Nr. 28 (Sudhoff, Nr. 159), 514–527. 23 Zu Toxites paracelsistischem Profil s. Wilhelm Kühlmann: Humanistische Verskunst im Dienste des Paracelsismus. Zu einem programmatischen Lehrgedicht des Michael Toxites (1514–1581), in: Études Germaniques 50 (1995), 509–526, abgedruckt in: Wilhelm Kühlmann, Walter E. Schäfer (2001): Literatur im Elsaß von Fischart bis Moscherosch. Gesammelte Studien, 25–40. 24 Vgl. Sudhoff (wie Anm. 22), Nr. 155, 263 f. Zum Autor (1531–1596) s. CP II, Nr. 49, 239–241 (Biogramm) sowie CP III/1, Nr. 113–114, 383–396, und Nr. 120–124, 474–524; ferner den Artikel (sub verbo) von Wolf-Dieter Müller-Jahncke (1998). In: Claus Priesner, Karin Figala (Hrsg.): Alchemie. Lexikon einer hermetischen Wissenschaft. München, 360 f., und Joachim Telle. In: KK, Bd. 11 (2011), 520–522; weiterführend nun Tobias Bulang (2011): Überbietungsstrategien und Selbstautorisierung im Onomasticon Leonhard Thurneyssers zum Thurn. In: Jan-Dirk Müller u. a. (Hrsg.): Aemulatio. Kulturen des Wettstreits in Text und Bild (1450–1620). Berlin (Pluralisierung & Autorität), und den Nachdruck (zusammen mit dem erwähnten Werk Bodensteins): Gerardus Dorneus (1584): Dictionarium Theophrasti Paracelsi. Frankfurt/M., Adam von Bodenstein (1981): Onomasticon Theophrasti Paracelsi. [Basel o. J.]. Hildesheim/New York. 25 Martinus Rulandus (1612): Lexikon Alchemiae sive Dictionarium Alchemisticum, Cum obscuriorum Verborum, & Rerum, Hermeticarum, tum Theophrast-Paracelsicarum Phrasium, Planam Explicationem continens. Frankfurt/M. Nachdr. (1987) Hildesheim/Zürich/New York, die Vorrede samt Biogramm abgedruckt, übersetzt und kommentiert in CP III/2, Nr. 169, 1231–1240; zum Autor auch der Artikel (sub verbo) von Ulrich Neumann. In: Priesner, Figala (wie Anm. 24), 310 f. sowie von W. Kühlmann. In: VL 16, Bd. V (im Druck).
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chotomie zu Hilfe genommen wird (z. B. 123 f., 163). Diese für die frühneuzeitliche Lexikographie beachtenswerte Affinität von Semantik und Logik kontrastiert der von Ruland keinesfalls verschmähten lexikalischen Beachtung auch der integumentalen Bildersprache der Alchemie. Das Vorwort an Herzog Heinrich Julius von BraunschweigLüneburg umreißt die herrschende terminologische Konfusion (ich übersetze):26 Denen, die sich mit hermetischen und theophrastischen Büchern befassen, erlauchtester Fürst, geschieht ungefähr das, was einst den Söhnen Sems widerfuhr, als sie den Turm zu Babel errichten wollten. Als sie nämlich, von eitler Ruhmsucht verführt, die ungeheure Masse in verblendeter Anmaßung zum Himmel aufzurichten versuchten, um dadurch ihren Namen unsterblich zu machen, wurden sie, durch die Verwirrung vieler Sprachen in Konfusion gebracht, dazu gezwungen, schmählich vom begonnenen Werk abzulassen. Teils aber verlieren jene ihren Mut, durch die Dunkelheit allenthalben auftauchender Wörter und die Schwierigkeit der Hieroglyphen abgeschreckt, und machen sich nichts mehr aus der hochedlen Kunst, teils unternehmen sie Anstrengungen, mit aller Mühe in die Geheimnisse der Wörter und Dinge vorzustoßen, und streben darnach, die in dichten Verhüllungen verdeckte Wahrheit herauszufinden, gewinnen aber durch diese mühevolle Lektüre nur soviel an Frucht, wie an Ruhm die Nachkommen Sems aus ihrer Arbeit an dem riesigen Bauwerk davongetragen hatten und dabei Kosten und Arbeit verloren.
Parallel zu diesen selbstständigen Buchpublikationen wurden manchen Editionen erläuternde Glossare beigegeben. So etwa die Auslegung lateinischer Fachtermini (außlegung synonymorum) in Bodensteins Edition von Paracelsus’ Schreiben Preparationum (Basel 1568), die sich sehr bewusst an die deutschgebundenen Nichtlateiner, also vor allem an Chirurgen und Wundärzte, wandte.27 Wir fassen hier eine Literaturtradition lexikalischer Hilfsmittel, wie sie schon früher etwa in einem Werk von Paracelsus’ Kolmarer Gastgeber Lorenz Fries (Synonima vnd gerecht ußlegung der wörter so man dan in der artzny [...] zu schreiben ist, Straßburg 1519)28 auftaucht und die der Regellosigkeit bei der Benennung der Materia medica durch die mehrsprachige Zusammenstellung von Synonymen mit konsequent deutschsprachiger Erläuterung abzuhelfen suchte. Ich gebe hier, um erweiterte Möglichkeiten des lexikographischen Verfahrens anzudeuten nur einige exemplarische Beispiele aus Ruland, der gerade bei den Paracelsischen Termini gern auch wörtlich das Lexikon von Dorn ausschrieb und bei dem sich so umfassend, wie sonst wohl nur selten, das Miteinander der lateinischen und
26 Zit. nach CP III/2, 1238 f., dort vorher der lateinische Text. 27 Vgl. den Abdruck der Vorrede mit dem Kommentar in CP I, Nr. 22, 452–456. 28 Zu diesem und anderen Lexika von Fries s. Kettler (wie Anm. 7), Kap. 16, 383–404 sowie Nr. 20–23, 487–593; zu Fries wertvoll Karl Bittel: Die Elsässer Zeit des Paracelsus. Hohenheims Wirken in Straßburg und Kolmar, sowie seine Beziehungen zu Lorenz Fries. In: Elsaß-Lothringisches Jahrbuch XXI (1943), 157–186; Josef Benzing: Bibliographie des Colmarer Arztes Lorenz Fries. In: Philobiblon VI/1 (1962), 121–140; zusammenfassend der Artikel (sub verbo) von John L Flood (2008). In: Franz Josef Worstbrock (Hrsg.): Deutscher Humanismus 1480–1520. Verfasserlexikon. Bd. 1. Berlin/New York, Sp. 823–841.
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deutschen Explikationsversuche beobachten lässt. Die Proben des Textanhangs (s. u.) werden im Folgenden nur stichwortartig charakterisiert: – 1. Beispiel: „Archeus“ (52 f.; Textanhang=TA 1): Häufiger und zentraler Terminus bei Paracelsus;29 hier drei graphisch distinguierte Lemma-Teile: nach der deutschen Kurzexplikation zunächst eine definitorisch kumulative Bestimmung ohne Rücksicht auf Überschneidungen und neue lexikalische Rätsel. Archeus wird alchemisch und medizinisch zugeordnet, dann differenziert (Wechsel der Aussageebene) vom Archeus peculiaris in Verbindung mit wiederum höchst erklärungsbedürftigen Begriffen (Ares, Iliaster); dies auch als Hinweis auf Rulands additive Exzerptechnik; typisch ist die Kombination von nominalen und attributiven Definitionen (der spiritus-Begriff als nominales ‚genus proximum‘) mit hypotakischen Paraphrasen; Lemma nicht bei Bodenstein, sehr wohl aber bei Dorn, den Ruland wörtlich exzerpiert; am Anfang und Ende deutsche Fassungen, teils wörtlich, teils in Paraphrase des Vorhergehenden; Überlegungen zur Übersetzung naheliegend: Warum wird nicht corporibus übersetzt? Kein deutscher Begriff (‚Leib‘ oder ‚Körper‘ im Kontext unmöglich) zur Hand? Am Schluss zusätzliche Erläuterung: also auch im Menschen. – 2. Beispiel: „Coeruleum“ (160–162; TA 2, Auszug, zit. 160 unten/161): Bei Ruland kein gesondertes Lemma Lasur oder Lapis Lazuli; nur eine Stelle bei Paracelsus unter lasur; nicht bei Bodenstein und Dorn, im Frühneuhochdeutschen Lexikon von Oskar Reichmann (et aliis) drei Bedeutungen (‚Lazurstein‘, ‚blaue Farbe‘, ‚Lackierung‘); davon getrennt: Lapislazuli: mit vielen Belegen, ohne Mittellateinisches;30 bei Ruland lateinisch exzerpiert, griechisch und arabisch markiert, dann erst mit deutscher Erläuterung; semantisch-definitorische und etymologische Explikation nur kurz; es dominieren mineralogisch-bergbauliche Interessen und Wissensbestände; evident die Benutzung spezieller Fachliteratur (im Umkreis oder in der Nachfolge des Montanisten Georg Agricola?) mit dem Ziel einer Auflistung nach den Qualitäten der Sache und nach deren Fundorten in ganz Europa: von Cypern bis Schneeberg in Sachsen. – 3. Beispiel: „Elixir“ (197–198; TA 3): Ubiquitär bei Paracelsus; bei Bodenstein nur lapidar: medicina fermentata ex septem metallis; hier Lemma in 7 Teilen, nur 8 Zeilen bei Dorn, hier zitiert; Lemmateile auch durch vel als alternativ gekennzeichnet: hier wiederum verschmolzen sind medizinische und alchemische Interpretamente, zuletzt auch Galenistisches (Kräuter); große getrennte lateinische und deutsche Explikation: nicht übersichtlich, wiederum kumulativ: verschiedene Arten des Elixirs; wichtig: Herstellung, Zusammensetzung, Merkmale, Ausse-
29 Die genuin Paracelsischen Belege wären (ein hier aussichtsloses Unterfangen) aufzufinden, zu sichten und zu vergleichen anhand von Paracelsus: Sämtliche Werke [. . . ]. Hrsg. v. Karl Sudhoff. Registerband. Bearbeitet von Martin Müller †. Einsiedeln 1960. 30 Vgl. die Belege unter dem Lemma blau bei William Jervis Jones: Historisches Lexikon deutscher Farbbezeichnungen. Berlin 2013.
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hen, Wirkung und Rolle im alchemischen Prozess; komplexe Diffusion des nomen significans (Ferment, Medizin, Spiritus vitae, Wasser und Produkt aus Wasser, Stein, Öl, Pulver und Ding); Anspielung auf Gewährsmann aus Rulands beruflicher Umgebung (vielleicht mündliche Mitteilung), denn Lacinius (198: Druckfehler!) ist sichtlich Wenceslaus Lavinius (gest. ca. 1600/02), Mittelpunkt eines Prager Alchemikerzirkels (s. CP III/1, 573 u. ö.). 4. Beispiel: „Lapis philosophorum“ (292–300; TA 4, Auszüge, zit. 292 f., 298 f. und 300), im Folgenden auch Stein der Weisen. Bei Dorn finden sich darüber nur drei lateinische Zeilen, bei Bodenstein fehlt das Lemma! Dies ist auch ein Indiz dafür, dass Paracelsus im Gefolge der spätmittelalterlichen Alchemie zwar ein Verfechter der alchemia medica war, der alchemia transmutatoria, also der Suche nach dem Gold versprechenden lapis aber fernstand. Denn der Mythos von Paracelsus als Besitzer dieses lapis und die Entstehung pseudo-paracelsischer „Wunderstein“- Texte gehören zum späteren Legendengewebe.31 Insofern ist verständlich, dass sich Ruland nicht auf Paracelsus stützt, wenn er zu der in Hunderten von Texten berufenen, gepriesenen und diskutierten, aber gleichwohl rätselhaften, imaginären, nie sachlich greifbaren und eindeutig beschreibbaren katalysatorisch-künstlichen Materie auf 18 Seiten Zuflucht nimmt zu einem kompilatorischen, vielteiligen, fast nur deutschsprachigen Lemma, teilweise offenbar in Übersetzungen lateinischer Quellen. Der Gipfel des alchemischen Werks, auch oft poetisiert,32 wird hier in der Binnengliederung behandelt: – a) in einer kurze Definition im Rahmen sowohl des medizinischen wie auch des metallurgisch-tranformatorischen Zweiges der Alchemie; – b) in der Konzentration auf: die Herstellung des lapis und die Phasen des alchemischen Prozesses; Ruland exzerpiert einen sehr weiten Radius von Autoren ganz abseits von Paracelsus, darunter die der mittelalterlichen, stellenweise sogar antiken Alchemie im Reflex der weitläufigen Editionslandschaft des 16. Jahrhunderts; genannt werden unter anderen: Geber latinus, Arnald von Villanova, Pseudo-Thomas von Aquin, Pseudo-Lullus, Roger Bacon, Senior Zadith, Bernardus Trevisanus, das Sammel-
31 Dazu Joachim Telle (1994): Paracelsus als Alchemiker. In: Heinz Dopsch, Peter F. Kramml (Hrsg.): Paracelsus und Salzburg. Salzburg (Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde, Erg,Bd. 14), 157–172; zur literarischen Filiation Ders. (1993): „Von der Wahrheit der alchemischen Kunst“. Der pseudoparacelsische Brieftraktat „Vom Wunderstein“ in einer frühneuzeitlichen Versfassung. In: Peter Dilg, Hartmut Rudolph (Hrsg.): Resultate und Desiderate der Paracelsus-Forschung. Stuttgart, 57–78. 32 Dazu nun das Kompendium von Joachim Telle (2013): Alchemie und Poesie. Deutsche Alchemikerdichtungen des 15. bis 17. Jahrhunderts. Untersuchungen und Texte. Mit Beiträgen von Didier Kahn und Wilhelm Kühlmann. 2 Bde. Berlin/Boston; zu einem wunderbaren lateinischen Versbeispiel im Kontext s. CP I, Nr. 6, 130–132.
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werk der Turba Philosophorum;33 wir finden eine Kumulation von Anweisungen, Beschreibungen und Bestimmungen, die in subsumierten Lemmata unter anderem das lapidis philosophici tempus (294 f.) erläutern, dann ausgreifen auf ein lapidis faciendi compendium (295), dieses wiederum lemmatisch fortsetzen, teilweise sogar in Form eines so oft gesuchten, andeutungsweise sogar quantitativ erläuterten Rezepts (296): Sehr detailliert geraten in den Blick die notwendigen Arbeitschritte und Phasen des opus magnum (augmentatio, solutio, calcinatio, putrefactio, fermentatio, ablutio, sublimatio), deren Ergebnisse nach Farben unterschieden wurden, die hier als subsumierte Teil-Lemmata dienen: lapidis rubedo, albedo, nigredo: Die nominale Diffusion, Konfusion und die sichtlich aus den Fugen geratene lexikalische Systematik, von sachlichen Alternativen und Widersprüchen abgesehen, ist auch wegen der vorherrschenden integumentalen Bildersprache evident. 5. Beispiel: „Nostoch“ (348–349; TA 5): Berücksichtigt wohl vor allem nach Maßgabe von Paracelsus’ De vita longa,34 hier wörtlich nach Dorn mit Rulands (?) deutscher Teilübersetzung; bei Bodenstein nur kurz und hilflos mit zwei Wörtern erläutert: species ignis. 6. Beispiel: „Pater & mater Regis“ (358–360; TA 6): Ein ungewöhnliches lexikalisches Lemma als phraseologisch fixierte Bildformel des alchemischen Prozesses, Bezug nehmend auf die mythoalchemische Hochzeit von Sol und Luna, wie sie in Vers und Prosa, handschriftlich wie auch in Drucken höchst opulent überliefert war.35 Hier bezieht sich Ruland, nach den alten Philosophi, sichtlich auch auf den Überlieferungs-und Kommentarstrom des Corpus Hermeticum, darunter Senior Zadith, Straßburg 1566 (CP I, 172).
Wer sich derartigen (nicht nur) lexikalischen Texten alchemo-paracelsistischen Zuschnitts zuwendet, hat es zu tun mit Verfahren sowohl einer normativ wie oft auch philologisch noch ungesicherten, autoritativ umstrittenen Wissensspeicherung als auch einer oft opaken Explikation und Koordination von verba und res, dies in Versuchen der elementaren Kodifizierung, Vermittlung und kulturellen Assimilation resp. Weiterführung nicht nur des Paracelsischen Erbes vom späteren 16. letzthin bis weit ins 18. Jahrhundert. Es schälen sich dabei Argumentationssysteme heraus, in denen die sprachliche Dunkelheit vor allem des Paracelsischen Oeuvres zum vielbehandelten Reizthema wurde und in denen sich verschiedene Formen der charakterologischen bzw. kulturhistorischen, auch religiösen (oft auch eschatalogisch) gestimmten Erklä-
33 Auf Erläuterungen zu Person und Werk dieser Autoren bzw. Textcorpora kann ich wohl verzichten und verweise auf die diversen Kommentare im CP (s. Register) sowie ggf. im Lexikon des Mittelalters. 34 Gerade dabei ist chaotische Überlieferung dieser Schrift zu beachten; dazu CP II, 243 f. 35 Grundlegend und materialreich dazu Joachim Telle: Sol und Luna. Literatur- und alchemiegeschichtliche Studien zu einem altdeutschen Bildgedicht. Hürtgenwald 1980.
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rung mit apologetischen und sprachsystematischen Denkfiguren verschränkten, ja topologisch verfestigten. Auszugehen ist dabei zweckmäßigerweise von antinomischen Basisaxiomen, mit denen sich – polemisch gefärbt – eine akademisch missliebige Außenseiterwissenschaft legitimierte. Jenseits der eigentlichen Sprachdiskussion, also des semantischen Problemknäuels, wirkt in dieser Hinsicht ubiquitär der funktional variable Gegensatz von res und verba, gut überliefert schon in der antiken Antirhetorik (rem tene, verba sequentur!), später bis weit in die Reformpädagogik und den Antilatinismus des 17. Jahrhunderts hinein ausstrahlend in Behauptungen wie denen, dass „die Wissenschaft an keine Sprache gebunden sei“ (der Paracelsist und Übersetzer Georg Forberger, 1574).36 Paracelsus selbst hatte seinen Adepten – vor allem nach seinen Basler Erfahrungen37 – mit markigen und skandalumwitterten Ausfällen vorgearbeitet. Die res-verba-Antinomie wurde dabei verflochten mit aggressiven Verdammungsurteilen über den ästhetisch-literarischen Rhetorizismus wie gegen die fachwissenschaftliche Sophistik der akademischen, also im wesentlich galenistisch und aristotelistisch orientierten Würdenträger. „Die Artzney ist kein Geschwätz/ kein Mauldant [...]: Sondern ein werck der thaten der henden der Zeichen“, heißt es in Paracelsus‘ Fragmenta de morbo gallico. „Wie kans im Maul ligen, das in der Practick ligt? Wie kans die Zungen außrichten/ so es ein Werck ist wesenlich vnd greifflich“, fragte der Hohenheimer38 und bestand darauf, „das werck vnnd nammen bey einanderen stehe vnnd sey“.39 Deshalb das oft wiederholte Fazit:„Glaubt den wercken/ nit den worten: die wörter seind lehre ding/ die werck aber zeigen sein Meister.“40 Jenseits des terminologischen Systemzwangs, mithin in den Parolen non verborum iactantia, sed re ipsa (Bodenstein)41 , rückten Praxis-, Evidenz und Effizienzkriterien der Naturkunde zu Merkzei-
36 So auch schon L. Fries; s. Flood (wie Anm. 29), Sp. 825; mit weiteren Belegen im epochalen Zusammenhang Wilhelm Kühlmann (1989): Nationalliteratur und Latinität. Zum Problem der Zweisprachigkeit in der frühneuzeitlichen Literaturbewegung Deutschlands. In: Klaus Garber (Hrsg.): Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit, Tübingen (Frühe Neuzeit, Bd. 1), 164–206, spez. 181 f., sowie ders. (1996): Pädagogische Konzeptionen. In: Notker Hammerstein unter Mitwirkung von August Buck (Hrsg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. I, 15. bis 17. Jahrhundert, München, 153–196, spez. 177–180; zu Forberger s. CP II, in Nr. 49, 237–239, sowie CP III/1, Nr. 110–112, 350–382. 37 Zur Basler Lebensepisode des Paracelsus – und als Reaktion darauf die wütende Replik im Vorwort seines Paragranum – s. Robert-Henri Blaser (1979): Paracelsus in Basel. Festschrift für [...] Robert-Henri Blaser zum 60. Geburtstag. Sieben Studien des Jubilars mit einem Geleitwort von Kurt Goldammer. Muttenz/Basel; das antihumanistische Profil des Paracelsus zeichnet Stefan Rhein: Vergil oder die ‚Königskerze‘. War Paracelsus Humanist? In: Nova Acta Paracelsica N. F. 7 (1993), 45–71. 38 Paracelsus: Bücher und Schriften, hrsg. von Johann Huser. 11 Tle. und Appendix. Straßburg 1589– 1605. Reprogr. Nachdruck, 6 Bde. Hildesheim/New York 1971–1975, hier Bd. VI, Tl. 11, 644 (erstes Zitat) bzw. ebd. 628 (Vorrede an Kaiser Ferdinand). 39 Paracelsus: Von den Tartarischen Krankheiten, hrsg. v. Huser, ebd., Bd. I, Tl. 2, 339. 40 Paracelsus: Paragranum, hrsg. v. Huser, ebd., Bd. I, Tl. 2, 40. 41 Adam von Bodenstein in der lateinischen Vorrede an den Dogen und die Serenissima von Venedig in der Ausgabe von Paracelsus’ De vita longa (1. Aufl., 1560) hier zitiert nach CP I, Nr. 6. Ähnlich immer
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chen des Wahrheits- und Geltungsanspruchs von Wissen auf, damit aber auch zu unabweislichen Qualifikationen eines wahren Arztes, der sich seine Medikamente auch mit Hilfe Vulkans, d. h. des im alchemischen Opus bewährten Feuers zubereitet.42 Es war dieses Effizienz- und Nutzkalkül, das den antiakademischen Grundzug solcher Argumente mit flankierenden Diskursen vernetzen konnte, vor allem mit dem Hinweis auf die christliche Nächstenliebe, welcher die hochfahrenden, weder pharmazeutisch noch therapeutisch erfolgreichen Arzthumanisten, nur um Rang, Titel und Geld besorgt, angeblich kaum genüge tun können oder wollen. Die Abkehr vom „Prunk- und Schmeichelwerk der Worte“,43 zugleich von einem Wissen, das sich nur als bloße Reproduktion des Geschriebenen ausweisen konnte, verband manche Paracelsisten unverkennbar mit dem spiritualistischen und laizistischenWiderstand gegen den Buchstabenglauben und den exegetischen Monopolanspruch der akademischen Orthodoxie:44 Wann ists doch zeyt das die thoren so täglich von Gott mit dem mundt schreiend/ als ob sy allein vonn Gott glaubent/ von jrem vnglauben vnd gleißnerey abstond? wen werdens im sinn vnd hertzen/ rechte Christen/ so jhrn nechsten liebend als sich selbs/ durch welche liebe sy mit den wercken vnd früchten beweysend/ das dem Menschen zu wolfart solche krefft vnd geheimnis Gottes in nattürliche ding gepflantzt worden seyge.
Im Verbund von Effizienzpostulat und christlichem Liebesgebot konnten Autoren wie Bodenstein zwar bei Bedarf ältere Denkfiguren bemühen, die wertvolles, in dunklen Begriffen verborgenes Arkanwissen vor Unberufenen geheim zu halten empfahlen, doch sich zugleich absetzen von jenen „Mißgünstigen“, die neues Wissen nicht zugunsten des Allgemeinwohls verbreiten und zur Verfügung stellen wollten.45 Die Frage nach der Zugänglichkeit der neuen Erkenntnisse, damit aber auch die einer quasi
wieder auch in den deutschen Vorreden (s. z. B. ebd. Nr. 8 an den Berner Chirurgen Joseph Stöckle, 1562): „Galenus mein Leerer schwetzt mir zu vil inn worten, vnd zu wenig im grundt.“ 42 Exemplarisch die Formulierungen Bodensteins an den Rat der Stadt Mülhausen (Vorrede, 1562, zur Ausgabe von Paracelsus Paramirum), hier nach CP I, Nr. 11: „Wiewol ich nun gewiß bin/ das ich von den jenigen (deren ich wenig acht) so vermeinen/ es gelt gleych/ wie einer sich erneere vnd gelt vberkomme/ allein das es da sey/ auch fürgeben dörffen/ das ein Medicus saubere hend haben soll/ vnd der kolen/ deß fewerwercks auch anderer dergleychen ding müssig stehen/ und an statt der botien [Terminus für ein Kugelgefäß, W. K.] vnd alembic [Aufsatz für Destillierkolben, W. K.] die vrinalia [Harngläser, W. K.] ja guckgauch nester fürwenden/ grossen vnwillen vnd haß auff mich laden wird/ So weiß ich doch dargegen/ das ich ein werckzeug Gottes/ vnnd seinen außtruckenlichen befelch für mich habe/ Da er spricht: Im schweyß deines angesichts soltu dich erneeren.“ 43 Bodenstein an den Dogen von Venedig, wie Anm. 42, im Zusammenhang der neuen Erfindungen dank der „natürlichen Magie“: Haec tria maxima et utilissima demonstrabimus (Deo adiuuvante) non uerborum iactantia, aut lenocinio, sed re ipsa absque omni fuco. 44 Bodenstein an Melchiors Dors (gest. 1573), Apotheker in Kolmar, in der Vorrede zu Paracelsus’ Baderbüchlin, 1562, hier nach CP I, Nr. 9, 194 f. 45 So Bodenstein an den Dogen von Venedig, wie Anm. 42: zur Erfindung bzw. fortgeschrittenen Herstellung des lapis philosophorum: nec ipsum supressi et celaui, quasi invidus quispiam; dann ebd.: Non
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öffentlichen, also um Explikation und Vermittlung bemühten Wissenssprache wurde in den paracelsistischen Texten zunächst pragmatisch wie auch sozialethisch behandelt, d. h. in der Ambivalenz einer paraenetischen Kundgabe des Fortschritt und Nutzen verheißenden Arkanums einerseits, einer auch die verdunkelte Andeutung rechtfertigenden Restriktion andererseits – letztere nicht nur von Verwertungs- und Urheberansprüchen motiviert, sondern oft genug auch von einer resignativen Zurückhaltung gegenüber grundsätzlichem Unverständnis, wenn nicht sogar von der Furcht vor der ständig lauernden Beschuldigung illiciter Magie. In dialektischem Bezug auf die Härte des Widerstands und den bald erhobenen Häresieverdacht artikulierte sich freilich oft genug ein – manchmal joachimitisch tingiertes – Sendungsbewußtsein, das in der gottgeschickten Gnadenzeit, ja Güldenen Zeit auf die endgültige Entbergung des durch die Sünden und den Sündenfall verschütteten, letztlich den christlichen Aeon überwölbenden, d. h. ursprünglich hermetischen Wissens46 vertraute – in Worten Bodensteins: Fuimus diu in tempore garriendi, iam tempus sciendi instare quis negabit?47 Ungeachtet aller Polemik und aller Abgrenzungsgesten haben sich führende Paracelsisten darum bemüht, die in Einzelheiten oft so schwer faßbare, ja widersprüchliche Doktrin ihres Heros akademisch salonfähig zu machen und in den gelehrten Kommunikationskreislauf einzuführen: nicht nur durch lateinische Übersetzungen, später auch durch systematische Einführungen aus der Feder eines Oswald Crollius (ca. 1560–1608) oder des Dänen Petrus Severinus (1540–1602).48 Schwer wog der lastende Vorwurf, Paracelsus sei allenfalls als Empiriker zu betrachten, der allenfalls über zuomnibus omnia conuenire, nec debere me, uel cogi, rem tantam quibusuis absque fructu indicare; dann mit Hinweis auf seine Erfindung einer bisher nördlich der Alpen unbekannten Methode, die Felder fruchtbar zu machen: Quibus [den Gegnern, W. K.] licet possim respondere, ac eas obiectiones non uulgares, soluere: attamen, quia nesciunt, quid naturalis magia possit efficere in hac elementari regione, et ex solutione, quasi per demonstrationem non possint non recto tramite percipere eas, et similes occultas artes, quae ipsis contemptui sunt, nec meum est docere ipsos, quorum animi impuriores sunt, quam ut considerent subtiliora et praeclariora. Ähnlich der Hinweis auf den gemeinen Nutzen, demgemäß die Notwendigkeit der Vermittlung und Kommunikation in Bodensteins Vorrede an Ludwig Wolfgang von Hapsberg (1562, CP I, Nr. 10), schon am Anfang topologisch breit ausgeführt und zulaufend auf das eigene Vorhaben: Hoc ut perficiatur, et ego excitatus sum, qui hoc tempore nullam rem uideo, qua melius publica commoda possim promouere, quam si libros Theophrasti, ingentes thesauros omnibus communicem [...]. 46 Zum weiteren Zusammenhang Wilhelm Kühlmann: Der ‚Hermetismus‘ als literarische Formation. Grundzüge seiner Rezeption in Deutschland. In: Scientia Poetica. Jahrbuch für Geschichte der Literatur und der Wissenschaften 3 (1999), 145–157; speziell zum teilweise aggressiven Endzeitbewusstsein im Blick auf die Restitution des verlorenen primordialen Wissens ders. (2013): Endzeit, Restauratio und Elias Artista – Signaturen des paracelsistischen Dissidentismus. In: Friedrich Vollhardt (Hrsg.): Religiöser Nonkonformismus und frühneuzeitliche Gelehrtenkultur. Berlin (Quellen und Darstellungen zur Geschichte des Antitrinitarismus und Sozinianismus in der Frühen Neuzeit, Bd. 2), 199–222. 47 Bodenstein in seiner Widmungsvorrede zur Edition von Paracelsus’ De Gradibus (1562) an Adolf Hermann von Riedesel (hier nach CP I, Nr. 7). 48 Zu Crollius s. Werk- und Briefausgabe von Kühlmann/Telle (1996 bzw. 1998). 2 Bde. Stuttgart, sowie den Artikel von Wilhelm Kühlmann. In: VL 16, Bd. 2 (2012), Sp. 34–39; zu Severinus und seiner
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fälliges Erfahrungswissen verfüge. Früh schon machten sich demgegenüber Legenden breit, in denen Paracelsus zünftige Kenntnisse (etwa die des Aristoteles) angedichtet wurden, ja in denen er als polyglottes Sprachgenie erscheint, der von kundigen Autoritäten in ganz Europa gelernt habe. Bodenstein stellte Paracelus in einem ersten Kurzporträt auf diese Weise dem erbetenen Gönner Cosimo (I.) de Medici, dem Großherzog der Toskana, vor:49 Fuit hic Aureolus Theophrastus Paracelsus, natione Heluetius et Eremita, ex familia antiquissima Paracelsorum, (conueniunt vatis nomine saepe suis) patris auxilio primo, deinde propria industria doctissimos viros in Germania, Italia, Gallia, Hispania, alijsque omnibus regionibus, totius Europae nactus est praeceptores, quorum liberali doctrina, et potissimum propria inquisitione cum esset ingenio acutissimo ac diuino, tantum profecit, vt multi eruditissimis libris editis testati sint, neminem mortalium in vniversa philosophia tam ardua, arcana et abdita sciuisse ac docuisse. Libros in omnibus simul philosophiae partibus quamplurimos conscripsit Latina, Germanica, alijsque linguis: Ostendit enim ipsam veritatem posse quauis lingua tradi recte si intelligamus.
Dergleichen Ruhmesreden konnten nicht verhindern, dass sich innerhalb der Paracelsusanhänger bald über die Grenzen des Reiches hinaus Fraktionen bildeten und dass vor allem die Attacken gegen Paracelsus’ Unverständlichkeit, „den schwären verstand“ seiner Schriften, weiterhin und gewiss nicht ohne Berechtigung auf schmerzliche Resonanz stießen – Schmähreden, wie sie sich exemplarisch bereits zu Paracelsus‘ Lebzeiten zu erkennen gaben in jenem bissigen Epigramm, das ein Anonymus einst in Basel gegen Paracelsus geschleudert hatte (hier in Übersetzung):50 Ich gebe es zu, nicht zu wissen, was deine spagyrischen Hirngespinste bedeuten, du Schwindler, Ich weiß auch nicht, was dein ‚Ares‘, dein ‚Yliadus‘ sein soll Oder das ‚Essatum‘ und der heilige unantastbare ‚Taphneus‘ Und dein ‚Archaeus‘, der Urheber alles Geschaffenen: Nicht einmal das wunderreiche Afrika hat so gewaltige Ungeheuer [monstra] hervorgebracht.
Bereits Paracelsus hatte sich gegen Angriffe dieser Art in seiner Defension/ Betreffend die newen [...] Nomina51 auch mit dem Hinweis auf die neuen Krankheiten und ihre diagnostischen wie therapeutischen Erfordernisse zur Wehr gesetzt. Es verwundert deshalb nicht, dass Aufgabe und Ausgangssituation des paracelsistischen Apologeten Erinnerungen an jene nur scheinbar verjährten Auseinandersetzungen nahe legten. Toxites bestimmte so seine aktuelle Schreibsituation beispielsweise in einem Wid-
Idea medicinae philosophicae (Basel 1571 u. ö.) s. Ole Peter Grell: The reception of Paracelsianism in early modern Lutheran Denmark: from Peter Severinus, the Dane, to Ole Worm. In: Medical History 39 (1995), 767–791, sowie CP III/1, Nr. 109, 232–349. 49 Zitiert nach CP I, Nr. 13, 307 (dort auch eine Übersetzung); aus Vorrede Bodensteins zu Paracelsus’ Libri quinque de causis, 1563. 50 Zitiert nach Blasers Übersetzung, wie Anm. 38, 91. 51 Paracelsus, hrsg. v. Huser, wie Anm. 39, Tl. 2, 164–168.
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mungsbrief an den Grafen Ulrich von Montfort und Rothenfels (16. November 1567), hier in meiner deutscher Übersetzung:52 Und wenn ich dies auch anhand vieler Beispiele klarmachen könnte, will ich dennoch allein von unserem Theophrastus sprechen – deshalb nämlich, weil ich sehe, daß er heutzutage nicht weniger von gebildeten als früher von barbarischen, unfähigen und ungelehrten Medizinern zu Unrecht verrissen wird. Der eine tadelt an ihm die Dunkelheit und die Neuheit der Begriffe, ein anderer haßt seine Heftigkeit in der Zurückweisung der Alten. Dann gibt es welche, die seine ‚Prinzipien‘ nicht ertragen können, manche bemühen sich, seine ganze Lehre zu verwerfen, einige belasten ihn noch mit anderen Verleumdungen. Wenn man diesen allen antworten wollte, ließe sich die Sache kaum in dicken Wälzern abmachen. Deshalb will ich die übrigen Schmähungen beiseite lassen und nur kurz und klar angeben, welche Gründe ihn zum Schreiben trieben, warum er ziemlich dunkel schrieb und aus welchem Grunde er damals ziemlich heftig gegen die zeitgenössischen Ärzte auftrat, als er dank der Güte Gottes zum großen Nutzen ganz Deutschlands (wenn es doch dies sein Glück hätte erkennen wollen!) in seiner Lebensblüte stand. Denn seine Begriffe und daß er, mit giftigen Dingen, wie die Gegner sie nennen, ohne Gefährdung der Kranken hantierte, hat er so entschuldigt und verteidigt, daß er weder meiner Verteidigung noch der eines anderen bedarf. Dies Buch liegt der Öffentlichkeit vor. Dieses mögen die Liebhaber der Wahrheit lesen und ruhigen Sinnes erwägen, ihr Urteil bilden ohne Gefühlsaufwallungen und ohne Streitlust. Wenn sie das tun, werden sie mit uns, die wir Theophrastus verehren, dem gütigsten Gott Dank sagen für das, was sie an Einsicht gewonnen haben, und die Hoffnung nicht aufgeben, das zu begreifen, was ihnen selbst noch verborgen ist.
Die Dunkelheit der Paracelsischen Begriffswelt und der offenkundige Verstoß gegen das perspicuitas-Gebot ist, so Toxites im folgenden, Symptom einer Rückzugsstrategie, in welcher der allseits angefeindete, von Gott erleuchtete und seinen Zeitgenossen weit vorauseilende Arztphilosoph sein Wissen vor den Unberufenen, ja selbst vor Freunden verbergen muss, um nicht „Perlen vor die Säue zu werfen“ (sehr oft zitiert: Matth. 7,6). Paracelsische Erkenntnisse und Entdeckungen ließen und lassen sich demnach nur partiell und nur vorläufig vermitteln. Das Sprachverhalten des Hohenheimers gleicht in seiner integumentalen Verschlüsselung den Schriftformen der geistlichen Offenbarung, die sich erst zu gegebener Zeit und dann auch nur den Würdigen erschließt:53 Dies vor allem scheinen mir die Gründe sowohl für die Dunkelheit seiner Schriften als auch für die Heftigkeit seiner Kritik zu sein. Wer könnte sie ihm zum Fehler anrechnen, wenn er die Faulheit, den Hass, den Betrug jener, die er immer wieder tadelte, sorgfältig bei sich abwägt? Wer könnte ihn beschuldigen, unrecht gehandelt zu haben, wenn er verhinderte, daß diejenigen den Sinn seiner Schriften erfassten, die solcher Geheimnisse und eines solchen Schatzes der Naturkenntnisse unwürdig waren. Denn er wusste genau, daß Gott es so wollte, ja er zweifelte kaum daran, sagte es sogar voraus, dass es eines Tages dazu kommen werde, daß weder die Dunkelheit
52 Aus der Vorrede zu Toxites’ Edition von Paracelsus’ De Vrinarum ac pulsuum iudicijs. Straßburg 1568 (zit. nach CP II, Nr. 42, 113 f., dort vorher auch der lateinische Text). 53 Ebd. 115 f.
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der Dinge noch die Neuheit der Begriffe die von der Lektüre seiner Bücher abschrecken werde, deren Geister der beste und größte Gott erleuchtet habe. Denn nicht allen steht dies gewöhnlich schon beim ersten Zutritt offen, und auch wir, die wir die Bücher des Paracelsus lesen oder veröffentlichen, sind nicht alle in die entlegenen Winkel der Geheimnisse vorgedrungen; vielmehr wandeln einige von uns noch in der Vorhalle, in der Erwartung, daß uns Christus, der Sohn Gottes, der einzige Urheber der Weisheit, einläßt. Weil sich die Sache aber so verhält, wem wird es erstaunlich erscheinen, wenn er das Seine dunkler behandelte als in der gewohnten Schreibweise der Alten, wenn er Irrtümer mit größerem Freimut kritisierte – provoziert von jenen, die, der Habsucht und Faulheit ergeben, lieber ihre Unwissenheit erhalten als Besseres lernen wollten? Dies aber ist am meisten zu beklagen, daß es auch heute in dieser so gebildeten Epoche hochgelehrte Menschen gibt, welche die so zahlreichen und so großen Gottesgaben, die uns durch Theophrastus vermittelt sind, in einem rätselhaften Hass wider seine Person oder infolge einer gewissen Schicksalsbestimmung zurückweisen und seine Schriften blindlings und bösartig verdammen.
Solch geradezu religiöse Überhöhung des Hohenheimers und seiner angeblich bewusst verrätselten Diktion ist nicht nur als Immunisierung vor lästigen Fragen zu verstehen, sondern signalisiert auch die Verstehensnöte des Adepten. Rationaler wirkte vor diesem Hintergrund die bewährte Denkfigur einer notwendigen Korrelation von neuen Namen und neuen Sachen. Sie gehörte zum argumentativen Standardrepertoire der Paracelsisten. Bodensteins Ankündigung seiner lexikalischen Bemühungen entwickelte diese Zusammenhänge (Widmungsschreiben an Melchior Dors, 1563), dies nicht zuletzt in Reaktion auf die internationale Nachfrage nach Paracelsica:54 Also lieber bruder achte niemands dieweil Galenus/ Hippocrates vnd vnserer zeyt vil glerte herliche mannen von solchen dingen nichts geschriben noch gewist/ dz sich iemands derwegen von jren schreiben nicht abziehen vnnd bessers lernen solt/ dan was zu vnserer zeyt vnd etlich hundert jar hieuor geschriben in medicin ausserthalb Theophrasto/ dz hat sein grund auff die schreiben Hippocratis vnd Galeni gsetzt/ welchs aber vnrecht ist/ dieweil vnser grundueste Gott vnd ratio naturalis sein muß/ welcher immer werende vmb vnserer sünden willen neüwe kranckheyten herfür sprossen lasset/ neüwe artzet auch neüwe artzney erforderet. Ich wolt doch gern einen mann (wie gelert jmmer er sein möchte) hören oder sehen/ der auß der leere aller medicorum so vor hundert jaren geläbt die witterung/ icteritiam rubeam/ wie mans namset rotlauff/ karbunckel oder schöne/ anders dann durch vnderrichtung Paracelsi artzneyen vermöcht Oder auch die algemeine plag so inn Deütscher nation hefftig herumb schweiffet/ die hundesplateren demmen kendt? von welchen kranckheyten im Capitulo de erysipelate doch vil seltzams bluder muß kochet/ Will der anderen morbis so vor hundert jaren nach nit gewest gschweigen/ daruon die alten gar nichts könden wüssen nach disputieren/ Dann wo habend Galenus vnd seine aemuli/ morbum gallicum curieren gelernet etc[etera] ja alle wir medici/ ich mit jnen/ habend von balbiereren/ verwenten alchimisten geistlichen vnd kauffleüten die französisch kranckheit anzegreyffen gelernet/ sind wol Doctores gewesen/ habent mechtige praeceptores gehabt/ gute lumina apothecariorum/ hochgelobte thesauros pharmacopaeroum/ vnzalbarlichen vil bibliographos/ aber vnsere schulmeister vnnd wir mit jhnen sind doch nit so gscheid als etwan ein landfarer/ so sich mit außrieffung Triax/ zanbrächen vnd wurmsachen nimmer ne-
54 Im folgenden Auszug aus dem Widmungsschreiben an Dors im Vorspann zur Edition von Paracelsus’ Von Tartarischen Krankheiten, Basel 1563, nach CP I, Nr. 15, 342–344.
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ren mocht gwäsen/ Liber mein welchem habend wir mit catharticis/ diureticis/ iniectionibus/ balneis/ inseßionibus/ sacculis vnd cicer erbsen brüe ein mal seinen tartarum inn ein liquorem transmutiert attrahiert vnd expelliert etc[etera]. Wiewol durch saxifragiam/ species lithontripon/ berillos crudos/ lapides iudaicos insequestratos/ etwan einen fürschießenden vnbestendigen tartarum wir etwan geiaget/ wie manchem erlichen menschen habend wir aber die rören wan die stick darin besteckt gewäst auffschneiden lassen? etc[etera]. Habend wir dann nit vhrsach vnnd grosse zeyt bessere lehrer auch media zesuchen? etc[etera]. Das laß ich vrtheilen alle verstendige/ insonders die jenigen die mit gemelter thyranischer bösen blag befangen/ auch alle medicos so ie fleißig praxim geübt/ [...] Derhalben wirdt ietzund lieber bruder von vilen nider vnnd oberlendischen Doctoren/ frommen guthertzigen von See stetten Englischen/ Weltschen vnd Deütschen menneren begärt/ dieweil jhnen herliche bücher Paracelsi zukommen/ doch der uerstand vnd inhalt derselbigen zu schwär/ das ich ihnen das buch oder methodum mittheilen sollte/ in welchem kundtbar gemachet wie alle ding der handarbeit auch der neüwen nammen verstanden/ angreiffen vnnd ins werck gericht werden mögen/ inn welchen so vil die vocabula artis antrifft/ wils Gott ich geren mein vleys anwenden vnd mittler zeyt das die synonima publiciert werden will.
Es sollte mit diesen Andeutungen umrissen sein, dass die Probleme der auktorialen oder sektiererischen Pluralisierung, der Präzision, Referenz, Notwendigkeit, standardsprachlichen Vermittlung und nutzbringenden Öffentlichkeit von Fachsprache, mithin auch die Herausforderung der dunklen Wörter im weiten Literaturkontinent der Paracelsisten und ihrer Gegner, aber auch im Kreis der Konziliatoren und der späteren Systematiker bzw. polyhistorisch summierenden Gelehrten einen hohen Stellenwert einnahmen und in einen durchgehenden sprachpragmatischen wie sprachtheoretischen Diskurs mit wechselnden Akzentuierungen eingelagert sind. Zu den aufschlussreichen Dokumenten zählt auch jenes Widmungsschreiben, mit dem sich der besagte Frühparacelsist Michael Toxites am 15. März 1574 an Maximilian Fugger und Viktor August Fugger, Söhne des berühmten Großkaufmanns, kaiserlichen Rats und berühmten Mäzens Johann Jacob Fugger (1516–1575), wandte und damit sein oben bereits erwähntes Paracelsus-Lexikon einleitete.55 Bei den Adressaten handelt es sich um 1. Maximilian Fugger (1550–1588). Er studierte in Ingolstadt und war von 1564 bis 1577 Deutschordenskomtur in der Bergbaustadt Sterzing, wo auch die Ordensballei ein Bleibergwerk mit Schmelzhütten unterhielt. M. soll an der Schlacht bei Lepanto (1571) teilgenommen haben, kümmerte sich jedoch offenbar kaum um seine Sterzinger Pflichten, so daß er 1577 von seinem Amt abgesetzt wurde 2. Viktor August Fugger (1547–1586). Er studiert ebenfalls in Ingolstadt, wurde 1570 Passauer Domkapitular, war zeitweise auch Domprobst von Regensburg und Präsident des Geistlichen Gerichtes in Wien. Soukop/Mayer (1997)56 berichten über
55 ONOMASTICA II. 1574 (wie Anm. 6), a2–a6. Abdruck mit Übersetzung und Kommentar in CP II, Nr. 55, 321–331; heranzuziehen Kettler (wie Anm. 7). 56 Rudolf Werner Soukop/Helmut Mayer: Alchemistisches Gold. Paracelsistische Pharmaka. Laboratoriumstechnik im 16. Jahrhundert. Chemiegeschichtliche und archäometrische Untersuchungen am
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sein Wirken (seit 1570) als Pfarrherr in Kirchberg am Wagram (Niederösterreich zwischen Tulln und Krems) im Zusammenhang ihrer Erforschung des hier im Ortsteil Oberstockstall (Schloßgebäude) entdeckten und nach den Überresten besonders unter technologischen und chemiegeschichtlichen Gesichtspunkten rekonstruierten Laboratoriums. Das besagte Laboratorium scheint allerdings vor allem von Viktor Augusts ältestem Bruder Sigmund Friedrich Fugger (1542 –1600: Salzburger Domkapitular, später Bischof von Regensburg, etwa von 1589 bis 1595 in Kirchberg lebend) zeitweise unter Mitwirkung des Alchemikers Michael Polhaimer aus Braunau am Inn betrieben worden zu sein. Toxites’ Kontaktsuche entsprach dem Bemühen auch anderer Paracelsisten (darunter Adam von Bodenstein), gerade im Blick auf montanistische Interessen der Fugger die mäzenatische Gunst von Mitgliedern des berühmten, mittlerweile in hohe Machtpositionen aufgestiegenen Handelshauses zu gewinnen. Für eine Topologie der sprachlichen Dunkelheit lässt der Text folgende Argumentationslinien erkennen: 1. Verkoppelt werden zwei geläufige Ursprungsmythen: zum einen den des Hermes Trismegistos, des meist zur Zeit des Moses angesetzten eponymen Begründers eines in der Geschichte verschütteten, nun zu restaurierenden Arkanwissens, zum anderen (wie später bei Ruland; s. o.) den des Turmbaus zu Babel, hier nicht zugeführt auf die Sprachenverwirrung, d. h. die Filiation der Nationalsprachen,57 sondern semantisiert im Sinne einer titanischen Mühe, die sich in der Lektüre- und Verständnisleistung der modernen Hermetiker widerspiegelt, die mit dem Auseinandertreten von Schrift, Wort, Sinn und Bedeutung zu kämpfen haben. Dorn schlug zehn Jahre später in den Vorreden seines Lexikons (1584) vor, der Leser möge das neue Paracelsus-Lexikon in Werke des „Propheten“ Paracelsus einbinden, damit man es immer zur Verfügung habe, gestand aber resignierend zu, dass manche Geheimnisse Paracelsi ebenso wie manche der Bibel (z. B. die der Apokalypse) erst mit der endzeitlichen Wiederkunft Christi eröffnet würden.58 Toxites unterscheidet – wohl zu vergleichen mit der modernen Differenz von Bedeutungs- und Referenzsemantik – zwei Seiten der fachsprachlichen obscuritas: die Dunkelheit der Bezeichnungen (vocabula) und die der Sachen (res). Beide implizieren und be-
Inventar des Laboratoriums Oberstockstall/Kirchberg am Wagram. Wien usw. 1997 (Perspektiven der Wissenschaftsgeschichte, Bd. 10); hier 21 f. 57 Die Funktion und Wirkung des Turmbau-Mythos hat bekanntlich Arno Borst dargestellt: Der Turmbau von Babel. Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker. 4 Bde. Stuttgart 1957–1963. 58 CP II, Nr. 90 und 91, 948–960.
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wirken eine integumentale Verrätselung des gemeinten Textsinns (sensus) durch die dazu berufenen Weisen.59 Diese Verhüllung aufzulösen ist nicht philologischer und wissenschaftlicher Mühe allein zu verdanken, sondern bedarf der göttlichen Erleuchtung. Dessen unerachtet hat sich der Paracelsusleser auseinanderzusetzen mit den aus verschiedenen Sprachen und Verwendungszusammenhängen entlehnten bzw. zusammengestellten Paracelsischen Termini. Die Prinzipien dieser Wortbildungen werden andeutungsweise differenziert: im Blick (a) auf Ähnlichkeiten zwischen res und voces (vielleicht in Anspielung auf die Signaturenlehre), (b) auf wortgeschichtliche Zonen der naturphilosophischen Kabbalistik60 bzw. der chemiatrischen Tradition und (c) auf Wortbildungsprinzipien, die lateinisch-griechische Hybridformen (Paragranum, Paramirum, Carboanthos61 ) favorisieren.
Solche Probleme also motivierten die onomastischen Lexikonunternehmen. Trotz großer Mühe ließen sich, so Toxites, entsprechende Vorarbeiten des Paracelsus nicht finden, doch kam Hilfe von anderer Seite. Zwar erwähnt der Widmungsbrief nicht die Zusammenarbeit des Verfassers mit Fischart oder die Unterstützung, die ihm der berühmte, im Alter paracelsistisch beeinflusste Straßburger Mediziner Johann Winther von Andernach62 angedeihen ließ, deutet jedoch auf ein offenbar handschriftliches Synonymenwörterbuch eines „Mannes in Baiern“. Toxites meint damit einen seiner Briefpartner, den alchemisch interessierten und gleichfalls paracelsistisch bewegten, eben deshalb von den Zunftgenossen hart attackierten Nürnberger
59 Von Bemerkungen wie diesen erschließen sich Rätsel, auch Rätselsammlungen, teilweise hieroglyphisch oder pythagoreisch indiziert, als besonderer Sektor des hermetoalchemischen Arkanschrifttums – wie etwa Michael Maier: Septimana Philosophica qua Aenigmata Aureolo de omni naturae genere [...] in modum colloquii proponuntur. Frankfurt/M. 1620. Dazu und zum weitläufigen Werk Maiers grundlegend die Heidelberger Dissertation von Erik Leibenguth (2002): Hermetische Poesie des Frühbarock. Michael Maier (1568–1622), Cantilenae intellectuales, herausgegeben, eingeleitet, übersetzt und erläutert. Tübingen (Frühe Neuzeit, Bd. 66), sowie der Artikel von Wilhelm Kühlmann. In VL 16, Bd 4 (2015), im Druck. Zum Thema erhellend auch Joachim Telle (2013): Fachschriftsteller als ‚Rhätersschreiber‘. Rätselreime aus deutschen Alchemica der frühen Neuzeit. In: Ders.: Alchemie und Poesie. Deutsche Alchemikerdichtungen des 15. bis 17. Jahrhunderts. Untersuchungen und Texte. Mit Beiträgen von Didier Kahn und Wilhelm Kühlmann, 2 Bde. Berlin/Boston, Bd. 2, Nr. 26, 989–1014. 60 Nicht nur hier zu beobachten die begriffliche Überschneidung der jüdisch-christlichen Buchstaben- und Text-Kabbala mit der genuin Paracelsischen Vorstellung der Gabalia im Sinne einer „naturmagischen“ Praxis und Entschlüsselung der „Signaturen“ der Dinge; vgl. CP II u. a. 337 f. 61 Vgl. CP I, Nr. 34, 595 f.; CP II, Nr. 49, 245. 62 Dazu Karl-Heinz Weimann: Der Renaissance-Arzt Johann Winther von Andernach. Seine Beziehungen zum oberrheinischen Paracelsismus und zum Paracelsus-Lexikon des Michael Toxites. In: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 7 (1989), 215–232.
174 | Wilhelm Kühlmann Stadtarzt Heinrich Wolff (1520–1581).63 Bemerkenswert wie dieser Hinweis auf den Untergrund der handschriftlichen Überlieferung (auch in lexikalischer Hinsicht) muss auch erscheinen, wie Toxites schließlich die Topik der hermetischen Arkandisziplin mit dem Öffentlichkeits- und Verständigungswillen des Paracelsus-Editors und -Lexikographen zum Ausgleich bringt. Bücher, so die lapidare Formulierung, sind geschrieben, damit sie verstanden werden. Dem Leser dabei zu helfen, entspricht göttlichem Gebot. Freilich beziehen sich diese Erläuterungspflicht und diese Erläuterungsmöglichkeit nur auf die Erklärung der Worte (expositio verborum). Der wie in Christi Gleichnissen verhüllte Sinn der Geheimnisse (arcanorum sensus) eröffnet sich trotz aller publizistischen Bemühungen nur einer kleinen Minderheit (paucissimi).
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63 Zu Wolff ausführlich (mit Biogramm) CP I, Nr. 37–38; ferner Wolfram Brechtold: Dr. Heinrich Wolff (1520–1581). Diss. med. Würzburg 1959.
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Nr. 1 (52 f.) Archæus, ist der Scheider der Elementen / der es ordnet / vnnd regiret / iedes an seinen Orth / Geschlecht vnd Wesen. Archeus est summus, exaltatus, & inuisibilis spiritus, qui separatur a corporibus, exaltatur, & ascendit: occulta naturæ virtus, generalis omnibus, artifex, & medicus. Item archiatros, supremus naturæ medicus, qui rei cuique suum Archeum peculiarem, & membro cuilibet occulte per Arem distribuit. Item Archeus primus in natura, vis est occultissima, res omnes producens ex Iliaste [so!], diuina virtute nimirum suffulta duntaxat. Vel: Archeos species inuisibilis est oberrans, & se a corporibus separans, medici vis atque virtus naturæ. Ein irriger / vnsichtbarer Geist / der sich absondert / vnd auffsteiget von den corporibus, ist der Künstler / vnd Artzet der Natur / vnd der Natur verborgene Krafft vnd Tugendt. Archeus vero vir est, producens res ex Iliaste, dispensator, & compositor omnium rerum. Ist eine Krafft / die alle Dinge auß dem Iliaste fürbringet vnnd scheidet / also auch im Menschen scheidet.
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Nr. 2 (160 f.) 1. Cœruleum pulcerrimum vltra marinum, seu Cyprium, in terra cinerea, simile cœruleo factitio optimo, Ein schöne Lasur / in einem liechtgraw Erdrich in Cypria. 2. Natiuum insigne glebosum Schnebergense, intus concauum, quod ex terra candida sabulosa effoditur. Schön blaw Lasur Kuglen / die innwendig hol / vn in einer weissen grißlichen Erden gefunden werden. 3. Patauinum, q in glebis subcinereis terræ reperitur. Ein blaw in dunckelgraw Erdklotzen vmb Padua gefunden. 4. Natiuum Thuringicum, quod effoditur magna copia iuxta Muchellam, Gemein blaw / so man in Thüringen findt oder bricht. 5. Natiuum copiose adhærens terræ duræ cinereæ tenui. Bergk Lasur / so häuffig wachst an einer grawen schirblichten Erden. 6. Natiuum purum ex Polonia. Ein fein Polnischer Lasurstein. 7. Natiuum Polonicu cum terra dura sabulosa candida. Ein Polnisch Lasur mit einer harten grißlichen weissen Erden vermischt. 8. Natiuum cum lapide rudi candido, Vnreiner Lasur an weissem Stein. 9. Natiuum Hispanicum, in quo aurum apparet, Spannisch Lasurstein / darinn sichtig Feingold. 10. Natiuu Snebergense adhærens lapidib. rudibus, Lasur am Stein angeschwefft. 11. Islebianum in lapide sissili, Berg Lasur im Schiferstein. 12. Natiuum Goldbergese cum chrysocolla in vena ferri reperta, in lapide candido, qui igne liquescit. Ein schöne Bergk Lasur / mit einem angeflogene Bergkgrün in eine eisen Ertz vnd weissen Quark. 13. Natiuum Snebergense cu chrysocolla pura in silice candido distincte adhærente. Ein schone Bergk Lasur / sampt einem reinem Bergkgrün / an einem harten vnd weissen Fewerstein vnderschiedlich angehänget. 14. Natiuum Gieshubelianum in pyrite, ex quo argentum excoquitur, id mixtum est cum succo viridi concreto, & zonarum instar interdum dispositum, ex quo extra venam etiam cum iucunditate efflorescit. Ein Berg Lasur in einem gar schönen Kupfferkieß / darauß täglich ein graw Farb wächst. 15. Factitium, Lasur. 16. Factitium vltramarinum, quod ex Hispania & Thracia inuehi dicitur. 17. Armenium Islebianum, Blaw Schifergrün.
Nr. 3 (197 f.) Elixir est fermentum, cuius minima quatitas sui generis ingentem molem in pastam sibi similem penetrando conglutinat. Pasta h.l. est spiritus vite hominum, internusq; vitæ balsamus: est interna corporis conseruatrix in eo statu, in quo illud reperit. Elixir autem externus arte balsamus ab externis conquisitus ac præparatus in spagiricum fermentum. Vel: Elixir etiam est medicina fermentata vel ex auro solo, vel ex septem metallis, Ist ein Artzney wie Gold oder allen sieben Metalle angemacht. Ist alß viel alß ein Hefel / dessen ein wenig ein gantzer Teig durchdringe. Vel: Elixir, est species ex pluribus diuersi generis simpliciu specieb. composita. Itaq; cum oleum terebinthi componitur cu floribus sulphuris, & oleo myrrhæ: quando
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quintæ vini essentiæ miscetur tinctura croci: magisteria vegetabilium mineralib. seu magisteriis, seu essentiis, seu extractis aliis, & similia coadunantur, in medicinam compositam, elixir vocatur. Potissimum tamen excellunt elixyria liquida, quæ forma sua repræsentant aquas bezoardicas, aliasq; stillatitias compositas, quib. & ob cognatione nomen comunicatur. Aliis elixyr distat ab omnib. aliis essentiis, quia fiat ex plurib. & detur vel ad sanitate in eode statu detinenda, vel ad iminetes morbos arcendos, præseruandumq; a putredine. Vel: Elixir ist das ferment, Vrheb / Deyssend / Sawrteig / ist das / so auß Wasser wirdt. Dann Yxir ist Wasser / es ist ein gefärbet Wasser / gemenget mit den Cörpern / ist auch der weisse Stein / Oli vnd Puluer / dann das ist alles ein Ding / heist auch der Schatz / heist auch prima materia, ist imperfect Elixir, wans perfect vnd bereit ist / so ist es freylich ein Schatz. Lacinius spricht: Elixir wirdt gemacht auß dreyen / Sole, Luna, vnd Mercurio. Es soll aber mittelmessig sein / zwischen hart vnnd weich / weicher vnd subtiler alß Mercurius, sonst / das Gold / so darauß gemacht / ist vngeschmeidig. Auß dem Elixir wirdt Azot, vnnd ist das erste Theil deß Wercks. Also ist das Elixir zweyerley / weiß vn rot. Wanns rot ist / setzet man das ferment zu / vnd wirdt multiplicirt. Vel:
Nr. 4, 292–300 (292 f.) Lapis philosophorum, sein die Haar der Menschen. Lapis philosophicus est virtus intentissima, & velut in centrum arte coarctata, quæ extensa tincturam exhibet, absq; numero; vel est medicina illa vniuersalis, per quam veteres & metalla transformarunt, & morbos omnes sanauerunt. Id etiam Theoph. fecit. Ist ein Stein der Weisen / darmit sie die imperfect metalla verbessern / auch alle Kranckheiten vertrieben haben. Lapidis Philos. augmentatio, id est, Die Mehrung. Geber: Die Mehrung geschicht zweyerley Weiß 1. Daß man die solution vnnd coagulation widerhole. 2. Daß man werffe / auff das weisse oder rote corpus, in solcher Grösse / dasselbe auch elixir werde. Alß dann legs beydes in sein Wasser / vnnd menstruum zu soluiren, also wirdt das erste elixir im ferment dieser Tinctur. Reibe die Medicin / vnd soluirs wider in ihren Mercurium, vnd coagulirs lind / vnnd incerirs abermal wie Wachß / so ist schon sein corpus doppel. So du sie noch einmal soluirest vnnd kochest / so hastu es multipliciret hundertfältig / vn also fortan / je öffter je besser. Rouil hab acht auff / wie viel Gewicht dein Medicin fählt / denn je kräfftiger es wirdt / je mehr du must mercurii zusetzen / in der Mehrung / alß wans doppelte Krafft mehr hat /alß im Anfang nach der ersten multiplication, so thu doppel mercurii dazu. Also auch / wans dreyfacher Krafft mehr hat / wiltu die Krafft vnnd Qualitet mehren / so nimb Wasser. Wiltu aber die substantz vnd quantitet mehren / so nimb sulphur, oder materiam primam lapidis, vnnd kochs mit dem elixir. Thomas Tolet. Den 20. Theil deß elixirs, thu vier Theil mercurii, sigillirs vnnd kochs im ersten Grad deß Fewers 18. Tag.
180 | Wilhelm Kühlmann Im andern Grad 12. Tag. Im dritten / 10. Hievon thu wider in den Mercurium, vnnd kochß wie vor / du wirst es in 30. Tagen außmache / also zum dritten noch ehe / biß sibenden Thomas de Aquino, Theil elixir, mische mit lacte virginis, thu dazu purgirenden mercurii 7. theil / misch / wasche wie zuvor / trucks durch ein Tuch oder Leder / daß nur das 7. theil bleib / diß sigir, so hastu es sibenfältig gemehret in der Krafft. Von diesem zweyten Puluer / nimb ein Theil / thue darzu mercurii 7. Theil / Wachß drucks durch vnnd sigir, machs sibenmal mehr / vnd also fortan. (298 f.) Lapidis rubedo, Rote. Die weisse / ist ein Farb deß Lebens / die Röte der Vnsterbligkeit / vnnd nun herschet das Fewer vnnd kompt die perfection, wans dottergelb wirdt / so wirdts erhöhet / dünn vnd subtil / vnd heist Lufft / rot Oli / vnd alle Namen der Vögel vnd Geister. Wans rot wirdt / so heist es Himmel / Gold / rot Schwebel / Carfunckel / vn hat alle Namen / was nur rot vnd köstlich ist / zwischen Himmel vnd Erden / alß rot Gold / vnser Gold / Goldblum / der geborne König / der rote Sohn / Ethelia rubra, rote Erden / tingirend Gifft / corpus magnesiæ, Thyriack / der reine Leib / Eschen / Olixir, Kibrick / vnuerbrennlich Schwebel / rot vnd fir Schwebel / ferment Solis, auru coralli, vberfluß / röte / rote auripigment philosophi: Ertz / grün victriol, Almagra, laton, &c. (300) Lapidis digestio, Kochen / zeitigen / theilen / vnd wider zusammen fügen. Digeriren macht die humores tünn vnd lück / zeitiget / vnnd macht geschickt zu ihrer separation. Hiervon reden sie wunderbarlich vn mancherley / gleich wie von anderen / wo du der Natur nicht nachgehest / machen sie dich irr. Sie machen viererley Scheidung der Elementen / deß Oli / deß Geistes / der Erden / vnd der Seelen: vn ist alles wahr vnd alles eins. Sey gewarnet. Lieblicher ist es dem / des verstehet / aber irrig dem angehenden. Turba fol.76. Wann die Mischung geschehen ist / so heist es tinctura philos. fermentirt, vermischt / cor suffle, colla auri, Gifft / Glantz deß Meers / ethelia, auripigment, Kanderich / Mercurius auß Chambar / auru spissum, zendria, absemech, magnesia, Wißmath/ Chulut / Ertzrost / hirudo, Sug Egel / Ertz Rost / Stein / fol.67. Man soll das Wasser nicht absondern von dem Cörper im Glaß / sonst wurden sie verbrennen und verderben.
Nr. 5 (348 f.) Nostoch iaculum alicuius stellæ, vel eius repurgatione deiectum quid in terram: Sterngeschoß / fällt im Sommer gleich dem Froschlaich gelblecht / etliche wöllen es sey das Wachs. Inuenitur potissimum Iulio, Iunio & Augusto, super latos campos, & in pratis, instar fungi magni vel spongiæ, foraminosum quid, & leue, tendens in fuluum rauum colorem, & vt ius coagulatum, tactum coti emiscit: sunt qui nostoch ceram intelligant.
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Nr. 6 (358–360) Pater & mater regis, id est, die alten Philosophi haben sich deß Steins also verwundert / vnd dermassen erfrewet / daß sie nicht gewist / wie sie ihn genug beschreiben / vergleichen / rühmen vnd loben sollen / haben ihn microcosmum genennet / den Element Himmel / Erden / Sternen / vnd allen Creaturen verglichen / also auch den Ehestand vnnd Geburt der Kinder / wie der alte Spruch lautet. Die Sonn ist sein Vatter Noha, cœlum. Der Mond ist sein Mutter / Aretia Nohæ Weib / Vesta. Der Wind trägt ihn im Leib / aer, spiritus. Die Erdt nehret ihn / etc. Dann die Sonn / ist mit ihrer Wärm vnnd Krafft alß ein Vatter aller Gewächß / der Mond mit seiner Feuchte die Mutter / die Lufft muß alles fassen / vnnd tragen vnnd die Erde nehren. Es ist aber etwas besonders in diesem Werck / denn die metallische Sonn ist wahrhafftig Vatter / vnnd gibt den männlichen Samen: Der Mond ist die rechte Mutter / vnnd gibt den weiblichen Samen: Der Wind vnd Lufft muß heben / vnd führen / alß Hermes sagt: Vnser Mercurius steigt auff im Glaß mit der Lufft / die Erde ligt vnden / vnd fasset in sich Seel vnd Geist / daß ein volkommen Kind vnd König werde. 2. Vatter ist vnser Schwefel / Mutter ist vnser Mercurius, der den Schwefel in dem Leib trägt. Dann das Weib ist schwanger / mit einem roten Kind / das ist / in dem weissen verborgen / wanns geboren wirdt / so wirdt das roth wider offenbar / vnd das Weib in roten Mann verwandelt / wirdt ein androgynus. 3. Der Mann / sagt Senior, ist ohn Flügel / das Weib flüget / wirdt oben herunder gezogen / wanns coagulirt wirdt / der Mond ist dunckel / darumb heisset er vmbra: Das Weib ist hell / heisset radius, ein Glantz vnnd Stral der Sonnen / ziehe den Schatten auß dem Glantz / das ist coagulirt, vnnd machs hell. 4. Der Mann heisset Bley: Mars das Weib / Venus vnd Arsenic, der Mann ist auß de Weib / vnd das Weib auß de Man / wie Eua / der schlaffendt Adam verlierte seine Rippen / er wirdt aber nit glorificirt, dieweil er nicht stirbt / nach dem Todt / in der Aufferstehung / wirdt er verkleret / also auch vnser Adam / gibt im ersten Schlaff die Euam; darnach in der anderen solution stirbe er / vn er stehet herrlich vn da kan kein Eua mehr von ihm genommen werden. S. Ternesi. Der Vatter ist die calcinatio, Mutter die solutio: die Fontin ist sein Mutter / vnnd er doch älter alß die fontin, dieweil er perfect ist worden.
Johannes Gottfried Mayer
Fachterminologie und Übersetzungsstil im Leipziger Drogenkompendium und im Gart der Gesundheit, den größten deutschsprachigen Kräuterbüchern des 15. Jahrhunderts 1 Die Texte Als eine Quelle zur Erforschung der deutschen Fachsprache auf dem Gebiet der Medizin und Pharmazie im ausgehenden Mittelalter bieten sich zwei Texte des 15. Jahrhunderts allein wegen ihres Umfangs besonders an.1 Dies ist zum einen das Leipziger Drogenkompendium (= LDk) das in der Handschrift der Universitätsbibliothek Leipzig Cod. 1224 auf den Blättern: 1ra–192vb überliefert wird. Auf beinahe 400 Seiten in Folio umfasst diese Arzneimittellehre 328 Drogenmonographien ohne Abbildungen. Die Handschrift wurde voraussichtlich noch in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts (um 1435) in einem sächsischen Kloster geschrieben. (vgl. Pensel 1998, 163–166). Der Gart der Gesundheit (Mainz 1485) ist der erste durchgehend illustrierte Druck eines Kräuterbuchs. Es werden in 435 Kapiteln 382 Pflanzenarten sowie 25 tierische und 28 mineralische Drogen behandelt. Damit stellt er das bis dahin größte Unternehmen der Buchdruckerkunst auf dem Gebiet der Arzneimittellehre dar. Von dem Mainzer Domherren Bernhard von Breydenbach (1440–1497) initiiert kam der Gart im Jahr 1485 bei dem Mainzer Drucker Peter Schöffer heraus. Nach Isphording kann er als der „bedeutendste Druck der Inkunabelzeit“ (Isphording 2008, 44) gelten, während Gundolf Keil den Gart als eines „der wirkungsmächtigsten Werke des deutschen Mittelalters“ bezeichnet (Keil 1980, 1071). Für den Text wurde Johann Wonnecke von Kaub (um 1430–1503/04) beauftragt, der als Arzt des Erzbischofs von Mainz Adolf II. von Nassau tätig war und ab 1484 als Stadtarzt in Frankfurt am Main wirkte. Die Drogenkapitel sind in beiden Werken halbalphabetisch gegliedert, d.h. für die Anordnung ist nur der erste Buchstabe des lateinischen Pflanzennamens entscheidend, die übrigen Buchstaben des Pflanzennamens spielten keine Rolle für die Reihenfolge. Diese halbalphabetische Gliederung findet sich bereits im Circa instans, der wichtigsten Arzneimittellehre von den einfachen Arzneimitteln aus Salerno (gegen
1 Dieser Aufsatz ist eine erweiterte und korrigierte Fassung meines Beitrages zur Fachtagung in Ostrava im Jahr 2009 (Mayer 2014). DOI 10.1515/9783110524758-012
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Mitte des 12. Jahrhunderts. Dieses Werk dient auch in beiden Texten als wichtige Quelle. Während die Blätter der Leipziger Handschrift paginiert sind und die Kapitel der einzelnen Buchstabenbereiche wiederum alphabetisch gezählt werden (bei mehr als 24 Kapiteln pro Buchstabe in Form von „aa“, „bb“ usw.) werden im Gart die Kapitel vollständig durchgezählt (1 bis 435); eine Blatt- oder Seitenzählung fehlt.
2 Die Quellen Für einen eingehenden Vergleich ist sicher der Umstand förderlich, dass es bei den (lateinischen) Quellen größere Überschneidungen gibt.
2.1 Das Leipziger Drogenkompendium 2.1.1 Die Quellen des Leipziger Drogenkompendiums (Mayer 2000) LDk basiert eindeutig auf zwei Hauptquellen: Die wichtigste Quelle ist das bereits erwähnte Circa instans die bedeutendste Arzneimittellehre aus Salerno, die Matthäus Platearius zugeschrieben wird. LDk stellt die einzige vollständige Übersetzung des Circa instans dar, die bislang bekannt ist. Viele Kapitel aus der zweiten Hälfte der LDk sind reine Übersetzungen dieses pharmazeutischen Grundlagenwerkes. Als zweite Hauptquelle fungierte der sogenannte Aggregator oder Pseudo-Serapion, eine Arzneimittellehre, die fälschlicherweise dem syrischen Arzt (?) Johannes Serapion zugeschrieben wurde. Sie geht auf einen arabischen Text des 10. Jahrhunderts zurück, der im 11. Jahrhundert durch Ibn al-Wahfid in Spanien überarbeitet wurde. Eine weitere Überarbeitung aus der Zeit kurz vor 1250 wurde durch Simon von Genua und Abraham von Tortosa mit dem Titel Liber aggregatus in medicinis simplicibus um 1290 ins Lateinische übersetzt (Straberger-Schneider 2009). Der Aggregator behandelt 462 bis 464 Drogen. Der Hauptteil ist nach den vier Wirkungsgraden der zwei thermischen Primärqualitäten (warm oder kalt) der Drogen gegliedert. Das erste Buch behandelt demnach Drogen die im ersten Grad warm oder kalt sind, das nächste Drogen die im zweiten Grad wärmen oder kühlen usw. In einem Anhang werden Mineralien und tierische Drogen behandelt. Die einzelnen Kapitel sind in der Regel aus den entsprechenden Kapiteln der Materia medica des Dioskurides (2. Hälfte 1. Jahrhundert nach Chr.) und dem Simplicenbuch des Galen von Pergamon De simplicibus medicamentorum temperamentis ac facultatibus kompiliert, wobei jeweils die Aussagen zu den Pflanzen nach Dioskurides und Galen geboten werden, anschließend die Indikationen. Danach folgen sehr häufig Aussagen weiterer Autoritäten aus der
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Spätantike und der arabisch-sprachigen Medizin des Mittelalters. Einige Pflanzen, die bei Dioskurides und Galen fehlen, werden nur nach arabisch-sprachigen Werken vorgestellt.
2.1.2 Weitere Quellen des Leipziger Drogenkompendiums In der ersten Hälfte des Textes finden sich 28 Auszüge aus dem sogenannten Macer floridus, ein Lehrgedicht in Hexametern zu 77 Arzneipflanzen, das höchstwahrscheinlich gegen Ende des 11. Jahrhunderts entstanden ist und einem Odo Magdunensis (Odo de Meung) zugeschrieben wird. Es handelt sich um das erfolgreichste Kräuterbuch der Klostermedizin, das mehrfach ins Deutsche übertragen wurde, die wichtigste Übertragung ist eine Prosaübersetzung aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts (Mayer/Goehl 2001, Schnell/Crossgrove 2003). Daneben werden zwei weitere Werke zur Arzneimittellehre zitiert, die, wie das Circa instans aus der Medizinschule von Salerno hervorgegangen sind: der Liber graduum des Constantinus Africanus (gest. 1087 in Monte Cassio) zitiert, sowie der Liber iste, der Mitte des 12. Jahrhunderts entstanden ist. Diese beiden Texte muss der Übersetzer und Kompilator des LDk nicht direkt eingesehen haben. Bereits seit dem 12. Jahrhundert kursierten Fassungen des Circa instans die durch Auszüge aus dem Liber graduum und dem Liber iste ergänzt worden waren. (vgl. Holler 1941).
2.2 Quellen des Gart der Gesundheit Johann Wonnecke von Kaub hat bei der Erstellung des Textes für den Gart der Gesundheit auf eine größere Anzahl von Quellen zurückgegriffen (Mayer 2011, 2016). Wie im LDk spielen das Circa instans und der Pseudo-Serapionische Aggregator eine bedeutende Rolle. Weitere häufiger genutzte Quellen sind die Naturalis Historia von Plinius dem Älteren (gest. 79), das zweite Buch des Canon medicinae des Ibn Sina (Avicenna), auch Ibn Sinas De viribus cordis wird zitiert. Sehr häufig wird Dioskurides als Gewährsmann genannt, weniger oft Galen von Pergamon, die Zitate müssen jedoch nicht aus der Materia medica bzw. De simplicibus medicamentorum temperamentis ac facultatibus entnommen sein, sie könnten auch aus dem Aggregator stammen. Zudem führt Wonnecke von Kaub die Pantechne auf, ohne Constantinus Africanus als Autor bzw. Übersetzer zu erwähnen, sowie Isaac Judaeus De dietis particularibus (z. B. Kap. 86), Bartholomäus Anglicus De proprietatibus rerum (z. B. Kap. 70) und Isidor von Sevilla Etymologien (z. B. Kap. 1). Damit ist jedoch die Liste der Quellen, aus welchen Wonnecke nachweislich geschöpft hat, noch keineswegs vollständig. Er nutzte sicher auch – wie das LDk – den Macer floridus, daneben die Physica der Hildegard von Bingen (Riethe 2005) und das
186 | Johannes Gottfried Mayer Buch der Natur (bzw. Buch von den natürlichen Dingen) des Konrad von Megenberg (Keil 1982; Mayer 2011). Im Gegensatz zu den vorgenannten werden diese Autoren und Werke jedoch nie namentlich erwähnt. Lediglich ein Meister Wilhelm , vermutlich ein deutscher Chirurg, wird als Autorität aufgeführt.
3 Quellenbezug und Zitierweise Beim Umgang mit den Quellen und den Zitaten verhalten sich LDk und der Gart geradezu konträr: Der anonyme Übersetzer und Kompilator des LDk nennt seine eigentlichen Quellen an keiner Stelle, übernimmt aber immer die Autoritäten, die im Text des Pseudo-Serapionischen Aggregator bisweilen in großer Zahl aufgeführt werden. Ganz im Gegensatz dazu versucht Wonnecke von Kaub nahezu alle Aussagen im Gart einer Autorität zuzuweisen. Dabei macht er oft sehr genaue Angaben, etwa gleich im ersten Kapitel zum Beifuß (Arthemisia): „Plinius in synem xxv buch in dem capitel Arthemisia spricht . . . “ (Tatsächlich behandelt Plinius im 25 Buch der Naturalis historia die Artemisia). Ähnlich auch ein Zitat aus dem Canon medicinae Ibn Sinas: „Der wirdig meister Avicenna in synem andern buch in dem capitel Abrotanum spricht . . . “ (= Kapitel 69 im 2. Buch des Canon). Wonnecke zitiert im Gart also häufig mit genauer Angabe von Buch und Kapitel bei Plinius, Avicenna, oder Serapion (Aggregator) oder gibt das Pflanzenkapitel an: „In dem buch genant circa instans in dem capitel capparus stat geschriben . . . “ Mit Ausnahme des Meister Wilhelm erwähnt Wonnecke die deutschen Autoren und Werke jedoch nicht. Das Buch der Natur Megenbergs ist bekanntlich ein originär volkssprachiges Werk, der Macer floridus stand neben einer breiten lateinischen Überlieferung auch in einer weit verbreiteten deutschen Übersetzung zur Verfügung und auch die Physica der Hildegard wurde zumindest gekürzt ins Deutsche übertragen. Eine entsprechende Übersetzung ist durch das Speyrer Kräuterbuch (Berlin, Staatsbibliothek, Ms. germ. fol. 817, Bl. 1–61v) greifbar (Fehringer, 1994). Es könnte demnach sein, dass Wonnecke die deutschen Quellen verschweigt, oder für nicht zitierfähig hält, oder aber diese Texte in einer anonymisierten Form vorliegen hatte, wie etwa Hildegard im Speyrer Kräuterbuch, Auszüge aus dem Buch der Natur kursierten bereits in der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts ohne Nennung Megenbergs, wie auch zahllose Versionen des Macer floridus. Was die Behandlung der Quellen und das Kompilationsverfahren betrifft, so arbeiten der Autor von LDk und Wonnecke von Kaub ebenfalls sehr unterschiedlich. In der Regel übernimmt LDk die Kapitel vollständig aus den Quellen und setzt sie hintereinander meist in der Reihenfolge: Circa instans, Aggregator, Macer floridus (Mayer 2001).
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Die einzelnen Kapitel im Gart beginnen mit der Nennung der Pflanzennamen in Deutsch, Griechisch, Latein und Arabisch, wobei die arabischen Synonyme dem Aggregator entnommen sind. Dem folgt ein Eingangszitat aus dem Circa instans oder Aggregator, das die Primärqualitäten der Droge (warm, kalt, feucht, trocken) mitteilt. Die Beschreibung der Pflanzen und Drogen, die im Circa instans und im Aggregator (hier meist nach Dioskurides) einen größeren Raum einnehmen können, werden in aller Regel nicht übermittelt. Für das weitere Vorgehen, scheint Wonnecke keiner festen Regel oder Systematik etwa in der Reihenfolge der Quellen oder der Anwendungen zu folgen. Er setzt die ausgewählten Auszüge aus seinen zahlreichen Quellen neu zusammen. Bei längeren Kapiteln kommt es vor, dass eine der Hauptquellen mehrfach zitiert wird. Nur in Einzelfällen – bei kürzeren Kapiteln – übernimmt Wonnecke auch ein vollständiges Kapitel aus einer Quelle, so etwa den Text zu Binsuga aus der Physica der Hildegard von Bingen, wobei er diese Pflanze als Taubnessel identifiziert und nicht als Melisse, wie das viele Hildegard-Interpreten getan haben. Aus der Behandlung der Quellen ergeben sich klare Intentionen der Autoren oder Auftraggeber. Die Leipziger Drogenkunde war der Versuch aus den drei wichtigsten Drogenkunden des Mittelalters (Circa instans, Aggregator, Macer) eine große Arzneimittellehre zu kompilieren. Dieses Vorhaben wurde jedoch nur in den ersten drei Buchstaben, die fast die Hälfte des Gesamtwerkes ausmachen, wirklich realisiert. Kapitel aus dem Macer wurden nur in den Buchstabenbereichen A–E berücksichtigt. Ab dem Buchstaben P wurde wahrscheinlich nur noch eine erweiterte Fassung des Circa instans genutzt. Damit bietet aber das LDk immerhin die einzige vollständige Übersetzung der großen salernitanischen Arzneimittellehre ins Deutsche im Mittelalter. Für den Fall des Gart liegt die ursprüngliche Intension mit dem Vorwort des Auftraggebers, des Mainzer Domherren Bernhard von Breidenbach vor. Johann Wonnecke von Kaub sollte eine Gesamtschau der mittelalterlichen Arzneikunde nach den spätantiken und hochmittelalterlichen Autoritäten liefern vß den bewerten meistern in der artzney Galieno (Galen von Pergamon), Avicenna (Ibn Sina), Serapione (PseudoSerapion Aggregator), Diaskoride (Dioskurides), Panecta (Pantechne des Constantinus Africanus), Platearie (Circa Instans und Liber iste) und vielen anderen viel Kräuter Kraft und Natur in ein Buch zusammen zu bringen. Wonnecke von Kaub hat sich bemüht diesen Auftrag zu erfüllen, aber keine Vollständigkeit angestrebt: von den etwa 750 Drogen, die in den genannten Quellen behandelt werden, wurden 435 übernommen, die Quellen insgesamt unsystematisch genutzt. Zudem unterliefen Wonnecke viele Fehler, etwa bei der Identifizierung der Pflanzen aus den Quellen (z. B.: der Text zur Ringelblume wurde aus dem Circa Instans-Kapitel zum Kapernstrauch entnommen; Mayer/Czygan 2000), daneben fallen auch die vielen Druckfehler auf. Trotzdem wurde der Druck ein riesiger Erfolg. Nach Isphording ist der Gart der „bedeutendste Druck der Inkunabelzeit“ (Isphording 2008, 44), während Gundolf Keil von einem „der wirkungsmächtigsten Werke des deutschen Mittelalters“ spricht (Keil 1980, 1071). Tatsächlich kam es noch im Jahr 1485 zu einem
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Nachdruck in Augsburg und vor 1500 wurde die Zahl der Auflagen zweistellig. Über die Bearbeitungen durch Adam Lonitzer (ab 1557) und Peter Uffenbach (letztmals 1679) erreichte der Text mit dem Augsburger Druck von 1783 das letzte Viertel des 18. Jahrhunderts.
4 Übersetzungsstil Das LDk bietet in der Regel nicht nur den gesamten Text des Drogenkapitels aus der Quelle, das Kompendium bleibt auch bei der Übersetzung sehr nahe an der Vorlage. Von einer Wort-für-Wort-Übersetzung kann man allerdings nicht sprechen, aber es wird erkennbar versucht die Quelle möglichst genau im Deutschen abzubilden, auch im Satzbau. So wird sogar der Wechsel der Quelle im deutschen Text erkennbar. Ganz anders geht Wonnecke von Kaub vor. Bei der Beschreibung der Anwendung der einzelnen Drogen benutzt er meist eigene Formulierungen. Der Inhalt der Quelle wird in geraffter Form angegeben, wobei er auch auswählt. Viele Anwendungen der Quellen fehlen demnach im Gart, wie auch längere Rezepturen für spezielle Arzneimittelformen, die z. B. im Circa instans häufiger mitgegeben werden. Das erschwert den genauen Quellennachweis. Oft lässt sich nur feststellen, dass die angegebene Quelle am angegebenen Ort tatsächlich die entsprechenden Indikationen bietet.
5 Terminologie 5.1 Terminologie im LDk In Nähe zu den Vorlagen wird in LDk gerade auch in der Terminologie offensichtlich. Sehr häufig werden die Fachtermini gar nicht übersetzt, so etwa bei den Krankheitsnamen: – in den febribus – wetagen der iunctuaricis = Gelenke – louteflecmancia (= leucoflegmancia) = Weiße Wassersucht – sclyrosim (= Sclerosis) = Erstarrung, Lähmung – elaphantia (= [Lepra] Elephantia) = elefantenartig aufgeschwollene Füße – allopicia = Haarausfall – morphea = Feuermal Auch allgemeine Fachtermini werden nicht übersetzt: – humores = Säfte der Humoralpathologie – qualitatibus (qualitates) = mehrfach im Vorwort = Kräfte, Eigenschaften der Heilpflanzen oder Arzneimittel
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– – –
laxativum = Abführmittel pillule . . . dy laxyren den buch blut der emoiroydarum
Das Festhalten an den lateinischen Fachtermini führt punktuell zu einem deutschlateinischen Mischtext, hier dem lateinischen Originaltext aus dem Circa instans gegenübergestellt. – Weder dy cottidianam von der naturlichen flegmate = Contra cottidianam ex flegmate – Mache eyne purgacien der materien = facta purgatione materiae – Want sy cancriziren nach herisipilyren nicht = quia non cancrizantur nec erysipilantur. Auch die Arzneimittelformen werden grundsätzlich lateinisch benannt – einige Beispiele: – laxativum = Abführmittel – pillule . . . dy laxyren den buch – suppositorium = Zäpfchen – unguentum = Salbe – gargarismus = Gurgelwasser – limatura = Goldspäne Außerhalb der unmittelbaren medizinisch-pharmazeutischen Fachterminologie wie Krankheitsnamen und Arzneimittel bleibt der Übersetzer möglichst nahe am lateinischen Text. – geweldikeit der suche = morbi violenti = Stärke der Krankheit (Lepra, Epilepsie, Apoplexie) – geweldicliche arcztye = Stärke eines Arzneimittels – geveldikeide = Gefährlichkeit (hier in Bezug auf Elleborus) – wedirwertikeit der suche (1rb) = morbi contrarii = ‚gegenläufige Krankheiten‘, = besonders gefährliche Erkrankung – vnderswarcz = subnigrum – vnderrot = subrubus Dabei kommt es auch zu bemerkenswerten Wortbildungen: – dy vnczweitragunge (2ra) = differentia = Unterschied – vorebewarunge der vssecziket (ad praeservationem)
190 | Johannes Gottfried Mayer Folgende Textbeispiele aus dem ersten Kapitel zu Aloe zeigen die Nähe des LDk zu seiner Vorlage, hier das Circa instans: Für den Textvergleich wurden zwei Ausgaben herangezogen: E = Erlangen, UB, MS. 674 = nach Goehl 2015 L = London, British Library, Codex Egerton 747 = nach Ventura 2009
Beispiel 1 L: Nos autem dicimus, quod diverse sunt herbe non in genere, sed in bonitate, ex quibus iste tres maneries aloe fiunt, sicut diverse sunt uve non in genere sed in bonitate, ex quibus vina sunt differentia. LDk: Aber wir sprechen, das manigerhande crude sint nicht in dem geslechte, sundern in der gute von den das disse dry gesteltnisse des aloes werden. Alse manigerhande windtubelen sint, nicht in deme geslechte sunder in der gute von den das dy vnczweitragunge der wine werden.
Beispiel 2 Fälschungen und Fälscher von Drogen E+L: sophisticationes et fraudulentias conficientium LDk: dy gevelschten vnd dy da trogenhafticlichen conficyrende sint E: Virtus enim sese diligit et aspernatur contraria LDk: want dy craft hat sich selber lip vnde vorsmet dy ir wederwertig sint. craft ist hier nicht ganz korrekt, schließlich lautet der Spruch: Die Tugend nämlich liebt sich selbst und verschmäht alles Entgegengesetzte.
Beispiel 3 E: difficile discernitur, quod verum sit. LDk: vnd ist swerlich zcu bekennene, das her rechtvertig ist.
Textvergleich: LDk, Gart und Circa instans An manchen Stellen ist ein direkter Vergleich des Übersetzungsstils zwischen dem LDk und dem Gart bzw. Wonneckes möglich. Hier ein Beispiel aus dem Aloe-Kapitel (LDk und Circa instans Kapitel 1; Gart Kapitel 36)
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Beispiel 4 E: Et nota, quod omne, quod de natura est aromaticum, quanto aromaticius, tanto melius. LDk: Du salt mercken, das alle ding dy von naturen wol richende sint, io bas sy richen io besser sy sint. Gart: Merck die meister sprechent, daz alles das do sy von krutern von wurtzeln von gumme oder von specerien vnd von natur yglichs ein guten oder bösen geroch habe, so eß dan stercker ruchet an dem geroch, so eß auch meen stercker ist an syner krafft.
Beispiel 5 Direkter Vergleich zwischen dem Übersetzungsstil von LDk und Gart E: Omne etiam, quod debet habere aliquem saporem, quanto in suo sapore intensius est, tanto melius; excepto aloe: LDk: vnd also vorstant ouch von den stinckenden, vnde ouch alle das das da haben sal eynen smacken, io mer is in deme smacke vntczundet ist, io besser das is ist, vsz genommen den aloe: Gart: Auch deß glichen was do von natur bitter ist, so eß meen bitter ist, so eß stercker ist. Vnd die meister nement alleyn vß Aloe: E: quod cum sit de natura amarum, quanto minus amarum, tanto laudabilius. LDk: Vnde der ist von bitterer nature, io minder das her bitter ist io lobelicher her ist. Gart: wan Aloe meen stinckende ist das ist das böst, vnd das do meen bitter ist vnder dem, das ist das böst. Hier hat Wonnecke sich nicht nur mehr vom Text des Circa instans entfernt als LDk, sondern letztlich den Schluss des Gedankens missverstanden.
5.2 Terminologie im Gart der Gesundheit Wonnecke bemüht sich im Gegensatz zur LDk um eine möglichst einfache Sprache und verzichtet weitgehend auf Latinismen. Bei den Krankheitsnamen wollte er auf die lateinische Begrifflichkeit nicht verzichten, erklärt sie jedoch mit dem deutschen Äquivalent in folgender Weise: – benymet yctericiam, das ist die gelsucht (LDk immer ictericia ohne Erklärung) – wassersuchtikeyt statt wie in LDk leucoflegmancia – asma das ist das kychen (Asthma) – epilencia das ist die fallende sucht (Epilepsie) – apoplexia, das ist der slag (Schlaganfall) – polipum, das ist eyn geswere der nasen (Nasenpolypen)
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Die in den Quellen vielfach angeführten unterschiedlichsten Arzneimittelformen werden fast nie übernommen, auch nicht in der deutschen Begrifflichkeit. Zwei typische Beispiele der Angabe von Indikation und Anwendungsform: Aus dem Kapitel zur Betonie (Betonica officinalis bzw. Stachys officinalis) – Betonien gesotten mit wyn vnd honig ist fast gut getruncken ptysicis emoptoicis, das ist die das abe nehmen haben vnd blut spyen. Aus dem Basilicum-Kapitel (Ocimum basilicum) – Basilicum reyniget die matrix, genannt die mutter, die bletter gesotten vnd vber den buch geleyt benympt daz buchwee. Ganz selten übernimmt Wonnecke im Gart komplexere Rezepturen oder längere Ausführungen zu den Arzneipflanzen aus den Quellen. Das Aloe-Kapitel (Kap. 36) ist eine der wenigen Ausnahmen. Aber auch hier bleibt die Sprache ganz schlicht. Johann Wonnecke von Kaub – ein durchaus profilierter Arzt seiner Zeit – verzichtete sicher nicht aus Unkenntnis weitgehend auf eine medizinisch-pharmazeutische Fachsprache, sein Ziel war offensichtlich eine größtmögliche Verständlichkeit zu erlangen. Vermutlich ist gerade darin der enorme Erfolg des Gart der Gesundheit begründet. Insofern könnte der Frankfurter Stadtarzt sogar Vorbildcharakter für die aktuelle Kommunikation von Arzt und medizinischen Laien zukommen.
Quellen Aggregator (Pseudo-Serapion) = Liber aggregatus in medicinis simplicibus. Zitiert nach der Transkription der Handschrift Cesena, Biblioteca Malatestiana, Ms. D.XXIII.3 (1ra –125va ) durch Konrad Goehl. Deutsche Übersetzung des Druckes von 1531: Straberger-Schneider, Jochen: Pseudo-Serapion: Eine große arabische Arzneimittellehre. Der Liber aggregatus in medicinis simplicibus des Pseudo-Serapion aus der Mitte des 13. Jahrhunderts. Bd. II: Deutsche Übersetzung nach der Druckfassung von 1531. Baden-Baden 2009 (nur mit dem lateinischen Text benutzbar) Circa instans: Konrad Goehl: Das ‚Circa Instans‘. Die erste große Drogenkunde des Abendlandes. Baden-Baden 2015. Codex Egerton 747: Bartholomaeus Mini de Senis, Tractatus de herbis: Ms London, British Library, Egerton 747. Hrsg. v. Iolanda Ventura, Edizione nazionale: La Scuola Medica Salernitana’, 5. Florenze 2009. Gart der Gesundheit Mainz 1485: Faksimile-Ausgabe. München 1966. LDk = Leipziger Drogenkompendium: Leipzig, Universitätsbibliothek, Hs. Ms 1224 Liber graduum: Constantinus Africanus: Druck: Constantini opera bei Henricus Petrus. Basel 1536, 341–387. Macer floridus (Odo Magdunensis: De viribus Herbarum): Johannes Gottfried Mayer, Konrad Goehl: Höhepunkte der Klostermedizin. Der „Macer floridus“ und das Herbarium des Vitus Auslasser. Holzminden 2001 (mit Übertragung ins Deutsche von Konrad Goehl).
Fachterminologie und Übersetzungsstil | 193
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Ágnes Kuna
Die sprachlichen Muster von Anweisungen in ungarischen medizinischen Rezepten des 16.–17. Jahrhunderts 1 Einleitung Das Rezept ist eine der ältesten Textsorten in der medizinischen Texttradition.1 Seine über tausend jährige Existenz in zahlreichen Kulturen weist darauf hin, dass es über hohe kommunikative Relevanz verfügt (Heinemann 2000: 520). Im 16.–17. Jahrhundert galt das Rezept als eine Basistextsorte mit vielen verschiedenen Themen und Funktionen (vgl. Taavitsainen 2001a; Alonso Almeida 2008; Carrol 1999, 2003, 2004; Kuna 2011, 2016). Die zentrale Funktion in den Rezepten von unterschiedlichen Kulturen und Epochen besteht in der Antwort auf die Frage: „Wie soll man es machen?“, d. h. in der Anweisung oder Instruktion. Dieser Beitrag stellt die sprachlichen Muster und die pragmatisch-orientierten Interpretationsmöglichkeiten der Anweisungen in den ungarischen Rezepten des 16.–17. Jahrhunderts dar. Nach dieser Einleitung (1) werden die Daten und die Methode der Analyse präsentiert (2). Als Rahmen der Untersuchung von Anweisungen dienen die frühen ungarischen Rezepte, darauffolgend fasse ich die wichtigsten Charakteristika der Textsorte und ihre soziokulturelle Umgebung zusammen (3). In Abschnitt 4 werden Anweisungen als Sprechakt und ihre typischen sprachlichen Repräsentationen dargelegt und im pragmatischen Ansatz interpretiert (4). In Abschnitt 5 soll schließlich ein Fazit gezogen werden.
2 Daten und Methode Die Untersuchung von Rezepten als Textsorte beruht insgesamt auf 21 ungarischen medizinischen Werken (Manuskripte und Druckwerke) aus der Anfangszeit der schriftlichen ungarischen medizinischen Sprache (s. Kuna 2011). In diesem Beitrag werden die sprachlichen Repräsentationen von Instruktionen in acht ausgewählten Manuskripten in typischen Gattungen der zeitgenössischen medizinischen Texttradition
1 Die vorliegende Arbeit wurde mit der Unterstützung des Postdoc-Programms der Ungarischen Akademie der Wissenschaften und der Katholischen Péter Pázmány Universität, sowie des Ungarischen Förderungsfonds des Wissenschaftlichen Forschung (OTKA, Projektmummer K 100717) verfasst. DOI 10.1515/9783110524758-013
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Tab. 1: Daten der Analyse zur Anweisung Gattung
Autoren u. Werke
Bemerkung
Arzneibücher
Váradi Lencsés, György: Ars Medica (ca.1577) [AM]
Autoren: Ärzte Ziel: Wissenstransfer + Rezepte über Krankheiten des Körpers Adressaten: Heiler Textstrategie: gut organisiert
Pápai Páriz, Ferenc: Pax Corporis (1695) [PC] Chirurgische Schriften
Pettényi Borbély Márton orvosló könyve [Chirurgisches Buch von Márton Pettényi] (1683–1701) Phlebotomia (2. Hälfte des 17. Jh.)
Kräuterbuch
Melius Juhász, Péter: Herbárium (1578) Medicinae Variae. Melius Péter Herbáriumához kötött recipék [Rezepte zum Herbarium von Melius Peter] (1598)
Rezeptsammlungen
Török, János: Orvoskönyv Lovak Orvoslása [Medizinisches Buch, Medizin für Pferde] (ca.1619) [OLO]
Autoren: Chirurge (+ gemischt) Ziel: Informationen über chirurgisches Wissen + Rezepte (Zunftprüfungen) Adressaten: meistens Chirurgen/ Heiler Textstrategie: meistens gut organisiert Autoren: gemischte Gruppe Ziel: Wirkung von Kräutern Adressaten: Heiler/Patienten Textstrategie: gemischt
Autoren: gemischte Gruppe Ziel: schnelle Informationen, Rezepte Adressaten: Heiler/Patienten Textstrategie: keine feste Textstrategie
Becskereki, Váradi Szabó György Medicusi és borbélyi mesterség [Medizinische und chirurgische Kenntnisse (1668–1703) [MBM]
dargestellt (s. Tabelle 1). Zu den Tendenzen und Vorkommensfrequenzen wurde eine thematische Textsammlung erstellt, die aus zwei Arzneibüchern und zwei Rezeptsammlungen alle Rezepte zu einer bestimmten Krankheit (zu Kopfschmerzen) enthält. Die Textsammlung besteht aus 155 Rezepten (5513 Wörter) und repräsentiert die typischen Gattungen in der Epoche (s. fettgedruckte Titel und Werke in der Tabelle 1).
Die sprachlichen Muster von Anweisungen in Rezepten | 197
3 Medizinische Texttradition und Rezepte im 16.–17. Jahrhundert Textsorten funktionieren in bestimmten kommunikativen Ereignissen (communicative event; Swales 1990), die stark von der soziokulturellen Umgebung geprägt sind. Um die Rezepte und Anweisungen analysieren zu können, sind die zeitgenössischen kommunikativen und sozialen Verhältnisse im 16.–17. Jahrhundert in Betracht zu ziehen. Die Medizin ist im 16.–17. Jahrhundert von starker Heterogenität gekennzeichnet: Es leben die antiken und arabischen Traditionen weiter; gleichzeitig spielt Volksmedizin eine wesentliche Rolle, die meistens auf empirischen Erfahrungen und Glaube oder Aberglaube beruht. Die Heilung gilt in der Zeit sowohl als Alltagspraxis als auch als Wissenschaft. Medizin organisiert also solche Kenntnisse, die eigentlich alle benötigen können. Diese breite Basis, weiterhin der Humanismus und der Buchdruck tragen dazu bei, dass vom 15. Jahrhundert an immer mehr medizinische Bücher nicht nur auf Latein, sondern auch in den Volkssprachen vom 15. Jahrhundert an erscheinen (Taavitsainen/Pahta 2004). Im 16.–17. Jahrhundert gibt es viele medizinische Werke, die schon in bestimmten Kulturen in der Muttersprache zur Verfügung stehen. Es handelt sich meistens um medizinische Bücher für den alltäglichen Gebrauch, wie Herbarien, Arzneibücher, Rezeptsammlungen usw. Die zentrale Textsorte dieser Werke scheint das Rezept zu sein, das in der wissenschaftlichen und ebenso in der alltäglichen Kommunikation sehr häufig vorkommt. Rezepte verfügen im 16.–17. Jahrhundert über einen viel breiteren Gebrauchskreis als in der heutigen Arzt-Apotheker-Interaktion. Das frühere Rezept gilt als eine Basis-Textsorte mit verschiedenen Themen und Funktionen (Stannard 1982; Hunt 1990; Taavitsainen 2001a), es gibt z. B. bestimmte Ratschläge und Anweisungen bezüglich einer Therapie, der Wirkung von Heilpflanzen; des Weiteren tauchen andere alltägliche Themen, wie Kochen, Bienenzucht, Jagd und magische Verfahren auf. Das Hauptthema der Textsorte, das alle Themen und Funktionen zusammenschließt, ist eigentlich das nützliche,2 d. h. ‚Wie kannst/sollst/musst du dir oder jemandem etwas nützliches machen‘. In dem Textsortenschema des Rezeptes spielt also das nützliche eine zentrale Rolle (s. Abb. 1.). Der Sprecher teilt dem Hörer mit, wie er/sie für sich oder für jemanden etwas Nützliches machen kann. Die drei Hauptteilnehmer sind also: der Sprecher, der über die nötigen Kenntnisse verfügt (1. Pers. Sing.); der Heiler (prototypisch 2. Pers. Sing.); und der Kranke (prototypisch 3. Pers. Sing.). Die sprachliche Formulierung ist sehr stark von dem bestimmten kommunikativen Ereignis und der soziokulturellen Umgebung abhängig. Abbildung 1 stellt schematisch das Szenario des Rezeptes als Textsorte dar, und zieht die genannten Faktoren in Betracht (Textsorte als komplexes Schema s. Taavitsainen 2001b; Kuna 2011, 2016).
2 Begriffe werden gemäß der kognitiv-linguistischen Traditionen mit Kleinkapitälchen geschrieben.
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Abb. 1: Das Szenario der Rezepte als Textsorte
In den Rezepten kommen bestimmte Informationen ganz häufig vor (Fachinformationen, Stannard 1982: 60–65), die sich prototypisch in drei funktionale Einheiten ordnen lassen: 1) in den initiatorischen Teil (Initiator, heading), der als begriffliche Einleitung des Rezeptes (wofür, was, warum gut?) gilt; 2) in den anweisenden Teil (woraus, wie viel, wie: Zutaten, Maße, Anweisung/Instruktion) und 3) in den überzegenden Teil, die die Effektivität und positiven Wirkungen der Methode/Heilmittel/Heilpflanze betont (s. (1)). Diese Einheiten erscheinen prototypisch in den Rezepten, sie sind aber nicht obligatorisch. Die sprachlichen Repräsentationen hängen auch mit den verschiedenen Faktoren der medizinischen Werke zusammen (Autor, Ziel, Zielgruppe, Texttradition usw.). In dem vorliegenden Beitrag konzentriere ich mich auf den anweisenden Teil (über die anderen funktionalen Einheiten in Rezepten s. mehr Kuna 2013, 2014a, 2014b, 2016). (1) Főfájástól jó igen. Az belindmagot törd meg borban, osztán főzd meg eczetben, kösd be az homlokodat, vak-szemeidet véle; használ. (MBM Nr. 114) Initiator → Sehr gut gegen Kopfschmerzen. Anweisender Teil → Schlag die Nuss im Wein auf, dann koche sie im Essig, binde dir die Stirn und die Schläfen damit um Überzeugender Teil → es wirkt.
4 Die Anweisung in den Rezepten Ich betrachte den anweisenden Teil als eine funktionale Einheit in früheren Rezepten, die unter anderem (wie z. B. Zutaten, Maßeinheiten, weitere Umstände usw.) den
Die sprachlichen Muster von Anweisungen in Rezepten | 199
Hauptsprechakt des Rezeptes enthält. Die Hauptfunktion des Rezeptes ist eigentlich die Anweisung, wie man das nützliche erreichen kann, wie es auch in den Definitionen nachzuvollziehen ist: [. . . ] communication in which someone is told what to do. (Werlich 1976: 40) The instruction how to prepare a meal. (Görlach 1992: 745) Instruction on how to prepare medicine, a dish, or some household utility like ink. (Taavitsainen 2001a: 86)
Im Folgenden konzentriere ich mich auf die sprachlichen Repräsentationen und die Muster der Anweisung in den ungarischen Rezepten des 16.–17. Jahrhunderts. Bei der Analyse gehe ich von folgender Ausgangsanlage aus: 1) Die Anweisung ist der zentrale Sprechakt der Rezepte. 2) Die Anweisung wird hauptsächlich durch imperative Verbformen ausgedrückt. Sie hängt mit dem dialogischen Charakter des Sprechaktes zusammen (die dialogische Nähe von der ersten Person und zweiten Person). 3) Es gibt direkte und indirekte Ausdrucksarten von Anweisungen entlang des Kontinuums zwischen Indikativ und Imperativ. Sie kommen innerhalb desselben Textes gemischt vor. 4) Die Anweisungen in den verschiedenen Subkategorien von Rezepten weisen unterschiedliche Tendenzen auf. Die Untersuchung wird von den folgenden Hypothesen gesteuert: 1. Anweisungen werden immer durch verbale Konstruktionen elaboriert. 2. Die prototypische Anweisung in den Rezepten ist die Aufforderung in der 2. Person Singular. 3. Die indirekten Ausdrucksformen von Anweisungen lassen sich mit Hilfe des Sprechaktszenario-Modells erklären (Panther/Thornburg 1997: 208–209). 4. Die auf der gleichen Ebene der Texttraditionen angesiedelten Anweisungen werden tendenziell ähnlich konstruiert.
4.1 Die sprachlichen Repräsentationen und Muster der Anweisung in Rezepten Die zentrale Funktion der Rezepte ist die Anweisung. Sie wird meistens als Aufforderung realisiert, mit der der Sprecher den Hörer anweist, das nützliche zu machen. In Anweisungen spielen wissens- und handlungskomponenten eine wesentliche Rolle. Das zeigt sich auch in dem Szenario der Anweisung. Ich behandle die Anweisung als einen direktiven Sprechakt und interpretiere die Variabilität der sprachlichen Repräsentationen in Rezepten mit Hilfe des Sprechaktszenario-Modells von Panther/Thornburg (1997, 1998). In dem Modell werden Sprechakte als Szenario aufgefasst. Sprechakte verfügen über eine Struktur, die durch aufeinander folgende
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Tab. 2: Die sprachlichen Repräsentationen der Anweisungen in Imperativformen in frühen ungarischen Rezepten Imperativformen
Beispiel
2.Pers. Sing.
végy ‚nimm‘, törd meg ‚zerbrich‘, kösd be ‚binde ein‘, keverd össze ‚rühre‘, süss ‚backe‘, kenjed ‚reibe ein‘
3.Pers. Sing.
igya ‚er/sie soll trinken‘, egye meg ‚er/sie soll es essen‘, főzze meg ‚er/sie soll es kochen‘, feküdjék ‚er/sie soll liegen‘
3.Pers. Pl.
főzzék meg ‚sie sollen es kochen‘, égessenek ‚sie sollen es brennen‘
1.Pers. Pl.
enyhítsük a fájdalmat ‚wir sollen die Schmerzen lindern‘
PassivKonstruktion:
megfüstöltessék ‚das Zimmer soll geräuchert werden‘
Sei/en
legyen meleg ‚es soll warm sein‘, készen legyen ‚es soll fertig sein‘
Komponenten zu charakterisieren ist: vorher (before); kern, pragmatisches ergebnis (core/result); und nachher (after). Das Modell geht davon aus, dass ein beliebiges Element des Sprechaktszenarios metonymisch für das ganze Szenario stehen kann. Dem Modell gemäß sieht das Szenario der Anweisung folgendermaßen aus (s. Abb. 2). Die Anweisungen in den Rezepten lassen sich in dem Kontinuum des Imperativs und Indikativs in engem Zusammenhang mit dem handlungs- und wissensCharakter des Sprechaktes beschreiben (s. Abb. 3). Bei den Imperativformen steht eher die handlung, bei Indikativformen eher das wissen im Vordergrund. Sie treten aber meistens zusammen auf. Anhand des Szenario-Modells gehören Aufforderung und Imperativ zu den kernKomponenten der Anweisung, wie es sich auch in den sprachlichen Repräsentationen zeigt. Die häufigste Imperativ-Form ist die 2. Person Singular. Daneben erscheint aber auch die dritte Person Singular, die sich auf die Aufgaben der Kranken bezieht. Die anderen Möglichkeiten sind viel seltener: Anweisungen in der 3. Person Singular und in 1. Person Plural verfügen über einen persönlichen Aspekt, in Passiv-Konstruktionen und in sei-Konstruktionen werden eher die Umstände hervorgehoben (s. Tabelle 2). Anweisungen können aber nicht nur als eine Aufforderung konzipiert werden, sondern es kommen auch indirekte Repräsentationen im Indikativ vor. Es kann bei diesen Konstruktionen beobachtet werden, dass die Verben eher nominale Charakterzüge aufweisen, und damit den wissens-Charakter in den Vordergrund stellen. Es kommen sogar solche Rezepte vor, wo die Verben völlig fehlen (s. Tabelle 3). Sehr häufig auftretend – und zu einer stark konventionalisierten sprachlichen Repräsentation der Anweisung im Indikativ zählen die muss/müssen + Infinitivformen (d. h. deontische Modalitätsformen). Neben der 2. Person Singular erscheint in den Rezepten diese Anweisung am häufigsten. Meistens sind diese Konstruktionen unpersönlich, nur
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Abb. 2: Das Szenario für die Anweisung (anhand Bradar-Szabó 2009: 267)
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Imperativ • 2. Pers. Sing. • 3. Pers. Sing. • 3. Pers. Pl. • 1. Pers. Pl.
deontische Modalität • muss + Inf.
Indikativ • Infinitiv-Konstruktionen • wenn-dann Verhältnis • Aufzählung der Zutaten • sonstige Ausdrücke
• Passiv-Konstruktion • Sei/en
Abb. 3: Sprachliche Repräsentationen der Anweisung in frühen ungarischen Rezepten innerhalb des Kontinuums von Imperativ und Indikativ
sehr selten wird ein persönlicher Aspekt konzipiert (z. B. enyhítéshez kell nyúlnunk ’wir müssen mildern’ PC 95). Es gibt weitere Formen von Anweisungen, die als Indikativ in Rezepten repräsentiert werden (s. Tabelle 3). Die Analyse weist darauf hin, dass die Anweisung in ungarischen Rezepten des 16.–17. Jahrhunderts sprachlich unterschiedlich konzipiert wird. Die einzelnen Repräsentationen kommen aber nicht mit gleicher Häufigkeit und gleichem Statndardisierungsgrad vor. Des Weiteren spielt die medizinische Texttradition bei der Formulierung ebenso eine wichtige Rolle. Es lässt sich feststellen, dass die Anweisungen der früheren Rezepte prototypisch durch verbale Konstruktionen, noch konkreter durch die 2. Person Singular und muss/müssen + Infinitiv Konstruktionen ausgedrückt werden. Es gibt dagegen Texte, die gar keine expliziten verbalen Elemente enthalten (s. Hypothese 1). Das Szenario-Modell der Sprechakte gibt wertvolle Interpretationsmöglichkeiten bei den verschiedenen Repräsentationen der Anweisung in dem Kontinuum des Imperativs und Indikativs. Anhand des Modells lassen sich auch die weniger typischen Repräsentationen interpretieren (s. Tabelle 4.). Im kern befindet sich die Grundsituation der Anweisung, wo der Sprecher den Hörer instruiert (s. Abb. 2). Es ist also nicht überraschend, dass die Aufforderung in der 2. Person Singular als prototypische Anweisung in den Rezepten auftritt. Höflichkeit spielt in dem Fall keine Rolle, was auch mit dem Charakter der Anweisung zusammenhängt: es gibt keine Sanktionen (zwischen Gesprächspartnern), wenn der Hörer den Instruktionen nicht folgt (vgl. Brdar-Szabó 2009: 268–269). Die stark konventionalisierte und häufige Repräsentation der Anweisung ist die muss/müssen + Infinitiv
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Tab. 3: Die sprachlichen Repräsentationen der Anweisungen im Indikativ in frühen ungarischen Rezepten ‚muss + Inf.‘: kell törni ‚man muss es zerbrechen‘, meg kell önteni ‚man muss es gießen‘, kell kötni ‚man muss es binden‘
kell + Inf deontische Modalität Partizip Perfekt
megtörvén ‚zerbrochen‘, forralván ‚gekocht‘, kenvén ‚eingerieben‘
weitere InfinitivKonstruktionen
hasznos/jó csinálni‚ ‚es ist gut/nützlich zu machen‘, legegészségesebb kétszer enni ‚am gesündesten ist, zwei Mal zu essen‘
wenn–dann Verhältnis
ha jol iszol az vizben, hurutot meggyógyít ‚wenn du gut von diesem Wasser trinkst, wird es dich heilen‘
Aufzählung der Zutaten
Kell alopaticium, temso, tikmon feier, bonus armenus, mastix. ‚Muss [sein] ...[Aufzählung der Zutaten]‘
Konstruktion, die semantisch und im Sprachgebrauch eng mit der Aufforderung zusammenhängt. Es gibt aber auch weniger typische Repräsentationen von Anweisungen, die sich mit Hilfe des Modells auch interpretieren lassen. In dem Fall, wo die Zutaten (vorherKomponente) als nominale Aufzählungen stehen, wird die ganze Textsorte aktiviert. Diese Repräsentation weist einerseits darauf hin, dass Zutaten in der Textsorte eine zentrale Rolle spielen. Andererseits ist es bemerkenswert, dass solche Texte eher in alltäglichen Rezeptsammlungen vorkommen und eher als elliptisch gelten. So kann die Texttradition bei der Interpretation nicht außer Acht gelassen werden. Die Anweisungen im Partizip Perfekt setzen die Umgebung der Heilung in den Vordergrund, die auch zu den vorher-Komponenten gehört. Die Infinitiv-Konstruktionen, die das nützliche konzipieren, stehen semantisch den muss/müssen + InfinitivKonstruktionen ganz nah, sie sind aber in der Bedeutung gar nicht konventionalisiert. Sie heben die vorherigen Konditionen hervor und beziehen die Attitüde des Sprechers gegenüber der Therapie oder des Heilmittels mit ein. Im Falle von wenn–dann RepräTab. 4: Das Szenario-Modell und die Anweisung in frühen ungarischen Rezepten vorher
kern
nachher
Zutaten Umstände das gute, das nützliche
Imp. 2. Pers. Sing muss + Inf.
Ergebnis (wenn–dann)
Imp. 3. Pers. Sing. Imp. 3. Pers. Pl. Imp. 1. Pers. Pl.
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sentationen steht dagegen das Ergebnis im Vordergrund: was geschieht, wenn man das und das macht; bzw. wenn ein bestimmtes Problem besteht, was man machen soll (nachher). Das metonymische Szenario-Modell von Sprechakten und die Auffassung der Textsorte als Szenario ermöglicht die Anweisung und ihre sprachlichen Repräsentationen in der Interaktion dynamisch zu interpretieren. Es ist also festzustellen, dass sich das Zentrum-Peripherie Prinzip in den Anweisungen der Rezepte beobachten lässt. Das Szenario der Textsorte (die genaue Sprechsituation) spielt aber eine genauso bedeutende Rolle (Zutaten, Thema, Umstände, Verhältnisse). Ohne das lässt sich nicht erklären, warum nur in einigen Rezepten Zutaten als eine Art Anweisung vorkommen können (s. Hypothese 3). Des Weiteren lohnt es sich noch einmal hervorzuheben, dass die genannten sprachlichen Repräsentationen in den Rezepten miteinander zusammen und gemischt vorkommen und dass sie auch von der Texttradition abhängen. Im nächsten Abschnitt komme ich auf diesen Aspekt in einer Pilotstudie anhand der Analyse von Texten zu Kopfschmerzen zu sprechen.
4.2 Anweisungen in den Rezepten zu Kopfschmerzen Im 16.–17. Jahrhundert gibt es verschiedene typische Gattungen in der medizinischen Literatur. Davon werden hier zwei präsentiert: das Arzneibuch und die Rezeptsammlung zu alltäglichen Zwecken. In einer Textsammlung zu Kopfschmerzen (155 Rezepte, 5553 Wörter) werden die typischen sprachlichen Repräsentationen und ihre Vorkommensfrequenz in je zwei medizinischen Werken dargelegt. Die zwei ausgewählten Arzneibücher sind Ars Medica (ca. 1577) [AM] und Pax Corporis (1695) [PC]. Beide stammen von gelehrten Autoren und folgen den damaligen Normen von Arzneibüchern. Die anderen zwei Werke sind Orvoskönyv Lovak orvoslása [OLO] (ca. 1619) und Medicusi és borbélyi mesterség [MBM] (1668–1703) (s. detaillierter Kuna 2013). Bei der Auswahl galten die Zeit der Entstehung und die Gattung als die wichtigsten Kriterien. Ich vermutete, dass sich trotz der kleinen Textmenge durch diese Aspekte einige Tendenzen in den sprachlichen Repräsentationen der Anweisungen zeigen. Zu diesem Zweck wurde auch eine typische Art von Rezepten ausgewählt, nämlich therapeutische Rezepte. In verschiedenen Subtypen der Rezepte können nämlich die Anweisungen große Unterschiede aufzeigen, wie es sich auch in der Zusammenfassung der sprachlichen Repräsentationen der Anweisungen in den ausgewählten Werken zeigt (s. Tabelle 5). links oben – Arzneibuch – 3003 Wörter – 68 Rezepte, 218 Anweisungen – Imp. 2. Pers. Sing und muss + Inf. (96,8, %)
Die sprachlichen Muster von Anweisungen in Rezepten |
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Tab. 5: Die sprachlichen Repräsentationen und die Vorkommensfrequenz (%) der Anweisung in den Rezepten zu Kopfschmerzen
rechts oben – Arzneibuch – 926 Wörter – 23 Rezepte, 78 Anweisungen – Imp. 2. Pers. Sing und muss + Inf. (43,5 %) – große Variabilität – unpersönliche Konstruktionen (43,6 %) – Positivität: 23,1 % (18 % + 5,1 %) links unten – Rezeptsammlung – 570 Wörter – 29 Rezepte, 74 Anweisungen – Imp. 2. Pers. Sing. und muss + Inf. (79,8 %) – Imp. 3. Pers. Sing. (12 %) rechts unten – Rezeptsammlung – 1014 Wörter
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– – –
35 Rezepte, 123 Anweisungen Imp. 2. Pers. Sing und muss + Inf. (82,1 %) wenn – dann: 8,9 %
Die Daten der Tabelle 5 zeigen, dass die Anweisung am häufigsten als 2. Person Singular im Imperativ konzipiert wird. Das hängt eng mit der konkreten kommunikativen Situation (mit der Textsorte) und auch mit dem nebensächlichen Charakter der Höflichkeit zusammen. Muss/müssen + Infinitiv Konstruktionen sind im Allgemeinen die zweithäufigste Repräsentation der Anweisung. In drei von den untersuchten Werken umfassen diese zwei Konstruktionen mehr als 75 % der Anweisungen. Trotz der hohen Anzahl der prototypischen Repräsentationen können in den einzelnen Werken unterschiedliche Tendenzen beobachtet werden. AM scheint am konsequentesten in der sprachlichen Formulierung der Anweisung zu sein: In etwa 98 % der Anweisungen erscheinen die prototypischen Repräsentationen. Diese Tendenz kann damit zusammenhängen, dass AM strenger den Normen der fremden Quellen und Tendenzen folgt. Ähnliche „Konsequenz“ zeigt sich in der Rezeptsammlung OLO, wo etwa 80 % der Anweisungen durch Imperativformen in der 2. Person Singular und muss/müssen + Infinitiv konzipiert werden. Daneben kommt aber auch die Imperativform in der 3. Person Singular häufiger vor (12 %). Diese bezieht sich meistens auf die Aufgaben der Kranken. Daneben erscheinen auch andere Konstruktionen, wie z. B. gut + Infinitiv, Partizip Perfekt, Passiv-Konstruktionen und Imperativformen in der 3. Person Plural. In diesen Tendenzen zeigt sich einerseits das Befolgen der bestehenden sprachlichen Normen der Quellen und der ungarischen sprachlichen Traditionen, andererseits weist die wechselnde Vielfalt auf einen Perspektivenwechsel hin. Die Zielgruppe der alltäglichen Rezeptsammlungen sind nämlich die Heiler und häufig auch die Kranken selbst. Dies lässt sich anhand der Formulierung der Anweisung erkennen. Darauf weisen auch die Anweisungen der anderen Rezeptsammlung (MBM) hin. In diesem Werk kommen die zwei prototypischen Formen der Anweisung in den meisten Fällen (über 80 %) vor. Außerdem kommen wenn-dann-Konstruktionen im Vergleich zu den anderen Werken mehrmalig vor. Die anderen Vorkommensfrequenzen und Tendenzen sind ganz ähnlich wie in der Rezeptsammlung OLO. Die größte Vielfalt und die bedeutendsten Unterschiede bezüglich der Anweisungen zeigt das zweite Arzneibuch, PC. Die prototypische Repräsentation (Imp. 2. Person Singular) erscheint 50 % seltener, als in den anderen Werken. Daneben treten andere Anweisungen in größerer Anzahl auf: gut + Infinitiv Konstruktion (18 %) Imperativ 3. Person Plural (16,7 %); Partizip Perfekt (14,1 %). Muss/müssen + Infinitiv (6,4 %) Konstruktionen sind dagegen seltener im Vergleich zu den erwähnten Repräsentationen. In diesem Arzneibuch lassen sich größere Veränderungen beobachten. Es kann mit mehreren Aspekten zusammenhängen und erklärt werden. Unter anderem damit, dass PC als ein „originales“ Werk, also nicht als strenge Übersetzung oder Kompilation gilt. Der persönliche Stil des gelehrten Autors erscheint auch in der Konstruktion der Anweisungen. Eine andere Beobachtung ist einerseits, dass Positivität eine größere Rolle als bei den an-
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deren Werken spielt; und andererseits lässt sich feststellen, dass die unpersönlichen Konstruktionen, die die Fachkommunikation charakterisieren, viel häufiger erscheinen. In der Pilotstudie kann auf Grund der kleinen Textsammlung zu Kopfschmerzen beobachtet werden, dass die Anweisungen in ungarischen Rezepten des 16.–17. Jahrhunderts sprachlich vielfältig konzipiert waren. Die Repräsentationen hingen mit der gegebenen kommunikativen Situation, mit der Textsorte, mit der Gattung und Texttradition und mit dem Befolgen der vorhandenen Normen eng zusammen.
5 Fazit Der Beitrag stellte Anweisungen in ungarischen medizinischen Rezepten des 16.– 17. Jahrhunderts vor, wozu die Textsorte den Untersuchungsrahmen bildete. Als Ausgangspunkt diente, dass die Anweisung als Grundfunktion der Rezepte eine zentrale Rolle in der Textsorte spielt. Die Analyse anhand von acht Manuskripten und einer Textsammlung zu Kopfschmerzen zeigte, dass die Anweisungen in den früheren ungarischen Rezepten meistens durch verbale Konstruktionen konzipiert waren. Nominale Konstruktionen spielten aber auch eine Rolle (Hypothese 1). Die weniger typischen, indirekten und oft nominalen Ausdrucksformen von Anweisungen konnten mit Hilfe des Sprechaktszenario-Modells erklärt werden (Hypothese 3). Die prototypische und häufigste Repräsentation der Anweisung in den Rezepten ist die Aufforderung in der 2. Person Singular. Dieser folgt die stark konventionalisierte Form: muss/müssen + Infinitiv (Hypothese 2). Weiterhin ist festzustellen, dass die einzelnen Werke bezüglich der sprachlichen Repräsentationen von Anweisungen in den unterschiedlichen Texttraditionen ähnliche Tendenzen aufweisen. Bei den auftretenden Unterschieden scheinen nicht die Texttradition und die Gattung die bedeutendste Rolle zu spielen, sondern die bestehenden Quellen und der eigene Stil des Autors scheint wesentlicher zu sein (Hypothese 4). Diese Behauptung zu bestätigen werden aber weitere Studien gebraucht, die andere Rezeptkategorien und Krankheiten, des Weiteren andere Texttraditionen und Gattungen einbeziehen. Da das Rezept eine der ältesten Textsorten der medizinischen Texttradition repräsentiert und in vielen Kulturen und Sprachen einen wichtigen Teil der kommunikativen Praxis bildet, ermöglicht die Textsorte eine interkulturelle Untersuchung bezüglich der Anweisung und auch anderer pragmatischer Aspekte (vgl. Hünecke 1991; Görlach 1992; Carrol 1999, 2003, 2004; SánchezRoura 2001; Taavitsainen 2001a; Grund 2003; Mäkinen 2004; Alonso Almeida 2008; Brdar-Szabó 2009; Totelin 2009; Kuna 2011, 2013, 2014a, 2014b, 2016 usw.).
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Józef Wiktorowicz
Medizinisches Wissen in einem populärwissenschaftlichen Buch über den Kaffee aus dem Jahr 1686 Meine Analyse des medizinischen Wissens im 17. Jahrhundert stützt sich auf ein populärwissenschaftliches Buch über den Kaffee, den Tee und die Schokolade, wobei die Hälfte des Buches dem Kaffee gewidmet ist und die andere Hälfte dem Tee und der Schokolade. Daher konzentriere ich mich auf den ersten Teil, zumal viele medizinische Informationen der damaligen Zeit im Teil über den Tee und über die Schokolade wiederholt werden. Der Autor bezeichnet seine Ausführungen als Traktätchen; damit wird schon im Titel angedeutet, dass der Autor seinen Text nicht als ein wissenschaftliches Traktat betrachtet. Gegenstand meiner Analyse ist das 1686 herausgegebene Buch mit dem Titel Drei neue Curieuse Tractatgen von dem Trancke Cafe, Sinesichen The und Chocolata, herausgegeben in Bautzen. Das Buch ist zunächst, 1671, in französischer Sprache ohne Angabe des Autors erschienen. Es folgten dann andere Ausgaben in französischer, englischer und deutscher Sprache. Insgesamt gab es in der Zeitspanne von 30 Jahren etwa 12 verschiedene Ausgaben der Traktätchen. Meine Analyse stützt sich auf die in der Landesbibliothek Sachsen zugängliche digitalisierte Fassung der Schrift, die 1686 in Bautzen in deutscher Sprache herausgegeben wurde. Im Katalog dieser Landesbibliothek erscheinen als Autoren der Schrift die beiden Namen Philipp Sylvestre Dufour und Jacob Spon. Im „Vorbericht an den Leser“ wird als Verfasser „Jacobus Sponius, Medicinae Doctor zu Leon“ genannt. In der französischen Ausgabe wird der Name Philipp Sylvestre Dufour angegeben. Sowohl Jacob Spon als auch Philipp Dufour lebten in Lyon, die beiden waren Protestanten und beide flüchteten in die Schweiz, als die Protestanten in Frankreich verfolgt wurden. Über Dufour findet man kaum Informationen, dafür gibt es mehr Informationen über den Arzt Jacob Spon und seine Reisen und Schriften. Die Forscher sind sich nicht einig, ob es sich um zwei verschiedene Personen handelt oder ob sich hinter den zwei Namen die gleiche Person versteckt. In den bibliographischen Angaben der Landesbibliothek Sachsen werden die beiden Namen genannt: Dufour /Spon. Gegen Jacob Spon als Autor spricht die Tatsache, dass er als Arzt vermutlich an einer medizinischen Lehre festhielt, während der Autor der Schrift über den Kaffee im großen und ganzen der jatrochemischen Humorallehre folgt, zugleich aber die jatrophysikalische Lehre und ihre Begriffe nicht ausschließt. An einer Stelle äußert der Autor eindeutig seinen Standpunkt, dass der Fortschritt der medizinischen Forschung dazu führen kann, dass zur Erklärung mancher Fakten alte Theorien und Hypothesen durch neuere Hypothesen ersetzt werden können. Solche Skepsis den zeitgenössischen medizinischen Erklärungen gegenüber kann man vielmehr bei einem gebildeten Laien DOI 10.1515/9783110524758-014
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Abb. 1: Drey Neue Curieuse Tractätgen / Von Dem Trancke Cafe
erwarten, der sich in der medizinischen Forschung gut auskennt und verschiedene konkurrierende Theorien kennt, sich zugleich keiner Theorie verpflichtet fühlt. Trotz einer gewissen Skepsis verschiedenen medizinischen Lehren gegenüber hält der Autor an der antiken Humorallehre von Galen fest, der im 2. Jahrhundert lebte und dessen Lehre sich bis ins 17./18. Jahrhundert gehalten hat. Der eigentliche Begründer der Humoraltheorie war Hippokrates, der die Krankheiten als Folge von Störungen in der Bewegung von Körperflüssigkeiten betrachtete. Die europäischen neuzeitlichen medizinischen Theorien stützten sich auf die Lehre von Galen, der die antiken Auffassungen von Hippokrates in einer einheitlichen Theorie darstellte. Der Autor zitiert die anderen Gelehrten, die der Auffassung sind, dass alle natürlichen Dinge aus vier Elementen bestehen, die vier Eigenschaften aufweisen: Wärme, Kälte, Trockenheit und Feuchtigkeit. Unser Autor betrachtet solche Auffassungen etwas distanziert, denn er schreibt: Die Alten Authores ( . . . ) bleiben bei ihrer altväterlichen Weise / und wenn sie die Eigenschaften (Qvalitates) derer Nahrungs- oder Arzneimittel erklären sollen/ so schwatzen sie von nichts anders von ihrem Calido, Frigido, Sicco, und Himido. Die heutigen neuen Scribenten aber meynen daraus ihre Gelahrsamkeit hören zu lassen / wann sie ihr Acidum und Alcali (Sauer und Saltzichtes) oder Sal, Sulphur und Mercurium herbringen. (S. 40)
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Trotz einer gewissen Skepsis den alten und zeitgenössischen Theorien gegenüber empfiehlt der Autor dennoch „kluge und verständige Aertzte“ (S. 48) zu konsultieren, wenn die Leser der Schrift den Kaffee zu ihrer Gesundheit gebrauchen wollen. Auch der Autor selbst stützt sich sehr oft auf die Erfahrungen der Ärzte, die Eigenschaften von Kaffee als Medizin bei der Heilung verschiedener Krankheiten untersucht haben. Einige Begriffe der antiken Humoralpathologie funktionieren bis heute, obwohl sie heutzutage mit den vier Körpersäften nicht mehr in Verbindung gebracht werden. Nach wie vor kennen wir verschiedene Temperamentstypen von Menschen, und zwar: Choleriker, Melancholiker, Phlegmatiker und Sanguiniker. Im Buch über den Kaffee und Tee sind sehr viele medizinische Informationen enthalten, die sich auf die verschiedenen Menschentypen und die Krankheiten beziehen, die der Grund dafür sind, dass die Menschen nicht immer Kaffee trinken sollten. Was die Menschentypen anbetrifft, so teilt der Autor die Menschen in Anlehnung an die damalige Lehre über die Körpersäfte in phlegmatische, sanguinische, cholerische und melancholische Naturen ein. Nach der damaligen Humoralphysiologie wirkte sich die Zusammensetzung von Blut und von Körpersäften auf das menschliche Temperament und die Veranlagung zu bestimmten Krankheiten aus. In Übereinstimmung mit der alten Viersäftelehre nimmt auch unser Autor an, dass die Sanguiniker zu viel Blut haben, für die Choleriker ist die gelbe Galle kennzeichnend, die Phlegmatiker haben zu viel Schleim und die Melancholiker zu viel schwarze Galle. Der Genuss von Kaffee wirkt sich entweder positiv oder negativ auf die Menschen aus, je nachdem, zu welchem Temperamentstyp der Mensch gehört. Obwohl der Autor in einem früheren Kapitel darüber schreibt, dass zur Erklärung von medizinischen Fakten verschiedene Theorien (Hypothesen) herangezogen werden können, folgt er bei der Beschreibung der in der Regel positiven Wirkung von Kaffee auf den menschlichen Körper der damals geltenden Humoralpathologie und übernimmt die zeitgenössischen Auffassungen über den Einfluss der Lebensmittel auf die Zusammensetzung der Körpersäfte und damit auf die Gesundheit der Menschen. Der Autor empfiehlt z. B. den Kaffee den phlegmatischen Naturen, weil sie einen schwachen Magen haben und damit langsam verdauen, während der Kaffee für cholerische und melancholische Naturen schädlich sein kann. Der Autor der Schrift über den Kaffee übernimmt ohne Vorbehalte die zeitgenössischen Auffassungen zur Esskultur und sieht einen Zusammenhang zwischen dem Auftreten von Krankheiten und den Ess- und Trinkgewohnheiten. Der Kaffee könne z. B. den schwindsüchtigen Leuten sehr schaden und sogar zum Tod führen. Die alte medizinische Bezeichnung Schwindsucht beruht auf der Vorstellung, dass die Körpersäfte ungleich verteilt sind; der Genuss von Kaffee beschleunige die Verdauung und führe die Körpersäfte zu schnell ab und beschleunige damit die Entwicklung der Krankheit, d h. der Schwindsucht. Was die Krankheiten anbetrifft, so verwendet der Autor gelegentlich lateinische Termini, die in der Regel übersetzt werden. Eine andere Variante, die in der Kaffeeschrift oft vorkommt, ist die Nennung der deutschen Bezeichnung, z. B. die Gicht, und dann wird in Klammern die lateinische Bezeichnung (Podagra) genannt. Bei vielen
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Krankheiten steht meist nur die deutsche Bezeichnung: Krankheiten des Magens, das Magenweh, Brust-Beschwerden (Brust-Krankheiten), das Kopfweh, (das Haupt-Weh), Schmerzen der Augen, das Seiten-Stechen, Entzündung der Hirn-Häutchen, UnterLeibs-Krankheiten, die Schwindsucht, die Rothe Ruhr. Bei den Komposita wird fast immer der Bindestrich verwendet. Bei den oft gebrauchten Fremdwörtern geht der Autor davon aus, dass sie allgemeinverständlich sind. Daher werden sie nicht durch deutsche Termini erklärt: Tertian-Feber und Quartan-Feber. Die beiden Termini, die sich auf das Fieber beziehen, werden heute in der deutschen Variante gebraucht: Dreitagefieber, Viertagefieber. In der Schrift erscheint nur an einer Stelle die deutsche Bezeichnung „das viertägige Feber“. Die Schwindsucht, die ich vorher erwähnt habe, erscheint nur in der deutschen Fassung; vermutlich geht der Autor davon aus, dass das Fremdwort phthisis, dt. Phthise, von den Lesern nicht verstanden wird. In der Kaffeeschrift werden ausschließlich solche Krankheiten genannt, die sich auf die Erkrankungen der inneren Organe beziehen und bei denen der Kaffee als Arzneimittel angewendet werden kann. Daher werden z. B. die Hautkrankheiten gar nicht erwähnt. Wenn es um die medizinische Behandlung geht, so werden in dieser Schrift über den Kaffee vor allem solche Mittel genannt, die mit der Diät und den Abführmitteln zusammenhängen. Die entsprechende Ernährung, die den oben genannten Temperamentstypen entspricht, sorgt dafür, dass der Mensch gesund bleibt. Notfalls soll man verschiedene Purganzien, d h. Abführmittel, anwenden. Das Wort Purgantz, im Plural Purgantzien, wird in der Schrift sehr oft gebraucht, weil diese Art der medizinischen Behandlung zur Heilung von vielen Krankheiten angewendet wurde. Der Autor verwendet als Synonym zum lateinischen Begriff Purgantz das deutsche Kompositum Öffnungsarznei. Auch das Verb purgieren erscheint an vielen Stellen. Purgieren wird nicht nur bei Magenbeschwerden angewendet, sondern auch gegen Kopfweh. Der Autor zitiert einen anderen Arzt, der gegen Kopfweh nicht nur Purgieren, sondern auch Baden, Schwitzen und Aderlassen angewendet hat. Die Anwendung solcher Methoden hatte zum Ziel, das Gleichgewicht innerhalb der Körpersäfte herzustellen und zugleich die Elemente zu entfernen, die im Blut bzw. in den Körpersäften verborgene Krankheitserreger enthielten. Es gab die Überzeugung, dass z. B. die Kopfschmerzen ihren Ursprung im Magen haben (S. 97). Bei dem Kopfweh, das der Autor ziemlich ausführlich behandelt, erwähnt er am Rande eine chirurgische Methode, die gegen die andauernden Kopfschmerzen bei einer Patientin angewendet werden sollte. „Die Herren Medici und Barbirer“ hätten schon den „Trepan“ versuchen wollen, d. h. die Trepanation durchführen. Zum Glück habe ein anderer Mediziner den Kaffee als Medizin vorgeschlagen und – wenn man dem Autor glauben will – wurde die Patientin nach drei Wochen wieder gesund. Auch der Autor der Schrift schreibt darüber, dass er die Kaffeekur bei sich selbst erfolgreich angewendet habe. Der Kaffee lindere die Kopfschmerzen dadurch, dass er die Dünste und die anderen Feuchtigkeiten, die nach oben in Richtung Gehirn ziehen, gleichmäßig verteilt.
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Der Genuss von Kaffee wirke sich generell positiv auf die Gesundheit der Menschen aus, er fördere die Verdauung und besitze eine reinigende Wirkung auf das Blut. Der Kaffee dient als Allheilmittel, weil er eine positive Wirkung gegen viele andere Krankheiten hat. Der Autor nennt hier das Podagra, das durch den Kaffee erfolgreich geheilt wurde. Bei der Krankheit Stein wird nicht erläutert, worauf sie beruht. In der Kaffeeschrift wird behauptet, dass auch diese Krankheit durch das Kaffeetrinken geheilt werden könne. Man kann vermuten, dass mit der Bezeichnung Stein entweder Gallenstein oder Nierenstein gemeint war. Die positive Wirkung von Kaffee gegen den Stein beruhe darauf, dass der Kaffee die Nieren reinige (so der Autor). Die reinigende Kraft von Kaffee führe auch dazu, dass der Durchfall geheilt werden könne. Allerdings benutzt hier der Autor eine andere deutsche Bezeichnung, und zwar das Wort Durchlauf. Der Kaffee sei auch im Fall der roten Ruhr hilfreich. Unter Ruhr versteht man heutzutage eine Infektionskrankheit mit Entzündung des Dickdarms, verbunden mit einem schleimig-blutigen Durchfall. Aber in der damaligen Humoralpathologie kannte man noch keine Infektionskrankheiten. Mit Hilfe des Kaffees kann man noch eine andere Krankheit erfolgreich bekämpfen, und zwar die Wassersucht. Der Autor schreibt, dass diese Krankheit in der Türkei und im Orient fremd sei. „Wann sich demnach die Türcken vor der Wassersucht gesichert fühlen und man bei denen Völckern im Orient von solcher Art Kranckheiten gar mit einander nicht viel höret / ist s gewißlich keinem andern Mittel sonst zuzuschreiben / als diesem / weil sie den Cafe so fleißig trincken.“ (S. 79) Der Kaffee kann auch als Medizin bei Verstopfungen des Leibes angewendet werden. Die Frauen sollen auch viel Kaffee trinken, weil – wie der Autor schreibt – der Kaffee bei den Frauen „so in währender Zeit / und unter dem gewöhnichen Abflusse/ Leib=Reissen entfinden/ grossen Nutzen schaffe, weilen er das Geblüthe mildert / und flüssend machet.“ (S. 78) In einem Fall aber folgt der Autor nicht der Autorität des zeitgenössischen Verfassers, der von der negativen Wirkung von Kaffee auf die Kinderzeugung schrieb. Der Autor widerlegt die Behauptung des anderen Autors über die negative Wirkung des Kaffees auf die Kinderzeugung durch empirische Fakten, und zwar nennt er das Beispiel Ägypten, ein Land, wo viel Kaffee getrunken wird und wo dennoch viele Menschen leben und viele Kinder zur Welt kommen. Ende des 17. Jahrhunderts gab es viele Ausgaben der Schrift über den Kaffee und den Tee, wobei dieses Getränk vorwiegend noch als Arzneimittel betrachtet wurde. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde der Kaffee in ganz Europa bekannt und er wird nicht mehr als Medizin angesehen. Zu dieser Zeit entsteht ein Bedarf nach anderen Texten, und zwar ein Bedarf nach Texten, die den Konsum von Kaffee erhöhen können. Zu solchen musikalisch-literarischen Werken gehört z. B. die Kaffeekantate von Johann Sebastian Bach, die in einem der Leipziger Kaffeehäuser gespielt wurde. Die Kaffeekantate enthält eine schöne Arie mit dem Titel „Ei, wie schmeckt der Coffee süße, Lieblicher als tausend Küsse,. . . “ gewissermaßen ein Werbetext, der zum Kaffeetrinken animieren soll.
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Quellen Brzeziński, Tadeusz (1995): Historia medycyny (Geschichte der Medizin), Warszawa 1995. De l’usage dv caphé, dv thé, et dv chocolate, a Lyon, Chez Jean Girin & Barthelemy Riviere, M.DC LXXI (16719. Drey Neue Curieuse Tractätgen / Von Dem Trancke Cafe, Sinesischen The, und der Chocolata, Welche nach ihren Eigenschafften / Gewächs / Fortpflantzung / Praeparirung / Tugenden und herrlichen Nutzen / sehr curieus beschrieben / Und nunmehreo in die Hoch= teutsche Sprache übersetzet von dem / Welcher sich jederzeit nennet Theae Potum Maxime Colens. BUDISSIN/ In Verlegung Friedrich Arnsts / 1686. (Vgl. auch Neudruck der deutschen Erstausgabe Bautzen 1686 aus der Universitätsbibliothek Leipzig. Leipzig 1986) (Bibliotheca Historico-Naturalis Antiqua).
Rainer Hünecke
Das hundertjährige Alter. Medizinische Ratgeber aus dem 18. Jahrhundert 1 Einführung Die gegebene Thematik dieser Fachtagung „Sprachgeschichte und Medizingeschichte. Texte – Termini – Interpretationen“ versteht sich als Fortsetzung der Tagung in Ostrava 2011 „Fachtexte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit“. Gleichzeitig aber wird mit der Einengung auf medizinische Fachtexte eine Fokussierung auf einen Teilbereich der historisch orientierten Fachsprachenforschung vorgenommen, die in Anbetracht der bereits erschlossenen Überlieferungslage historischer Fachtexte sinnvoll und zielführend ist. Für den Autor des vorliegenden Beitrages ergab sich daraus jedoch die Schwierigkeit, quasi als Quereinsteiger einen praktikablen Zugang zu dieser Problematik zu finden. Auf der Tagung in Ostrava habe ich über das Bergbüchlein des Ulrich Rülein aus der Zeit um 1500 referiert. Dieser Text wird in der bergbaulichen Fachliteratur als Initialtext der deutschsprachigen Fachliteratur des Bergbaus angesehen. Eigentlich aber ist dieser Text mehr eine Werbeschrift für den Bergbau des beginnenden 16. Jahrhunderts. Was also scheinbar wie ein Fachtext aussah, war eigentlich für diesen Referenzbereich kein Fachtext, sondern ein Vermittlungstext für Laien, die in den Bergbau investieren sollten. Mit meinem Beitrag auf der Tagung hier in Heidelberg befinde ich mich auch eher am Rande des von den Veranstaltern intendierten Gegenstandsbereiches – sowohl inhaltlich als auch zeitlich: Er thematisiert medizinische Ratgeber aus dem 18. Jahrhundert. Es handelt sich bei den zur Verfügung stehenden Texten um Zufallsfunde aus dem Bestand der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek, die im Rahmen des von der DFG geförderten Digitalisierungsprojektes wieder verfügbar gemacht wurden. Während meiner Beschäftigung mit dem kursächsischen Bergbau des 17. und 18. Jahrhunderts bin ich zwangsläufig mit medizinischen Problemen und deren Bewältigung konfrontiert worden. Der Bergmedicus war eine wichtige und geschätzte Persönlichkeit in den bergbautreibenden Städten des Erzgebirges. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts gehörte Ulrich Rülein dazu. Bis zum Beginn des 19. Jahrhundert behielt der Bergmedicus im kursächsischen Erzgebirge diese herausragende Position. Daneben entwickelte sich im 18. Jahrhundert eine Ratgeberliteratur, deren Ziel in der gesundheitsfürsorglichen Aufklärung der Bevölkerung bestand. Genau diese Literatur ist Gegenstand des vorliegenden Beitrages. Das Phänomen der Langlebigkeit ist nicht erst seit dem Ende des 20. Jahrhunderts Gegenstand der Literatur. DOI 10.1515/9783110524758-015
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Auch dass es ‚Rezepte‘ gibt, die Ratschläge für das Älterwerden geben, ist nicht neu. Gibt man in eine Internet-Suchmaschine das Stichwort ‚100jähriges Alter‘ ein, erhält man nach einer Suchzeit von 0,44 Sekunden ca. 24.000 Interneteinträge. Die Beschäftigung mit dem Älterwerden und dabei speziell mit dem Erreichen eines ‚hundertjährigen Alters‘ beginnt bereits mit dem Alten Testament. In der Gegenwart hat das Thema Eingang in die Politik gefunden. Demographische Erhebungen haben ergeben, dass im Norden Deutschlands besonders viele Menschen leben, die ein ‚hundertjähriges Alter‘ erreicht haben. Es sind aber auch Städte wie Freiburg und Heidelberg, in denen Menschen mit einer sehr hohen Lebenserwartung leben. Gründe für eine so hohe Lebenserwartung werden in der Ernährungssituation sowie der Gesundheitsfürsorge gesehen. Man geht davon aus, dass die Menschen der Gegenwart auch und ganz besonders über ein entsprechendes Wissen über die menschliche Gesundheit verfügen – populär aufbereitetes Fachwissen.
2 Das Untersuchungskorpus Ausgehend von einem mir bekannten medizinischen Ratgeber aus dem Bereich des kursächsischen Bergbaus konnten für das 18. Jahrhundert folgende Texte in Dresden recherchiert werden: Anonymus: Souverain Recept, Wie ein Mensch nicht allein gar bald zu voriger Gesundheit gelangen / sondern auch solche / zumahlen bey guter Diaet, bis in das Siebentzigste / achtzigste / ja wohl bis in das hundertse Jahr conseviren / und bis an den Termin seines Lebens eine gute gesunde Leibes-Constitution mit sehr geringen Kosten erhalten kann. Dresden 1711.
Gehem, Johann Abraham: Der richtige und sichere Wegweiser zur beständigen Gesundheit und einem langen Leben, in dreyßig kutzen Gesundheits=Regeln. Glückstadt 1735.
Anonymus: Der sorgfältige Kloster=Medicus oder Gründlicher Unterricht, auf was Weise die geistlichen Jungfrauen in denen Ordens=Gestifften den edlen Schatz ihrer Gesundheit glücklich erhalten, und für Kranckheiten sicher bewahren können, aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt, und mit kurtzen Anmerckungen versehen. Leipzig und Lauban 1740.
Endter, Christian Ernst: Das hundertjährige Alter, welches etliche Männer und Frauen, die noch am Leben sind, glücklich zurück gelegt haben. es wird zugleich Rath und That geben, wie man auch sehr alt werden, und nach dem göttlichen Willen. Kindes=Kindes=Kinder erleben kann, wie dann aus heiliger Schrift und
Das hundertjährige Alter. Medizinische Ratgeber aus dem 18. Jahrhundert | 219
andern Geschichts=Büchern bewiesen wird, daß eine große Anzahl unserer Vorfahren ihr Leben über zwey, drey ja neun hundert Jahre gebracht haben. Frankfurt und Leipzig 1764.
Scheffler, Carl Lebrecht: Abhandlung von der Gesundheit der Bergleute. Chemnitz 1770.
Hoffmann, Georg Friedrich: Etwas zur Beherzigung für Menschen denen ihre Gesundheit lieb ist. Für Leser aus allen Ständen, Aerzte ausgenommen. Frankfurt/Main 1793.
Anonymus: Schönheits= und Gesundheits=Katechismus für’s schöne Geschlecht. Ein Lesebuch für Mädchen, welche mannbar werden, als ein Geburtstags= und Weihnachtsgeschenk von einer alten Mutter. Leipzig 1797.
Von den auf dem Titelblatt genannten Autoren konnten Christian Ernst Endter sowie bedingt Carl Lebrecht Scheffler und Georg Friedrich Hoffmann mit biographischen Daten erfasst werden. Christian Ernst Endter lebte von 1693 bis 1775 als Arzt und Schriftsteller in Hamburg. Seine berufliche Tätigkeit begann er als Münzinspektor in Eisenach. Zur Medizin gelangte er durch Selbststudium und durch Privatunterricht bei verschiedenen Ärzten. Nachweislich hat Endter 11 Bücher zu unterschiedlichen Aspekten der Medizin verfasst (vgl. Schwander 1991). Carl Lebrecht Scheffler war Hofmedicus im kurfürstlichen Sachsen sowie Bergmedicus im erzgebirgischen Annaberg. Weitere Angaben zu seiner Person sind bisher nicht bekannt. Bei Georg Friedrich Hoffmann handelt es sich wahrscheinlich um einen 1764 geborenen und 1884 verstorbenen aus Marburg stammenden Arzt. Ihm werden mehrere populäre medizinische Abhandlungen zugeschrieben. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung werden nicht alle sieben Texte untersucht, sondern nur der Text vom Beginn des 18. Jahrhunderts (Anonymus 1711), von der Mitte des 18. Jahrhunderts (Endter 1764) und vom Ende des 18. Jahrhunderts (Anonymus 1797).
3 Ratgeberliteratur „Wenn nichts mehr geht, kommt sicher von irgendwo ein Ratgeber her.“ So überschreibt Ursula März in der Zeit (zeit online, Nr. 12/ 2010, 24.03.2010) den gegenwärtigen „Boom“ von Texten, in denen in unterschiedlicher medialer Form vom Ta-
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schenbuch bis zum Fernsehen über Krisen und deren Überwindung „erzählt“ wird. Das Szenario ist dabei relativ einfach ‚gestrickt‘: Ein zumeist einfacher Bürger kommt durch eigenes, aber unwillentlich herbeigeführtes Missgeschick in eine Krisensituation, aus der er vermeintlich aus eigener Kraft nicht mehr heraus kommt. Dann kommt der Ratgeber als Krisenmanager (als Schuldenberater, Super-Nanny oder Restaurantprofi). Er verfügt über Spezialwissen, das er auf die jeweilige Situation bezogen in populärer Form an die Betroffenen weitergibt und damit die gegebene Krisensituation überwindet. – Expertenwissen wird so exemplarisch an Laien vermittelt. Zumindest soll es so aussehen. In der germanistischen Literaturwissenschaft werden Texte dieser Gattung mit dem Begriff ‚Non-fiction-Literatur‘ oder Sachbuchliteratur bezeichnet. Es wird damit eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Textsorten bezeichnet, die hauptsächlich durch eine Gemeinsamkeit miteinander verbunden sind: Sie gehören nicht zur Belletristik (vgl. Diederichs 1978/2010: 1–77). Der Beginn der europäischen Sachbuchliteratur wird mit der Aufklärung angesetzt. Das Sachbuch ist das Bildungsbuch des „sich emanzipierenden Bürgertums“ in einer „Zeit, in der verstärkter bürgerlicher Wissensdrang die Barrieren, die ihm den unmittelbaren Zugang zu den Wissenschaften verwehrten, niederzureißen beginnt“ (Diederichs 1978/2010: 36). Die Darstellungsformen reichen vom Dialog zwischen einem Gelehrten und einem Laien (Bernard le Bovoir de Fontenelle: Entretiens sur la pluralité des mondes, 1686) bis hin zu den großen Enzyklopädien (Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des artes et des métiers. 35 Bände, 1751–1780). Das Ziel dieser Literatur bestand darin, die neuesten Erkenntnisse in Wissenschaft und Technik in einer sprachlich angemessenen Form aufzubereiten und zu popularisieren. Im Kontext der „Aufklärung differenziert sich ein komplexes mediales Bezugssystem des nicht-fiktionalen Erzählens aus, mit dem sich die Kultur über sich selbst informiert und Debatten inszeniert – und über das sich der Markt mit seinen spezifischen Strukturen, Handlungsrollen und Prozessen formiert“ (Porombka 2007: 8). Das 18. Jahrhundert ist in diesem Zusammenhang geradezu ein „Labor der Sachliteratur“. Es wird „erzählt und debattiert“ auf allen Ebenen der Gesellschaft und „in allen möglichen medialen Formen“. Dabei werden „Schreibweisen erprobt, mit denen sich das, was für die Kultur Wirklichkeit ausmacht, beschreiben, analysieren, debattieren und (zum Guten oder Schlechten) verändern lässt“ (Porombka 2005: 9). Merkmale dieser Literatur sind: allgemeine Verständlichkeit, geschickte Argumentation, Unterhaltung und Alltagswirklichkeit (vgl. Porombka 2005: 9). Die Problematik der Wissensvermittlung in historischer Perspektivierung wird in jüngster Zeit unter dem Aspekt der Inszenierung von Wissenschaft oder der Popularisierung der Wissenschaft betrachtet. Mit dem Begriff Popularisierung werden z. T. ganz unterschiedliche Phänomene erfasst. Ausgehend von dem Adjektiv populär sind es insbesondere die beiden Bedeutungsstränge: a) beliebt, volkstümlich und b) verständlich, die den Begriff prägen. Mit Popularisierung werden denn auch Diskurse erfasst, die einerseits auf das Beliebtmachen einer Sache und andererseits auf das Ver-
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ständlichmachen einer Sache abzielen. In beiden Fällen schwingt im Hintergrund die Nebenbedeutung der sachlichen Vereinfachung bzw. der Simplifizierung sowie der politischen Annäherung an das Volk mit. Als wissenschaftlicher Terminus taucht Popularisierung diachron in den Bereichen der Wissenschaftsvulgarisierung, synchron vor allem in dem der (insbesondere musikalischen) Populärkultur auf (vgl. Dinse 2010). Hinzu kommt neuerdings die Frage nach der Popularität im globalen Zeitalter (vgl. Blaseo 2005). Inmitten der unzähligen Definitionsversuche finden sich Ansätze, die Popularität als spartenübergreifendes Kriterium zu erkennen und zugleich das Dilemma der Nutzung des Begriffs ‚populär‘ zu problematisieren (vgl. Schoenebeck 1987). Die Begriffsbildung „Popularisierung“ ist indes auf den Rezeptionsvorgang und die Annahme bestimmter Themen beim Rezipienten bezogen. Insofern bezieht sich Popularisierung auf Impulse, die gemeinhin dem Humanismus respektive der Aufklärung zugeordnet werden. Das jeweilige Ergebnis von Popularisierung wird zudem oft als „sprachliche oder anschaulich-methodische Vereinfachung und Präsentation“ (Hünemörder 2002: 16) beschrieben, was den Akzent auf die Verbreitung außerdem qualitativ oder gar normativ nuanciert. Popularisierung wäre somit ein gerichteter Diskurs, der von wissenden Produzenten initiiert wird mit dem Ziel, bei Rezipienten eine kognitive Öffnung für einen planmäßigen (und kontrollierten) Wandel in deren Einstellungen und Wissensbeständen herbeizuführen. In diesem Sinne ist Popularisierung ein „hierarchischer Wissenstransfer“ (vgl. Kretschmann 2003: 9). Von einer mehr oder weniger homogenen Gruppe von Experten wird ein Vermittlungsprozess initiiert und gesteuert, der bei einer nicht homogenen Gruppe von Laien eine Veränderung bewirken soll. In dieser Vorstellung ist der Prozess der Popularisierung einsträngig, ohne eine gewollte Rückkopplung von Seiten der Laien. Die Gruppe der Experten erzeugt neues Wissen und stellt dieses der Gruppe der Laien, die an der Wissenserzeugung nicht beteiligt waren, zur Verfügung. In diesen unidirektionalen Prozess kann dann noch eine Gruppe von Distributoren oder Multiplikatoren zwischengeschaltet werden, die als Spezialisten die Vermittlung zwischen den Experten und den Laien übernehmen. Die Untersuchungen zur Vulgarisierung der Wissenschaften (vgl. Wolfschmidt 2002) konnten Strukturen der Popularisierung benennen, indem sie insbesondere die Produzenten und ihre Techniken in den Blick nahmen. Mündliche und schriftliche Formen der Unterweisung wie Predigt und Lektüre wurden im Zeitalter des Buchdruckes und dessen Verfeinerung durch die Möglichkeit der Illustrierung qualitativ verändert. Die Methoden der Popularisierung erfuhren eine zunehmende Verfeinerung durch die Herausbildung von Gattungen wie Kalender, Kinderbücher oder Unterweisungen an Ungebildete. Die Sprache der Popularisierung wandelte sich vom Latein hin zur Volkssprache. Hinter der Popularisierung steht also eine Absicht bestimmter Trägerschichten, die bestimmte privilegierte Methoden – Vorträge, Einrichtung von Bibliotheken – der Wissensmonopolisierung im Zeichen der Demokratisierung anwenden. Als ursächlich für diese Bemühungen sind soziale, kulturelle
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und ideologische Momente benannt worden. Positiv wirkte sich soziale Mobilität, Effizienzsteigerung in der Wissensverwertung und Weltbildmodifikation ebenso aus wie medialer Wandel oder didaktische Methodologie (vgl. Baasner 2002). Wissenspopularisierung ist eine Form der Experten-Laien-Kommunikation. Expertenwissen wird so aufbereitet, dass es von Laien in unterschiedlichster Form genutzt werden kann, angefangen von der Bewältigung des Alltags bis hin zur eigenen Erbauung. Die vorhandene Wissensasymmetrie der an der Kommunikation beteiligten Partner ist die Grundlage dieser Kommunikationsbeziehung. Die Experten verfügen über ein „disziplinär strukturiertes Fachwissen“ (Bromme, Jucks, Rambow 2004: 176), das sie durch eine entsprechende Ausbildung erworben haben. Sie verfügen darüber hinaus in der Regel über eine entsprechende Berufserfahrung. Der Laie hingegen verfügt genau nicht über dieses spezielle Wissensrepertoire sowie über die Erfahrungen auf diesem Gebiet. In diesem Sinne besteht zwischen dem Experten und dem Laien ein kognitives Gefälle. Die Kommunikation zielt nun jedoch nicht primär darauf ab, dieses Gefälle auszugleichen, sondern besteht vielmehr darin, den Laien in Bezug auf ein bestimmte Wissensgebiet so aufzuklären, dass er in die Lage versetzt wird, wissensbasierte Entscheidungen in Bezug auf seine Person zu treffen. Im Ergebnis der Wissenspopularisierung soll der Laie nicht über das Expertenwissen verfügen, sondern über eine spezifische Form dieses Wissens: Laienwissen. Dieses Laienwissen ist eine Teilmenge des Expertenwissens. Es wurde laienspezifisch aufbereitet, indem es die lebensweltlichen Erfahrungen und das spezifische Wissen der Laien berücksichtigt. Eine entsprechende Aufbereitung des Wissens bedeutet nicht unbedingt eine Vereinfachung, sondern besteht auch in der Reduzierung des Umfangs.
4 Textaufbau und Sprachhandlungsstrategien Das Souverain Recept (Dresden 1711) ist eine Abhandlung von 15 gedruckten Seiten einschließlich Titelblatt über die Funktion und die Herstellung einer Magenbürste. Es handelt sich hierbei um ein Instrument, mit dem man den Magen von festsitzendem Schleim reinigen kann. Dieses Instrument ist vermutlich gegen Ende des 17. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum erstmalig aufgetaucht. Ein Draht mit eingeflochtenem Tierhaar wird über den Mund- und Rachenraum in den Magen eingeführt. In Verbindung mit zuvor getrunkenem Branntwein und einer Bewegung der Bürste im Magen wird ein Brechreiz ausgelöst, der zu einer Entlastung des Magens führen soll. Die Magenbürste ist medizingeschichtlich mit großer Vorsicht in den Kontext der Herausbildung der modernen Gastroskopie zu setzen. Es handelt sich um eine Form der Magensondierung, die mit dem Ziel durchgeführt wird, ein Erbrechen zu bewirken. Eine medizinische Indikation für diese Form der Magenentleerung ist umstritten, steht wohl aber in einer Traditionslinie seit der römischen Kaiserzeit. Historisch ist dieses Instrument ‚Magenbürste‘ wahrscheinlich seit dem 17. Jahrhundert aus Italien
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kommend in Europa nachweisbar und erfreute sich im 18. Jahrhundert anscheinend größerer Beliebtheit. Die verschiedenen Publikationen aus dem 18. Jahrhundert legen das zumindest nahe. Neben der vorliegenden Publikation sind aus dem beginnenden 18. Jahrhundert weitere Einzelpublikationen nachweisbar: 1711: Sonderbare und curieuse Magen=Börste / Krätzer und Räumer / Vermöge Welcher ein Mensch seinen Magen von allen Schleim und Unflath reinigen und sich also zumahlen bey guter Diaet, biß in das siebentzigste / achtzigste / ja wohl bis in das hunderste Jahr erhalten und biß an das Ende seines Lebens eine gute gesunde Leibes=Constitution mit sehr geringen Kosten conserviren kann. Leipzig 1711. 1712: Gründliche und Vollständige Beschreibung des Peniculiu Ventriculi singularis, quo nempe Ventriculus detergitur et expurgatur sive Novi Instrumenti Repurgatorii Ventriculi, D.i. Der sonderbaren und curieusen Magen=Börste, Magen=Krätzers / oder Magen=Räumers. Leipzig 1712. 1712: Dissertatio medico-curiosa Novo Instrumento Repvrgatorio Ventricvli Vulgo Von der Magen=Bürste. Jena 1712 (lat.). 1713: Ausführliche Nachricht Von der sehr nützlichen Magen=Bürste / welche itzo zu bekommen bey dem Bürsten=Binder in des alten Hoff=Sattlers Hause auf der Breiten Strasse in Cölln an der Spree. 1713.
Als unselbstständige Publikation findet sich die Magenbürste in: Johann Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste. Halle und Leipzig 1731–1754, Bd. 19. Johann Georg Krünitz: Oekonomische Enzyklopädie, oder allgemeines System der Staats-, Stadt-, Haus- und Landwirtschaft. Berlin 1779.
Mit Ausnahme des Lexikonartikels bei Krünitz, der im Umfang relativ kurz ist und bereits darauf verweist, dass die Magenbürste in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts weniger im Gebrauch ist, „weil die mehrsten Leute diese Operation etwas zu ekelhaft finden dürften, um sich derselben zu bedienen“ (zitiert nach Krünitz Online, www.kruenitz1.uni-trier.de, Aufruf am 22. September 2014) orientieren sich alle anderen Publikationen an einem Muster: Berufung auf (antike) Quellen, (medizinische) Indikation und Aufbau des Instrumentes, Exempel der Wirkung und schließlich der Hinweis auf Hersteller des Instrumentes. Diesem Muster folgt auch der untersuchte Text aus Dresden (1711), der aus zwei Teilen besteht, denen zwei Zitate vorangestellt und eine Werbeanzeige nachgestellt wurde. Bei den beiden Zitaten handelt es sich um Autoritätsbelege, die in irgendeiner Weise mit der Magenbürste oder zumindest mit dem Magen-Darm-Trakt zu tun haben. Das erste Zitat stammt von Thomas Bartholin. Thomas Bartholin war ein dänischer Arzt und Anatom, der zwischen 1616 und 1680 lebte und als Entdecker des Lymph-
224 | Rainer Hünecke systems gilt. Zitiert wird aus dem Band V des mehrbändigen Werkes Historiarum anatomicarum et medicarum rariorum,Copenhagen 1654–1661“. Im vorliegenden Fall wird allerdings nicht Bartholin zitiert, sondern Paulus Aegineta. Es handelt sich bei diesem um den im 7. Jahrhunderts in Alexandria praktizierenden Arzt. Möglicherweise wird hier aus der 1542 in Venedig erschienenen Ausgabe Pauli Aeginetae Opus de re medica zitiert. Ein genauer Nachweis konnte bisher nicht gesichert werden. Das zweite Zitat wird vom anonymen Verfasser dem französischen Arzt und Gelehrten Samuel Sorbierius (Samuel de Sorbiere, Sebastianus Alethophilus) zugeschrieben. Er lebte von 1615 bis 1670. Allerdings ist auch dieses Zitat nicht von Sorbiere direkt, sondern stammt aus einem Text über diesen: Sorberiana ou bons mots rencontres agreables pensees judicieuses et observations curieuses de M. Sorbiere aus dem Jahre 1694 (Amsterdam und Paris). Nach den beiden vorangestellten Zitaten folgt in Form einer Präambel die medizinische Indikation: (1) Souveraines Mittel / Welches wider alle Kranckheiten / die aus dem Magen entstehen / dienet / und dessen sich nicht nur ein Krancker / sondern auch ein gesunder Mensch alle Tage gebrauchen / und sich damit so wohl eine gute Magen= und Leibes=Constitution, als auch ein langes Leben zu wege bringen kann. (Magenbürste: Titelblatt)
Diese Präambel nimmt inhaltlich die Ankündigung aus dem Titelblatt auf und erweitert diese. Der eigentliche Text beginnt nach dieser Präambel. Wie im Titelblatt angekündigt wird hier nun das seit dem 16. Jahrhundert belegte deutsche Muster des Rezeptes zur Anwendung gebracht: (2) Des Morgens / wenn du dich waschen wilst / so trinke von dem besten Frantz=Branntwein 2. biß 4. gute Schlücke / setze darauf (...) / netze (...) / ziehe (...) / Fahre (...) / pumpe dir also den branntwein und das Wasser wieder heraus (Magenbürste: 5).
Es werden dann noch weitere Spezifikationen vorgenommen, die den Zeitpunkt der Anwendung betreffen oder aber auch, wann und was am Vorabend gegessen wurde: (3) Issest du des Abends um 9. Uhr / so must du von rechts wegen bis den Morgen drauf um 9. Uhr warten (Magenbürste: 6).
Das Vertextungsmuster bleibt aber mehr oder weniger gleich: vorangestellte Bedingung/Grund im Nebensatz und Folge dieser Bedingung/des Grundes im Hauptsatz oder aber die Reihung von Einfachsätzen bzw. Hauptsätzen in Form von zusammengezogenen Sätzen. Im Anschluss daran wird die Anfertigung eines solchen Instrumentes beschrieben. Das Muster des Rezeptes wird hier fortgesetzt:
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(4) Man nimmt den zähesten wohl ausgeglüheten messingnen Drat (...) Der Drat muß ganz durchaus feste gedreht werden (...) Hernacher wird dieser Drat mit Seide oder Zwirn oder mit feinen schmalen schwartzen Bändchen umwunden (...) (Magenbürste: 6–7).
Den eigentlichen zweiten Teil bildet eine Erzählung, in der exemplarisch die Funktion und Anwendung der Magenbürste dargestellt wird. In narrativer Form wird die Geschichte eingeleitet und schreitet dann Schritt für Schritt als eine in der Vergangenheit abgelaufene Handlung fort: (5) Massen vor ungefähr 12. Jahren ein gewisser König zu einem frembden Potentaten einen seiner Bedienten geschickt / der von den vielen Fatigues, welche er in der zurückgelegten sehr beschwerlichen und langwierigen Campagne ausgestanden / und wegen der darauf mitten im Winter gethanen weiten reise von mehr denn 300. Meilen / ingleichen von den grossen Debauchen / welche er am Hofe fast täglich mit machen müssen / sehr kranck / ungesund und elend / auch dadurch Lunge und Leber inficiret / und der Magen im höchsten Grad verderbet worden war; Denn die Schwindsucht und so gar der Tod sahe ihm aus den Augen (...) (Magenbürste: 8).
Durch die Anwendung der Magenbürste wird schließlich der Kranke geheilt. Der nutzt dann die Magenbürste auch weiterhin: (6) Spürete er aber die noch Hitze / Galle oder Säure im Magen / so gebrauchte er des Morgens beym Waschen und Anziehen seine Cur (Magenbürste: 14).
Der Text Magenbürste aus Dresden (1711) endet auf der letzten bedruckten Seite mit einer Werbeanzeige, in der mitgeteilt wird, wo man dieses Instrument erwerben kann: (7) Dergleichen Magen=Börsten weiß Abraham Goldmann / Bürger und Börstenmacher allhier in Dreßden auf der Breiten Gasse / geschickt zu verfertigen (Magenbürste: 15).
Der Text Das hundertjährige Alter (Frankfurt/Leipzig 1764) ist eine Abhandlung von 114 gedruckten Seiten. Verfasser des Textes ist der Arzt Christian Ernst Endter. Der vorliegende Text ist in zweiter Auflage erschienen. Er ist umschlossen von einer Vorund einer Nachrede. Der Haupttext besteht aus einer 48 Seiten umfassenden Sammlung von Nachrichten von alten Leuten. Vom Verfasser werden hier über 100 Fälle von Personen zusammengetragen, die ein hundertjähriges Alter erreicht haben. Endter beruft sich dabei auf Quellen unterschiedlicher Art. An erster Stelle steht dabei das Alte Testament mit über 20 Fallbeispielen sowie auf die antiken Autoren Homer, Seneca und Xenophon. Eine für ihn wichtige Quelle ist von Johann Heinrich Cohausen Hermippus Revidius sive exercitatio physico-medica curiosa (Frankfurt/M. 1742), eine zeitgenössischen Auseinandersetzung mit lebensverlängernden Mitteln. Des weiteren stützt er sich auf den französischen Mediziner Petrus Borellus (1620–1671) Historiarium et observationum medico-physicarum centuria aus dem Jahre 1653 sowie auf Georg Grubelius, sächsischer Hofmedicus aus dem 17. Jahrhundert, dessen Quelltext allerdings bisher nicht nachgewiesen werden konnte. Neben diesen werden noch zahlreiche andere Autoren erwähnt, darunter Valesco de Tarento (1382–1418), Olaus Magnus
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(1490–1557), Theophrastus von Hohenheim (genannt Paracelsus) (1493–1541), Johannes Nierenbergius (1595–1658) sowie August Bohse (genannt Talander) (1661–1740). Eine weitere wichtige Quelle sind für Endter aber die zeitgenössischen Zeitungen. Welche Zeitungen von ihm dabei ausgewertet wurden, bleibt weitgehend verborgen. Es findet sich nur der Hinweis auf den Altonaer Mercurio (Hundertjährige Alter: 19) oder der Hinweis auf Holländische Advisen (Hundertjährige Alter: 33). Das in den Zeitungen verwendete Vertextungsmuster wurde von Endter adaptiert: (8) In Drehna, ohnweit Luckau, ist Anno 1727 den 6ten Oktober, ein Mann in der Niederlausitz gestorben, welcher 117 Jahr alt geworden (Hundertjährige Alter: 20) (9) Von Philadelphia wurde im vorigen Jahre, unterm 25 Nov. in denen Advisen berichtet, daß... (Hundertjährige Alter: 28) (10) Aus Ystet in Schonen wurde unterm 12ten Januarii c.a. berichtet (Hundertjährige Alter: 29) (11) Vor einigen Jahren schrieb man aus Pohlen (Hundertjährige Alter: 30)
In einer gewissen Abwandlung findet sich dieses Vertextungsmuster auch bei der Einbindung der verwendeten Literatur: (12) Olaus magnus, im 4ten Buche seiner Histzorien schreibet, daß ... (Hundertjährige Alter: 39) (13) Nierenbergius, in seiner Historia naturali, versichert ... (Hundertjährige Alter: 40) (14) Doctor Cohausen erzehlet auch von... (Hundertjährige Alter: 45) (15) Noch ein Exempel führet Doct. Cohausen an,... (Hundertjährige Alter: 45) (16) Valesco de Tarento erzehlet (...) (Hundertjährige Alter: 58)
oder ohne Angabe der Quelle: (17) so bekam ich Nachricht, daß (Hundertjährige Alter: 47)
Im zweiten Teil seines Buches werden von Endter nun Argumente angeführt, die ein hohes Alter zu erreichen ermöglichen, und auch die Argumente, die daran hinderlich sind. Das geschieht teilweise in ungeordneter Weise. Die hier angeführte Argumente werden aus der Perspektive des praktizierenden Arztes vorgeführt: (18) Ich habe so eben gesagt, daß... (Hundertjährige Alter: 66) (19) Ich habe von der schädlichkeit des Weins und Brannteweins ein vieles geschrieben ... (Hundertjährige Alter: 67) (20) Ofte habe ich ... curirt... (Hundertjährige Alter: 76)
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(21) Ich habe durch viele Erfahrung bey Jugend und Alten wahr genommen, daß ... (Hundertjährige Alter: 83).
Die zweite Argumentationslinie ist das Vertrauen in den göttlichen Heilsplan: (22) GOTT läst die mancherley Kräuter, Blumen, Wurzeln, Saamen etc. nicht umsonst wachsen (Hundertjährige Alter: 70) (23) Christus spricht: ... (Hundertjährige Alter: 86) (24) Von Salomon den weisesten Könige, stehet im ersten Buche der Könige ... (Hundertjährige Alter: 90)
Die dritte Argumentationslinie bilden auch hier historische und zeitgenössische Quellen: (25) Doctor Myer, der ehemalige Generalsuperintendent ... schreibet ... (Hundertjährige Alter: 84) (26) Desgleichen schreibet Marcus Einsiedel ... (Hundertjährige Alter: 92)
Mit der Formulierung von 9 Lebensregeln endet der zweite Teil des Buches. Diese Regeln werden formuliert als Konditionalgefüge: (27) Wer viel isset, wenig trinket und gar keine Bewegung hat, oder davon das Widerspiel thut, muß krank werden. (Hundertjährige Alter: 101).
oder als Empfehlung: (28) Dein getränke sey rein, leicht und nicht allzu hitzig auch wohl ausgegohren. (Hundertjährige Alter: 103)
oder als Forderung: (29) Hüte dich vor aller Unruhe des gemüths. (Hundertjährige Alter: 101)
Interessant ist die Funktion der Nach=Rede, die der Verfasser ihr zuerkennt: (30) Weil das Gedächtnis derer meisten heutigen Christen, in guten Sachen, sehr kurz ist, so will ich einige derer vornehmsten Stücke, welche zum Wohlstande und einem langen Leben dienen, nochmahl repetiren (Hundertjährige Alter: 106).
So folgt denn auf neun Druckseiten eine Wiederholung der bereits genannten Argumente. Dem Altern abträglich sind: das zeitige Heiraten, der unredliche Genuss von Alkohol sowie der Genuss von Zucker. Förderlich hingegen ist das tägliche Gottvertrauen. Der vorliegende Text rückt damit eigentlich in die Nähe der Erbauungsliteratur.
228 | Rainer Hünecke Der dritte Text, der Gesundheits=Katechismus (1797), ist anonym erschienen. Es handelt sich um einen dialogisch verfassten Text auf 210 Druckseiten. Der Untertitel des Buches verweist auf die Funktion: Lesebuch für Mädchen, welche mannbar werden. Der Gesundheits-Katechismus ist ein Aufklärungsbuch. Die Bezeichnung Katechismus für einen Buchtitel ist erstmalig 1504 durch den Portugiesen Ortiz de Vilhegas (Catechismo Pequeno, Lissabon 1504) belegt und bedeutet so viel wie ‚unterrichten‘. Das deutsche Wort Katechismus in eben dieser Bedeutung ist aus dem Lateinischen entlehnt. Es wurde wahrscheinlich von Luther erstmalig in dieser Bedeutung verwendet für den Großen Katechismus Deudsch Catechismus, Wittenberg 1529. Die Bezeichnung Katechismus löste damit die älteren aus der Scholastik kommenden Bezeichnungen ‚Summa‘ zur Bezeichnung eines Fachbuches (Summa theologica, Thomas von Aquin, 1268) und ‚Enchiridion‘ zur Bezeichnung eines Handbuches (Enchiridion militis christiani, Erasmus von Rotterdam, 1503) ab. Von Luther werden noch im Kleinen Katechimus beide Bezeichnungen nebeneinander verwendet: Enchiridion. Der kleine Catechismus für die gemeinen Pfarrherrn und Prediger (Wittenberg 1529). Das hier von Luther praktizierte didaktische Frage-Antwort-Prinzip wurde im Verlauf der Neuzeit auf andere Gegenstandsbereiche übertragen. Besonders Ende des 18. Jahrhunderts und im 19. Jahrhundert erlebte die Bezeichnung ‚Katechismus‘ für didaktisch aufbereitete Buchproduktionen eine Blütezeit: Katechismus für den baierischen Bürger und Landmann (1823), Chemischer Katechismus (1838) oder Katechismus der Musikgeschichte (1888) von Hugo Riemann. Das didaktische Grundprinzip Frage-Antwort wurde auch im Gesundheits-Katechismus (1797) angewendet, jedoch mit einem anderen Prinzip untersetzt – dem Dialog. Der fiktive Schrift-Dialog als Prinzip der Wissensvermittlung wird in der frühen Neuzeit als Ersatz für die direkte face-to-face-Kommunikation im Lehrgespräch entwickelt. In einem Schrift-Text wird in einer Redekonstellation eine fiktive dyadische Gesprächssituation simuliert. Diese fiktive Gesprächssituation, deren Grundeigenschaft die Einheit von Ort, Zeit und Handlung ist, steht stellvertretend für die dezentrale, zeitverschobene, zum Teil entpersonalisierte und entfremdete Textproduktion und rezeption. Der fiktive Dialog simuliert gleichzeitig eine face-to-face Situation, in der ein (weitgehend anonymer) Präzeptor einem (weitgehend unbekannten) Scholaren über einen speziellen Wissensgegenstand unterweist. Der vermeintlich Präzeptor dieses Dialoges hat darüber hinaus die Funktion, an Stelle des Autors die Verfasserintention zum Ausdruck zu bringen. In diesem Sinne nimmt der Präzeptor eine Art Stellvertreterfunktion für den anonymen Autor des Textes ein. In dieser Funktion muss der Präzeptor die Intention des Verfassers vertreten und für dessen Wissen einstehen, indem er die Quellen seines Wissens offenlegt. Der Scholar nimmt die Funktion des unbekannten Rezipienten ein, der spezielles Wissen erwerben möchte. In dieser Funktion des Rezipienten initiiert der Scholar Sprachhandlungen. Gleichzeitig dienen seine
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Hörer-Kommentare der Fortführung und Steuerung des Gesprächsverlaufes und sind Indikatoren der Verständnissicherung. Eine solche fiktive Redesituation findet sich beispielsweise im Bergbüchlein des Ulrich Rülein aus dem Jahre 1518. Genau diese Redekonstellation ist auch im Gesundheits-Katechismusaus dem Jahre 1797 zu finden. Die Rolle des Präzeptors übernimmt hier die Großmutter. Die Rolle des Scholaren wird ausgefüllt durch die Enkelin Hannchen (ergänzt durch zwei weitere Enkeltöchter: Friederike und Charlotte). Aus einer vermeintlich natürlichen Gesprächssituation zwischen der Großmutter und der Enkelin werden diätetische Probleme und Probleme der sich entwickelnden Geschlechtsreife junger Mädchen bis hin zur Geburtsvorbereitung junger Ehefrauen erörtert. Hannchen hat dabei die Funktion, das jeweilige Problem in teilweise naiver Form zu thematisieren, worauf dann die Großmutter schon fast monologisch antwortet und dabei das Problem zielgruppenspezifisch aufbereitet: (31) Hannchen. Liebe Großmutter! ich habe immer gehört, Suppe sey das Gesündeste. Großmutter. Das glaube doch nicht! Besonders für solche schlaffe schwammige Körper und geschwächte Verdauung, wie die Deine ist, wo die Säfte zu wäßrig sind, da ist das viele Suppeessen schädlich, der Magen wird immer noch mehr erschlafft und die Verdauung vermindert (Gesundheits=Katechismus: 18).
Im weiteren Verlauf ist es Hannchen, die durch vermeintlich falsche oder zumindest falsch interpretierte Aussagen (Hörerkommentare) das Gespräch eigentlich lenkt: (32) Hannchen. Wenn Sie es haben wollen, so will ich gar keine Suppe essen. Großmutter. Nein, etwas Suppe magst Du wohl essen, doch nicht mehr, als die Kelle faßt, und da warte Du immer, bis sie recht kühle ist; denn das warme essen taugt für Dich jetzt auch nicht viel (Gesundheits=Katechismus: 18).
Die Enkelin Hannchen kann den Fortgang des Gesprächs auch direkt bewirken durch eine Aufforderung an die Großmutter: (33) Hannchen. Liebe Großmutter! Sie wissen aber schon, daß ich mich gern über so etwas unterrichte; seyn Sie doch so gut und belehren mich (Gesundheits=Katechismus: 77).
Die Großmutter kommt in der Regel einem solchen Wunsch nach, kann aber auch ein Gespräch abbrechen: (34) Großmutter. So viel ich weiß, will ich Dir sagen, aber es ist mir heute zu spät, ich bin müde, also erst morgen (Gesundheits=Katechismus: 78).
Im Sinne des aufklärerischen Gespräches wird aber auch ein entsprechendes Thema durch die Großmutter selbst angesprochen. Das ist beispielsweise im siebenten Gespräch der Fall. Das Gespräch ist überschrieben: Was ein Frauenzimmer machen soll, wenn die durch Erhitzung oder Erkältung ihr Blut jähling verliert (Gesundheits=Katechismus: 71). Das Gespräch eröffnet die Großmutter:
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(35) Großmutter. Das fürchte ich nun gar nicht, daß durch geistiges Getränke, als Branntewein ist, ein artiges Frauewnzimmer in die verlegenheit kommen sollte, ihr Monatliches in Stocken zu bringen; Sollte aber der Fall in der niedrigen Volksklasse Dir vorkommen, so empfiehl... (Gesundheits=Katechismus: 71).
In den 14 Gesprächen zwischen der Großmutter und der Enkelin Hannchen hat die Großmutter insgesamt 147 Redebeiträge, Hannchen dagegen nur 125 Redebeiträge. Ergänzt werden die jeweiligen Gespräche durch die beiden Enkeltöcher Friedrike mit 8 Redebeiträgen und Charlotte mit 2 Redebeiträgen. Hinzu kommt noch der Tanzmeister Müller mit einem Redebeitrag. Die einzelnen Redebeiträge sind immer aufeinander bezogen. Das Rederecht hat immer die Großmutter. Sie hat im Gespräch auch die dominierende Rolle inne. Die Redesteuerung erfolgt jedoch zumeist durch die Enkelin.
5 Syntaktische Realisierung der Sprachhandlungen Die oben beschriebenen drei Texte enthielten insgesamt 4088 satzwertige Einheiten. Diese setzten sich zusammen aus 1867 Einfachsätzen (45,7 %) und 2221 Satzgefügen (54,3 %). Einfachsätze und Satzgefüge stehen sich in diesen Texten in einem annähernd gleichen Größenverhältnis gegenüber. Betrachtet man jedoch die drei Texte einzeln, so verändert sich das Größenverhältnis der Einfachsätze zu den Satzgefügen im Verlauf des 18. Jahrhunderts. Im Text von 1711 (Magenbürste) ist eine deutliche Bevorzugung hypotaktischer Konstruktionen zu beobachten. Satzgefüge (75 = 70,1 %) dominieren das sprachliche Handeln (bei 32 Einfachsätzen). In der Mitte des Jahrhunderts (Hundertjährige Alter, 1764) nimmt die Bevorzugung hypotaktischer Konstruktionen ab, bleibt aber mit 68,8 % (790 Satzgefüge und 448 Einfachsätze) noch relativ hoch. Am Ende des 18. Jahrhunderts ist im Gesundheits-Katechismus von 1797 das Verhältnis der Einfachsätze (1387 = 50,6 %) zu den Satzgefügen (1356 = 49,4 %) schon fast zugunsten der Einfachsätze verschoben. Zunächst sollen die drei Texte hinsichtlich der textinternen syntaktischen Realisierung einzeln betrachtet werden. Im Text von 1711 (Magenbürste) wurden die den Text konstituierenden Textteile syntaktisch unterschiedlich realisiert. Im ersten Teil, der rezeptartigen Abhandlung über die Nutzung und den Aufbau der Magenbürste ist das Verhältnis der Einfachsätze zu den Satzgefügen etwas moderater. In diesem Teil stehen 21 Einfachsätzen (36,8 %) 36 Satzgefüge (63,2 %) gegenüber. Ursächlich steht das im Zusammenhang mit dem gewählten Vertextungsmuster. Typisch für die syntaktische Realisierung von Rezepten ist die Reihung von Einfachsätzen, wie das bereits oben beschrieben wurde. Bei der syntaktischen Gestaltung der Erzählhandlung ist deutlich eine Bevorzugung des Satzgefüges zu beobachten. In diesem Abschnitt stehen 11 Einfachsätzen (22 %) 39 Satzgefüge (78 %) gegenüber. Auch das verweist auf die Texttradition. Für Erzähltexte des 17. Jahrhunderts ist die „größere, logisch ordnende, hypotaktische Periode“ (Lan-
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gen 1957, 984) charakteristisch. Der Erzähltextteil im Text von 1711 ist in diese Texttradition zu verorten. Für die syntaktische Realisierung der beiden Teiltexte ist die Tradition des sprachlichen Handelns bestimmend. Im Text von 1764 sind in den einzelnen Teiltexten nur geringe Unterschiede zu beobachten. In allen Teiltexten überwiegt die Vertextung mit hypotaktischen Konstruktionen. Im Textteil Nachrichten dominieren Satzgefüge sogar noch deutlicher. Neben 141 Einfachsätzen (30,9 %) werden 315 Satzgefüge (69,1 %) verwendet. Auch hier kann man die Gründe für eine solche sprachliche Gestaltung in der Tradition der Textsorte annehmen. Das vorliegende Vertextungsmuster ist dem der Zeitung nachempfunden, wie oben beschrieben wurde. Das Satzgefüge, insbesondere das abperlende Satzgefüge ist dafür ein tradiertes Muster. Zur syntaktischen Realisierung von Sprachhandlungsmustern in der Zeitung gibt es zur Zeit keine Aussagen für das 18. Jahrhundert. Für das 17. Jahrhundert können die Ergebnisse von Demske-Neumann (1996) in Straßner/Fritz (1996) sowie die Studie von Haß-Zumkehr (1998) zu Formulierungstraditionen in Zeitungsnachrichten vom 17. bis 20. Jahrhundert herangezogen werden. Demske-Neumann (1996) zeigt, dass für die Zeitungen des Jahres 1667 die abperlende Satzstruktur mit 67,7 % als typisches Sprachhandlungsmuster auf syntaktischer Ebene anzusehen ist. Das ist vergleichbar mit den Werten, die im Hundertjährigen Alter 1764, also nach ca. 100 Jahren, ermittelt wurden. Der Text von 1797 (Gesundheits-Katechismus) weist eine doch deutlich andere syntaktische Realisierung auf. Durchgehend ist eine Ausgewogenheit im Verhältnis der Einfachsätze zu den Satzgefügen für diesen Text charakteristisch: Großmutter 1153 Einfachsätze (49,6 %) und 1170 Satzgefüge (50,4 %), Hannchen 178 Einfachsätze (58,2 %) und 128 Satzgefüge (41,8 %). Ohne Einschränkung ist das ursächlich in dem an der Mündlichkeit orientierten Vertextungsmuster begründet, mit dessen Hilfe hier sprechsprachliche Gestaltungsprinzipien nachempfunden werden sollten (vgl. Schwitalla 2003). Die Alltagsrede soll hier mit einer vermeintlich einfachen Syntax offeriert werden. Das zeigt sich an der Bevorzugung des Einfachsatzes besonders bei Hannchen und auch an der Wahl der Satzgefügetypen, bei denen eine Bevorzugung des abperlenden Typs charakteristisch ist. Die Bevorzugung dieser Syntagmen sollte jedoch nicht den Blick dafür verstellen, dass diese Form der vermeintlichen Vereinfachung auch und insbesondere im Kontext der Popularisierung diätetischen Wissens sowie der gesundheitlichen Aufklärung zu sehen ist. Die Zielgruppe dieser Literatur waren junge Mädchen im beginnenden pubertierenden Alter. Die vermeintliche Einfachheit der Syntax sollte in Kombination mit einer simulierten Gesprächssituation die Rezeption erleichtern und fördern. Betrachtet man nun diese Einzelgebnisse syntaktischer Variation im Kontext der Syntaxgeschichte des 18. Jahrhunderts, so muss neben der Tradition, in der der jeweilige Text steht, auch ein allgemeiner Trend in Rechnung gestellt werden. Admoni (1990) hebt hervor, dass, „wenn man die Kanzleisprache beiseite läßt, (...) für das 18. Jahrhundert eine gemäßigte Haltung in bezug auf das Satzgefüge kennzeichnend“ (Admoni 1990: 211) sei. Das wird auch von Ebert (1999: 174) bestätigt. Eine von mir
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durchgeführte Studie zum kursächsischen Bergbau des 18. Jahrhundert (Hünecke 2010) kann das weiter untermauern, aber auch in gewisser Weise modifizieren. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts ist ein allgemeiner Prozess in Richtung auf einen moderaten Umgang mit hypotaktischen Satzkonstruktionen zu beobachten. Bei den Berufsschreibern (Kanzleischreiber) ist das im Rückgang des Gebrauchs von Satzgefügen zu beobachten. Wesentlich forciert wird dieser Prozess von berufsbegleitenden Schreiber, solchen Schreibern also, die neben ihrer täglichen praktischen Tätigkeit auch schreiben müssen. Ihr sprachliches Handeln ist im gesamten Zeitraum eher weniger hypotaktisch zu charakterisieren und verändert sich dazu noch im Verlauf des 18. Jahrhunderts in diese Richtung. Dieser Trend zur Handhabung hypotaktischer Konstruktionen hingegen war bei den Gelegenheitsschreibern, also solchen Personen, die in ihrem Leben nur zu besonderen Anlässen überhaupt schreiben, besonders stark ausgeprägt. Sie orientieren sich an der vermeintlichen Prestige-Norm der Berufsschreiber und überhöhen diese. Die drei untersuchten Texte der Popularisierungsliteratur passen sich genau in diesen Kontext ein. Zu Beginn des 18. Jahrhundert steht der Text (Magenbürste) voll und ganz im Kontext der Berufsschreiber. Diese wird auch die Zielgruppe des Textes gewesen sein. Mit dem Text von der Jahrhundertmitte (Hunderjährige Alter) ändert sich nicht nur der sprachliche Ductus, sondern auch die Zielgruppe. Allerdings ist das noch nicht so deutlich. Mit der Verwendung von leichter rezipierbaren syntaktischen Konstruktionen (abperlendes Satzgefüge) wird jedoch eine Orientierung an einem Rezipientenkreis sichtbar, der an das Zeitunglesen gewöhnt ist. Mit dem Text vom Jahrhundertende ist schließlich eine Orientierung am Rezeptionsvermögen breiter Bevölkerungskreise erkennbar. Die Rezeption soll mit Hilfe einer rezeptionserleichternden Syntax gestützt werden. Vor dem Hintergrund meiner Studie von 2010 wäre das aber so nicht unbedingt notwendig gewesen. Die Schreibpraxis großer Teile der Bevölkerung zeigte bereits ein anderes Bild.
6 Fazit Die vorliegenden untersuchten Texte aus dem 18. Jahrhundert gehören nicht zur medizinischen Fachliteratur, wohl aber zur medizinischen Ratgeberliteratur. Die Etablierung dieser Literatur steht im 18. Jahrhundert im Kontext der europäischen Aufklärung. Textuell und sprachlich-strukturell knüpfen die Verfasser dieser Texte an Traditionen des Schreibens seit dem Beginn der frühen Neuzeit an. Tradierte Textmuster und Sprachhandlungsstrategien werden aufgenommen und für die jeweilige Situation modifiziert. Bei dieser Modifizierung kann im Verlauf des 18 .Jahrhunderts eine Veränderung des Adressatenkreises im Sinne der Erweiterung beobachtet werden. Die Verfasser der sich etablierenden Ratgeberliteratur orientieren sich wohl zunächst mehr oder weniger unbewusst an aktuellen Normtrends, indem sie sprachli-
Das hundertjährige Alter. Medizinische Ratgeber aus dem 18. Jahrhundert | 233
che Handlungsmuster von einem Gegenstandbereich der Kommunikation auf einen neuen übertragen. Das verändert sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts. Am Ende des Jahrhunderts waren Sprachhandlungsstrategien entwickelt worden, die einerseits im Normtrend angesiedelt waren, aber daneben bereits diesen in eine rezeptionsstimulierende Richtung variierten. Die sich herausbildende Ratgeberliteratur nutzt gängige Vermittlungsmuster auf textueller Ebene und orientiert sich auf syntaktischer Ebene am unteren Rand des Normtrends.
Quellen Anonymus: Souverain Recept, Wie ein Mensch nicht allein gar bald zu voriger Gesundheit gelangen / sondern auch solche / zumahlen bey guter Diaet, bis in das Siebentzigste / achtzigste / ja wohl bis in das hundertse Jahr conserviren / und bis an den termin seines Lebens eine gute gesunde Leibes-Constitution mit sehr geringen Kosten erhalten kann. Dresden 1711. Endter, Christian Ernst: Das hundertjährige Alter, welches etliche Männer und Frauen, die noch am Leben sind, glücklich zurück gelegt haben. es wird zugleich Rath und That geben, wie man auch sehr alt werden, und nach dem göttlichen Willen. Kindes=Kindes=Kinder erleben kann, wie dann aus heiliger Schrift und andern Geschichts=Büchern bewiesen wird, daß eine große Anzahl unserer Vorfahren ihr Leben über zwey, drey ja neun hundert Jahre gebracht haben. Frankfurt und Leipzig 1764. Anonymus: Schönheits= und Gesundheits=Katechismus für’s schöne Geschlecht. Ein Lesebuch für Mädchen, welche mannbar werden, als ein Geburtstags= und Weihnachtsgeschenk von einer alten Mutter. Leipzig 1797.
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234 | Rainer Hünecke
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Bettina Lindner
In arte medica & chirurgica gegrndet Medizinische Berichte des 18. Jahrhunderts in Handschrift und Druck 1 Einleitung Medizinische Berichte gehören zu den wenigen Textsorten, die auf eine bis in das Mittelalter reichende Tradition zurückblicken können. Südlich der Alpen sind sie schon im 13. Jahrhundert belegt, nördlich der Alpen spätestens seit dem 16. Jahrhundert, als das Hinzuziehen ärztlicher Experten vor Gericht in der Constitutio Criminalis Carolina 1532 fest verankert wurde. Von Anfang an handelte es sich dabei um Texte deskriptiver Prägung, welche die im Auftrag der Obrigkeit vorgenommenen Untersuchungen eines Leichnams (seltener eines Kranken) dokumentierten. Auf den Ergebnissen basierte die richterliche Entscheidung, ob überhaupt eine Straftat vorliege und ein Verfahren einzuleiten sei. Medizinische Berichte boten häufig auch erst die Grundlage für weitere Gutachten. Es handelt sich dabei also um informationsbetonte Texte, die das Ziel haben, ein Wissensdefizit auf Seiten des Rezipienten zu beseitigen. Die betreffenden Sachverhalte, die der Textproduzent als relevant für seine Adressaten erachtet, werden im Allgemeinen als verbürgte und nicht zu bestreitende Fakten dargestellt. Die Überlieferungslage ist günstig, denn seit dem späten 17. Jahrhundert veröffentlichten Stadt- und Gerichtsärzte solche Berichte immer häufiger in medizinischen Fallsammlungen. Diese waren als Lehrwerke für angehende Ärzte konzipiert und enthielten neben den Berichten auch andere Textsorten wie Consilia oder gerichtsmedizinische Gutachten. Neben den gedruckten Berichten existieren in vielen Archiven auch handschriftliche Bestände, die allerdings oft in den Findbüchern nicht eigens aufgeführt sind. Entsprechend schwierig gestaltet sich die Recherche, und solange keine systematische Erschließung erfolgt ist, bleibt man auf Stichproben und Zufallsfunde angewiesen. Ein solcher Einzelfund soll im Folgenden im Mittelpunkt stehen. Es handelt sich um einen 1707 verfassten handschriftlichen Bericht aus der Reichsstadt Ulm, die amtliche Dokumentation einer durchaus spektakulären Leichenbeschau, deren Gegenstand ein bei der Geburt verstorbenes siamesisches Zwillingspaar ist. Im Folgenden sollen die spezifischen sprachlichen Merkmale dieses Ulmer Berichts (Textmuster, formelhafte Sprache, illustrative Aspekte) untersucht und mit ähnlichen Beispielen aus den gedruckten Fallsammlungen abgeglichen werden. Ziel ist es, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen beiden Präsentationsformen, der Handschrift und dem Druck, zu eruieren und systematisch darzustellen. Dem knappen Forschungsbericht DOI 10.1515/9783110524758-016
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folgt die Transkription des Textes, der vierte Abschnitt präsentiert die Ergebnisse der eigentlichen Analyse.
2 Zur Forschungslage Trotz ihrer Bedeutung für Rechts- und Medizingeschichte und obwohl sie sich aufgrund ihrer Funktion an der Schnittstelle von Verwaltung und Wissenschaft hervorragend für Fragestellungen zur Textsortenausdifferenzierung oder zur Entstehung von Fach- und Institutionensprachen eignen, sind medizinische Berichte bislang nicht Gegenstand sprachwissenschaftlicher Untersuchungen gewesen. Es ist vor allem die Geschichts- und Literaturwissenschaft, die die medizinischen Fallsammlungen als wichtige Quellen für sich entdeckt hat (vgl. Tanner 1994; Esther Fischer-Homberger 1988; Geyer-Kordesch 1990; Lorenz 1996; Müller/ Fangerau 2010; Behrens/ Zelle 2012; Wübben/ Zelle 2013). Einen ersten Überblick zu den Spezifika dieser Fallsammlungen bietet Michael Stolberg in einem Aufsatz aus dem Jahr 2007. Er weist ausdrücklich darauf hin, dass „die historische Entwicklung des Genres und seine verschiedenen Formen und Funktionen [. . . ] bislang nur unzureichend untersucht“ (Stolberg 2007: 82) worden sei.
3 Der Bericht HochEdel gebohrener, Geſtel. Erl. und Hochweiſe o Inſonders Gngl. Hochgebl. u.HochgeEhrteſte Herrn. Auff ertheilten Gngl. Befehl haben wir die 2 aneinander ge= wachſenen Zwilling weiblichen geſchlechts ſo deß Mattai früh o ¯ Zimermanns weib 33. Jahr alt geſtern Zur Welt gebohren, beſichtiget, o wobeÿ wir befund daß die Kinder an allen Gliedmaſſen vollkome[n], o o u. ihre rechte Zeit erreichet habe[n], die geburth iſt auch glükl. von ſtatten o o gangen, u. geſtern abends von 7 biß 8 uhr alles wohl verrichtet worde[n], o o daß kindt Zur linke[n] ſeite welches Zu erſt kome[n], ſoll Zwar lebendig o gebohren worden, aber als bald nach der geburth geſtorben ſeyn, daß o o andere aber ſoll todt Zur welt gebohren worden ſeÿn, die anwachſung ¯ oben an den ſterno oder Bruſt bein, geht hat den Anfang genomen o o an den kurtʒen [?] rippen, alſo und der Geſtalt, d der gantʒe untere Leib o o o beider Kinder ein theil biß an den nabel iſt, u. erſtreket ſich die anwachſung umb den gantʒe[n] Leib herumb in die breitte ſo groſß, daß ſolche mit 2. Händen nicht umſpannet werden kan, dieſe 2. Zwillinge haben o nur eine nabel ſchnur, es iſt aber wohl ʒuvermuthe[n]. daß die
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vasa umbilicalia in ihrem vicolo cru [?] gedoppelt ſeÿn möchte, wie die ſach inwendig beſchaffen iſt, kan man eigentlich nicht wiſſen, es iſt auch die Kindtbetterin fleiſig befraget worde[n] ob ſie nicht etwan abXXXX [?] etwas erſcheiXX[?], ſie kan ſich aber nichts der= gleichen erinner[n], die urſach ſolcher anwachſung iſt Gott be= kannt, welches wir Euer Hochedel.XXX [?] Herrl. Erl. o o o u. Hochw. Grlll berichten, u. unter Laſſung vürkl. [?] manutenenz o o ¯ u. dieß gnädiglich unſerer Recomendation verharren woll[en]. Ulm d. 10. Augl o 1707 Euer HochEdel. Herrl. Verehr. o Erl. u.Hocherl. dienſtgehorſamr Johann Bartholomaeus Cramer Med.Dr.1
4 Textanalyse Werfen wir zunächst einen Blick auf den Entstehungskontext bzw. die Kommunikationssituation, in die die gutachterliche Praxis eingebunden war. Es lassen sich zwei Personengruppen ausmachen, die medizinische Gutachten verfassten. Da sind zum einen Institutionen wie medizinische Fakultäten oder Collegia medica, also AutorenKollektive, zum anderen Einzelpersonen bzw. oft Expertenpaare, die wiederum in akademisch gebildete und nicht-akademisch ausgebildete Verfasser unterschieden werden können. Die Verfasser medizinischer Berichte sind im Allgemeinen akademisch gebildete Ärzte. Und wenn doch einmal ein nicht-studierter Heilkundiger gutachtete, dann geschah auch das meist in Zusammenarbeit mit einem Physikus, also einem vereidigten, akademisch ausgebildeten Amtsarzt. Als Auftraggeber fungierten sowohl die Obrigkeit, also Gerichte oder Stadtverwaltungen, als auch, weitaus seltener, Privatpersonen. Ein solcher Auftrag kann als obligatorische Voraussetzung für die Textproduktion gelten. Daraus ergibt sich das asymmetrische Verhältnis zwischen den an der Kommunikation beteiligten Personen: Die Textproduzenten berichten an die sozial höher stehenden Auftraggeber. Blicken wir auf unser Beispiel, das Ulmer Gutachten, das als Bericht firmiert.2 Verfasser ist der Stadtarzt Johann Bartholomaeus Cramer, von dem nur bekannt ist, dass
1 Die Transkription versucht, möglichst nah am Original zu bleiben und graphische Besonderheiten abzubilden. Unsichere Lesungen sowie Ergänzungen sind als solche gekennzeichnet. 2 Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein konkurrieren verschiedene Textsortenbezeichnungen miteinander. Neben Bericht existieren unter anderem die Benennungen Relatio, Visum repertum,
238 | Bettina Lindner er 1683 in Altdorf promoviert wurde und später Seniormitglied des Collegium Medicum in Ulm war. Es geht um die Besichtigung zweier kurz nach der Geburt verstorbener siamesischer Zwillinge. Gutachten über tote Kinder sind in den gedruckten Sammlungen ausgesprochen häufig – aber in keinem der von mir eingesehenen Werke wird ein vergleichbarer Fall geschildert. Es handelt sich um einen verhältnismäßig kurzen, in Kurrentschrift verfassten Text. Die Länge solcher Berichte schwankt nicht unerheblich, sie kann halbseitig sein, aber auch 50 bis 60 Seiten umfassen. Was zunächst auffällt, ist die graphischoptische Nähe zum Brief. Da es sich um ein öffentliches, im Verwaltungsbereich verfasstes Schreiben handelt, das von einem akademisch und das heißt auch rhetorisch gebildeten Schreiber stammt, kann es als sicher gelten, dass die in den Formularbüchern und Briefstellern der Zeit veröffentlichten Schemata dem Gutachter bekannt waren. Im 17. und 18. Jahrhundert gründet der Aufbau eines Briefes auf der seit der Antike etablierten und in der mittelalterlichen ars dictaminis weitergeführten Konzeption, der zufolge ein Brief aus fünf Teilen zu bestehen habe, nämlich aus salutatio (Gruß), exordium (Eingang), narratio (Erzählung), petitio (Bitte) und conclusio (Schluss). Dieses Schema wurde freilich mehrfach abgewandelt und erweitert. So setzte sich in den barocken Briefstellern das briefliche Dispositionsschema nicht mehr nur aus rhetorischen Teilen zusammen, sondern wurde um die formalen Elemente des Briefzeremoniells wie etwa die Unterschrift, das Datum oder die Adresse ergänzt (vgl. Furger 2010, 149). Da es sich bei unserem Text um ein Schreiben aus dem Verwaltungsbereich handelt, reicht das Briefschema allein allerdings nicht aus, um alle Strukturmerkmale zu erfassen. Auch urkundliche Elemente sind zu berücksichtigen, wie beispielsweise die Angabe von Beglaubigungsmitteln, den so genannten corroborationes. Dem barocken Briefzeremoniell entsprechend finden wir eine sich über mehrere Zeilen erstreckende, mehrteilige salutatio3 , die durch einen etwa zwei Finger breiten Abstand vom eigentlichen Text abgesetzt ist und folglich mit S. Schlüter (2002) als ein markiertes Makrostrukturelement4 bezeichnet werden kann. Adressat des Sektionsberichts ist der Rat der Reichsstadt Ulm, also ein obrigkeitliches Gremium, das auch Auftraggeber des Sektionsberichts gewesen sein dürfte. In den Sammlungen wurden die salutationes aus Platzgründen meist getilgt, wobei z. T. ganz auf den Abdruck der Anreden verzichtet oder eine andere Überschrift, wie etwa Responsum, verwendet wurde. Nicht selten sind die Anredeformeln nur angedeutet oder abgekürzt. Hier ein Beispiel aus der frühen Sammlung Friedrich Zitt-
Wund=Zettel, Wundschein, Gutachten, oder Attest; vgl. zur Bedeutung von Textsortenbezeichnungen für die Textlinguistik Hertel (2000). 3 Vgl. zu den Anredeformen der Frühen Neuzeit den Beitrag von Besch (2000). 4 Der Begriff Makrostruktur wird in der (Text-)Linguistik uneinheitlich verwendet. Hier werden damit satzübergreifende Einheiten, die einen Text konstituieren, bezeichnet.
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Abb. 1: Zittmann 1706: 541 (Foto: privat).
manns Medicina Forensis wo die Titulaturen auf ein im Vokativ stehendes lateinisches Adjektiv und das Kürzel &c. reduziert worden sind: In unserem Ulmer Text präsentiert sich der Mittelteil graphisch relativ kompakt – der Text wird nicht durch Leerzeilen, Einrückungen oder Absätze gegliedert. Während der Anfang, einer Initiale nicht unähnlich, durch die im Verhältnis zum Rest des Textes größere Schrift deutlich markiert ist, verwischt die Grenze zwischen den weiteren Makrostrukturelementen. Typisch für handschriftliche Texte sind die Abbreviaturen wie wir sie hier z. B. beim Verb befund sehen können: die Flexionsendung {-en} wird durch einen bis in die Unterlinie verlängerten Strich nur noch angedeutet, was offenbar dem Willen, die Schreibprozesse zu beschleunigen, geschuldet ist. Auffällig ist, dass sich bis auf die Kennzeichnung von Abbreviaturen, die im Text insgesamt sehr häufig vorkommen, und die ebenfalls durch Punkte markiert sind, nur ein einziger satzabschließender Punkt findet, und das ganz am Ende des Berichts. Die einzelnen (Teil-)Sätze werden durch kurze Schrägstriche voneinander getrennt, wobei nicht ganz eindeutig festzustellen ist, ob es sich noch um Virgel oder schon um Kommata handelt. Da das exordium mit captatio benevolentiae auch in Privatbriefen weggelassen werden konnte, ist es kaum überraschend, dass es sowohl hier, im Ulmer Gutachten, als auch in den gedruckten Fallsammlungen fehlt. Die Gutachter beginnen typischerweise mit der narratio. Im gerichtlichen Zusammenhang versteht man darunter nach Lausberg (4 2008, 164), „die (parteiische) Mitteilung des (in der argumentatio zu beweisenden) Sachverhalts an den Richter“. Für die Funktion einer solcher narratio gilt: „Sie soll den Hörer/Leser kurz, klar und glaubhaft über den Sachverhalt informieren“ (Plett 1991, 16). In relativ kurzer Form sollen hier Angaben zu persona, causa, locus, tempus, materia und res gemacht werden (Lausberg 4 2008, 183), also die elementa narrationis beachtet werden, mit denen die Glaubwürdigkeit der Erzählung gewährleistet werden kann. Die elementa ergeben sich aus der Beantwortung der Leitfragen quis, quid, cur, ubi, quibus auxiliis, quomodo und quando. Die Reihenfolge der elementa ist hingegen nicht festgelegt, und es müssen nicht immer alle Fragen beantwortet werden, wie auch der Ulmer Bericht zeigt: (1) Auff ertheilten Gngl. Befehl [cur?] haben wir [quis?] die 2 aneinander ge= wachſenen Zwilling weiblichen geſchlechts ſo Mattai früh
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¯ Zimermanns weib 33. Jahr alt geſtern [quando?] Zur Welt gebohren, beſichtiget [quid?] wobeÿ wir o befund daß [. . . ]
Auch Cramer entscheidet sich dafür, das exordium und die captatio benevolentiae auszulassen und direkt mit der narratio zu beginnen, deren elementa sich leicht identifizieren lassen. Der Vergleich mit gedruckten Berichten aus verschiedenen Fallsammlungen zeigt, dass der Ulmer Arzt damit die Struktur wählt, die die meisten narrationes bestimmt: (2) AUf beſchehene Requiſition E. E. Raths [cur?] haben wir Endes ge=nannte [quis?], nebſt e ʒugeordneten ʒweyen Herren des Gerichts [quibus auxiliis?], heute dato [quando?] einen Buttel= Knecht, welcher bereits 5. Wochen im Grabe gelegen, beſichtiget und befunden [quid?] : (Budaeus 1735: 78) (3) Auf ſchrifftliches Erſuchen des Hochwohl=Edelgebohrnen und Hoch=Mannbeſten Herrn, Herrn J.B. v.T. Erb=Herrn auf S. [cur]? habe ich Endes unterſchriebener [quis?], nebſt dem auf Begehren e requirirten Barbierer [quibus auxiliis?] mich den 26. Octobr. wallendes 1681ſten Jahres, fruh nach 8. Uhren [quando?] in der Schencke ʒu S. [ubi?] eingefunden, und daſelbſt in Beyſeyn des hierʒu beſchriebenen Notarii Publ. Cæſarei, als auch der Gerichten ʒu S. [quibus auxiliis?] einen Bauer von W. Welcher geſtrigen Tages als den 25. Octobr. in beſagter Schencke, als er ʒuvor friſch und geſund e e aufgeſtanden, ſeine Pferde abgefuttert und angeſchirret, fruh ohngefehr um 7. Uhr einen ʒiemlichen Theil von gemeinen Brandwein gehling ʒu ſich genommen, darauf truncken in den Pferde=Stall gegangen, woſelbſt er ohngefehr nach 9. Uhren auf der Erden gefunden, in die Stube ſtammlend, une vernehmlich redend, gefuhret, und daſelbſt niedergeleget worden, da er als ſchlaffend mit heftigen Schnar= chen, nachdem er ʒuvor per vomitum etwas von ſich gegeben, unvermuthet gegen 11. Uhr verſchieden, beſichtiget [quid?] , um ʒu [. . . ] (Budaeus 1737: 76) e
(4) Auf Requiſition Eines hieſigen Wohlloblichen Magi=ſtrats [cur?] wurde die vorgeſtern Abend in e e Kindesnothen verſtorbene Tuchmachersfrau Lindner beſichtiget und er=ofnet [quid?]. (Kühn 1791: 1) (5) Auf beſchehene Requiſition Ihro Excell. des Herrn Generals Stra=fens L. [cur?] habe ich [quis?] mich nebſt dem Ober=Feldſcheer H. [quibus auxiliis?] am nechſt ab=gewichenen 19. Novembr. a. e c. [quando?] nacher Finſterwalda [ubi?] begeben, um den erſtochenen Corper des Herrn Obriſten e von C. ſo durch eine Pleſſur iſt todtlich verwundet worden, ʒu ſeciren, und mein in der Experientia & e e principiis anatomicis gegrundetes Gutachten dißfalls daruber, wie nemlich dieſe Læſion beſchaffen, und ob das Vulnus pro abſolute le-thali ʒu halten, mitʒutheilen.[quid?] (Troppanneger 1733: 13)
Die narrationes werden typischerweise als Aussagesätze mit Verbzweitstellung konstruiert. Der Schreibanlass, die Kausalangabe, steht im Vorfeld, also topikalisiert. Die Strukturierung folgt einem einfachen, rhetorisch fundierten Muster mit hohem Wiedererkennungswert, denn relevante Informationen wie die Legitimität des Vorgehens und der für das Verständnis des Hauptteils maßgebliche Inhalt werden in erwartbarer Form strukturiert und vermittelt. Es kann mit Stein (1995: 295–304) von einer „kon-
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zeptionellen Routine“ gesprochen werden, die Produzent wie Rezipient kognitiv entlastet. Was die konkrete einleitende Formulierung betrifft, bietet unser Ulmer Bericht nur eine von mehreren möglichen Varianten: Er wird eingeleitet durch eine Kausalangabe in Form einer Präpositionalphrase: Auff ertheilten Gngl. Befehl [. . . ]. Diese Art der Einleitung ist mitunter auch in den gedruckten Sammlungen zu finden, beispielsweise in einer süddeutschen Fallsammlung des Ansbacher Arztes Johann Georg Hasenest: e
e
(6) Auf Hochfurſtl. gnadigſten Conſiſtorial Befehl und communicirte Acta puncto Diſſidii matrimonialis ʒwiſchen dem Georg G. Ge=meinds Hinterlaſſen ʒu M. und deſſen Eheweib Maria Margaretha, da je=ner ex congreſſu conjugali primæ& ſecundænoctis, will behaupten, dieſe [. . . ] (Hasenest 1757: 30)
Wesentlich häufiger ist die Variante, die die schon aufgeführten Beispiele (2) (4) und (5) aufweisen. Auf Requisition von X kann sogar als die prototypische Formulierung für im gerichtsmedizinischen Zusammenhang entstandene Gutachten gelten. Es handelt sich dabei um eine sprachliche Routine mit frei zu besetzender Leerstelle, in die der jeweilige Auftraggeber eingefügt wird. Die Formulierung scheint standardmäßig eingesetzt worden zu sein, denn sie wird auch in der einschlägigen Ratgeberliteratur für das Abfassen korrekter Obduktionsberichte empfohlen. Von welchen Faktoren die Wahl einer Formulierung abhängt, verrät ein Leitfaden des bayerischen Leibarztes Johann Caspar Adam Ruef, der unter dem Titel Unterricht von Criminalfällen und wie ſich ein Arʒt hierüber ʒu verhalten habe im Jahr 1777 erschien. Ruef empfiehlt seinen Kollegen, den Anfang eines Gutachtens auf den jeweiligen Auftraggeber abzustimmen: e
(7) Wenn das Gutachten an eine Hochlobliche Regierung abʒugeben iſt, ſo mußſolches alſo abgee faßt, und eingerichtet werden, als wenn es an Er. ChurfFrſtl. Durchl. hochſte Perſon ſelbſt ʒu ſtellen e e ware. Wird aber das Iudicium medicum von einem Lobl. Land= oder Stadtgericht abgefordert, ſo e wird gleich anfangs geſetʒet: Auf Requiſition eines Lobl. Land= oder Stadtgerichts. rc.rc (Ruef 1777: 12)
Dieser Unterscheidung nach Adressaten folgten zwar nicht alle Gutachter, aber doch sehr viele, wie zahlreiche Beispiele in den Sammlungen des 17. und 18. Jahrhunderts zeigen (Petermann, Budaeus, Daniel, Fischer, Kühn, Pfann, Pyl, und Fabricius). Auch bei der Gestaltung des Übergangs zwischen der narratio und dem Hauptteil des Berichtstext, den wir aufgrund seiner funktional-strukturellen Eigenschaften in Anlehnung an das Urkundenschema als dispositio bezeichnen, lassen sich Varianten feststellen. Während die meisten Textproduzenten sich wie in den Beispielen (2) und (4) dazu entschließen, das Ende des Strukturelements durch eine Satzgrenze zu markieren, wählt Cramer die wesentlich seltenere Variante: Er hebt den Übergang textuell dadurch hervor, dass die dispositio durch einen abhängigen daß-Satz der narratio syntaktisch-semantisch untergeordnet ist.
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Konzeptionelle und sprachliche Routinen lassen sich genauso in der Strukturierung und sprachlichen Ausgestaltung der dispositiones feststellen. In den Sammlungen ist die Beschreibung des Untersuchungsvorganges ganz auf eine optimale Rezeption abgestimmt. Da die zeitgenössischen Rhetoriklehren und Anleitungen der Meinung waren, ein temporal strukturierter Text könne besonders gut rezipiert werden (vgl. z. B. Gottsched 5 1759: 136 f.; Brinckmann 1783: 22 f.), werden auch die Informationen zu Ablauf und Ergebnissen der Untersuchungen typischerweise chronologisch dargestellt, d.h. die Textsegmente orientieren sich an den realen Ereignisabläufen. Wie die folgenden Belege zeigen, wenden die Textproduzenten auch schon im 17. Jahrhundert verschiedene Verfahren an, um diese chronologische Gliederung ihres Textes graphisch sichtbar zu machen. Im folgenden, 1721 datierten Untersuchungsbericht aus der weit verbreiteten Sammlung von Michael Alberti wird mit Leerzeilen, Einrückungen und Nummerierungen operiert: e
e
(8) Weil nun die=ſes ſein Suchen der hochſten Billigkeit gemaß, auch unſere Schuldigkeit ihm hierinnen ʒu willfahren, erfordert, als haben wir ſelbigen heute unten geſetʒ=ten Dato denudato corpore genau angeſehen, und folgendes an ihm be=funden: 1. Sahe man einige rothe groß und kleine platte Flecken an der Stirne, und rechten Seiten der Backen, dergleichen auch auf dem Haupte unter den e Haaren nebſt wenigen Grindchen geſpuhret wurden. 2. In dem Munde war nichts, auſſer einiger tumor an den Backen, wo e die Flecken ſich ʒeigeten, ʒu ſpuhren; die Stimme war rein, ohne alle Hey= ſcherkeit, auch kein Geſtanck aus dem Munde ʒugegen. (Alberti 1721: 167)
Viele Verfasser gliedern ihren Text graphisch durch Ordinalzahlen (8 und 9) oder deren verbale Entsprechungen, also durch Erſtlich, Zweytens und Drittens wie in (10). Dadurch wird jeweils der Anfang einer neuen Einheit markiert, und die Nummerierungen fungieren als Gliederungssignale bzw. Diskursmarker: (9) 3. Nach geſchehener Separation der Haut, ſahe man die Haut durch= und laminam Cranii extee riorem ʒerſchlagen: bey Eroffnung des Cranii aber interiorem gantʒund unverletʒt, [. . . ] (Budaeus 1735: 79) (10) Zweytens war der Leichnam des Kin=des ʒur Helfte nemlich der Kopf, die Bruſt bis an den e Unterleib vollig ʒernichtet. (Metzger 1781: 18) e
(11) Und nachdem die Bruſt eroffnet wurde, fand ſich in thorace auf der rechten Seite nach der Kehlen ʒu (Budaeus 1735, 79)
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Die zugehörige Beschreibung folgt dem Ablauf der Untersuchung/Obduktion, indem sie meist vom Kopf nach unten5 , zu Rumpf und Extremitäten wandert und über äußerliche Befunde in das Innere des Körpers vordringt. Anhaltspunkte für die zeitliche Strukturierung bietet z. B. die Subjunktion nachdem (11), Präpositionen wie nach (9) und bey (9), sowie die Abfolge der Tempora. Der Ulmer Bericht verzichtet demgegenüber ganz auf solche, die Rezeption erleichternde Gliederungssignale. Zwar bildet die Struktur des Textes die Chronologie der Untersuchung ab, indem die Begebenheiten erst von oben nach unten und von außen nach innen beschrieben werden, es fehlen aber diese Struktur sichtbar machende graphische Marker wie Leerzeilen oder Einrückungen. Die einzelnen Beobachtungen werden ohne Punkte aneinandergereiht. Es drängt sich die Vermutung auf, dass der Text diktiert wurde, und der Schreiber von sich aus keine Veranlassung sah, strukturelle Unterteilungen vorzunehmen oder den Text graphisch in irgendeiner Weise zu gliedern. Hinsichtlich der sprachlichen Ausgestaltung lassen sich erneut zahlreiche Gemeinsamkeiten mit den in Fallsammlungen veröffentlichten Texten feststellen. Wie bereits erwähnt handelt es sich bei den Berichten um informationsbetonte Texte. Die Verfasser stellen die Sachverhalte und Ergebnisse im Allgemeinen als verbürgte und nicht zu bestreitende Fakten dar. Dem entsprechend bedienen sie sich verschiedener textlicher Verfahren, die dazu geeignet sind, ihre Beobachtungen objektiv erscheinen zu lassen. Wie auch die Beispiele (9) bis (11) zeigen, bevorzugen die Mediziner Formen, die es ermöglichen, ohne expliziten Verweis auf die eigene Person Handlungen und Beobachtungen zu schildern. Dazu zählen Passiv- und Reflexivkonstruktionen, Sätze mit Subjektschub oder das gehäufte Auftreten des Indefinitpronomens man – alles sprachliche Mittel, die sich als Deagentivierung beschreiben lassen, und die auch als typisch für die Wissenschaftsprosa der Moderne gelten.6 Diese Verfahren der Deagentivierung lassen sich nun auch im Ulmer Bericht nachweisen. Zwar referiert Cramer durch das Personalpronomen wir im Anfangs- und Schlussteil des Berichts auch auf seine eigene Person, im eigentlichen Hauptteil dominieren aber die unpersönlichen Satzkonstruktionen: – Indefinitpronomina: ſahe man; kan man eigentlich nicht wiſſen [. . . ]. – Reflexivkonstruktionen: fand ſich (XX); u. erſtreket ſich [. . . ] e – Passivkonstruktionen: Und nachdem die Bruſt eroffnet wurde (XX); es ist auch die Kindtbetterin fleißig befraget worden, [. . . ] – Subjektschub: die anwachſung hat den Anfang genomem [. . . ] – sein + zu +Infinitiv: es iſt aber wohl ʒu vermuthen [. . . ],
5 Dieses Vorgehen zeugt vom Fortwirken der A-capite-ad-calcem-Ordnung, wie sie bereits in Antike und Mittelalter üblich war. 6 Vgl. zur Wissenschaftssprache zum Beispiel: Weinrich 1989; Steinhoff 2007; Hennig/Niemann 2013.
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Und noch ein weiteres typisches Merkmal von wissenschaftlicher Kommunikation fällt ins Auge: Um den Eindruck fachlicher Kompetenz zu erzeugen und die Glaubwürdigkeit des Verfassers zu betonen, gebrauchen Mediziner und auch der Verfasser unseres Gutachtens Fachtermini, die häufig fremdsprachiger Natur sind. Meist handelt es sich um lexikalische Interferenz, d. h., die fremdsprachigen Begriffe tauchen kursorisch in den ansonsten deutschsprachigen Sätzen auf. Da Cramer nicht für ein Fachpublikum schreibt, sondern für den Ulmer Stadtrat, wägt er genau ab zwischen fachsprachlichen Anforderungen und der Verständnissicherung. Um letztere nicht zu gefährden, erschließt er seinen Lesern die lateinischen Fachbegriffe. Er nutzt dazu zwei Varianten: Im ersten Fall gibt er eine volkssprachliche Bezeichnungsalternative an, die durch oder mit dem lateinischen Fachbegriff koordiniert wird (oben an den ſterno oder Bruſtbein [...]). Im zweiten Fall nennt er erst den volkssprachlichen Begriff, der anschließend durch seine lateinische Entsprechung ersetzt wird: nabel ſchnur wird anschließend durch vasa umbilicalia wiederaufgenommen. Dieses Vorgehen dient nicht nur der Rezeptionserleichterung, sondern hat auch den Vorteil, dass damit gleichzeitig das rhetorische Prinzip der variatio delectat erfüllt wird. Das dominant deskriptive Vertextungsmuster (vgl. dazu Heinemann 2000) äußert sich in gedruckten wie handschriftlichen Berichten in präzisierenden sprachlichen Mitteln wie Lagebezeichnungen und Maßangaben. Bei Cramer findet sich etwa die Formulierung: (12) u. erſtreket ſich die anwachſung um den gantʒen Leib herumb in die breitte ſo groſſ, daß ſolche mit 2. Händen nicht umſpannet werden kan,[...]
Dieses Heranziehen von Vergleichsobjekten (mit 2. Händen), die allgemein vertraut sind und aus der unmittelbaren alltäglichen Erfahrungswelt stammen, kann als typisch für medizinische Berichte gelten. Um das Ausmaß von Wunden und deren anatomische Position zu verdeutlichen, werden diese auch in den gedruckten Berichten häufig zu Körperteilen, meist Händen und Fingern, in Beziehung gesetzt: (13) auch war die Kehle einer guten Hand breit gantʒbraun=ſchwartʒ. (Budaeus 1735: 79) e
e
(14) einen maßigen quer Finger von der Sutura coronali ein Loch faſt in forma ovali dieſer Lange und Weite gemachet (Budaeus 1737: 78) e
(15) bey 3 Hande breit und einer hand lang alles braun (Budaeus 1735: 79) (16) war ei=nes guten Daumens dicke (Gohl 1735: 37)
Wie ist dieses, im Vergleich zu metrischen Angaben unpräzise erscheinende Vorgehen zu erklären? Gegenüber den Angaben mit Maßeinheiten, die in den gedruckten Berichten auch zu finden sind – beispielsweise 2 bis 3 Zoll (Daniel 1776: 2), ʒuſammen
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e
wohl auf 6 Unʒen, und druber, (Daniel 1776: 3), 5/16 Theil der Elle (Kühn 1791: 43) – hat der Rückgriff auf Dinge der Erfahrungswelt und des alltäglichen Gebrauchs nicht nur den Vorteil der größeren Anschaulichkeit. In einer Zeit, in der viele Territorien ihr eigenes Messsystem aufweisen, Maßeinheiten also nicht überregional vereinheitlicht waren7 , gewährleisten Objekt-Vergleiche eine Verständnissicherung weit über die engen Grenzen des eigenen Raumes hinaus. Am Schluss des Berichts wird noch einmal die Nähe zu juristischen Texten deutlich. Beendet wird der Text nämlich durch eine Angabe der Beglaubigungsmittel, also eine corroboratio, die von welches bis wollen reicht: (17) [. . . ] welches wir Euer Hochadel. Herrl. Sol. o o u. Hochw. Grlll berichten, u. unter Laſſung vürkl. [?] manutenenz o ¯ u. dieß gnädiglich unſerer Recomendation verharren wollen.
Die Einleitung der corroboratio durch das anaphorisch verweisende Relativpronomen welches darf als typisch gelten – es bezieht sich nicht auf ein Substantiv eines übergeordneten Hauptsatzes, sondern augenscheinlich auf den gesamten Text. In den gedruckten Fallsammlungen finden sich viele Beispiele für ähnliche Konstruktionen, wie die folgenden Beispiele belegen: (18)[. . . ], welches wir unter unſerer eigenen Hand und Petſchafft wohl bedächtig hier=mit ʒu berichten vor nöthig erachten. Gegeben den 11. Jun. 1721. (Alberti 1721: 169) (19) Welches wir beʒeugen u. M. den 30.Mart. 1697. D. B. M. (Budaeus 1735: 80) (20) Welches wir nach den principiis medico-chirurgicis hier=mit atteſtiren. Halle den 29. Jan. 1757. D.C.F.D. H. Chir. (Daniel 1776: 89)
Welches wir darf als der die corroboratio einleitende Marker gelten, wie auch Beispiele aus den Sammlungen zeigen, bei denen der Schlussteil der Gutachten vermutlich aus Platzgründen getilgt wurde. Der hier noch abgedruckte Anfang der Schlussformel verrät dem Leser nämlich ohnehin, dass sie den üblichen Corroborationsformulierungen entspricht. Der Ulmer Bericht wird durch eine leicht links versetzte Datumsangabe, Cramers Empfehlung an den hochlöblichen Rat der Stadt Ulm sowie seine Unterschrift als Jo-
7 Die meisten Messsysteme wurden erst im Laufe des 19. Jahrhunderts vereinheitlicht.
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Abb. 2: Zittmann 1706: 838 (Foto: privat).
hann Bartholomeus Cramer, Med. Dr. abgeschlossen. Damit folgt der Arzt den zu seiner Zeit üblichen rhetorischen Konventionen. Eine recht naheliegende Frage, die sich beim Vergleich der Unterschriften in handschriftlichen und gedruckten Gutachten ergibt, ist die nach dem Umgang mit den persönlichen Daten des Patienten und der beteiligten Heilkundigen. Wie wir schon gesehen haben, weisen die handschriftlichen Gutachten ausführliche Titulaturen auf, die dem barocken Briefzeremoniell entsprechen, dazu Namen und Herkunftsort der beteiligten Personen sowie die Namen der anwesenden Zeugen. Namentlich genannt zu werden, dürfte nicht immer im Interesse der Beteiligten gewesen sein, da heikle Angaben zur Befindlichkeit des Patienten, dessen Ansehen schmälern konnten. Das war auch den Zeitgenossen bewusst, wie eine Äußerung Friedrich Hoffmanns zeigt, der im Vorwort des zweiten Bandes seiner bekannten Fallsammlung Medicina consultatoria erklärt, weshalb er für die Anonymität aller Akteure gesorgt habe: Es ſind bey denen caſibus vornehmlich die Nahmen ſo wohl der Patienten, als Medicorum und dabey e intereſſirten Personen verſchwiegen, weil es vielleicht nicht einen jeglichen anſtehen wurde, daß ſein e Nahme dabey ausgedrucket wure; [. . . ] (Hoffmann 1721, Vorrede: unpaginiert)
Aber nicht alle Sammlungsherausgeber verfahren auf diese Weise. In der schon erwähnten, relativ jungen Sammlung des Johann Gottlieb Kühn wird eine im Kindbett Verstorbene mit ihrem Namen und dem sozialen Status genannt: e
Auf Requiſition Eines hieſigen Wohlloblichen Magi= e ſtrats wurde die vorgeſtern Abend in Kindesnothen verſtorbene Tuchmachersfrau Lindner beſichtiget und er= e ofnet. (Kühn 1791: 1)
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Abb. 3: Die dem Sektionsbericht beigelegte Zeichnung der Siamesischen Zwillinge
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In einer Hinsicht weist der Ulmer Bericht fast ein Alleinstellungsmerkmal auf: Er wird von einer Zeichnung begleitet, die das siamesische Zwillingspaar, das Objekt der Untersuchung, in exakten Strichen und – das zeigt das geschickt drapierte Leinentuch – nicht ohne künstlerischen Anspruch porträtiert. Von wem die Zeichnung angefertigt wurde, ist leider nicht bekannt. Sie könnte aber durchaus von Cramer selbst stammen. Dass die Zeichnung hinzugefügt wurde, dürfte kaum Ausdruck modernen wissenschaftlichen Denkens sein, sondern eher das Fortwirken eines frühneuzeitlichen Interesses an ungewöhnlichen Naturphänomenen bezeugen, so wie es sich auch in den zahlreichen Naturalien- und Kuriositätenkabinetten des 16. und 17. Jahrhunderts niederschlug. Siamesische Zwillinge waren in dieser Tradition Monstren, die in einer Reihe mit Fabelwesen traten, die man nur vom Hörensagen kannte. Dass Wunden zeichnerisch festgehalten wurden, ist aber nicht unüblich – die Vorworte der Sammlungen geben Hinweise darauf. So fordert der Erlanger Medizinprofessor Matthias Pfann: e
e
Vor allem aber muß, ſo viel nur moglich, die wahre Beſchaffenheit der Wunde umſtandlich beſchrieben, e e e e ihre Lange, Breite, Tiefe und Große auf das genaueſte beſtimmet: auch wie es in vielen Fallen nothig, die Figur derſelben accurat abgeʒeichnet, und ʒugleich gemeldet werden. (Pfann 1750, Vorrede: unpaginiert)
In den Fallsammlungen finden sich allerdings verhältnismäßig wenige Darstellungen. Petermann, Budäus, Alberti, Daniel, Baier, Hofmann, Fischer, Behr, Ruef, Kühn und Metzger verzichten ganz auf Bilder, und auch in den jüngeren Sammlungen begegnet man eher selten Illustrationen. Der Aufwand, die in den handschriftlichen Gutachten vorhandenen Zeichnungen in Kupferstiche umsetzen zu lassen, war wohl meist zu groß. Die Sammlungen waren schließlich für den alltäglichen Gebrauch bestimmt und wurden daher im handlichen Quartformat herausgegeben. Die Herausgeber scheuten offenbar die hohen Kosten, die mit dem Abdrucken von Kupfern verbunden waren.
5 Zusammenfassung Der Vergleich des Ulmer Berichts von 1707 mit ähnlichen Beispielen aus medizinischen Fallsammlungen des 18. Jahrhunderts hat sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede offengelegt. Gemeinsam ist allen Texten die Orientierung an einfachen, rhetorisch geprägten Mustern mit hohem Wiedererkennungswert auf unterschiedlichen sprachlichen Ebenen. Dazu zählen die Grobstrukturierung der Texte in Anlehnung an rhetorische Brief- bzw. Urkundenschemata oder auch die Berücksichtigung der elementa narrationis bei der inhaltlichen Organisation einzelner Makrostrukturelemente. Aber auch die Mikrostruktur ist von Routinen gekennzeichnet, denn es lassen sich in Handschrift wie Druck immer wiederkehrende Formulierungen nachweisen. Alle Verfasser bevorzugen sprachliche Formen, die geeignet sind, ihre Beobach-
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tungen besonders objektiv erscheinen zu lassen. Die Berichte weisen daher schon im 18. Jahrhundert viele Merkmale auf, die auch die moderne Wissenschaftskommunikation prägen. Unterschiede ergeben sich vor allem hinsichtlich der Extension und Ausführlichkeit der Texte. Während handschriftliche Berichte allen sozialen und kommunikativen Konventionen gerecht werden mussten, hatten die Herausgeber der Sammlungen keinerlei Bedenken, salutationes, Titulaturen, corroborationes oder Eigennamen zu kürzen – sehr wahrscheinlich aus platzökonomischen Gründen. Letztere dürften auch verantwortlich dafür sein, dass Illustrationen wie die künstlerisch anspruchsvolle Zeichnung des siamesischen Zwillingspaares in den Sammlungen so gut wie nicht zu finden sind.
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eingetheilet, Dem Publico zum Besten herausgegeben. Zwölf Theile. Halle im Magdeburgischen 1721–1739. Johann Gottlieb Kühn: Sammlung medicinischer Gutachten. Breßlau und Hirschberg 1791. Johann Daniel Metzger [...]: Medicinisch-gerichtliche Beobachtungen. Erster Jahrgang. Königsberg bey F. D. Wagner und R. G. Dengel 1781. Andreas Petermann: Casuum medico-legalium Decas II. Herausgegeben von Dessen Sohne/ Benj. Petermannen / Practico daselbst. Leipzig 1709. Christian Gottlieb Troppanneger: Decisiones Medico-Forenses. Sowohl dessen eigene, und zwar die meisten Judicis, also auch anderer, und unterschiedlicher Juristisch und Medicinischer Facultäten Urthel und Responsa, Uber Siebentzig rare und zum Theil schwere Casus, Sonderlich De Lethalitate Vulnerum. [. . . ] Dresden 1733. Friedrich Zittmann: Medicina Forensis. Das ist Eröffnete Pforte zur Medicin und Chirurgie. Anweisende Hochlöbl. Medicinischen Facultät zu Leipzig hoch vernünfftig ertheilte Aussprüche und Responsa, Uber allerhand schwere/ zweiffelhaffte und seltene / von Anno 1650. biß 1700 vorgekommene und in die Medicin, auch Chirurgie lauffende Fragen und Fälle / [. . . ] Frankfurt am Mayn [. . . ] 1706.
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Medizinische Berichte des 18. Jahrhunderts in Handschrift und Druck | 251
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Jörg Meier
Medizinische Sprache in historischer Werbung 1 Einführung und Forschungssituation Wenngleich sich die unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen und Forschungsansätze mit der Werbung beschäftigen und besonders Werbeanzeigen seit geraumer Zeit zu beliebten Forschungsobjekten der germanistischen Sprachwissenschaft gehören, gibt es immer noch zahlreiche Desiderate der Werbesprachenforschung. Gesucht wird beispielsweise nach eindeutig klassifizierbaren, spezifischen Kriterien, idealtypischen Faktoren und immer wieder verwendeten Textmustern. Desiderate bestehen darüber hinaus u. a. in der Erforschung gegenseitiger Beeinflussung von Werbe- und Alltagssprache. Außerdem gibt es auch immer noch recht wenige Untersuchungen, die erforschen, wie in der Werbung Varietäten der Sprache, beispielsweise Dialekte oder Fachsprachen, verwendet werden (vgl. Meier 2011; Meier 2014). Ganz besonders fehlen nach wie vor aber systematische, auf größere Korpora gestützte, mit vergleichbaren Methoden und Kriterien analysierende, größere Zeiträume und verschiedene Medien umfassende, kontrastive und diachrone Untersuchungen der (deutschen) Werbesprache. Obwohl die historische Anzeigenwerbung im Vergleich zu anderen Werbemitteln vergleichsweise am häufigsten untersucht wurde, gibt es aus verschiedenen Gründen auch in diesem Bereich noch erhebliche Defizite und Probleme, wobei folgende Punkte als besonders gravierend zu betrachten sind: – Die Auswahl und Zusammenstellung des Korpus. – Die Wahl der Untersuchungsmethoden und -kriterien. – Die methodischen Probleme der Interpretation. Wenngleich auf die bestehenden Forschungslücken wiederholt aufmerksam gemacht wurde, fehlen größere diachrone Längsschnitt- bzw. Reihenuntersuchungen, die darüber informieren könnten, wie sich bestimmte Textsorten und -muster im historischen Verlauf entwickelt haben, und auch Querschnittuntersuchungen, die ein möglichst umfassendes Textrepertoire darstellen, gibt es bisher nur in Ansätzen. Dabei sollte berücksichtigt werden, wie historische Kommunikationsverhältnisse und textliches Handeln vermittelbar sind, und in welchem Verhältnis die jeweilige Textproduktion zu induzierten Vorgaben bzw. Textmustern steht (vgl. Meier 2004; Meier 2007). Interdisziplinär durchgeführte, historische und empirische Zeitreihenanalysen, die synchron und diachron die gleichen Variablen möglichst vieler verschiedener Werbeanzeigen untersuchen und damit Aussagen über den Wandel der Medienrealität ermöglichen könnten, sind ebenso Desiderate der Forschung, wie Studien, in denen die DOI 10.1515/9783110524758-017
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Variabilität und die Stabilität von Textsorten bzw. Textmustern sowie Textstrukturen in deutschsprachigen Anzeigen über einen längeren Zeitraum analysiert werden. Wie bereits an anderer Stelle ausführlich dargestellt, befassen sich die bisher vorliegenden Untersuchungen zur historischen Werbesprache – aus nahe liegenden Gründen – überwiegend mit der Anzeigenwerbung (vgl. hierzu Meier 2014, 277–279). Die Tabelle verzeichnet die wichtigsten größeren linguistischen Arbeiten zu historischen Werbeanzeigen in chronologischer Reihenfolge des Untersuchungszeitraumes (vgl. Tab. 1). Aufgenommen wurden außer dem Untersuchungszeitraum, das der Analyse zugrunde gelegte Korpus und die jeweiligen Untersuchungsschwerpunkte. Die Untersuchungskorpora sind sehr unterschiedlich im Hinblick auf den gewählten Zeitrahmen und den Umfang sowie die Auswahl und die Relevanz der Zeitungen und Zeitschriften. Noch stärker variieren die gewählten Untersuchungsmethoden und inhaltlichen Schwerpunkte der Analysen. Historische Werbung für Arzneimittel, medizinische Produkte oder Ärzte wurden dabei bisher nicht oder nur äußerst marginal berücksichtigt (vgl. Achner 1932; Zimmermann 1974; Lill 1990; Ulrich 2009).
2 Veränderungen in der Werbesprache – Anmerkungen zur Werbegeschichte Wenngleich sich der Terminus „erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der deutschen Sprache etabliert“ hat (Bendel 1998, 23), ist Werbung keine Erfindung unserer Zeit, selbst dann nicht, wenn wir nur die wirtschaftliche Werbung betrachten. „Werbung ist so alt wie bewußtes Wirtschaften“ (Schweiger/Schrattenecker 1996, 1) und sie „wurde immer dann eingesetzt, wenn ein Produkt oder eine Dienstleistung nicht mehr ausschließlich zur Deckung des Eigenbedarfs diente“ (Hauke 1999, 7). Aus Städten, die eine hohe Alphabetisierungsrate aufwiesen, wie Pompeji, ist bereits schriftliche Werbung überliefert. So fanden sich neben „Wirtshausschildern, Verpackungsetiketten und Herstellermarken“ über 1600 auf Hausmauern gemalte „Wahlaufrufe“ sowie zahlreiche „Anzeigen für Theaterveranstaltungen, Gasthäuser und Dienstleistungen“ (Bendel 1998, 23; vgl. auch Geist 1960, 4; Buchli 1962, Bd. 1, 68–74; Zimmermann 1974, 26 ff.; Kriegeskorte 1995, 8 ff.). Wann allerdings die ersten Geschäftsleute im heutigen Sinne für ihre Produkte geworben haben, hängt davon ab, was wir genau unter Werbung verstehen. Nach Behrens ist Werbung „eine absichtliche und zwangfreie Form der Beeinflussung“. Sie soll die Menschen „zur Erfüllung der Werbeziele veranlassen“ (Behrens 1975, 4). Hoffmann beschreibt Werbung als „die geplante, öffentliche Übermittlung von Nachrichten“. Die Nachricht muss jedoch Handeln bestimmter Gruppen beeinflussen und damit „einer Güter, Leistungen oder Ideen produzierenden oder absetzen-
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Tab. 1: Bisherige linguistische Analysen historischer Werbeanzeigen Autor/in (Jahr)
Analysezeitraum
Korpus
Analyseschwerpunkt
Bendel, Sylvia (1998)
1622–1798
1457 Anzeigen aus 37 Zeitungen
Pragmatik, Textsortenentwicklung, Texthandlung, Platzierung und typographische Gestaltung
Stolze, Peter (1982)
1741–1801
770 Anzeigen aus der „Leipziger Zeitung“
Lexik und Syntax
Hohmeister, Karl-Heinz (1981)
1800–1975
„Ausgewählte Beispiele“ aus dem „Gießener Anzeiger“
Lexik, Syntax und Präsentationsformen
Bechstein, Gabriele (1987)
1890–1935 [1888–1930]
275 Anzeigen aus zeitgenössischen überregionalen deutschsprachigen Wochenzeitungen und -zeitschriften sowie Automobilfachzeitschriften und Automobilclubblättern
Semiotik, Syntax, Semantik und Pragmatik
Fährmann, Rosemarie (2006)
1888–1997
1800 Anzeigen dreier Marken (Mercedes-Benz, Persil, Nivea)
Entwicklung von Text und Bild, Semiotik und Lexik, Kohärenz in TextBildgefügen
Adam-Wintjen, Christiane (1998)
1947
286 Anzeigen aus Jugend-, Frauenzeitschriften und Illustrierten
Textmuster im Rahmen einer Sprachpragmatik, die auch zeitgeschichtliche Gegebenheiten berücksichtigt
Wehner, Christa (1996)
1900–1992
3500 Anzeigen aus der „Berliner Illustrierten Zeitung“ und dem „Stern“
Überzeugungsstrategien in der Werbung, persuasiver Aspekt
Jia, Wenjian (2000)
1947–1990
Anzeigen aus „Der Spiegel“
Textpragmatik, kommunikatives System
Cölfen, Hermann (1999)
1960–1990
321 Anzeigen von fünf Firmen (Bahlsen, Dr. Oetker, Henkel, Underberg, Volkswagen) und dem deutschen Sparkassenverlag
Semantik und Lexik, TextBild-Zusammenhang, Wechselverhältnis zu gesellschaftlichen Normen, Werten und Vorstellungen
Reimann, Sandra (2008)
1954–2003
Synchrone Analyse von zehn, aktuellen Werbekampagnen diachrone Untersuchung dreier Dallmayer-Kampagnen
Mehrmedialität, synchrone und diachrone Untersuchungen von Werbestrategien
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den Gruppe oder Institution (vergrößernd, erhaltend oder bei der Verwirklichung ihrer Aufgaben) dienen“ (Hoffmann 1981, 19). Wenn wir die Definition des Brockhaus zugrunde legen, nach der Werbung „jede Darbietung von Botschaften mit dem Ziel, Einstellungen und Handlungen der Adressaten zum Vorteil der Werbetreibenden zu steuern“ umfasst (Brockhaus 1994, Bd. 24, 66), gab es bereits in der Antike Werbung. Dazu rechnen können wir dann beispielsweise auch Marktschreier oder 2000 Jahre alte Steintafeln semitischer Händler, auf denen eine Liste ihrer Waren zu finden ist (Bolten 2014). Volker Depkat weist in seinem Überblick zur Geschichte der Werbung auf eine etwa 300 v. Chr. in Ägypten gefertigte Tontafel hin, auf der für die Dienstleistungen eines Traumdeuters geworben wird (Depkat 2009, 16, Anm. 1). Da es bisher „keine auf das Abendland und den deutschen Sprachraum bezogene entsprechende Forschung“ gibt (Greule 2012, 339), wird der Beginn der Werbung im deutschsprachigen Raum meist auf das 15. Jahrhundert datiert. Seit der zweiten Hälfte des Jahrhunderts waren die Buchdrucker und -händler den Zwängen des freien Handels ausgesetzt und warben auch bereits in deutscher Sprache für ihre Produkte in Form von Einblattdrucken, Plakaten und Katalogen (vgl. Winteroll 1987; Bendel 1998, 24–29). Allerdings konnten die Händler ihre Werbung noch nicht adäquat verbreiten, solange ein passendes Medium dazu fehlte. Erst mit den im 17. und 18. Jahrhundert aufkommenden Zeitungen und Intelligenzblättern waren die Voraussetzungen dafür geschaffen. Nach französischem Vorbild gab es bereits im 17. Jahrhundert, allerdings erst vereinzelt, Anzeigen in Zeitungen, u. a. Suchanzeigen, Auktionsanzeigen, Stellenanzeigen, sowie Werbeanzeigen für Gasthäuser oder Privatlehrer, und – in unserem Zusammenhang von besonderem Interesse – Arzneimittelanzeigen (vgl. u. a. Faulstich 2002, 32). Nach Bendel stammt der als erste deutschsprachige Anzeige bezeichnete Text aus der Straßburger Relation Nr. 8 aus dem Jahr 1622. Nach der Überschrift Auß Straßburg / vom 21. Februarij. Alt. Cal. folgt ein einziger, 55 Wörter umfassender Satz. Bendel (1998, 149 f.) schreibt dazu: Der Text ist nicht durch typographische Massnahmen vom redaktionellen Teil der Zeitung abgetrennt, sondern im Gegenteil mit Ort und Datum als Überschrift wie eine Meldung aufgemacht; es wird in keiner Art und Weise klar, dass die Rede von einem käuflichen Produkt ist, und ein explizites Anbieten fehlt.
Damit erfüllt dieser Text ihrer Meinung nach nicht die Kriterien einer Werbeanzeige, sondern ist eine Nachricht, die zu einer Anzeige umfunktioniert worden ist (ebd., 150). In der Forschung wird der Text häufig dennoch als Anzeige bezeichnet, weil Neuerscheinungen von Büchern nicht das Thema von Zeitungsmeldungen waren. In der Regel stehen Werbeanzeigen im 17. und 18. Jahrhundert am Schluss einer Zeitung und weisen, mit Ausnahme „von gelegentlichem Fettdruck, keine typographi-
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sche Gestaltung auf, die sie von den Nachrichten unterscheidet“ (ebd., 145). Laut Bendel lässt sich im 17. und 18. Jahrhundert noch nicht von einer Sprache der Anzeigenwerbung sprechen, da die frühen Anzeigen im selben Stil abgefasst sind wie Nachrichten, Briefe und Verwaltungsdokumente, in vollständigen Sätzen, mit hypotaktischem Satzbau, ohne rhetorische Figuren und Reime (ebd., 146; 199). Der auffälligste Unterschied zu heutigen Anzeigen bestehe darin, dass sich die gemachten Aussagen nur auf Produkt und Anbieter beziehen (ebd., 196). Daraus ergibt sich die Frage, ob es denn heute eine Sprache der Anzeigenwerbung gibt und ob der Stil heute immer von anderen Texten bzw. Textsorten abweicht? Außerdem bleibt unbeantwortet, ab wann es Anzeigen im heutigen Sinne gibt und wie diese aussehen müssen? Im 18. Jahrhundert entstanden die sog. Intelligenzblätter, die auf Anzeigen spezialisiert waren (vgl. u. a. Böning 1994; Böning 1999). Etwa 100 Jahre später entdeckten schließlich die Zeitungen die Möglichkeit, sich mit Hilfe der Werbung zu finanzieren und dadurch den Kaufpreis für die Leser zu verringern. Der Einfluss der Wirtschaft stieg und im Zuge der Industriellen Revolution entstand die Massenproduktion. Von diesem Zeitpunkt an wurde die Werbung nicht mehr von den Händlern, sondern von den Erzeugern der Waren kontrolliert. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts veränderte sich die Werbung sowohl quantitativ als auch qualitativ. Nach der Freigabe des Anzeigenwesens bestand Werbung meist nur aus Produkthinweisen, doch ab 1870 wurde der Stil immer sensationslüsterner und in der Folgezeit richtete sich die Werbung erstmals an spezielle soziale Schichten – es entstand die Zielgruppenwerbung. Der Aufschwung der Werbebranche führte dazu, dass der redaktionelle Anteil in den Zeitungen immer geringer wurde und stattdessen der Werbeanteil kontinuierlich wuchs. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts waren viele Tageszeitungen mehr oder weniger zu Anzeigenblättern geworden, so dass die Zeitungen in einigen Großstädten bis zu 80 Prozent aus Werbung bestanden. Und ein Großteil davon warb für Arzneimittel (vgl. zur Werbegeschichte u. a. Koszyk 1992; Reinhardt 1993; Gries/Ilgen/Schindelbeck 1995; Kellner/Kurth/Lippert 1995; Kriegeskorte 1995; Zurstiege 2007; Meier 2011; Meier 2012). Bis „weit ins 19. Jahrhundert hinein hatten Warenangebote die schlicht informative Form von Mitteilungen“ über eingetroffene und zu bekommende Produkte (von Polenz 1999, 91). Im Laufe des 19. Jahrhunderts entstanden im Anzeigenteil Formen, die sich zunehmend vom Nachrichtenstil entfernten: „Einrahmung, typographische Differenzierung, lockere Anordnung der Textteile mit leeren Zwischenräumen und kleinen bildlichen Warendarstellungen“ sowie „die kleine schwarze Hand mit Zeigefinger als Mittel des Leseanreizes“ (ebd.). Nach der Jahrhunderthälfte „traten Warenanpreisungen mit lexikalischen Mitteln in den Vordergrund, kamen typographische und bildliche Reizmittel der Notwendigkeit des selektiven Lesens im Überangebot von Informationen und Waren entgegen“, und zum Ende des Jahrhunderts „spielte das Firmenimage, mit Darstellungen von Fa-
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brikanlagen und festen, plakativ wirkenden Warenbezeichnungen eine große Rolle“, außerdem psychologische Tricks zunehmend professionellerer Werbetexter (ebd.). Die größten Veränderungen fanden in der Übergangszeit vom 19. zum 20. Jahrhundert statt, denn zur umfassenderen typographischen Gestaltung trat die Illustration und das Vokabular wurde breiter und umfasste zunehmend Abstrakta sowie Markenund Produktnamen, (vgl. Lill 1999, 14–35; 63–102). Die Syntax schrumpfte auf einen Telegrammstil zusammen, in dem nominale Kurzformen unverbunden nebeneinander gestellt wurden. Neu waren zudem Ausdrücke, die die Ware emotional aufwerteten und personifizierten (vgl. Bendel 1998, 7 f.). Um die Jahrhundertwende starteten Unternehmen wie Maggi, Odol oder Nivea groß angelegte Werbekampagnen, um ihr Produkt als Marke zu etablieren. Aufgrund dieser Bemühungen verbinden wir bis heute viele Markennamen mit Produktnamen, wie z. B. Nivea = Feuchtigkeitscreme, Tempo = Taschentuch, oder für unseren Bereich relevant: Aspirin = Schmerzmittel. Geprägt wurde der Name Aspirin 1897 durch Kurt Witthauer, Oberarzt am Diakonissenkrankenhaus Halle/Saale. Witthauer publizierte die erste klinische Studie über die Anwendung von Acetylsalicylsäure. Der Name Aspirin leitet sich vom Echten Mädesüß, auch Spire genannt einem salicylathaltigen Rosengewächs, ab: A (für die Acetylgruppe), spirin (für den Inhaltsstoff der Spire) (vgl. u. a. Ulrich 2009, 114–117). Am 10. August 1897 gelang es erstmals, den Wirkstoff von Aspirin, die Acetylsalicylsäure, in einer chemisch reinen und stabilen Form zu synthetisieren. Zwei Jahre später wurde es, zunächst in Pulverform, auf den Markt gebracht. Als im Jahre 1900 die erste 500 Milligramm Tablette eingeführt wurde, war Aspirin eines der ersten Medikamente der Welt, das in dieser standardisierten und damit exakt dosierbaren Form erhältlich war.1 Acetylsalicylsäure, kurz ASS, ist ein weit verbreiteter schmerzstillender, entzündungshemmender und fiebersenkender Wirkstoff, der seit 1977 auf der Liste der unentbehrlichen Arzneimittel der WHO steht. Der Stoff wird seit Anfang des 20. Jahrhunderts als Aspirin vermarktet, wodurch diese Marke, die von der Bayer AG im Jahr 1899 geschützt wurde, zum Gattungsnamen für den Wirkstoff und ihn enthaltende Präparate wurde (vgl. ebd.). Parallel zu der Markennamen-Entwicklung versuchten Firmen in dieser Zeit erstmals Bedürfnisse im Konsumenten zu wecken und die Werbung versuchte den potentiellen Kunden davon zu überzeugen, dass er das Produkt unbedingt benötigt. Der Rückgang des Warenangebots im 1. Weltkrieg, in der Zwischenkriegszeit und im 3. Reich zeigte sich auch in einem deutlichen Rückgang der Quantität der Anzeigenwerbung und in einer Stagnation der Werbeformen. In der Zeit des Nationalsozialis-
1 Vgl. https://pharmakologie.wordpress.com/2010/03/25/aspirin-eine-erfolgsgeschichte/; http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/aspirin-eine-kriminelle-geschichte-a-40319.html; http://www.aspirin.de/de/magazin/archiv/artikel110jahre.php.
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mus wurde die Werbung, genau wie andere Medien, ideologisch instrumentalisiert. Spätestens nach Ausbruch des Krieges verschwand die Trennung zwischen Werbung und Propaganda gänzlich (vgl. Westphal 1989). Werbung ist nicht nur Abbild, sondern auch Teil des gesellschaftlichen Systems. Damit ist sie potentiell in der Lage auch selbst Einflussfaktor sowohl in sprachformaler als auch in inhaltlicher Hinsicht zu sein, abhängig von ihren jeweiligen Rahmenbedingungen. Werbung ist daher für sprachhistorische Forschungen besonders relevant (Meier 2011; Meier 2012).
3 Historische Werbung für Medizin und Arzneimittel vom 16.–18. Jahrhundert Über einen langen Zeitraum diente eine Reihe von Ausdrucksformen, „die sich unter dem Anreiz zunehmenden Leistungswettbewerbs ständig differenzierten“ (Zimmermann 1974, 186, vgl. für das Folgende ebd. 55–123), als Träger der Werbeaussage für Arzneimittel sowie medizinische Produkte und Dienstleistungen. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts sind vor allen Dingen folgende schriftliche und bildliche Werbemittel von Bedeutung und bedürfen einer näheren sprachwissenschaftlichen Analyse: 1. Der Patentbrief 2. Der Werbezettel – Die Gebrauchsanweisung – Der Ankündigungszettel 3. Die Werbeschrift 4. Der Arzneimittelkatalog 5. Die Preisliste 6. Das Werbebuch 7. Die Arzneimittelanzeige 8. Der Werbebrief Darüber hinaus könnten die folgenden mündlichen und gegenständlichen Mittel analysiert werden: der Werberuf, die Werberede und das Werbegespräch, die Handelspackung, der Verkaufs- und Schaukasten, das Schaufenster und der Schautisch sowie das Werbegeschenk (vgl. u. a. Lill 1990, 261–269), das Werbebild und die Werbemarke, auf die allerdings im Rahmen dieses kurzen Beitrags nicht eingegangen werden kann. Besonders schwierig ist die Quellenlage natürlich vor allem bei den mündlichen Formen Werberuf, Werberede und Werbegespräch. Es finden sich hierzu beispielsweise in den Medizinalakten des Frankfurter Stadtarchivs Aufzeichnungen aus dem 17. und 18. Jahrhundert (vgl. Zimmermann 1974, 55–60).
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Abb. 1: Arzneimittelprivileg aus dem Jahr 1729
Im Folgenden werden die in unserem Zusammenhang relevanten Werbemittel (3.1.– 3.8.), unter Berücksichtigung weiterer Analysemöglichkeiten, exemplarisch kurz vorgestellt.
3.1 Der Patentbrief Wenngleich selbstverständlich weder die Entstehung noch die Gestaltung der Arzneimittelprivilegien primär einem Werbezweck diente, so wurden sie jedoch „in ihrem werblichen Einsatz und in ihrer Werbewirkung wohl von keinem anderen graphischen Mittel des 16. bis 18. Jahrhunderts übertroffen“ (ebd. 62). Bereits zu Anfang des 16. Jahrhunderts ist der Einsatz der Privilegien als „gleichzeitiges Mittel der Legitimation und werblichen Beeinflussung“ belegt (ebd., 63). Ihre bewusste Platzierung an Marktständen, auf Verkaufstischen, in Ordinations- und Verkaufsräumen weist auf ihre große Bedeutung als Werbemittel hin. Die Kunden waren
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„in der Lage sich [. . . ] vom Inhalt und den häufig in Narratio und Arenga niedergelegten Qualitätseigenschaften des Werbers und betreffenden Arzneimittels zu überzeugen“ (ebd., 65).
3.2 Der Werbezettel Im Gegensatz zu den eher indirekten Werbefunktionen der Arzneimittelprivilegien dienten die Werbezettel ausschließlich der Information und Beeinflussung der Konsumenten (ebd.). Wenngleich diese Einblattdrucke „überwiegend das Charakteristikum typischer Flugblätter besaßen, differenzierten sie sich in der Arzneimittelwerbung [. . . ] schon früh nach [. . . ] Funktion und Handhabungsart“ (ebd., 66). In Deutschland war bis zu den 1920er Jahren eine Bewerbung von Arzneimitteln bis in den Beipackzettel hinein möglich und auch üblich. Heute ist Arzneimittelwerbung in Deutschland eine im Heilmittelwerbegesetz geregelte Werbung, wobei zwei Kategorien unterschieden werden: Fachwerbung für verschreibungspflichtige Medikamente, die nur gegenüber einem Fachpublikum wie den Angehörigen der Heilberufe, die diese auch verschreiben dürfen, und solchen Personen, die legal damit handeln, beworben werden dürfen, und Publikumswerbung für die allgemeine Öffentlichkeit. Diese unterliegt bestimmten Beschränkungen; so darf beispielsweise generell nicht für Arzneimittel zur Beseitigung von Schlaflosigkeit oder psychischen Störungen sowie zur Beeinflussung der Stimmungslage geworben werden (vgl. u. a. Schuldt 1992).
3.2.1 Die Gebrauchsanweisung Die aus dem 16., 17. und vor allem 18. Jahrhundert erhalten gebliebenen Gebrauchsanweisungszettel „tragen fast ausschließlich die Namen seßhafter und reisender Händler, [. . . ] kaum solche von Apothekern. Ihr Text stand bis ins 18. Jahrhundert überwiegend unter Titeln“ (Zimmermann 197, 66) wie „Krafft, Tugend und Würckung“, hier in einer Gebrauchsanweisung für Skorpion-Öl aus dem 17. Jahrhundert. Im 16. und 17. Jahrhundert unterschied sich der inhaltliche Aufbau der Wareninformationen „durch die Aneinanderreihung der empirisch gewonnenen Indikationsanzeigen mit gleichzeitiger Anwendungsvorschrift deutlich von den Werbezetteln des späten 17. und 18. Jahrhunderts“, die allmählich übersichtlicher wurden (ebd., 68 und 71). Die hier abgebildete Gebrauchsanweisung für Frankfurter Pillen aus dem 18. Jahrhundert ist insofern bemerkenswert, weil sie von fünf privilegierten Apothekern der Stadt gemeinsam konzipiert wurde.
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Abb. 2: Gebrauchsanweisung für Skorpion-Öl aus dem 17. Jahrhundert
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Abb. 3: Gebrauchsanweisung für Frankfurter Pillen aus dem 18. Jahrhundert
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„Art und Aufbau des Textes machen deutlich, daß die Funktion der Gebrauchsanweisungen eine erheblich größere war als heute“, was sich „nicht nur in ihrer Abgabe als Informationsblatt in unmittelbarer Verbindung mit dem Arzneimittelkauf“ zeigte, „sondern auch im Einsatz als Handzettel zur Angebots- und Qualitätsorientierung für den potentiellen Abnehmer“ (ebd., 71; vgl. auch Lill 1990, 137–139).
3.2.2 Der Ankündigungszettel Die Ankündigungszettel, ebenfalls Einblattdrucke, waren stärker als die Gebrauchsanweisungen auf Markterschließung ausgerichtet. Sie dienten ursprünglich „ausschließlich der gleichzeitigen Ankündigung von Person und Ware des reisenden Arztes, Heilkundigen oder Arzneimittelhändlers“ (Zimmermann 1974, 75). Im 18. Jahrhundert griffen „zunehmend auch seßhafte, auf Marktfestigung und -erweiterung bedachte Ärzte, Produzenten und Kommissionshändler auf ihn zurück“ (ebd., 77).
3.3 Die Werbeschrift Seit dem 16. Jahrhundert sind Werbeschriften nachweisbar. „Sie sind als konsequente Weiterentwicklung der vorgenannten Werbemittel anzusehen, wobei der Werber [. . . ] mehr Platz beanspruchte [. . . ].“ (ebd., 82) Die Werbeschriften sind „nichts anderes als zu zwei-, drei-, sechs- oder mehrblättrigen Arzneimittel- bzw. Dienstleistungsprospekten [erweiterte] Gebrauchsanweisungen und Ankündigungszettel“ Jedoch lassen die Konzeption ihres Inhalts und auch die graphische Gestaltung meist „eine größere Sorgfalt erkennen“ (ebd.).
3.4 Der Arzneimittelkatalog Arzneimittelkataloge entstanden vor allem in Folge „des sich seit Beginn des 18. Jahrhunderts stark erweiternden Kommissionsgeschäft[s]“. Die städtischen Händler setzten diese Werbemittel besonders ein, „um mit der Anzeige des Gesamtangebots der Konkurrenz der Apotheker wirksam begegnen zu können“ (ebd., 87; vgl. auch Lill 1990, 332).
3.5 Die Preisliste Wenngleich Arzneimittelkataloge häufig „auch die Funktion der preislichen Information des Konsumenten übernahm[en]“, wurden von den Kommissionshändlern „aus Rentabilitätsgründen [. . . ] auch einfache Preislistenzettel, sog. „Preis-Courante“, [. . . ]
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zusammen mit den Gebrauchsanweisungen gratis“ verteilt. Auf der Vorderseite wurde auf zahlreiche andere Waren, „mit denen zusammen der Arzneimittelverkauf [. . . ] betrieben wurde, hingewiesen“ (Zimmermann 1974, 89; vgl. Lill 1990, 330–335).
3.6 Das Werbebuch In weiten Teilen ist die Geschichte des Werbebuches für Arzneimittel „identisch mit der des medizinischen Volksbuches, da es unmittelbar aus diesem“ hervorgegangen ist (Zimmermann 1994, 89). Bereits „früh heben sich aus der Reihe ausschließlich aus ärztlich-humanitären Motiven [. . . ] konzipierter Schriften zwei Buchtypen heraus, denen primär absatzwirtschaftliche Überlegungen zugrunde lagen“. Einerseits „der ein einzelnes Arzneimittel in den Mittelpunkt stellende“ Typ (ebd.), und andererseits „Bücher, die ein ganzes Arsenal selbstproduzierter Medikamente anbieten“ (ebd., 92).
3.7 Die Arzneimittelanzeige Im Inserat entwickelte sich aus „der Idee, in den frühen Zeitungen nicht nur Verbreitungsorgane für [beispielsweise] politische und literarische Informationen zu sehen, sondern aus ihnen gleichzeitig [. . . ] weitreichende Träger für wirtschaftswerbliche Aussagen zu machen“, rasch „eine [. . . ] Ausdrucksform, die für die Arzneimittelwirtschaft“ bereits zu einem frühen Zeitpunkt von großer Bedeutung war (ebd., 93; vgl. auch Lill 1990, 148–241). Wenngleich es kaum möglich ist, genau zu sagen, „wann erstmalig Bekanntmachungen von Arzneimitteln in deutschen Zeitungen erschienen sind“, so lassen sich auf jeden Fall bereits Ende des 17. Jahrhunderts Anzeigen für Medikamente finden (Zimmermann 1974, 95). Zu den Inserenten gehörten einerseits reisende Ärzte und Händler, „deren Anzeigen kurz vor ihrer Ankunft oder während ihres Aufenthaltes [. . . ] Ankündigungscharakter ähnlich den Handzetteln und Plakaten trugen“, und andererseits „auswärtige Arzneimittelproduzenten und deren ortsansässige Kommissionshändler“ (ebd., 98). Darüber hinaus gab es „überwiegend im Versandhandel tätige Inserenten, deren Zahl seit der Mitte des 18. Jahrhunderts“ stieg (ebd., 100). In der hier abgebildeten Frankfurter „Kayserlichen Reichs-Ober-Post-Amts-Zeitung“ bestanden „schon im ersten Jahrgang [. . . ] ein Viertel“ der gesamten Annoncen aus Arzneimittelinseraten (ebd.).
3.8 Der Werbebrief Die individuelle Form der Ansprache „im handschriftlichen Werbebrief, wie sie von jeher im Großhandel benutzt worden war, wurde zwar“ recht bald quantitativ von den
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Abb. 4: Anzeigenseite aus der Frankfurter „Kayserlichen Reichs-Ober-Post-Amts-Zeitung“, 11. März 1754
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„gedruckten Werbemitteln [. . . ] weitgehend in den Hintergrund gedrängt, doch kam ihr vor allem bei der Erschließung von Absatzmärkten“ nach wie vor „größere Bedeutung zu“ (ebd., 102). Sie boten zum Teil bereits sehr genaue „Darlegungen über Art und Qualitätseigenschaften der einzelnen Präparate“ (ebd., 102 f.; vgl. auch Lill 1990, 312 f.).
4 Historische Werbung für Arznei und Medizin im 19. und frühen 20. Jahrhundert Im 19. und 20. Jahrhundert entwickelten sich verschiedene Formen der Werbung weiter: Preislisten von Arzneimitteln wurden verschickt, Lieferprogramme erschienen in Fachzeitschriften und Verkaufsanzeigen wurden veröffentlicht. Gegen 1860 versuchten die Pharmazeutischen Firmen die Qualität ihrer Erzeugnisse zu verbessern und sie auch in ihrer Werbung deutlich von den anderen abzuheben. Die verschiedenen Produkte wurden auf Ausstellungen gezeigt, wo Preismedaillen für pharmazeutische Eigenschaften verliehen wurden. Diese begehrten Medaillen zierten beim Gewinner in Folge Packungsetiketten und Briefköpfe, die dem Käufer der Packungen in Erinnerung blieb (vgl. Ulrich 2009, 38–41). Die amerikanische Arzneimittelwerbung war Deutschland in dieser Zeit weit voraus. Während im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts die deutschen Werbeanzeigen immer noch schlicht in schwarz-weiß gehalten waren, gab es in der amerikanischen Pharmawerbung bereits plakativen, bisweilen künstlerisch gestalteten Farbdruck (vgl. hierzu Ulrich 2009, 14). Erst allmählich gab es Veränderungen, wie z. B. in einer Anzeige für „Euchinin“ und „Eunatrol“, aus dem Jahr 1897, bei der durch die Schrägstellung der Produktnamen der Blick des potentiellen Käufers auf den Namen gelenkt wurde (ebd., 15). Viel mehr Kreativität wurde in das Aussehen der Medikamenten-Packungen gesetzt. Sie waren kunstvoll gestaltet, mit wechselnder Schrift für jedes Produkt, dekorativen Ornamenten und Platz für den Namen der jeweiligen Apotheke (vgl. Stafski 1963; Lill 1990, 103–125). Die Anzeigen blieben verhältnismäßig unbedeutend schlicht, aber das Erscheinungsbild der Arzneimittelpackung wurde farbig und aufwändig gestaltet und veränderte sich dann oft jahrzehntelang nicht mehr, denn die Erkennung sollte gesichert bleiben (vgl. Ulrich 2009, 209). Im 19. Jahrhundert gab es noch keine gesetzlichen Bestimmungen und Regelungen, was das Aussehen und den Inhalt anbelangte. Man blieb bei der Veröffentlichung der Preislisten und nur zögerlich änderte sich die Arzneimittelwerbung im 19. Jahrhundert. Ausschlaggebend für die Wandlung war das Auftauchen von Markenprodukten und das Medikament wurde zum Werbegegenstand. Somit gab es differenzierte Anzeigenserien und vermehrt wurde seither auf die eingetragenen Schutzmarken ge-
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Abb. 5: Anzeige für Euchinin aus der „Süddeutschen Apotheker-Zeitung“, 1897
achtet (vgl. Lill 1990, 5–35), wie z. B. der „Pfeil“, und geworben wurde mit dem aufgedruckten „Man achte auf die eingetragene Schutzmarke“ (Ulrich 2009, 20) Jede pharmazeutische Spezialität musste einen eigenen Produktnamen besitzen, der sie von anderen Waren unterschied. Durch das Warenzeichengesetz wurden Name und Wortbild von Arzneimitteln vor unbefugter Nachahmung geschützt (vgl. Lill 1990, 63–89). Doch auch im Zeitungswesen kam es zu Veränderungen. 1848 wurde die Pressefreiheit eingeleitet, aber erst sechsundzwanzig Jahre später wurde sie verwirklicht und der Staat musste die Kontrolle über die Presse abgeben. Neue Zeitungen entstanden und mit ihnen neue Möglichkeiten pharmazeutische Produkte zu bewerben (vgl. u. a. Wilke 1984). Seit Ende des 19. Jahrhunderts begannen sich in Deutschland Werbemethoden durchzusetzen, die bis dahin nur in Amerika bekannt waren. „Sandwichmänner“ zogen gegen Bezahlung mit Papptafeln oder als wandelnde Plakatsäule für bekannte Handelshäuser durch die Stadt, weitere Werbemöglichkeit und -fläche bot das Aufkommen von Straßenbahnen, Bussen und U-Bahnen, wo auch „rollend“ geworben werden konnte (vgl. u. a. Ulrich 2009, 24). Seit 1924 gab es Radiowerbung über den „Funkreklamedienst“, doch durch die kurze Sendezeit mussten auch die Werbeslogans gekürzt werden und gängig wurden Werbezweizeiler, die einen hohen Widererkennungswert beim Konsumenten versprachen (vgl. u. a. Dussel 2010). Große Verbreitung ihres Produktes gelang auf diesem Weg der Vertriebsgesellschaft von Bullrich-Salz mit folgendem Slogan: „Ja schon der Jäger aus Kurpfalz nahm oft und gerne „Bullrich“-Salz“ (zit. nach Ulrich 2009, 24). Pharmazeutische Firmen wurden immer mehr zu Konkurrenten und konnten nur überleben, wenn ihre Produktpalette umfangreicher als die der anderen war. Dies setzte Werbemaßnahmen voraus und Betriebe, die groß genug waren, leisteten sich ei-
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Abb. 6: Anzeige für Pyoktanin aus der „Pharmazeutischen Zeitung“, 1890
ne „Propaganda-Abteilung“, die die pharmazeutischen Waren ins rechte Licht setzen sollten. Prospekte und Broschüren wurden gedruckt und an Ärzte und Fachzeitschriften verschickt. Apotheker erhielten Plakate und Blechschilder um potentielle Kundschaft auf neue Medikamente aufmerksam zu machen (vgl. u. a. Hölscher 1965). Werbung für rezeptfreie Präparate mehrten sich in den Zeitschriften, Marktanteile konnten erworben werden und Juristen standen vor einem neuen Problem: Plagiate der Pharmazie (vgl. u. a. Lill 1990, 90–102; Obermair 2004; Ulrich 2009, 128–132). Zu Beginn des 20. Jahrhundert kam das Werbeplakat erfolgreich von Frankreich nach Deutschland und auch Werbeagenturen, Plakatanschlaginstitute oder Anzeigenexpeditionen etablierten sich und beschäftigten sich nun professionell mit den Formen der Werbung. Künstlerisch gestaltete Bilder und Zeichnungen sowie die Verwendung von Superlativen verdrängten die bis dahin eher biederen pharmazeutischen Texte, die zu knappen Produktinformationen schrumpften (vgl. u. a. MüllerBrockmann 2004). Im Krieg wurden die Verpackungen wegen Materialknappheit immer kleiner, doch die Werbegestaltung zunehmend heroisch gehalten, man wollte bis zum Schluss an den Sieg glauben, wobei das bestverkaufte Mittel im Ersten Weltkrieg „Lausofan“ gegen Ungeziefer war und an die Front geliefert wurde. In den Nachkriegsjahren ging das Anzeigengeschäft für pharmazeutische Produkte in den Zeitschriften zurück, und statt neuer Gestaltungstrends tauchten in den Arzneimittelanzeigen Themen auf, die mehr der Information als der Werbung dienten. Das Packungsbild war der Blickfang: zunächst naturgetreu oder als plaka-
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tive Schwarz-Weiß Zeichnung, gegen Ende der zwanziger Jahre als Fotographie. Nur in den seltensten Fällen wurde die Packung von vorne abgebildet, beliebt war eine Schrägstellung der Packung oder das Zeigen einer geöffneten Packung um einen Blick auf den Inhalt zu ermöglichen. Der Widererkennungswert stand im Mittelpunkt, war die Packung schön und praktisch gehalten, eignete sie sich besser für die Werbung als die tatsächlichen Eigenschaften des Produkts. Ab 1924 gingen die Arzneimittelhersteller dazu über, aufwendig gestaltete Werbeprospekte drucken zu lassen und diese den medizinischen Fachzeitschriften beizulegen um größere Aufmerksamkeit auf ihr Produkt zu lenken.
5 Aufgaben und Perspektiven für die Forschung Folgende Bereiche sollten bei der Untersuchung medizinischer Sprache in historischen Werbeanzeigen in einem größeren Forschungsprojekt berücksichtigt werden: – Die Auswahl und Zusammenstellung eines repräsentativen Korpus: Erstellung eines Gesamtkataloges aller wesentlichen Digitalisate und Digitalisierungsprojekte der relevanten Disziplinen. Eine Zusammenstellung und Koordinierung der Ressourcen. – Die Wahl der Untersuchungsmethoden und -kriterien: Festlegung eindeutiger Kriterien für vergleichende und vergleichbare Analysen in einem größeren Zusammenhang, damit nicht weiterhin „Äpfel mit Birnen“ verglichen werden. – Die methodischen Probleme der Interpretation: Ausführliche Recherche im Hinblick auf den jeweiligen soziokulturellen Hintergrund.
Literatur Achner, Hugo (1932): Die Werbung in der Pharmacie. [Zugl.: München, Univ. Diss.]. München. Adam-Wintjen, Christiane (1998): Werbung im Jahr 1947. Zur Sprache der Anzeigen in Zeitschriften der Nachkriegszeit. (Reihe Germanistische Linguistik 197). Tübingen. Bechstein, Gabriele (1987): Automobilwerbung von 1890 bis 1935. Versuch einer semiotischen Analyse früher Automobilannoncen. (Bochumer Studien zur Publizistik- und Kommunikationswissenschaft 51). Bochum. Behrens, Karl Christian (1975): Begrifflich-systematische Grundlagen der Werbung – Erscheinungsformen der Werbung. In: Karl Christian Behrens (Hrsg.): Handbuch der Werbung mit programmierten Fragen und praktischen Beispielen von Werbefeldzügen. 2. Aufl. Wiesbaden, 3–10. Bendel, Sylvia (1998): Werbeanzeigen von 1622–1798. Entstehung und Entwicklung einer Textsorte. (Reihe Germanistische Linguistik 193). Tübingen. Böning, Holger (1994): Zeitung, Zeitschrift, Intelligenzblatt. Die Entwicklung der periodischen Presse im Zeitalter der Aufklärung. In: Klaus Beyrer, Martin Dallmeier (Hrsg.): Als die Post noch Zeitung machte. Eine Pressegeschichte, 93–103.
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Abbildungsverzeichnis (Nachweise) Abb. 1: Arzneimittelprivileg aus dem Jahr 1729 (Bayrisches Staatsarchiv Würzburg, Mainzer Polizeiakten Nr. 1200 I). Abb. 2: Gebrauchsanweisung für Skorpion-Öl aus dem 17. Jahrhundert (Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, KK Kapsel 1198a HB 13261). Abb. 3: Gebrauchsanweisung für Frankfurter Pillen aus dem 18. Jahrhundert (Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, KK Kapsel 1198a HB 21868). Abb. 4: Anzeigenseite aus der Frankfurter „Kayserlichen Reichs-Ober-Post-Amts-Zeitung“, 11. März 1754 (Universitätsbibliothek Frankfurt am Main; vgl.: http://www.ub.unifrankfurt.de/wertvoll/ffmztg3.html). Abb. 5: Anzeige für Euchinin aus der Süddeutschen Apotheker-Zeitung, 1897 (Digital. Ausg.: Universitätsbibliothek Braunschweig; vgl: http://opac.lbsbraunschweig.gbv.de/FAM?PPN=838119220). Abb. 6: Anzeige für Pyoktanin aus der Pharmazeutischen Zeitung, 1890 (Digital. Ausg.: Universitätsbibliothek Braunschweig; vgl:http://opac.lbsbraunschweig.gbv.de/DB=1/SET=2/TTL=1/PPN?PPN=63311507X).
2 Alle Internetquellen zuletzt eingesehen am 10.11.2015.
Thomas Gloning
Ein digitales Wörterbuch-System zur älteren Medizin. Textkorpus, Darstellungsformen, Kollaborationsformate 1 Ausgangspunkte und Aufgaben Gegenstand und Ziel der Heidelberger Tagung im Jahr 2014 war unter anderem die Frage, wie ein medizinhistorisches Wörterbuch zu den Texten des Mittelalters und der Neuzeit aussehen könnte. Im Abstract zur Tagung war zu lesen: . . . eine Bestandsaufnahme unseres Wissens über mittelalterliche und neuzeitliche medizinische Texte und ihre Fachtermini und deren Bedeutungen steht aber bis heute noch aus. Zu den zentralen Voraussetzungen für eine solche Bestandsaufnahme zählen ein repräsentatives Textcorpus und ein medizinhistorisches Wörterbuch, in dem die volkssprachigen und ggf. fremdsprachigen Fachtermini dieser Texte erklärt werden. Im Rahmen der Fachtagung sollen geeignete Texte für dieses Textcorpus diskutiert und ebenso Überlegungen zur Schaffung eines neuen medizinhistorischen Wörterbuchs angestellt werden. (Herv. TG)
Ich möchte in meinem Beitrag vor allem zwei Ideen dieser Ausschreibung aufgreifen und vertiefen, zum einen die enge Verbindung von Textkorpus und „Wörterbuch“ (bzw. lexikalisch-lexikologischer Dokumentation in einem weiteren Sinne), zum anderen die Frage, wie man eine umfassendere Wissensorganisation umsetzen könnte. Ich werde hierfür die Umrisse eines integrierten digitalen Informationssystems zur Geschichte des älteren Sprachgebrauchs der Medizin vorstellen, in dem drei wesentliche Komponenten aufeinander bezogen sind: 1. ein historisches Textkorpus, 2. eine lexikalisch-lexikologische Dokumentationskomponente, 3. eine Wissenskomponente, in der in strukturierter Form Teilthemen der Sprachgeschichte der Medizin und einer Geschichte medizinischer Auffassungen und Ideen dargestellt werden. Die Texte und Textteile des Korpus, die Elemente der lexikalischen Komponente und die Einheiten der Wissenskomponente sollen dabei mehrdimensional miteinander verknüpft und aufeinander bezogen werden, so dass ein solches Informationssystem für ganz unterschiedliche Fragestellungen und mit unterschiedlichen Zugriffsstrukturen genutzt werden kann. Wenn man ein digitales Informationssystem anstrebt, dann stellen sich Anschlussfragen: Wird es auch ein gedrucktes Wörterbuch im klassischen Sinne geben?
DOI 10.1515/9783110524758-018
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Wie sollen die Bearbeitungsweisen aussehen (z. B. alphabetisch, entlang von Texten oder nach medizinischen Teilgebieten)? Welche Nutzungsweisen sind vorgesehen, wer sind die Zielgruppen? Hat ein solches System überhaupt einen Vorteil vor den gedruckten Wörterbüchern? Hat es auch Nachteile? Wer soll oder kann ein solches Informationsangebot erstellen? Was wird es kosten? Wie lange wird es dauern? Aber auch wichtige konzeptionelle Fragen stellen sich, z. B. die Frage nach dem Format von Bedeutungserklärungen für historisch-fachliche Verwendungsweisen von Wörtern und Wendungen im Bereich der Medizin und auch die Frage nach sinnvollen Kriterien der Korpusgestaltung (Größe, Balancierung im Hinblick auf zeitliche Anteile, Texttypen, medizinische Teildisziplinen usw.). Zur Erläuterung der drei Komponenten möchte ich zunächst ein Textbeispiel aus dem Kräuterbuch von Leonhart Fuchs besprechen, das 1543 in Basel erschienen ist, einen Ausschnitt aus der Pflanzenmonographie zum Fenchel, in dem es unter anderem um die gesundheitsbezogenen Eigenschaften des Fenchels geht. (Der gesamte digitale Text des Kräuterbuchs wäre Teil des Textkorpus und damit ein Teil der ersten Komponente.) (...) Die natur vnd complexion. e Fench kulet vnd trücknet auß/ fürnemlich so es von aussen würt übergelegt. Die krafft vnd würckung. Fench mag zur speiß/ brot/ vnd artzney genützt werden wie Hirß/ doch neret er weniger dann der o Hirß/ zeücht auch minder zusamen. Derhalben gibt der Fench ein geringe narung/ vnd trücknet auß/ stellt auch ettwas den bauchfluß/ wie der Hirß. Das brot so auß Fench gemacht würdt/ ist e e einer geringen narung/ vnnd kulet/ ist dürr/ vnnd laßt sich zerreiben wie sand oder aschen/ dann e es gar kein feyßte noch zahe hat/ darumb es billich den bauch außtrücknet. Jn summa/ der Fench o weicht in allen dingen dem Hirß/ ist auch vnlieblicher zuessen/ hartdewiger/ neeret weniger. Fench o in wein gesotten vnnd getruncken/ ist nützlich der roten rhur. Er stellt auch den bauchfluß/ in geyßmilch gesotten/ vnd des tags zwey mal getruncken. Man mag jhn auch brauchen/ wie den o Hirß/ zuden secklin die man warm überlegt/ zur stellung des bauchs flüß.
Zur Komponente II gehören alle Informationen, die sich auf den Wortgebrauch und Fragen der Wortschatzorganisation beziehen. In unserem Textbeispiel sind zunächst Wörter und Wendungen zu erkennen, die man in einem Wörterbuch bzw. in einem Digitalen Lexikalischen System (vgl. Klein 2004) semantisch beschreiben und darüber hinaus im Hinblick auf ihre fachliche Stellung kommentieren müsste. Dazu gehören z. B. Verben wie kühlen oder austrocknen, Nomina und ggf. ihre syntaktischen Gegenstücke wie Bauchfluss/des bauchs flüß, sodann aber auch eine Wendung wie von außen, die sich auf einen Aspekt der Anwendung eines Heilmittels bezieht, und auch die unscheinbare Vergleichspartikel wie, die in Pflanzenmonographien häufig gebraucht wird, um vergleichende Darstellungen zu organisieren: Eine Pflanze wird charakterisiert, indem man Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu anderen Pflanzen und ihren Eigenschaften bzw. Anwendungsmöglichkeiten herausstellt. Auch das Verb weichen im Sinne von ‚unterlegen sein‘ dient im Beispiel der vergleichenden Bewertung („der Fench weicht in allen dingen dem Hirß“). In der Konstruktion X weicht Y dient es da-
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zu, die Pflanze X (Fenchel) im Vergleich mit der Pflanze Y (Hirse) als weniger leistungsfähig im Hinblick auf das medizinisch-heilkundliche Potenzial zu charakterisieren. Man kann an diesen Beispielen (wie, weichen) schon sehen, inwiefern der spezifisch medizinisch-heilkundliche Wortschatz um die lexikalischen Einheiten, die im Hinblick auf typische kommunikative Teilfunktionen in medizinischen Texten wichtig sind, erweitert werden muss. Über die semantische Beschreibung der einzelnen fachlichen und textfunktionalen Ausdrücke hinaus geht es auch um die Erschließung von Wortschatzzusammenhängen. Dazu gehören zunächst die Zuordnung von verwandten Ausdrücken bzw. Verwendungsweisen von Ausdrücken zu Systemstellen wie zum Beispiel ‚Bezeichnungen für die medizinisch-physiologische Wirkung von Pflanzen‘, in unserem Beispiel ließen sich z. B. nähren, zusammenziehen, austrocknen, stellen/Stellung, kühlen, nützlich sein (mit Dativ) dieser Systemstelle zuordnen. Weitere Wortschatzzusammenhänge beruhen auf Kriterien wie der Herkunft (z. B. Lateinisch, Griechisch, Arabisch), der Wortbildung (Adjektivkomposita wie hartdäuig ‚schwer verdaulich‘), der Wortart, der thematischen Spezifik (z. B. Chirurgie) und auf weiteren Charakterisierungsparametern, die es im Vorfeld zu systematisieren gilt. Wenn man solche Charakterisierungsdimensionen in den Einträgen eines Digitalen Lexikalischen Systems in expliziter Weise markiert, dann sind sie auch im Rahmen von einfachen oder komplexen Anfragen ansprechbar, z. B.: „Welche Bezeichnungen für medizinisch-physiologische Wirkungen sind im 16. Jahrhundert belegt, die aus dem Lateinischen entlehnt sind?“. Oder: „Welche Verben für medizinische Applikationsweisen sind im Kräuterbuch von Fuchs (1543) belegt?“ Auf die letzte Frage müssten Verben wie trinken und (warm) überlegen, wie sie in unserem Beispiel vorkommen, ausgeworfen werden. In der wissensbasierten dritten Komponente werden alle Arten von Informationen dargestellt, die sich auf medizinische Denksysteme und auf spezifisch sprachlichtextuelle Aspekte und Praktiken im Bereich der Medizin in ihren jeweiligen historischen Ausprägungen beziehen lassen. Im Hinblick auf unseren Quellentext kann man in der Wissenskomponente also z. B. Informationen erwarten zum Texttyp bzw. zum Genre Kräuterbuch, zu seinen typischen Bestandteilen (Pflanzenmonographie) und den Realisierungsspielräumen der Textorganisation und der textuellen Komponenten (z. B. über die Abschnitte zu den medizinischen Indikationen von Pflanzen im Rahmen der Beschreibung des Wirkungspotenzials). Aber auch der Autor, das Erscheinungsjahr, die raum-zeitliche Verortung, ggf. auch eine textgeschichtliche Einordnung (etwa im Hinblick auf lateinische Paralleltexte, auf Vorlagen) usw. sind Informationspositionen, die in einer Wissenskomponente verfügbar sein sollten. Wichtige Wissenseinheiten, die hier zu dokumentieren sind, entlasten auch die Bedeutungsangaben in der Wortgebrauchskomponente, denn sie stellen medizinische Auffassungen und Ideen im Zusammenhang und in ihren historischen Ausprägungen dar, die der ideologisch-fachliche Hintergrund für die spezifisch medizinischen Verwendungsweisen der Wörter und Wendungen sind. Der Textauszug aus dem Kräuterbuch von Leonhart Fuchs ist z. B. in vielfacher Hinsicht geprägt von den
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Denkweisen und der Terminologie der Vier-Säfte-Lehre. Wenn man beispielsweise die Bedeutung von zusammenziehen oder austrocknen im Zusammenhang von Texten, die von der Ideenwelt der Vier-Säfte-Lehre geprägt sind, beschreiben will, dann ist es gut, wenn man dabei nicht auf eine traditionelle synonymische Angabe oder eine Bedeutungsparaphrase angewiesen ist. In einem früheren Beitrag habe ich Überlegungen angestellt, wie sich traditionelle Formen der Bedeutungserläuterung, die Kommentierung von Wissenshintergründen und Vorschläge für Übersetzungsäquivalente sinnvoll kombinieren lassen (Gloning 2005; vgl. auch Gloning 2011). Überlegungen dieser Art sind aber fortzuführen, zu erweitern und auch an die medizinhistorischen Diskussionen etwa zu Problemen der retrospektiven Diagnose anzubinden sowie auf andere Formen der Thematisierung der historischen Dynamik in fachlichen Gebieten und Denksystemen zu beziehen. Meinte Fuchs mit ‚nähren‘ dasselbe wie wir? Sicherlich nicht. Aber wie dokumentiert man diese Differenz in ihrem historischen Zusammenhang? Die Informationen in der Wissenskomponente müssen in vielen Fällen nicht ganz neu erarbeitet werden, im Verfasserlexikon, im Lexikon des Mittelalters, in der Enzyklopädie Medizingeschichte und natürlich auch in der medizingeschichtlichen Spezialliteratur sind viele Wissenseinheiten bereits in strukturierter und auch komprimierter Form dargestellt, diese Bezüge müssen in einem digitalen Informationssystem aber hergestellt und nachvollziehbar referenziert werden. In den weiteren Abschnitten möchte ich folgende Fragen vertiefen: Wie könnte ein solches integriertes digitales Informationssystem zum Wortgebrauch, zur Wortschatzorganisation und zur Sprach- und Kommunikationsgeschichte der Medizin aussehen? Welche konzeptionellen Aspekte sind vordringlich? Welche Formen der Zusammenarbeit, welche Verfahren ließen sich dafür anwenden? Wie ließe sich ein solches Projekt nachhaltig und überindividuell an eine dauerhafte Infrastruktur (z. B. an ein Zentrum des CLARIN-D-Verbundes) anbinden? Abschließend werde ich einige offene Fragen formulieren.
2 Ein integriertes digitales Informationssystem Das Ziel eines hier in Umrissen entworfenen Informationssystems ist es, wie schon angedeutet, unterschiedliche Aspekte und Arten des Wissens über den älteren medizinischen Sprachgebrauch, seiner Überlieferung und seiner Zusammenhänge mit der Ideen- und Fachgeschichte der Medizin systematisch und zusammenhängend zu dokumentieren. Um diese recht weitreichende Zielsetzung umzusetzen, sehen wir drei untereinander vernetzte Komponenten vor, die intern weiter untergliedert sind: 1. Textkorpus. Das digitale Textkorpus enthält Transkriptionen von medizinischen Werken/Texten, die nach den Prinzipien der Text Encoding Initiative (TEI) in einer standardkonformen Weise digital aufbereitet wurden und die idealerweise mit
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verfügbaren Bilddigitalisaten von Handschriften, alten Drucken, ggf. auch von verlässlichen Editionen verknüpft sind. Zum Korpusaufbau gehört auch die Erstellung von zuverlässigen Metadaten zu den einzelnen Texten. Hierbei sollen auch Aspekte der fachsystematischen (z. B. Textsorte, Teilbereich der Medizin, umrahmendes Denksystem) und sprachgeschichtlichen (Entstehungsort, Datierung, Informationen zum Autor) Variation erhoben werden. Wortgebrauch und Wortschatzorganisation. Die Komponente der lexikalischlexikologischen Dokumentation enthält Beschreibungen der medizinisch geprägten Verwendungsweisen von Wörtern, ihre Gebrauchs- und Bezeugungsgeschichte, in der zusätzlich auch textfunktionale Einheiten, die für medizinische Texte wichtig sind, erfasst und dokumentiert sind. In dieser Komponente werden auch Wortschatzzusammenhänge erfasst und für die Abfrage markiert, die oben anhand des Textbeispiels ansatzweise eingeführt wurden. Wissensbasis. Die Komponente ‚Wissensbasis‘ umfasst in strukturierter und komprimierter Form Hintergrundwissen, das zum Verständnis des Wortgebrauchs, seiner Entwicklung und seiner fachlichen Prägung nötig ist. Solche Wissensbestände beziehen sich vor allem auf drei Bereiche: (a) Wissen über die einzelnen medizinischen Werke bzw. Texte, ihre Rolle und ihre Einordnung in der Medizin, ihre Verfasser und ihre fachliche Stellung in der Medizin, ihren Inhalt und seine Strukturierung, ihre Überlieferung usw. Man kann sich hierfür in weiten Teilen sicher auf das stützen, was z. B. im Verfasserlexikon, im Handschriftencensus, in den Inkunabelkatalogen und VD-Verzeichnissen, in älteren Darstellungen wie der Bücherkunde von Choulant (1843) und der Spezialliteratur aufgearbeitet ist. (b) Zur Dokumentation des Wissens über die Sprach-, Text- und Kommunikationsgeschichte der Medizin gehören unter anderem Informationen über medizinische Darstellungsformen (Textsorten), ihre typischen Strukturen und ihre historische Entwicklung, aber auch Überblicksdarstellungen zu Prinzipien des Terminologie-Aufbaus und der Terminologie-Entwicklung in der Geschichte der Medizin. (c) Besonders wichtig ist schließlich das Wissen über ältere medizinische Auffassungen mit ihren Systemstellen, auf die in den Texten Bezug genommen wird. Hierzu gehören Denksysteme wie die Vier-Säfte-Lehre mit ihren besonderen Grundannahmen und Grundbegriffen, die ein systematisch organisiertes Lehrgebäude darstellt, das sich teilweise auch historisch weiterentwickelt hat. Wie bereits erwähnt, kann diese Komponente die Bedeutungsbeschreibungen in den Wortartikeln entlasten, sie unterstützt und ermöglicht sodann aber auch sehr wesentlich die ideengeschichtliche und historischfachsystematische Verankerung der einzelnen Verwendungsweisen.
Wenn man mit einem Komponentensystem dieser Art arbeitet, dann ist eine wesentliche Frage die Planung von Vernetzungs- und damit auch von Zugriffsstrukturen.
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Abb. 1: Links: http://www.hispanicseminary.org/t&c/med/gor/framconc-sp.htm (12.8.2016) Rechts: Diccionario Español de textos médicos antiguos I (1996) Spalte 726b.
Betrachten wir hierzu ein gedrucktes medizingeschichtliches Wörterbuch zum Spanischen, den Diccionario Español de textos médicos antiguos (Herrera 1996), dessen Textkorpus im Rahmen der Wörterbucherstellung digital erstellt und zunächst auf CD verfügbar gemacht wurde, heute ist das Korpus auf www.hispanicseminary.org verfügbar, das Wörterbuch gibt es, wenn ich recht sehe, nur in gedruckter Form. Nutzt man aber das gedruckte Wörterbuch und das Internet-Angebot nebeneinander, dann erkennt man leicht, wie eine bidirektionale Verknüpfung in einer digitalen Umgebung aussehen könnte. Der letzte Beleg im Wörterbuchartikel dokumentiert den Wortgebrauch aus einem Bernhard von Gordon-Text der mit folgender Quellenreferenz versehen ist: „GOR (1495) fol. 33r4“. Damit ist der Text und auch die Fundstelle eindeutig identifiziert, mit dieser Angabe lässt sich eine bidirektionale Verknüpfung etablieren: von der Textstelle entweder auf den gesamten Wörterbuchartikel oder besser (falls der Artikel eine komplexe Struktur hat) auf den Wörterbuch-Beleg selbst, dann kann ein Nutzer erkennen, welcher Verwendungsweise der Beleg zugeordnet wurde. Umgekehrt lässt sich die Quellensigle mit einer digitalen Sprungmarke hinterlegen, die in den Volltext auf Blatt 33r, Zeile 4 zielt. Verknüpfungen dieser Art sind heute in technischer Hinsicht mehr oder weniger trivial. Gleichwohl ist die Frage, wie man ein komplexeres System, wie ich es oben skizziert habe, konzipieren würde, nicht ganz trivial. Ich möchte hier nur in Grundzügen andeuten, welche Arten von Verknüpfungen, Bewegungswegen und Zugriffsweisen man vorsehen sollte.
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Abb. 2: Verknüpfungsmöglichkeiten zwischen den drei Komponenten
Die folgende Abbildung wird keinen Schönheitspreis gewinnen, sie soll zunächst nur thematische und systematische Verknüpfungsmöglichkeiten zwischen den hier farblich markierten Komponenten veranschaulichen, noch ganz unabhängig von der Frage, mit welchen modernen technischen Mitteln und nach welchen Prinzipen der Nutzerfreundlichkeit man entsprechende Möglichkeiten der Bewegung in einem Angebot später dann tatsächlich umsetzen wird. Im Bereich der digitalen Editorik und auch im Bereich digitaler Wörterbücher gibt es viele gute Vorbilder, die man für die Gestaltung einer modernen Nutzeroberfläche heranziehen kann. Wenn in der folgenden Abbildung Elemente mit derselben Farbe markiert sind, bedeutet dies, dass man vom einen Element zum anderen gelangen kann. Gehen wir von den Wortformen in der Volltext-Transkription aus, die grün markiert sind. Sie sind verknüpfbar mit dem jeweils zugehörigen Wortartikel des Lexikalischen Systems. Wie oben schon erläutert, ist es bei komplexen Artikeln angezeigt, auf eine bestimmte Verwendungsweise oder die im Wortartikel genannte Belegstelle zu verweisen, im Beispiel wäre das die Belegstellenangabe „(1473) Steinhöwel 6.12“, von der aus man dann zur dazugehörigen Bedeutungsbeschreibung gelangen würde. Diese Art von Verknüpfung sieht also Bezüge von einer Volltexttranskription zu einem Wörterbuchartikel bzw. seinen Teilen vor. Für den Verweis in umgekehrter Richtung, vom Wortartikel in die Volltexte, kann man einerseits die Belegstellenangaben interaktiv nutzen für eine Sprungverbindung in den Volltext. Wenn der Wörterbuchartikel nur eine Auswahl von Belegen vorsieht, kann man im Kopf des Wörterbuchartikels
282 | Thomas Gloning eine Schaltfläche vorsehen, die eine Keywords-in-Context-Konkordanz mit allen Belegen zum Stichwort aus dem Medizin-Korpus aufruft. Eine solche Funktion setzt allerdings eine Lemmatisierung der Quellentexte voraus, was im Hinblick auf die älteren Sprachstufen immer noch nicht trivial ist. Ein zweiter zentraler Verknüpfungsbereich ist der zwischen den Wortartikeln und der Wissenskomponente. Im Wortartikel zu „Lenz“ ist ein Verweis „Vgl. ML ‚Jahreszeiten“‘ angebracht. Damit kann verwiesen werden auf einen Textbaustein in der Wissenskomponente, der im Bereich ML = „Medizinische Lehren“ die Rolle der Jahreszeiten in medizinischen Denkweisen, z. B. der Vier-Säfte-Lehre, behandelt und die Bedeutungsbeschreibung im Wortartikel ergänzt und fachsystematisch vertieft. Markierungen wie „“ und „“ sind Beispiele für Markierungen, mit denen einzelne Verwendungsweisen einer Systemstelle in der historischen Fachsystematik der Medizin zugeordnet werden können, hier also der Humoralpathologie und der Lehre von den gesundheitlichen Aspekten der Jahreszeiten. Die türkise Farbe deutet digitale Verknüpfungen an, die in unserem Beispiel die Vier-Säfte-Lehre betreffen. Man sieht, dass neben der Markierung „“ auch das Wort „humoral“ in der Bedeutungsbeschreibung so markiert werden kann: Damit soll angedeutet werden, dass man vom Wort „humoral“ in der Bedeutungsbeschreibung zu „Lenz“ in den Textbestandteil zur Vier-Säfte-Lehre der Wissenskomponente springen kann. Viele Ausdrücke, die man in Bedeutungsbeschreibungen verwenden muss, sind selbst mit wissensgeschichtlichen Voraussetzungen versehen, die man nicht allgemein voraussetzen kann. Die Verbindung von Wortartikel-Teilen und Teilen der Wissenskomponente dient unter anderem dazu, solche Voraussetzungen zu sichern und die netzartige Struktur fachlicher Verwendungsweisen und ihrer wechselseitigen Bedingtheit zu rekonstruieren. In vergleichbarer Weise dienen Wörterbuch-Quellensiglen wie „(1473) Steinhöwel“ dazu, Elemente der Wissenskomponente zum Autor, seinem Pestbuch, der Tradition der Pestschriften, der medizinischen Denkweisen über die Pest und ihre Behandlung in einen Zusammenhang zu bringen und damit für Benutzer des Angebots auch nachverfolgbar zu machen. Ein solches mehrdimensional angelegtes Informationssystem soll es darüber hinaus erlauben, unterschiedliche Fragestellungen, Nutzungspfade und Anfragen zu verfolgen. Beispiele für solche unterschiedlichen Zugriffe, die von je eigenen Nutzerinteressen und ggf. spezifischen Forschungsfragen getrieben werden, sind unter anderem: – Was bedeutet das Wort influss im Pestbuch von Heinrich Steinhöwel? Welche zeitgenössische Denkfigur ist damit verbunden? – Welche lexikalischen Mittel lassen sich (zu einem Zeitpunkt, in einem Zeitraum) dem Denksystem der Vier-Säfte-Lehre zuordnen? – In welchen Texten und in welchen Zusammenhängen wird Plinius als Autorität zitiert? – Welche Wortbildungen sind aus Texten des 16. Jahrhunderts im Bereich der Anatomie zu belegen?
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Welche Wörter bzw. Verwendungsweisen sind fremdsprachiger Herkunft bzw. auf fremdsprachige Vorlagen zurückzuführen (z. B. influss, influentia)?
Die Möglichkeit, Anfragen dieser Art zu stellen, setzt voraus, dass die entsprechenden Informationspositionen eingerichtet, im Material markiert und für Abfragemöglichkeiten aufbereitet werden. Will man also z. B. Wortbildungstypen oder medizinische Bereiche wie die Anatomie abfragbar machen, dann muss man entsprechende Markierungen vorher im Datenbestand einpflegen, sei es automatisch, semi-automatisch oder händisch. Die hier vorgestellten Überlegungen zu einer netzwerkartigen Organisation von Informationsangeboten sollen zunächst die Notwendigkeit einer Integration von Textkorpus, lexikalisch-lexikologischer Befunde und medizin-, sprach- und ideengeschichtlichen Hintergrundinformationen stützen. Eine konkrete Umsetzung hinge natürlich auch von den gewählten Zielsetzungen, den Arbeitsverfahren, der Größenordnung und weiterer Faktoren ab.
3 Konzeptionelle Aspekte Im Hinblick auf eine korpusgestützte fachliche Dokumentation des Wortgebrauchs stellen sich eine Reihe von Anschlussfragen, vor allem zur Korpusgestaltung (3.1.), zur Nutzung bereits vorhandener Arbeiten zur Geschichte des medizinischen Wortschatzes (3.2.), zur Form der Bedeutungsbeschreibung und der weiterführenden Dokumentation fachlicher Gebrauchsaspekte (3.3.), zu Fragen der Repräsentation von Wortschatzzusammenhängen und ihrer historischen Entwicklung (3.4.), schließlich auch die Frage des Zusammenhangs von Sprachentwicklung und der Entwicklung fachlicher Ideen (3.5.).
3.1 Fragen der Korpusgestaltung und des Korpusaufbaus Wenn man zunächst keine Aussichten sieht, dass ein Wörterbuch zum historischen Sprachgebrauch der Medizin und ein dafür grundlegendes Textkorpus in einem großen, zentral finanzierten und geplanten Projekt bearbeitet wird, dann bleibt als Ausweg die Möglichkeit, ein medizingeschichtliches Textkorpus kollaborativ und schrittweise aufzubauen und auch die lexikalisch-lexikologische Aufarbeitung portionenweise und kollaborativ zu organisieren. Neben der Frage, wie unterschiedliche Versionen eines medizinsprachlichen Korpus aussehen könnten, bespreche ich deshalb auch Möglichkeiten, wie man ein solches Korpus kollaborativ aufbauen könnte. Die zentrale Korpus-Einheit für die älteren Zeiträume ist die digital verfügbare Volltexttranskription einer Handschrift, eines Drucks, ggf. auch der Textfassung ei-
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ner kritischen Edition, in der Neuzeit kommen dann mit zunehmender Bedeutung edierte Texte in Zeitschriftenbeiträgen hinzu. Wenn Satzdaten gedruckter Editionen vorliegen, kann man sie entweder direkt benutzen oder aber den Textbestand zurückführen auf die Handschrift bzw. den Druck, die bzw. der für die Edition benutzt wurde. Die Transkriptionen sind nach Möglichkeit synoptisch zu verbinden mit Bilddigitalisaten, wie dies etwa im Deutschen Textarchiv, aber auch im digitalen Angebot der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel umgesetzt wird. Zu den Abdeckungs- und Balancierungskriterien gehören insbesondere die zeitliche Abdeckung nach Jahrhunderten, Jahrhunderthälften oder Dekaden, aber auch ideologisch fundierte Zeitschnitte (z. B. „Romantische Medizin“) können in die Planung einbezogen werden. Sodann sollen die für einen Zeitraum zentralen Textsorten in ausgewogener Weise vertreten sein. Aber auch die einzelnen medizinischen Teilbereiche wie z. B. Anatomie, Chirurgie, Heilmittellehre, Kriegsmedizin, Frauenmedizin, Pestliteratur, Zellbiologie, Gesundheitsgesetzgebung, Prophylaxe usw. sind zu berücksichtigen. Ein ganz anderes Kriterium kann auch das Interesse von Texten oder Textbereichen für unterschiedliche alte oder neue Nutzergruppen (z. B. Lehrbücher) oder die Bedeutung für bestimmte wissenschaftliche Fragestellungen (z. B. Gesundheitspolitik der Städte in der Frühen Neuzeit) darstellen. Wenn man diese Kriterien versuchsweise auf den Zeitraum vom 13. bis zum 19. oder 20. Jahrhundert bezieht, beschleicht einen eine gewisse Beklemmung ob der Größe der zu bearbeitenden Datengrundlage. Fragen der Auswahl, der Priorisierung von Texten und Textbereichen, vor allem aber der Kollaboration und der Organisation von Teamarbeit können Wege zu einer praktikablen Lösung eröffnen. Betrachtet man zum Vergleich die erwähnte digitale Textsammlung zur älteren spanischen Medizingeschichte oder die von Irma Taavitsainen und ihrem Team erarbeitete Sammlung Medieval English Medical Texts (MEMT), dann wäre mit einem deutschsprachigen Gegenstück dieser Größe und Balancierung ein guter Anfang gemacht, der sich systematisch in unterschiedliche Zonen der neuzeitlichen Medizin erweitern ließe. Im Hinblick auf technisch-konzeptionelle Fragen sind inzwischen etablierte Standards und „Best Practices“ für historische Textkorpora vorhanden, die sich im Rahmen der TEI P5-Vorgaben bewegen. Für Texte der Neuzeit hat das Basisformat des Deutschen Textarchivs (DTA) inzwischen den Status eines Quasi-Standards. Man kann sich also daran orientieren und vor allem die dafür verfügbaren Werkzeuge (z. B. für die Lemmatisierung alter Texte) nutzen und ggf. für die medizinischen Texte weiterentwickeln. Die Anbindung eines fortschreitend ausbaubaren Textarchivs zum Sprachgebrauch der Medizin wäre beim Deutschen Textarchiv der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) und – besonders für die neueren Bestände – parallel dazu auch beim Institut für deutsche Sprache (IDS) in Mannheim gut aufgehoben. Beide Institutionen sind Infrastruktur-Zentren des CLARIN-D-Verbundes und damit auf Ziele wie Nachhaltigkeit und Interoperabilität der Datenhaltung verpflichtet.
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Ein erster Schritt auf dem Weg zu einem strukturierten Korpus ist es, zunächst die bereits verfügbaren Volltexte zu ermitteln, ggf. für das Projekt zu gewinnen und in eine standardisierte Form zu bringen. Hierfür kann man Einlieferungswege nutzen, die z. B. im CLARIN-Projekt erprobt wurden. Im Hinblick auf die zunehmende Leistungsbeurteilung von WissenschaftlerInnen ist ein angemessenes Belohnungssystem sehr wichtig. Digitale Texte bereitzustellen muss mit Formen der Anerkennung verbunden sein. Es muss also einerseits leicht sein, einen nützlichen digitalen Text einzuliefern, und es muss im akademischen Belohnungs- und Reputationssystem lukrativ sein. Die Bereitstellung von Korpustexten muss als Leistung dokumentiert werden und die Urheber zitierbar oder jedenfalls erkennbar sein. Elektronische Satzdaten von Editionen dürfen nicht ohne Weiteres den Verlagen geschenkt werden, man muss hier ggf. Moving-Wall-Lösungen aushandeln, die es erlauben, digitale Textdaten nach einer angemessenen Frist in die Korpora einzuspeisen. Wenn man die Idee der Referenzkorpora als Urstichprobe weiterführt, dann wäre es ein sinnvoller nächster Schritt, zunächst die verfügbaren historischen und gegenwartssprachlichen Korpora vor allem bei der BBAW und beim IDS mit medizinischen Texten anzureichern und mit Hilfe der Metadaten-Erschließung den Zugriff auf zeitlich und thematisch bestimmte Teilkorpora zu ermöglichen, die dann Grundlage für die lexikalisch-lexikologischen Arbeiten sein können. Das Deutsche Textarchiv, dessen zeitlicher Schwerpunkt die Jahre 1650–1900 umfasst, enthält bereits mehrere medizinische Texte, zum Beispiel: – Abel, Heinrich Kaspar: Wohlerfahrner Leib-Medicus der Studenten. Leipzig, 1699. – Bräuner, Johann Jacob: Pest-Büchlein. Frankfurt (Main), 1714. – Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 1. Berlin, 1759. – Virchow, Rudolf: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Berlin, 1858. In die Ergänzungskomponente des Deutschen Textarchivs (DTAE) haben wir beispielsweise auch ein digitales Gegenstück zur Edition der Secreta mulierum aus dem 15. Jahrhundert, herausgegeben von Kristian Bosselmann-Cyran, Kräuterbücher und weitere medizinische Texte eingespeist. In anderen Bereichen, z. B. bei den Bäderschriften, liegen weit gediehene Vorarbeiten vor. Auch andere ForscherInnen, z. B. Lenka Vˇanková, haben umfangreiche Textbestände transkribiert, zu vielen medizingeschichtlichen Editionen müssen Satzdaten verfügbar sein. Es wäre an der Zeit, diese Bestände zusammenzuführen und für die gemeinschaftliche Forschung nutzbar zu machen.
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3.2 (Wie) Kann man vorhandene Arbeiten zur Geschichte des medizinischen Wortschatzes integrieren? Wenn man rein korpusgestützt ganz von vorne anfinge, würde man die bereits vorhandenen Arbeiten, die es zu unterschiedlichen Bereichen und Aspekten des Wortgebrauchs der älteren Medizin und seiner Entwicklung gibt, als wertvolle Ressourcen ungenutzt lassen. Hierzu gehören Werke wie etwa Max Höflers Deutsches Krankheitsnamen-Buch (1899), Jörg Mildenbergers fünfbändiges Wörterbuch zum Arzneibuch des Anton Trutmann, die Dissertation von Bernd Krebs (2013) zur TerminologieEntwicklung der frühen Zellenlehre, ältere Arbeiten von Hyrtl (1879; 1884), aber auch frühe Wortlisten wie etwa die drei Vokabularien am Ende von Hans Gersdorfs Feldbuch der Wundarznei (1517) oder die deutsch-lateinischen Gegenüberstellungen1 im Werk von Dresser (1581). Nicht zu vergessen sind auch die unterschiedlich ausführlichen, insgesamt aber wertvollen Ausgabenglossare, die allerdings in vielen Fällen keine Gesamtabdeckung des Wortschatzes anstreben, sondern eher die ungewöhnlichen, seltenen, schwer verständlichen oder nicht gut dokumentierten Wörter aufnehmen (z. B. Keil 1961; Martin 1991; Eis 1943, 173 f.). Insofern Pflanzen ein wichtiges Element des Heilmittelschatzes waren, ist auch das von Heinrich Marzell begonnene Wörterbuch der deutschen Pflanzennamen (1943–1979) und die Studien von Willem Daems (1993) ein wichtiger Bezugspunkt. Für die mineralischen Heilmittel wäre etwa die Arbeit von Goltz (1972) heranzuziehen. Schließlich sind ggf. auch Spezialstudien zu berücksichtigen, exemplarisch seien eine Arbeit von Koller (1990) zur Geschichte des Wortfelds ‚gesund‘ und ein großer Aufsatz von Primus Lessiak (1911) über Gicht hier genannt. Schließlich sei auch die ältere Lexikographie zur Geschichte des medizinischen Sprachgebrauchs genannt, z. B. das Kritisch-etymologische medicinische Lexikon von Kraus, das 1826–1832 in zwei Bänden erschien. Sofern in diesen Arbeiten Quellentexte mit genauen Fundstellen referenziert sind, lassen sich viele davon mit heute verfügbaren Digitalisaten verbinden, das gilt nicht nur für Handschriften und ältere Drucke, sondern zum Teil auch für die älteren Zeitschriftenbestände, in denen sich ja nicht selten Textabdrucke finden.
3.3 Verwendungsweisen beschreiben und fachlich markieren Die Verwendungsweisen eines Wortes (Lesarten, Bedeutungspositionen) sind die zentrale semantische Einheit und damit auch der wesentliche Gegenstand der lexikalischlexikologischen Beschreibung. Im Hinblick auf fachliche Verwendungsweisen kann man etwa in Anlehnung an die Praxis im Deutschen Rechtswörterbuch drei unterschiedlich enge Bezüge zum fachlichen Bereich sehen: Während ein Wort wie Pranger
1 „Morborum alius est curabilis, heilbar/ alius incurabilis, vnheilbar“ (Dresser 1581, 89).
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zunächst ganz in der rechtlichen Sphäre verankert war, hatte das Wort Strang in einer bestimmten Gebrauchsweise einen klaren Rechtsbezug, es hatte darüber hinaus aber auch nicht-rechtliche Gebrauchsweisen, ein Wort wie Teich hingegen ist alltagssprachlich, wird aber etwa bei der Bestimmung der Teichgerechtigkeit auch in Rechtstexten verwendet. Es ist eine Frage der Entscheidung, wie eng oder weit man die Grenzen bei der Dokumentation des fachlichen Wortgebrauchs ziehen will. Aus einer kommunikativen Perspektive liegt es nahe, die Grenzen weiter zu ziehen und den Gesamtbestand an Wörtern und Verwendungsweisen zu dokumentieren, die für die Verständigung in der Medizin und ihren Teilbereichen erheblich waren. Das kann in exemplarischer Weise sogar für kurzlebige konkurrierende Wortgebräuche gelten, von denen sich in einer Früh- und Übergangszeit dann viele nicht durchsetzen und nicht dauerhaft etablieren. Auch wenn man dies vielleicht nicht für eine sehr große Zahl von Theorieentwicklungen und der damit zusammenhängenden Terminologiekonkurrenz im Detail zeigen kann, so ist es doch wichtig sich zu vergegenwärtigen, dass fachlicher Wortgebrauch nicht nur auf der Nutzung etablierter Elemente beruht. Viele Wörter und Verwendungsweisen von Wörtern in der Medizin haben einen mehr oder weniger deutlichen Bezug zu einem fachlichen Teilsystem: Eine Wortreihe wie zum Beispiel kalt, warm, feucht, trocken – Frühling, Sommer, Herbst, Winter – überflüssig, Verstopfung wird jemand, der sich in der Vier-Säfte-Lehre auskennt, diesem System und einzelnen Systemstellen zuordnen können.2 Eine Wortreihe wie Brustkorb, Unterlappen, Lappenarterie, Hauptbronchus, Lungenhilus, Incisur, Gefäß, Vene, dorsal, Pulmonalisast, Oberlappenast, Unterlappenast, Unterlappengefäß, hiluswärts, Bronchialbaum wird ein verständiger Leser dem Bereich der Anatomie und der Chirurgie des Brustbereichs zuordnen. Sie sind aus Ferdinand Sauerbruchs Chirurgie der Brustorgane (Bd. I, Teil 1, 3. Aufl., 1928) entnommen. Die dritte Wortreihe Gesamterbgut, Volksgesundheitsdienst, erblich Minderwertige/r, gesunder Erbstrom, Rassetüchige/r, Erbpflege lässt sich demgegenüber im rassenbiologischen Denken des frühen 20. Jahrhunderts verankern, das dann auch Grundlage einiger medizinischer Teilbereiche, hier der Volksgesundheitspflege (Frey 1940), wurde. Aus diesem fachlich-thematischen Systembezug vieler Verwendungsweisen von Wörtern ergeben sich zwei zentrale Aufgaben für ihre Beschreibung und Dokumentation. Zum einen muss der Systembezug bei der Bedeutungsbeschreibung möglichst erkennbar gemacht werden. Als Beispiel für eine Bedeutungsparaphrase zu Lenz hatte ich weiter oben vorgeschlagen: ‚Frühling als Jahreszeit, der im System der Vier-SäfteLehre eine eigene humorale Natur mit spezifischen medizinischen Eigenschaften und Wirkungen zugeschrieben wurde‘. Es ist klar, dass eine solche Paraphrase wiederum Wissensbestände voraussetzt, deren Aufarbeitung in der hier vorgeschlagenen Konzeption Aufgabe der Wissenskomponente „Medizinische Lehren“ ist. Daraus ergibt
2 Vgl. zum Wortschatz der Vier-Säfte-Lehre und ihrer Architektur Gloning (2011).
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sich weiterhin, dass Bedeutungserläuterungen durch Angabe von Synonymen bzw. Quasi-Synonymen im Vergleich mit phrastischen Erläuterungen weniger vorteilhaft sind, weil relevante Wissensbestände nicht explizit gemacht werden können. Dies ist z. B. bei der Beschreibung von Krankheitsbezeichnungen von größter Wichtigkeit, weil mit den modernen Krankheitsbezeichnungen häufig völlig andere Wissensbestände verbunden sind. Wenn im Frühneuhochdeutschen Wörterbuch (III 166) die Bedeutungsangabe zu bauchflus lautet: ‚Durchfall, Diarrhöe; Ruhr‘, dann wird mit dem Komma signalisiert, dass mit Durchfall und Diarrhöe wohl dasselbe Beschwerdebild gemeint ist, mit dem Strichpunkt und dem folgenden Ruhr dagegen, dass hier ein weiteres Beschwerdebild gemeint ist. Die Unterscheidung stützt sich, soweit ich sehe, vor allem auf einen Henisch-Beleg von 1616, wo neben anderen Bezeichnungen auch diarrhoea, rhur und rote rhur in ein Verhältnis gebracht werden. In einem modernen Verständnis können Durchfallerscheinungen als Symptome einer Ruhrerkrankung gelten, es ist aber nicht trivial, wie die Menschen und die Fachleute des Mittelalters und der Frühen Neuzeit die mit diesen Ausdrücken gemeinten Beschwerdebilder konzeptualisiert haben. Phrastisch-textuelle und ggf. narrative Erklärungen sind für ein fachlich orientiertes Wörterbuch deshalb geeigneter, weil sie es besser erlauben, die zeitgenössischen Wissensbestände über Krankheiten und andere gesundheitsrelevante Aspekte im Zusammenhang und in ihrer Entwicklung darzustellen. Bedeutungserläuterung ist in diesen Kontexten immer auch auf die Rekonstruktion von relevantem thematischen Wissen angewiesen, das in verschiedenen Personengruppen unterschiedlich verteilt sein kann.3 Zum anderen können in der digitalen Dokumentation Ordnungsstrukturen und Zugriffsmöglichkeiten hinterlegt werden, die neben der alphabetischen Ordnung und dem Zugriff entlang von Stichwörtern auch Abfragen erlauben, die sich auf die Organisation des fachlichen Systems beziehen. Wenn man also Verwendungsweisen von Wörtern mit Hilfe von expliziten Markierungen einzelnen Systemstellen zuordnet wie z. B. ‚Bestandteile einer Zelle‘, ‚Primärqualitäten in der Vier-Säfte-Lehre‘, ‚Körperteil‘, ‚Krankheit‘, ‚Person in einem Heilberuf‘ usw., dann sind diese Markierungen auch abfragbar und können bei der Abfrage auch mit anderen Parametern (dazu mehr in 3.4.) kombiniert werden. Auf diese Weise lässt sich die innere Organisation des Wortschatzes abbilden auf die fachsystematische Organisation medizinischer Auffassungen und Themen in ihrer historischen Entwicklung. Das war natürlich auch vor den digitalen Werkzeugen schon möglich,4 eine digitale Markierung erlaubt aber eine flexiblere Wahl unter-
3 Ich selbst musste beispielsweise erst nachsehen, wie es sich mit dem Krankheitsbild Ruhr eigentlich verhält und was man heute unter der Bezeichnung Ruhr versteht. 4 Knape/Sieber (1998) und Sieber (1996) haben eine solche Parallelführung von Wortschatzstruktur und rhetorischer Fachsystematik gezeigt. August Langens Studie zum Wortschatz des deutschen Pietismus (1968) ist im ersten Zugriff fachsystematisch organisiert, im zweiten Schritt dann erst alphabetisch durch Register erschlossen.
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schiedlicher Organisationskriterien und Zugriffsstrukturen, vor allem aber auch eine Kombination von Zugriffskriterien als Mittel gezielter Suchen und als Mittel für die Bearbeitung einzelner Forschungsfragen.
3.4 Aspekte der Wortgebrauchsdynamik, der Wortschatzorganisation und der Wortschatzentwicklung Traditionelle gedruckte (Fach-)Wörterbücher sind in den meisten Fällen einzelwortorientiert und nach semasiologischen Prinzipien strukturiert. Die Tatsache, dass in einem gedruckten Wörterbuch ein einziges Zugriffsprinzip leitend sein muss für die Organisation des Materials, hat in der lexikographiegeschichtlichen Tradition Kontroversen hervorgebracht: Soll das alphabetische Prinzip herrschen? Das Wurzelprinzip? Soll ein Sachgruppensystem den Zugriff organisieren? Und können ggf. zusätzliche Register neben dem gewählten leitenden Anordnungsprinzip weitere Arten des Zugriffs ermöglichen?5 Wenn man lexikalisch-lexikologische Informationen nicht in gedruckter Form, sondern als strukturierte digitale Daten erfasst, dann lassen sich im Prinzip alle Arten von Eigenschaften in spezifischen Datenfeldern erfassen und markieren und im Anschluss daran auch wieder gezielt abfragen. Eine eigene, inzwischen hochspezialisierte Lehre von der lexikographischen Datenmodellierung kümmert sich um die Frage, mit welchen Standards und nach welchen Strukturierungsmodellen semantische, grammatische, lexikologische Daten erfasst und in einen Zusammenhang gebracht werden können. Auch die Frage, wie Korpusbefunde systematisch auf die Wörterbuchelemente bezogen werden können, gehört dazu. Eine der zentralen Fragen dabei ist es, welche Arten von Informationspositionen sich auf das Wort beziehen lassen (in der Regel etwa die Wortartenangabe) und welche sich nur einzelnen Verwendungsweisen zuordnen lassen (z. B. eine thematische Kennzeichnung, bei Fremdwörtern ggf. auch der Entlehnungszeitraum). Der entscheidende Punkt ist, dass mit explizit markierten Eigenschaften auch gezielte Abfragen entlang dieser Markierungsdimensionen und ihrer Kombinationen möglich sind. Die Dokumentation wird damit nicht nur ein Nachschlagewerk zu einzelnen Wörtern und ihren Gebrauchsweisen, sondern auch ein Forschungsinstrument. Ich gebe ein Beispiel dafür. Nehmen wir an, jeder Wortartikel sei mit einem explizit markierten Eintrag versehen, mit dem ggf. der Wortbildungstyp, z. B. N+N, gekennzeichnet ist. Nehmen wir weiter an, jede Verwendungsweise eines Wortes sei mit einer Markierung versehen, zu welcher fachlichen Systemstelle diese Verwendungs5 Vgl. zu dieser Frage insbesondere Goebel/Lemberg/Reichmann 1995. – Bemerkenswert sind daneben das Register zur zehnten Auflage des Wörterbuchs von Hermann Paul (1992) und der umfangreiche Registerband zum „Deutschen Fremdwörterbuch“ (Kirkness 1988). Auch Friedrich Kluge hatte frühe Auflagen seines Etymologischen Wörterbuchs mit einem systematischen Register ausgestattet.
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weise gehört, z. B. die Systemstelle „Krankheitsbezeichnung“. Nehmen wir weiter an, dass alle Belege datiert sind und einer bestimmten Verwendungsweise zugeordnet sind. Dann lassen sich kombinierte Abfragemöglichkeiten etwa folgender Art im System implementieren: Wirf alle Einträge für Verwendungsweisen eines Wortes aus, die im Wortbildungsfeld des übergeordneten Worts den Eintrag N+N haben, die in mindestens einem Verwendungsweisenfeld für die fachlichen Systemstellen den Eintrag „Krankheitsbezeichnung“ aufweisen und die gleichzeitig Belege für die entsprechende Verwendungsweise im Zeitraum 1500–1600 aufweisen.
Resultate einer solchen Anfrage wären etwa Wörter wie Gliedsucht, Wassersucht, Vernunftverlierung, Hirnwütung, Feigwarze, Hauptfluss, Herzsucht, Herzklopfung, Wassersucht, Blutruhr, Harnfluss, Harnwinde, Blutspeiung, Schwindsucht, die alle auf anderthalb Seiten bei Gersdorf 1517 belegt sind. Wenn man sich fragt, wie zum Beispiel Informationen über den Wortbildungstyp in die Wortartikel-Daten gelangen können, so dass sie auch abfragbar sind, dann kann man davon ausgehen, dass morphologische Tagger einen Großteil der Arbeit automatisch verrichten, dass die Resultate aber im lexikographischen Prozess geprüft werden müssen. Andere Arten der Markierung, z. B. die Zuordnung von Verwendungsweisen zu fachlichen Systemstellen, sind vorerst nicht automatisierbar und erfordern ein hohes Maß an intellektueller Expertise und Erfahrung, schon bei der Erstellung des Kategoriensystems für die Markierung. Wer ein Kategoriensystem mit Systemstellen der Vier-Säfte-Lehre oder der Zellbiologie erstellen will, der muss diese Gebiete und ihre ideengeschichtliche Entwicklung sehr gut kennen. Vergleichbare Anforderungen gelten auch für die Markierungssysteme, mit denen die kommunikativen Aufgaben der unterschiedlichen medizinischen Textsorten erfasst werden sollen. Es kann an dieser Stelle kein voll ausgearbeiteter Überblick über diese Art der mehrdimensionalen Kodierung und Markierung lexikalisch-lexikologischer Daten gegeben werden. Es sollte aber deutlich geworden sein, dass mit dieser Art der mehrdimensionalen Erschließung von Wörtern, Wendungen und ihren Verwendungsweisen auch Formen des Zugriffs, der Abfrage und der Auswertung einhergehen, die weit über die traditionellen Nutzungsmöglichkeiten von Wörterbüchern hinausgehen. Das digitale Informationssystem ist mit seinen drei Komponenten damit nicht nur ein wortbezogenes Nachschlagewerk, sondern ein Forschungsinstrument, das, je nachdem, was man in den Datenbestand hineingesteckt hat, beträchtliche Auswertungsmöglichkeiten und Forschungsperspektiven eröffnet.6 Diese Auswertungsperspektiven umfassen traditionelle sprachhistorische Parameter wie Wortbildungstyp, Parameter der Ent-
6 Grundgedanken dieser Art der mehrdimensionalen Markierung habe ich in einer Arbeit zum deutschen Wortschatz um 1600 erstmals vorgestellt (Gloning 2003). Die technische Entwicklung ging dann so schnell weiter, dass mein damals selbst programmiertes System für die eigenen Untersuchungszwecke die Erfordernisse an ein modernes, öffentlich präsentierbares Darstellungssystem sehr schnell nicht mehr erfüllten.
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lehnungsgeschichte bei Fremdwörtern, Arten der Bedeutungsentwicklung, Verteilung in Raum und Zeit, weiterhin aber auch fachliche und kommunikative Aspekte wie die Zuordnung zu thematischen Bereichen, die Erfüllung kommunikativer Aufgaben im Rahmen von Textsorten oder die Dynamik von Innovation, Selektion und Etablierung in einem Feld von Konkurrenzausdrücken im Rahmen der theoriegeschichtlichen Entwicklung. Ich will nun noch kurz darauf eingehen, wie Aspekte der fachlichen und der ideengeschichtlichen Entwicklung in einem solchen Dokumentationssystem mit verankert werden könnten.
3.5 Sprachentwicklung und fachlich-ideengeschichtliche Entwicklung Wenn man einwenden wollte, dass Zusammenhänge zwischen Wortgebrauch und fachlich-ideengeschichtlicher Entwicklung bislang kein genuiner Gegenstand der historisch-lexikographischen Arbeit waren, dann kann man zunächst entgegenhalten, dass auf der Ebene der Beschreibung von Verwendungsweisen fach- und ideengeschichtliche Hintergründe in manchen Wörterbüchern systematisch einbezogen werden, beispielsweise im Goethe-Wörterbuch in gebotener Komprimierung immer dann, wenn eine Verwendungsweise in eines der zahlreichen Wissensgebiete einschlägt, mit denen Goethe sich auseinandergesetzt hat (z. B. Artikel Blatt, Bd. II, 749 ff.). Auf der Ebene der einzelnen Verwendungsweisen sind enzyklopädische, fachliche oder ideengeschichtliche Bezüge auch in anderen Wörterbüchern zu finden. Eine Erweiterung der Möglichkeiten ist dann gegeben, wenn die einzelnen Verwendungsweisen, wie oben skizziert, durch Markierungen bestimmten fachlichen Systemstellen zugewiesen sind. In diesem Fall lassen sich einzelne Systemstellen und ihre terminologische Entwicklung im Spiegel der Texte und im zeitlichen Längsschnitt verfolgen. Wenn man etwa Verwendungsweisen für Körperteile bzw. für anatomische Einheiten markiert hat, dann kann die Dokumentation auch ein Forschungsinstrument werden, mit dem sich die Entwicklung anatomischer Erkenntnisse im Spiegel der Terminologiedynamik verfolgen lässt. Eine weitere wichtige Fragestellung, die sich durch Markierung von Wörtern, Wortbildungen bzw. ihren Verwendungsweisen unterstützen lässt, ist das Verhältnis der deutschsprachigen Terminologie im Verhältnis zur lateinischen, ggf. auch griechischen und arabischen. Der Registerband zum Deutschen Fremdwörterbuch (Kirkness 1988) hat gezeigt, dass eine Erschließung der Fremdwortentwicklung im Hinblick auf Herkunftssprachen, Entlehnungszeiträume, Sachgebiete und dergleichen ein fruchtbares sprachgeschichtliches Werkzeug sein kann. Auch hier gilt wieder, dass bei einer geeigneten Markierung auch kombinierte Anfragen möglich sind, z. B. „Welche fremdsprachigen Anteile weist der humoralpathologische Wortschatz der Kräuterbücher des 16. Jahrhunderts auf?“
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Eine dritte Anwendung bezieht sich auf das Wortgebrauchsprofil einzelner Texte, Texttypen und zusammenstellbarer Textgruppen, z. B. von Einzelwerken wie dem Kräuterbuch von Leonhart Fuchs, Texttypen wie z. B. Arzneibücher oder Lehrbücher, Beispiel für eine zusammenstellbare Textgruppe wäre etwa das medizinische Werk eines Autors. Neben der lexikalischen Charakterisierung dieser Texte bzw. Textgruppen sind darüber hinaus auch Vergleiche zwischen Texten bzw. Textgruppen durchführbar. Bei meinen früheren Arbeiten zur Zeitungssprache habe ich solche Markierungssysteme bereits für die vergleichende Auswertung eingesetzt; heute hätte man dafür deutlich bessere Grundlagen, auch im Hinblick auf die Visualisierung von Ergebnissen. Für den Ausbau der Dokumentation zu einem Forschungsinstrument sind weitere Anwendungsszenarien denkbar bzw. entwickelbar, z. B. eine diskursorientierte Zusammenstellung von Texten zu einer strittigen Fachfrage, mit denen sich Kontroversen über fachliche Inhalte und über den darauf bezogenen fachlichen Sprachgebrauch rekonstruieren lassen. Die Neuentwicklung solcher Anwendungspotenziale gehört mit zu den Aufgaben bei der Konzeption und Einrichtung eines solchen Systems.
4 Arbeitsweisen und Kollaborationsmöglichkeiten Abschließend möchte ich noch kurz die Frage ansprechen, wie man mit und an einem solchen System zusammenarbeiten könnte. Wie oben dargelegt, besteht das System aus unterschiedlichen Komponenten, die erweiterbar und deren Inhalte auch korrigierbar sind. Wenn man davon ausgeht, dass man ein solches System nicht entlang des Alphabets bearbeitet, dann stellt sich die Frage, was sinnvolle und machbare Bearbeitungseinheiten sind und wer ggf. dazu beitragen könnte. Hier kann man sich eine gewisse Offenheit in den Beitragsmöglichkeiten vorstellen, z. B.: – einzelne Wörter und medizinspezifische Verwendungsweisen bearbeiten, also semantische Erläuterungen formulieren, geeignete lexikologische Markierungen anbringen, geeignete Belege zuordnen; – einen neuen medizinischen Volltext in das System einspeisen; – den spezifischen medizinischen Wortgebrauch eines Einzeltextes bearbeiten; – den zentralen Wortschatz einer medizinischen Subdisziplin (z. B. Anatomie, Säftelehre, Lungenchirurgie, Bakteriologie) bearbeiten, ggf. eingeschränkt auf einen Zeitpunkt oder ein zentrales Werk; – einen bestimmten Zeitraum, z. B. die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts, bearbeiten; – einzelne medizinische Denksysteme und ihre Systemstellen (z. B. Bezeichnungen für die Monatsblutung der Frau im Rahmen des Bereichs Frauenmedizin/Geburtshilfe; Bezeichnungen für pflanzliche Heilmittel) lexikalisch und in ihren Zusammenhängen bearbeiten;
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– – –
lexikalische Befunde aus der wissenschaftlichen Spezialliteratur ins System einpflegen; Verwendungsweisen, die noch nicht gut mit Belegen dokumentiert erscheinen, durch gezielte Suchen anreichern (z. B. auch mit der Google-Buchsuche); usw.
Das Bild, das hier entworfen wird, ist ein schrittweiser Ausbau des Systems, bei dem jeweils auch die Bearbeitungsstände mit geeigneten Versionierungsverfahren dokumentiert werden. Neben der Erweiterung besteht damit auch die Möglichkeit der Korrektur und der Anlagerung aktueller Informationen (z. B. aus neu erschienenen Literaturtiteln). Auch die Integration von Informationen aus bereits vorhandenen Ressourcen (z. B. Ausgabenglossare, Editionstexte, Informationen in verfügbaren Wörterbüchern) kann schrittweise geschehen. Worüber man allerdings nachdenken muss, sind die Fragen der Qualitätskontrolle und der Koordination der Arbeiten. Diese beiden wesentlichen Aufgaben kann man wohl nicht (ganz) dem freien Spiel der Kräfte überlassen. Und: Es muss sichergestellt sein, dass Beiträge, die geleistet werden, im System selbst auch persönlich zugeschrieben und damit als Leistung auch honoriert werden. Ob es gelingen würde, eine funktionierende Gemeinschaft zu mobilisieren, die ein solches Instrument pflegt und erweitert, vermag ich gegenwärtig nicht einzuschätzen. Aber vielleicht gibt es zwischen einem fachlichen Gegenstück zur Wikipedia-Community und einer mehrköpfigen Wörterbuch-Redaktion, die über drei Generationen mit öffentlichen Geldern finanziert wird, auch noch Zwischenlösungen.
5 Zusammenfassung und Perspektiven Im vorliegenden Beitrag habe ich Überlegungen dazu angestellt, wie ein Wörterbuch zum älteren Sprachgebrauch im Bereich der Medizin in einer digitalen Umgebung aussehen kann und wie es mit Komponenten angereichert werden kann, die über den Kernbereich der semasiologischen Beschreibung von Verwendungsweisen in ihrer geschichtlichen Entwicklung, die natürlich nach wie vor eine zentrale Aufgabe darstellt, hinausgehen. In einem solchen System sind drei Komponenten aufeinander zu beziehen: 1. ein strukturiertes historisches Textkorpus; 2. eine digitale Wörterbuchkomponente, in der die Beschreibung der einzelnen Lesarten aber angereichert ist mit Markierungen, welche die Wörter bzw. die einzelnen Verwendungsweisen auf fachliche Systemstellen beziehen sowie Informationen zum Wortbildungstyp, zum Entlehnungsstatus und zu anderen Dimensionen, die zusammen mit den Metadaten der Korpustexte eine weitergehende Erschlie-
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ßung der Wortschatzorganisation, des Zusammenhangs von Fachgeschichte und Terminologiegeschichte sowie ihrer Entwicklung ermöglichen sollen; schließlich eine Wissenskomponente, in der in komprimierter Weise ideen- und medizingeschichtliche Informationen sowie Hintergrundinformationen zu den sprachlich-textuellen Praktiken im Bereich der Medizin geboten werden.
Alle drei Komponenten sollen untereinander vernetzt sein. Die Überlegungen greifen auch die Frage auf, wie sich die vielfach vorhandenen Forschungsergebnisse zum medizinischen Wortschatz und seiner Geschichte sinnvoll integrieren lassen. Im Hinblick auf eine Umsetzung stehen unterschiedliche Möglichkeiten offen: von Wikipedia-artigen, aber fachlich getragenen Kollaborationsformen bis hin zu weit- oder weitergehend projektfinanzierten Arbeitsformen ist alles denkbar. Sinnvoll erscheint dabei die Aufteilung in kleinere Bearbeitungseinheiten, wie sie im Abschnitt 4 exemplarisch genannt wurden, die von einzelnen Personen oder kleinen Teams betreut werden können, die in überschaubaren Zeiträumen abschließbar sind und die ihren Wert besitzen, auch wenn das Gesamtprojekt noch nicht abgeschlossen ist. Wie bei vielen anderen neueren Wörterbuchprojekten ist die digitale Umgebung die primäre. Sie schließt aber gedruckte Versionen und Teildrucke nicht aus. Im Hinblick auf eine nachhaltige Verankerung der Arbeiten wäre z. B. an die Infrastruktur-Zentren des CLARIN-Verbundes zu denken. Offene Fragen beziehen sich u. a. auf Formen der Qualitätssicherung (Aufgaben, Rollen und Rechte bei der Beteiligung) sowie auf die Organisation, Koordination und Dokumentation des Stands der Arbeiten. Dies wären im Bereich der nicht akademiegestützten Großlexikographie neuartige Fragen. Bei den anderen Fragen, die eher konzeptioneller Natur sind (Korpusdesign, Form von Bedeutungsangaben, Umgang mit fachlichen Komponenten, Aspekte der Variation auch im historischen Längsschnitt), gibt es einen langen Vorlauf in der (Theorie der) historischen Lexikographie, auf den man zurückgreifen kann (z. B. Reichmann 2012; Dictionaries 2013). Und auch über die neuen Vorschläge – z. B. das Markierungssystem und seine Perspektiven für die Nutzung des Systems als Forschungsinstrument – würde man sich wohl verständigen können.
Literatur Anatomisch-Chirurgisches Lexicon oder Wörterbuch, Darinnen alle und jedwede zur Zergliederungskunst und Wundarzney gehörige Sachen und Kunstwörter gehörig angezeiget. Mit einer Vorrede des Herrn D. Laurentius Heister. Berlin 1753. Baader, Gerhard (1974): Die Entwicklung der medizinischen Fachsprache im hohen und späten Mittelalter. In: Gundolf Keil, Peter Assion (Hrsg.): Fachprosaforschung. Acht Vorträge zur mittelalterlichen Artesliteratur. Berlin, 88–123.
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296 | Thomas Gloning
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Dr. Kathrin Chlench-Priber Universität Bern Institut für Germanistik Länggassstrasse 49 CH-3000 Bern 9 E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Thomas Gloning Universität Gießen Institut für Germanistik Otto-Behaghel-Str. 10 B D-35394 Gießen E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Rainer Hünecke Technische Universität Dresden Institut für Germanistik Wiener Straße 48 D-01219 Dresden E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Wilhelm Kühlmann Universität Heidelberg Germanistisches Seminar Hauptstr. 207–209 D-69117 Heidelberg E-Mail: [email protected] Dr. Ágnes Kuna Ungarische Akademie der Wissenschaften/ Katholische Péter Pázmány Universität Nádor u. 7. H- 1051 Budapest E-Mail: [email protected]
DOI 10.1515/9783110524758-019
300 | Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Dr. Bettina Lindner Universität Erlangen-Nürnberg Germanistik uns Komparativistik Bismarckstr. 1 D-91054 Erlangen E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Anja Lobenstein-Reichmann Akademie der Wissenschaften Göttingen/Universität Prag Geiststr. 10 D-37073 Göttingen E-Mail: [email protected] Dr. Johannes Mayer Universität Würzburg Institut für Geschichte der Medizin Oberer Neubergweg 10a D- 97080 Würzburg E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Jörg Meier Pädagogische Hochschule Tirol Pastorstraße 7 A-6020 Innsbruck E-Mail: joerg.meier(at)ph-tirol.ac.at Prof. Dr. Ortrun Riha Universität Leipzig Karl-Sudhoff-Institut für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften Käthe-Kollwitz-Straße 82 D- 04109 Leipzig E-Mail: [email protected] PD Dr. Bernhard Schnell In der Roten Erde 30 37075 Göttingen E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Stefanie Stricker Universität Bamberg Institut für Germanistik Hornthalstraße 2 96047 Bamberg E-Mail: [email protected]
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren | 301
Prof. Dr. Lenka Vaňková Universität Ostrava Lehrstuhl für Germansitik, Realni 5 CZ-701 03 Ostrava E-Mail: [email protected] Dr. Lenka Vodrážková Universität Prag Institut für Germanistik Nám. Jana Palacha 2 CZ-116 38 Praha E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Melitta Weiss Adamson Western University London, Ontario Department of Modern Languages and Literatures Arts & Humanities Building, 3R12D E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Józef Wiktorowicz Universität Warschau Institut für Germanistik ul. Dobra 55 PL 00 – 312 Warszawa E-Mail: [email protected]
302 | Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Prof. Dr. Jürgen Wolf Universität Marburg Institut für deutsche Philologie des Mittelalters Wilhelm-Röpke-Straße 6A D-35032 Marburg E-Mail: [email protected]
Errataliste Sprachgeschichte und Medizingeschichte: Texte – Termini – Interpretationen (hrsg. von Jörg Riecke). Berlin / Boston: . /^E͗ϵϳϴͲϯͲϭϭͲϬϱϭϳϮϴͲϲ 1.
Inhaltsverzeichnis
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