Venantius-Interpretationen: Rhetorische und generische Transgressionen beim „neuen Orpheus“ 9783515098724

Am Ende der klassischen literarischen Tradition steht ein heute fast vergessener, aber äußerst produktiver Autor, der la

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German Pages 479 [482] Year 2011

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Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT
1. EINLEITUNG
2. ZU FORSCHUNGSSTAND UND FRAGESTELLUNG
3. DAS OEUVRE DES VENANTIUS FORTUNATUS
4. ZUSAMMENFASSUNG
ABKÜRZUNGS- UND LITERATURVERZEICHNIS
STELLENREGISTER
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Venantius-Interpretationen: Rhetorische und generische Transgressionen beim „neuen Orpheus“
 9783515098724

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Oliver Ehlen Venantius-Interpretationen

Altertumswissenschaftliches Kolloquium ---------------------------------Interdisziplinäre Studien zur Antike und zu ihrem Nachleben In Verbindung mit Walter Ameling, Michael Erler, Angelika Geyer, Jürgen Hammerstaedt, Gerlinde Huber-Rebenich, Elisabeth Koch, Christoph Markschies, Norbert Nebes, Tilman Seidensticker, Dietrich Simon und Helmut G. Walther herausgegeben von Jürgen Dummer und Meinolf Vielberg Band 22

Oliver Ehlen

Venantius-Interpretationen Rhetorische und generische Transgressionen beim „neuen Orpheus“

Franz Steiner Verlag Stuttgart 2011

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-09872-4 Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © 2011 Franz Steiner Verlag, Stuttgart Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier Druck: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Printed in Germany

INHALTSVERZEICHNIS 7 9 9 12

1.2.2. 1.2.3.

Vorwort Einleitung…………………………………………………… Allgemeine Vorbemerkungen………………………………. Zum historischen und biographischen Kontext…………….. Die historische Ausgangsituation: Gallien unter der Herrschaft von Clothar I. und seinen Söhnen……………………………………………………….. Radegunde von Poitiers und Gregor von Tours……………... Die Vita des Venantius Fortunatus…………………………...

2. 2.1. 2.2. 2.2.1 2.2.2

Zu Forschungsstand und Fragestellung……………………… Zum Forschungsstand………………………………………... Zur Fragestellung…………………………………………….. Zur Gattungsproblematik…………………………………….. Zur Gattungsfrage in der Antike……………………………...

37 37 42 44 53

3. 3.1. 3.1.1. 3.1.1.1. 3.1.1.2. 3.1.1.3.

Das Oeuvre des Venantius Fortunatus……………………….. 61 Venantius Fortunatus als Prosaschriftsteller…………………. 61 Venantius Fortunatus als Epistolograph……………………… 61 Ad Martinum episcopum Galliciae (V, 1)……………………. 66 Vergleich mit Sidonius Apollinaris, Epist. VII, 1……………. 87 Venantius Fortunatus: Brief an Syagrius von Autun (V, 6)……………………………………………... 95 Zusammenfassung…………………………………………… 103 Venantius Fortunatus als Biograph…………………………...105 Die Proömien der Heiligenviten……………………………... 105 Vita sanctae Radegundis…………………………………….. 120 Zusammenfassung…………………………………………… 147 Venantius Fortunatus als theologischer Schriftsteller………. 151

1. 1.1. 1.2. 1.2.1.

3.1.1.4. 3.1.2. 3.1.2.1. 3.1.2.2. 3.1.2.3. 3.1.3. 3.2. 3.2.1. 3.2.1.1. 3.2.1.2. 3.2.1.3. 3.2.2.

12 19 28

Das poetische Werk des Venantius Fortunatus……………… 178 Zum dichterischen Selbstverständnis: Die Proömien………... 178 Praefatio des Gedichtcorpus…………………………………. 181 Die Orpheus-Thematik in Carmen, VII, 1…………………… 196 Carmen, VIII, 1 (Binnenproöm)……………………………... 201 Panegyrisches auf Personen und Gebäude…………………... 220 (VI, 1; II, 10). 3.2.2.1. Carmen, VI, 1………………………………………………... 221 3.2.2.2. Carmen, II, 10………………………………………………... 257 3.2.3. Epitaphien (IV, 9, 21, 22, 28)………………………………... 267

6

Inhaltsverzeichnis

3.2.3.1. Carmen, IV, 9………………………………………………... 271 3.2.3.2. Carmen, IV 21 / 22…………………………………………... 279 3.2.3.3. Carmen, IV, 28………………………………………………. 285 3.2.4. Viten im Metrum (II, 16)……………………………………. 299 3.2.5. „Echte“ Gelegenheitsgedichte (VIII, 19–21; 9 & 10)………. 328 3.2.5.1. Carmen, VIII, 19, 20 & 21………………………………….. 329 3.2.5.2. Carmen, VIII, 9 & 10……………………………………….. 337 3.2.6. Hymnen und Elegien (II, 1–3; 6, App. III)………………….. 346 3.2.6.1. Hymnodik…………………………………………………… 347 3.2.6.1.1.Carmen, II, 1………………………………………………… 351 3.2.6.1.2.Carmen, II, 2………………………………………………… 356 3.2.6.1.3.Carmen, II, 3………………………………………………… 366 3.2.6.1.4.Carmen, II, 6………………………………………………… 371 3.2.6.1.5.Vergleich mit Ambrosius Hymnus 3………………………... 377 3.2.6.2. Elegien………………………………………………………. 386 3.2.6.2.1. Carmen, Appendix III………………………………………. 390 3.2.6.2.2. Zusammenfassung………………………………………….. 405 3.2.7. Carmina figurata (II, 4–5, V, 6–6a)………………………….. 407 3.2.7.1. Carmen, II, 4………………………………………………… 409 3.2.7.1.1.Aufbau und Konzeption……………………………………... 410 3.2.7.1.2.Analyse des Basistextes……………………………………… 415 3.2.7.1.3.Gattungsspezifische Einordnung…………………………….. 422 3.2.7.2. Carmen, II, 5a………………………………………………... 442 4.

Zusammenfassung…………………………………………… 449 Abkürzungsverzeichnis und Literaturverzeichnis…………… 460 Stellenregister………………………………………………... 475

VORWORT Ingenio clarus sensu celer ore suauis

Durch sein Talent wohl gerühmt, im Sinn rasch, süß in der Stimme,

Cuius dulce melos pagina multa canit Fortunatus apex uatum uenerabilis actu

Dessen anmutiges Lied gar manche Seite besang, Fortunatus, Höchster der Dichter, ehrwürdig im Leben,

Ausonia genitus hac tumulatur humo Cuius ab ore sacro sanctorum gesta priorum

Einst Ausoniens Spross, hier bestattet nun ruht. Von seinem ehrwürd’gen Mund der Heiligen Taten wir lernen;

Discimus haec monstrant carpere lucis iter Felix quae tantis decoraris Gallia gemmis

Diese weisen den Weg einzuschlagen des Lichts. Glücklich ist Gallien nun, das mit solchen Perlen du schmücktest,

Lumine de quorum nox tibi tetra fugit

Durch deren Licht dir entfloh jegliche finstere Nacht.

Hos modicos prompsi plebeio carmine uersus Ne tuus in polulis sancte lateret honor

Diese dürftigen Verse im mäßigen Lied ich verfasste, Dass nicht verborgen dein Ruhm bleibt in Winkel und Eck.

Redde uicem misero ne iudice spernar ab aequo

Bitt als Entgelt mir dafür, dass ich einst nicht vom himmlischen Richter,

Eximiis meritis posce beate precor

Sieht er dein ries’ges Verdienst, Seliger, werde verschmäht.

(Paulus Diaconus: Epitaph auf Venantius Fortunatus)

Ein fast vergessener Dichter, den Paulus Diaconus bereits zur Zeit Karls des Großen diesem Vergessen entreißen möchte. Vielleicht ist es dem Interesse in der Karolingerzeit zu verdanken, dass nicht nur der Name Venantius Fortunatus, sondern auch sein literarisches Oeuvre die Zeiten überdauert hat, das sich von Umfang her keineswegs hinter dem seiner großen paganen Kollegen wie Vergil oder Ovid verstecken muss und trotzdem bis zum heutigen Tag eigentlich nur von einigen Spezialisten wahrgenommen wird. Das liegt in erste Linie nicht am Werk selbst, sondern an der Zeit seiner Entstehung, der zweiten Hälfte des sechsten nachchristlichen Jahrhunderts, in der es möglich war, dass ein Dichter aus Italien im Frankenreich der Merowinger Karriere machen und, wenn wir dem Zeugnis des eingangs zitierten Paulus Diaconus folgen, es am Ende seines Lebens sogar bis zum Bischof seiner Wahlheimat Poitiers bringen konnte. Dass er später einmal, je nach Interessenschwerpunkt, als der erste Dichter des Mittelalters oder als der letzte der Antike reklamiert werden würde, konnte Venantius Fortunatus freilich kaum ahnen, sah er sich doch in einer kontinuierlichen literarischen Tradition lateinischer Dichtung, die neben einer

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Vorwort

paganen Klassik längst in einer zweiten Blüte christliche und pagane Autoren hervorgebracht hatte, die ihrerseits den Rang von Klassikern beanspruchten. In diesem Kontinuum von Tradition durch Bezugnahme wie Innovation einen eigenen Platz einzunehmen, war die Aufgabe, mit der sich Venantius als nouus Orpheus lyricus konfrontiert sah; dass er sie zumindest in gewissem Maße gelöst hat, zeigt die Tatsache, dass man über Jahrhunderte hinweg sein Werk als der Überlieferung würdig erachtete und es uns heute noch nahezu komplett vorliegt. Daher wird auch für uns noch eben dieses Spannungsfeld im Oeuvre des Venantius Fortunatus greifbar; durch seine Mittelstellung zwischen dem, was wir als Antike und Mittelalter zu bezeichnen gewöhnt sind, erlaubt uns die Beschäftigung mit diesem Dichter sowohl einen Blick zurück als auch einen nach vorne, der auf spätere Innovationen verweist. Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine leicht überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift, die 2008 von der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena angenommen worden ist. Für wertvolle Hinweise und Ratschläge in der Frühphase der Arbeit bin ich Herrn Prof. Dr. Jochem Küppers zu Dank verpflichtet, auch wenn das Projekt dann eine deutlich andere Form angenommen hat, als in der Frühphase absehbar. Außerdem bin ich Herrn Prof. Ulrich Ernst zu besonderem Dank verpflichtet. Vor allem die Mitarbeit im DFG-Projekt „Visuelle Poesie – Dokumentation theoretischer Zeugnisse“, hat meine Blickrichtung auf den Autor um wesentliche Aspekte bereichert und, um im Bild des Titels dieser Arbeit zu bleiben, zu einer „Transgression“ bestimmter fachspezifischer Denkmuster und Sichtweisen geführt. Schließlich möchte ich noch Herrn Prof. Meinolf Vielberg und Herrn Prof. Dr. Jürgen Dummer für ihre vielfachen Anregungen und die Aufnahme in die Reihe „Altertumswissenschaftliches Kolloquium“ meinen Dank aussprechen.

Aachen, im November 2010 Oliver Ehlen

1. EINLEITUNG 1.1. ALLGEMEINE VORBEMERKUNGEN Im Frühjahr des Jahres 566 n. Chr. ist ein junger Poet aus Italien auf dem Weg ins Frankenreich, wo der Merowingerkönig Sigibert im Begriff steht, Brunichilde, eine Prinzessin aus gotischem Geschlecht, zu ehelichen. Seine Erfahrungen auf der Reise wird er später, in einem Brief an Gregor, den Historiker und Bischof von Tours, schildern: ...Vnde, uir apostolice, praedicande papa Gregori, quia uiritim flagitas ut quaedam ex opusculis inperitiae meae tibi transferenda proferrem, nugarum mearum admiror te amore seduci quae cum prolatae fuerint nec mirari potuerunt nec amari, praesertim quod ego impos de Ravenna progrediens

Padum Atesim Brintam Pluem Liquentiam Teliamentumque tranans, per Alpem Iuliam pendulus montanis anfractibus, Dravium Norico, Oenum, Breonis, Liccam Baiuaria, Danuuium Alamannia Rhenum Germania transiens ac post Mosellam, Mosam, Axonam et Sequanam, Ligerem et Garonnam, Aquitaniae maxima fluenta transmittens, Pyrenaeis occurens Iulio mense niuosis paene aut equitando aut dormitando conscripserim, ubi inter barbaros longo tractu gradiens aut uia fessus aut crapula, brumali sub frigore, musa hortante nescio gelida magis an ebria, nouus Orpheus lyricus siluae uoces dabam, silua reddebat.

1

...Daher, apostolischer Mann, erlauchter Bischof Gregor, weil Du von mir eindringlich forderst, dass ich Dir einige von den kleinen Werken meiner Unkenntnis schicke, wundere ich mich, dass Du von der Liebe zu meinen nichtigen Spielereien verführt wirst, die veröffentlicht weder bewundert noch geliebt werden könnten, zumal da ich sie, ohne dazu imstande zu sein, als ich von Ravenna aufbrach, den Po, die Atesis, die Brenta, die Plavis, die Liquentia und Teliamentum durchschwommen, durch die julischen Alpen auf Bergpässen hängend, die Drave bei Noricum, den Inn bei den Breonen, den Lech in Bavarien, die Donau in Alemannien, den Rhein in Germanien überquert habe und nach der Mosel, die Maas, die Aisne und die Seine, die Loire und die Garonne, die größten Flüsse Aquitaniens und dann im Juli in den Schnee reichen Pyrenäen angekommen bin, entweder beim Reiten oder im Halbschlaf verfasst habe, wo ich zwischen Barbaren über eine Wegstrecke wanderte, entweder vom Weg oder Weinrausch unter der winterlichen Kälte erschöpft, auf Aufforderung einer – ich weiß nicht, ob eher kalten oder betrunkenen Muse, ich als neuer lyrischer Orpheus dem Wald sang und der Wald widerhallte.1

Venantius Fortunatus, Carmina, Praefatio, 4; lateinischer Text nach: Venance Fortunat, Poèmes, Texte établi et traduit par M. REYDELLET, Tome I–III, Paris 1994–2004, hier I, 4.

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1. Einleitung

Diesen Dichter, der sich hier selbstironisch als novus Orpheus lyricus, als neuer lyrischer Orpheus tituliert, wird über achthundert Jahre später auch Hartmann Schedel eines Eintrages für würdig erachten. In seiner Weltchronik aus dem Jahre 1493 findet sich unter den Eintragungen zum „sechst alter der Welt“ auf Blat CXLVIII r folgender Eintrag: Fortunatus d’ tudertinisch bischoff ist in außtreibung der boeßen gaist gnad unnd kraft gewest also das er yezuzeiten von beseßen lewten vil schar der teufel außgejagt und vil menschen geledigt, auch ein schellichs schedlich pferd mit dem zaichen des creußes gesenftigt und ein plinden erleuchtet. man sagt dass sein leichnam in der statt Tudertina nochhewt bey tag die tewfel austreib und die krancken gesund mach wie er lebendig getan hat. Ein ander fortunatus ein hohgelert unnd wohlsprechend man hat die gallier mit schriften unnd exempeln zu nachguetiger goetlicher ere angeschickt und sigiberto irem konig ein buechlein wie er sein konigreich regiren sol beschriben. Auch samt martins leben.2

Im fünfzehnten Jahrhundert sind Schedel also zwei Fortunati bekannt, ein Bischof und Wundertäter (aus der Stadt Tuder im Umbrien) und ein „hohgelert unnd wolsprechend man“, wobei der zweite wohl mit dem Dichter Venantius Fortunatus identisch ist. Interessanterweise soll auch dieser Dichter Venantius Fortunatus nach dem Zeugnis der Paulus Diaconus sein Leben als Bischof beendet haben, nicht als Bischof von Tuder, sondern als Bischof von Poitiers, der Stadt, in der er den größten Teil seines Lebens verbrachte.3 Von einem Fürstenspiegel an den Frankenkönig Sigibert ist sonst nichts bekannt, wohl verfasste Venantius Fortunatus ein Epithalamium zu dessen Hochzeit mit der Gotenprinzessin Brunichilde. Auch stammt von ihm eine Vita sancti Martini, die in vier Büchern im epischen Hexameter geschrieben ist. Schedels Charakteristik des Fortunatus rückt hier noch weitere wichtige Aspekte in den Vordergrund: seine Gelehrsamkeit und rhetorische Fähigkeit sowie eine christliche Ausrichtung seines Werkes. Oder anders ausgedrückt: Venantius Fortunatus erscheint als poeta doctus Christianus. Und, wie der Eintrag bei Schedel zeigt, bleibt ihm dieser Ruf bis zum Ausgang des Mittelalters treu. Dieser Ruf begründete sich zum einen darin, dass zwei seiner Hymnen 4 Aufnahme in das kirchliche Brevier gefunden hatten, zum anderen in Umfang und artifizieller Bravour seines literarischen Oeuvres. Denn Venantius Fortunatus schuf nicht nur ein umfangreiches poetisches Korpus in elf Büchern, deren Edition und Editionsplan wohl zum großen Teil auf ihn selbst zurückgeht,5 sondern betätigte sich auch als Hagiograph und hinterließ auch ein ansehnliches Prosawerk. Dabei erwies er sich nicht nur als äußerst produktiver, sondern auch als höchst vielseitiger Literat: Während er sich schon im Bereich der Prosa innerhalb der Genera der Vita, 2 3 4 5

H. SCHEDEL, Weltchronik, Blat cxlviiii, Faksimile Nachdruck, eingl. & kom. von St. Füssel, Köln 2001. Paulus Diaconus, Historia Langobardorum, II, 4. VENANTIUS FORTUNATUS, Carm., II, 2 (Pange, lingua, gloriosi proelium certaminis) & Carm. II, 6 (Vexilla regis prodeunt). Siehe dazu REYDELLET I, LXVIII–LXXI.

Historischer und biographischer Kontext

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der Epistel sowie der expositio, d.h. des theologischen Kommentars betätigte, reicht die Spannbreite seines poetischen Werkes von der episch angelegten hexametrischen Dichtung in der Vita sancti Martini über Hymnus, Epithalamium bis hin zum Figurengedicht. Dennoch verblasste der Ruhm dieses bemerkenswerten Autors im Zuge von Niedergangs- und Dekadenzvorstellungen des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts, die zum Teil noch in der seit Ende des neunzehnten Jahrhunderts neu einsetzenden spärlichen Wiederbeschäftigung mit Venantius Fortunatus ihren Niederschlag finden. So subsumiert Wilhelm Meyer 1901 sein poetisches Werk unter dem Etikett Gelegenheitsdichtung,6 was zwar dem Situationsund Adressatenbezug der Dichtung Rechnung trägt, zugleich aber den Eindruck einer spontanen, nicht künstlerisch durchgefeilten Dichtung suggeriert, ein Eindruck, der sich schon in Meyers Analysen ansatzweise und bei jeder intensiveren Betrachtung der einzelnen Carmina als irrig erweist. Doch wer war nun dieser Venantius Fortunatus? Um ihn als Dichter und Prosaschriftsteller besser einordnen und verstehen zu können, empfiehlt es sich, zunächst einmal einen Blick auf sein Leben und seine Zeit zu werfen, sich also zumindest im Überblick mit dem historischen Kontext auseinanderzusetzen, in dem sein Oeuvre entstanden ist.

6

W. MEYER, Der Gelegenheitsdichter Venantius Fortunatus, Berlin 1901.

1.2. ZUM HISTORISCHEN UND BIOGRAPHISCHEN KONTEXT 1.2.1. Die historische Ausgangssituation: Gallien unter der Herrschaft von Chlothar I. und seinen Söhnen Das sechste Jahrhundert n. Chr. ist für Gallien eine Zeit voller Unruhe und wechselnder politischer Verhältnisse. Zwar befindet sich der größte Teil seit Chlodwig unter fränkischer Herrschaft, zwar werden die Westgoten mit Hilfe der Burgunder endlich auf eine Grenze südlich der Garonne zurückgedrängt und auch Burgund gerät unter fränkische Herrschaft, doch wird nach Chlodwigs Tod das Reich unter seinen Söhnen aufgeteilt und erhält nur kurzfristig unter Chlothar I., der alle seine Brüder überlebt, für drei Jahre (558–561) seine Einheit zurück. Venantius Fortunatus (wohl 544 geboren)7 kommt erst in den sechziger Jahren nach Gallien, 566 verfasst er ein Hochzeitsgedicht auf die Hochzeit von Sigibert und Brunhilde am Hof in Metz. Chlothar I. ist schon vor fünf Jahren gestorben, abermals ist das Reich geteilt. Die Witwe Chlothars I., Radegunde, wird im Leben des Venantius Fortunatus noch eine bedeutende Rolle spielen. Auch der Bruderzwist zwischen Sigibert I. und Chilperich I. wird den Dichter nicht unberührt lassen: So findet sich auch die Stadt Poitiers, wo Venantius den Rest seines Lebens verbringen wird, später zeitweise unter die Herrschaft Chilperichs I. Ihren Ausgang nehmen die Wechselfälle der Zeit, in die Venantius Fortunatus gerät, als er ins Frankenreich kommt, im merowingischen System der Erbteilung, das schon unter den Söhnen Clodwigs zu Konflikten, unter denen Chlothars I. zu Bruderkrieg und Mord führt. Gallien unter Chlothar I. Chlothar ist der jüngste der vier Söhne von Chlodwig I. und entstammt wie seine Brüder Chlodomer und Childebert Chlodwigs Verbindung mit Chlotilde. Nach dem Tode Chlodwigs 511 erhält dessen ältester Sohn aus einer früheren Verbindung, Theuderich, vom Umfang her den größten Teil des Reiches, darunter die salischen Stammlande, ein gutes Drittel der Francia zwischen Rhein und Loire, ein Drittel Aquitaniens, das zum Teil allerdings noch umkämpft ist; außerdem erhält er rechtsrheinisch große fränkische und alamannische Gebiete, wenn auch deren Grenzen noch nicht klar definiert sind. 8 Von den Residenzstädten her fällt jedem 7

8

Zum Geburtsdatum 540 siehe jetzt W. FELS, Studien zu Venantius Fortunatus, Diss. Heidelberg 2006, wo für die Geburt gegenüber der älteren Forschung, die sie zwischen 530 und 540 datiert, das Jahr 544 angesetzt wird. Einen guten Überblick über die Geschichte des Merowinger und Frankenreichs gibt E. EWIG, Das Merowinger- und das Frankenreich, Stuttgart 42001. Siehe zur Aufteilung des Reiches unter den Söhnen Chlodwigs 31–33, zu Theuderichs Anteil insbesondere 32f. Ewig vertritt die

Historischer und biographischer Kontext

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der Brüder ein Teil der Mitte zu, so dass Theuderich von Reims, Chlodomer von Orléans, Childebert von Paris und Chlothar von Soissons aus die Herrschaft über ihre Gebiete ausüben. Außerdem bekommt jeder von ihnen einen Teil Aquitaniens (zwischen Loire und Garonne), das Chlodwig erst 507 von den Westgoten erobert und dem Frankenreich angegliedert hat. Die Stadt Tours, wo Gregor 573 bis 594 Bischof sein wird, liegt direkt an der Loire, also an der Grenze, Poitiers, wo Radegunde ihr Kloster gründen wird, mitten in Aquitanien. Unter den Söhnen Clodwigs wird auch Burgund (bis 534) Teil des Frankenreiches, ferner findet eine Expansion nach Osten statt. Federführend sind hier Theuderich und der jüngste seiner Halbbrüder Chlothar I. Theuderich hat sich zuvor in den Thronstreitigkeiten der Teilkönige Hermenefred, Baderich und Berthachar in Thüringen auf die Seite Hermenefreds gestellt, der seinerseits über die Ehe mit Amalaberga, einer Nichte Theoderichs des Großen, mit den Ostgoten verbunden ist. Hermenefred gelingt es, das Thüringerreich unter seiner Herrschaft zu vereinigen. Durch seine Einbeziehung in das Bündnissystem Theoderichs kann Theuderich zunächst nicht an eine Zerschlagung des Reiches denken, ohne die Ostgoten zu provozieren. Die Situation ändert sich, als Theoderich 526 stirbt und das Ostgotenreich einer Krise zusteuert.9 Mit Hilfe Chlothars I. und sächsicher Truppen aus dem Gebiet der Nordsee eröffnet er 531 den Krieg. In der Nähe der Unstrut kommt es zur Schlacht und der entscheidenden Niederlage der Thüringer. Hermenefred wird den Franken tributpflichtig, doch stürzt er 533 bei einem Besuch Theuderichs in Zülpich von der Stadtmauer.10 Amalaberga flieht 535 mit ihren Kindern nach Italien; die überlebenden Kinder Berthachars sind bereits zuvor von Chlothar I. gefangen genommen worden. Berthachars Tochter Radegunde wird Chlothar I. später heiraten.11 Thüringen bis zur Unstrut fällt an die Sachsen. Die Slawen dringen bis zur Saale vor, während das Maingebiet fränkisch besiedelt wird. Dass Chlothar I. 558 das Frankenreich wieder unter seiner Herrschaft vereinigen kann, ist lediglich dem Umstand zuzuschreiben, dass er alle seine Brüder überlebt hat. Chlodomer stirbt schon 524, von seinen drei unmündigen Söhnen werden zwei von Chothar I. erschlagen, der dritte entkommt und tritt später in den

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11

These, dass das Reich einerseits zwischen Theuderich und andererseits zwischen den Söhnen der Chlotilde aufgeteilt worden sei, was die unterschiedliche Größe der Teile erklären würde. Als allgemeine Einführung empfiehlt sich jetzt auch M. Hartmann, Aufbruch ins Mittelalter, Darmstadt 2003; für einen historischen Abriss über das Merowingerreich siehe dort 39–89. Zum militärischen und politischen Kontext in Gallien im 6. Jahrhundert vgl. auch J. W. GEORGE, Venantius Fortunatus. A Latin Poet in Merovingian Gaul, Oxford 1992, 5–10. Siehe dazu EWIG, Merowinger, 34. Zur Ausbreitung des Frankenreiches unter den Söhnen Chlodwigs ausführlich EWIG, Merowinger, 33–41. Gregor von Tours, Historiarum libri decem‚ III, 7–9 schildert den Thüringenfeldzug und im achten Kapitel den Tod des Hermenefred, für den er in deutlichen Anspielungen Theuderich verantwortlich macht: ...Sed qui eum deiecerit, ignoramus; multi tamen adserunt, Theudorici in hoc dolum manifestissime patuisse... / ...Aber wer ihn herabgeworfen hat, wissen wir nicht, viele behaupten dennoch, dass in dieser Tat die Arglist des Theuderichs äußerst deutlich offenbar geworden sei... (III, 8). Vgl. Gregor von Tours, Historiarum libri decem, III, 7.

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1. Einleitung

Klerus ein. 12 Theuderich stirbt 534. Seinen Reichsteil übernimmt sein Sohn Theudebert, der in Norditalien erfolgreich gegen Ostgoten und Byzantiner kämpft, und nach dessen Tod im Jahre 548 Theudeberts Sohn Theudewald. Dieser stirbt aber 555 und 558 später stirbt auch sein Großonkel Childebert, so dass Chlothar I. als einziger der Söhne Chlodwigs übrig ist. Von Radegunde hat Chlothar I. keine Kinder, dafür aber von seinen anderen Frauen, nämlich Sigibert, Gunthram und Charibert von Ingunde und Chilperich von Ingundes Schwester Arnegunde. Doch 561, nach nur drei Jahren Alleinherrschaft, stirbt Chlothar I. Abermals wird das Reich aufgeteilt, diesmal unter seinen vier Söhnen. Da es sich aber seit Chlodwigs Tod beträchtlich vergrößert hat, können die vier Reichsteile, welche die Söhne Chlodwigs einst erhalten hatten, nicht einfach weiter vererbt, sondern müssen neu zugeschnitten werden.13 Und in diesem Zuschnitt liegt die Wurzel für die Konflikte, die das Merowingerreich in den nächsten zwanzig Jahren überschatten werden. 14 Der älteste Sohn Charibert erhält Paris, das Gebiet zwischen Somme und Loire, das den Haupteil der Francia unter Clodwig ausgemacht hat, außerdem die ganze Provinz Tours. Dazu kommt ein Großteil der Gebiete südlich der Loire, nämlich Bordeaux, Eauze, Limoges, Cahors und Albi. 15 Sigiberts Erbteil besteht in der Champagne (Residenzstadt Reims, Châlons bis nach Laon), mit der zuvor die salfränkischen Lande verbunden worden sind, in der Auvergne mit dem Velay und den civitates Rodez und Javol. Zudem umfasst sein Erbteil die kompletten Erwerbungen östlich des Rheins und südlich der Donau.16 An Gunthram fallen Orléans und die dazugehörigen Gebiete. Da er Teile der Provinz Tours an Charibert abgetreten hat, erhält er zum Ausgleich Sens und Auxerre. Die Provence teilt er sich mit seinem Bruder Sigibert; Arles fällt an ihn, während Marseille an Sigibert geht.17 Der einzige Sohn von Arnegunde, Chilperich I., hatte gleich nach dem Tod des Vaters versucht, seine Halbbrüder, die Söhne von Arnegundes Schwester Inegund, zu übervorteilen. Wohl daher fällt sein Erbteil etwas kleiner aus als der seiner Brüder. Die Schuld daran lastet er offenbar vor allem Sigibert I. an. Und als dieser

12 13 14

15 16 17

Siehe EWIG, Merowinger, 35. Zur Krise der Monarchie unter den Söhnen Chlothars ausführlich EWIG, Merowinger, 41–52. Vgl. W. BLEIBER, Das Frankenreich der Merowinger, Wien / Köln / Graz 1988, 122–139. Zur genauen Datierung des Todes von Chothar I. (Ende 561 oder Anfang 561) siehe J. FAVROD, Les sources et la chronologie de Marius d’ Avenches, in: Francia 17/1 (1990), 1–21, der den Tod Chlothars auf Anfang 561 datiert und die Entgegnung von M. WEIDEMANN, Gunthrams Herrschaftsjahre: Einwände zu einem neuen Chronologievorschlag, in: Francia 19/1 (1992), 197–203, die Argumente für die Beibehaltung der Annahme, Chlothar sei erst November 561 gestorben, beibringt. Siehe dazu EWIG, Merowinger, 42. Siehe dazu EWIG, Merowinger, 42. Siehe EWIG, Merowinger, 42.

Historischer und biographischer Kontext

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gegen die Awaren zu Felde zieht, versucht sich Chilperich I. einiger Teile von Sigiberts Reich zu bemächtigen, kann aber erfolgreich zurückgeschlagen werden.18 Weiterer Konfliktstoff unter den Erben der Merowingerdynastie ergibt sich durch die Teilung der Provence zwischen Sigibert I. und Gunthram I. Und auch außenpolitisch ist die Situation alles andere als stabil. Zwar sind die Goten gerade damit beschäftigt, ihr Reich in Spanien als Reich von Toledo neu zu konstituieren, so dass von dieser Seite eigentlich nichts zu befürchten ist (566 kommt es sogar zur Hochzeit von Sigibert I. und der Tochter des Gotenkönigs Athanagild [551–567] Brunichilde), in Italien aber hat sich schon Chlothar I. im Konflikt mit den Reconquista-Bestrebungen Justinians befunden, die dazu führen, dass auch die Franken ihre italischen Eroberungen wieder verlieren. Und im Osten ist ein neuer Gegner erschienen, die Awaren, mongolisch-türkische Reiternomaden; 562 und 567 stehen sie an der mittleren Elbe, dann werden sie im Bündnis mit den Langobarden Zerstörer des Reichs der Gepiden zwischen Theiß und Donau. Schließlich sind sie der Auslöser dafür, dass die Langobarden Pannonien und Ostnoricum aufgeben und ihrerseits in Italien einfallen (568).19 Genau in dieser Situation stirbt im Jahre 567 Charibert. Sein Tod führt zu einer höchst komplizierten Erbteilung zwischen seinen Brüdern. Diese Erbteilung lässt die Konflikte innerhalb der Merowingerdynastie, die sich vorher bereits angedeutet haben, vollends ausbrechen. Am heftigsten tobt dieser Konflikt zwischen Chilperich I. und Sigibert I. Der Konflikt zwischen Sigibert I. und Chilperich I. Zwar haben die Westgoten nach ihren Niederlagen gegen die Franken 507 und 532 ihre gallischen Gebiete räumen müssen, auf spanischem Boden aber besteht ihr Reich fort. Hauptstadt ist nun Toledo; König Athanagild (551–567) festigt sowohl das Reich als auch die eigene Herrschaft.20 Außen- wie innenpolitisch höchst bedeutungsvoll geht Sigibert I. von Reims eine Verbindung mit dem Königshaus der Westgoten ein und heiratet 566 Brunichilde, die Tochter des Athanagild. Das offizielle Hochzeitsgedicht, das Epithalamium, schreibt Venantius Fortunatus, den man wahrscheinlich gerade deswegen aus Italien kommen lässt. Eine Verbindung zwischen dem fränkischen Königshaus und dem der Westgoten scheint aber nicht nur Sigibert I. vorteilhaft, sondern auch seinem Halbbruder Chilperich I. und so heiratet dieser nur kurze Zeit später Brunichildes ältere Schwester Gailswinth. Doch diese Ehe währt nicht lange: 569 oder 57021 lässt Chilperich I. sie – folgt man dem Bericht des Gregor von Tours – durch einen Dienstmann ermorden. Im Hintergrund ist wohl auch Fredegunde in diesen Mord verstrickt; zumindest wird von Gregor Chilperichs I. Liaison mit ihr, die er bei seiner Heirat mit Gailswinth nur 18

19 20 21

Siehe dazu EWIG, Merowinger, 42. Der ursprüngliche Reichsteil Chariberts ist schwer zu rekonstruieren. Ewig vermutet, dass die ehemalige gotische Königsstadt Toulouse dazu gehört haben könnte. Vgl. dazu EWIG, Merowinger, 42f. Vgl. EWIG, Merowinger, 42. So datiert EWIG, Merowinger, 44.

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1. Einleitung

zum Schein aufgegeben hat, als Auslöser der dramatischen Ereignisse dargestellt.22 Gregor macht für den Mordauftrag Chilperich I. verantwortlich; denkbar wäre natürlich auch, dass Fredegunde den Mörder gedungen hat, um so ihre alte Position wiederzuerlangen, indem sie die Rivalin beseitigt. Von Chilperichs Seite aus betrachtet macht es nämlich wenig Sinn, wenn er einen Konflikt mit dem Königshaus der Westgoten vermeiden will, seine Gemahlin Gailswinth nicht zurückzuschicken, sondern statt dessen ermorden zu lassen und zwar so, dass er selbst sofort unter Verdacht gerät, wenn die Tat in Gailswinths Schlafzimmer im Königspalast geschieht. Denn gerade ihre Ermordung musste den befürchteten Konflikt heraufbeschwören. Fredegunde hingegen hätte Chilperich I. so vor vollendete Tatsachen gestellt. In diesem Falle wäre Chilperich I. tatsächlich überrascht worden, als er seine Gattin tot im Bett fand.23 22

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Gregor von Tours, Hist., IV, 28: ...Sed per amorem Fredegundis, quam prius habuerat, ortum est inter eos grande scandalum. Iam enim in lege catholica conversa fuerat et chrismata. Cumque se regi quaereretur assiduae iniurias perferre et diceretque, nullam se dignitatem cum eodem habere, petiit, ut, relictis thesauris quos secum detulerat, libera redire permitteretur ad patriam. Quod ille per ingenia dissimulans, verbis eam lenibus demulsit. Ad extremum enim suggillari iussit a puero, mortuam repperit in strato.../... Aber durch die Liebe zu Fredegunde, die er schon zuvor gehabt hatte, entstand zwischen ihnen große Zwietracht. Sie (Gailswinth) war nämlich gerade zum katholischen Glauben übergetreten und gesalbt worden. Als sie sich beim König beklagte, dass sie beständig Unrecht ertrage und sagte, dass sie bei ihm keine Würde habe, bat sie (schließlich), dass es ihr erlaubt sein solle, unter Zurücklassung der Schätze, die sie (bei der Hochzeit) mit sich gebracht habe, frei in die Heimat zurückzukehren. Unter einem Vorwand verweigerte er ihr dies und besänftigte sie mit sachten Worten. Zu guter Letzt ließ er sie von einem Dienstmann erwürgen, und fand sie (dann) tot im Bett... Venantius Fortunatus verfasste (im Auftrag ihrer Schwester Brunichilde) ein Carmen zum Tod der Gailswinth (Carmen VI, 5). Auffällig ist, dass die Ermordung dort kaum geschildert wird, sondern das Ganze als ein Werk des Schicksals dargestellt wird (251–254): nam breue tempus habens consortia nexa iugalis / principio uitae funere rapta fuit. / praecipiti casu uolucri praeuenta sub ictu / deficit, et uerso lumine lumen obit. / Denn nur für kurze Zeit hatte sie eheliche Gemeinschaft, / am Anfang des Lebens wurde sie durch einen gewaltsamen Tod geraubt, / rasch stürzt sie in steilem Fall unter einem jähen Stoß, / und mit gebrochenem Auge vergeht das Lebenslicht. Der Stoß könnte hier sowohl als ein Stoß des Schicksals aufgefasst werden, der Gailswinth zu Fall bringt, als sich auch auf die Todesart beziehen. Gailswinth wäre dann nicht erwürgt, sondern erdolcht worden. Auch hätte sie nicht im Bett gelegen. Bei Venantius ist es zudem die Amme, die Leiche findet, und das unmittelbar nach der Tat (255f.). Diese wenigen Verse sind übrigens die einzige mögliche Anspielung auf einen gewaltsamen Tod der Gailswinth, ein Täter wird nicht genannt. Allerdings ist die konsequente Nichterwähnung des Ehemanns, von dem man unter normalen Umständen natürlich Trauer erwarten müsste, ebenfalls auffällig und deutet darauf hin, dass Chilperich in irgendeiner Weise mit der Tat in Zusammenhang gebracht wurde. Dass er aber im Gegensatz zu der Stelle bei Gregor von Tours nicht ausdrücklich als Mörder genannt wird, muss nicht allein mit einer gewissen Vorsicht des Venantius zu erklären sein, sondern kann auch ganz einfach darauf zurückgeführt werden, dass der tatsächliche Auftraggeber des Mordes nicht bekannt war. In diesem Falle käme natürlich auch Fredegunde als Täterin oder Auftraggeberin in Frage. Ausführlich beschäftigt sich mit diesem Gedicht K. STEINMANN, Die Gelesuintha-Elegie des Venantius Fortunatus (Carm. VI 5). Text, Übersetzung, Interpretationen, Zürich 1975. Er hält Chilperich für den Verantwortlichen, Venantius habe aber die Mordtat aus Vorsicht wie einen Schicksalsschlag dargestellt, siehe 200 und 184 mit Anm. 52 auf Seite 214f. Schon MEYER, Der Gelegenheitsdichter Venantius Fortunatus,

Historischer und biographischer Kontext

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Den Tod der Schwester kann Brunichilde nicht verwinden und sie macht eindeutig Chilperich I. dafür verantwortlich. Obwohl der dritte Bruder Gunthram zu vermitteln versucht, kommt es zur Fehde, dann zum offenen Krieg zwischen Sigibert I. und Chilperich I. 24 Brunichilde sieht sich nach dem Mord an ihrer Schwester zur Blutrache verpflichtet,25 und Sigibert nimmt sich der Sache seiner Frau an. Mit wechselndem Erfolg zieht sich der Krieg einige Zeit dahin: Chilperich I. zieht nach Süden, um Tours und Poitiers anzugreifen, Sigibert I. hingegen versucht, ihn im Kern seines Reiches zu treffen. Er besetzt Paris und zwingt Chilperich I. dazu, sich nach Tournai zurückzuziehen. Doch dann wird er im Dezember 575 in Vitry selbst Opfer eines Mordanschlags. 26 Die Situation verändert sich schlagartig: Verwirrung kommt auf. Chilperich I., zuvor selbst in Bedrängnis, nützt die Konfusion, um seinerseits die umstrittenen Territorien zu annektieren und nun seine Residenz direkt in Paris aufzuschlagen.27 Damit berührt er zwangsläufig die Interessen seines Halbbruders Gunthram von Orléans, der sich, da sein eigener Sohn nicht mehr lebt, seines Neffen Childebert, des Sohnes von Sigibert I., annimmt. Childebert, erst fünf Jahre alt, ist nach Sigiberts Tod von Herzog Gundowald aus Paris fortgebracht und so Chilperichs Einfluss entzogen worden. Nun kommt es zum Krieg zwischen Chilperich und Gunthram; die erste Schlacht wird 576 in Aquitanien ausgefochten.28 577 adoptiert Gunthram Childebert und macht ihn so zu seinem Erben. Das Reimser Teilreich, das Childebert als Erbteil seines Vaters Sigibert I. zusteht, wird aber auf die Grenzen von 561 zurück geschnitten. Dafür wird sich später der Name Austrien oder Austrasien einbürgern. 29 Mit wechselnden Bündnissen setzt sich der Konflikt fort. Im Gegensatz zu Gunthram suchen die Mächtigen Austrasiens außenpolitisch eher einen Ausgleich mit den Goten, worin sie sich mit der neuen Politik des Chilperich I. treffen. Als 581 der austrasische Hausmeier Gogo stirbt, kommt es unter seinem Nachfolger Wandalenus zu einem Politikwechsel und einer faktischen Entmachtung der Königswitwe Brunichilde. Man einigt sich mit Chilperich, und dieser setzt nun seinerseits den Sohn des ermordeten Sigibert Childebert zum Erben ein. Zugleich erneuert Chilperich die Verbindung mit dem Gotenreich von Toledo, indem er seine Tochter Rekkared, dem Sohn Leovigilds, dem König der Westgoten, zur Frau verspricht. Obwohl die Braut schon unterwegs ist, kommt die Hochzeit nicht zustande, denn am 1. September 584 wird auch Chilperich I. ermordet.30

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120, zweifelt die Schuld des Chilperich an, ihm folgt V. F. BÜCHNER, Merovingica, Diss. Amsterdam 1913, 95ff. Vgl. dazu EWIG, Merowinger, 44 bzw. HARTMANN, Aufbruch ins Mittelalter, 59f. Siehe HARTMANN, Aufbruch ins Mittelalter, 60. Siehe EWIG, Merowinger, 44. Siehe EWIG, Merowinger, 44. Vgl. EWIG, Merowinger, 44, und HARTMANN, Aufbruch ins Mittelalter, 58. Vgl. EWIG, Merowinger, 44. Siehe zu diesem Abschnitt EWIG, Merowinger, 44–46, vgl. auch HARTMANN, Aufbruch ins Mittelalter, 58f.

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1. Einleitung

Im Hintergrund steht offenbar eine Verschwörung des Adels, die zu diesem Mord führt; die Folge ist der völlige Zusammenbruch seines Reiches.31 Dabei spielt auch der Usurpator Gundowald eine wichtige Rolle, wenn er von sich behauptet, ebenfalls ein Sohn Chlothars I. zu sein, sich dann selbst durch Schilderhebung zum König proklamieren lässt und nur das Erbe Sigiberts von Reims an seinen Sohn Childebert anerkennt. Doch gelingt es Gunthram, Gundowald zu isolieren. 585 erreicht Childebert das Mündigkeitsalter von fünfzehn Jahren und Gunthram erneuert feierlich das Versprechen, ihn zum Erben einzusetzen. Zuvor hatte er den nur vier Monate alten Sohn von Chilperich I. und Fredegunde, der einmal als Chlothar II. König des Gesamtreiches werden sollte, unter seinen Schutz gestellt, und dafür gesorgt, dass er das ursprüngliche Reich Chilperichs nördlich der Loire erhielt. Dieses Reich wird von nun an als Neustrien bezeichnet werden. Gunthram besiegt Gundowald auf dem Schlachtfeld. 586 und 587 werden Childeberts Söhne Theudebert und Theuderich geboren, einer Adelsverschwörung kann Childebert mit Hilfe seines Onkels entgehen. Am 28. November 587 wird der Vertrag von Adelot zwischen Gunthram und Childebert feierlich besiegelt und die Aufteilung des Chariberterbes endgültig geregelt. Onkel und Neffe setzen sich gegenseitig als Erben ein. Zwanzig Jahre hat es gedauert, bis man die Folgen der Teilung des Chariberterbes überwunden hat,32 und als Gunthram am 28 März 592 stirbt, fällt sein Reichsteil tatsächlich, wie vereinbart, an seinen Neffen Childebert.33 Aber nicht nur durch Sigibert I. und Brunichilde steht Venantius Fortunatus in Verbindung zum Königshaus der Merowinger. Wie bereits erwähnt, hatte Chlothar I. mehrere Frauen. 34 Seine überlebenden Söhne stammen von den Schwestern Ingunde und Arnegunde; verheiratet war er aber auch mit der Prinzessin Radegunde, die von ihm im Krieg gegen die Thüringer 531 gefangen genommen worden war. Diese Radegunde hatte ein Kloster in Poitiers gegründet und sich dorthin schon zu Lebzeiten Chlothars I. zurückgezogen. Und ihr gelingt es, Venantius Fortunatus an ihr Kloster zu binden:

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Siehe EWIG, Merowinger, 47, der die Auffassung vertritt, dass diese Verschwörung zwar durch alle Teilreiche gegangen sei, ihren eigentlichen Rückhalt aber in Austrien gehabt habe. Siehe zu diesem Abschnitt EWIG, Merowinger, 47f., vgl. auch HARTMANN, Aufbruch ins Mittelalter, 58f. Siehe HARTMANN, Aufbruch ins Mittelalter, 59. Zu den Ehen Chlothars siehe E. EWIG, Studien zur merowingischen Dynastie, in: Frühmittelalterliche Studien 8 (1974), 15–59, insbesondere 29–38. Er geht nach einer Berechnung des Alters der Kinder Chlothars davon aus, dass Chlothar wegen einer politischen Heirat (Guntheuca 524) seine Verbindung mit Ingunde 524 gelöst und irgendwann nach 531 wieder aufgenommen habe. Die drei ältesten Söhne seien wohl um 520, die jüngeren Kinder von Ingunde erst um 535 geboren, während Chilperich, der Sohn der Arnegunde erst um 537 geboren sei (35).

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1.2.2. Radegunde von Poitiers und Gregor von Tours Radegunde und das Kloster in Poitiers Radegunde ist die Tochter des Königs Berthachar von Thüringen, der in Streit um das Erbe von seinem Bruder Hermenefred ermordet wird.35 Als Kriegsgefangene gerät sie in die Hände von Chlothar I., der sie später heiratet, wie Gregor von Tours berichtet.36 Das genaue Geburtsdatum der Königin liegt im Dunkeln, ebenso ihr Geburtsort.37 Die Zeit nach der Ermordung ihres Vaters bis zu ihrer Gefangennahme durch die Franken verbringt sie im Haus ihres Oheims Irminfrid.38 Auf die Freundschaft zu dessen Sohn, Radegundes Cousin Amalafrid, spielt das Gedicht De excidio Thoringiae39 an, das Venantius Fortunatus später in ihrem Namen verfassen wird. Dort lässt er Radegunde sich als parva bezeichnen und an Amalafrid als dulcis infans40 erinnern, beide sind also wohl noch Kinder. Auf Chlothars Geheiß wird sie zunächst in der Villa Atteias erzogen,41 heiratet ihn also nicht sofort. Daraus kann man schließen, dass Radegunde das heiratsfähige Alter noch nicht erreicht hat, also höchstens zehn oder elf Jahre alt ist, eventuell jünger, wobei die Hochzeit mit Chlothar vielleicht nach dem Tode Hermenefreds und der Neuorganisation Thüringens (534), spätestens aber um 540 stattgefunden haben dürfte.42 35 36

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Siehe Gregor von Tours, Hist. Franc., III, 4. Hist. Franc, III, 7, vgl. oben. Neben dem Geschichtswerk des Gregor von Tours, in dem Radegunde verschiedentlich erwähnt wird, gibt es zwei Viten, nämlich die des Venantius Fortunatus: Venanti Fortunati Vita sanctae Radegundis, ed. B. KRUSCH, (MGH, AA, IV, 2), Berlin 1885, XVI–XIX, 38–49, Wiederabdruck in MGH, SS rer. Mer., II, Berlin 1888, 358–377, sowie die der Baudonivia, einer Nonne aus dem Kloster in Poitiers, deren Vita aber erst zu Beginn des siebten Jahrhunderts entstanden ist, Baudoniviae Vita sanctae Radegundis, ed. B. KRUSCH, Berlin 1888 (MGH, SS rer. Mer., II), 377–395. Diese beiden Viten untersucht und vergleicht hinsichtlich ihrer Intention S. GÄBE, RADEGUNDIS: SANCTA, REGINA, ANCILLA. Zum Heiligkeitsideal der Radegundisviten von Fortunat und Baudonivia, in: Francia 16/1 (1989), 1–30. Ausführlich zu Radegunde jetzt auch H. EIDAM & G. NOLL (Hrsg.), Radegunde. Ein Frauenschicksal zwischen Mord und Askese, Ausstellungskatalog Erfurt 2006; zu ihrem Leben vgl. insbesondere 56–78. M. VAN UYTFANGHE, Art: Radegunde, in: LexMA 7, 387, vermutet 520 in Erfurt, versieht die Angabe aber mit einem Fragezeichen. HARTMANN, Aufbruch ins Mittelalter, 54, spricht sich für ein Geburtsdatum zwischen 520 und 525 aus. Siehe W. MEYER, Der Gelegenheitsdichter Venantius Fortunatus, (Abhandlungen der königl. Ges. der Wiss. zu Göttingen, Phil.-hist. Kl. Neue Folge, IV, 5), Berlin 1901, teilweise nachgedruckt in: K. Langosch, Mittellateinische Dichtung. Ausgewählte Beiträge zu ihrer Erforschung (Wege der Forschung 149), Darmstadt 1969, 57–90. Mit der Radegundis Vita des Venantius Fortunatus beschäftigt sich Meyer 90–108 und zieht auch die der Baudonivia zum Vergleich heran (im Nachdruck fehlt dieser Abschnitt leider), hier 93. Appendix I. Appendix I, V. 54 und 49. Siehe dazu auch MEYER, Der Gelegenheitsdichter Venantius Fortunatus, 93. GÄBE , 1, geht davon aus, dass Radegunde zu diesem Zeitpunkt ungefähr zehn Jahre alt ist. MEYER, Der Gelegenheitsdichter Venantius Fortunatus, 93f., weist darauf hin, dass die Ermordung ihres Vaters nicht schon 516 erfolgt sein könne, da Radegunde dann 531 mindestens

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1. Einleitung

Die Erziehung in Atteias soll Radegunde auf ihre künftige Rolle als Königin vorbereiten und für eine gewisse Zeit nimmt sie diese Rolle an Chlothars Seite ein43. Doch dann kommt es zu einem weiteren Wendepunkt in ihrem Leben: Ihr Bruder wird ermordet. Radegundes Bruder ist ebenso wie sie bei der Eroberung Thüringens Gefangener der Franken geworden. Verantwortlich für diesen Mord zeichnet nach Gregor von Tours Radegundes eigener Ehemann, nämlich Chlothar I.44 Chlothars I. Motiv allerdings ist umstritten. Manche Forscher stellen die Tat in Zusammenhang mit einem Aufstand der Thüringer.45 Wilhelm Meyer sah bereits 1901 den Grund im Status von Radegunde und ihrem Bruder. Sie seien die einzigen thüringischen Königskinder gewesen, welche die Franken mitgenommen hätten. Damit sei ihr Status aber der von Geiseln gewesen. Offenbar habe der Bruder nach Griechenland zu Amalafrid, dem Thronprätendenten Thüringens, fliehen wollen, 46 so dass die Tötung der Geisel nahe gelegen und das Staatsrecht nicht verletzt habe. 47 Wie dem auch sei, für Radegunde wird der Mord an ihrem Bruder zum auslösenden Moment, um sich von Chlothar I. zu trennen. Sie lässt sich vom Bischof

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16 Jahre alt gewesen sei. In diesem Alter hätte die Hochzeit natürlich sofort erfolgen können. EWIG, Merowingische Dynastie, 56, weist darauf hin, dass sie 531 mindestens sechs Jahre alt gewesen sein dürfte. Da Chlothar I. sie nutriendi causa in Athles untergebracht habe, könne sie zu diesem Zeitpunkt noch keine 15 Jahre alt gewesen sein, wahrscheinlich sei sie jünger als 12 gewesen. Ihre Geburt sei wohl in die Jahre 520 – 525 zu datieren. Wenn man für den Tod Berthachars ein Datum zu Beginn bis Mitte der zwanziger Jahre ansetzt (bei Gregor von Tours, Hist, III 4 wird von seiner Ermordung in Zusammenhang mit Ereignissen um das Jahr 522 berichtet), würde die Chronologie passen. Der Sohn der Arnegunde, Chilperich I., ist aber um 537 geboren (siehe EWIG, Merowingische Dynastie, 35), zugleich ist Radegunde, die letzte regina Chlothars I. gewesen, die mit Namen bekannt ist. Die Hochzeit hätte dann um 540 stattgefunden, als sie 15 oder höchstens 20 Jahre alt gewesen sei. Darauf weist EWIG, Merowingische Dynastie, 57, hin. Ihm folgt Gäbe, 1. Vgl. GÄBE, 1. Siehe Gregor von Tours, Hist. Franc., III,7: ...Chlothacharius vero rediens, Radegundem, filiam Bertecharii regis, secum captivam abduxit sibique eam in matrimonio sociavit; cuius fratrem postea iniuste per homines iniquos occidit... / ...Als Chlothar aber zurückkehrte, führte er Radegunde, die Tochter des Königs Bertachar, als Kriegsgefangene mit sich und vereinigte sich ehelich mit ihr; ihren Bruder ließ er später ungerechterweise durch schlechte Menschen töten... So VAN UYTFANGHE, Art. Radegunde, in: LexMA, 7, 387: Ihr Bruder sei als Vergeltung für den Aufstand der Thüringer (555) hingerichtet worden. Vgl. auch R. AIGRAIN, Sainte Radegunde, Paris 1918, 46ff. Da die Weihung zur Diakonin wohl schon vor 555 stattgefunden hat, muss man, bringt man den Tod des Bruders mit dem Aufstand der Thüringer in Verbindung, wie FELS, Studien zu Venantius Fortunatus, 11f., eine Trennung Radegundes von Chlothar und einen Rückzug auf ihr Landgut bereits vorher ansetzen; die Ermordung des Bruders wäre dann nicht der Anlass der Trennung, sondern der Klostergründung gewesen. Allerdings bringt Venantius Fortunatus selbst in der Vita sanctae Radegundis (XXVI) die Trennung von Chlothar unmittelbar mit der Ermordung des Bruders in Zusammenhang, was auch bedeuten kann, dass sein Tod nichts mit dem Aufstand der Thüringer zu tun hat und vor 555 zu datieren ist. Darauf deutet Venantius Fortunatus, De excidio Thoringiae, Carmina, Appendix I, 129 hin, das der Dichter im Namen der Radegunde verfasste. Siehe MEYER, Der Gelegenheitsdichter Venantius Fortunatus, 94f.

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Medardus von Noyon zur Diakonin weihen.48 Diese Weihe wird wohl um 550 oder etwas später stattgefunden haben.49 Zunächst lebt Radegunde auf ihren Besitzungen in Saix (Sudeas), dann gründet sie in Poitiers eine Klostergemeinschaft. Dabei zeigt sie sich sichtlich bemüht, eine möglichst große Autonomie und Unabhängigkeit zu wahren. Hatte sie sich durch ihre Weihe zur Diakonin dem Hofleben und Chlothar I. entzogen, ordnet sie sich hier nicht dem Metropolit von Poitiers unter, der eigentlich die Oberaufsicht über das Kloster haben müsste. Ganz im Gegenteil: In liturgischen Angelegenheiten zieht sie fremde Bischöfe hinzu. Als Maroveus, der Bischof von Poitiers, sich weigert, die Kreuzesreliquien, die Radegunde aus Byzanz erhalten hat und die zunächst in Tours aufbewahrt werden, nach Poitiers zu überführen, kommt es schließlich zum offenen Konflikt und Eufronius, der Bischof von Tours, leitet auf Bitte der Radegunde die Überführung.50 Die Klostergründung in Poitiers selbst ist exzeptionell, stellt sie doch ein frühes Beispiel für eine Gründung seitens der königlichen Dynastie dar, ein Kloster, das zumindest aus königlichen Mitteln finanziert wurde.51 Gerade deswegen befand es sich in einer Sonderstellung, so dass es zu Konflikten mit dem örtlichen Metropoliten kommen musste. Nach diesem Vorfall stellt sich Radegunde unter königlichen Schutz; zu diesem Zeitpunkt (wohl 568/69)52 ist Sigibert I. dafür zuständig. Später empfängt sie aus Arles die Klosterregel des Caesarius, um sie im eigenen Kloster einzuführen; die endgültige Einführung hängt möglicherweise mit der Ermordung Sigiberts

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Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, 12, beschreibt diese Szene. Der Ausdruck directa a rege veniens impliziert eine Zustimmung des Königs. Da aber Medardus zunächst von den Vornehmen, den Proceres, davon abgehalten wird, ist diese Zustimmung allenfalls eine Billigung (vgl. Gäbe, 10, Anm. 55 & 58), möglicherweise etwas, was Chlothar ihr im unmittelbaren Zusammenhang mit der Ermordung ihres Bruders nicht abschlagen konnte. Auch der spätere Versuch Chlothars, sie zurückzuholen (siehe Baudonivia, Vita sanctae Radegundis, 6), deutet nicht darauf, dass die Initiative von ihm ausging. Viel wahrscheinlicher ist, dass sie die Gelegenheit suchte, sich Chlothars Einfluss zu entziehen, der sie zunächst in die Ehe gezwungen und nun auch nicht davor zurückgeschreckt war, ihren Bruder töten zu lassen. So EWIG, Merowingische Dynastie, 56f. Er weist darauf hin, dass sich später der Usurpator Gundowald – hinsichtlich seiner Abstammung – auf Chlothar I. und Radegunde berufe. Das bedeute wohl, dass Radegunde zum Zeitpunkt seiner Geburt (um 550) noch am Hof gewesen sei. Damit wäre aber die Datierung von GEORGE, Venantius Fortunatus, 30, welche die Klostergründung schon für 544 ansetzt, wohl zu früh. Vgl. GÄBE, 16. Dass dadurch der Konflikt ausbrach, berichten Gregor von Tours (Hist., IX, 40) und Baudonovia (Vita sanctae Radegundis, 16) übereinstimmend. Gregor von Tours (Hist., IX, 40) stellt allerdings Maroveus als den Übeltäter hin, ohne irgendeine Begründung für sein Verhalten zu geben. Siehe dazu F. PRINZ, Frühes Mönchtum im Frankenreich, Darmstadt 21988, 157. Vgl. auch Gäbe, 19: „Wenn St.-Croix auch nicht im eigentlichen Sinne Königskloster gewesen ist, so war es doch per ordinationem praecelsi Chlotarii von Radegunde gegründet und mit Königsgut ausgestattet worden (...) Auch hatte es die Heilige bei grundsätzlicher Anerkennung der bischöflichen Autorität unter Königsschutz gestellt (...) Daß sich Bischof Maroveus durch Childebert erst wieder neu bestätigen lassen mußte, daß es ihm erlaubt sei, das Kloster regulariter gubernare (...), zeigt darüberhinaus sehr deutlich, daß das Kloster von königlicher Macht getragen wurde.“ So datiert AGRAIN, Sainte Radegunde, 102.

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1. Einleitung

I. (575) zusammen.53 Schon die Translation der Kreuzesreliquien sollte wohl die Reputation des Klosters erhöhen und auf diese Weise seine Stellung sichern. Andererseits ist vielleicht auch gerade darin ein Grund für die Weigerung des Maroveus sehen, die Kreuzreliquien nach Poitiers zu überführen. Dafür spricht auch, dass es nach dem Tode der Radegunde in Poitiers eine gewisse Konkurrenz zwischen dem bereits etablierten Hilarius-Kult und dem neuen der Radegunde gegeben zu haben scheint.54 Möglicherweise existierte sie aber schon zuvor oder Maroveus befürchtete, dass dem Kult des Hilarius, der seiner Aufsicht als Bischof unterstand, durch die Verehrung der Kreuzreliquien Konkurrenz entstehe, welche die Pilgerströme umlenken oder zumindest verteilen könnte, wobei sie sich im Kloster der Radegunde seiner Kontrolle völlig entzögen. Radegunde nimmt in ihrem Kloster jedoch bewusst nicht die Position einer Äbtissin ein. Dennoch hat sie als Klostergründerin und Königin eine besondere Stellung inne, die es ihr erlaubt, die Äbtissin selbst einzusetzen.55 Diese Äbtissin ist Agnes, die als Pflegetochter von Radegunde erzogen worden ist, und zu der sie – das darf man wohl annehmen – ein besonders vertrautes Verhältnis hat.56 Formal hat Radegunde damit nur die Stellung einer einfachen Schwester, die der Äbtissin untersteht; ihre Aktivitäten für das Kloster zeigen aber, dass sie eher so etwas wie 53

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Gregor von Tours, Hist. Franc., IX, 40: ...Post haec, cum ponteficis sui saepius gratiam quaereret nec possit adipisci, necessitate commota, cum abbatissa sua, quam instituerat, Arelatensim urbem expetunt. De qua regulam sancti Caesarii atque Casariae beatae susceptam, reges se tutione munierunt, scilicet quia in illum, qui pastor esse debuerat, nullam curam defensiones suae potuerant repperire. / Danach ging sie, weil sie die Gunst ihres Bischofes häufiger gesucht aber nicht erlangen konnte, infolge der Notlage zusammen mit der Äbtissin, die sie eingesetzt hatte, nach Arles. Von dort erhielten sie die Regel des heiligen Caesarius und der heiligen Casaria und stellten sich unter den Schutz des Königs, offenbar, weil sie bei dem, der ihr Hirte hätte sein müssen, keine Sorge um ihren Schutz finden konnten. FELS, Studien zu Venantius Fortunatus, setzt für die Weihe der Agnes zur Äbtissin und Venantius Fortunatus zum Presbyter das Jahr 576 an, vgl. dort 33 & die Tabelle 131, was bedeutete, dass die formale Einführung der Regel erst nach der Ermordung Sigiberts I. und den daraus folgenden politischen Wirren (Chilperich I. herrscht nun über Tours und Poitiers) erfolgt wäre. Siehe GÄBE, 20f. Vgl. die oben zitierte Stelle Gregor von Tours, Hist. Franc., IX, 40: ...cum abbatissa sua, quam instituerat /... mit der Äbtissin, die sie eingesetzt hatte. Vgl. den Brief der Radegunde an die Bischöfe bei Gregor von Tours, Hist. Franc., IX, 42: ...Cui, consentientibus beatissimis vel huius civitatis vel reliquis pontificibus, electione etiam nostrae congregationis, domnam et sororem meam Agnitem, quam ab ineunte aetate loco filiae colui et eduxi, abbatissam institui ac me post deum eius ordinatione regulariter oboedituram conmisi.../... In Übereinstimmung mit den heiligen Bischöfen dieser Stadt oder auch den übrigen Bischöfen habe ich nach Wahl unserer Gemeinschaft dieser die Herrin und Schwester Agnes als Äbtissin eingesetzt, die ich von Kindesbeinen an wie eine Tochter gehegt und erzogen habe, und habe mich nach Gott ihrem Gebot – der Regel gemäß – zu Gehorsam verpflichtet... Auch wenn hier von der Wahl der Agnes durch die Gemeinschaft die Rede ist, muss man wohl davon ausgehen, dass der Vorschlag von Radegunde kam, und sich wohl auch niemand diesem Vorschlag der Klostergründerin widersetzen konnte. Der Ausdruck institui / ich habe eingesetzt deutet in dieselbe Richtung und lässt wenig Zweifel daran, dass die Wahl wohl eher ein formaler Akt war.

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eine „prima super pares“ war, gegen deren Wunsch sich nichts verwirklichen ließ, auch wenn sie in der Vita des Venantius Fortunatus als die demütigste und gehorsamste unter den Nonnen dargestellt wird.57 Mit der Einführung der Regel des Caesarius von Arles organisiert sie das Kloster nach dem Vorbild des südostgallischen Mönchtums. 58 Auch durch die Anlage des Klosters in der Stadt und einer Grabeskirche für die Nonnen außerhalb folgt sie diesem Beispiel. 59 Dennoch gehen ihre Bestrebungen über die Vorschriften des Caesarius hinaus, denn sie ist sowohl in der Krankenpflege als auch in der sozialen Fürsorge engagiert.60 Das zumindest legt Venantius Fortunatus in seiner Vita nahe, wo er dies bereits in Radegundes vorklösterlichen Zeit angelegt sieht. 61 Und derartiges hätte er nach dem Tod der Radegunde sicher nicht behaupten können, wenn es keinen wahren Kern enthalten hätte. Radegunde hat also mit dem Rückzug ins klösterliche Leben ein gewisses Maß an Unabhängigkeit sowohl vom Hof als auch vom örtlichen Metropoliten erlangt, und die oben aufgeführten Maßnahmen zeigen, dass sie es versteht, diese Unabhängigkeit auch nach Chlothars Tod zu erhalten. Dabei zieht sie sich nicht aus der Verantwortung für die von ihr gegründete Gemeinschaft zurück, die nach ihrem Tode immerhin 200 Nonnen zählen sollte,62 sondern setzt ihre besondere Stellung zum Wohl des Klosters ein. Und einen Dichter an eben dieses Kloster zu binden, konnte in diesem Zusammenhang nur nützlich sein. Im Gegensatz zu ihrem Geburtsdatum ist das Todesdatum der Radegunde bekannt. Sie stirbt am 13. August 587.63 Bestattet wird sie nicht vom Ortsbischof Maroveus, sondern von Gregor von Tours. Der Konflikt zwischen ihr und dem Bischof von Poitiers ist also durch ihren Tod nicht beigelegt und wird sich durch die Bestattung durch einen fremden Bischof wohl eher verstärkt haben.64 Zusätzlicher Konfliktstoff ergibt sich auch daraus, dass man sie schon bald nach ihrem 57 58 59 60

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Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, 23. Siehe dazu GÄBE, 14–16. Siehe PRINZ, Frühes Mönchtum, 115f. Siehe PRINZ, Frühes Mönchtum, 158. Vgl. dazu GÄBE, 25: „Auch der karitative Aspekt der Heiligkeit Radegundes, der Fortunat so reichen Stoff zur Verherrlichung geliefert hatte, ist bei Baudonivia der klösterlichen Wirklichkeit angepaßt (...) Untersagte doch die Regel von Arles geradezu allzu häufiges Almosengeben an der Tür des Klosters, um keine Unruhe in der Kongregation aufkommen zu lassen (...), und Krankenpflege und soziale Fürsorge spielen in der Regel des Caesarius kaum eine Rolle. Sie sieht als Hauptaufgabe der Klosterinsassinnen die Kontemplation vor; Lesungen, Nachtwachen und Gebete (...).“ Siehe Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, z. B. 3: ... A cuius munificentia nec ipse se abscondere potuit eremita;.../... Von der Freigebigkeit dieser Art konnte sie sich nicht einmal als Eremitin lösen;... oder 4: ...Sic devota femina nata et nupta regina, palatii domina, pauperibus serviebat ancilla.../... So war sie eine gottergebene Frau, geboren und verheiratet als Königin, im Palast eine Herrin, den Armen eine Dienerin. Siehe PRINZ, Frühes Mönchtum, 158. Siehe Gregor von Tours, Hist. Franc., IX, 2. Vgl. G. SCHEIBELREITER, Königstochter im Kloster, Radegund († 587) und der Nonnenaufstand von Poitiers (589), in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 87 (1979), 1–37, hier 11ff.

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1. Einleitung

Tode als Heilige verehrt, wozu die Schilderungen von Gregor65 und die Vita des Venantius Fortunatus wohl nicht unbeträchtlich beigetragen haben dürften. Für das Kloster allerdings bedeutet die Heiligkeit seiner Gründerin eine weitere Legitimation seiner Sonderstellung, die es ansonsten mit dem Tod der Königin Radegunde zu verlieren drohte. Gregor von Tours Eine weitere Person ist für das Leben des Venantius Fortunatus von eminenter Bedeutung, die des Historikers und Bischof von Tours, Gregor. In diesem Zusammenhang ist die Tatsache von nicht unerheblicher Wichtigkeit, dass Tours und Poitiers, ursprünglich zum Machtbereich Sigiberts I. gehörig, nach dessen Ermordung bis 584, also neun Jahre, unter die Herrschaft von Chilperich I. fallen. Besonders prekär ist die Situation für Gregor von Tours, der 573 noch von Sigibert I. eingesetzt worden ist. Die wichtigste und ausführlichste historiographische Quelle für die Geschichte des Merowingerreiches im sechsten Jahrhunderts stammt von Gregor von Tours, die Historiarum libri decem, später entgegen seiner ursprünglichen Intention auch als Historia Francorum / Geschichte der Franken bezeichnet. Da andere schriftliche Quellen aus dieser Zeit äußerst spärlich sind, bestimmt bis heute zu Gregors spezifische Sichtweise das Bild von dieser Zeit, sofern uns nicht die wenigen anderen Quellen literarischer oder nicht literarischer Provenienz als Korrektiv zur Verfügung stehen. Man hat in diesem Zusammenhang von „L’emprise encombrante“, der erdrückenden Präsenz seines Geschichtswerkes gesprochen, von der man versuchen müsse, sich freizumachen.66 Von den zehn Büchern der Historien beschäftigen sich nur die ersten vier mit der Zeit vor 575, während der gesamte Rest von Ereignissen berichtet, die sich danach bis 592 zugetragen haben (was gelegentliche Rückgriffe nicht ausschließt), bei denen Gregor also Zeitzeuge und in die er zum Teil auch involviert ist. Auch das trägt dazu bei, sein Bild dieser Jahre zu perpetuieren. Wer ist dieser Gregor von Tours? Geboren wird er am 30. November 538 oder 539 in Clermont.67 Nach seinem Vater und Großvater erhält er den Namen Grego65 66

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Gregor von Tours, Liber in gloria martyrum, 104. K. F. WERNER, in: H. ATSMA (Hrsg.): La Neustrie. Les pays au nord de la Loire de 650 à 850, (Beihefte der Francia 16,1), Sigmaringen 1989, Introduction XV. Siehe zu diesem Problem M. HEINZELMANN, Gregor von Tours (538 – 594) „Zehn Bücher Geschichte“, Historiographie und Gesellschaftskonzept im 6. Jahrhundert, Darmstadt 1994, hier 1f. und 176. Heinzelmann untersucht in dieser Arbeit das Gestaltungskonzept der Historien des Gregor von Tours und sieht in dessen ecclesia-Konzept als Lehre von der „,totalen sittlichen und christlichen Gemeinschaft’“ (182) den Dreh- und Angelpunkt des Werkes, dem die Gestaltung untergeordnet ist (siehe 136–166 und 180f.). Siehe HARTMANN, Aufbruch ins Mittelalter, 15. Vgl. zu Gregor auch Gregory of Tours, Life of the Fathers, trans. with an introduction by E. JAMES, Liverpool 2 1991, IX–XII, bzw. GEORGE, Venantius Fortunatus, 124–131, wo es um die Beziehungen zwischen Gregor und Venantius geht. Zu seiner Verwandtschaft und Biographie vor dem Episkopat in Tours siehe HEINZELMANN, Gregor von Tours, 7–31.

Historischer und biographischer Kontext

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rius Florentius. Beide Elternteile, Florentius und Armentaria, stammen aus wohlhabenden gallo-römischen Familien, ihre Hochzeit findet 534 statt.68 Unter Gregors direkten Vorfahren gibt es nur einen Bischof, Gregorius Attalus, Bischof von Langres, Gregors Urgroßvater, über den wir nicht nur eine Vita aus der Hand seines Urenkels besitzen, sondern auch ein Epitaphium, das von Venantius Fortunatus wahrscheinlich im Auftrag Gregors verfasst worden ist. Außerdem ist er wohl Adressat eines Briefes des Sidonius Apollinaris. 69 Zu Gregors Verwandtschaft zählen auch Nicetus (552–573 Bischof von Lyon), Eufronius, der Cousin oder Bruder seiner Mutter und 561–573 Bischof von Tours, schließlich Gregors Onkel Gallus, 525–551 Bischof von Clermont.70 Gregor hat zwei Geschwister, einen älteren Bruder mit Namen Petrus und eine Schwester, deren Namen nicht überliefert ist. Gregors Vater Florentius stirbt, als Gregor gerade acht Jahre alt ist.71 Offenbar hält sich Gregor danach zusammen mit seiner Mutter häufig in Clermont auf, wo er auch von seinem Onkels Gallus, dem Bischof dieser civitas, besucht wird.72 Noch vor dem Tod des Onkels (14. 5. 551) zieht sich Gregor eine schwere Erkrankung des Magens zu. Zweimal sucht er deshalb das Grab des heiligen Illidius auf und verspricht, sollte er gesund werden, Kleriker zu werden. Da sein älterer Bruder zu diesem Zeitpunkt wohl schon Kleriker ist, scheint dieser Weg keineswegs vorgezeichnet. Eher steht zu vermuten, dass Gregor die weltliche Linie seiner Familie und ihre Traditionen fortführen soll, da der älteste Sohn bereits dem geistlichen Stand angehört.73 Um die geistliche Erziehung des Jungen kümmert sich zunächst Avitus, damals Geistlicher an der Bischofskirche in Clermont, bevor er dem Gallus als Bischof nachfolgt. 74 Mit Sicherheit besucht Gregor in der Folge auch für längere Zeit seinen Großonkel Nicetus in Lyon, wo dieser inzwischen Bischof ist; dass er sich dort ständig aufgehalten hat, muss aber wohl nicht angenommen werden. 75 Gregors schwache Gesundheit belastet ihn auch in den folgenden Jahren: Wie er es selbst ausführlich schildert,76 erkrankt er im Alter von fünfundzwanzig so schwer, dass er jede Hoffnung zu überleben bereits aufgegeben hat. Deshalb pilgert 68

69

70 71 72 73 74 75 76

Vgl. JAMES, Gregory, Life of the fathers, IX. Zu Gregors Eltern ausführlich Heinzelmann, Gregor von Tours, 11 und 13ff. Gregors Vater (ca. 495–546 oder 551) musste nach seiner Heirat mit der wohl 20 Jahre jüngeren Armentaria für kurze Zeit als auvergnatische Geisel ins austrasische Kernland. Venantius Fortunatus, Carm., IV, 2; Sidonius Apollinaris, Epistulae, V, 18. Diese Zuordnung ist allerdings umstritten, siehe dazu HEINZELMANN, Gregor von Tours, 17f., wo gute Gründe dafür angeführt werden, dass der Brief tatsächlich an Gregors Urgroßvater gerichtet ist, der vor dem Tod seiner Frau quasi die Herrschaft über die civitas Autun innegehabt habe und erst danach Bischof von Langres geworden sei, hauptsächlich aber in Dijon residiert habe (18). Siehe HEINZELMANN, Gregor von Tours, 20 (zu Nicetus), 15f. (zu Eufronius) und 11f. (zu Gallus). Siehe HEINZELMANN, Gregor von Tours, 27. Siehe HEINZELMANN, Gregor von Tours, 27. Das vermutet HEINZELMANN, Gregor von Tours, 28. Vgl. JAMES, Gregory, Life of the fathers, IX. Darauf weist HEINZELMANN, Gregor von Tours, 29, hin. Gregor von Tours, De virtutibus sancti Martini, I, 32–36.

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er zum Grab des heiligen Martin nach Tours, um sich ihm entweder lebendig zu präsentieren oder dort seine letzte Ruhe zu finden. Wider Erwarten wird er gesund und schreibt seine wundersame Rettung dem Wirken des Heiligen zu. In dieser Schilderung wird die besondere Beziehung Gregors zu Martin bereits deutlich, bevor er selbst Bischof von Tours wird. Zu diesem Zeitpunkt (um 563) ist er wohl bereits Diakon,77 zehn Jahre vor seiner Bischofsweihe.78 Zum Bischof von Tours wird er unter Sigibert I., der 567 das Bistum Tours aus dem Erbe seines Bruders Charibert erhalten hat. Seine Berufung liegt möglicherweise deshalb nahe, weil sein direkter Vorgänger, Eufronius, Vetter oder vielleicht sogar Bruder der Mutter von Gregor war.79 Aber schon zwei Jahre später, nach der Ermordung Sigiberts I., gerät Tours unter die Herrschaft Chilperichs I. Dessen Sohn Merovech heiratet, wohl um seine eigene Position gegenüber dem Vater zu stärken, Sigiberts Witwe Brunichilde, was er allerdings auch nur zwei Jahre (bis 577) überlebt. Die Trauung nimmt Bischof Praetextatus vor, der daraufhin bei Chilperich I. in Ungnade fällt. Auf dem Konzil von Paris bringt Chilperich I. von Paris eine Reihe falscher Anschuldigungen gegen ihn vor, um seine Absetzung zu erreichen. Als Gregor sich als einziger aller Bischöfe auf dem Konzil dagegen wendet, gerät auch er in Konflikt mit Chilperich I.80 Oppositionelle Kräfte in Tours unter Leudast versuchen ihn abzusetzen; dabei wird der Vorwurf erhoben, Gregor habe Chilperichs I. Gemahlin Fredegunde verleumdet. Da dieser Vorwurf Hochverrat gleichkommt, muss sich Gregor 580 vor Chilperich I. verantworten. Er übersteht das Tribunal und 584 wird Chilperich selbst ermordet. Tours wird von Gunthram dem Herrschaftsbereich von Sigiberts Sohn Childebert II. zugeschlagen. In den folgenden Jahren ist Gregor auch in diplomatischen Missionen unterwegs: Gunthram schickt ihn 585 zu einer Konferenz zu Childebert II. nach Koblenz, Childebert II. 588 zu Gunthram, um die Regelungen des Vertrags von Andelot zu bestätigen. Außerdem erreicht er 589 von Childebert die Bestätigung einer Steuerbefreiung für Tours, wozu seine zuvor in der Diplomatie erworbenen Meriten nicht unerheblich beigetragen haben dürften. Gregor stirbt 594, nach mehr als zwanzigjähriger Amtszeit als Bischof von Tours.81 Neben seiner Tätigkeit als Bischof ist ein umfangreiches literarisches Werk entstanden. Die schon erwähnten Historien hat er wohl zum größten Teil während des Episkopats geschrieben. Hinzukommen ein Kommentar zu den Psalmen und acht Bücher Miracula, denen das Liber vitae Patrum als siebtes Buch zugerechnet 77 78 79 80

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Siehe Gregor von Tours, De virtutibus sancti Martini, I, 35. Einer seiner Gefährten hat eine Traumvision, in der er aufgefordert wird, die Reliquie, die er vom Bett des Heiligen mitgenommen hatte, Gregorio diacon / dem Diakon Gregor zu übergeben. Vgl. zu diesem Abschnitt HEINZELMANN, Gregor von Tours, 28f. Zu der Verwandtschaftsbeziehung des Eufronius mit Gregor siehe HEINZELMANN, Gregor von Tours, 16. Siehe die ausführliche Schilderung bei Gregor von Tours, Hist. Franc., V, 18. Gregor wendet sich gegen die Anschuldigung des Hochverrats; die Eheschließung zwischen Merovech und Brunichilde hält auch er für nicht rechtens (siehe Hist., V, 2), allerdings sieht er darin keinen Grund für die Absetzung des Bischofs. Vgl. zu diesem Abschnitt JAMES, Gregory, Life of the fathers, Xf.

Historischer und biographischer Kontext

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wird. In diesen zwanzig Lebensbeschreibungen von Bischöfen, Äbten und Einsiedlern finden sich auch drei seiner Verwandten, nämlich die Vita seines Urgroßvaters Gregor (VII), seines Onkels Gallus (VI) und die des Nicetius von Lyon (VIII). Von den übrigen Büchern der Miracula beschäftigt sich eines mit dem Ruhm der Märtyrer, Liber in gloriam martyrorum (I), eines mit dem der Bekenner, Liber in gloria confessorum (VIII), eines mit der Passion und den Wundern des heiligen Julian, Liber de passione et virtutibus sancti Iuliani martyris (II), und vier Bücher handeln von den Wundern des heiligen Martin, De Virtutibus sancti Martini Episcopi (III–VI). Die Vita des heiligen Martin gestaltet auf Gregors Initiative hin Venantius Fortunatus in vier Büchern hexametrischer Dichtung. Venantius verfasste schon ein Gedicht zur Amtseinführung Gregors.82 Spätestens seit dieser Zeit gibt es engen Kontakt zwischen beiden, was nicht nur zahlreiche Gedichte des Venantius an Gregor, sondern auch eine Reihe von Gedichten, die in seinem Auftrag entstanden sein dürften, belegen.83 Die Beziehung gipfelt vielleicht darin, dass es Gregor ist, der Venantius zur Herausgabe seiner Gedichte in Form einer Sammlung auffordert. Zugleich ist hier wohl auch von einem gewissen Mäzenatentum auszugehen: So bedankt sich Venantius Fortunatus in einem Gedicht bei Gregor dafür, dass dieser ihm ein Landgut geschenkt hat.84

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84

Venantius Fortunatus, Carm., V, 3. Z. B. das bereits erwähnte Carm., IV, 2, ein Epithaphium auf Gregors Urgroßvater Gregorius Attalus, das, da dieser bereits 539 verstorben ist, eigentlich nur von Gregor zum Gedenken an seinen Urgroßvater in Auftrag gegeben worden sein kann. Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 19.

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1.2.3. Die Vita des Venantius Fortunatus Venantius Fortunatus erblickt wahrscheinlich nach 540 das Licht der Welt, möglicherweise im Dezember 544 n. Chr.85 Damit ist er ungefähr zur selben Zeit geboren wie Gregor von Tours. Die genaue Datierung erweist sich deshalb als schwierig, weil fast alle Angaben über die Vita des Venantius aus Selbstzeugnissen extrahiert werden müssen, was in besonderem Maße für die ersten Lebensabschnitte gilt.86 In den Handschriften erscheint sein Name als Venantius Honorius Clementianus Fortunatus. Die Handschriften seiner Werke, die auf uns gekommen sind, stammen nicht mehr aus dem sechsten oder siebten Jahrhundert, allerdings kann man die ältesten bereits auf das achte Jahrhundert datieren.87 Der Name selbst führt nicht sehr viel weiter, da aus der Spätantike zwar einige Venantii in herausgehobenen Positionen bekannt sind, sich aber keine sichere Verbindung zur Familie des Dichters herstellen lässt; ähnlich verhält es sich bei den cognomina.88 Andererseits ist auch nicht auszuschließen, dass er aus vornehmer Familie stammt. Fortunatus bezieht sich auf einen Märtyrerheiligen aus Aquileia, der Venantius Fortunatus persönlich wohl mehr bedeutet, als dass er sich durch reine Familientradition ließe.89

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87 88 89

Siehe FELS, Studien zu Venantius Fortunatus, 131, der von der Weihe des Venantius Fortunatus zum Presbyter 576 ausgeht, nachdem dieser das Mindestalter (30 Jahre) noch nicht lange überschritten hat. Da er die Weihe der Pflegetochter der Radegunde Agnes zur Äbtissin ins selbe Jahr datiert und beide wohl etwa gleichaltrig waren, spricht einiges für diesen späten Ansatz. Zur Datierung vgl. auch GEORGE, Venantius Fortunatus, 19 und R. KOEBNER, Venantius Fortunatus. Seine Persönlichkeit und seine Stellung in der geistigen Kultur des Merowingerreiches, Leipzig / Berlin 1915, Ndr. Hildesheim 1973, 11, wo für 540 plädiert wird. Koebner setzt sich von älteren Datierungen ab, die von einem Geburtsjahr um 530 ausgehen. Er argumentiert, dass Venantius Fortunantus, als er sich um 565 am Hofe des fränkischen Königs befunden habe, mindestens 25 Jahre alt gewesen sein müsse. Dass „sein dichterisches Temperament (...) doch zu ursprünglich“ spreche, „als daß man glauben möchte, es sei erst in seinen Mannesjahren erwacht“ (11), ist sicher kein Argument dafür, dass er nicht fünf oder zehn Jahre älter gewesen sein könnte. Vgl. zu diesem Problem GEORGE, Venantius Fortunatus, 18 mit Anm. 86. Die spätere Vita des Paulus Diaconus bezieht ihre Informationen aus dem Werk des Venantius und die Stelle Gregor von Tours, Hist., V, 8. ist die einzige Erwähnung des Venantius durch Gregor in seinen Historien. Vgl. zur Quellenfrage auch REYDELLET in der Einleitung zu seiner Ausgabe Venance Fortunat, Poèmes I, VII. Einen Überblick über das Leben des Venantius Fortunatus gibt er dort VII–XVIII. Nämlich Parisinus lat. 13048, eine Sammelhandschrift aus dem achten bis neunten Jahrhundert, und Petropolitanus F XIV, 1 aus dem achten Jahrhundert. Zu den Handschriften siehe REYDELLET, Venance Fortunat, I, LXXI bis LXXV. Siehe GEORGE, Venantius Fortunatus, 18f. Vgl. GEORGE, Venantius Fortunatus, 19 mit Anm. 89–92. Sie weist daraufhin, dass sich Venantius Fortunatus (Vita sancti Martini, IV, 558–560) selbst auf den Heiligen bezieht und dass er außerdem von Baudonivia (Vita sanctae Radegundis, 2) im Prolog nur als Fortunatus bezeichnet werde. Die Erwähnung bei Gregor von Tours (Hist. Franc., V, 8) deutet übrigens in dieselbe Richtung, auch hier ist nur von Fortunatus die Rede.

Historischer und biographischer Kontext

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Geboren wird der Dichter, wie er selbst schreibt, in Duplavis, in der Nähe von Treviso in Venetien.90 An Verwandten erwähnt er nur einen Bruder, eine Schwester mit Namen Titiana und seine Neffen. 91 In der Jugend scheint es auch eine besondere Beziehung zum Bischof Paul von Aquileia gegeben zu haben. Dass aber die Familie des Venantius in den Wirren nach dem Tod des Theoderich 526 Zuflucht in Aquileia genommen habe, ist eher unwahrscheinlich, obwohl sie gewiss vom Strudel der Ereignisse nicht unberührt geblieben ist.92 Duplavis war wohl der Ort, wo Venantius nicht nur geboren wird, sondern auch seine Kindheit verbringt. Der Bischof Paul von Aquileia hat möglicherweise nicht mehr als einen starken Einfluss auf den jungen, heranwachsenden Dichter ausgeübt.93 In Ravenna verbringt Venantius Fortunatus seine Studienzeit.94 Dort erhält er wohl die grammatische und rhetorische Ausbildung, die er am Anfang der Vita sancti Martini erwähnt.95 Auch Gregor von Tours spricht von einer rhetorischen Ausbildung des Venantius Fortunatus.96 Ravenna jedenfalls bietet auch nach dem Tode Theoderichs des Großen unter byzantinischer Herrschaft die beste Voraussetzung für eine klassische Erziehung. Man kann also davon ausgehen, dass der junge Dichter hier eine gewisse Vertrautheit mit wichtigen lateinischen Dichtern, ob es sich nun um pagane oder christliche handelte, erlangt.97 Auch Kenntnisse des Griechischen mag er sich hier erwerben.98 Unter den Gedichten des Venantius Fortunatus sind zwei überliefert, die offenbar in diese frühe Zeit gehören und an einen Vitalis gerichtet sind, der in den Überschriften als episcopus Ravennensis bezeichnet wird.99 Nach der Bischofsliste des Agnellus von Ravenna gab es in der Zeit, die in Frage kommt, allerdings keinen 90 91 92

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Venantius Fortunatus, Vita sancti Martini, IV, 668f. Venantius Fortunatus, Carm., VII, 9, 11 und XI, 6, 8, bzw. Vita sancti Martini, IV, 670f. Von einer Flucht nach Aquileia geht D. TARDI, Fortunat: étude sur un dernier représentant de la poésie latine dans la Gaule mérovingienne, Paris 1927, 26–37, aus, dagegen überzeugend GEORGE, Venantius Fortunatus, 19f. Siehe GEORGE, Venantius Fortunatus, 20. Siehe dazu REYDELLET, Venance Fortunat, I, VIII, und ausführlicher GEORGE, Venantius Fortunatus, 20–22. Venantius Fortunatus, Vita sancti Martini, I, 29–31: ...parvula grammaticae lambens refluamina guttae, / rhetorici exiguum praelibans gurgitis haustum, / cote ex iuridica cui vix rubigo recessit... / ...indem ich kleine Reste des Tropfens der Grammatik aufleckte / und einen geringen Schluck von der rhetorischen Flut kostete, / ich, dem kaum der Rost vom richtenden Schleifstein gewichen ist,... Dass Vers 31 darauf anspielt, dass er auch juristische Studien betrieben hat, ist eher unwahrscheinlich. Schon KOEBNER, Venantius Fortunatus, 11f. Anm. 4, sieht in der cos iuridica einen Schleifstein, um den Stil zu glätten, ihm folgt REYDELLET, Venance Fortunat, I, VII mit Anm. 5. Gregor von Tours, De virtutibus Sancti Martini, I, 15. Vgl. GEORGE, Venantius Fortunatus, 20f. Darauf weist GEORGE, Venantius Fortunatus, 21f. hin. Venantius selbst verwendet in seinem Einleitungsbrief an Gregor rhetorische Fachtermini in Griechisch, nämlich die Begriffe e)pixeirh/mata, e)/)lleiyij, diai/resij, pare/nqesij (Venantius Fortunatus, Vita sancti Martini, Epistula ad Gregorium, 1). Venantius Fortunatus, Carm., I, 1: Ad Vitalem episcopum Ravennensem & Carm., I, 2: Versus de templo domni Andrae, quod aedificavit Vitalis episcopus Ravennensis.

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1. Einleitung

Bischof Vitalis in Ravenna: Maximianus hatte den Bischofsstuhl von 546 bis 556 inne, sein Nachfolger Agnellus von 557–570. Doch berichtet Paulus Diaconus von einem Bischof Vitalis in Altinum, der Mitte der sechziger Jahre des sechsten Jahrhunderts von Narses ins Exil geschickt worden sei.100 In Anbetracht der Tatsache, dass Altinum eine kleine Stadt in der Nähe von Treviso und der Heimat des Dichters ist und außerdem im zweiten Gedicht davon geredet wird, dass die Kirche, um die es geht, von Vitalis zwar geplant, dessen Wünsche aber von einem gewisser Bischof Johannes umgesetzt worden seien, besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei den Überschriften um spätere, falsche Zusätze handelt und Venantius tatsächlich Vitalis von Altinum meint, dessen Nachfolger, der sonst nicht bekannte Johannes, die Pläne zum Kirchenbau nach dem Exil des Vitalis umsetzt. Venantius hätte dann also zu Beginn seiner Karriere Gedichte an einen lokalen Bischof gerichtet, der nach dem Zeugnis des Paulus Diaconus vor seinem Exil bereits Kontakte zu den Franken pflegt.101 Das erste Datum (und eines der wenigen) im Leben des Venantius Fortunatus, das sicher feststeht, ist der Frühling des Jahres 566, als Sigibert I. zu Ostern in Metz die Gotenprinzessin Brunichilde heiratet. Das offizielle Hochzeitsgedicht, das Epithalamium stammt nämlich von Venantius Fortunatus. Was bringt den Dichter dazu, Italien zu verlassen und sich ins Frankenreich zu begeben? Paulus Diaconus, allerdings fast zweihundert Jahre später,102 erklärt die Reise mit einem Gelübde an den heiligen Martin, dem Venantius die Heilung von einer Augenkrankheit zugeschrieben habe. Der Dichter selbst gibt zweimal den heiligen Martin als Grund für seine Reise nach Gallien an, ohne allerdings auf die näheren Umstände einzugehen. 103 Wenn dies aber sein einziger Grund für die Reise ins Frankenreich gewesen sein sollte, scheint sein tatsächlicher Aufenthalt in Tours merkwürdig kurz, nicht mehr als eine Zwischenstation auf dem Weg nach Poitiers.104 Daher steht zu vermuten, dass die Pilgerreise zum Grab des heiligen Martin sicher nicht den unmittelbaren Anlass für die Reise des Venantius ins Frankenreich darstellte, sondern eher davon auszugehen ist, dass Venantius Fortunatus die Gelegenheit der ohnehin anstehenden Reise dazu nutzt, das Grab des heiligen Martin in Tours zu besuchen. Der eigentliche Anlass zu dieser Reise ist mit einiger Sicherheit die Hochzeit von Sigibert I. und Brunichilde. 105 Das lässt sich schon daran erkennen, dass der 100 101 102 103

Paulus Diaconus, Historia Langobardorum, II, 4. Siehe zu diesem Abschnitt GEORGE, Venantius Fortunatus, 22–24. Paulus Diaconus, Historia Langobardorum, II, 13. Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 1, 21: ...Martinum cupiens voto Radegundis adhaesi... / ...Martin begehrend, blieb ich durch den Wunsch der Radegunde..., und Vita sancti Martini, I 44: ...cuius causa fuit hac me regione venire. / um dessen willen es geschah, dass ich in diese Gegend kam. 104 Siehe REYDELLET, Venance Fortunat, I, XIVf., der den Verdacht äußert, es habe sich beim Besuch des Grabes des heiligen Martin um nicht mehr als einen Vorwand gehandelt, XV. 105 Schon KOEBNER, Venantius Fortunatus, 14f. nimmt aufgrund der Reiseroute an, dass nicht eine Pilgerfahrt der Grund für Venantius Reise ins Frankenreich gewesen sein kann, da er sonst sicher direkt nach Westen aufgebrochen wäre. Mit dem Reiseweg des Fortunatus setzt sich ausführlicher auseinander J. ŠAŠEL, Il viaggio di Venanzio e la sua attività in ordine alla politica bizantina, in: Antichità altoadriatiche, 19 (1981), 359–365, wo der Grund der Reise in

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Dichter auf seiner Reise von Sigoald, einem viel versprechenden Talent mit entsprechenden Aussichten am Hofe des Sigibert I. begleitet wird. Venantius Fortunatus wird also gleichsam abgeholt, was nur auf Initiative von Sigibert I. geschehen sein kann. 106 Wahrscheinlich wollte der Frankenkönig zu seiner Hochzeit, um ihr den gebührenden Glanz zu verleihen, einen Dichter aus Italien am Hofe haben. Somit handelt es sich bei den beiden Gedichten, die Venantius dafür verfasste,107 wohl um Auftragskompositionen, zu deren Vortrag man den Dichter an den Hof kommen ließ. Dabei mögen im Vorfeld die möglichen Beziehungen des bereits erwähnten Bischofs Vitalis zu den Franken eine gewisse Rolle gespielt haben. Venantius Fortunatus muss im Herbst oder spätestens Ende 565 von Ravenna aufgebrochen sein. Seine Reise führt über Iulium Carnicum (Zuglio), Linz, Innsbruck und Augsburg.108 Einige seiner Gedichte zeigen, dass er auch Mainz, Köln und Trier besucht hat. 109 Möglicherweise fanden diese Besuche aber erst nach Abschluss der Hochzeitsfeierlichkeiten statt und nicht schon auf dem Weg dorthin,110 allerdings wäre Mainz ein guter Ort gewesen, um den Rhein auf dem Weg nach Metz zu überqueren, so dass ein Aufenthalt in Mainz vor der Hochzeit wahrscheinlicher ist. Köln und Trier kann er hinterher besucht haben, vielleicht als er das frisch vermählte Paar auf einer Reise durch das Königreich von Sigibert I. begleitet, die dazu dient, den Untertanen die neue Königin vorzustellen.111 Venantius Fortunatus hält sich in der Folge auch eine Zeit lang im Reiche Chariberts I. auf, dem er einen Panegyrikus widmet. Charibert I. stirbt allerdings nur wenig später.112 In Paris lernt er den Bischof Germanus kennen, eine der großen Gestalten der gallischen Kirche.113 Auch an ihn richten sich zwei Gedichte des Venantius Fortunatus. 114 Möglicherweise hofft der Dichter auf einen längeren Aufenthalt in Paris am Hofe Chariberts I., woran er durch dessen plötzlichen Tod (Ende 567) gehindert wird und deswegen seine Reise fortsetzt.115 Freilich kann aber Paris von Anfang an auch nur als Zwischenstation auf seinem Weg weiter nach Süden gedient haben. In Tours macht er Bekanntschaft mit dem Bischof Eufronius, Gregors Vorgänger; nur eines seiner Gedichte kann sicher in Zusammenhang mit

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einer diplomatischen Mission des Venantius im Auftrag des byzantinischen Kaisers gesehen wird, der an einer Verbesserung der Beziehung zu den Franken im Hinblick auf gemeinsame Interessen in Italien interessiert gewesen sei. REYDELLET, Venance Fortunat, I, XV–XVII setzt sich damit genauer auseinander und übernimmt die These in abgeschwächter Form. Auf die Rolle des Sigoald weist REYDELLET, Venance Fortunat, I, IX f. hin. Venantius Fortunatus, Carm., VI, 1 und 1a. Zur Reiseroute vgl. neben REYDELLET, Venance Fortunat, I, IX–XIV auch G. ROSSADA, Il viaggio di Venanzio Fortunato ad Turones, in: Venanzio Fortunato tra Italia e Francia, Treviso 1993, 25–57, wo die Reiseroute in aller Ausführlichkeit dargestellt wird. Venantius Fortunatus, Carm., II, 11; 12, IX, 9 (Mainz), III, 14 (Köln), III, 11; 12 (Trier). Davon geht KOEBNER, Venantius Fortunatus, 17f. aus. Das vermutet REYDELLET, Venance Fortunat, I, X. Venantius Fortunatus, Carm., VI, 2. Mit diesem Gedicht und seinen Implikationen beschäftigt sich ausführlich GEORGE, Venantius Fortunatus, 43–48. Siehe REYDELLET, Venance Fortunat, I, XII. Venantius Fortunatus, Carm., II, 9–10. Das vermutet GEORGE, Venantius Fortunatus, 29.

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1. Einleitung

diesem Aufenthalt gebracht werden.116 Hingegen müssen die eher dürftigen literarischen Spuren dieses Aufenthalts als ein Hauptindiz dafür angesehen werden, dass Tours nicht das eigentliche Ziel seiner Reise ist. Das Ziel scheint Poitiers und das Kloster der Radegunde zu sein, wo Fortunatus Ende 567 oder zu Beginn des Jahres 568 ankommt.117 Über den Grund dafür lässt sich nur spekulieren. Aber vielleicht steht er tatsächlich im Zusammenhang mit dem Tod von Charibert. Durch das Hochzeitsgedicht und seine anschließende Reise mit dem Brautpaar dürfte sich der Ruf des Dichters aus Italien auch über die Grenzen von Sigiberts I. Reich verbreitet haben. Eine Einladung Chariberts I. an Fortunatus, nach Paris zu kommen, ist in diesem Zusammenhang nicht unwahrscheinlich. Wenn Fortunatus ohnehin die Reise dazu nützen wollte, um das Grab des heiligen Martin in Tours aufzusuchen, führte sein Weg nach Westen; außerdem liegt Tours in Chariberts Herrschaftsbereich. So hätte sich das eine problemlos mit dem anderen verbinden lassen. Zudem hätte sich die Option einer Karriere als Hofdichter in Paris geboten. Doch Charibert I. stirbt unerwartet, und sein Reich wird unter die überlebenden Brüder aufgeteilt. Davon ist aber nicht nur Venantius Fortunatus betroffen, sondern auch Radegunde und ihr Kloster in Poitiers. Anfangs ist wohl noch nicht ganz klar, zu wessen Reichsteil Poitiers ebenso wie Tours künftig gehören soll. Als Witwe Chlothars I. hat Radegunde zwar für sich und ihr Kloster eine Sonderstellung erwirkt, in den politischen Wirren, die einer neuerlichen Reichsteilung zu folgen drohen, kann diese sehr schnell zur Makulatur werden.118 Wie oben gezeigt119 hat Radegunde eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, um die Stellung des Klosters abzusichern, Maßnahmen, die in der Beschaffung der Kreuzreliquie und der Einführung der Regel des Caesarius von Arles gipfeln. Die Überführung der Kreuzreliquie geschieht nach Gregor von Tours zu der Zeit, als Sigibert I. schon über Poitiers herrschte, aber Eufronius noch Bischof in Tours war, die Einführung der Regel später.120 Im selben Kapitel ist von der Äbtissin die Rede, die Radegunde eingesetzt hat, und mit der zusammen sie sich die Regel besorgt.121 Diese Äbtissin ist Agnes, die Pflegetochter der Radegunde. Die Einsetzung Agnes als Äbtissin wird von Fortunatus mit einem Gedicht gefeiert. 122 Nimmt man den Zeitablauf, den Gregor darstellt, ernst, wäre Agnes schon Äbtissin gewesen, ehe die Regel von Arles im Kloster der Radegunde

116 MEYER, Der Gelegenheitsdichter Venantius Fortunatus, 16f. bringt nur Carmen III, 3 damit in Zusammenhang, während er die beiden Briefe an Eufronius (Carm., III, 1 und 2) in die Zeit datiert, als sich Venantius schon in Poitiers aufhielt. Dagegen REYDELLET, Venance Fortunat, I, XIII mit Anm. 21. 117 Vgl. dazu REYDELLET, Venance Fortunat, I, XIX. 118 Zur Ankunft des Venantius Fortunatus im Kloster der Radegunde in Poitiers vgl. auch FELS, Studien zu Venantius Fortunatus, 14f. 119 Vgl. Kapitel 1. 2. 2. dieser Arbeit. 120 Siehe Gregor von Tours, Hist Franc., IX, 40. 121 Ebendort: ...cum abbatissa sua, quam instituerat, Aretalensem urbem expetunt / Sie und ihre Äbtissin, die sie eingesetzt hatte, suchten die Stadt Arles auf. 122 Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 3.

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eingeführt worden ist.123 Die feierliche Ordination wird von Germanus von Paris vorgenommen, muss also vor dessen Tod 576 geschehen sein. Es ist wohl davon auszugehen, dass Radegunde sich zunächst die Regel des Caesarius von Arles schicken ließ, um eine Richtschnur für die Organisation ihres Klosters zu erhalten, diese aber noch nicht in allen Einzelheiten umgesetzt wurde. Erst im Zuge der Ermordung Sigiberts I. und des anstehenden Übergangs von Poitiers in den Herrschaftsbereich von Chilperich I. machte es Sinn, ihre zuvor schon als Äbtissin eingesetzte Pflegetochter Agnes konsekrieren zu lassen und damit die Regel in aller Form endgültig einzuführen.124 In Poitiers verbringt Fortunatus den größten Teil seines restlichen Lebens. Gregor von Tours bezeichnet ihn in seinen Historien als Presbyter,125 also als ordinierten Priester. Sicher ist er das noch nicht bei seiner Ankunft in Poitiers. Seine ursprüngliche Aufgabe ist wohl die eines provisors, übrigens nach der Regel des Caesarius von Arles neben Bischof und zuständigem Presbyter der einzige Mann, der (mit Erlaubnis der Klostermutter) die Klausur betreten durfte. Als Bevollmächtigter ist er zugleich dafür zuständig, die Belange der Klostergemeinschaft der Radegunde nach außen zu vertreten.126 In einem seiner Gedichte spielt er selbst auf dieses Amt an und verbindet es mit einem Wortspiel auf Agnes: Fortunatus agens, Agnes quoque versibus orant

[Darum] bitten Fortunatus handelnd und auch Agnes in Versen.127

Mit der endgültigen Einführung der Regel des Caesarius von Arles hängt dann wohl auch die Ordination des Venantius Fortunatus zum Presbyter zusammen. Als für das Kloster zuständiger Presbyter durfte er nach wie vor (mit Erlaubnis) die Klausur betreten, war dafür aber räumlich nicht mehr (wie als provisor) an das Kloster gebunden. Wahrscheinlich ist das Landgut, das Gregor von Tours Venan123 Ob Gregors Schilderung allerdings ganz korrekt ist und beide tatsächlich in Arles gewesen sind, daran lassen die erhaltenen Briefe (MGH, Epistulae, III, 450ff.) Zweifel aufkommen, in denen davon die Rede ist, dass sich Radegunde die Regel schicken ließ, siehe auch die Ausgabe von R. BUCHNER, Gregor von Tours, Zehn Bücher Geschichten (Freiherr von Stein Gedächtnisausgabe III), Darmstadt 9 2000, II, 304 Anm. 2. Entweder handelt es sich hier um eine Dramatisierung Gregors oder dem Briefwechsel ist eine solche Reise vorausgegangen oder gefolgt. 124 Siehe dazu FELS, Studien zu Venantius Fortunatus, 29–39, vgl. auch Y. LABANDE-MAILFERT, Les débuts de Sainte-Croix, in: Histoire de Sainte-Croix de Poitiers (Mémoires de la Société de Antiquitaires de l’Ouest, 4e série, t. XIX, 1986–1987), Poitiers 1986, 21–116, hier 37. 125 Im Zusammenhang des Todes von Bischof Germanus von Paris, Gregor von Tours, Hist. Franc., V, 8: ...Quis tamen strenuus virtutes illius, quas in corpore fecit, sollicite vult inquirere, librum vitae illius, qui a Fortunato presbitero conpositus est, legens, cuncta repperiet / Wer gleichwohl eifrig nach seinen Wundern, die er während seines Lebens vollbrachte, fragen will, wird bei der Lektüre des Buches über sein Leben, das der Presbyter Fortunatus verfasst hat, alles finden. 126 In diesen Sinne schon TARDI, Fortunat, 85. REYDELLET, Venance Fortunat, I, XIX.: „À la fin de 567 ou au début de 568, Fortunat s’établit à Poitiers où il remplit les fonctions de chargé d’ affaires de la communauté fondeé par Radegonde...“ 127 Venantius Fortunatus, Carm., XI, 4, 3.

34

1. Einleitung

tius Fortunatus überließ, zu seiner Versorgung gedacht, nachdem er die Priesterweihe empfangen hatte.128 Das reichhaltige dichterische Schaffen des Venantius Fortunatus endet nicht mit seiner Ankunft in Poitiers. Auch hier entstehen Auftragskompositionen, die keineswegs alle in Zusammenhang mit der Klostergemeinschaft in Poitiers stehen. Das beste Beispiel dürfte sein Buch mit Epitaphien sein, 129 das Epitaphien auf Bischöfe wie auf Privatpersonen enthält. Dabei kann es sich auch um Personen handeln, die schon viele Jahre tot sind, wie Leontius I. von Bordeaux, der bereits 549 gestorben ist, also siebzehn Jahre, ehe Fortunatus überhaupt ins Frankenreich kam. 130 Offenbar ist dieses Gedicht in Auftrag gegeben worden, um an den berühmten Bischof von Bordeaux zu erinnern, vielleicht zu einem Jahrestag seines Todes. Ein anderes Beispiel ist seine Martinsvita oder vielleicht besser sein Martinsepos in vier Büchern, das im Auftrag Gregors von Tours entstanden ist und eine Ergänzung zu dessen Prosabüchern De virtutibus sancti Martini bildet. Drei Ereignisse aus seiner Zeit in Poitiers zeigen, dass der Dichter durch seine Dichtungen in Angelegenheiten, die über den engen Rahmen des Ortes hinausgingen, durchaus eine wichtige Rolle spielen konnte. Zwei betreffen das Kloster in Poitiers selbst, eine steht im Zusammenhang mit der Situation des Gregor von Tours. Das erste Ereignis fällt in die Anfangszeit des Venantius Fortunatus in Poitiers. Radegunde versucht (wohl auch mit Hilfe ihres Stiefsohnes Sigibert I.) vom byzantinischen Kaiser Justin und der Kaiserin Sophia ein Stück des Kreuzes Christi, das die Mutter von Konstantin dem Großen, Helena, gefunden und nach Konstantinopel gebracht haben soll, für ihr Kloster zu erwerben. Ein solches Unternehmen erfordert natürlich Korrespondenz und das Pflegen alter Kontakte. In diesem Zusammenhang sind drei Gedichte des Venantius entstanden, eines an Radegundes Cousin Amalafrid, das unter dem Titel De excidio Thoringiae einige Berühmtheit erlangt hat, 131 und ein zweites mit ähnlicher Thematik an einen anderen Verwandten, Artachis, nachdem Radegunde offenbar erfahren hat, dass Amalafrid zu diesem Zeitpunkt bereits tot ist.132 Venantius Fortunatus schreibt diese Gedichte in Ich-Form im Namen der Radegunde. Ein weiteres Gedicht richtet sich an Justin und Sophia, in dem das Handeln des Kaisers zur Restauration des rechten Glaubens im Osten gefeiert wird.133 Radegunde erreicht ihr Ziel. Sie erhält von Justin und Sophia eine Reliquie vom heiligen Kreuz für ihr Kloster. Die Reliquie gelangt zunächst nach Tours und wird vom dortigen Bischof Eufronius feierlich nach Poitiers 128 129 130 131 132 133

Ausführlich dazu FELS, Studien zu Venantius Fortunatus, 25–29. Venantius Fortunatus, Carm., IV. Venantius Fortunatus, Carm., IV, 9. Venantius Fortunatus, Carm., Appendix I. Venantius Fortunatus, Carm. Appendix III; auf den Tod des Amalfrid spielt Vers 12 an. Venantius Fortunatus, Carm., Appendix II. Vgl. zu diesem Absatz auch REYDELLET, Venance Fortunat, I, XXII. Siehe zu der Aktion der Radegunde und den Gedichten des Fortunatus auch George, Venantius Fortunatus, 163–167. Zu einer genaueren Behandlung dieser Gedichte vgl. auch Kapitel 3. 2. 6. in dieser Arbeit.

Historischer und biographischer Kontext

35

überführt. Venantius Fortunatus verfasst dazu einen Zyklus von Hymnen auf das heilige Kreuz.134 Das zweite Ereignis, das eng mit dem Kloster in Poitiers verbunden ist, ereignet sich erst nach dem Tode der Radegunde und der Agnes (der kurze Zeit später erfolgt sein muss). Gregor von Tours berichtet ausführlich über diese Vorkommnisse, die im Jahre 589 stattfinden.135 Die neue Äbtissin Leubovera hat nach dem Tod der Radegunde offenbar nicht die Autorität ihrer Vorgängerin Agnes. Unter den Nonnen des Klosters in Poitiers befinden sich auch zwei Königstöchter, Chilperichs I. Tochter Basina und Chrodechilde, Tochter des verstorbenen Charibert I. Beide sind zum Eintritt ins Kloster gezwungen worden. Nach dem Tod der Radegunde wollen sie sich nicht der neuen Äbtissin unterwerfen, sondern verlassen das Kloster, gehen erst nach Tours, wo sie – nach Gregors Darstellung – eine Reihe übler und gewalttätiger Elemente um sich scharen. Sie appellieren an die Könige Charibert II. und Gunthram (Chilperich I. ist bereits seit 584 tot), um nicht mehr in das Kloster zurückkehren zu müssen. Der Streit eskaliert. Es kommt zu Gewalttätigkeiten gegen Leubovera und andere Nonnen, schließlich fällt eine Synode der Bischöfe ein Urteil: Leubovera wird wieder in ihr Amt eingesetzt und Basina muss in das Kloster in Poitiers zurückkehren, Chrodechilde kann allerdings – wohl auf königliche Intervention – den Rest ihres Lebens auf einem eigenen Landgut verbringen.136 Im Werk des Venantius Fortunatus sind ein Gedicht und ein Brief erhalten, die in Verbindung mit diesen Ereignissen stehen. 137 Beide richten sich an Gregor von Tours, in dessen Amtsbereich die aufständischen Nonnen geflohen sind und bitten ihn darum, im Sinne der Äbtissin Leubovera zu handeln; das Gedicht ist sogar in ihrem Namen abgefasst. Hier zeigt sich, dass Fortunatus auch noch nach dem Tod der Radegunde im Interesse des Klosters tätig wird, was darauf hindeutet, dass er immer noch der zuständige Presbyter war. Das dritte Ereignis ist die Auseinandersetzung zwischen Gregor von Tours und Chilperich I. Wenn Venantius auch nicht direkt involviert ist und sich hütet, Partizipant des Streites zu werden, so ist sein Panegyrikus auf Chilperich I.138 doch in diesem Zusammenhang zu sehen. Nach dem offiziellen Ende dieser Auseinandersetzung musste Gregors Position dennoch gefährdet bleiben. Dieses Gedicht dient dazu, die Wogen zu glätten und ist zugleich geeignet, Chilperich I. diplomatisch gleichsam ein Programm ins Stammbuch zu schreiben, an das er sich bisher nicht gehalten hat, dessen Erfüllung man sich von ihm aber erhofft. Eine derartige

134 Venantius Fortunatus, Carm., II, 1–6. 135 Gregor von Tours, Hist. Franc., IX, 39–40. Vgl. dazu auch FELS, Studien zu Venantius Fortunatus, 40. Ausführlich G. SCHEIBELREITER, Königstöchter im Kloster. Radegund († 587) und der Nonnenaufstand von Poitiers (589), in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 87 (1979), 1–37. 136 Vgl. dazu auch HARTMANN, Aufbruch ins Mittelalter, 142. 137 Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 12 und 12a. 138 Venantius Fortunatus, Carm., IX, 1.

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1. Einleitung

Vorgehensweise war für den Dichter selbst sicher nicht ganz gefahrlos; im Interesse Gregors nahm er dieses Risiko aber auf sich. 139 An der Seite Gregors nimmt er später wohl auch an einer diplomatischen Mission teil. Es ging dabei um den bereits erwähnten Vertrag von Andelot zwischen Childebert II. und seinem Onkel Gunthram. Zusammen mit der königlichen Familie Childeberts II. unternimmt der Dichter eine Moselfahrt und Rheinfahrt von Metz nach Andernach, die er in einem Gedicht beschreibt.140 Irgendwann nach 600 und wohl vor 610141 stirbt er und zwar als Bischof von Poitiers, wenn wir der Angabe des Paulus Diaconus Glauben schenken, der auch einen Epitaph auf Fortunatus verfasst hat.142

139 In diesem Sinne argumentiert GEORGE, Venantius Fortunatus, 48–57, wobei sie sich gegen Deutungen der älteren Forschung wendet, die Venantius in der Rolle des „Schmeichlers“ sehen, denn „[d]ie Servilität und Verlogenheit des Gedichtes steht außer Zweifel...“, wie es KOEBNER, Venantius Fortunatus, 95, formuliert. Allerdings vermutet auch er, dass diese Schmeichelei im Interesse Gregors und der Bischöfe geschehen sei (96). GEORGE, Venantius Fortunatus, 56f. geht da weiter: „Analysis of the poem in its historical context, too, has supported this conclusion. Fortunatus deployed the panegyric as a weighty and dynamic tool of political influence, and acted decisively, in the rhetorical tradition of speaking on behalf of the people to a ruler, to win justice...Indeed, even if we suppose the moral and practical support of the bishops for Fortunatus’ stand, such critical comment was more likely to earn him the assasins’s knife than lucrative patronage at Chilperic’s court.“ 140 Venantius Fortunatus, Carm., X, 9., siehe zu diesem Abschnitt auch Reydellet, Venance Fortunat, I, XXVIf. 141 Siehe dazu Y. LABANDE-MAILFERT, Les début de Sainte-Croix, 112, Anm. 70. 142 Paulus Diaconus, Historia Langobardorum, II, 13.

2. ZU FORSCHUNGSSTAND UND FRAGESTELLUNG 2.1. ZUM FORSCHUNGSSTAND Die Edition der Werke des Venantius Fortunatus in den Monumenta Germaniae historica durch Friedrich Leo1 und Bruno Krusch2 führte zu einer ersten intensiveren Wiederentdeckung des Autors zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Unter dem Titel Der Gelegenheitsdichter Venantius Fortunatus legte Wilhelm Meyer 1901 eine erste Monographie vor, in der die Gedichte nach verschiedenen thematisch geordneten Gruppen kurz skizziert und erläutert werden.3 In der Einleitung äußert er sich selbst zu den Desideraten der Venantius-Forschung: „Das Studium des Fortunat liegt sehr im Argen. Durch die von Leo für die Monumenta Germaniae besorgte Ausgabe sind jetzt ausreichende Grundlagen für andere Forschungen beschafft. Was über den Dichter selbst oder den Inhalt seiner Gedichte bis jetzt gearbeitet ist, genügt durchaus nicht. Ich habe mich bemüht, die Erklärung und das Verständniss der Gedichte zu fördern, und werde mich freuen, wenn meine Arbeit eine gründliche Erklärung der Gedichte veranlasst. Der Geist Ruinarts und Mabillons ist ja bei ihren Landsleuten ausgestorben. Von der Sprache des Fortunat werde ich nicht handeln, da hier vielleicht weit gehende Untersuchungen nothwendig sind...“4 Während bereits im Titel angedeutet wird, dass Meyer das Werk des Venantius Fortunatus unter dem Begriff Gelegenheitsdichtung subsumiert und damit die Gattungsfrage angerissen wird, zeigt er hier in der Einleitung (mit einem leichten Seitenhieb auf die französische Forschung) zwei Punkte auf, die seiner Meinung nach einer intensiveren Auseinandersetzung bedürfen: Zunächst geht es ihm um eine inhaltliche Explikation, die er selbst nur in Ansätzen leisten kann, in Ansätzen, die allerdings die Grundlage für eine spätere fundierte Interpretation liefern können. Das zweite Desiderat sieht er auf sprachlich stilistischer Ebene, einer eingehenden Untersuchung der Sprache des Venantius Fortunatus, die sich in vielerlei Hinsicht von klassischen Latein entfernt hat, aber trotzdem in deutlichem Kontrast zum Sprachduktus und Sprachgebrauch eines Gregor von Tours steht, der nicht nur Zeitgenosse des Venantius Fortunatus war, sondern in engem Kontakt mit dem Dichter stand. Die letzte Anregung wurde zuerst von Elss in seiner Dissertation

1 2 3

4

Venanti Honori Clementiani Fortunati prebyteri Italici Opera poetica, recensuit et emendavit F. LEO. Berlin1881 (MGH, AA, IV, 1). Venanti Honori Clementiani Fortunati presbyteri Italici Opera pedestria, recensuit et emendavit B. KRUSCH. Berlin 1885 (MGH, AA, IV, 2). W. MEYER, Der Gelegenheitsdichter Venantius Fortunatus, (Abhandlungen der königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Philologisch-Historische Klasse. Neue Folge. Band IV. Nr. 5). Berlin 1901. W. MEYER, Der Gelegenheitsdichter Venantius Fortunatus, 4.

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2. Zu Forschungsstand und Fragestellung

aufgenommen. 5 Dem Vorwurf des Formalismus versuchte Richard Koebner zu begegnen, indem er sich dem Dichter und seinem Werk auf der psychologischen Ebene näherte: „Man hat bisher in seiner Persönlichkeit besondere seelische Probleme überhaupt nicht gesucht; man hat vielmehr ziemlich summarisch über sie abgeurteilt. Ein Zug tritt im Charakter des Dichters namentlich hervor: er ist Gelegenheitsdichter, und er hat die Gabe, ein Thema, das aus irgendeinem äußeren Anlaß behandelt werden muß, lebendig zu erfassen und zum bewegten Bilde auszugestalten. Diese Empfänglichkeit haben die meisten Forscher vor allem an Fortunatus betont. Er gilt bei ihnen als ein ‚Formtalent’, als ein Mann, der in leicht hingeworfenen Bildern jeweilig einen ansprechenden Ton zu treffen weiß, zumal den, den die Stimmung seines Publikums begehrt: bald Rührung, bald Scherz; bald zarte, bald hochtönende Schmeichelei, und jedes dieser Stimmungsbilder durch einen Aufwand wirksamer Kunstmittel ansprechend einzukleiden versteht [...] der behende Versemacher galt im wesentlichen nur für einen behenden Schmeichler. Aber hier liegt ein psychologisches Problem vor, über das man sich noch wenig Rechenschaft gegeben hat. Die Bezeichnung des Fortunatus als Formtalent, die dieser ganzen Beurteilung zugrunde liegt, täuscht die wesentlichste, innerliche Wirkung weg, die von seinen besten Schöpfungen ausgeht und der sich auch seine Kritiker im allgemeinen nicht entziehen. Eine große Anzahl seiner Dichtungen fesselt durch ihren seelischen Gehalt; ihre Seelendarstellung hat Überzeugungskraft. Sein dichterisches Können beruht also nicht nur auf geschickter Verwendung sprachlicher Mittel, sondern auf ursprünglichem Erlebnis, das in seiner Dichtung unmittelbar zu Wirkung kommt...“6 Infolge seines psychologischen Ansatzes ordnet Koebner Venantius Fortunatus in besonderem Maße in sein sozio-historisches Umfeld ein und weist damit bereits in eine Richtung, die später vor allem durch die Arbeiten von Judith W. George vertreten werden wird.7 In Frankreich markiert nach ihren Anfängen in der Arbeit Nisards 8 die Monographie des Abbè Tardi einen ersten Höhepunkt der Fortunatus-Forschung.9 Tardi ordnete Fortunatus nicht nur vom Titel her in die Tradition der lateinischen Dichtung aus Antike und Spätantike ein, sondern stellte neben den historischen Einflüssen auch die spezifisch christlichen Bezüge im Oeuvre des Fortunatus besonders heraus. Auch Tardi legte in seiner Monographie wie Koebners Studie den Hauptakzent auf das sozio-kulturelle Umfeld. Den sprachlichen Besonderheiten fortunatianischer Dichtung widmete er allerdings bereits einen eigenen Abschnitt. Der Untersuchung dieser sprachlich-stilistischen Besonderheiten, sowie der Klassikerrezeption in den Werken des Venantius Fortunatus waren die Arbeiten 5 6 7 8 9

H. ELSS, Untersuchungen über den Stil und die Sprache des Venantius Fortunatus, Heidelberg 1907. R. KOEBNER, Venantius Fortunatus. Seine Persönlichkeit und seine Stellung in der geistigen Kultur des Merowinger-Reiches, Leipzig / Berlin 1915. Ndr. Hildesheim 1973, Zitat 2f. Vgl. J. W. GEORGE, Venantius Fortunatus. A Latin Poet in Merovingian Gaul, Oxford 1992. M. C. NISARD, Le poète Fortunat, Paris 1890. ABBE D. TARDI, Fortunat. Étude sur un dernier représentant de la poésie latine dans la Gaule Mérovinngienne, Paris 1927.

Forschungsstand und Gattungsproblematik

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von Sven Å. Blomgren gewidmet, die über Jahrzehnte die Hauptrichtung der Fortunatus-Forschung bestimmten. Seinen Studia Fortunatiana 10 folgten bis in die neueste Zeit eine Fülle von kleineren Untersuchungen in diesem Bereich. Von einigen Einzelinterpretationen abgesehen ist dieses Bild bis in die siebziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts bestimmend, so dass Kurt Steinmann 1975 resümiert, „daß diese [die Fortunatus-Forschung] nach ihren grundlegenden Anfängen durch Meyer und Koebner sich eindeutig auf die Betrachtung der Sprache und des Stiles des Dichters konzentriert und sich wenig mehr um die Erhellung des geistesgeschichtlichen Horizontes gekümmert hat. Auffällig ist auch der Mangel an Untersuchungen über Motive und Topoi sowie über einzelne Gedichte oder Gedichtgruppen...“11 Steinmanns Dissertation markiert insofern einen Wendepunkt, als hier erstmals anhand einer systematischen Edition und eines ausführlichen Kommentars bei einem fortunatianischen Carmen gattungsspefizische Fragestellungen in den Blick genommen wurden. In den neunziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts nahm die wissenschaftliche Beschäftigung mit Venantius Fortunatus einen neuen Aufschwung, obwohl auch hier nur eine einzige große Monographie, nämlich die schon erwähnte Arbeit von Judith W. George Venantius Fortunatus. A Latin Poet in Merovingian Gaul (Oxford 1992) erschien. Dass sich die Einzelstudien zu Venantius Fortunatus mittlerweile in einem breiteren Spektrum bewegten, beweist der Venantius-Kongress aus dem Jahre 1990, wo es neben biographisch-historischen Fragestellungen auch um Intertextualität und Spezifika einzelner Gattungen im Werk des Dichters ging.12 Obwohl Judith W. George in ihrer Monographie Venantius Fortunatus. A Latin Poet in Merovingian Gaul die rhetorische Tradition insbesondere in Bezug auf panegyrische Carmina nicht gänzlich außer Acht ließ, setzte sie doch einen eher historischen Schwerpunkt. So stand der jeweilige Adressat im Mittelpunkt, gegliedert nach den gesellschaftlichen Gruppen: Könige, Bischöfe, Edelmänner und Edelfrauen. Dabei stellte sie eindrucksvoll das Geflecht sozialer und gesellschaftlicher Beziehungen heraus, in denen sich Venantius Fortunatus im merowingischen Frankenreich bewegte. Damit reihte sie sich in die sozio-historischen Forschungen der von Richard Koebners und Abbè Tardis begründeten bzw. vertretenen Richtung ein und zeigte gerade im geschichtlichen Umfeld des Dichters wichtige Einflüsse und Interdependenzen auf. Eine wichtige Grundlage für die neuere Fortunatus-Forschung bilden auch die Editionen in der Association Guillaume Budé, in der in seit 1994 das poetische Werk13 als auch die Martinsvita14 zweisprachig (lateinisch / französisch) und je10 11 12 13

S. Å. BLOMGREN, Studia Fortunatiana I & II, Uppsala 1933. K. STEINMANN, Die Gelesuintha-Elegie des Venantius Fortunatus (Carm. VI 5). Text, Übersetzung, Interpretationen. Abhandlung zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultät I der Universität Zürich, Zürich 1975, 9. Venanzio Fortunato tra Italia e Francia. Atti del convegno internationale di studi. Valdobbiadene 17 maggio 1990–Treviso 18–19 maggio 1990, Turin 1993. Venance Fortunat, Poèmes, texte établi et traduit par M. REYDELLET, Tome I, Livres I–IV, Paris 1994, Tome II, Livres V–VIII, Paris 1998, Tome III, Livres IX–XI, Appendix, Paris 2004.

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2. Zu Forschungsstand und Fragestellung

weils mit einem Kurzkommentar versehen erschienen sind. Dem Desiderat einer deutschsprachigen Übersetzung hat erst in jüngster Zeit Wolfgang Fels Rechnung getragen. In den ergänzenden Studien zu Venantius Fortunatus bringt er zudem Licht in strittige Daten aus dem Leben des Dichters.15 Die Martinstradition, wie sie sich im mittelalterlichen Buchtyp des Martinellus widerspiegelt, ist von Martin Hellmann auf ihren Urtypus zurückgeführt worden.16 Ausführlich behandelt wird der Martinellus in Hinblick auf die Form des hagiographischen Dossiers und das zugrunde liegende Leitbild jetzt in der Monographie von Meinolf Vielberg Der Mönchsbischof von Tours im ‚Martinellus’.17 Dennoch besteht der größte Teil der Forschungsliteratur zu Venantius Fortunatus nach wie vor aus kürzeren Einzeluntersuchungen zu bestimmten Thematiken oder Gedichten. So untersuchte z. B. Verena Epp vor allem Carmina des Venantius Fortunatus, die an Gregor von Tours oder Radegunde gerichtet waren, unter der Fragestellung des amicitia-Begriffs, der dort zu Tage tritt.18 Daneben rissen schon seit den sechziger Jahren einige Studien auch die Frage nach intertextuellen Bezügen oder Gattungsspezifik zumindest an, z. B. der Aufsatz von Joseph Szövérffy Venantius Fortunatus and the Earliest Hymns to the Holy Cross, zu den Kreuzhymnen des Venantius Fortunatus. 19 Der Typologisierung der fortunatianischen Figurengedichte widmete sich Ulrich Ernst in seiner umfangreichen Monographie Carmen figuratum.20 Das Figurengedicht V 6 wurde zuletzt ausführlich von Dorothea Walz besprochen,21 die zuvor schon einige der zentralen carmina des Venantius Fortunatus wie das so genannte Excidium Thoringiae in Tu mihi solus eras 14 15

16

17

18 19 20 21

Venance Fortunat, Œuvres. Tome IV. Vie de saint Martin, texte établi et traduit par S. QUESNEL, Paris 1996. Venantius Fortunatus, Gelegentlich Gedichte. Das lyrische Werk. Die Vita des hl. Martin, eingeleitet übersetzt und kommentiert von W. FELS, (Bibliothek der Mittellateinischen Literatur, Bd. 2), Stuttgart 2006. W. FELS, Studien zu Venantius Fortunatus, Diss. Heidelberg 2006. M. HELLMANN, Die Auszeichnung der Textstruktur in einer biographischen Sammeledition der Karolingerzeit am Beispiel des „Weissenburger Martinellus“, in: D. WALZ, Scripturus vitam, Festgabe für Walter Berschin, Heidelberg 2002, 243–262. M. VIELBERG, Der Mönchsbischof von Tours im ‚Martinellus’. Zur Form des hagiographischen Dossiers und seines spätantiken Leitbilds, Berlin / New York 2006, zu Venantius Fortunatus dort vor allem 75–107. V. EPP, Männerfreundschaft und Frauendienst bei Venantius Fortunatus, in: Variationen der Liebe. Historische Psychologie der Geschlechterbeziehung, hrsg. von T. KORNBICHLER & W. MAAZ, Tübingen 1995, 9–26. J. SZÖVÉRFFY, Venantius Fortunatus and the Earliest Hymns to the Holy Cross, CIF 20 (1966), 107–122. U. ERNST, Carmen figuratum. Geschichte des Figurengedichts von den antiken Ursprüngen bis zum Ausgang des Mittelalters (Pictura et Poesis 1), Köln / Weimar / Wien 1991, 149–157. D. WALZ, Text im Text. Das Figurengedicht V, 6 des Venantius Fortunatus, in: Wolfram Studien XIX: Text und Text in lateinischer und volkssprachiger Überlieferung des Mittelalters. Freiburger Kolloquium 2004, hrsg. von W. HAUBRICHS, K. RIDDER & E. C. LUTZ, Berlin 2006, 59–93. Einen kursorischen Überblick über die Figurengedichte des Venantius Fortunatus und ihren Traditionszusammenhang gibt jetzt auch R. SCANZO, Leggere l’imagine, vedere la poesia „carmina figurata“ dall’ antichità a Optaziano e Rabano Mauro, al „New Dada“ e oltre, Maia 58, 2 (2006), 249–294.

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behandelt hatte,22 wo vor allem der Aufbau und die intertextuellen Bezüge analysiert wurden; außerdem ist von ihr nun, ausgehend vom Epitaphium Vilithutae, der Epitaphienbegriff des Dichters spezifiziert worden. 23 Obwohl somit Fragen der Intertextualität und der Gattungsspezifik mehr und mehr in den Vordergrund treten, bleiben sie doch auf Einzelstudien beschränkt. Sie innerhalb eines größeren Rahmens zu betrachten, könnte hingegen Hinweise auf das Selbstverständnis des Dichters geben, der sich in der Praefatio selbstironisch als novus Orpheus lyricus tituliert.24

22

23

24

D. WALZ, „Tu mihi solus eras.“ Venantius Fortunatus, Appendix carminum I , in: Mentis amore ligati. Lateinische Freundschaftsdichtung und Dichterfreundschaft in Mittelalter und Neuzeit. Festgabe für Reinhard Düchtling zum 65. Geburtstag, hrsg. von B. KÖRKEL, T. LICHT & J WIENDLOCHA, Heidelberg 2001, 521–540. D. WALZ, Das „Epitaphium Vilithutae“ (Carmen IV, 26). Überlegungen zum Epitaphienbegriff des Venantius Fortunatus. In: Mittelalterliche Biographie und Epigraphik / Biografía latina medieval y epigrafía, hrsg. von W. BERSCHIN, J. G. PALLARÈS & J. MARTINEZ GÁZQUES, 55–68. Venantius Fortunatus, Carm., praef. 4.

2.2. ZUR FRAGESTELLUNG Als lateinischsprachiger Dichter des sechsten nachchristlichen Jahrhunderts befindet sich Venantius Fortunatus im Spannungsfeld zwischen „Tradition“ und „Modernität“.25 Die „Tradition“ wird gleich durch zwei literarische „Klassiken“26 repräsentiert, nämlich sowohl durch die antike pagane Literatur und ihre Klassiker wie Vergil, Horaz, Ovid und Cicero als auch durch die spätantike pagan / christliche Tradition und ihre Vertreter wie Ausonius, Claudian, Ennodius bzw. Prudentius, Sidonius Apollinaris, und Sedulius. Dabei befanden sich die Repräsentanten der zweiten literarischen „Klassik“ bereits selbst in einem Spannungsfeld zwischen „Tradition“ und „Modernität“, was sie dazu anregte, sich entweder in formaler oder inhaltlicher Hinsicht von ihren Vorgängern abzusetzen. 27 In formaler Hinsicht geschah dies zumeist durch eine noch stärkere Rhetorisierung ihrer Werke, während einige Dichter, insbesondere Prudentius und Sedulius, den Ausweg auf der inhaltlichen Seite in der Entwicklung und Vollendung einer spezifisch christlichen Dichtung sahen. Mag sich Claudian auch als Hofdichter vor allem der 25

26

27

Bereits in der griechischen Literaturtheorie wird der Verfall der Beredsamkeit beklagt. Damit geht bei Attizisten wie Dionysios von Harlikarnass eine literaturgeschichtliche Periodisierung einher, die nach den Vorarbeiten der alexandrinischen Philologen zwischen einer Zeit der „Klassik“ und der des „Verfalls“ unterscheidet. Ausführlich dazu: K. HELDMANN, Antike Theorien über die Entwicklung und den Verfall der Redekunst, München 1982, vgl. dort insbesondere 144f. die tabellarische Aufstellung über Periodisierung und Kanonisierung der griechischen Redekunst. Der Beginn des „Verfalls“ wird entweder mit den Namen Demetrios von Phaleron oder Hegesias verbunden. Anders als bei den Römern, wo vor allem bei Tacitus die Veränderung der politischen Situation von der Republik zum Prinzipat mit dem Verfall der Redekunst in Zusammenhang gebracht wird, bleibt die Betrachtung bei den Griechen auf der literarästhetischen Ebene, vgl. HELDMANN, Antike Theorien, 294ff. Zur Zeit des Venantius Fortunatus spielt der Unterschied zwischen Republik und Prinzipat auch deswegen keine Rolle mehr, da die Republik seit über fünfhundert Jahren von einer monarchischen Herrschaftsform abgelöst ist und diese sogar den Untergang des weströmischen Reiches überdauert hat (statt des Kaisers in Rom herrschen gotische oder germanische Könige). Zugleich ist aber die epideiktische Rede zum wichtigsten Zweig der Rhetorik aufgestiegen, und sowohl Prosa- als poetische Werke werden nach den Maßgaben der Rhetorik betrachtet. Insofern stellt sich auch die Frage nach „Tradition“ und „Modernität“ für Venantius Fortunatus wie bei den Griechen gänzlich auf einer literarästhetischen Ebene. Zum literarischen Klassikerkanon und seiner Ausprägung und Veränderung in Spätantike und Mittelalter siehe P. L. SCHMIDT, „De honestis et nove veterum dictis.“ Die Autorität der veteres von Nonius Marvellus bis zu Matheus Vindocinensis, in: W. VOßKAMP (Hrsg.), Klassik im Vergleich, Stuttgart / Weimar 1993, 366–388, Ndr. in: DERS.: Traditio Latinitatis. Studien zur Rezeption und Überlieferung der lateinischen Literatur, hrsg. von J. FUGMANN, M. HOSE & B. ZIMMERMANN, Stuttgart 2000. Zum Begriff der Klassik in Architektur und bildender Kunst vgl. auch Die griechische Klassik. Idee oder Wirklichkeit. Eine Ausstellung im Martin-Gropius Bau Berlin, 1. März–2. Juni 2002 und in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 12. Juli–13. Oktober 2002, Mainz 2002. Zum Aufeinandertreffen von paganer und christlicher Literatur in der Spätantike und dem Umgang christlicher Autoren mit paganen Vorgängertexten vgl. R. HERZOG (Hrsg.), Restauration und Erneuerung. Die lateinische Literatur von 284 bis 374 n. Chr. (Handbuch der lateinischen Literatur der Antike, Bd. 5), München 1989, § 500. Einführung in die lateinische Literatur der Spätantike, 1–44, insbesondere 25–31.

Forschungsstand und Gattungsproblematik

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Panegyrik und Epik verschrieben haben, dabei in aemulatorische Konkurrenz zu einer vorwiegend paganen Tradition getreten und daher auch thematisch ganz der paganen Gedankenwelt verhaftet geblieben sein, so zeigt sich bei einigen Vertretern dieser zweiten „Klassik“ die Tendenz, neue literarische Formen zu erproben. Besonders innovativ waren in dieser Hinsicht Publius Optatianus Porfyrius, der Schöpfer des carmen cancellatum zur Zeit Konstantins des Großen, und Ausonius, der mit diversen literarischen Kleinformen experimentierte. Aber auch Sedulius beschreitet sowohl mit der Konzeption seines Carmen paschale als opus geminum und in seinen wenigen erhalten kleineren carmina in formaler Hinsicht durchaus neue Wege. Für Venantius Fortunatus bedeutet dies, dass er zwar einerseits mit einer übermächtigen literarischen Tradition konfrontiert ist, dass er aber andererseits innerhalb dieser Tradition bereits Ansätze zur ihrer Transgression vorfinden konnte. Eine derartige Transgression ist in formaler wie in inhaltlicher Hinsicht durchführbar: In inhaltlicher Hinsicht bedeutet „Modernität“ zur Zeit des Venantius Fortunatus eine konsequente Einbringung eines spezifisch christlichen Hintergrundes und einen weitgehenden Verzicht auf mythologische Anspielungen, die von seinem Publikum möglicherweise weder goutiert noch in allem Fällen verstanden werden konnten. In formaler Hinsicht sind es zwei Bereiche, in denen er sich als poeta novus präsentieren konnte, nämlich in intertextuellen Bezügen, um sich an bestimmte Vorgängertexte anzuschließen, sich von ihnen abzusetzen oder sie gar zu übertreffen, und im Umgang mit der jeweiligen literarischen Gattung. Damit stellt sich die Frage nach den literarischen Gattungen, in denen sich Venantius Fortunatus betätigt hat und seinem individuellen Umgang mit ihren Spezifika.

2. Zu Forschungsstand und Fragestellung

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2.2.1. Zur Gattungsproblematik a) Zum Begrifflichen Klaus W. Hempfer definiert den Begriff Gattung folgendermaßen: Gattung Theoretischer wie metatheoretischer Begriff für Textgruppenbildungen unterschiedlichen Allgemeinheitsgrades, die diachron und synchron in Opposition zueinanderstehen […] Metatheoretish fungiert ‚Gattung’ als Oberbegriff zur Benennung der unterschiedlichen Typen von Textgruppenbildungen. Als theoretischer Begriff dient ‚Gattung’ – neben jeweils eigenständigen Begriffen – auch zur Bezeichnung für folgende Textgruppen: (1) (2) (3) (4)

(5) (6)

die Sammelbegriffe Epik, Lyrik und Drama oder andere Klassenbildungen wie Gebrauchsliteratur, Fiktionale Literatur usw.; die auf die Goetheschen ‚Naturformen’ zurückgehenden ‚Qualitäten’ des Lyrischen, Epischen und Dramatischen (nach Staiger 1946); die Schreibweisen als Repertoire transhistorischer Invarianten wie das Narrative, das Dramatische, das Satirische, das Komische usw.; die als ge- und bewußte Normen die Produktion und Rezeption von Texten bestimmenden ‚historischen Textgruppen’ wie Verssatire, Fabel, Ode, Tragödie usw. (Genre im Sinne von Fricke 1981); Untergruppen von (4) als typologische und/oder historische Spezifizierun gen wie Briefroman, Bürgerliches Trauerspiel, anakreontische Ode usw.; 28 feste, d.h. metrisch bestimmte Formen wie Sonett, Rondeau, Sestine usw.

Während die Gattungsgeschichte sich mit der „Darstellung von Gattungen als bestimmendem Moment der Literaturgeschichte“ 29 beschäftigt, also historisch argumentiert, beschäftigt sich die Gattungstheorie mit einer Systematisierung auf der Metaebene. So definiert Dieter Lamping: Gattungstheorie Entweder die Theorie einer einzelnen Gattung oder die Theorie der Gattungstheorien.30

Die Definition wird von ihm folgendermaßen expliziert: Der Begriff hat je nach Zusammenhang unterschiedlichen Umfang: (1) Die theoretische (systematische) Bestimmung und Beschreibung einer ein zelnen Gattung im Unterschied zu ihrer historischen Darstellung (Gattungsgeschichte); diese Begriffsverwendung ist eine kontextabhängige Abbreviatur von: ‚Theorie der Gattung…’ (z. B. Romantheorie). 28 29 30

K. W. HEMPFER, Gattung, in: K. WEIMAR (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1, Berlin / New York 1997, 651–655, Zitat 651. So die Definition von W. VOßKAMP, Gattungsgeschichte, in: K. WEIMAR (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1, Berlin / New York 1997, 655–658, Zitat 655. D. LAMPING, Gattungstheorie, in: K. WEIMAR (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1, Berlin / New York 1997, 658–661, Zitat 658.

Forschungsstand und Gattungsproblematik

(2)

Die theoretische (systematische) Bestimmung der Beschreibung der rellen Prinzipien und Probleme von Gattungstheorien. In diesem Sinn der Begriff nicht die ‚die Theorie einer spezifischen Gruppierung von ten’, sondern ‚das generelle Problem der Gruppierungsmöglichkeiten haupt’…31

45 genemeint Tex-’ über-

Aber auch die Gattungstheorie kann unter historischem Aspekt betrachtet werden. Eine solche Betrachtung lässt, auch wenn sie hier nur in einem kurzen Überblick zu leisten ist, die Zeitbedingtheit bestimmter Konzeptionen deutlicher hervortreten. b) Zur Geschichte der Gattungstheorie Die Frage nach den literarischen Gattungen und ihrer theoretischen Fundierung ist vor allem seit der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts vielfach diskutiert worden und hat ein ganzes Spektrum von Aporien aufgezeigt, denen mit sehr unterschiedlichen, einander oft widersprechenden Ansätzen zu begegnen versucht wurde.32 Als wichtigste Ursache dafür wurde angeführt „verstärkt seit den 60er 31

32

LAMPING, Gattungstheorie, 656. Und weiter heißt es ebendort: „[…] Die spezifische Benennung der Teildisziplin Gattungstheorie ist im Deutschen – im Unterschied zum engl. genre theory (vgl. etwa Wellek) oder zum frz. théorie des genres littéraires (vgl. etwa Vincent), selbst zum nl. theorie der litteraire genres (vgl. Stuttenheim) erst in den letzten drei Jahrzehnten des 20. Jhs. nachweisbar. Noch Ende der 60er Jahre ist die alternative Bezeichnung Gattungspoetik (vgl. Scherpe) häufiger zu finden. Durchgesetzt hat sich Gattungstheorie – wohl als Übersetzung des frz. Ausdrucks – erst Anfang der 70er Jahre durch die einflußreichen Arbeiten von Jauß (1972) und Hempfer (1973). […] BegrG. Im Sinn des unter (2) explizierten terminologischen Konzepts weitgehend identisch mit der Wortgeschichte des Fachausdrucks, die durch Hempfers Monographie zur ‚Gattungstheorie’ festgeschrieben worden ist. Ältere Konzeptionen bedienen sich noch verschiedener anderer, allerdings nur zum Teil alternativer Bezeichnungen wie ‚Lehre von den Dichtungsgattungen’ (Petersen 1925), ‚Gattungspoetik’ (Müller 1928/29), ‚Lehre von der Einteilung der Dichtkunst’ (Behrens 1940) oder ‚literarische Formenlehre’ (Sengle 1967), neuere linguistisch orientierte dagegen zumeist der Bezeichnung ‚Textsortenlehre’ (Hinck 1977).“ Zum umfangreichen Feld der Gattungsdiskussion seien hier exemplarisch nur einige Titel aufgeführt: C. BICKMANN, Der Gattungsbegriff im Spannungsfeld zwischen historischer Betrachtung und Systementwurf, (Marburger Germanistische Studien 2), Frankfurt a. M. 1984; H. FRICKE, Sprachabweichungen und Gattungsnormen. Zur Theorie literarischer Textsorten am Beispiel des Aphorismus, in: Textsorten und literarische Gattungen. Dokumentation des Germanistentages in Hamburg vom 1. bis 4. April 1979, hrsg. vom Vorstand der Vereinigung der deutschen Hochschulgermanisten, Berlin 1983; DERS., Norm und Abweichung. Eine Philosophie der Literatur, München 1981; G. GENETTE, Introduction à l’ architexte, Paris 1979, dt: Einführung in den Architext, Stuttgart 1990; K. W. HEMPFER, Gattungstheorie. Information und Synthese. München 1973; D. LAMPING, Probleme der neueren Gattungstheorie, in: Gattungstheorie und Gattungsgeschichte. Ein Symposion, hrsg. von D. LAMPING & D. WEBER (Wuppertaler Broschüren zur Allgemeinen Literaturwissenschaft Nr. 4 / 1990), Wuppertal 1990, 9–43; H. R. JAUß, Theorie der Gattungen und Literatur des Mittelalters, in: H. R. JAUß & E. KÖHLER (Hrsg.), Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters, Bd. 1, Heidelberg 1973, 107–138; M. SCHNUR-WELLPOTT, Aporien der Gattungstheorie aus semiotischer Sicht, Tübingen 1983; P. SZONDI, Poetik und Geschichtsphilosophie II: Von der normativen zur spekulativen Gattungspoetik. Schellings Gattungspoetik, hrsg. von W. FIETKAU. (Studienausgabe der Vorlesungen Bd. 3), Frankfurt am Main 1974; G. WILLEMS, Das Konzept der literarischen Gattung. Untersuchungen zur klassischen deutschen Gattungstheorie, insbesondere

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2. Zu Forschungsstand und Fragestellung

Jahren, der Übergang von einer vor allem morphologisch ausgerichteten literaturphilosophischen zu einer im strengen Sinn literaturwissenschaftlichen Gattungsforschung, den man, gleichfalls formelhaft, als Wechsel von der ‚Wesensbestimmung’ zur ‚Strukturbestimmung’ kennzeichnen könnte.“33 Ein Paradigmenwechsel liegt auch den gattungstheoretischen Überlegungen zugrunde, die das ausgehende achtzehnte Jahrhundert kennzeichnen, nämlich in der Auseinandersetzung mit der vorherrschenden normativen barocken Gattungspoetik und dem Versuch, sie zu überwinden.34 So kritisiert z. B. Johann Gottfried Herder in einem Brief an Friedrich Nicolai (2. 7, 1772): Wie keine zwei Historien in der Welt sich gleich erzählt werden müssen, so keine zwei Oden gleich gesungen. Aber da jeder Vogel wie seine Stimme und Gesangsweise, so jeder Dichter seinen Standpunkt, Sehart, Empfindungsart hat, der er gemeiniglich treu bleibt, so bilden sich eigne Gesangsarten, Behandlungen Pindars, Horaz’, Petrarchs. Jede kann schön sein, nur keine ist Schönheit. Es gibt also kein allgemeines Muster der Ode in Schwung, Irrung; Zärtlichkeit usw., keinen Bauplan [...] noch weniger ein Gesetz, aus welchen Materialien gebauet werden 35 soll.

Johann Wolfgang von Goethe versucht dem Problem durch die Unterscheidung von „Naturformen“ und „Dichtarten“ zu begegnen: Dichtarten Allegorie, Ballade, Cantate, Drama, Elegie, Epigramm, Epistel, Epopöe, Erzählung, Fabel, Heroide, Idylle, Lehrgedicht, Ode, Parodie, Roman, Romanze, Satire. Wenn man vorgemeldete Dichtarten, die wir alphabetisch zusammengestellt, und noch mehrere dergleichen methodisch zu ordnen versuchen wollte, so würde man auf große, nicht leicht zu beseitigende Schwierigkeiten stoßen. Betrachtet man obige Rubriken genauer, so findet man, daß sie bald nach äußeren Kennzeichen, bald nach dem Inhalt, wenige aber einer wesentlichen Form nach benamst sind. Man bemerkt schnell, daß einige sich nebeneinanderstellen, andere sich andern unterordnen lassen. Zu Vergnügen und Genuß möchte jede wohl für sich bestehen und wirken, wenn man aber zu didaktischen oder historischen Zwecken einer rationelleren Anordnung bedürfte, so ist es wohl der Mühe wert, sich nach einer solchen umzusehen. Wir bringen daher folgendes der Prüfung dar. Naturformen der Dichtung Es gibt nur drei echte Naturformen der Poesie: die klar erzählende, die enthusiastisch aufgeregte und die persönlich handelnde: E p o s, L y r i k und D r a m a. Diese drei Dichtweisen können zusammen oder abgesondert wirken. In dem kleinsten Gedicht findet man sie oft beisammen, und sie bringen eben durch diese Vereinigung im engsten Raume das herrlichste Gebild hervor, wie wir an den schätzenswertesten Balladen aller Völker deutlich gewahr werden. […] So wunderlich sind diese Elemente zu verschlingen, die Dichtarten bis ins un-

33 34 35

zur Ästhetik F. Th. Vischers, Tübingen 1981; R. ZYMNER, Gattungstheorie. Probleme und Positionen der Literaturwissenschaft, Paderborn 2003. LAMPING, Probleme der neueren Gattungstheorie, 9f. Einen Überblick dazu gibt ZYMNER, Gattungstheorie, 23–33. (1. 3. Von der normativen zur spekulativen Gattungspoetik). Zitiert nach HERDERS Briefe, hrsg. von WILHELM DOBBEK, Weimar 1959, 111.

Forschungsstand und Gattungsproblematik

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endliche mannigfaltig, und deshalb auch so schwer eine Ordnung zu finden, wonach man sie neben- oder nacheinander aufstellen könnte. Man wird sich aber einigermaßen dadurch helfen, daß man die drei Hauptelemente in einem Kreis einander gegenüber stellt und sich Musterstücke sucht, wo jedes Element einzeln obwaltet. Alsdann sammle man Beispiele, die sich nach der einen oder nach der andern Seite hinneigen, bis endlich die Vereinigung von allen dreien erscheint und somit der ganze Kreis in sich geschlossen ist. Auf diesem Wege gelangt man zu schönen Ansichten sowohl der Dichtarten als des Charakters der Nationen und ihres Geschmacks in einer Zeitfolge. Und obgleich diese Verfahrungsart mehr zu eigener Belehrung, Unterhaltung und Maßregel als zum Unterricht anderer geeignet sein mag, so wäre doch vielleicht ein Schema aufzustellen, welches zugleich die äußeren zufälligen Formen und diese inneren notwendigen Uranfänge in faßlicher Ordnung darbrächte. Der Versuch jedoch wird immer so schwierig sein als in der Naturkunde das Bestreben, den Bezug auszufinden der äußeren Kennzeichen von Mineralien und Pflanzen zu 36 ihren inneren Bestandteilen, um eine naturgemäße Ordnung dem Geiste darzustellen.

Goethes Lösungsansatz, hier aufgrund seiner Folgewirkung ausführlich zitiert, verweist zunächst auf eine terminologische Problematik, die im Zusammenhang mit jener normativen Gattungspoetik zu sehen ist, gegen die er sich, bevor er auf die „Naturformen“ zu sprechen kommt, „verwahrt“: Schon seit der Antike ist die theoretische Systematisierung und damit auch die Klassifikation von literarischen Gattungen ureigenes Feld der Rhetorik, die Beschäftigung mit den poetischen Genera wird von Quintilian im zehnten Buch seiner Institutio oratoria dem angehenden Redner ausdrücklich anempfohlen; wenn es sich nicht um dichterische Selbstzeugnisse handelt, finden sich die meisten literaturtheoretischen Äußerungen in rhetorischen Traktaten. In den frühneuzeitlichen Poetiken mit Kulmination in den enzyklopädisch angelegten barocken Beispielpoetiken wird die Dichtkunst mit der Redekunst in einen engen Zusammenhang gebracht oder ihr sogar unterstellt. Zugleich tritt in der Poesie die formale Seite immer stärker in den Vordergrund, wobei der artifizielle Umgang mit den rhetorischen Mitteln sowie eine originelle Kombinatorik oder Invention neuer formaler Paradigma zum Qualitätskriterium wird, hinter dem die inhaltliche Komponente oft zurücktritt. Um bei der klassifikatorischen Normierung die Fülle der verschiedenartigen literarischen Paradigmen nicht unberücksichtigt zu lassen, wird die Anzahl der Genera, die dann in verschiedene Typen aufgespaltet werden, vervielfacht. Wenn Goethe hier nur achtzehn „Dichtarten“ anführt, so nennt Johann Heinrich Alsted in der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts allein unter dem Genos technopaegnion sechzig Subgenera bzw. Typen jeweils mit Beispielen. 37 Die Zuordnung zu einem dieser Typen erfolgt dabei genau wie bei den von Goethe aufgelisteten „Dichtarten“ nach formalen und inhaltlichen Kriterien, doch hat bei Alsted die formale Seite eindeutig Priorität. In Rekurs auf die aristotelische Poetik unterscheidet Goethe drei „Na-

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37

Westöstlicher Diwan: Noten und Abhandlungen, zitiert nach J. W. VON GOETHE: Werke, Kommentare und Register. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 2: Gedichte und Epen II, textkritisch durchgesehen und kommentiert von E. TRUNZ, München 13 1982, 187–189. J. H. ALSTED, Encyclopaedia, Liber X, Sectio IV, Cap. V, Herborn 1630, Fak.-Ndr. Stuttgart 1989, 549–568.

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2. Zu Forschungsstand und Fragestellung

turformen der Poesie“: „Epos, Lyrik und Drama“. 38 Diese Differenzierung in „Naturformen“ und „Dichtarten“ wirkt bis ins zwanzigste Jahrhundert, gerät dann aber im Zuge eines modernen ‚Universalienstreites’ zunehmend unter Kritik,39 da die „Naturformen“ in den Verdacht geraten, eine ontologische Qualität zu besitzen. 40 Tatsächlich deuten die oben zitierten Ausführungen Goethes die „Naturformen“ offenbar als etwas Überzeitliches, während es sich bei den „Dichtarten“ um konkrete Ausgestaltungen (im historischen Kontext) handelt. „Naturformen“ und „Dichtarten“ befinden sich also nicht auf derselben Ebene, eine ontologische Qualität kommt allenfalls den „Naturformen“ zu, nicht aber den „Dichtarten“, die auch Anteil an mehreren „Naturformen“ haben können. Es liegt also kein hierarchisches System vor im Sinne von Genus („Naturform“) und Subgenus („Dichtart“), sondern eine Klassifikation auf zwei Ebenen, einer überzeitlichen und einer historischen. Da in der Nachfolge Goethes seine Einteilung in der Regel aber als ein solches hierarchisches System verstanden und entsprechend modifiziert wird, schlägt in den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts Klaus W. Hempfer eine andere Terminologie vor, die in ein Schema mündet, das zwischen Verfahrensweisen, von ihm als „Schreibweisen“ bezeichnet, und den Gattungen, in denen diese zur Anwendung kommen, unterscheidet. Hempfer betrachtet Gattungen im

38

Siehe GOETHE, Noten und Abhandlungen, 187. Bei Aristoteles heißt es (Poetik, 1447a, griechischer Text nach der Edition von KASSEL, Oxford 1965): e)popoii/a dh\ kaiì h( th=j trag%di¿aj poi¿hsij eÃti de\ kwm%di¿ a kaiì h( diqurambopoihtikh\ kaiì th=j au)lhtikh=j h( plei¿sth kaiì kiqaristikh=j pa=sai tugxa/nousin ouÅsai mimh/seij to\ su/nolon: diafe/r ousi de\ a)llh/l wn trisi¿n, hÄ ga\r t%½ e)n e(te/roij mimeiÍsqai hÄ t%½ eÀtera hÄ t%½ e(te/rwj kaiì mh\ to\n au)to\n tro/ pon™Die Epik also und die Tragödiendichtung, ferner die

39 40

Komödie, die Dithyrambendichtung und der größte Teil der Dichtung zur Flöten und Kitharabegleitung sind alle insgesamt Nachahmungen: Sie unterscheiden sich voneinander in dreierlei Hinsicht: Entweder ahmen sie durch anderes oder anderes oder auf eine andere und nicht auf dieselbe Weise nach. Der von GENETTE, Einführung in den Architext, 7–14 erhobene Vorwurf, im Gegensatz zur Auffassung späterer Interpreten sei bei Aristoteles nur vom Dithyrambus und nicht von lyrischen Gattungen die Rede, greift also zu kurz. Neben dem Dithyrambus sind hier ausdrücklich die Gedichte zu Flöten- oder Kitharabegleitung aufgeführt, also das, was man später als Lyrik bezeichnet. (Die Kithara ist eine Weiterentwicklung der Lyra, von der der Begriff Lyrik abgeleitet ist). Vgl. zum modernen Universalienstreit im Hinblick auf die Gattungsdiskussion ZYMNER, Gattungstheorie, 53–57 (2. 3. Allgemeines und Besonderes – Der ‚Universalienstreit’). Vgl. dazu: H. STEINMETZ, Gattungen: Verknüpfungen zwischen Realität und Literatur, in: Gattungstheorie und Gattungsgeschichte. Ein Symposion, hrsg. von D. LAMPING & D. WEBER (Wuppertaler Broschüren zur Allgemeinen Literaturwissenschaft Nr. 4 / 1990), Wuppertal 1990, 45–69, hier 61f.: „Die Neigung, geltende Gattungsvorstellungen als ontologisch begründet zu begreifen, vor allem auch, mit ihnen als ontologisch begründeten umzugehen, ist weit verbreitet. Und da man herrschende Gattungsvorstellungen im allgemeinen in entsprechenden Gattungsexemplaren repräsentiert sieht, neigt man auch dazu, die Gattungen selbst zu ontologisieren. Die beträchtliche Zählebigkeit der Gattungsvorstellungen und Gattungsordnungen fördert die Überzeugung, Gattungen besäßen überzeitliche Geltung. Immerhin wird von hier aus verständlich, warum Leser literarische Werke von bestimmten Gattungsvorstellungen aus rezipieren, warum auch Literaturwissenschaftler der Meinung sind, das Leseattitüden a priori durch Gattungsideen profiliert seien, die beim Rezipienten existieren.“

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Sinne des „dialektischen Konstruktivismus“ eines Jean Piaget als Konstrukte innerhalb eines kommunikativen Rahmens: Wir unterscheiden also zwischen ‚Gattungen’ als aufgrund spezifischer Textkonstituenten beobachtbaren Phänomenen des historisch literarischen bzw. allgemein sprachlichen Kommunikationssystems und deren wissenschaftlicher Beschreibung. Auf der Ebene der historischen Entwicklung lassen sich die ‚Gattungen’ nun nicht im gleichen Sinn wie etwa die Geburt Napoleons als ‚Faktum’ begreifen, sondern es handelt sich ... um Normen der Kommunikation, die mehr oder weniger interiorisiert sein können. Da diese Normen aber an konkreten Texten ablesbar sind, werden sie für den Analysator zu ‚Fakten’ und lassen sich demzufolge als faits normatifs verstehen... Diesen faits normatifs wird dann in der wissenschaftlichen Analyse eine bestimmte Beschreibung zugeordnet, die als solche immer ein aus der Interaktion von Erkenntnissubjekt und zu erkennendem Objekt erwachsenes Konstrukt darstellt.41

Die „Schreibweisen“ definiert er so: Mit ‚Schreibweise’ sind ahistorische Konstanten wie das Narrative, das Dramatische, das Satirische usw. gemeint, mit ‚Gattung’ historisch konkrete Realisationen dieser allgemeinen Schreibweisen wie z. B. Verssatire, Roman, Novelle, Epos usw., während ‚Untergattungen’ die pathetische Verssatire, der pitoreske Roman u. ä. sind. Den Typusbegriff schließlich verwenden wir wie Lämmert oder Stanzel zur Bezeichnung verschiedener, grundsätzlich möglicher, d.h. überzeitlicher Ausprägungen bestimmter Schreibweisen [z. B. im Hinblick auf das ‚Narrative’ einsträngige oder mehrsträngige Erzählungen, neutrale oder auktoriale Erzählsituation usw.]. Indem nun Piaget zwischen den Gesetzen der Struktur, den Relationen zwischen den sie konstituierenden Elementen und der in ihrem Rahmen möglichen Transformationen dieser Elemente unterscheidet, lassen sich die Schreibweisen als Relationen von Elementen beschreiben, die über bestimmte Transformationen einerseits die überzeitlichen Typen und andererseits die historischen Gattungen ergeben. Unter den historisch möglichen Transformationen können sich dann wiederum bestimmte Arten herauskristallisieren, die die Untergattungen ergeben. Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei bereits an dieser Stelle betont, daß Gattungen bzw. Untergattungen natürlich nicht nur Transformation einer Grundstruktur zu sein brauchen, sondern aus der Überlagerung mehrerer solcher Strukturen und deren Transformationen hervorgehen können.42

Hempfer differenziert also dreifach in „überzeitliche Typen“, „ahistorische Konstanten“, die er als „Schreibweisen“ bezeichnet, und „Gattungen“, die durch die „möglichen Transformationen“ dieser Grundelemente als „historische Textgruppen“ 43 in Erscheinung treten. Diesem Dreierschema setzt Harald Fricke ein Zweierschema entgegen, indem er zwischen dem Begriff „Textsorte“ als „rein systematischen literaturwissenschaftlichem Ordnungsbegriff“ und „Genre“ „als einer historisch begrenzten literarischen Institution“ unterscheidet.44 Mit dieser Differenzierung ist die Frage nach 41 42 43 44

HEMPFER, Gattungstheorie, 125. HEMPFER, Gattungstheorie, 27. HEMPFER, Gattungstheorie, 224. H. FRICKE, Gattungstheorie und Textedition. Probleme ihres Zusammenhangs am Beispiel von Goethes (?) „Maximen und Reflexionen“, in: Gattungstheorie und Gattungsgeschichte. Ein Symposion, hrsg. von D. LAMPING & D. WEBER (Wuppertaler Broschüren zur Allgemeinen Literaturwissenschaft Nr. 4 / 1990), Wuppertal 1990, 157–182, hier 132.

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2. Zu Forschungsstand und Fragestellung

der ontologischen Qualität negativ beantwortet, weil die „Textsorten“ nur auf der rein begrifflichen Ebene existieren. Andererseits erweist sich diese Unterteilung im praktischen Gebrauch als sehr nützlich, weil sich auf diese Weise auch nicht literarische Texte in das System einbinden lassen. So bildet ein „Genre“ eine historische Ausbildung literarischer Texte, während nicht literarische Formen dennoch unter dem Begriff der „Textsorte“ subsumiert werden können. Bei der Definition spielt natürlich die Frage nach den konstituierenden Elementen sowie den Differenzkriterien eine wichtige Rolle. In diesem Zusammenhang kritisiert Fricke starre Normierungen im Sinne einer „Konjunktion“ notwendiger Parameter. Die Kritik an einer starren und schematischen Gattungsdefinition, richte sich [o]ffenbar [...] allein auf solche Definitionen, deren Begriffsstruktur in einer logischen ‚Konjunktion’, in der einfachen Reihung notwendiger Merkmale besteht: Ein Text gehört dann und nur dann einer Textsorte X an, wenn er sowohl A als auch B als auch C als auch...ist.45

Eine Lösung des Problems, die zugleich verhindere in Beliebigkeit zu verfallen, sieht er in einer Kombination von „Konjunktion und Alternation“ der Parameter: Eine einfache Lösung bietet hier die folgende Verschränkung von Konjunktion und Alternation, von notwendigen und alternativen Merkmalen: Ein Text gehört dann und nur dann einer Textsorte X an, wenn er sowohl A als auch B ist und zusätzlich wenigstens eine der folgenden Bedingungen erfüllt: er ist C oder auch D oder auch E oder auch... [...] Die Definition einer Textsorte mit einer solchen Begriffsstruktur ist also logisch einwandfrei geklärt und durch die Trennschärfe der notwendigen Merkmale gegen Beliebigkeit geschützt; zugleich ist sie aber durch die alternativen Merkmale hinreichend flexibel für die Aufnahme historisch variierender Erfüllungen des Modells.46

Wenn aber „Genres“ als historische Ausprägungen literarischer Textsorten verstanden werden, muss die historische Dimension in die Überlegungen miteinbezogen werden. Diesem Problem versucht Hans Robert Jauß mit dem Gedanken der „diachronistischen und synchronistischen Interrelationen zwischen den literarischen Gattungen einer Epoche“ Rechnung zu tragen. 47 Erich Köhler erweitert den Gedanken: Da eine Gattung im jeweiligen Gattungssystem verortet sei „in einer bestimmten bzw. jeweils erst zu bestimmenden Beziehung zu einem spezifischen ‚Sitz im Leben’ der Gattung, zu ihrer arbeitsteiligen Funktion in der Aneignung und Auslegung ein- und derselben geschichtlichen Wirklichkeit durch von dieser unterschiedlich betroffene soziale Gruppen und schließlich in Rückwirkung auf diese“, müsse ein Gattungssystem als „vermittelndes System“ zwischen „Literatur und

45 46 47

H. FRICKE, Norm und Abweichung. Eine Philosophie der Literatur, München 1981, 145. H. FRICKE, Norm und Abweichung, 145f. H. R. JAUß, Theorie der Gattungen und Literatur des Mittelalters, in: Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters, hrsg. von H. R. JAUß & E. KÖHLER, Bd. 1. Heidelberg 1972, 107–138, Zitat 134.

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Gesellschaft“ 48 aufgefasst werden. Wenn hier auch literarische Gattungen rein sozial- und funktionsgeschichtlich gedeutet und damit reduziert werden, so wird von Jauß wie Köhler doch der wichtige Aspekt der synchronen Interrelation wie des diachronen Wandels herausgestrichen. Während Gérard Genette nach einer Fundamentalkritik an den bisherigen Ansätzen eine Systematisierung nach gleichen Differenzierungsparametern fordert und den Vorschlag macht, zwischen „genres“, „modes“ und „types“ zu unterscheiden, zugleich aber dafür plädiert, die Gattungsfrage in einem größeren Zusammenhang zu betrachten, den er als „architexture“ bezeichnet, und in dem auch Fragen, die zuvor unter dem Begriff der „Intertextualität“ behandelt wurden, aufgegriffen werden,49 versucht Alastair Fowler die Faktoren, die den Wandel der Gattungen determinieren können, allgemein zu bestimmen: The processes by which genres change are the same as those that produce most literary change. [...] However, the processes can at least be categorized. Those that stand out may be identified as: topical invention, combination, aggregation, change of scale, change of function, counterstatement, inclusion, selection, and generic mixture.50

Diese kursorischen Bemerkungen über die Geschichte der Gattungstheorie, die natürlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben können, lassen es bei aller Verschiedenartigkeit der modernen Ansätze, die je nach Intention ihrer Vertreter den historischen, den sozial-funktionalen oder den kommunikativen Aspekt betonen, sinnvoll erscheinen, zwischen „Gattung“ als theoretischem Begriff und „Gattung“ als Bezeichnung einer „historischen Textgruppe“ zu differenzieren, auch wenn man vielleicht nicht notwendigerweise wie Harald Fricke von „Gattung“ und „Genre“ sprechen muss, sondern durchaus auch dem allgemeinen Sprachgebrauch folgen kann, sofern aus dem Zusammenhang deutlich wird, welcher Gattungsbegriff gemeint ist. Dass es sich bei der Vorstellung von verschiedenen „Gattungen“ um begriffliche Konstrukte handelt, um Texte zu bestimmten Gruppen zu ordnen, dürfte ebenso evident sein. Diese Zuordnung kann entweder neu vorgenommen werden oder auch schon historisch erfolgt sein. Für die Beschäftigung mit „literarischen Gattungen“ ergeben sich somit grundsätzlich zwei lohnenswerte Ansätze: Zum einen lassen sich bestimmte Texte unter einer neuen Gattungsbezeichnung zu sich neu konstituierenden Gruppen zusammenfassen, wodurch in der Regel Bezüge zwischen ihnen sichtbar werden, die infolge der traditionellen Ordnungsschemata unbeachtet geblieben sind, sich unter diesem veränderten Blickwinkel aber häufig als historisch relevant erweisen. Die für eine derartige Klassifikation notwendigen Konstitutions- und Differenzmerkmale erlauben, erscheinen sie gleich in mehreren Texten beispielhaft realisiert und grenzen sie diese Texte von anderen Textgruppen hinreichend ab, die Konstitution einer neuen „Gattung“ unter einer neuen Be48 49 50

E. KÖHLER, Gattungssystem und Gesellschaftssystem, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 1 (1977), 7–22, hier 7. Vgl. GENETTE, Einführung in den Architext, insbesondere 99–104. A. FOWLER, Kinds of Literature. An Introduction to the Theory of Genres and Modes, Oxford 1982, 170. Ausführlich zu den Kategorien Fowlers ZYMNER, Gattungstheorie, 211–213.

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2. Zu Forschungsstand und Fragestellung

zeichnung. Zum anderen kann man historisch vorgehen. Wenn man „Gattung“ im Sinne von Frickes „Genre“ als „historische Textgruppe“ auffasst, gelten grundsätzlich dieselben Parameter zur Konstitution einer „Gattung“, also Gattungsbezeichnung, Konstitutions- und Differenzkriterien, eine Gruppe exemplarischer Texte (wenn möglich mit der ersten greifbaren Realisation),51 eine hinreichende Anzahl von Texten, die nach diesen Kriterien dieser Gattung nicht zuzuordnen sind und vielleicht auch ein Spektrum von Subgenera bzw. Typen (Typus hier anders als bei Hempfer als untergeordnetes Subgenus verstanden), welche die „Gattung“ weiter ausdifferenzieren, nur mit dem Unterschied, dass sie in historischer Ausprägung erscheinen. D. h. mit einer bestimmten Gattungsbezeichnung verbinden diejenigen, die in dieser Zeit leben, spezifische Vorstellungen über die zugehörigen Texte, mustergültige Autoren, Konstitutions- und Differenzmerkmale, wobei diese formaler sowie wie inhaltlicher Natur sein können. Und das gilt natürlich auch für einen Autor des sechsten nachchristlichen Jahrhunderts wie Venantius Fortunatus. Wie sich die Gattungsproblematik für ihn, der weit vor den zwei genannten historischen Wendepunkten, nämlich dem in den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts und dem in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts lebte, gestaltete, lässt sich am besten mit einem kurzen Blick auf die Gattungsfrage in der Antike verdeutlichen, die noch viel Ähnlichkeit mit dem aufweist, was gemeinhin unter dem Stichwort der „normativen Gattungspoetik“ gefasst wird.

51

Vgl. zur Anwendung dieser Kriterien auch auf experimentelle Formen wie das Figurengedicht U. ERNST, Carmen figuratum. Die Geschichte des Figurengedichts von den antiken Ursprüngen bis zum Ausgang des Mittelalters (Pictura et Poesis 1), Köln 1991, 6–11. Vgl. auch DERS., Gattungstheoretische Reflexionen zum Figurengedicht, in: Von der Wachstafel zum Tonbandgerät, Wuppertal 1987, 35–69 und DERS., Optische Dichtung aus der Sicht der Gattungs- und Medientheorie, in: Architectura poetica. Festschrift für Johannes Rathofer zum 65. Geburtstag, hrsg. von U. ERNST & B. SOWINSKI, Köln 1990, 401–418.

Forschungsstand und Gattungsproblematik

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2.2.2. Zur Gattungsfrage in der Antike Literaturtheorie in der Antike ist nicht als ein geschlossenes System zu verstehen, da es sich oft gar nicht explizit, sondern nur implizit äußert.52 Aussagen über die Rolle des Dichters und sein Selbstverständnis finden sich schon bei Hesiod,53 für die Untersuchung formaler Aspekte spielen die Sophisten des fünften vorchristlichen Jahrhunderts eine große Rolle, ebenso Platon, der sich mit der Wirkung der Dichtung auseinandersetzt, schließlich Aristoteles mit seiner einflussreichen Poetik. Im lateinischen Bereich zeitigt der Brief an die Pisonen des Horaz, seit Quintilian als Ars poetica bezeichnet,54 ein reiches Nachleben, doch handelt es sich dabei um keine systematische Abhandlung, sondern einen poetischen Brief im Stile einer Diatribe.55 Die Poetik des Aristoteles setzt sich nur mit dem Epos und dem Drama auseinander, wobei vom letzteren nur der Teil über die Tragödie erhalten ist. Eine Systematisierung im lateinischen Bereich unternimmt erst Quintilian in seiner Institutio oratoria aus dem Blickwinkel und den Erfordernissen der Rhetorik und des Schulbetriebs. 56 Die theoretischen Äußerungen über Literatur stammen also aus verschiedenen Bereichen; neben Aussagen von Dichtern selbst (wie bei Horaz) stehen die von Philosophen und Rhetoren. 52

53 54

55 56

Zur Literaturtheorie in der Antike siehe JAMES I. PORTER / GREGOR VOGT-SPIRA, Art. Literaturtheorie, in: Der neue Pauly, Bd. 7, Sp. 342–352. Zur Dichtungstheorie ausführlich MANFRED FUHRMANN, Dichtungstheorie in der Antike, Darmstadt 2 1992. Siehe PORTER, Literaturtheorie, Sp. 342. PORTER stellt in der Folge für den griechischen Bereich, neue Kategorien auf, in denen sich Literaturtheorie in der Antike abspielt. Er unterscheidet Formalismus, Materialismus, Moral und Hermeneutik, Sp. 343–348. In der berühmten Dichterweihe, Hesiod, Theogonie, 22–34. Horaz, Epistulae, II, 3: „Ars poetica“. Die „Ars poetica“ stellt trotz ihrer Verbreitung und ihrer Nachwirkung einen Sonderfall in der Dichtungstheorie der Antike dar (zur Dichtungstheorie bei Horaz allgemein, speziell in der „Ars poetica“, ihrem Verhältnis zu der aristotelischen Poetik und der Vermittlung durch hellenistische Quellen siehe FUHRMANN, Dichtungstheorie der Antike, 111–161). Es handelt sich nämlich nicht um eine systematische Abhandlung, sondern um Dichtung über Dichtung, formal gestaltet als poetischer Brief, der sowohl Charakteristika der Diatribe als auch des Lehrgedichts (z. B. Hexamter als Metrum) aufweist. Dieser Form ist es auch geschuldet, dass hier die dahinter stehende Theorie vorausgesetzt und nur in einzelnen Punkten, die Horaz besonders wichtig sind, näher ausgeführt und exemplifiziert wird. Grob unterteilt nähert sich Horaz seinen Sujet von zwei Seiten, zunächst von einer werkästhetischen (1–294) und dann von einer produktions- bzw. wirkungsästhetischen Perspektive (295–476), vgl. dazu FUHRMANN, Dichtungstheorie der Antike, 128. Aber auch Horaz geht von literarischen Gattungen und ihren mustergültigen Vertretern bzw. ihren abschreckenden Beispielen aus. Da er aber Aristoteles im Original nicht kannte, rekurriert er nur indirekt durch Vermittlung hellenistischer Poetiken auf dessen Tragödientheorie und ist dem kallimacheischen Ideal der ausgefeilten Kleinform verpflichtet. Anders als die Neoteriker, die zuvor ebenfalls auf Kallimachos rekurrieren, ist er aber ganz Vertreter der augusteischen Klassik und eines Ideals der maßvollen Mitte und lehnt daher Extremen in Form und Ausdruck, die in der römischen Literatur vor ihm (und nachher auch wieder) durchaus als legitim galten, ab. Es ist interessant zu beobachten, wie spätere Dichter sich durchaus auf Horaz berufen, trotzdem aber in formaler und inhaltlicher Hinsicht Wege beschreiten, die Horaz und die anderen Vertreter der augusteischen Klassik abgelehnt hätten. Vgl. dazu VOGT-SPIRA, Literaturtheorie, Sp. 350. Vgl. dazu VOGT-SPIRA, Literaturtheorie, Sp. 351.

2. Zu Forschungsstand und Fragestellung

54

Und dennoch begegnet man „literarischen Gattungen” und spezifischen Auffassungen davon, wie sie sich konstituieren. Ein Beispiel mag das verdeutlichen. Im zehnten Buch seiner Institutio oratoria gibt Quintilian einen Kanon von griechischen und römischen Autoren und Dichtern, deren Lektüre er dem angehenden Redner empfiehlt. Unter anderem heißt es da: Paucos (sunt enim eminentissimi) excerpere in animo est: facile est autem studiosis qui sint his simillimi iudicare, ne quisquam queratur omissos forte aliquos ipse valde probet; fateor enim pluris legendos esse quam qui nominabuntur. Sed nunc genera ipsa lectionum, quae praecipue convenire intendentibus ut oratores fiant existimem, persequor.

Nur wenige (es sind nämlich die herausragendsten) will ich auswählen: Es ist aber für die Studenten leicht zu beurteilen, welche (Autoren) diesen am ähnlichsten sind, dass nicht irgend jemand darüber klagt, zufällig seien einige, die er selbst für sehr gut hält, beiseite gelassen worden; ich gestehe nämlich, dass mehr gelesen werden sollen, als die (Autoren), welche genannt werden. Aber nun verfolge ich die Gattungen des Lektürestoffes, welche für diejenigen, die Rhetoren werden wollen – meiner Meinung nach – vor allen Dingen passend sind.57

Quintilian selbst spricht hier von genera...lectionum also von (literarischen) Gattungen des Lektürestoffs und so ist auch seine Einteilung konzipiert, wie einige weitere Beispiele verdeutlichen können: Verum hic omnis sine dubio et in omni genere eloquentiae procul a se reliquit, epicos tamen praecipue, videlicet quia durissima in materia simili comparatio est.

Aber dieser [Homer] hat ohne Zweifel alle in jeder Art der Beredsamkeit weit hinter sich gelassen, vor allem die Epiker, offenbar, weil bei einem ähnlichen Stoff eine vergleichbare Leistung äußerst schwierig ist.58

oder: ...Admirabilis in suo genere Theocritus, sed Bewundernswert ist Theokrit in seiner Gattung, musa illa rustica et pastoralis non forum modo aber jene bäuerliche und pastorale Muse scheut verum ipsam urbem reformidat. nicht nur vor dem Forum, sondern auch vor der Stadt zurück.59

57

58 59

Quintilian, Inst., X, 1, 45 (lateinischer Text nach der Ausgabe von WINTERBOTTOM, Oxford 1970). Der Ausdruck eminentissimi / die herausragensten (Autoren) zeigt aber, dass Quintilian diese Kanonisierung nicht nach eigenem Gutdünken vornimmt, sondern offenbar auf bereits Vorhandenes zurückgreift. Es gibt Autoren, die bereits als die herausragendsten gelten, und diese führt er an. Quintilian, Inst., X, 1, 51 (lateinischer Text nach der Ausgabe von WINTERBOTTOM). Quintilian, Inst., X, 1, 55 (lateinischer Text nach der Ausgabe von WINTERBOTTOM).

Forschungsstand und Gattungsproblematik

55

bzw.: ....Tunc et elegiam vacabit in manus sumere, Dann (bei der Behandlung der Römer) wird cuius princeps habetur Callimachus, secundas auch Zeit dafür sein, die Elegie in die Hand zu confessione plurimorum Philetas occupavit. nehmen, für deren Fürst Kallimachos gehalten wird, bei der den zweiten Platz nach der Meinung der meisten Philetas eingenommen hat.60

Hier zeigt sich deutlich eine Einteilung nach Gattungen; anstelle einer Definition werden aber mustergültige Autoren genannt, deren Werke die Vorstellung von der jeweiligen Gattung konstituieren (und aus denen exemplarisch die notwendigen Konstitutions- und Differenzmerkmale entnommen werden können). Daneben bietet die spätere rhetorische Tradition aber auch Gattungsdefinitionen, teils nach inhaltlichen, teils nach formalen Kriterien. So heißt es bei Menander von Laodikeia bzw. Menander Rhetor, einem Rhetoriker aus dem dritten nachchristlichen Jahrhundert, zu Beginn seines ersten Traktats: Th=j r(htorikh=j a(pa/shj trixw½j

diai-

roume/nhj w¨j me/resin hÄ eiãdesin, hÄ oÀpwj deiÍ kaleiÍn,

ei¹j tou\j lo/gouj tou\j e)n

dikasthri¿oij u(pe\r koinw½n

[hÃtoi dhmo-

si¿wn] hÄ i¹di¿wn, kaiì ouÁj e)ne)kklhsi¿aij hÄ e)n boulaiÍj diati¿qentai, kaiì ei¹j tri¿touj tou\j e)pideiktikou/j, ouÁj dh\ e)gkwmiastikou\j hÄ yektikou\j kalou=sin... Tw½n dh\ e)pideiktikw½n to\ me\n yo/goj, to\ de\ eÃpainoj:... to\ me\n

toi¿nun

tou=

yo/gou

me/roj

aÃtmhton. eÃpainoj de/ tij gi¿netai, o(te\ me\n ei¹j

qeou/j, uÀmnouj kalou=men, kaiì

tou/touj

auÅ

diairou=men kata\

qeo\n

eÀkaston: tou\j me\n

ga\r

ei¹j

¹Apo/llwna

pai-

a=naj kaiì u(porxh/mata o)noma/zomen, tou\j de\ ei¹j Dio/nuson diqura/mbouj kaiì i¹oba/kxouj, kaiì oÀsa toiau=ta [eiãrhtai Dionu/sou], tou\j de\ ei¹j ¹Afrodi¿thn tikou/j, tou\j de\ tw½n [lo/g%] ge/nei

aÃllwn

qew½n hÄ t%½

uÀmnouj kalou=men

merikw¯teron pro\j Di¿a.

60 61

e)rw-

Die Rhetorik ist dreifach in Teile oder Gattungen unterteilt, oder, um es so zu sagen, in die Reden vor Gericht für gemeinschaftliche [d.h. öffentliche] oder private Angelegenheiten, in die, welche, in den Volks- oder Ratsversammlungen gehalten werden, und als drittes in die „epideiktischen Reden“, die entweder „Lob“- oder „Tadelreden“ genannt werden... Von den epideiktischen Reden sind die einen also „Tadel“, die anderen „Lob“... Der Typus des „Tadels“ ist unteilbar. „Lob“ aber geschieht bald , nennen wir es „Hymnen“, und diese unterteilen wir wiederum nach jedem einzelnen Gott: Die Hymnen auf Apollon nennen wir „Paiane“ oder „Hyporchemata“, die auf Dionysos „Dithyramben“ und „Iobacchen“ usw., die auf Aphrodite „erotische Hymnen“, die auf die anderen Götter aber entweder mit dem Gattungsnamen „Hymne“ oder spezifischer z. B. „an Zeus“.

61

Quintilian, Inst., X, 1, 58 (lateinischer Text nach der Ausgabe von WINTERBOTTOM). Menander Rhetor, DIHAIRESIS TWN EPIDEIKTIKWN, 331–332, griechischer Text nach der Ausgabe von D. A RUSSELL & N. G. WILSON, OXFORD 1981, 2–4.

2. Zu Forschungsstand und Fragestellung

56

Und hinsichtlich des „Sterblichen“ fährt er fort: Tw½n d'

auÅ periì qnhtw½n

po/leij gi¿nontai eÃpainoi,

oi¸ me\n periì oi¸ de\ periì

zw¯wn. to\ me\n dh\ periì ta\j po/leij kaiì xw¯raj aÃtmhton, dio\ ta\j diafora\j e)n taiÍj texnikaiÍj meqo/doij e)pideico/meqa. [oi¸

me\n

zw¯wn

periì

a)qana/twn,] oi¸ de\ periì

[qnhtw½n] oi¸ me\n

periì logiko/n,

aÃnqrwpon, oi¸ de\ periì a)lo/gwn gi¿nontai eÃpainoi. kaiì to\n me\n periì to\n aÃnqrwpon meqw½men, tw½n me\n

d' auÅ periì ta\ aÃloga oi¸

periì xersaiÍa, oi¸ de\ periì eÃnudra

eÃpainoi gi¿nontai. kaiì to\ me\n

periì tw½n

a)potiqe/meqa, tw½n

e)nu/drwn pa/lin

d' auÅ aÃllwn [e)n gv=]

me/roj ditto/n, hÄ pthno\n hÄ pezo/n.

e)f'

aÀpasi de\ tou/toij e(ch=j [a)nqe/wn

kaiì

futw½n] me/timen ta\ aÃyuxa.

62

a)po\ tw½n

e)myu/xwn e)piì

...

Von den „Lobreden“ über sterbliche Dinge sind die einen über Städte, die anderen über Lebewesen. Die „Lobreden“ über die Städte und Länder lassen sich nicht weiter unterteilen; deshalb werden wir ihre Unterschiede im Abschnitt über die technischen Methoden demonstrieren. Die „Lobreden“ über Lebewesen behandeln entweder einen, der zur Vernunft fähig ist, einen Menschen, oder Tiere, die nicht zur Vernunft fähig sind. Das „Lob“ auf einen Menschen wollen wir zunächst übergehen, das über die unvernünftigen Tiere bezieht sich entweder auf die, welche auf dem Land, oder die, welche im Wasser leben. Und der Typus über die Tiere, die im Wasser leben, lassen wir wiederum beiseite, der über die anderen ist zweigeteilt, entweder nach dem, was fliegt, oder dem, was geht. Nach der Behandlung all dieser gehen wir vom Beseelten zum Unbeseelten über...

Die Enkomiastik weist also nach Menander Rhetor also ein klares generisches Schema auf, das nach inhaltlichen Kriterien (dem Gegenstand des Lobs) in Gattungen und Subgattungen bzw. Typen differenziert wird, „Hymnen“ an Götter, „Lobreden“ auf Städte, Länder, Menschen, Tiere und schließlich „Unbeseeltes“, worunter dann auch Architekturgedichte auf Villen oder Tempel fallen würden. Bei den „Hymnen“ führt Menander Rhetor acht Untergattungen auf: Prw½ton

me\n

ouÅn,

wÐsper e)c

a)rxh=j

Zunächst also wollen wir, wie wir von Anfang an

dieilo/meqa, periì tw½n

uÀmnwn e)piskeyw¯- die Ordnung angelegt haben, die Hymnen auf die meqa tw½n ei¹j qeou/j. au)tw½n ga\r dh\ tw½n Götter betrachten. Von denen sind die einen u(m / nwn oi( me\n klhtikoi¿,

oi¸ de\ a)po-

„Hymnoi kletikoi“, die anderen „Hymnoi apopemptikoi“ oder „Hymnoi physikoi“ oder muqikoi¿, kaiì oi¸ me\n genealogikoi¿, oi¸ de\ „Hymnoi mythikoi“ oder „Hymnoi genealogikoi“ peplasme/noi, kaiì oi¸ me\n eu)ktikoi¿, oi¸ de\ oder „Hymnoi peplasmenoi“ oder „Hymnoi a)peuktikoi¿, oi¸ de\ miktoiì hÄ du/o tou/twn euktikoi“ oder „Hymnoi apeuktikoi“ oder auch hÄ triw½n hÄ pa/ntwn o(mou=. eine Mischform von zwei oder dreien oder allen zusammen. klhtikoiì me\n ouÅn o(poiÍoi¿ ei¹sin oi¸ „Hymnoi kletikoi“ sind so wie die Mehrzahl der polloiì tw½nte para\ tv= SapfoiÍ hÄ ¹Ana- Hymnen bei Sapho, Anakreon oder den anderen pemptikoi¿,

62

kaiì oi¸ me\n fusikoi¿, oi¸ de\

Menander Rhetor, DIHAIRESIS TWN EPIDEIKTIKWN, 332, griechischer Text nach der Ausgabe von RUSSELL / WILSON, 4.

Forschungsstand und Gattungsproblematik

57

kre/onti hÄ toiÍj aÃlloij melikoiÍj, klh=sin Lyrikern, und sie enthalten eine Anrufung vieler eÃxontej pollw½n qew½n. verschiedener Götter. a)popemptikoiì t%½

de\

Bakxuli¿dv

o(poiÍoi

kaiì

eÃnioi euÀrhntai,

para\ „Hymnoi apopemptikoi“ sind so wie einige, die a)po- man bei Bakchylides findet, und sie enthalten eine

pomph\n w¨j a)podhmi¿aj tino\j ginome/nhj

Verabschiedung, wenn irgendeine Reise in die Ferne ansteht. fusikoiì de\ oiàouj oi¸ periì Parmeni¿dhn „Hymnoi physikoi“ sind so wie sie diejenigen aus kaiì ¹Empedokle/a e)poi¿hsan, ti¿j h( tou= dem Kreis um Parmenides und Empedokles ¹Apo/llwnoj fu/sij, ti¿j h( tou= Dio/j, dichteten, indem sie darlegten, was entweder die paratiqe/menoi kaiì oi¸ polloiì tw½n Natur Apollons oder die Natur von Zeus ist. Auch ¹Orfe/wj tou/tou tou= tro/pou. die meisten der Hymnen des Orpheus sind von dieser Art. muqikoiì de\ oi¸ tou\j mu/qouj eÃxontej, „Hymnoi mythikoi“ enthalten die Mythen und kat' a)llhgori¿an proi+on / tej yilh/n, oiâon schreiten zu einer reinen Allegorie fort, wie A¹Apo/llwn a)n%kodo/mhse teiÍxoj, hÄ e)qh/- pollo die Mauer (Trojas) baute oder Apollo Adteusen ¹Admh/t% o( ¹Apo/llwn hÄ ta\ toi- met für Lohn diente oder derartige Dinge. eÃxontej.

au=ta. genealogikoiì

de\ oi¸

taiÍj tw½n poih-

„Hymnoi genealogikoi“ folgen den Theogonien der Dichter, wenn wir Apollo Sohn der Leto und Lhtou=j me\n to\n A ¹ po/llwna, Mnhmo- die Musen Töchter der Mnemosyne nennen. tw½n

qeogoni¿aij a)kolouqou=ntej,

oÀtan

su/nhj de\ ta\j Mou/saj kalw½men. peplasme/noi topoiw½men

de\ oÀtan

au)toiì

swma- „Hymnoi peplasmenoi“ liegen vor, wenn wir

kaiì qeo\n kaiì gona\j qew½n hÄ

selbst einen Gott oder die Geburt von Göttern und Dämonen als Personifikation erschaffen, wie z. B. rion dai¿mona ke/klhke, kaiì eÀteroi den „Morgen“ einen Dämon nannte und andere ãOknon, kaiì eÀteroi eÀtero/n tina. die „Trägheit“, wieder andere einen anderen als Gott bezeichneten. eu)ktikoiì de\ oi¸ yilh\n eu)xh\n eÃxontej „Hymnoi euktikoi“ enthalten ein einfaches Gebet aÃneu tw½n aÃllwn merw½n wÒn eiãpomen, kaiì ohne die anderen Teile, die wir nannten, und a)peuktikoiì oi¸ ta\ e)nanti¿a a)peuxo/menoi „Hymnoi aneuktikoi“ bitten einfach, dass etwas yilw½j. Schlimmes nicht geschehe. kaiì para\ tou/touj tou\j tro/pouj ou)k aÄn Und außer diesen Arten gibt es keine Hymnen an uÀmnoi gi¿gnointo ei¹j qeou/j.63 Götter. daimo/nwn, wÐsper Simwni¿dhj AuÃ-

Diesen Definitionen lässt Menander Rhetor eine ausführlichere Behandlung der einzelnen Hymnengattungen folgen, wobei jeweils nach formalen wie inhaltlichen Kriterien weiter differenziert wird. Zwei Punkte sind auffällig: Zunächst nennt Menander in den Definitionen mustergültige Autoren und generiert somit eine Gattungsvorstellung anhand exemplarischer Werke, ein Verfahren, das bei Quintilian ebenfalls zur Anwendung kam. Ferner lässt er u(/mnoi miktoi/ / Mischformen ausdrücklich zu, ohne damit ein negatives Werturteil zu verbinden.

63

Menander Rhetor, DIHAIRESIS TWN EPIDEIKTIKWN, 333, griechischer Text nach der Ausgabe von RUSSELL / WILSON, 6.

58

2. Zu Forschungsstand und Fragestellung

Venantius Fortunatus war durch Ausbildung und Studium in Ravenna mit der antiken rhetorischen Tradition vertraut. Das Zitieren griechischer Fachtermini64 zeigt, dass sich diese Vertrautheit zumindest in Grundzügen auch auf die griechische Theorie bezog. Man muss bei Venantius Fortunatus also davon ausgehen, dass er wie eine Reihe seiner Zeitgenossen die Vorstellung von literarischen Gattungen mit exemplarischen Texten mustergültiger Autoren verband und darüber hinaus für einzelne Genera, die im Rhetorikunterricht ausführlich behandelt wurden und daher ihren Niederschlag in rhetorischen Handbüchern fanden (wie z. B. der Hymnus), die entsprechenden Definitionen und die damit verbundenen Konstitutions- und Differenzkriterien kannte. Insofern bedeutet „Gattung“ für Venantius Fortunatus und seine Zeitgenossen immer eine Vorstellung von einer „historische[n] Textgruppe“ im Sinne von Fricke, die verknüpft ist mit den entsprechenden theoretischen Äußerungen, wie sie für uns noch in den rhetorischen Handbüchern greifbar sind. Und im Rhetorikunterricht wie in den entsprechenden Handbüchern spielt seit der Spätantike die epideiktische Rede eine immer größere Rolle und innerhalb der epideiktischen Rede das Enkomion in Vers oder Prosa, das wiederum an einen bestimmten „Sitz im Leben“ gebunden ist, oder, anders ausgedrückt, für eine bestimmte „Gelegenheit“ verfasst wird. Damit handelt es sich um „Gelegenheitsdichtung“, aber nicht in dem Sinne, dass en passant und ohne Sorgfalt künstlerisch mittelmäßige Werke entstehen, sondern dass zu einer speziellen „Gelegenheit“ ein sorgsam durchfeiltes Werk komponiert wird. 65 (Auch ein Hymnus wird zu einer ganz bestimmten „Gelegenheit“ verfasst).

64 65

Siehe z. B. Venantius Fortunatus, Vita sancti Martini, Ep. ad Greg., 1. Vgl. dazu die Definition von W. SEGEBRECHT, Gelegenheitsgedicht, in: K. WEIMAR (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1, Berlin 1997, 688–691, insbesondere 688: „Ein für bzw. auf ein bestimmtes Ereignis geschriebenes oder aus einer bestimmten Veranlassung heraus entstandenes Gedicht. Expl: Gelegenheitsgedicht begegnet in unterschiedlichen Bedeutungen, die aus den jeweils zugrundeliegenden Gelegenheiten und deren gesellschaftlichen oder individuellem Stellenwert resultieren. (1) In einem engeren Sinne erfaßt der Begriff die in gebundener Rede auf herausgehobene Gelegenheiten (casus) des menschlichen Lebens (Hochzeiten, Todesfälle u. a.) von öffentlicher Relevanz bezogenen, adressatenorientierten Carmina (KASUALPOESIE). (2) In einem weiteren, teilweise geradezu gegensätzlichen Sinne wird der Ausdruck auch auf Gedichte angewandt, die sich (vermeintlich) einmaligen individuellen Lebensaugenblicken des Dichters selbst verdanken, so daß er unter Berufung auf Goethes Bekenntnis: ‚alle meine Gedichte sind Gelegenheitsgedichte’ (zu Eckermann am 17.9.1823) mit dem sogenannten Erlebnisgedicht identifiziert worden ist und in dieser Bedeutung zu einem zentralen Paradigma des 19. und beginnenden 20. Jhs. avancierte (Erlebnislyrik). (3) Darüber hinaus findet der Terminus überwiegend in Werkausgaben von Autoren des 19. und 20. Jhs. auch als Sammelbegriff für solche Gedichte Verwendung, die ihre Entstehung unterschiedlichen privaten und öffentlichen Veranlassungen verdanken. (4) Schließlich begegnet er als Bezeichnung für lyrische Hervorbringungen, die als Nebenwerke im Oeuvre eines Autors nur eine beiläufige Rolle spielen; ebenso wird damit oft die unprofessionelle Machart und anspruchslose Erscheinungsform von Gedichten signalisiert.“ Die Carmina des Venantius Fortunatus kann man nur im Sinne von (1) oder (3) unter dem Begriff „Gelegenheitsgedicht“ subsumieren. Allgemein zur Kasualpoesie W. ADAM, Poetische und kritische Wälder. Untersuchungen zu Geschichte und Formen des Schreibens ‚bei Gelegenheit’, Heidelberg 1988.

Forschungsstand und Gattungsproblematik

59

Der Blick auf Menander Rhetor hat gezeigt, dass es für epideiktische „Gelegenheitsdichtung“ auch nach antiker Theorie eine Vielzahl literarischer Subgenera bzw. Typen gibt. Das bedeutet für einen Dichter wie Venantius Fortunatus die Möglichkeit, sich in die jeweilige Gattungs-, Subgenus bzw. Typustradition einzuordnen und sich zugleich von ihr abzusetzen. Diese Absetzung kann in formaler wie inhaltlicher Hinsicht geschehen. In inhaltlicher Hinsicht ist sie dadurch möglich, dass mit bekannten literarischen Formen „neue“ bzw. „moderne“ Themen66 verbunden werden, in formaler, indem auf der Ebene der Stilistik oder der literarischen Gattung eine Auseinandersetzung mit Vorgängertexten stattfindet und die von ihnen aufgestellten Grenzen transgrediert werden. Auf der Ebene der literarischen Gattung geschieht dies zumeist im Rekurs auf Elemente anderer Gattungen; das Ergebnis wird zumeist als genus mixtum / Gattungsmischung67 oder auch als manieristische Hybridform einer Gattung68 klassifiziert. Da es sich aber um eine vom Autor bewusst angewandte Verfahrensweise handelt, sollte man hier vielleicht eher von Gattungstransgression sprechen, um die negativen Konnotationen zu meiden, die mit einem willkürlichen Verfahren der Mischung oder der Hybridität / Bastardhaftigkeit verbunden sind. Venantius Fortunatus betätigte sich auch nach antiker Vorstellung in unterschiedlichen literarischen Gattungen mit Subgenera bzw. Typen, wobei viele seiner Gedichte dem ge/noj e)pideiktiko/n zugerechnet worden wären. Darunter fallen sowohl Enkomien auf Personen als auch die Vielzahl von Gedichten auf die Errichtung bzw. Restaurierung von Kirchen, welche die Person ihres Stifters hervorheben und seinem Lob dienen sollen, die man aber ebenso unter dem neuzeitlichen Begriff „enkomiastisches Architekturgedicht“ fassen könnte. Unter die Gedichte auf Personen fällt auch das Epithalamium auf Sigibert und Brunichilde, ein Beispiel für ein Subgenus der epideiktischen Rede, das schon in Antike und Spätantike einer eigenen theoretischen Behandlung (z. B. bei Menander Rhetor) für würdig befunden wurde. Ferner fallen auch die Hymnen darunter (wie die zitierten Stellen aus Menander Rhetor verdeutlichen). Bei einem christlichen Dichter sind natürlich keine paganen Götter Sujet der Hymnen, sondern Gott oder auch die Gottesmutter. Venantius macht außerdem das heilige Kreuz zum Sujet für Hymnen. 66

67

68

Zum Begriff des „Neuen“ vgl. den Sammelband: M. MOOG-GRÜNEWALD (Hrsg.), Das Neue. Eine Denkfigur der Moderne (Neues Forum für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, 11), Heidelberg 2002, insbesondere darin: A. SCHMITT, Die ‚Wende des Denkens auf sich selbst’ und die Radikalisierung des Begriffs des Neuen in der Neuzeit, 13–38. Zum Phänomen der „Gattungsmischung“ im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert vgl. S. GESSE, ‚Genera mixta. Studien zur Poetik der Gattungsmischung zwischen Aufklärung und Klassik-Romantik, Würzburg 1997. Zur normativen Gattungspoetik von Julius Caesar Scaliger bis in die Aufklärung vgl. S. TRAPPEN, Gattungspoetik. Studien zur Poetik des 16. bis 19 Jahrhunderts und zur Geschichte der triadischen Gattungslehre (Beihefte zum Euphorion 40), Heidelberg 2001. Vgl. zu diesem Komplex und der Antithese „Klassik“ und „Moderne“ P. L. SCHMIDT, Klassizismus, Klassik, A. Definition, B. I. Antike, III, Lateinisches Mittelalter, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hrsg. von G. UEDING, Bd. 4 , Tübingen 1998, Sp. 977–986 & Sp. 991–994; vgl. auch J.-L. CHARLET, Die Poesie, in: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft Bd. 4: Spätantike, hrsg. von L. J. ENGELS & H. HOFFMANN, Wiesbaden, 1997, 495–564.

60

2. Zu Forschungsstand und Fragestellung

Daneben betätigt er sich in der Vita sancti Martini als Epiker, in den Prosaviten auf Heilige als scriptor. Die wenigen erhaltenen Prosabriefe zeigen ihn als Epistolograph, seine expositiones als Verfasser theologischer Kommentare. Zudem überschreitet er die Grenzen zur visuellen Poesie. 69 Diesen Transgressionen soll die vorliegende Studie nachgehen. Dabei wird sie systematisch das Werk des Venantius Fortunatus zunächst nach den Prosa- dann nach den poetischen Werken betrachten und in jedem Kapitel ein literarisches Genos, in dem sich Fortunatus betätigt hat, in den Vordergrund stellen. Da Venantius Fortunatus sich in jedem dieser Genera in den Kontext einer literarischen Tradition stellt und sich mit ihr auseinandersetzt, soll jeweils anhand der Interpretation einzelner Beispiele diese Auseinandersetzung im Spannungsfeld von „Tradition“ und „Modernität“ exemplifiziert werden. Dazu ist es notwendig, in erster Linie einen historischen Gattungsbegriff zugrunde zu legen und von dem auszugehen, was Venantius Fortunatus sowohl an theoretischer Systematisierung als auch an exemplarischen Autoren und Werken kennen konnte. Diese Kenntnis darf man aufgrund seiner Studienzeit in Ravenna und der Anspielungen, die sich in seinem Oeuvre zeigen, auch wenn er ein Autor des sechsten nachchristlichen Jahrhunderts ist, gewiss nicht zu gering veranschlagen. Legt man dabei in erster Linie einen historischen Gattungsbegriff für Venantius Fortunatus zugrunde, spielen allerdings auch die zuvor genannten Parameter der Gattungsbezeichnung (für die es meist auch schon einen antiken Namen gibt) sowie der Konstitutionsund Differenzkriterien (die sich aus den für exemplarisch geltenden Werken spezieller Autoren ableiten lassen oder in rhetorischen Handbüchern wie denen des Menander Rhetor formuliert sind) eine wichtige Rolle. Für den Umgang mit der Tradition ist vor allem der Bereich der intertextuellen Bezüge zu berücksichtigen. Gerade bei einer systematischen Analyse ausgewählter Exempel aus den jeweiligen literarischen Genera lassen sich diese Bezüge sowie der spezifische Umgang des Dichters mit den entsprechenden Gattungsparametern deutlich herausarbeiten. Auf dieser Grundlage kann dann vielleicht abschließend die Frage beantwortet werden, ob die selbstironische Stilisierung als novus Orpheus lyricus bei Venantius Fortunatus doch mehr ist als ein literarischer Topos.

69

Einen Überblick im Hinblick auf die Gattungsproblematik gibt U. ERNST, Optische Dichtung aus der Sicht der Gattungs- und Medientheorie, in: Architectura poetica. Festschrift für Johannes Rathofer zum 65. Geburtstag, hrsg. von U. ERNST & B. SOWINSKI, Köln 1990, 401–418.

3. DAS OEUVRE DES VENANTIUS FORTUNATUS 3.1. VENANTIUS FORTUNATUS ALS PROSASCHRIFTSTELLER Das Oeuvre des Venantius Fortunatus gliedert sich, wie bereits erwähnt, in Prosaund poetische Werke. Die Prosawerke beschränken sich dabei auf drei literarische Genera, die Heiligenvita, den theologischen Kommentar und den Prosabrief. Infolge seiner Tätigkeit für das Kloster der Radegunde in Poitiers ist von einer umfangreichen Korrespondenz auszugehen, die Venantius Fortunatus im Interesse des Klosters geführt hat. Diese Korrespondenz ist nicht erhalten; allerdings finden sich einige Prosabriefe in der Sammlung seiner Gedichte, die dort wohl gezielt aufgrund ihrer stilistischen und poetischen Qualitäten aufgenommen worden sind. Damit sind die einzigen von Venantius Fortunatus erhaltenen Prosabriefe ebenso wie seine theologischen Kommentare, im Kontext seines lyrischen Oeuvres überliefert. Der Dichter selbst hat also in einigen seiner Briefe offensichtlich derartige literarische Qualitäten gesehen, dass er sie schon im ersten Faszikel (Buch I-VII) seiner Werkedition unterbrachte. Zugleich nutzt er sie als Buchanfang, so dass sie bisweilen proömialen Charakter erhalten. Zunächst daher also zum epistolographischen Werk des Venantius Fortunatus.

3.1.1. Venantius Fortunatus als Epistolograph Die Gattung Brief gehört zu den ältesten literarischen Genera. Belege für Briefe gibt es bereits in der vorderasiatischen keilschriftlichen Überlieferung seit dem dritten Jahrtausend vor Christus.1 Je nach Absender und Adressat sowie Aufgabe und Zweck reicht das Spektrum dieses Genos vom Herrschererlass bis zur Privatkorrespondenz. Es sind Briefcorpora überliefert, in denen sich Echtes mit Fiktiven mischt oder die ganz fiktiv sind. Neben Prosabriefen stehen solche in Versform, neben Briefen mit eher essayistischem Charakter philosophische oder fachwissenschaftliche Traktate.2 1 2

Vgl. dazu H. NEUMANN, Art.: Brief, Geschichte des Briefschreibens: 1. Vorderer Orient und Ägypten in: Der Neue Pauly, Bd. 2, Sp 773f., hier 773. Einen guten ersten Überblick gibt nach wie vor B. KYTZLER, Art: Brief, in: LAW, Sp. 496–501. Siehe auch P. L. SCHMIDT / H. NEUMANN, Art: Brief, in: Der Neue Pauly, Bd. 2 Sp. 771–776 und H. GÖRGEMANNS / M. ZELZER, Art: Epistel, in: Der Neue Pauly, Bd. 3, Sp. 1161–1166, sowie M. ZELZER, Die Briefliteratur, in: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, Bd. 3: Spätantike, hrsg. von L. J. ENGELS & H. HOFFMANN, Wiesbaden 1997, 321–353. Ausführlich zu Gattung und Topik K. THRAEDE, Grundzüge griechisch-römischer Brieftopik (Zetemata 48), München 1970, zum Brief im lateinischen Mittelalter, F. - J. SCHMALE, Art.: Brief (IV), in: LexMA Bd. 2, Sp. 652–659. Zur Rezeption und Überformung des paganen

62

3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

Da in diesem Kapitel Venantius Fortunatus als Prosaschriftsteller im Vordergrund stehen soll, wird die Versepistel, wie sie in der paganen lateinischen Literatur vor allem durch Horaz und Ovid, in der christlichen Spätantike auch durch Ausonius und Paulinus von Nola vertreten ist, zunächst unberücksichtigt bleiben. An dieser Stelle möge der Hinweis genügen, dass manche seiner Gedichte auch durchaus als Briefe in Versform verstanden werden können.3 Wenn man sich auf die Prosabriefe in der lateinischen Literatur beschränkt, können verschiedene Einteilungen vorgenommen werden. Im paganen Umfeld begegnen sowohl persönliche als philosophische Briefe,4 wie auch offizielle und halb offizielle Schreiben, die in einer bestimmten Situation mit einer bestimmten Zielsetzung verfasst worden sind. Persönlich muss hier im Hinblick auf den Adressaten verstanden werden, sagt aber noch nichts darüber aus, ob und inwieweit der Brief mit literarischen Mitteln ausgestaltet ist oder nicht. Dabei ist zu beachten, dass die Unterscheidung in „echte Briefe“ und „Kunstbriefe“ moderner Natur ist, und für die Antike das wichtigste Unterscheidungskriterium die Publikation war.5 Nach modernen Kriterien handelt

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Freundschaftbriefes durch christliche Autoren vgl. jetzt auch P. GEMEINHARDT, Das lateinische Christentum und die antike pagane Bildung (Studien und Texte zu Antike und Christentum 41), Tübingen 2007, 187–201 (zur Brieftopik) und 201–222 (zum Thema der Bildung in christlichen Briefen). Z. B. Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 9, wo Radegunde gebeten wird, ihre Askese nicht zu übertreiben; in der ersten Zeile ist sie wie in einem Brief direkt angesprochen. Bei den zahlreichen Gedichten, die sich an einen bestimmten Adressaten wenden, ist dieser manchmal zu Beginn des Gedichtes direkt angesprochen, manchmal nicht. Viele davon kann man unter dem Oberbegriff des poetischen Briefes fassen, vgl. dazu auch Kapitel 3. 2. 5. dieser Arbeit. Wir wissen nicht, ob sich zu solchen poetischen Briefen nicht Begleitschreiben zugesellten; im oben genannte Beispiel (Carm., VIII, 9) ist das wohl eher unwahrscheinlich, in dem berühmten De excidio Thoringiae (Venantius Fortunatus, Carm., Appendix 1), das sich auch unter dem Begriff eines poetischen Briefes, bzw. einer Briefelegie fassen lässt, muss es hingegen als sicher vorausgesetzt werden, vgl. dazu Kapitel 3. 2. 6. dieser Arbeit. So KYTZLER, Art.: Brief, Sp. 499. Bei GÖRGEMANNS / ZELZER, Art.: Epistel, Sp. 1162–1166, wird zwischen Privatbriefen, amtlichen Briefen und literarischen Briefen unterschieden. Eine genauere Ausdifferenzierung der antiken Briefliteratur nimmt SCHMIDT, Art: Brief: Arten des Briefes, Sp. 771 vor: „Bei der antiken Gattung ‚B.’ geht es – neben den wenigen Texten zur Brieftheorie und den Briefstellern [...] – um 1. Gesetzen vergleichbare, offizielle B. (Erlasse). 2. amtliche Schreiben des Alltags, 3. der Rede verwandte ‚offene’ B. a) mit einem oder mehreren Absendern und einer Pluralität von Adressaten (etwa christliche Gemeinde - B.) oder b) einem über einen direkten Adressaten hinausgehenden, potentiell weiteren Publikum, schließlich 4. Schreiben von Individuen untereinander in privater Absicht. Prinzipiell zu trennen davon sind a priori für eine lit. Veröffentlichung bestimmte B. wie 5. Lehrb., 6. Kunstb. in Prosa (Plinius und die Folgen) oder Poesie (Horaz, Ovids Exildichtung) sowie 7. als sog. Pseudoepigrapha erh. Rollenb. (rhet. Prosopopoiien), bes. b) wenn ihr Verf. mit dem Absender nicht identisch ist (Ovids Heroides); einen Sonderfall stellen 8. einleitende Widmungsb. dar.“ Siehe ZELZER, Art.: Epistel, G. Literarische Briefe, Sp. 1164: „Epistula est, habet quippe in capite quis ad quem scribat. Augustinus’ Worte in den Retractiones zu einer längeren Abh. (2,20) zeigen, daß der Römer unter Brief (B.) jedes Schriftstück verstand, das eine Absender und Empfänger nennende Anrede trug, unabhängig von einer tatsächlichen Übersendung. Zur Lit. wurde ein B. nicht durch seinen Inhalt, sondern durch seine Publikation, die des Inhalts oder des Verf. wegen erfolgen konnte, nach dessen Tod oder schon zu dessen Lebzeiten, von

3.1.1. Venantius als Epistolograph

63

es sich bei den erhaltenen Briefen des Venantius Fortunatus in der Regel um Kunstbriefe in Prosa6 und nicht um eine reine Privatkorrespondenz, wie sie am ehesten im Korpus der Cicerobriefe greifbar ist, auf den Venantius Fortunatus verschiedentlich rekurriert.7 Die erhaltenen Briefe des fortunatischen Oeuvres decken unterschiedliche Typen ab: Während es sich z. B. bei den Briefen an Gregor zu Beginn der Sammlung seiner Carmina und der Vita sancti Martini um Einleitungs- bzw. Widmungsbriefe8 handelt (wie z. B. bei Statius in dem Brief an Arruntius Stella, der dem ersten Buch der Silvae vorangestellt ist), stellt der Brief an Syagrius sowohl ein Schreiben, in dem sich Venantius für einen Inhaftierten verwendet, als auch einen Kommentar zu dem mitgeschickten Figurengedicht dar.9 Wenn man in den Briefen von Plinius d. J. das Muster für den Kunstbrief sieht, verstanden als ein Brief, der bereits bei der Abfassung eine spätere Veröffentlichung im Blick hat oder für diese Veröffentlichung stilistisch und rhetorisch überarbeitet wird und oft essayistischen Charakter10 annimmt, so werden die Unterschiede zu Venantius Fortunatus schon in der Titulatur deutlich: Während bei Plinius Absender und Empfänger nach dem Muster PLINIUS [CORNELIO] TACITO S[ALUTEM DICIT] / PLINIUS GRÜSST SEINEN CORNELIUS TACITUS11 genannt werden, und sich das selbst in den Schreiben an Kaiser Trajan nicht wesentlich verändert (C. PLINIUS TRAIANO IMPERATORI / GAIUS PLINIUS [GRÜSST] DEN KAISER TRAIAN, 12 nimmt die Titulatur des Adressaten bei Venantius einen wesentlich

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Seiten anderer oder des Verf. selbst. Die moderne Scheidung zw. ‚echtem’ B. und ‚Kunstbrief’ bzw. ;Epistel’ entspricht somit nicht den antiken Gegebenheiten...“ Nach dem Kriterienkatalog von SCHMIDT, siehe Anm. 4. Z. B. Venantius Fortunatus, Carm., V, 1, 6; VII, 2, 3; VIII, 1, 6. Zum Widmungsbrief vgl. H. GÖRGEMANNS, Art.: Epistolographie, in: Der Neue Pauly, Bd. 3, Sp. 1166–1169, hier 1167. Venantius Fortunatus, Carm., V, 6 und V, 6a. Für das, was man nach modernen Begriffen als „Essay“ bezeichnen würde, war die Briefform aufgrund stilistischer und formaler Kriterien besonders geeignet, vgl. ZELZER, Art.: Epistel. G. Literarische Briefe, Sp. 1164f.: „...Der große Umfang des B.-Genos ergab sich aus der doppelten Aufgabe des ,Gesprächsersatzes’: der Vermittlung von Information und der Pflege persönlicher Beziehungen. Der familiäre Ton und die zwanglose Form erwiesen es als bes. geeignet zur Behandlung verschiedenster Themen für einen größeren Leser- oder Hörerkreis (Varro, Epistolicae quaestiones; Seneca, Epistulae morales ad Lucilium); für wiss. Abh. bevorzugten es Juristen und Mediziner (Proculus, Marcellus Empiricus). Der größte Teil der erh. B. des Hieronymus (125) und des Augustinus (308) sind Abh. in Briefform...Die Theorie sah anders aus. Jeder Gebildete kannte die gelehrte B. - Theorie der Griechen ..., die als Hauptaufgabe des B. die Pflege der Freundschaft ansah und eine dem Zweck entsprechende Länge (besser gesagt Kürze), eine dem Adressaten angepaßte Ausdrucksweise ohne Übertreibungen (‚Plauderton’: iocari), Beschränkung auf ein Thema und Vermeidung alles polit. Aktuellen und ganz Persönlichen verlangte. Mit der Rückbesinnung auf die alte Tradition trat im 4. Jh. n. Chr. die urspr. Aufgabe des Briefes als Freundschaftsbeweis wieder in den Vordergrund, verbunden mit einer kunstvollen Stilisierung; in Übertreibung entstanden B. fast ohne Inhalt.“ So z. B. Plinius minor, Epist., I, 6. So z. B. Plinius minor., Epist., X, 1 und passim. Auch wenn der Kaiser innerhalb der Briefe direkt angesprochen wird, findet sich keine ausufernde Titulatur; Trajan wird als imperator sanctissime (X, 1) oder imperator optime (X, 4 [3]) oder schlicht als domine (X, 2) angeredet. Und auch Trajan bedient sich in seinen Antwortschreiben keiner Titulatur, sondern begnügt

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3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

breiteren Raum ein: DOMINO SANCTO ET DOTE MERITORUM SACRIS ALTARIBUS ADSCITO PARITER ET EDUCTO GREGORIO PAPAE FORTUNATUS / DEN EHRWÜRDIGEN UND AUFGRUND SEINER VERDIENSTE ZU DEN HEILIGEN ALTÄREN GERUFENEN UND IN GLEICHER WEISE ERHABENEN BISCHOF GREGOR GRÜSST 13 FORTUNATUS heißt es in der Praefatio seiner Gedichtsammlung. Oder im Widmungsbrief zur Vita sancti Martini: DOMINO SANCTO ATQUE APOSTOLICO PIISSIMO IN CHRISTO ET PECULIARI GREGORIO PAPAE FORTUNATUS / DEN EHRWÜRDIGEN UND APOSTOLISCHEN, IN CHRISTUS HÖCHST FROMMEN UND ERHABENEN BISCHOF GREGOR GRÜSST FORTUNATUS.14 Wenn auch – wohl aufgrund der persönlichen Beziehung – die Titulatur im Falle Gregors bisweilen fortfällt,15 ist sie bei allen anderen Schreiben eben so ausführlich wie in den Widmungsbriefen an Gregor. Als Beispiel mag hier die Anrede an den Bischof Martin von Braga dienen: DOMINO SANCTO ATQUE APOSTOLICO ET IN CHRISTI REGIS EXERCITU POST DUCEM PAULUM PRIMIPILO MARTINO EPISCOPO FORTUNATUS / DEN EHRWÜRDIGEN APOSTOLISCHEN HERRN UNTER DER FÜHRUNG DES PAULUS IM HEER CHRISTI, DES KÖNIGS, ZENTURIO DES ERSTEN MANIPELS, BISCHOF MARTIN GRÜSST FORTUNATUS.16 Man sieht deutlich, dass die Titulatur einen völlig anderen Stellenwert einnimmt als im ersten und zu Beginn des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts. Sie weist eine sorgfältige Beachtung der unterschiedlichen sozialen Stellungen von Absender und Adressat aus, die bis ins Hochmittelalter stetig verfeinert wurde.17

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sich mit einem schlichten TRAIANUS PLINIO. Im Widmungsbrief des Statius, Silvae, I heißt es übrigens STATIUS STELLAE SUO SALUTEM und Stella wird als iuvenis optime et in nostris studiis eminentissime angesprochen, was sicher schon eine Steigerung gegenüber Plinius bedeutet, bei dem selbst Kaiser Trajan keines Dikolons in der Salutatio gewürdigt wird, während in Richtung Spätantike die Titulaturen in den Briefformularen immer ausufernder werden. Venantius Fortunatus, Carm., Praefatio, Salutatio. Venantius Fortunatus, Vita sancti Martini, Epistula ad Gregorium, Salutatio. Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 12 a, wo sich der Dichter für die Äbtissin des Klosters der Radegunde einsetzt. Venantius Fortunatus, Carm., V, 1, Salutatio. Vgl. SCHMALE, Art.: Brief (IV), Sp. 653: „...Generell ist aber für den ma. B. charakteristisch: 1. Die oft ausladende Adresse (salutatio), in der Absender und Empfänger nicht nur hinsichtl. ihrer sozialen Stellung bezeichnet, sondern auch mit schmückenden, für bestimmte Personenkreise mit der Zeit stereotypen Beiworten belegt wurden. Auch sie waren Stellung, persönl. Verhältnissen und gegenseitigen Beziehungen von Absendern und Empfängern sowie dem Briefinhalt angepaßt und endeten in Grußformeln, die ebenfalls die angedeuteten Beziehungen und Verhältnisse berücksichtigten. Bes. in den Kanzleien der Ks. und Kg.e, der Päpste und Bf.e setzten sich für den amtl. B.verkehr weitgehend formelhafte Adressen durch, die für Absender und Empfänger des gleichen Ranges jeweils gleich bleibende Bezeichnungen in Anlehnung an ihre Titulaturen als Aussteller von Urkunden, ebenso zu offiziellen Titeln werdende Epitheta sowie einheitliche Grußformeln aufwiesen. 2. Meist eine Eingangsformel (Prooemium, Captatio benevolentiae, Arenga), die den Adressaten auf die in der eigtl. Mitteilung behandelte Sache einstimmen sollte und auf den Inhalt der Mitteilung, auf Person und Situation sowie die Art der Beziehungen der B.partner Rücksicht nahm. 3. Die Schlußformel,

3.1.1. Venantius als Epistolograph

65

Diese Tendenz ist allerdings schon fast zwei Jahrhunderte vor Venantius Fortunatus in salutationes nicht nur der offiziellen Schreiben greifbar. So beginnt ein Brief des Paulinus von Nola an Augustin: SANCTO DOMINI BEATISSIMO ET UNICE NOBIS UNANIMO AC VENERABILI ET DESIDERABILI PATRI FRATRI MAGISTRO AUGUSTINO EPISCOPO PAULINUS ET THERASIA PECCATORES / DEN IM HERRN HEILIGEN UND HÖCHST GLÜCKSELIGEN UND MIT UNS EINZIGARTIG EINMÜTIGEM EHRWÜRDIGEN UND LIEBEN VATER BRUDER UND LEHRER, DEN BISCHOF AUGUSTIN GRÜSSEN DIE SÜNDER PAULINUS UND THERASIA.18 Auch in der Korrespondenz des Augustin zeigen sich bezüglich der salutationes deutliche Unterschiede, je nachdem, ob Augustin Absender oder Adressat ist, z. B. in folgendem Briefpaar: DOMINO DILECTISSIMO ET IN CHRISTI MEMBRIS HONORANDO FRATRI VALENTINO ET FRATRIBUS, QUI TECUM SUNT, AUGUSTINUS IN DOMINO SALUTEM / DEM GELIEBTEN HERRN UND IN CHRISTI GLIEDERN VEREHRUNGSWÜRDIGEN BRUDER VALENTINUS UND DEN BRÜDERN, DIE MIT DIR SIND, ENTBIETET AUGUSTINUS IM HERRN SEINEN GRUSS.19 Valentinus Antwort auf diesen Brief lässt in der salutatio sowohl durch die Länge als auch die Prädikation keinen Zweifel daran, wer dem Range nach höher steht: DOMINO VERE SANCTO AC NOBIS VENERABILITER SUPER OMNIA PRAEFERENDO ET PIA EXULTATIONE COLENDO BEATISSIMO PAPAE AUGUSTINO VALENTIUS SERVUS TUAE SANCTITATIS ET OMNIS CONGREGATIO, QUAE TUIS ORATIONIBUS MECUM SPERAT, IN DOMINO SALUTEM / DEM WAHRHAFT HEILIGEN UND VON UNS EHRFÜRCHTIG ÜBER ALLES ZU STELLENDEN UND IN FROMMEM JUBEL ZU VEREHRENDEN GLÜCKSELIGSTEN VATER AUGUSTIN ENTBIETEN VALENTIUS, DER KNECHT DEINER HEILIGKEIT, UND SEINE GESAMTE GEMEINSCHAFT, DIE MIT MIR ZUSAMMEN AUF DEINE GEBETE HOFFT, IM HERRN IHREN GRUSS.20 Die Erweiterung der salutationes und ihre terminologische Durchdringung mit Begriffen aus dem Bereich der amicitia lässt sich schon in paulinischen Briefen des Neuen Testaments beobachten, die Abstimmung nach Rang von Absender und Adressat wird in der Spätantike weiter ausdifferenziert. In diesem Zusammenhang zeigen die oben zitierten Beispiele der salutationes des Venantius Fortunatus, insbesondere aber die an Martin von Braga,21 dass der Adressat im Vergleich zum Absender eine deutlich höhere soziale Stellung einnimmt (Bischof gegenüber einem einfachen Presbyter und Dichter). Sie zeigen aber auch, dass sich Venantius in

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die oft nur in einem Valete bestand, oft aber auch den B.inhalt zusammenfaßte, Schlußfolgerungen aus diesem zog und Wünsche für den Empfänger, u. U. auch in Bezug auf den Absender, enthielt (Conclusio). Eine Datierung ist im FrühMA nicht die Regel, sie setzt sich für Papstb.e seit dem ausgehenden 11., für B.e des dt. Kg.s und des Ks.s erst seit dem 12. Jh. und erst danach auch allmählich für sonstige B.e durch...“ Paulinus von Nola, Epist., 45, Salutatio. Augustin, Epist., 225 (GOLDBACHER), Salutatio. Augustin, Epist., 226 (GOLDBACHER), Salutatio. Venantius Fortunatus, Carm., V, 1, Salutatio.

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3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

eine Gattungstradition einordnet. Sein Umgang mit dieser Tradition lässt sich an einem seiner Briefe exemplarisch deutlich machen, nämlich dem oben erwähnten Brief an Martin von Braga. 22 Da es sich bei den großen Briefsammlungen des Ambrosius, Hieronymus und Augustin zum größten Teil um für die Publikation bestimmte Pastoralbriefe23 bzw. um Abhandlungen in Briefform handelt,24 soll für Venantius Fortunatus der ihm zeitlich am nächsten stehende christliche Epistolograph Sidonius Apollinaris zum Vergleich herangezogen werden, der wie Venantius ebenfalls in Gallien wirkte und außer seinen Briefen zahlreiche Dichtungen verfasste. 3.1.1.1. Ad Martinum episcopum Galliciae a) Interpretation Das fünfte Buch der Carmina des Venantius Fortunatus beginnt mit einem langen Brief an Martin von Braga,25 dem ein an ihn gerichtetes Gedicht im elegischen Versmaß folgt.26 Obwohl nicht alle Briefe in den Carmina am Buchanfang stehen, werden in den ersten sechs Büchern jeweils die ungeraden mit einem Brief eingeleitet, während das siebte mit dem Gedicht an Gogo mit seiner literaturtheoretischen Thematik ein gewisses Pendant zur Gesamtpraefatio in Versform darstellt. Da diese Bücher wohl von Venantius selbst in dieser Form herausgebracht worden sind, 27 ist hier die Tradition eines Statius zu erkennen, der seine fünf Bücher Silvae 22 23 24 25 26

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Venantius Fortunatus, Carm., V, 1. Siehe dazu J. GRUBER, Art.: Brief (I/II), in: LexMA, Bd. 2, Sp. 648–650, hier 650. Vgl. ZELZER, Art.: Epistel. Literarische Briefe, 1164. Venantius Fortunatus, Carm., V, 1. Venantius Fortunatus, Carm., V, 2. Das Gedicht war wohl in Radegundes Auftrag als Dank für Ratschläge Martins hinsichtlich der Einführung des Regel des Caesarius von Arles in ihr Kloster in Poitiers verfasst, siehe dazu ausführlich, GEORGE, Venantius Fortunatus, 67–69. Zu Martin von Braga (515–580) siehe J. M. ALONSO-NÚÑEZ, Art.: Martin von Braga, in: LexMA Bd. 6, Sp. 343f., ausführlicher E. REICHERT, Art.: Martin von Braga, in: LACL (11998), 428f. In Palästina Mönch geworden kommt Martin 550 nach Gallien. Als Gründer und Abt des Klosters Dumio in der Nähe von Braga, dann Bischof, später Erzbischof nimmt er am ersten Konzil von Braga (561) teil und ist Leiter des zweiten Konzils (572). Einen Namen macht er sich vor allem als Bekehrer der Sueben vom Arianismus. In diesem Zusammenhang steht auch seine Schrift Formula vitae honestae an den suebischen König Miro, bei der er sich ebenso wie in der Abhandlung De ira stilistisch an Seneca anlehnt. Die Publikation der Carmina dürfte in verschiedenen Stufen erfolgt sein. Während MEYER, Der Gelegenheitsdichter Venantius Fortunatus, 24–30 von einer Veröffentlichung der ersten acht Bücher vor 576, des neunten Buches vor 584 und des Rests nach dem Tod des Dichters ausgeht, plädiert D. TARDI, Fortunat, 92–96, dafür, dass die erste Phase nur die Bücher I–VII umfasste (unter Ausschluss von VII, 25, das nach 576 entstanden sein muss), die zweite die Bücher VIII und IX und die dritte die postume Publikation der Bücher X und XI. Seine Sichtweise hat sich mit leichten Modifikationen (Einschluss von VII, 25 in die erste Phase) durchgesetzt, siehe ausführlich REYDELLET, Venance Fortunatus, I, LXVIII–LXXI, (1. Phase kurz nach 576, 2. Phase 590/591 und 3. Phase postum) und GEORGE, Venantius Fortunatus, 208–211, wo die zweite Phase bereits kurz nach dem Tod der Radegunde 587 angesetzt wird (was allerdings wegen VIII, 12 und VIII, 12a, die sich auf die Revolte im Kloster von Poitiers

3.1.1. Venantius als Epistolograph

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jeweils mit einem Widmungsbrief beginnen lässt.28 In der Folge soll dieser Brief hier einer eingehenden Analyse hinsichtlich stilistischer und kompositorischer Aspekte unterzogen werden, da sich auf diese Weise einige Spezifika fortunatianischer Briefprosa herausarbeiten lassen, die dann in einem zweiten Schritt einem Brief des ebenfalls in Gallien wirkenden Sidonius Apollinaris gegenübergestellt werden können. Im Brief an Martin von Braga des Venantius Fortunatus folgt nach der oben besprochenen salutatio eine einleitende Passage, in der sich bereits die Charakteristika des Briefstils von Venantius Fortunatus deutlich zeigen: 1. Felici propulsa flatu recreabilis opinionis uestrae nostras aures aura demulsit et molli blanditia lapsu, sibilo crepitante paradisiaci horti odoramenta saburans, suauium florum nuntia nares ipsas aromate respirante suffiuit, admodulanter indicans, sicut ad orientem Eden a principio, ita decurso saeculo alterum ad occasum Deus plantasset Elisium, in quo fortior Adam, id est Martius Martinus, inexpugnabilis accola, Christi fide ditior uiveret perpetuo seruante mandato; quem non tam ad auram Dominus reuisendum post meridiem pergeret, quam ipse uir factus paradisus inter perspicui cordis zmaragdinas plateas et uernantis operis inumbrantes chorymbos – non quod ficus tegeret, sed fructus – ornaret, inambulantis in se beati Redemptoris adhaesura uestigia coherceret fide figente. Vnde nec ad momentum pii conditoris laberetur praesentia quia nec in athomo plasma notaretur in culpa, sed per illas beatitudines, uelut odori nemoris inlectus deliciis et uernulam Dominus et uerna Dominum possideret; utpote cum alternante sibi concatenati dulcedine, nec iste fugaretur admisso nec ille frudaretur amplexu.

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1. Durch Glück bringendes Wehen vorangetrieben, hat der erfrischende und im sanften Gleiten schmeichelnde Hauch Eurer Meinung unsere Ohren gestreichelt, in sachtem Säuseln die Wohlgerüche des Paradiesgartens ausduftend, hat er die Botschaften lieblicher Blumen im linden Duft den Nasen entgegengedünstet, harmonisch verkündend, dass Gott wie zu Beginn (der Welt) (den Garten) Eden im Osten, so am Ende der Zeiten im Westen ein zweites Elysium angelegt habe, in dem ein stärkerer Adam, nämlich der martialische Martinus, ein unbezwinglicher Bewohner, reicher durch den Glauben an Christus lebe, der die Weisung des Herrn bewahre, die ewig Bestand hat; und der Herr würde sich nicht so sehr aufmachen, ihn zu besuchen unter der (kühlen) Brise am Nachmittag, wie jener Mann, selbst zum Paradies geworden, unter den smaragdgrünen Alleen seines gläubigen Herzens und Schatten spendenden Blütentrauben seines frühlingshaft knospenden Werkes – nicht was das Feigenblatt bedeckte, sondern die Frucht schmückt – sich fest an die Spuren des in ihm wandelnden heiligen Erlösers heftet, wobei sein Glaube ihn damit verkettet. Daher würde auch nicht nur für einen Moment die Gegenwart des gnädigen Schöpfers schwinden, weil nicht in einem (einzigen) Augenblick sein Geschöpf in seiner Schuld gebrandmarkt würde, sondern in jenem Orte der Glückseligkeit wie vom Liebreiz des Duftes eines Hains ange-

um 590 zu beziehen scheinen, wohl unwahrscheinlich ist) und die dritte in die neunziger Jahre datiert wird, so dass Venantius die Publikation noch selbst hätte vornehmen können. Nämlich an Stella (Buch I), Melior (Buch II), Pollius (Buch III), Marcellus (Buch IV) und Abascantus (Buch V).

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3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

lockt, besäße sowohl einen Knecht der Herr als auch der Knecht einen Herrn; da nämlich, in wechselseitiger Wonne miteinander verkettet, dieser die Umarmung erlaubte und sich ihr nicht entzöge und jener bei ihr nicht getäuscht würde.29

Der Anlass des Briefes ist nicht genannt. Es muss sich aber um eine Antwort auf ein Schreiben handeln, das Martin von Braga an Fortunatus oder (mittels Fortunatus) an Radegunde und die Klostergemeinschaft in Poitiers gerichtet hat und in dem er seine Meinung zu irgendeiner hier nicht erwähnten Fragestellung dargelegt hat, wenn gleich zu Anfang von recreabilis opinionis vestrae ... aura / dem erfrischenden Hauch Eurer Meinung die Rede ist. Wahrscheinlich handelt es sich um den Begleitbrief zum folgenden Gedicht,30 einem Panegyrikos auf Martin, dessen Entstehungsgrund erst gegen Ende angedeutet wird: Offenbar hat Martin von Braga Ratschläge hinsichtlich der Befolgung der Regel des Caesarius von Arles gegeben31 und Brief und nachfolgendes Gedicht sollen ihm dafür danken. Das Bild, das Venantius hier gleich zu Anfang entfaltet, ist einerseits hoch poetisch, andererseits in speziell christlicher Wendung panegyrisch. Der Vergleich 29 30 31

Venantius Fortunatus, Carm., V, 1, 1. Text bei REYDELLET, II, 8–9. Venantius Fortunatus, Carm., V, 2. Siehe Venantius Fortunatus, Carm., V, 2, 59–74: Auditurus eris vocem, Martine, beatam, / sed Fortunati sis memor ipse tui (60) / Quaeso, precare, pater, uideam tua gaudia tecum: / sic placeas regi poste patente Petri. / Cum Radegunde humili supplex, pie, postulat Agnes / ut commendatae sint tibi, sancte pater, / et crescente choro per carmina sancta sororum (65) / conplaceant Domino, te duce mite, suo, / atque adscita sibi seruetur ab urbe Genesi / regula Caesarii praesulis alma pii, / qui fuit antistes Arelas de sorte Lerini / et mansit monachus pontificale decus.(70) / Sedulitate patris proprias tuearis alumnas / ut tibi proficiat hae bona si qua gerant. / Vnde inlustre caput cingas diademate pulchro / et grates dignas pro grege pastor agas. / Du wirst die glückselige Stimme hören, Martin, / sei aber Deines Fortunatus eingedenk. (60) / Ich bitte Dich, bete, Vater, dass ich mit Dir zusammen Deine (ewigen) Freuden sehe: / so wirst Du wohl Gefallen finden beim König, wenn Dir das Tor des Petrus offen steht. / Zusammen mit der demütigen Radegunde bittet, oh frommer (Vater), Agnes voll Demut, / dass sie Dir heiliger Vater anvertraut seien / und während der Chor der Schwestern im Gesang heiliger Lieder anschwillt,(65) / dass sie ihrem Herrn unter Deiner milden Führung ebenso gefallen, / und von ihnen bewahrt wird die aus der Stadt Genès herbeigeholte / segensreiche Regel des hohen Herrn Caesarius, / der aus dem Kloster von Lérins kommend Bischof von Arles war, / und doch während seines Episkopats Mönch blieb. (70) / Mögest du mit dem emsigen Eifer eines Vaters Deine Pflegetöchter schirmen, / dass es Dir nützt, wenn diese Güter Ertrag bringen. / Daher mögest Du Dein erhabenes Haupt mit einem schönen Diadem umkränzen / und als Hirte für Deine Herde würdigen Dank abstatten. Auffällig ist, dass hier sowohl Venantius Fortunatus als auch Radegunde und Agnes genannt werden. Das deutet darauf hin, dass das Gedicht von Venantius im Auftrag von Radegunde und Agnes geschrieben worden ist. Da es in einem relativ ausführlichen Abschnitt um die Bewahrung der Regel des Caesarius von Arles geht (servetur, V. 67) für die Martin von Braga geradezu als Garant angerufen wird, liegt es nahe, eine vorangegangene Korrespondenz anzunehmen, in der es um Fragen ging, welche die Anwendung dieser Regel betrafen, und den Brief ebenfalls in diesen Zusammenhang einzuordnen. So verfährt auch GEORGE, Venantius Fortunatus, 66 Anm. 23.

3.1.1. Venantius als Epistolograph

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der Meinung des Martin von Braga mit einem Lufthauch, der die Düfte des Paradieses heranbringt, eröffnet die Möglichkeit einer äußerst feinen poetischen Nuancierung der Eigenschaften dieses Lufthauches, evoziert aber zugleich das Bild des Paradiesgartens und somit des Aufenthaltsortes der Menschen vor dem Sündenfall. Dabei wird aber der eigentliche Vergleich, der hier angestrebt wird, erst vorbereitet: Der Paradiesgarten liegt traditionell im Osten; durch die Erwähnung eines zweiten Paradiesgartens im Westen, der mit dem traditionell im Westen befindlichen Elysium gleichgesetzt wird,32 wird auf den Lebenslauf Martins Bezug genommen, da die Lokalisierung beider Paradiesgärten den Wirkungsstätten des Martin von Braga entspricht, der in Palästina (also im Osten) zum Mönch wurde und in Dumio, in der Nähe von Braga (also im Westen) ein Kloster gründete, ehe er zum Bischof aufstieg. 33 Das, was folgt, deutet sich hier bereits an, dennoch macht Venantius Martin von Braga in diesem Bild erst zum Bewohner dieses zweiten Paradiesgartens, ehe er ihn damit identifiziert (ipse uir factus paradisus / der Mann selbst zum Paradies geworden). Und mit ihm hätte es keinen Sündenfall gegeben, in ihm wäre Gott wie im Paradies spazieren gegangen zur selben Nachmittagsstunde, zu der Adam und Eva nach dem Sündenfall die Ankunft des Herrn fürchten.34 Das Bild der Identifikation wird dadurch auf die Spitze getrieben, dass Martin nicht nur die Gebote Gottes bewahrt, sondern sich bei dessen Spaziergang noch an die Fußspuren des Herrn heftet, gleichsam bei Gottes Besuch im inneren Paradiesgarten des Martin von Braga diesem auch noch einen Besuch abstattet, also auf zweifache Weise Gott begegnet, einmal von außen, indem er selbst den Ort der Begegnung mit Gott bildet, und einmal von innen, indem er sich an dessen Fersen heftet. Dass bei einer solch innigen Verbindung keine Möglichkeit für sündhaftes Verhalten seitens Martins gegeben ist, liegt auf der Hand; durch die Formulierungen nec ad momentum / auch nicht nur für einen Moment und in athomo / nicht für einen (einzigen) Augenblick macht er dies im zweiten Satz des Abschnittes noch einmal unmissverständlich klar. Das Verhältnis von Herrn (Dominus) und Knecht (uerna / uernula) 35 erhält fast erotische Konnotationen, wenn der Herr wie vom Liebreiz des Duftes eines Haines angelockt (uelut odori nemoris inlectus deliciis) wird, beide in wechselseitiger Wonne miteinander verkettet (alternante sibi concatenati dulcedine) sind und von einer Umarmung die Rede ist, die der Knecht zulässt, der er sich nicht entzieht und so den Herrn nicht täuscht (nec iste fugaretur 32

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Erwähnt wird das Elysion )Hlu/sion pedi/on schon bei Homer, Odyssee, IV, 561–569, von den Inseln der Seligen maka/rwn nh=soi ist bereits bei Hesiod, Erga, 167–173. Traditionell werden sie am Rande des Okeanos im Nordwesten oder Südwesten lokalisiert, siehe O. GIGON, Art.: Elysion, in: LAW, Sp. 807. Vgl. dazu Anm. 26 in diesem Kapitel. Die Formulierung quem non tam ad auram Dominus reuisendum post meridiem pergeret / ihn zu besuchen unter der (kühlen) Brise am Nachmittag ist eine Anspielung auf Gn 3, 8: Et cum audissent vocem Domini Dei deambulantis in paradiso ad auram post meridiem... / Und als sie die Stimme Gottes, des Herrn, der zur (kühlen) Brise am Nachmittag im Paradies wandelte, hörten..., vgl. REYDELLET II, Venance Fortunat, 8, Anm. 4. Der Gebrauch des Wortes uernula für Diener deutet wohl auf den geistlichen Stand, da das Wort prägnant im Sinne von Diener der Kirche häufig Verwendung findet, vgl. J. F. NIERMEYER, Lexicon Mediae Latinitatis minus, Darmstadt 22002, s .v.

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3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

admisso nec ille frudaretur amplexu).36 Wenn aber die Sündlosigkeit Martins und seine untrennbare Verbindung zum Herrn fest steht, hat seine Meinung autoritativen Charakter, der ihr nicht in erster Linie durch sein Amt zukommt, sondern dadurch, dass sich Martin von Braga als ein zweiter, ein standhafterer Adam und unbezwinglicher Bewohner des Paradieses erweist (fortior Adam ... inexpugnabilis accola). Da der Herrn in ihm wandelt, ist seine Meinung zugleich wie der Spruch Gottes selbst aufzufassen. Ein größeres Lob für einen christlichen Abt und Bischof lässt sich kaum vorstellen; die panegyrische Absicht wird schon durch Wahl und inhaltliche Entfaltung des Bildes verwirklicht. Diese sorgsame Komposition der Bildebene wird durch die stilistische Gestaltung der Passage unterstrichen, die eine Reihe von für Venantius Fortunatus typischen Elementen enthält. Insgesamt wird sie in nur zwei Sätzen entfaltet, von denen der erste annähernd doppelt so lang ist, wie der zweite (sechzehn zu sieben Zeilen). Dabei lässt sich ein erster Einschnitt in den Sinn nach der neunten Zeile (mandato) machen, in der Ausgabe von Reydellet durch ein Semikolon gekennzeichnet. Diesem Abschnitt liegt wiederum das Prinzip der Zweiteilung zugrunde, da bis indicans37 der Hauch Eurer Meinung / uestrae opinionis...aura im Mittelpunkt steht, dann das, was er anzeigt, wobei die Verschmelzung von Eden und Elysium (der Inhalt des indicans) mit der Person des Adressaten Martin von Braga, der in der achten Zeile namentlich genannt wird (Martius Martinus), also das, was im Rest des gesamten Paragraphen im Vordergrund steht, bereits vorbereitet wird. Ebenso ist der erste Teil als durch et verbundenes Dikolon strukturiert, dessen erstes Kolon mit dem Prädikat (demulsit) endet, während das Prädikat des zweiten (suffiuit) seinerseits von zwei präsentischen Partizipialkonstruktionen gerahmt wird (paradisiaci horti odoramenta saburans / admodulanter indicans), was auch klangliche Effekte hervorruft. Konstruiert ist dieses Dikolon nach dem Gesetz der 36

37

Vgl. zum Vokabular in Zusammenhang mit einer erotischen Geschichte Ovid, Met., IV, 167–189 (Mars und Venus), wo über das Netz des Vulcanus gesagt wird (176–178): ...extemplo graciles ex aere catenas / retiaque et laqueos, quae lumina fallere possent, / elimat... / ...sofort verfertigte er kunstvoll feine Ketten aus Erz / und Netze und Schlingen, die Augen zu täuschen vermochten,... und 181–184: ut venere torum coniunx et adulter in unum, / arte viri vinclisque nova ratione paratis / in mediis ambo deprensi amplexibus haerent. / Sobald die Gattin und der Ehebrecher in ein und dasselbe Bett kamen, / hingen sie durch die Kunst des Ehemanns und die neuartige Fesseln / beide ertappt mitten in ihren Umarmungen. Sieht man hier von bestimmten Begriffen, die auf das ehebrecherische Verhältnis anspielen, wie adulter, deprensi ab, gehören catenae, retia, laquei und vincla auch in anderem Zusammenhang zum typischen Inventar der Liebesdichtung, ebenso wie das Wort amplexus.. Auch im christlichen Bereich wird der Garten (und das Paradies muss als Urbild aller Gärten verstanden werden) in bisweilen erotischem Kontext verwendet. So heißt es im Hohenlied, Cant., 5, 1 Veniat dilectus meus in hortum suum, et comedat fructum pomorum suorum. veni in hortum meum, soror mea sponsa, messui myrrham meam cum aromatibus meis; comedi favum cum melle meo, bibi vinum cum lacte meo; comedite amici, et bibite, et inebriamini, carissimi. / Mein Geliebter komme in meinen Garten und esse den Ertrag seiner Früchte. Ich komme in meinen Garten, meine Schwester und Braut, ich habe meine Myrrhe mit meinen Gewürzen geerntet, ich habe die Wabe mit meinem Honig verzehrt, den Wein mit meiner Milch getrunken, esst, Freunde, und trinkt, und mögt ihr trunken werden, meine Lieben. Paragraph 1, fünfte Zeile (REYDELLET, II, 8).

3.1.1. Venantius als Epistolograph

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wachsenden Glieder; während das erste Prädikat (demulsit) nur mit einem Partizip im Perfekt (propulsa) verbunden ist, sind es beim zweiten (suffiuit) drei, eines im Perfekt (blandita) und zwei im Präsens (saburans / indicans), die durch zwei klanglich korrespondierende Ablativi Absoluti (sibilo crepitante / aromate respirante) ergänzt werden. Durch die Wortstellung wiederum werden Parallelitäten und Verbindungen geschaffen, die über das einzelne Kolon hinausgehen. So korrespondiert der Anfang des ersten Kolons (Felici propulsa flatu) mit dem des zweiten (molli blandita lapsu) und schafft durch die identische Stellung von prädikativem Partizip und des umschließenden instrumentalen Ablativs eine Verbindung zwischen den beiden Kola. Der folgenden präsentischen Partizipialkonstruktion (paradisiaci horti odoramenta saburans) wird der Ablativus Absolutus (sibilo crepitante / in sachtem Säuseln) vorangestellt, der eine inhaltliche Steigerung zum vorangegangenen (molli...lapsu / im sanften Gleiten) darstellt und somit wiederum eine enge Anbindung schafft. Bei der zweiten präsentischen Partizipialkonstruktion ist dieses Prinzip grammatisch-syntaktisch zwar dadurch durchbrochen, dass der Ablativus Absolutus (aromate respirante / im linden Duft) vor dem zweiten Prädikat (suffiuit / hat entgegengedünstet) steht, klanglich aber wird (aromate spriante suffiuit, admodulanter indicans) eine Korrespondenz zur ersten (sibilo crepitante paradisiaci horti odoramenta saburans) geschaffen. Diese grundsätzliche Struktur bietet die Möglichkeit einer feinen inhaltlichen Nuancierung, um das Bild des Lufthauchs, der die Wohlgerüche des Paradieses heranweht, poetisch zu entfalten. So wird über den Hauch der Meinung des Martin von Braga gleich im ersten Kolon ausgesagt, er sei erfrischend / recreabilis, streichele unsere Ohren / nostras aures demulsit, wobei Absender und Adressat in antithetisch-chiastischer Stellung genannt sind (opinionis uestrae nostras aures / der Meinung von Euch unsere Ohren) und die Paronomasie (aures aura) die Bedeutung dieser Meinung für den Empfänger des Briefes noch einmal unterstreicht. Dieselbe Struktur lässt sich im zweiten Teil dieses Abschnittes (von sicut bis mandato)38 beobachten: Der Vergleich ist als chiastisch variiertes Dikolon angelegt; die Prädikationen des (neuen) Adam im folgenden Relativsatz sind als asyndetisches Trikolon gestaltet. Die Variation des Chiasmus geschieht durch eine Erweiterung, indem einem reinen grammatisch-syntaktischen Chiasmus (sicut ad orientem Eden a principio, ita decurso saeculo alterum) der Rest des Satzes (Deus plantasset Elisium) angehängt wird. Das Bezugswort zu alterum steht dadurch betont am Ende, was auch deswegen sinnvoll ist, weil hier der Paradiesgarten Eden durch die Gefilde der Seligen, das Elysion, ersetzt wird. Der inhaltlichen Steigerung entspricht somit die quantitativ aufsteigende Klimax im zweiten Glied. Das Trikolon im Relativsatz nimmt in seinen ersten beiden Gliedern den Gedanken der militia Christi auf, der bereits in der salutatio erscheint: War dort von dem IN CHRISTI REGIS EXERCITU POST DUCEM PAULUM PRIMIPILO MARTINO / DEM UNTER DER FÜHRUNG DES PAULUS IM HEER CHRISTI, DES KÖNIGS, ZENTURIO DES ERSTEN MANIPELS die Rede, spricht Venantius hier von einem fortior Adam / stärkeren Adam, der mit der Paronomasie Martius Martinus / der 38

Paragraph 1, fünfte bis neunte Zeile (REYDELLET, II, 8).

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3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

martialische Martin genauer bestimmt und auf den Adressaten Martin von Braga bezogen wird. Zugleich wird eine Verbindung zu dessen Namenspatron, dem heiligen Martin von Tours, und dessen militärischer Vergangenheit hergestellt. Die Prädikation im zweiten Kolon steigert den Gedanken: Martin ist nicht nur stärker als Adam, sondern ein geradezu unbezwinglicher Bewohner / inexpugnabilis accola des Paradieses. Diese Unbezwinglichkeit schlägt den Bogen zum dritten Kolon, in dem auf den ersten Blick der militärische Bereich verlassen wird: An Christi fide ditior / reicher im Glauben an Christus schließt sich der Ausdruck perpetuo seruante mandato / der die Weisung des Herrn bewahrt, die ewig Bestand hat, an.39 Es ist aber diese Unbezwinglichkeit, und zwar eine Unbezwinglichkeit im Glauben, die dazu führt, dass im Gegensatz zum Sündenfall des ersten Adam einer dieses neuen Adam gar nicht denkbar ist. Das Prinzip der wachsenden Glieder bestimmt auch den Rest dieses Satzes;40 wieder liegt ein Dikolon vor, in dem zunächst der Herr / Dominus, dann Martin, der aber hier nicht mehr namentlich genannt wird, Subjekt ist. Nur anderthalb Zeilen beziehen sich mit Anspielung auf die Schilderung des Sündenfalls in der Genesis,41 auf den Besuch des Herrn zur Mittagsstunde, fast vier darauf, wie sich Martin an seine Spuren heftet. Dabei wird das Motiv des Glaubens wieder aufgenommen und alliterierend in der Formulierung fide figente / wobei sein Glaube ihn damit verkettet betont an den Schluss des Satzes gestellt.42 Auch der zentrale Punkt der Identifizierung Martins mit dem neuen Paradies (ipse uir factus paradisus / jener Mann, selbst zum Paradies geworden) wird durch ein Dikolon näher entfaltet: inter perspicui cordis zmaragdinas plateas et uernantis operis inumbrantes chorymbos / unter den smaragdgrünen Alleen seines gläubigen Herzens und Schatten spendenden Blütentrauben seines frühlingshaft knospenden Werkes, wobei zwischen dem gläubigen Herzen (cor perspicuum) und den Werken (uernantis operis) unterschieden43 und die Vortrefflichkeit des Martin von Braga so für beide Bereiche herausgestellt wird. Dabei findet ebenfalls das Prinzip der wachsenden Glieder Anwendung, indem durch einen wiederum zweigliedrigen antithetischen Einschub 39

40 41 42

43

Die kunstvolle Konstruktion dieser Stelle verdient Beachtung, da sie sich im Deutschen auch nicht ohne weiteres wiedergeben lässt. Das prädikative Partizip seruante muss sich hier auf fide beziehen; der Glaube an Christus ist es, der die Einhaltung von Gottes Gebot gewährleistet. Anstatt mandatum nun zum Objekt von seruante zu machen, bildet Venantius Fortunatus einen zweiten Ablativus Absolutus: perpetuo...mandato, wodurch der ewige Bestand des Gebotes unterstrichen wird. Dadurch, dass dieser zweite Ablativus absolutus das prädikative Partizip des ersten umschließt, werden beide miteinander verbunden. Gleichzeitig wird das dritte Kolon des Ausdruckes zum längsten. Diese quantitativ aufsteigende Klimax entspricht der inhaltlichen Bedeutung des Kolons. Paragraph 1 zehnte bis sechzehnte Zeile (REYDELLET, II, 8–9). Gn 3, 8. Die Konstruktion ist hier ähnlich kunstvoll komponiert wie in der oben besprochenen Stelle (vgl. Anm. 39 in diesem Kapitel): inambulantis in se beati Redemptoris ist Genitiv Attribut zu uestigia / die Spuren (des in ihm wandelnden heiligen Erlösers); adhaesura / im Begriff sich anzuhängen muss sich allerdings auf fide beziehen, so dass der Glaube wieder das verbindende Element bildet, was durch figente / anheftend noch verstärkt und betont wird; die Übersetzung mit dem deutschen verketten versucht diese enge Verbindung wiederzugeben. Siehe dazu auch REYDELLET, Venance Fortunat, II, 9 Anm. 5.

3.1.1. Venantius als Epistolograph

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(non quod ficus tegeret, sed fructus ornaret / nicht was das Feigenblatt bedeckt, sondern was die Frucht schmückt) das Werk des Martin näher ausgeführt wird und gegenüber dem gläubigen Herz eine exponierte Stellung einnimmt. Die Komposition nach zwei- oder dreigliedrigen Elementen beherrscht auch den zweiten Satz dieses Paragraphen.44 Durch einen grammatisch-syntaktischen Parallelismus wird eine Verbindung zwischen dem ersten Teil des Hauptsatzes geschaffen (Vnde nec ad momentum pii conditoris laberetur praesentia / Daher würde auch nicht nur für einen Moment die Gegenwart des gnädigen Schöpfers schwinden) und dem dazugehörigen Kausalsatz (quia nec in athomo plasma notaretur in culpa / weil nicht in einem [einzigen] Augenblick sein Geschöpf in seiner Schuld gebrandmarkt würde), welchem antithetisch der mit sed eingeleitete zweite Teil des Hauptsatzes entgegengestellt wird. Mit utpote wird dort ebenfalls eine Begründung gegeben, so dass nicht nur dieselbe Grundstruktur wie beim ersten Teil des Satzes zugrunde liegt (erst Hauptsatz, dann kausaler Nebensatz), sondern wiederum das Prinzip der wachsenden Glieder Anwendung findet (zwei Zeilen gegenüber vier Zeilen). Haupt- wie Nebensatz beginnen jeweils mit einer Partizipialkonstruktion (sed per illas beatitudines uelut odori nemoris inlectus deliciis / sondern in jenem Orte der Glückseligkeit wie vom Liebreiz des Duftes eines Hains angelockt & utpote cum alternante sibi concatenati dulcedine / da nämlich, in wechselseitiger Wonne miteinander verkettet), auf die ein Dikolon folgt. Im Hauptsatz wird dabei ein lexikalisch-semantischer Parallelismus mit einem grammatisch-syntaktischen Chiasmus verbunden (et uernulam Dominus et uerna Dominum possideret / besäße sowohl einen Knecht der Herr als auch der Knecht einen Herrn), im Nebensatz wird der Parallelismus dadurch, dass seine Glieder mit jeweils demselben Buchstaben anlauten, unterstrichen (nec iste fugaretur admisso nec ille fraudaretur amplexu / dieser die Umarmung erlaubte und sich ihr nicht entzöge und jener bei ihr nicht getäuscht würde). Der Einsatz dieser stilistischen Mittel macht das, worum es hier geht, und was noch einmal betont am Ende steht, überdeutlich: Herr und Knecht befinden sich in einer nicht zu trennenden Umarmung (amplexu). Die kompositorisch-stilistische Analyse des Briefanfangs zeigt eine höchst manieristische Durchgestaltung des Textes, „Manierismus“ hier verstanden als „ein Verfahren mit der Funktion, demonstrative Artistik vorzuführen und eine Rezipientenreaktion auf eben diese Artistik herauszufordern.“ 45 Dieser Manierismus

44 45

Paragraph 1, sechzehnte bis zweiundzwanzigste Zeile bei REYDELLET, II, 9. Definition nach ZYMNER, Gattungstheorie, 183. Vgl. dazu auch DERS.: Manierismus. A. Def., in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 5, Tübingen 2001, Sp. 872–875, insbesondere Sp. 874: „(1) M. hat etwas mit demonstrativ vorgeführter, geradezu akrobatischer artistischer Materialbeherrschung zu tun [...] – M. erweckt den Eindruck von ‚Zeitgelust’, er präsentiert in der Kunst die Kunst um des Kunststücks willen und provoziert dadurch extreme Reaktionen auf eben diese Kunststücke, der ‚Zeitgelust’ korrespondiert sozusagen die provozierte ‚Schaulust’. (2) Diese demonstrative artistische Materialbeherrschung kann – im Hinblick auf literarischen oder sprachlichen Manierismus – durchaus an dem (zumal durch rhetorische Textanalyse erschließbaren) Stil eines Textes erkennbar sein, es kann sich aber auch um demonstrative Artistik im Bereich der Metrik eines Textes (etwa in der Reimstruktur) oder auch in seiner globalen Tektonik handeln [...]. M. beschränkt sich auch nicht auf eine bestimmte

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3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

wird im weiteren Verlauf dieses Briefes noch deutlicher und in mancher Hinsicht ergänzt: Daher soll hier noch auf einige der weiteren Paragraphen etwas genauer eingegangen werden. Obwohl der erste Paragraph ungefähr eine ganze Druckseite ausnimmt, war der Anlass des Briefes nur angedeutet worden. Es war von der uestrae opinionis aura, dem Hauch Eurer Meinung die Rede gewesen. 46 Diese hatte Martin von Braga offensichtlich in einem Brief dargelegt, und dieser Brief wird, wie aus den folgenden Paragraphen ersichtlich ist, zum eigentlichen Thema des Antwortschreibens des Venantius: 2. Hinc inhiantibus animis, medullis aestuantibus, oculis suspectis, palmis extensis feruens, magis quam sitiens prestolabar epistolae uestrae magna, si uel nubecula madidanti, uellere bibulus umectarer, desiderii conscius, uota uoto praeueniens, si quid de uobis certissime uel per undas mobiles fixa mihi littera nuntiaret, ita ut ariditatem meam colloquii uestri temperaturus imber sic inrigaret, paginam ne deleret.

2. Daher erwartete ich mit gierigem Sinn, glühendem Mark, erwartungsvollem Blick, ausgebreiteten Händen, siedend mehr als dürstend, die großen Worte Eures Briefes, ob ich von einem kleinen nieselnden Wölkchen benetzt würde und (die Tropfen) mit meiner Wolle einsaugen könnte, meiner Sehnsucht mir durchaus bewusst, mit dem Wunsch dem Erwünschten vorauseilend, ob mir der über die unsteten Wogen (des Wasser) fest gefügte Brief, irgend etwas ganz sicher über Euch verkündete, so dass der Regen des Gesprächs mit Euch meine Trockenheit gehörig bewässere und dabei die Seite nicht verderbe.47

Zunächst schildert Venantius, wie er selbst den Brief des Martin von Braga ungeduldig erwartet hat. Seine unruhige Erwartung drückt sich in drei Dikola aus, jeweils Partizipialkonstruktionen, die ersten beiden im Ablativ (einmal mit Partizipien im Präsens, einmal mit Partizipien im Perfekt), das letzte Dikolon im Nominativ. In dreifacher Dopplung erscheint der eine Gedanke unruhiger Erwartung (inhiantibus animis, medullis aestuantibus, oculis suspectis, palmis extensis, feruens magis quam sitiens / mit gierigem Sinn, glühendem Mark, erwartungsvollen Augen, ausgebreiteten Händen, siedend mehr als dürstend), deren Dauer durch das Imperfekt (praestolabar / ich erwartete) unterstrichen wird. Das Objekt der Erwartung bezeichnet Venantius Fortunatus nicht etwa als Euren Brief / epistolam uestram, sondern als die großen Worte Eures Briefes / epistolae uestrae magna. Da in Paragraph 1 die enge Verbindung zwischen Martin von Braga und dem Herrn herausgestellt wurde und seine Meinung dadurch autoritativen Charakter erhielt, erwartet man, dass magna sich auf diese autoritative Meinung bezieht. Das begründende hinc zu Beginn des Satzes weist in dieselbe Richtung. Unterstützt wird diese Deutung zudem vom Bild der Wolle im darauf folgenden Nebensatz: Mit seiner Wolle will Venantius die Tropfen einer kleinen Wolke aufsaugen, wobei

46 47

Gattung, sondern in ganz unterschiedlichen Gattungen können zahlreiche, ganz unterschiedliche Möglichkeiten demonstrativer Artistik auftauchen [...]“. Paragraph 1, erste bis zweite Zeile bei REYDELLET, II, 8. Venantius Fortunatus, Carm., V, 1, 2 (Text bei REYDELLET II, 9).

3.1.1. Venantius als Epistolograph

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zwei Vorstellungen miteinander verknüpft werden, einmal das Bild vom Schaf und Hirten, Martin von Braga also als der gute Hirte erscheint, 48 dann aber das Naturbild von der Wasser und damit Leben spendenden Wolke. Das zweite Bild wird am Ende des Satzes wieder aufgenommen, wo vom Regen des Gesprächs mit Euch / colloquii uestri...imber die Rede ist, welcher die Trockenheit / ariditatem des Venantius gehörig bewässere / temperaturus...inrigaret. Allerdings sind die Begriffe ariditas / Trockenheit und colloquium uestrum / das Gespräch mit Euch nicht notwendigerweise inhaltlich zu verstehen, in dem Sinne, dass Venantius nach geistlichem Rat dürstet und ihn im seelsorgerischen Gespräch, das hier durch die briefliche Kommunikation ersetzt wird, zu finden hofft, obwohl der Zusammenhang dies nahe legt und vielleicht auch eine Seite der Bedeutung ausmacht. Dass dies aber nicht die einzige Seite der Bedeutung sein kann, machen die folgenden Abschnitte deutlich, in denen zwar viel vom Brief des Martin von Braga, aber wenig von dessen Inhalt gesprochen wird. Das zeigt sich schon im ersten Satz des folgenden Paragraphen: 3. Quo tamen prouidentiae diuinae consulto per filium uestrum, uenerandum mihi Domitium, sancta caritate refertam suscepi crescens epistolam quae, ut uos nostis, arte compacta, ut ego sensi, flore confecta, bibentem se potius quam legentem fere per singulos apices pigmentato affamine inebriatura dives pauperem propinauit et, ut ita dixerim, quasi falerni nobilis ipso me prius odore pincernante suppleuit, gemina dicendi fruge congesta, condita sale, melle perfusa, permixta blanditie cum uigore.

3. Dennoch habe ich durch den Ratschluss der göttlichen Vorsehung durch Euren Sohn, den von mir verehrten Domitius, einen Brief voll heiliger Liebe in wachsender Freude erhalten, der, wie Ihr wisst, in Kunst ausgefeilt, und wie ich bemerkt habe, mit Blütenfülle verfertigt, der mehr einem Trinkenden als einem Lesenden beinahe bei (allen) einzelnen Abschnitten mit farbiger Anrede als Reicher einen Armen, im Begriff, ihn trunken zu machen, zu trinken gibt und mich, um es so zu sagen, wie beim Kredenzen des edlen Falernerweines schon vorher allein durch seinen Duft berauscht hat, dicht erfüllt mit der doppelten Frucht des Stils, (nämlich) mit Salz gewürzt und durchzogen mit Honig, wobei Anmut mit Feuer gemischt war. 49

Nur eine einzige Prädikation des Briefes kann man auf seinen Inhalt beziehen, sancta caritate refertam / voll heiliger Liebe, der dadurch aber nicht näher bestimmt wird; alle anderen spielen auf seine Form an. Zwar liegt in dem Bild des Reichen, der dem Armen zu trinken gibt, welches das der kleinen Wolke im vorangegangenen Paragraph fortführt, eine Anspielung auf die Weisheit vor,50 so dass 48 49 50

Vgl. dazu REYDELLET, II, 164, Anm. 8. Venantius Fortunatus, Carm., V, 1, 3, I (Text bei REYDELLET , II, 9–10). Angespielt wird auf Io 6, 35, wo es heißt (Vulgata): dixit eis Iesus: ego sum panis vitae. qui venit ad me, non esuriet; et, qui credit in me, non sitiet umquam. / Jesus sprach zu ihnen: Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, wird nicht dürsten. Die Stelle wiederum bezieht sich auf die Aussage der Weisheit in Sir 24, 21: qui edunt me, adhuc esurient; et qui bibunt me, adhuc sitient. / Wer mich isst, wird noch hungern;

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3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

hier die inhaltliche Komponente nicht aufgegeben ist, die Formulierung fere per singulos apices pigmentato affamine / beinahe bei (allen) einzelnen Abschnitten mit farbiger Anrede macht aber deutlich, dass Form und Stilistik im Vordergrund stehen. Deswegen ist von der doppelten Frucht des Stils / gemina dicendi fru[x] die Rede, die – wiederum in zwei zweigliedrigen Ausdrücken in (condita sale, melle perfusa / gewürzt mit Salz und durchzogen mit Honig & permixta blanditie cum uigore / wobei Anmut mit Feuer gemischt war) – näher erläutert werden. Die chiastische Verschränkung der Gegensatzpaare Honig und Salz, Anmut und (rednerisches) Feuer unterstreicht die enge Verbindung von geistreichem Ausdruck und sprachlicher Eleganz im Brief des Martin von Braga. Mit dem Bild des Falernerweines, der allein schon durch seinen Duft sättigt, findet Venantius Fortunatus eine Metapher für die auserlesene literarische Qualität des Briefes. Der hier implizierte Bereich des Gastmahls wird mit dem Begriff poculum / Becher und des conuiua / Gast im Schluss des Abschnitts wieder aufgenommen, wenn es heißt: Me peregrini poculi quantum desuetum plus auidum dum pars inlicet, pars deterret – in ancipiti posito conuiua rusticolo nec sustinente magna bibente – consentio dulcedini qui cedo uirtuti.

Während er mich, der ich so lange vom (nun) fremdartigen Becher entwöhnt war und daher desto gieriger bin, teils anzieht, teils abschreckt – weil der bäurische Gast schwankt und es nicht verträgt, viel zu trinken – fühle ich mich in Harmonie mit seiner Anmut, der ich doch seiner Kraft und Tugend weiche.51

Gerade in diesem Schluss des Paragraphen findet sich eine bemerkenswerte Selbstaussage des Dichters, und darin liegt vielleicht der Schlüssel zum Verständnis des ganzen Briefes verborgen. Wieder ist über den Inhalt des Briefes von Martin von Braga nichts ausgesagt, mit dem letzten Nebensatz (qui cedo virtuti / der ich doch seiner Kraft und Tugend weiche) wird lediglich angedeutet, dass sich in ihm die uirtus / Tugend des Martin von Braga offenbart, die, wie schon salutatio und der erste Abschnitt klar gemacht haben, so weit über der des Venantius steht, dass er ihr nur weichen kann, eine geschickte doppeldeutige Aussage, weil uirtus auch auf die literarische Fähigkeit des Martin von Braga bezogen werden kann, im Begriff zugleich aber die moralische Tugendhaftigkeit angesprochen wird. Die dulcedo / die Süße, Anmut (dazu in Antithese gestellt) bezieht sich hingegen allein auf die äußere Form. Und gerade im Hinblick auf eine solche formale Anmut befindet sich der Dichter im Exil, ist entwöhnt, wie jemand, der nach langer Abstinenz nicht mehr viel Alkohol verträgt. Venantius will Martin von Braga damit wohl zu verstehen geben, dass ihm eine solche formale Gestaltung nur aus seiner Zeit in Italien vertraut ist, während er in Gallien daran nicht mehr gewöhnt ist. Ein Problem stellt in diesem Zusammenhang die Wiedergabe des consentio dar. Von seiner Grundbedeutung her bedeutet es soviel wie zusammenstimmen, dann übereinstimmen.

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und wer mich trinkt, wird noch dürsten. Erst in Jesus ist die Weisheit vollendet, der mit ihr verbundene Hunger und Durst endlich gestillt. Venantius Fortunatus, Carm., V, 1, 3, II (Text bei REYDELLET, II, 10).

3.1.1. Venantius als Epistolograph

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Reydellet übersetzt es mit je m’abandonne à votre douceur52 / ich gebe mich ganz Eurer Anmut hin. Die oben versuchte Übersetzung geht in eine ähnliche Richtung, ich...fühle mich in Harmonie mit der Anmut (Eures Stils), was aber sicher nur einen Teil des Bedeutungsspektrums von consentio an dieser Stelle abdeckt. Die Übereinstimmung kann durchaus darauf beruhen, dass Venantius in diesem Brief einen verwandten Geist wiedererkennt, einen Schriftsteller von großem literarischem Können. Das brächte ihn aber nicht nur in Harmonie mit dessen Stil, sondern setzte ihn vom literarischen Können auf eine gleiche Stufe, wiewohl Venantius dessen Tugend / uirtuti weicht. So würde sich auch der ausgefeilte Stil dieses Briefes erklären, den wir zuvor einer eingehenden Betrachtung unterzogen haben. Auf einen literarisch ausgefeilten Brief antwortet Venantius, indem er alle Register seines Könnens zieht, und wenn er auch von seiner Stellung und seiner sittlichen Vollkommenheit her weit unter Martin von Braga steht, würde ihn das nicht davon abhalten, unterschwellig und auf rein literarischer Ebene eine aemulatio mit Martin von Braga zu betreiben. Die Aussage, er sei schon entwöhnt (desuetum), sowie der Vergleich mit dem bäurischen Gast / conuiua rustic[us] wären dann als Bescheidenheitstopos aufzufassen, der hier Verwendung fände, um die aemulatio tatsächlich auf der unterschwelligen Ebene zu belassen. Die folgenden Paragraphen des Briefes sollen hier nicht ebenso gründlich besprochen werden wie der Anfang. Ihre Betrachtung wird unter dem Aspekt erfolgen, ob sie die eben skizzierte These zu stützen oder widerlegen vermögen. Besondere Aufmerksamkeit verdienen in dieser Hinsicht die Paragraphen 6 & 7, sowie der Schluss des Briefes. Im nächsten Abschnitt vergleicht Venantius Fortunatus den Brief des Martin von Braga mit einem Trank reiner Süße, dessen Flüssigkeit nicht nur dem Gaumen schmecke (non fauce tenus saperet), sondern auch das Innere sanft streichele (sed arcana mulceret), da er nicht das Fleisch, sondern den Geist erwärme (quippe quod non carnem foueris tali potu, sed spiritum);53 der Paragraph enthält eine Anspielung auf den Seeweg, den Bote und Brief eingeschlagen haben müssen, ein Gedanke, der im folgenden Abschnitt im Mittelpunkt steht:54 Anderen habe das Schiff vielleicht Alaun (alumen), Venantius aber das Licht eines Gesprächs mit Martin gegeben (uestri colloquii ...lumen). 55 Dass aber auch hier literarisch-stilistische

52 53 54

55

REYDELLET, Venance Fortunat, II, 10. Venantius Fortunatus, Carm., V, 1, 4 (REYDELLET, II, 10). Venantius Fortunatus, Carm., V, 1, 5 (REYDELLET, II, 10). Wahrscheinlich ist der Bote Domitius über den Atlantik und dann möglicherweise über die Loire und Vienne in Richtung Poitiers gekommen. Dann hätte er nur einen ganz kurzen Abschnitt seiner Reise zu Land zurücklegen müssen. Das Wortspiel zwischen alumen / Alaun und lumen / Licht wird wieder in drei antithetischen Dikola näher ausgeführt aliis illud ad pretium, hoc nobis inemptum: illinc restinguitur, hinc purgatur; illud inficit, hinc niuescit / von anderen wird jener (der Alaun) (teurer) bezahlt, für uns ist dieses (das Licht) kostenlos: durch jenen verlöscht (das Feuer), durch dieses wird man gereinigt, jener (der Alaun) färbt (Tuch), durch dieses (das Licht) wird man schneeweiß. (Paragraph 5 Schluss, Text bei REYDELLET, II, 10).

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3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

Aspekte im Vordergrund stehen, macht gleich der erste Satz des folgenden Abschnittes deutlich:56 Quid loquar de perihodis, epichirematibus, Was soll ich von den Perioden sprechen, den inthymemis syllogismisque perplexis? Epicheiremata, den Enthymenen und tiefsinnigen Syllogismen?

Sowohl die Perioden als auch die drei verschieden Arten von Schlussfolgerungen (Epicheirema, Enthymen und Syllogismus) gehören in den Bereich der Rhetorik; sie am Ende betont mit dem Ausdruck perplexis / verschlungen oder auch tiefsinnig zu bezeichnen, lässt die Manier des Martin von Braga in sprachlicher Hinsicht (perihodis) und auch in gedanklich logischer Hinsicht (epichirematibus, inthymemis syllogismisque) als äußerst durchdacht und kunstvoll erscheinen. Demselben Ziel dient der Vergleich mit Vergil und Cicero, die von Martin durch seinen flüssigen (profluum) und leicht verständlichen Stil (in promptu) übertroffen würden:57 ...quo laborat quadrus Maro, quo rotundus Cicero. Quod apud illos est profundum hic profluum, quod illic difficillimum, hic in promptu.

...Daran müht sich der vollkommene (Vergilius) Maro ab, daran der wohl gerundete Cicero. Und was bei jenen tiefgründig (formuliert) ist, ist hier flüssig (zu lesen), was dort äußerst schwer (zu verstehen) ist, ist hier sofort einsichtig.

Hier geht es sowohl um die Verständlichkeit, das Ideal der perspicuitas, als auch um die Mühelosigkeit der Komposition, die dennoch einen Sinn für das rechte Maß hat, was das Bild des Winzers im letzten Satz des Abschnittes unterstreicht:58 Comperi paucis punctis quoniam quo uolueris colae paminosae diffundis propagines, quod uero libuerit acuti commatis falce succidis, ut cauti uinitoris studio moderante nec in hoc luxurians germinet umbra fastidium et illuc tensa placeat propago cum fructu.

Ich habe das an einigen Punkten erfahren, da Du ja, wo Du willst, die Setzlinge des Reben belaubten Kolons verteilst, was aber beliebt, mit der Sichel der scharfen Zäsur beschneidest, damit durch die mäßigende Mühe des vorsichtigen Winzers einerseits nicht üppig strotzender Schatten Langeweile hervorsprießen lässt, andererseits – eben daher – der Setzling emporgereckt mit seiner Frucht gefällt.

Wie ein vorsichtiger Winzer sich darum bemühe, die Weinranken im rechten Maß zu beschneiden (cauti uinitoris studio moderante), verteile und beschneide er seine Satzglieder (colae paminosae diffundis propagines / acuti commatis falce succidis). Ziel dabei ist es, Langeweile / fastidium zu vermeiden, und dass das fertige Produkt Gefallen und Frucht bringt (placeat propago cum fructu). Dem liegt der Gedanke 56 57 58

Venantius Fortunatus, Carm., V, 1, 6, 1. Satz (REYDELLET, II, 10). Paragraph 6, 2. & 3. Satz (Text bei REYDELLET, II, 10–11). Paragraph 6, 4. Satz (Text bei REYDELLET, II, 11).

3.1.1. Venantius als Epistolograph

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des Nützen und Erfreuen zugrunde,59 so dass, wie zu Anfang des Abschnittes auf Vergil und Cicero, am Ende auf Horaz angespielt wird. Es geht in diesem Abschnitt also um Literaturtheorie, genauer gesagt um die ideale stilistische Gestaltung eines Satzes, wobei explizit oder implizit auf Stilvorbilder entweder aus dem Bereich der Dichtung (Vergil, Horaz) oder der Prosa (Cicero) hingewiesen wird. Warum Venantius bisher die formale Seite des Briefes in den Vordergrund gestellt hat und sich bei der inhaltlichen in wenig konkrete Formulierungen geflüchtet hat, wird aus dem nächsten Abschnitt klar. Dort geht es nämlich um Philosophen und Kirchenväter, von der einige namentlich genannt werden. Gleichzeitig betont Venantius seine nur geringen Kenntnisse auf diesem Gebiet: Nam quod refertis in litteris post sthoicam peripateticamque censuram me theologiae ac theoriae tirocinio mancipatum, agnosco quid amor faciat cum et non merentes exornat.

Denn was das betrifft, was Ihr in dem Brief nach der stoischen und peripatetischen Lehre mir gegenüber, der ich nur das Tirocinium, den Grundwehrdienst, in Theologie und Theorie abgeleistet habe, berichtet, daran erkenne ich, was die Liebe bewirkt, auch wenn sie diejenigen schmückt, die sie gar nicht verdienen.60

Mag auch hier eine gewisse gespielte Bescheidenheit zugrunde liegen, so wird doch eine plausible Begründung dafür gegeben, dass sich Venantius vor allem mit der formal rhetorischen Seite des Briefes von Martin von Braga auseinandersetzt. Deswegen maßt er sich in diesem Bereich kein Urteil an, da Martin sich dort wesentlich besser auskennt: Cur tamen, bone pater, in me reflectis quod tuum est, ac me de publice profers quod tibi priuatum est? cum prima sint uobis nota et secunda domestica.

Warum, guter Vater, beziehst Du auch auf mich, was gänzlich Dein ist, und sprichst öffentlich mir zu, was Dir privat zu Eigen ist? Denn das erste (die Rhetorik) ist Euch bekannt und das zweite (Philosophie und Theologie) gehört zu Eurem häuslichen Besitz.61

Seine geringen Kenntnisse im Bereich der Philosophen und Kirchenväter führt er im folgenden Satz zur näheren Begründung an, wobei vier Philosophen mit vier Kirchenvätern korrespondieren: Nam Plato, Aristotelis, Crysippus vel Pittacus Denn während Platon, Aristoteles, Crysipp oder cum mihi uix opinione noti sint nec legenti, Pittakos mir kaum der Meinung nach bekannt 59

60 61

Horaz, Ars poetica, 333f.: aut prodesse volunt aut delectare poetae / aut simul et iucunda et idonea dicere vitae. / Entweder nützen oder erfreuen wollen die Dichter / oder zugleich das für das Leben Angenehme und Nützliche nennen. Venantius Fortunatus, Carm., V, 1, 7, 1. Satz (REYDELLET, II, 11). Von der literarischen Tätigkeit des Hilarius, der libros pro fide catholica / Bücher im Interesse des katholischen Glauben geschrieben habe, berichtet auch Gregor von Tours, Hist. Franc., I, 38. Paragraph 7, 2. & 3. Satz (Text bei REYDELLET, II, 11).

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3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

Hilarius, Gregorius, Ambrosius Augustinusque sind, geschweige denn, dass ich sie gelesen hätte, uel si in uisione noti fierent, dormitanti. wären mir Hilarius, Gregor, Ambrosius und Augustin, auch wenn sie mir im Durchblättern bekannt wurden, dann eher im Schlaf.62

Bei den Philosophen nennt er neben den Begründern bzw. Häuptern der großen Philosophenschulen (Akademie, Peripatos, Stoa) mit Pittakos einen der sieben Weisen63 und durchbricht damit das chronologische Schema; handelte es sich dabei nur um Griechen, gibt es in der Reihe der Kirchenväter nur einen Griechen, Gregor, wobei nicht ganz klar ist, ob hier Gregor von Nyzza oder Gregor von Nazianz, vermutlich aber letzterer, gemeint ist.64 Durch diese Reihenfolge korrespondiert Plato direkt mit Hilarius und Pittakos mit Augustin, wodurch einerseits eine Verbindung zwischen einem der sieben Weisen und Augustin hergestellt wird, andererseits der Ahnherr philosophischer Schriftstellerei mit Hilarius von Poitiers in eine Linie gebracht wird, der Venantius Fortunatus wahrscheinlich doch nicht so oberflächlich vertraut war, wie hier behauptet, da er über ihn sowohl eine Vita als auch ein Buch De Virtutibus sancti Hilarii verfasst hat. Es geht wohl eher darum, einem Kanon der bedeutendsten paganen Philosophen christliche (vor allem lateinische) Theologen entgegenzustellen, Theologen, die Venantius mit Sicherheit nicht völlig unbekannt waren, in deren Kenntnis er sich aber ebenso sicher nicht mit einem Experten vom Range eines Martin von Braga messen konnte. Die christlichen stehen am Ende, gleichsam als Vollender dessen, was in der paganen Philosophie bereits angelegt war. Dass diese aber keineswegs abgelehnt wird, macht der Schluss des Abschnittes deutlich: Et ego uere senserim – eo quod copiae artium apud uos uelut in commune diuersorium conuenerunt – ipsa uobis tenacius quae sunt caelo propinquius, quia non oblectamini tam pompa dogmatum quam norma uirtutum. Vnde procul dubio caelestium clientela factus es Cleantarum.

Und ich dürfte wohl wahrhaft der Auffassung sein – deswegen, weil die Fülle der Künste bei Euch wie in einer allgemeinen Herberge zusammengekommen sind – dass Euch eher das festhält, was dem Himmel näher ist, weil ihr Euch nicht so sehr am Pomp der Lehrsätze als an der Regel der Tugenden ergötzt. Daher bist Du ohne Zweifel in der Gefolgschaft der himmlischen Kleanthesanhänger.65

Kleanthisch steht hier für stoisch,66 was als ein Reflex stoischen Gedankenguts bei Martin von Braga aufgefasst werden muss, 67 in diesem Zusammenhang aber einen 62 63 64 65 66

Paragraph 7, 4. Satz (REYDELLET, II, 11). Vgl. REYDELLET, II, 11, Anm. 15. Siehe dazu REYDELLET, II, 11, Anm. 15, wo er die Ansicht vertritt, dass wahrscheinlich Gregor von Nazianz gemeint ist. Paragraph 7, 5. & 6. Satz (Text bei REYDELLET, II, 11–12). Der Text weist hier in den Handschriften zahlreiche Variationen auf, siehe REYDELLET, Venance Fortunate, II, 12 im Apparat; Cleantheus für stoisch ist keineswegs ungebräuchlich, vgl. OLD s. v., Cleanta wäre dann eine Neubildung in Analogie zu clientela. An dieser Stelle mag

3.1.1. Venantius als Epistolograph

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darüber hinausgehenden Bezug erhält: Er befindet sich in der caelestium clientela ...Cleantarum / Gefolgschaft der himmlischen Kleanthesanhänger (durch Paronomasie und Wortneuschöpfung besonders hervorgehoben), weil es ihm mehr um die Tugenden, als um Lehrsätze geht, d.h. weil bei ihm wie bei den Stoikern die praktische Ethik und daraus resultierend ein tugendhaftes Leben im Vordergrund steht. Aber nicht nur der Bezug zu den Stoikern ist hier wichtig. Ebenso wichtig ist, dass Martin von Braga sich bereits in dieser himmlischen Gefolgschaft befindet (factus es). Dadurch kann er bei Gott als Fürsprecher für Venantius Fortunatus auftreten, einen Gedanken, der mit speziell christlichen Bildern (Vergleich Martins mit dem guten Samariter) und dem Hinweis auf die Niedrigkeit des Venantius (als Sünder ist er allenfalls wert, Martin von Braga als Fußschemel zu dienen) unterstrichen wird:68 8. Sed quid ego haec autumno, dulcissime pater et uere Christi discipule, qui, ad instar Samaritani uinum miscens et oleum aegroto decubanti, blandum mihi malagma porrexisti, mercedem pii operis relaturus cum uenerit qui se stabulario aera pensare debiti repromisit, custodiens in uobis, pontifex summe, quod contulit, sciens suis oculis hoc placere dignissime, quod ipsam apud te uincit dignatio dignitatem.

9. Quapropter sacratissimae, sincerissimae atque clementissimae apostolicae coronae uestrae plantas supra meum pectus stratus imponens et ultimus ego membra subdita uel pedum uestrorum recubatorium faciens ita uestrae pietati auido desiderio me commendans deposco in Domino ut inter peccatorem et redemptorem mundi alter quodammodo mediator accedens leuigato delicto, probe pater, reprobum reconcilies post reatum.

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8. Aber was sage ich das, gütigster Vater und wahrhaftiger Schüler Christi, der Du, ganz wie der Samariter Wein und Öl für den daniederliegenden Kranken mischst, mir einen wohltuenden lindernden Umschlag verabreicht hast und der Du im Begriff bist, den Lohn für das fromme Werk zu erhalten, wenn der kommt, der versprochen hat, dass er dem Gastwirt Geld für die Schuld geben wird, 69 und bei Euch aufbewahrt, Erzbischof, was er gebracht hat, weil er weiß, dass dies seinen Augen am besten gefällt, dass nämlich bei Dir die Ehre die Würde selbst besiegt. 9. Deshalb setze ich, auf dem Boden ausgestreckt, die Fußsohlen Eurer hoch heiligen, reinen, gnädigen und apostolischen Exzellenz auf meine Brust und mache meine Glieder, unter Eure Füße gelegt, zu einem Schemel, und indem ich mich so Eurer Frömmigkeit mit begierigem Verlangen anvertraue, bitte ich beim Herrn, dass Du, rechtschaffener Vater, als ein zweiter Mittler zwischen dem Sünder und dem Erlöser der Welt auftrittst und nach Verzeihung der Sünde den nach der Anklage Verworfenen wieder mit ihm versöhnst.

aber auch eine Variation zum vorher genannten Chrysipp beabsichtigt worden sein, wobei sich die Paronomasie caelestium clientela ... Cleantarum mit dem Namen des Chrysipp nicht hätte verwirklichen lassen. So REYDELLET, Venance Fortunat, II, 12, Anm. 16. Paragraph 8 & 9 (Text bei REYDELLET, II, 12; zur Übersetzung von corona mit Excellenz siehe dort Anm. 18). Vgl. Lc 10, 30–35.

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3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

Hier wird zudem ringkompositorisch ein Bogen zum Anfang des Briefes geschlagen, wo die besondere Stellung Martins durch das Bild des Paradiesgartens exemplifiziert wurde. Jemand, der aufgrund seiner Tugend den Herrn selbst dazu einlädt, in ihm zu lustwandeln, steht so hoch über einem normalen, sündigen Mensch, dass dieser allenfalls würdig ist, seine Füße zu berühren. Bei Jesus reicht zur Heilung schon die Berührung mit dem Saum seines Gewandes aus;70 Venantius berührt nur die Fußsohlen des Martin und verspricht sich davon einen ähnlichen Erfolg, dass dieser nämlich als Mittler zwischen ihm, dem Sünder, und Christus, dem Erlöser auftritt. Dass er diese Vermittlung nicht nur für sich selbst sucht, sondern auch für Agnes und Radegunde, macht der folgende Abschnitt deutlich: 10. Et quia uestris litteris fiduciae pignus accepi, pietati uestrae filias et famulas Agnem et Radegundem una mecum deuote earum desiderio mandato commendo, com[]muniter supplicantes ut apud domnum Martinum pro nobis uerba faciens tam fidus intercessor accedas qualis apud Dominum ipse tunc promptus extitit, cum cadaver exanimum non prius dimitteret quam mors mortuum dimisisset. Est enim ratio consequens ut per uos illinc nobis redeat spes patronicii, quia ad uos hinc prodiit pars patroni. Coram Domino supplicans, pie pater, ut in gratia uestra receptus uel apud eos, qui uestri sunt commendati sentiam tam oratione quam carmine te doctore regi, genitore diligi, duce progredi, tutore muniri.

10. Und weil ich durch Eure Briefe das Unterpfand für Vertrauen auf Euren Schutz empfangen habe, vertraue ich Eurer Frömmigkeit die Töchter und Dienerinnen Agnes und Radegunde an, zusammen mit mir, nachdem ihr Anliegen mir demütig übergeben worden ist, und wir bitten gemeinsam, dass Du beim Herrn Martin für uns Fürsprache einlegst und als so zuverlässiger Vermittler auftrittst, wie er damals selbst beim Herrn war, als er einen entseelten Leichnam nicht verließ, ehe der Tod den Toten verlassen hatte.71 Es ist nämlich eine folgerichtige Rechnung, dass durch Euch uns von dort Hoffnung auf ein Patrozinium zurückkehrt, weil zu Euch von hier ein Teil des Patrons gegangen ist. Im Angesicht des Herrn bitte ich, frommer Vater, dass ich in Eurer Gnade aufgenommen oder bei denen, die Euch anvertraut sind, spüre, sowohl in Prosa wie in der Dichtung von Dir als Lehrer gelenkt, als Vater geliebt, als Anführer geführt und als Schirmer beschützt zu werden.72

Das Thema des Vermittlers (im Abschnitt zuvor mediator, hier intercessor genannt) wird wieder aufgenommen. Durch die Einbeziehung von Agnes und Radegunde würde auch ohne die explizite Erwähnung ihres Mandats (una mecum deuote earum desiderio mandato / zusammen mit mir, nachdem ihr Anliegen mir demütig übergeben worden ist) deutlich werden, dass die ursprüngliche Korrespondenz im Auftrag von Radegunde und ihrer Äbtissin abgewickelt worden ist. Der 70 71 72

Vgl. Lc 8, 43–48, die Heilung der blutflüssigen Frau. Diese Totenerweckung wird sowohl bei Sulpicius Severus, Vita Martini, 7f. als auch bei Venantius Fortunatus, Vita sancti Martini, I, 155–201, ausführlich geschildert, vgl. REYDELLET, Venance Fortunat, II, 13, Anm. 19. Paragraph 10 (Text bei REYDELLET, II, 12f.).

3.1.1. Venantius als Epistolograph

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Inhalt des Briefes von Martin von Braga, auf den dieser Brief des Venantius antwortet, bleibt nach wie vor im Dunkeln, allerdings gibt es einige Andeutungen, die sich darauf beziehen können, wie die Verwendung des Begriffs fiducia, der neben Zuverlässigkeit auch immer mehr das Vertrauen auf den Schutz durch eine Person bezeichnen kann. 73 In dieselbe Richtung deutet der Ausdruck spes patrocinii / Hoffnung auf ein Patronat, eine Formulierung, die auf Sidonius Apollinaris zurückgeht und von Venantius Fortunatus hier bewusst verändert wird.74 Die Hoffnung / spes weist im Vergleich zur ursprünglichen pars (bei Sidonius Apollinaris) deutlich in die Zukunft. Der Kontakt zu einer Persönlichkeit wie Martin von Braga und das Streben nach einem (wie auch immer formal gearteten) Patrozinium würde gut zu den Maßnahmen der Radegunde passen, die Stellung ihres Klosters zu festigen.75 Der konkrete Anlass der Korrespondenz scheint hier durch, doch zeigt der letzte Satz dieses Abschnittes wiederum, dass er thematisch nur eine untergeordnete Rolle spielt. Es ist sowohl von der Prosa als auch von der Dichtung die Rede (tam oratione quam carmine), durch die Venantius spüren will, dass er gelenkt, geliebt, geführt und geschützt wird (sentiam...te doctore regi, genitore diligi, duce progredi, tutore muniri), was das Thema der Literatur im Briefschluss wieder anklingen lässt. Zugleich geht es um die inhaltliche Füllung des Patroziniums, von dem zuvor die Rede war: Der Patron hat bereits in römischer Zeit eine besondere Schutzverpflichtung gegenüber dem Klienten; seit Ambrosius wird dieser Begriff auf Heilige übertragen, wobei sich diejenigen, die im Dienste dieses Heiligenpatronats Herrschaft ausüben, als „Organe ihres Heiligen“ verstehen.76 Da sich pars patroni auf die Translation von Martinsreliquien nach Braga bezieht, geht es hier um ein Patrozinium des Heiligen, bei dem Martin von Braga sozusagen das ausführende „Organ“ ist. Zu der Vergangenheit des Heiligen passt auch das militärische Vokabular (te...duce progredi / von Dir...als Anführer geführt), das bereits in der salutatio verwendet wurde, wobei dort Paulus der Rang des dux im Heere Christi 73 74

75

76

Siehe NIERMEYER, Mediae Latinitatis Lexicon Minus, s. v. Angespielt wird hier auf die Tatsache, dass, wie Gregor von Tours (De Virtutibus sancti Martini, I 11) berichtet, Martin von Braga in Galizien zu eben dem Zeitpunkt eintrifft, als Martinsreliquien aus Tours dort ankommen. Die Formulierung ut nobis inde ueniat pars patroncinii, quia uobis hin rediit pars patroni von Sidonius Apollinaris, Epist., VII, 1, 7 bezieht sich auf die Translation von Reliquien des heiligen Julian und wird von Gregor von Tours, De Virtutibus Iuliani, 2 (MGH, S.R.M. I, 2, 565, Zeile 23f.) übernommen. Fortunatus verändert sie hier, wobei nicht klar ist, ob er sie direkt von Sidonius oder von Gregor übernommen hat. Siehe dazu REYDELLET, Venance Fortunat, II, 164 Anm. 20, wo die drei Stellen synoptisch gegenübergestellt werden. Dann wäre es bei der Korrespondenz nicht nur um Rat bezüglich der Einführung der Regel des Caesarius von Arles in dem Kloster der Radegunde in Poitiers gegangen, was GEORGE, Venantius Fortunatus, 67 mit Anm. 23, für den Grund des Briefes und des nachfolgenden Gedichts V, 2 hält. Dieser Rat mag zwar den unmittelbaren Anlass des Briefwechsels gebildet und auch den inhaltlichen Schwerpunkt des Briefes von Martin von Braga bestimmt haben; die Formulierung lässt aber daran denken, dass die Korrespondenz mit dem einmaligen Fall nicht erledigt sein und auf diese Weise trotz der Entfernung von Poitiers und Braga so etwas wie ein geistliches (wenn auch nicht formal juristisches) Patrozinium zustande kommen soll. Siehe dazu A. ANGENENDT, Art.: Patron, in: LexMA, Bd. 6, Sp. 1806–1808, Zitat 1807.

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3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

zugesprochen worden war. Das Bild des Vaters genitor fügt sich sowohl zum christlichen Bischof als zum Begriff des patronus, der etymologisch mit pater / Vater verwandt ist; die Bezeichnung als doctor lässt durch die unmittelbar vorausgehenden literarischen Begriffe Prosa / oratio und Dichtung / carmen Martin als Lehrer und zugleich als poeta doctus erscheinen. Zudem beziehen sich oratio und carmen auf den ganzen von sentiam abhängigen ACI, also auf das gesamte Tetrakolon: te doctore regi, genitore deligi, duce progredi, tutore muniri / von Dir als Lehrer gelenkt, als Vater geliebt, als Anführer geführt und als Schirmer geschützt, das wiederum aus zwei Dikola (nicht militärische / militärische Bilder) besteht, so dass Prosa und Dichtung, die Literatur zum Medium des Patroziniums wird. Die Unterteilung in Prosa und Dichtung verweist auf den Schlussabschnitt des Briefes, den Venantius Fortunatus mit einem elegischen Distichon ausklingen lässt: Martini meritis cum nomine nobilis heres, pro Fortunato, quaeso, precare Deum.

Durch des Martins Verdienste, mit dem Namen würdiger Erbe, für Fortunatus bete, ich bitte, zu Gott.77

In Zusammenhang mit dem nachfolgenden Gedicht auf Martin von Braga78 wird auf die Zweiteilung der Antwort (Brief in Prosa / Carmen in elegischem Distichon) verwiesen. Zugleich schafft der Briefschluss, eine Art Postskript, die Überleitung zu diesem Gedicht. Obwohl der Prosateil des Schlussabschnittes sich inhaltlich auf den Boten bezieht, der Martin von Braga die Korrespondenz zukommen lassen soll, und damit einen Bezug zu den Abschnitten vier und fünf herstellt (der Brief des Martin von Braga, der auf einem Handelsschiff über das Meer zu Venantius gekommen ist), wird hier das Thema der Literatur doch nicht verlassen: 79 11. Praesentium uero portitorem famulum uestrum uere mihi bonum Bonosum pietati uestrae supplex accedens nec prius relaxans pedes quam dulcis pater promiseris, qua ualeo prece supplex commendo. Qui interventu sanctorum cum uobis sospes occurrerit absentis uota praesens exsoluens, illud prius obtineam ut quis quam primum huc commeat me celebris uerbi uestri gaudia festiua respergant.

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11. Als Boten aber der gegenwärtigen Korrespondenz vertraue ich Euer Gnaden Euren Diener, den mir wahrhaft guten Bonosus, an und falle vor Eure Füße und lasse nicht eher los, als bis Ihr, gütiger Vater, versprochen habt, worum ich, wie ich es vermag, kniefällig bitte. Und wenn dieser durch Vermittlung der Heiligen wohlbehalten zu Euch kommt und anwesend die Wünsche des Abwesenden ausrollt, möge ich zuvor jenes erreichen, dass möglichst bald jemand hierher kommt, damit mich die festlichen Freuden Eures gefeierten Wortes besprengen.

Paragraph 11 Schluss (Text bei REYDELLET, II, 13). Venantius Fortunatus, Carm., V, 2. Paragraph 11 Anfang (Text bei REYDELLET, II, 13).

3.1.1. Venantius als Epistolograph

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Venantius Fortunatus spricht von den celebris uerbi uestri gaudia festiua / den festlichen Freuden Eures gefeierten Wortes, die er sich von einer Fortsetzung der Korrespondenz erhofft. Und diese Freuden werden sich sicherlich sowohl aus dem Inhalt als aber vor allem aus der formalen, literarästhetischen Gestaltung ergeben. b) Zusammenfassung Diese ausführliche Analyse des Briefes hat einige Charakteristika der literarischen Vorgehensweise des Venantius als Epistolograph aufgezeigt,80 die hier noch einmal rekapituliert werden sollen, ehe ein Vergleich mit anderer epistolographischer Literatur erfolgt. Bereits bei der salutatio zeigt sich, dass sorgfältig auf die soziale Stellung von Absender und Adressat Rücksicht genommen wird. Dies geschieht durch eine ausladende Titulatur des Adressaten unter Verzicht auf eine Titulatur des Absenders. Allerdings ist die Titulatur dem Adressaten individuell angepasst und beschränkt sich nicht auf offizielle Titel. Venantius Fortunatus entwickelt in Hinblick auf den Namen des Adressaten und die Tatsache, dass Reliquien seines Namenspatrons Martin von Tours sich seit dessen Ankunft auch in Braga befinden, eine militärische Titulatur. Das Bild Martin von Bragas als Kriegsmann und Offizier im Heere Christi spielt als Motiv im ganzen Brief eine Rolle, etwa wenn er als Martius Martinus / martialischer Martin (1) bezeichnet wird oder von ihm als Anführer / te...duce (10) die Rede ist, bleibt allerdrings von seinem Gewicht her anderen Motiven deutlich untergeordnet. Auffällig ist auch, dass zwar verschiedentlich auf den Anlass zu diesem Brief, nämlich die Antwort auf ein Schreiben Martins von Braga hingewiesen wird, dessen Inhalt aber weitgehend im Dunkeln bleibt. Eigentlich wäre zu erwarten gewesen, dass dieser Anlass auch den Inhalt des Antwortschreibens von Venantius Fortunatus bestimmt hätte. Dies trifft aber nur bedingt zu: Zwar kann man den Inhalt seines Briefes als ein Dankesschreiben mit abschließender Bitte für ihn, Agnes und Radegunde zu beten, skizzieren, doch wird dieser Inhalt von zwei Seiten her überschattet, zum einen durch panegyrische Elemente, zum anderen durch das Thema der Literatur, das sich leitmotivisch durch den ganzen Brief zieht. Die Panegyrik bezieht sich ebenfalls auf zwei Bereiche, nämlich die Tugendhaftigkeit des Martin von Braga und seine literarischen Fähigkeiten, die in dessen Brief deutlich geworden sind. Die Tugendhaftigkeit, die Martin von Braga schon zu Lebzeiten einen Platz unter den Heiligen des Himmels sichert, wird mit äußerst gesuchten Bildern und Vergleichen unterstrichen: Martin von Braga erscheint nicht nur als Offizier im Heere Christi, sondern wird mit Philosophie (7) ebenso in Verbindung gebracht wie mit den Wundertaten seines Namenspatrons (10), steht also in einer 80

M. REYDELLET, Venance Fortunat et l’estétique du style, in: Haut Moyen Âge, Études offertes à Pierre Riché, courdin M. SOT, La Garenne Colomb, 1990, 69–77, und Venance Fortunat, II, 8, Anm. 2, sieht stilistische Verbindungen zur ekklesiastischen Stil des 6. Jh., die eher untypisch für Venantius seien. Dass diese préciosité / Geschraubtheit des Stils in den erhaltenen Briefen des Venantius nicht singulär ist, zeigt am deutlichsten sein Brief an Syagrius, Carm., V, 6, von dem später noch die Rede sein wird.

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3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

Reihe mit Cleanthes und Martin von Tours. Während der Hinweis auf Cleanthes direkt auf die Ebene der Literatur verweist (und sich einen vorher genannten Kanon von Philosophen und Kirchenvätern anschließt), erfolgt in dem programmatischen Bild des Paradiesgartens am Anfang des Briefes der Hinweis auf die literarische Ebene nur implizit. Aber durch die kunstvolle Metamorphose vom Duft des Paradiesgartens über seinen Bewohner bis zur Gleichsetzung von Bewohner und Garten, in dem der Herr zu lustwandeln pflegt, erhält der Leser nicht nur eine Vorstellung von der untrennbaren Verbindung zwischen Martin von Braga und dem Herrn, sondern auch ein eindrucksvolles Bild von den literarischen Fähigkeiten des Venantius Fortunatus, das seinerseits geeignet ist, eine entsprechende positive Meinung Martins von Braga über diese Fähigkeiten zu bestärken.81 Bei Komposition und Stilistik lässt sich durch den ganzen Brief hindurch eine Vorliebe des Venantius für mehrgliedrige Kola erkennen, die sich meist auf eine zweigliedrige bzw. dreigliedrige Bauform zurückführen lassen, welche wiederum durch weitere zweigliedrige Ausdrücke ergänzt werden kann. Parallele und chiastische Wortstellungen im grammatisch-syntaktischen und lexikalisch-semantischem Bereich werden bisweilen miteinander kombiniert, ebenso finden sich Parallelismen zwischen Haupt- und Nebensatz, die beide besonders eng verklammern.82 Nur an einer einzigen Stelle im Brief erscheint eine heidnische mythologische Gestalt, eine Ozeanide, die gleichsam die Fluten wie einen Trank mischt, wobei er paradoxer Weise süß wird;83 ansonsten bedient sich Venantius einer christlichen Bilderwelt mit Anspielungen auf die Bibel (Gott in Paradiesgarten 1) und Heiligenlegenden (Martin erweckt einen Toten durch sein Gebet 10). An paganen Autoren wird ein Kanon von Philosophen (Platon, Aristoteles, Chrysipp und Pittacus, Paragraph 7) aufgestellt, als stilistische Vorbilder werden Vergil, Cicero und (implizit) Horaz hervorgehoben (6). Im Kanon der Kirchenväter erscheinen Hilarius, Gregorius, Ambrosius und Augustin, von denen Venantius bescheiden behauptet,

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Es ist durchaus möglich, dass sich Martin von Braga in dem vorausgegangen Brief positiv über die Bildung und literarischen Fähigkeiten des Venantius Fortunatus geäußert hat, zumindest scheint die Stelle Cur tamen, bone pater, in me reflectis, quod tuum est ac de me publice profers quod tibi priuatum est? / Warum guter Vater, beziehst Du auf mich, was gänzlich Dein ist, und sprichst öffentlich mir zu, was Dir privat zu Eigen ist? (Paragraph 7, vierte bis sechste Zeile bei REYDELLET, II, 11), darauf hinzudeuten. Vgl. dazu vor allem die Ausführungen in diesem Kapitel zu Paragraph 1 des Briefes. Paragraph 4 (Text bei REYDELLET, II, 10): Hoc igitur fluente dono uenit ad me, fateor, per cana ponti fons poculi, uenit, pater optime, per salsum mare quod sitim retingueret, uenit Oceanitide miscente fluctum mera dulcedo, cuius liquor non fauce tenus saperet, sed arcana mulceret, quippe quod non carnem foueris tali potu, sed spiritum... / Während diese Gabe also floss, kam zu mir, ich gestehe es, durch die weißgrauen Flächen des Meeres die Quelle des Tranks, es kam, bester Vater, durch das salzige Meer, das, was den Durst löschen konnte, es kam, während die Ozeanide die Flut mischte, reine Süße, deren Flüssigkeit nicht nur im Gaumen Geschmack hatte, sondern das Innere sanft streichelte, da Du nicht das Fleisch mit einem solchen Trank erquicktest, sondern den Geist...

3.1.1. Venantius als Epistolograph

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dass sie ihm nicht (oder kaum) bekannt seien.84 Offenbar geht es aber hier auch in erster Linie um die Aufstellung eines Kanons. Teilt man das Genos Brief weiter in Subgenera, wie Einleitungs- bzw. Widmungsbrief, Antwortbrief, Begleitbrief, Freundschaftsbrief usw. ein, so muss man konstatieren, dass dieses Schreiben innerhalb dieser Subgenera Grenzen überschreitet. Offenbar handelt es sich um einen Antwortbrief, der aber zugleich als Begleitbrief zum folgenden Carmen85 fungiert und mit ihm zusammen als Diptychon konzipiert ist, das eine doppelte Panegyrik auf Martin von Braga entfaltet, und so seiner unmittelbaren Funktion, nämlich die Unterstützung Martins für das Kloster in Poitiers zu gewinnen, in doppelter Weise nachkommt. Auf einer literarischen Ebene findet allerdings zugleich eine unterschwellige aemulatio des Venantius Fortunatus mit Martin von Braga statt; angesichts seines Bildungsstandes und eigener schriftstellerischer Tätigkeit dürfte auch das Martin von Braga für das eigentliche Anliegen eingenommen haben. 3.1.1.2. Vergleich mit Sidonius Apollinaris, Epist. VII, 1 Der bereits erwähnte Brief des Sidonius Apollinaris86 eröffnet – wie der Brief des Venantius an Martin von Braga – ein Buch, nämlich das siebte seiner Briefsammlung. Auch wenn es sich bei Venantius nicht um eine Briefsammlung, sondern um eine Sammlung von Carmina handelt, in die einzelne Briefe aufgenommen worden sind, ist doch die exponierte Anfangsstellung vergleichbar, ebenso sind in beiden Fällen Bischöfe die Adressaten. Zwar ist die Ausgangssituation anders, dennoch verfolgt auch Sidonius Apollinaris mit dem Brief ein ganz spezielles Ziel. Wollte Venantius Fortunatus bei Martin von Braga Unterstützung, eine Art Patrozinium für das Radegunde Kloster in Poitiers erreichen, so verwendet sich Sidonius dafür, dass der Adressat seiner bedrohten Stadt zumindest in spiritueller Hinsicht zu Hilfe kommt. Den Ausgangspunkt des Briefes bilden somit die fortwährenden Einfälle

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Vgl. dazu die entsprechenden Ausführungen zu Paragraph 7 in diesem Kapitel, wo bereits darauf hingewiesen wurde, dass Venantius eine Vita und ein Werk De virtutibus sancti Hilarii auf Hilarius von Poitiers verfasst hat. Auch Augustin scheint ihm nicht so unbekannt gewesen zu sein, denn er wird verschiedentlich erwähnt. Außer an dieser Stelle hier auch in Carm., IV, 5, 12; V, 3, 39; VIII, 1, 58; X, 1, 42 und in der Vita sancti Martini, IV, 664. Venantius Fortunatus, Carm., V, II. Sidonius Apollinaris, Epist., VII, 1. Sidonius Apollinaris fußt als Epistolograph seinerseits wieder auf einer älteren christlichen Brieftradition, die sich in den Briefen eines Augustin, Hieronymus oder Paulinus von Nola spiegelt. Zur Epistolographie des Hieronymus ausführlich B. CONRING, Hieronymus als Briefschreiber. Ein Beitrag zur spätantiken Epistolographie (Studien und Texte zu Antike und Christentum 8), Tübingen 2001. Zum Verhältnis des Paulinus von Nola zur rhetorischen Tradition siehe jetzt auch P. GEMEINHARDT, Das lateinische Christentum und die antike pagane Bildung, 210–217, insbesondere 216: Mit Rekurs auf Paulinus von Nola, Epist., 16, 11 weist er darauf hin, dass rhetorische Kunstfertigkeit für Paulinus von Nola durchaus legitim sei, wenn sie ihren Gegenstand schon gefunden habe, nämlich den Glauben, der er einen bereits ergriffen habe.

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3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

der Goten nach Avernum (Clermont-Ferrand), wo Sidonius Apollinaris seit 470 / 471 den Bischofsstuhl innehat.87 Wie Plinius in seinen Briefen nennt sich Sidonius an erster Stelle der salutatio, fügt aber, wenn seine Adressaten Bischöfe sind, den Zusatz domino papae hinzu, so dass die Anrede hier SIDONIUS DOMINO PAPAE MAMERTO SALUTEM / SIDONIUS ENTBIETET DEM BISCHOF MAMERTUS SEINEN GRUSS lautet.88 Der programmatische Anfang wird dazu genutzt, die Ausgangssituation dem Adressaten drastisch vor Augen zu führen: Rumor est Gothos in Romanum solum castra movisse: huic semper irruptioni nos miseri Averni ianua sumus. namque odiis inimicorum hinc peculiaria fomenta subministramus, quia, quod necdum terminos suos ab Oceano in Rhodanum Ligeris alveo limitaverunt, solam sub ope Christi moram de nostra tantum obice patiuntur. circumiectarum spatia tractumque regionum iam pridem regnis minacis importuna devoravit impressio.

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Es ist ein Gerücht, dass die Goten allein gegen den Römer zu Felde gezogen seien: Für diesen Einfall bilden wir unglücklichen Averner stets die Tür. Denn dem Hass der Feinde bieten wir besonderen Zunder, weil sie - durch die Hilfe Christi – das einzige Hemmnis, dass sie noch nicht ihre Grenzen vom Ozean bis zur Rhone durch das Flussbett der Loire beschlossen haben, von unseren Widerstand erdulden müssen. Die Zwischenräume und die Flur der umliegenden Gegenden hat schon längst das brutale Eindringen ihrer drohenden Herrschaft verschlungen.89

Für einen ersten Überblick über Leben und Werk des Sidonius Apollinaris siehe G. KRAPINGER, Art.: Sidonius Apollinaris, in: Der Neue Pauly, Bd. 11, Stuttgart / Weimar 2001, Sp. 522f. bzw. E. GRÜNBECK, Art.: Sidonius Apollinaris, in: LexMA Bd. 7, Sp. 1834f., ausführlicher: N. DELHEY, Art: Apollinaris Sidonius, in: LACL Freiburg 1 1998, 42f., DERS., Sidonius Apollinaris, Carm. 22:Burgus Pontii Leontii Einleitung, Text und Kommentar, (UaLG 40), Berlin 1993, dort 1–6; H. KÖHLER, C. Sollius Apollinaris Sidonius, Briefe Buch I: Einleitung - Text - Übersetzung - Kommentar (Bibliothek der Klassischen Altertumswissenschaft NF, 2. Reihe, Bd. 96), Heidelberg 1995, 3–6; C. E. STEVENS, Sidonius and his age, Oxford 1933; J. HARRIES, Sidonius Apollinaris and the fall of Rome, AD 407–485, Oxford 1994, F. - M. KAUFMANN, Studien zu Sidonius Apollinaris (Europäische Hochschulschriften, Serie III, vol. 681), Frankfurt am Main 1995. Vgl. dazu auch: M. ZELZER, Der Brief in der Spätantike. Überlegungen zu einem literarischen Genos am Beispiel der Briefsammlung des Sidonius Apollinaris, Wiener Studien 107 / 108 (1994/95), 541–551, hier 543: „...es findet sich die alte Anredeform ‚Sidonius grüßt seinen Soundso’ ohne weitere Titel und ein einfaches Vale am Schluß. Eine Ausnahme bildet eine Zusammenstellung von Briefen an Bischöfe im sechsten und am Anfang des siebenten Buches: vor dem Namen des Empfängers findet sich jeweils der Zusatz domino papae und jeder Brief endet mit dem speziellen, gleichlautenden Schluß memor nostri esse dignare, domine papa. In offiziellen Schreiben mußte die höhergestellte Persönlichkeit immer an erster Stelle und mit Titel und Würden genannt werden. Die Änderung der Anrede in privaten Briefen beweisen nicht nur die Briefe des Augustinus und Hieronymus aus dem Ende des 4. und Anfang des 5. Jh., wo meistens der Empfänger mit ausführlicher Titulatur an erster Stelle steht – soweit nicht überhaupt die Adresse durch einen Titel verdrängt ist...“ Sidonius Apollinaris, Epist., VII, 1, 1 (Text nach LUETJOHANN, MGH, AA 8, 103).

3.1.1. Venantius als Epistolograph

89

Das Gerücht, rumor, steht exponiert am Anfang. Wie bei Venantius Fortunatus die Meinung des Martin von Braga an den Anfang des Briefes gestellt wird, ist es hier die Meinung der Menge, das Gerücht. Handelt es sich bei Venantius aber um die Meinung des Adressaten, die daher positiv konnotiert erscheint, ist es bei Sidonius Apollinaris eine falsche Meinung, der entgegengetreten werden muss. So kann Venantius die Meinung des Martin mit den Lüften des Paradieses in Verbindung bringen,90 während bei Sidonius die Schilderung der wahren Situation im Vordergrund zu stehen hat. Daher wird bei ihm der zweite Teil des ersten Satzes antithetisch dem ersten gegenübergestellt, in chiastischer Wortstellung korrespondieren der Angriff der Goten (castra movisse) mit dem Einfall (huic semper irruptioni), die Römer (in Romanum solum) mit den unglücklichen Avernern (nos miseri Averni), schließlich das Gerücht, dass die Römer allein von den Goten betroffen seien (rumor est), das sogleich durch das Bild von der Tür, welche die Averner für den Einfall bilden (ianua sumus), korrigiert wird. Es findet also auch hier ein Prinzip der Zweigliedrigkeit Anwendung, das allerdings im grammatisch-syntaktischen Bereich durch unterschiedliche Konstruktionen variiert wird. Die Tür für den Einfall (ianua) am Ende dieses ersten Satzes ist der Schlüsselbegriff für das, was folgt: eine Schilderung der Lage in Avernum. Ähnlich wie im Brief des Venantius wird nicht gleich deutlich, worum es dem Briefschreiber eigentlich geht. Erst in einer weiteren antithetischen Gegenüberstellung der Nutzlosigkeit rein militärischer Verteidigungsmaßnahmen mit der Hilfe, die durch die Gebete des Mamertus zu erhoffen ist, zeigt sich, dass es Sidonius eben um diese geht:91 2. sed animositati nostrae tam temerariae tamque periculosae non nos aut ambustam murorum faciem aut putrem sudium cratem aut propugnacula vigilum trita pectoribus confidimus opitulatura; solo iam invectarum te auctore rogationum palpamur auxilio, quibus inchoandis instituendisque populus Avernus, etsi non effectu pari, affectu certe non impari coepit initiari, et ob hoc circumfusis necdum dat terga terroribus.

2. Aber wir vertrauen in unseren Herzen nicht darauf, dass unserem so blinden wie gefährlichen Mut entweder das verbrannte Antlitz der Mauern oder das morsche Geflecht der Pfähle oder die aufgeriebene Schutzwehr der Wächter Hilfe bringen wird; allein durch die Hilfe der auf Deine Veranlassung hin eingeführten Gebete werden wir sanft gestreichelt, in deren Beginn und Einrichtung das Avernervolk, wenn auch nicht mit gleichem Effekt, so doch sicherlich nicht mit ungleichem Affekt angefangen hat, eingeführt zu werden und deswegen noch nicht vor den es umgebenden Schrecknissen flieht.

Es handelt sich wohl um eine bestimmte Art von Bußübungen (supplicationes), die Mamertus nach Sidonius Apollinaris bereits erfolgreich in seinem Bistum (Viennes) eingeführt hat, als sich dort Schreckbilder aller Arten von Vorzeichen (cuiusque modi prodigiorum terriculamenta) zeigten:

90 91

Venantius Fortunatus, Carm., V, 1, 1. Vgl. dazu die Ausführungen zu Beginn dieses Kapitels. Sidonius Apollinaris, Epist., VII, 1, 2 (Text bei LUETJOHANN, 103).

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3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

3. non enim latet nostram sciscitationem,

primis temporibus harumce supplicationum institutarum civitas caelitus tibi credita per cuiusque modi prodigiorum terriculamenta vacuabatur. nam modo scaenae moenium publicorum crebris terrae motibus concutiebantur; nunc ignes sulpure flammati caducas culminum cristas superiecto favillarum monte tumulabant; nunc stupenda foro cubilia collocabat audacium pavenda mansuetudo cervorum: cum tu inter ista discessu primorum populariumque statu urbis exinanito ad nova celer veterum Ninivitarum exempla decurristi, ne divinae admonitioni tua quoque desperatio conviciaretur.

4. et vere iam de deo tu minime poteras absque peccato post virtutum experimenta diffidere. nam cum vice quadam civitas conflagrare coepisset, fides tua in illo ardore plus caluit; et cum in conspectu pavidae plebis obiectu solo corporis tui ignis recussus in tergum fugitivis flexibus sinuaretur, miraculo terribili novo invisitato affuit flammae cedere per reverentiam, cui sentire defuit per naturam.

3. Es ist nämlich nicht vor unserer Nachforschung verborgen, dass vom ersten Augenblick an, als diese Bußübungen eingeführt worden waren, die Dir vom Himmel anvertraute Stadt frei war von Schreckbildern der Vorzeichen aller Art. Denn gerade eben wurden die Bühnen der öffentlichen Mauern von zahlreichen Erdstößen erschüttert; jetzt gerade türmten die von Schwefel entflammten Feuer die eingestürzten Spitzen der Giebel mit einem darüber geworfenen Berg von Asche; jetzt gerade bereitete eine bestaunenswerte und Furcht erregende Zahmheit frecher Hirsche sich ihre Schlafstätten auf dem Forum, als Du zwischen diesen Dingen, da infolge des Weichens von Adel und Volk die Lage der Stadt schon nackt und bloß war, rasch zum Beispiel der Bewohner des alten Ninive Zuflucht genommen hast, dass auch Deine Verzweiflung nicht mit der göttlichen Mahnung Streit anfange. 4. Und wahrhaft vermochtest Du in keiner Weise infolge der Sünde nach den Erfahrungen von Wundern Gott zu misstrauen. Denn in einer gewissen Wechselbeziehung glühte, nachdem die Stadt begonnen hatte, ganz in Flammen aufzugehen, Dein Glaube in jenem Brand um so mehr; und als sich im Angesicht der ängstlichen Volksmenge das Feuer, allein durch das Hindernis Deines Körpers zurückgeworfen, in ängstlichen Windungen krümmte und floh, war es an der Flamme, weil sie ein solch neues Schrecken erregendes Wunder noch nie zuvor gesehen hatte, aus Ehrfurcht vor dem zu weichen, dem es von Natur aus unmöglich war, sie zu fühlen.92

Während im Falle des Venantius Fortunatus wohl eine Anfrage hinsichtlich der Regel des Caesarius von Arles den ursprünglichen Anlass zu dem Briefwechsel zwischen Venantius und Martin von Braga geliefert hat,93 geht es hier um Rat hinsichtlich ganz bestimmter Bußübungen, die Mamertus zuvor schon erfolgreich in seiner Stadt eingeführt hat. Dieses Thema wird hier mit dem Lob des Adressaten verknüpft, das panegyrische Element spielt wie bei Venantius eine zentrale Rolle. Sidonius Apollinaris arbeitet mit einer scharfen antithetischen Gegenüberstellung 92 93

Siehe Sidonius Apollinaris, Epist., VII, 1, 3–4, (Text bei LUETJOHANN, 103 f.). Vgl. dazu die entsprechenden Ausführungen zu Beginn dieses Kapitels.

3.1.1. Venantius als Epistolograph

91

der Situation in Vienne vor Eingreifen des Mamertus und der Schilderung des Eingreifens des Mamertus, unterstrichen jeweils durch die Anfänge der Kola des Paragraphen 3 (nam modo...nunc...nunc / cum tu), unterstrichen auch durch die Verwendung besonders ausführlicher oder in sich paradoxer Bilder. 94 Zentrales Element bei Mamertus ist seine fides, sein Glaube, dessen Besonderheit durch die Einführung zunächst negativer Begriffe unterstrichen wird: Es ist von desperatio, Verzweiflung die Rede, die angesichts der vorher geschilderten Situation aber nicht dazu führt, mit Gott zu hadern (ne divinae admonitioni...conviciaretur), noch ihm zu misstrauen (diffidere). Erst in der oben genannten Paradoxie fällt der positive Begriff fides, der sich in der brennenden Stadt noch mehr entzündet. Waren es bei Venantius Fortunatus vor allem das Bild der Vereinigung von Paradiesgarten und Person und das des guten Samariters (letzteres allerdings wieder mit Bezug zur Literatur),95 worin sich eine Panegyrik christlicher Prägung manifestierte, ist es hier die Schilderung eines Wunders, die diesen Zweck erfüllt. Stilistisch wird das in einer scharfen antithetischen Paradoxie ausgedrückt. Nach der Betonung des Wunders, das der Flamme Schrecken erregt (miraculo terribili novo invisitato / weil sie ein so Schrecken erregendes Wunder noch sie zuvor gesehen hatte), treten Flamme und Mamertus in einem grammatisch-syntaktischen Parallelismus gegenüber, dessen Inhalt die natürlichen Verhältnisse in paradoxer Weise umkehrt. Nicht Mamertus weicht, wie es natürlich wäre, der Flamme, sondern die Flamme ihm (affuit flammae cedere), weil seine Natur die Flamme eben nicht spürt (cui sentire defuit per naturam). Diese andere Natur des Mamertus wird durch die Gegenüberstellung von per naturam mit per reverentiam unterstrichen; aus Ehrfurcht weicht die Flamme, aus der Ehrfurcht, die dem Glauben dieses Mannes entgegengebracht werden muss, dem Glauben, der es möglich machte, dass hier die Naturgesetze auf den Kopf gestellt wurden. Eine Vorliebe für ausgefeilte Paradoxien lässt sich auch in dem besprochenen Brief des Venantius Fortunatus konstatieren, besonders deutlich im ersten Abschnitt, wenn der Bewohner des Paradiesgartens schließlich zum Paradiesgarten selbst wird, in dem der Herr spazieren geht, oder eben dort in der Formulierung, dass der Herr den Sklaven und (gleichzeitig) der Sklave den Herrn besitzt (et uernulam Dominus et uerna Dominum possideret).96 Der Beschreibung des Wunders folgt bei Sidonius Apollinaris die der Weisungen des Mamertus (an seine eigene Mitbürger), angeschlossen mit igitur / also, weil sie sich zwangsläufig aus seiner im Wunder offenbarten Autorität ergibt. 94

95 96

Z. B. ignes sulpure flammati caducas culminum cristas superiecto favillarum monte tumulabant / die von Schwefel entflammten Feuer türmten die eingestürzten Spitzen der Giebel mit einem darüber geworfenen Berg von Asche bzw. stupenda foro cubilia collocabat audacium pavenda mansuetudo cervorum / eine bestaunenswerte und Furcht erregende Zahmheit frecher Hirsche bereitete sich ihre Schlafstätten auf dem Forum) und (nam cum vice quadam civitas conflagrare coepisset, fides tua in illo ardore plus caluit / denn in einer gewissen Wechselbeziehung glühte, nachdem die Stadt begonnen hatte, ganz in Flammen aufzugehen, Dein Glaube an in jenem Brand um so mehr (Paragraph 3). Venantius Fortunatus, Carm., V, 1, 1 und 8; vgl. die entsprechenden Ausführungen zu Beginn dieses Kapitels. Venantius Fortunatus, Carm., V, 1, 1 (bei REYDELLET, II, 8–9).

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3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

Durch die End- bzw. die Anfangsstellung des Verbs wird diese Autorität besonders betont: 5. igitur primum nostri ordinis viris et his paucis indicis ieunia interdicis flagitia, supplicia praedicis remedia promittis; exponis omnibus nec poenam longinquam esse nec veniam; doces denuntiatae solitudinis minas orationum frequentia esse amoliendas; mones assiduitatem furentis incendii aqua potius oculorum quam fluminum posse restingui; mones minacem terrae motuum conflictationem fidei stabilitate firmandam.

5. Also erlegst Du zunächst den Männern unseres Standes und diesen wenigen (die noch da sind) Fasten auf, untersagst ihnen die Schändlichkeiten, predigst Buße und versprichst Heilung; Du legst allen dar, dass weder die Strafe lange währt noch die Verzeihung lange auf sich warten lässt; Du zeigst, dass die drohende Verwaisung (der Stadt) durch Häufigkeit der Gebete abzuwenden ist; Du mahnst, dass das beständige Wüten des Brandes eher durch das Wasser der Augen als das der Flüsse gelöscht werden kann; Du mahnst, dass das bedrohliche Zusammenschlagen von Erdbewegungen durch die Standhaftigkeit im Glauben (wieder) zu festigen ist.97

Anders als im Brief des Venantius Fortunantus an Martin von Braga wird hier der Inhalt der Weisungen des Adressaten hervorgehoben, nämlich der Weisungen des Mamertus an seine Mitbürger, die dann auch den Bewohnern von Avernum als Beispiel dienen können. Auch geht es nicht allein darum, dass Mamertus aufgrund seiner Heiligkeit als Fürsprecher für den Absender auftreten soll, 98 dieser Gedanke wird erst am Ende des Briefes thematisiert und tritt als ein weiteres Element hinzu. Die Naturkatastrophen, die Feuersbrünste, die Verwaistheit der Stadt werden als Strafe für sündhaftes Verhalten der Einwohner angesehen und können deshalb durch Umkehr und Buße abgewendet bzw. rückgängig gemacht werden. In der Stadt des Mamertus, Vienne, die am Ende des folgenden Paragraphen zum ersten Mal genannt wird, ist genau diese Wirkung eingetreten: 6. cuius confestim sequax humilis turba consilii maioribus quoque suis fuit incitamento, quos cum non piguisset fugere, redire non puduit. qua devotione placatus inspector pectorum deus fecit esse obsecrationem vestram vobis saluti, ceteris imitationi, utrisque praesidio. denique illic deinceps non fuere vel damna calamitati vel ostenta formidini.

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6. Die demütige Menge (des einfachen Volkes) war auch den Vornehmen Ansporn, die, weil es sie nicht verdrossen hatte, zu fliehen, zurückzukehren nicht reute. Durch diese andächtige Frömmigkeit besänftigt, ließ Gott, der in die Herzen sieht, Euer inständiges Gebet Euch zur Rettung gereichen, den übrigen zur Nachahmung, allen zum Schutz. Schließlich gab es dann dort weder Zerstörungen, die auf weiteres Unheil hindeuteten, noch Zeichen, die Anlass zur Furcht gaben.99

Sidonius Apollinaris, Epist., VII, 1, 5 (Text nach LUETJOHANN, 104). Vgl. Venantius Fortunatus, Carm., V 1, 7–10, wo dieser Gedanke in den Vordergrund tritt. Sidonius Apollinaris, Epist., VII, 1, 6, I (Text bei LUETJOHANN, 104).

3.1.1. Venantius als Epistolograph

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Dass dieses exemplum von Devotion und der darauf folgenden Reaktion Gottes Vorbildcharakter für die Bewohner von Arvernum, aber zugleich durch die Fürsprache des Mamertus größere Aussicht auf einen ähnlichen Erfolg hat, macht der Schluss des Paragraphen deutlich: quae omnia sciens populus iste Viennensibus tuis et accidisse prius et non accedisse posterius vestigia tam sacrosanctae informationis amplectitur, sedulo petens, ut conscientiae tuae beatitudo mittat orationum suarum suffragia quibus exempla transmisit.

Und weil dieses Volk (der Averner) weiß, dass dies alles Deinen Viennern zuvor geschehen ist und später nicht mehr geschehen ist, umarmt es die Spuren der so hochheiligen Belehrung und bittet voll Inbrunst, dass die Heiligkeit Eures Gewissen uns die Hilfe ihrer Gebete schickt, uns, denen sie schon ihre Beispiele übersandt hat.100

Das Schicken (mittit) bzw. Übersenden (transmisit) lässt sich einerseits im spirituellen Sinn (das Schicken von Gebeten), andererseits vielleicht auch als Anspielung auf die briefliche Kommunikation verstehen (Briefe, die von dem berichten, was in Viennes geschehen ist, werden geschickt und übersenden so die exempla). Auf den Vorgang der Übermittlung geht auch Venantius Fortunatus in seinem Brief an Martin von Braga ausführlich ein, wenn von dem Schiff, dass den Boten und damit den Brief bringe, die Rede ist, das anderen zwar kostbare Waren liefere, ihm aber das Licht der Unterhaltung mit ihm (uestri colloquii ... lumen),101 ein Hinweis auf die briefliche Kommunikationssituation, die allerdings bei Venantius wesentlich weiter ausgeführt wird. Da ein Teil des Briefschlusses des Sidonius bei Venantius Fortunatus zitiert wird, sollte er hier im Zusammenhang in den Blick genommen werden: et quia tibi soli concessa est post avorum memoriam vel confessorem Ambrosium, duorum martyrum repertorum, in partibus orbis occidui martyris Ferreoli solida translatio adiecto nostri capite Iuliani, quod istinc turbulento quondam persecutori manus rettulit cruenta carnificis, non iniurium est, quod pro compensatione deposcimus, ut nobis inde veniat pars patrocinii, quia vobis hinc rediit pars patroni. memor nostri esse dignare, domine papa.

Und weil es Dir als einzigem nach der Zeit unserer Großväter und dem Bekenner Ambrosius, dem Entdecker zweier Märtyrer(gräber), beschieden ist, in den Gefilden des Westens eine vollständige Translation des Märtyrers Ferreolus und dazu des Hauptes unseres Julianus, das einst die blutige Hand des Henkers dem leidenschaftlichen Verfolger darbrachte, durchzuführen, ist es kein Unrecht, dass wir als Gegenleistung verlangen, dass uns von dort ein Teil des Patroziniums komme, weil Euch von hier ein Teil des Patrons zurückgekehrt ist. Mögest Du unser eingedenk sein, Herr und Vater.102

100 Sidonius Apollinaris, Epist., VII, 1, 6, II (Text bei LUETJOHANN, 104). 101 Venantius Fortunatus, Carm., V, 1, 5; vgl. dazu die entsprechenden Ausführungen zu Beginn dieses Kapitels. 102 Sidonius Apollinaris, Epist., VII, 1, 7 (Text bei LUETJOHANN, 104). Gregor von Tours widmet dem ursprünglich in Avernum beheimateten Märtyrer Julianus eine Schrift: De passione et

94

3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

Dass Venantius Fortunatus diese Briefstelle wohl nicht nur durch die Vermittlung Gregors von Tours gekannt hat, lässt die Verwendung an einer ähnlichen Stelle im Brief vermuten:103 Bei Sidonius Apollinaris bildet sie den Abschluss des Briefes, dem nur noch die Schlussformel folgt. Diese inhaltlich über ein bloßes Vale hinausgehende Schlussformel bittet den Adressaten, des Absenders und seiner Averner eingedenk zu sein, und muss wohl im Zusammenhang mit den zuvor erwähnten orationum suarum suffragia, der Hilfe seiner Gebete verstanden werden. Da bei Venantius der Prosateil des Paragraph 11 mit dem Hinweis auf den Boten eher ein Postscript zum Brief darstellt, folgt bei Venantius auf den Wunsch nach Patrozinium nur noch die Bitte, von Martin von Braga gelenkt, geliebt und geschützt zu werden.104 Venantius will sich also Martin anvertrauen, was ringkompositorisch den Gedanken der Anempfehlung von Agnes und Radegunde am Anfang von Paragarph 10 wieder aufnimmt. Hier ist es das Gebet des Venantius um diese Aufnahme. In den wie ein zweites Postscript den Brief beschließenden und zugleich zur Überleitung dienenden Verse am Schluss von Paragraph 11105 geht es wie bei Sidonius um das Gebet des Adressaten: Martini meritis cum nomine nobilis heres pro Fortunato, quaeso, precare Deum.

Durch die Verdienste des Martin mit dem Namen würdiger Erbe, für Fortunatus, bete, ich bitte, zu Gott.

Im Grunde handelt es sich hier um nichts anderes als eine fein verästelte Ausgestaltung des Gedankens, der auch am Ende des Sidonius-Briefes steht, Gebet und dadurch Schutz für den Absender. Dabei wird durch die Veränderung der Formulierung ut per uos illinc nobis redeat spes patrocinii, quia ad uos hinc prodiit pars patroni / dass durch Euch von dort für uns die Hoffnung auf ein Patroziniium zurückkehrt, weil zu Euch von hier ein Teil des Patrons gekommen ist106 einerseits eine größere Bescheidenheit dem Adressaten gegenüber formuliert (Hoffnung statt Teil), andererseits ist die Beziehung von Ausgangspunkt und Rückkehr vertauscht und damit eindringlicher ausgedrückt. (Die Translatio der Reliquien, hier von Martin von Tours, geschieht zu Martin von Braga, dafür soll die Hoffnung auf das Patroziniium zurückkehren). Das alles spricht allerdings eher für eine bewusste Umgestaltung des Original von Sidonius Apollinaris als für eine Vermittlung der

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virtutibus sancti Iuliani martyris. Im zweiten Kapitel schildert er die Translation, die Sidonius Apollinaris erwähnt, und berichtet, dass die neue Basilika in Vienne von einem gewissen Mamertus in Auftrag gegeben worden sei, in die das Haupt des Julianus und der Körper des Ferreolus gebracht worden seien, da sie von alters her zusammen bestattet gewesen seien. Zu der Interpretation der Stelle vgl. auch die entsprechenden Ausführungen zu Beginn dieses Kapitels. Siehe Venatius Fortunatus, Carm., V, 1, 10 Ende: supplicans, ut ... sentiam tam oratione quam carmine te doctore regi, genitore diligi, duce progredi, tutore muniri / und bitte, dass ich spüre, ..in Prosa wie in der Dichtung von Dir wie von einem Gelehrten gelenkt, wie von einem Vater geliebt, wie von einem Anführer geführt, wie von einem Schirmer beschützt zu werden. Vgl. dazu die entsprechenden Ausführungen zu Beginn dieses Kapitels. Venantius Fortunatus, Carm., V, 1, 10 (Text bei REYDELLET, II, 13).

3.1.1. Venantius als Epistolograph

95

Stelle durch Gregor von Tours; vielleicht ist auch bei Martin von Braga die Kenntnis der Stelle vorauszusetzen, dann läge eine literarische Anspielung vor, die hervorragend in Kontext des Venantiusbriefes passte. Der Vergleich mit Sidonius Apollinaris (Epist., VII, 1), der von Venantius an direkt zitiert wird, dass sich Venantius Fortunatus sowohl in kompositorischer als auch stilistischer Hinsicht in einer bestimmten Tradition christlicher Epistolographie bewegt, die sich bereits bei Augustin, Hieronymus und Paulinus von Nola ausprägt und eine, wenn auch nicht immer eingestandene, rhetorische Durchdringung, wie sie besonders bei Paulinus von Nola sichtbar ist, mit sich bringt. Sidonius Apollinaris und Martin von Braga reihen sich bereits in diese Tradition ein, doch geht der Manierismus des Venantius Fortunatus in sprachlich-stilistischer Hinsicht wie auch im Gebrauch seiner Metaphern noch einige Grade über diese Vorgängertexte hinaus. Dieser stilistisch-kompositorische Manierismus, hier in spezifischer Weise auf den Adressaten, Martin von Braga, abgestimmt, stellt allerdings keineswegs eine singuläre Erscheinung in den erhaltenen Prosabriefen des Venantius Fortunatus dar. Das lässt sich gut anhand des Briefes an Bischof Syagrius von Autun demonstrieren, der hier vor allem unter kompositorisch-stilistischen Aspekten behandelt werden soll, während das dazugehörige carmen figuratum später genauer betrachtet werden wird.107 3.1.1.3. Venantius Fortunatus: Brief an Syagrius von Autun (Carmen V, 6) Dieses Schreiben an den Bischof Syagrius von Autun stellt einen ganz anderen Typus von Prosabrief dar:108 Die Ausgangssituation lässt sich anhand verstreuter Hinweise im Text nur rekonstruieren. Dabei spielt eine wichtige Rolle, dass es sich bei Syagrius um eine höchst einflussreiche Persönlichkeit aus einer höchst einflussreichen gallorömischen Familie handelt, die bis zur Niederlage gegen Clodwig in Soisson gleichsam königlichen Status innehatte.109 Auch im sechsten Jahrhundert gibt es drei Bischöfe aus diesem Geschlecht; Syagrius der Bischof von Autun, ist von Germanus eingesetzt worden und wird später mehrfach in der Korrespondenz von Gregor dem Großen erwähnt. Ziel des Briefes ist es, Syagrius dazu zu bewegen, sich für die Freilassung eines Kriegsgefangenen einzusetzen110 und dies im Auftrag eines Landsmannes des Venantius, der sich an den Dichter gewandt hat.111 Ganz konkret scheint es darum zu gehen (was allerdings letztlich nur an107 Siehe dazu die entsprechenden Ausführungen in Kapitel 3. 2. 7. dieser Arbeit. 108 Ausführlich dazu jetzt auch D. WALZ, Text im Text. Das Figurengedicht V, 6 des Venantius Fortunatus, in: E. CONRAD LUTZ, W. HAUBRICHS & K. RIDDER (Hrsg.), Wolfram Studien XIX. Text und Text in lateinischer und volkssprachiger Überlieferung des Mittelalters. Freiburger Kolloquium 2004,Wolfram Studien XIX, Berlin 2006, 59–93. 109 Vgl. dazu REYDELLET, I, 170, Anm. 78: Der Sohn des Aegidius Syagrius trug bis zur seiner Niederlage gegen Clodwig den Titel rex Romanorum. 110 Vgl. Venantius Fortunatus, Carm., V, 6, 6f. 111 Vgl. Paragraph 1–5.

3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

96

gedeutet wird), dass Syagrius aus eigenen Mitteln das Lösegeld für den Kriegsgefangenen aufbringen soll. Als „Gegenleistung“ erhält er zusammen mit dem Brief ein carmen figuratum, das Syagrius in seiner Eingangshalle (der Märtyrerbasilika des Symphorianus112) gleichsam als Türhüter anbringen lassen kann113. Ein Überblick über die Gliederung des Briefes kann seine komplexe Struktur verdeutlichen: a) Gliederung des Briefes an Syagrius §1–5

§ 1a § 1b §2–4 §5 § 6 – 16 §6–7 § 8 – 16 § 9 – 14 § 14 – 16 § 14 § 15 § 16

§ 17

Einleitung: Schaffenskrise des Venantius Fortunatus & Besuch des Vaters, der unter Tränen bittet, dass sich Venantius bei Syagrius für die Freilassung seines kriegsgefangenen Sohn einsetzt. Schaffenskrise des Venantius Fortunatus. Auftritt des Vaters. Stumme Klage des Vaters. Mögliche Hilfe durch Syagrius. Hauptteil: Das carmen figuratum als Gegenleistung für Syagrius. Mögliche Gegenleistung für Syagrius: Eine Verbindung von pictura et poesis. Kommentar zu dem carmen figuratum Schwierigkeiten bei der Umsetzung. Eigentlicher Kommentar: Verse des Basistextes. M als Mittelpunkt des Gedichtes. Verse, die in einer abweichenden Leserichtung gelesen werden müssen (Intexte). Schluss: Verwendungszweck des carmen figuratum: als Türhüter in der Vorhalle der Basilika des Märtyrers Symphorianus.

b) Interpretation Wie der Widmungsbrief an Gregor von Tours beginnt auch der Brief an Syagrius mit einem einzigen überlangem Satz, auf den eine kurze Gnome folgt: Domino sancto et apostolica sede dignissimo Dem heiligen Herrn und dem des apostolischen Domno Syagrio papae Fortunatus. Stuhls würdigsten Bischof Syagrius entbietet Fortunatus seinen Gruß.

112 Zur Basilika des Symphorianus in Autun, die vom Presbyter Eufronius errichtet wurde, vgl. Gregor von Tours, Hist. Franc., II, 15. 113 Vgl. Paragraph 17.

3.1.1. Venantius als Epistolograph

1. Torpore uecordis otii, quo mens ebria desipit diutina tabe morbescente brutiscens, et uelut ignaui soporis hebetante marcore suffectus, negotii indulti nulla mordente cura dormitans, cum uideretur scilicet tam lectio neglegi quam lusus abuti, neque nancisceretur quicquam occasionis ex themate quod digereretur in poesi, et, ut ita dictum sit, nihil uelleretur ex uellere quod carminaretur in carmine, intra me quodammodo me ipsum silentio sarcofagante sepeliens, et cum nulla canerem, obsoleto linguae plectro aeruginauissem, tandem nec opinato concaptivo, sed tamen ut arbitror uestrae felicitatis ad me sorte delato, quis, unde, quidue deferat dum percontor,

de fili calamitate suae necessitatis, meae compassionis, uestrae mercedis causas, indice singultu uix laxante, prorupit: quo uoce intercepta tam uiscerum maerore quam luminum flumine dum loqui non permittitur, ipso silentio patrem lacrimae fatebantur; quia, dum anxius in uerbo genitor pendit nec exprimit, tacente faucis organo, pupilla fletibus loquebatur. Tantum est in caritate natura quod praeualet, ut parens ante

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1. In aberwitziger Muße Erschlaffung, in welcher der trunkene Geist sich der Torheit überließ und, während die tägliche Auszehrung ihn krank machte, stumpfsinnig vor sich hin brütete und wie jemand, der von der trägen und stumpf machenden Schlaffheit des tiefen Schlafes befallen ist, schlief, während ihn keine Sorge um ein Geschäft, dem er sich hingegeben hatte, drückte, als (von ihm) freilich sowohl das Lesen vernachlässigt als auch das spielerische Vergnügen114 zu weit getrieben zu werden schien und er nicht eine Gelegenheit (zum Dichten) aus einem Thema erlangte, das er in der Dichtung aufzeichnen konnte, und sozusagen nichts aus dem Fell auszufällen war, was in einem Gedicht bedichtet werden konnte, während ich in mir auf eine gewisse Weise mich selbst in einem Sarg aus Schweigen bestattete, und da ich nichts dichtete, am abgenutzten Schlegel meiner Zunge bereits Grünspan angesetzt hatte, als da mein Mitgefangener 115 unvermutet kam, der aber dennoch, wie ich glaube, durch schicksalhafte Bestimmung von eurer Heiligkeit zu mir gebracht worden war, und während ich mich erkundigte, wer er sei, woher er komme, oder was ihn herbringe, brach es plötzlich aus ihm über das Unglück seines Sohnes hervor, und er nannte Gründe für mein Mitleid und Euer Erbarmen, wobei bei seinem Bericht das Schluchzen kaum nachließ: Während ihm sowohl durch den Kummer in seinem Innern als auch durch den Tränenfluss der Augen die Stimme versagte und es ihm nicht gestattet war zu sprechen, zeigten

114 Die Übersetzung folgt hier Reydellets Konjektur lusus statt usus, siehe REYDELLET, II, 26 mit Anm. 79; abuti ist hier passivisch zu verstehen; lectio / ernsthafte Lektüre steht so lusus / Spiel, spielerischem Vergnügen gegenüber, das hier wohl aus stilistischen Gründen (alliterierend zu lectio) desidiae / Vergnügen ersetzt. Möglicherweise spielt lusus, wenn die Konjektur zutreffend ist, aber auch auf ein poetisches Spiel an, ein formales Experimentieren, das hier, weil es keinen vernünftigen Stoff hat, einen Missbrauch darstellt. Der Stoff wird erst durch das Eintreffen des concaptivus / des Mitgefangenen geliefert. 115 Concapitivus / Mitgefangener ist hier metaphorisch zu verstehen. Wie Venantius Fortunatus an Sprachlosigkeit leidet, leidet auch derjenige, der zu ihm kommt, an Sprachlosigkeit, bis plötzlich sein Anliegen aus ihm hervorbricht, in diesem Sinne auch REYDELLET, II, 170, Anm. 82.

98 se prodat affectu quam labio.

3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

die Tränen sogar im Schweigen den Vater;116 denn, während der Vater ängstlich nach dem richtigen Wort suchte und es nicht herausbrachte, sprach, obwohl das Organ seiner Kehle schwieg, die Pupille durch Weinen. Etwas so Großes steckt in der Liebe, dass die Natur die Oberhand gewinnt, so dass sich ein Elternteil schon vorher durch die Liebe verrät, ehe er das durch die Lippe tut.117

Die rhetorische Durchdringung ist ebenso auffällig wie das Thema: Zunächst geht es um Dichtung. Lange währende Muße hat dazu geführt, dass Venantius Fortunatus (bis auf poetische Fingerübungen) nicht mehr gedichtet hat, weil ihm ein wirkliches, der dichterischen Behandlung würdiges Thema fehlte. Mit anderen Worten: Das Talent ist durch mangelnde Praxis eingeschlafen, die mangelnde Praxis erklärt sich einerseits durch die Muße, andererseits durch mangelnde Inspiration. Beidem wird abgeholfen, als der Vater zu Venantius Fortunatus kommt und seine Hilfe für die Auslösung seines Sohnes erbittet. Damit ist nicht direkt ein Thema für die Dichtung vorgegeben (obwohl Venantius Fortunatus in den folgenden Paragraphen die stumme Klage des Vaters literarisch ausgestaltet),118 aber implizit eine Zielsetzung: Der Dichter kann mit seiner Dichtung zur Freilassung bzw. zum Loskauf eines Gefangenen beitragen. Indirekt wird aber damit auch schon die Thematik des Gedichtes vorweggenommen. Loskauf, lateinisch redemptio, steht auch für das Erlösungswerk Christi am Kreuz, das ebenfalls als Loskauf der durch die Erbsünde gefangenen Menschen verstanden wird. Dem behaupteten Einrosten des Talents steht allerdings der durchstilisierte Briefanfang entgegen und konterkariert – ähnlich wie im Brief an Martin von Braga – die aufgestellte Behauptung. Zum einen findet sich von Beginn an eine dezidiert gesuchte Wahl der Begriffe und Bilder auf der Ebene der Lexis, zum anderen eine Verwendung (auf der grammatisch-syntaktischen Ebene) zwei- und dreigliedriger Konstruktionen, die sich nach Länge und Gewicht gegen Ende des ersten Paragraphen steigern; das Bild des durch seine Tränen sprechenden Vaters im zweiten Paragraphen wird einerseits durch die Nennung einer Fülle von Details entfaltet, andererseits durch die kunstvolle Verwendung von paralleler wie chiastischer Stellung der Kola exponiert und läuft in ein antithetisches Paradoxon aus: tacente

116 Venantius Fortunatus erwähnt den Namen des Bittstellers im ganzen Brief nicht. Aus diesem langen Proöm geht hervor, dass sich ein Vater an Venantius Fortunatus wendet, damit dieser sich bei Bischof Syagrius von Autun, einem äußerst einflussreichen Bischof im Gallien des 6. Jahrhunderts, für die Freilassung seines Sohnes einsetzt. Die Einführung des Vaters als concaptivus / Mitgefangener (vgl. Anm. 129) deutet leitmotivisch schon auf den weiteren Verlauf des Briefes: Entweder ist der Sohn Gefangener des Syagrius oder dieser soll sich seinerseits für die Freilassung (indem er das nötige Lösegeld aufbringt) verwenden, vgl. WALZ, Text im Text, 62f. 117 Venantius Fortunatus, Carm., V, 6, 1, lateinischer Text nach REYDELLET, I, 26f. 118 Siehe Paragraph 2–5.

3.1.1. Venantius als Epistolograph

99

faucis organo, pupilla fletibus loquebatur / obwohl das Organ seiner Kehle schwieg, sprach die Pupille durch Weinen. 119 Man könnte diese Gestaltung als rhetorische Spielerei, als lusus auffassen, und genau dieser Begriff wird hier (wenn die Konjektur von Reydellet stimmt) verwendet. Er verweist aber nicht nur auf eine spielerische rhetorische Durchdringung, sondern auch auf poetische Kleinformen experimenteller Art: Alles, was Venantius Fortunatus in der letzten Zeit verfasst habe, so wird impliziert, waren formale Experimente, die nicht im Dienste eines würdigen Inhaltes standen. Durch die Bitte des Vaters ist der würdige Inhalt gefunden, der dann eine derartige ludistisch experimentelle Dichtungsform zu füllen vermag. Dass es formal um etwas Neues geht, belegt das Horazzitat in Paragraph 7, mit der Dichter sein Experiment gleichsam autoritativ absegnet: 7. Quid uero pro munere modicitas proferret? Cum in electione cunctarer, uenit in mentem litargico dictum Flacci Pindarici: pictoribus atque poetis quaelibet audendi semper fuit aequa potestas.

7. Was aber würde die Bescheidenheit für ein Geschenk darbringen? Als ich bei der Auswahl zögerte, kam mir in meiner Unschlüssigkeit der Ausspruch des pindarischen Horatius Flaccus in den Sinn: Es gab für Maler und Dichter, was auch immer beliebt, zu wagen gleiche Erlaubnis.120 Considerans uersiculum, si quae uult artifex Und als ich über diesen Vers nachdachte, permiscit uterque, cur, etsi non ab artifice, (fragte ich mich), wenn beide Arten von misceantur utraque, ut ordiretur una tela simul Künstlern, was sie wollen, vermischen, warum poesis et pictura? nicht, auch ohne ein Künstler zu sein, beide (Arten der Kunst) vermischt werden können, so dass in einem einzigen Gewebe zugleich Dichtung und Malerei entsteht.121

In dieser theoretischen Überlegung wird nicht eine Gattungsgrenze überschritten, sondern die zwischen verschiedenen Künsten, nämlich der Dichtung und der Malerei. Die Interpretation des Venantius zeigt, dass er sich sehr wohl bewusst ist, hier über Horaz hinauszugehen. Was folgt, ist ein Autorkommentar zu dem carmen figuratum, das Syagrius als Gegenleistung für seine Bemühungen erhält. In dieser Beziehung steht Venantius Fortunatus in der Tradition des Ausonius, der seinen experimentellen Dichtungen wie dem cento nuptialis oder dem technopaegnion Autorkommentare in Form von einem oder mehreren Begleitbriefen voranstellt. Auch bei Ausonius wird das ludistische Element explizit erwähnt, so sagt er im 119 Venantius Fortunatus, Carm., V, 6, 2. 120 Horaz, Ars poetica, Vers 9f. 121 Die Übersetzung folgt dem Text von REYDELLET, wo das non doppelt bezogen wird, einmal verneint es den ganzen indirekten Fragesatz, zum zweiten den Ausdruck ab artifice; siehe dazu REYDELLET, II, 170, Anm. 87. Die Textilmetaphorik im Begriff tela kann sowohl das Gewebe als auch den Webstuhl, bezeichnen, vgl. OLD s. v; am Ende des Abschnittes ist tela eindeutig im Sinne von Gewebe gebraucht, in ordiri / anfangen schwingt sicherlich die Tätigkeit am Webstuhl mit.

3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

100

Zusammenhang mit dem technopaegnion: ludicrum opusculum texui / ich webte ein spielerisches Werkchen122 bzw. in quibus ego, quod ad usum pertinet, lusi; quod ad molestiam laboravi. libello Technopaegnii nomen dedi, ne aut ludum laboranti aut artem crederes defuisse ludenti / dabei habe ich, was den Nutzen betrifft, gespielt, was die Mühe angeht, gearbeitet. Dem Büchlein habe ich den Namen technopaegnion gegeben, damit Du nichts glaubst, dass mir bei der Arbeit das Spiel oder beim Spiel die Kunst gefehlt habe. Anders als Ausonius jedoch stellt Venantius die experimentelle Form ganz in den Dienst einer ernsten Thematik und eines ernsten Ziels, nämlich die Befreiung eines Gefangenen zu erreichen. Anders als Ausonius parallelisiert er innerhalb des Kommentarteils seine durch die formale Strenge des carmen figuratum auferlegte Beschränkung mit der Haft des Kriegsgefangenen und lässt damit auch in der reinen Kommentierung das Leitthema durchscheinen.123 Um Anliegen und Konzeption des Briefes besser zu verstehen, muss, auch wenn hier noch keine ausführliche Analyse gegeben werden soll, das beigegebene carmen figuratum kurz betrachtet werden.124 Einen inhaltlichen Überblick kann dabei die Gliederung des Basistextes geben: c) Carmen V, 6a: Gliederung des Basistextes I. Vers 1 – 16 Vers 1 – 8 Vers 1 – 2 Vers 3 – 8 Vers 9 – 16 Vers 9 – 10 Vers 11 – 14

Schöpfung und Paradies: Vor dem Sündenfall: Erschaffung von Adam und Eva. Adam und Eva im Paradies: Der Sündenfall: Ehrenstellung der ersten Menschen als Herrscher über die gesamte Erde. Auftreten der Schlange: Sie überredet die ersten Menschen (zur Übertretung von Gottes Gebot). Vertreibung aus dem Paradies.

Vers 15 – 16 Überleitung und Scharnier: Vers 17 Der Tod als Folge des Sündenfalls für die Menschen. II. 18 – 33 Erlösung und Befreiung: Vers 18 – 24 Gott kommt in die Welt: Vers 18 – 19 Gott im Himmel. Vers 20 – 23 Charakteristik Gottes und seine Geburt in der Welt. Vers 24 – 25 Christus ist Gott und Mensch zugleich, damit er uns retten kann. Vers 25 – 28 Erlösungswerk Christi am Kreuz:

122 Ausonius, Carm., XXV, I. (an Pacatus), 7 (Seite 160 in der Ausgabe von GREEN, Oxford 1991). 123 Siehe Venantius Fortunatus, Carm., V, 6, 10. 124 Zur ausführlichen Behandlung siehe Kapitel 3. 2. 7. dieser Arbeit.

3.1.1. Venantius als Epistolograph

Vers 25 – 26 Vers 27 – 28 Überleitung: Vers 29 Vers 30 – 33 Vers 30 – 31 Vers 32 – 33

101

Anrede des Hauptes Christi als wahres Lösegeld und Leiden am Kreuz durch die arma Christi. Gefangenenbefreiung durch den Tod Christi. Erlösungswerk als Grund für Hymnen. Aufforderung an Syagrius zur Gefangenenbefreiung: Lob des Syagrius. Gefangenenbefreiung durch Syagrius.

d) Konzeption von Figurengedicht und Kommentar als Diptychon Das carmen figuratum besteht aus einem Basistext von 33 Hexametern mit je 33 Buchstaben, welche die Heilsgeschichte zum Thema haben und mit einer persönlichen Wendung an Syagrius ausklingen. 125 Warum es genau 33 Hexameter mit je 33 Buchstaben sind, erklärt Venantius im Begleitbrief: Es handelt sich um die Anzahl der Jahre, die Christus auf Erden inkarniert war.126 Anders als bei den Gittergedichten des Publilius Optatianus Porfyrius (zur Zeit Konstantins des Großen) kommt also der Anzahl der Verse eine zahlensymbolische Bedeutung zu. Einige Buchstaben innerhalb des Basistextes sind rot hervorgehoben. 127 Fügt man sie zusammen, ergeben sich wiederum komplette Verse, so genannte Intexte. Weichen diese Intexte von der normalen Leserichtung ab, so gibt Venantius Fortunatus in seinem Begleitbrief an, wie sie zu lesen sind, nämlich jeweils in absteigender Leserichtung bei Akrostichon, Mesostichon und Telestichon, von links oben nach rechts unten bei der ersten Diagonale, von rechts oben nach links unten bei der zweiten Diagonale,128 aus denen sich ein Andreaskreuz ergibt. Rubriziert waren aber wohl auch der erste, der letzte und Vers 17, dem eine Scharnierstellung zukommt, sowie der Widmungsvers an Syagrius, der in Form eines Daches das Figurengedicht bedeckt. Da die Leserichtung bei diesen Versen nicht abweicht, kommentiert Venantius Fortunatus sie auch nicht. Die Intexte wiederum stellen das Erlösungswerk Christi in den Vordergrund, sowie die Aufforderung an Syagrius, der Bitte um die Auslösung des Gefangenen zu entsprechen. 129 Dabei ergibt sich als

125 126 127 128 129

Vgl. dazu auch WALZ, Text im Text, 64f. Venantius Fortunatus, Carm., V, 6, 8 & 14. Siehe Paragraph 16. Siehe Paragraph 14. Zur Verdeutlichung hier ein kurzer Blick auf die Intexte: Augustidunensis opus tibi soluo Syagri / Ich löse Dir, Syagrius aus Autun, dieses Werk ein steht gleichsam als Dach über dem Figurengedicht. Das Akrostichon hat folgenden Intext: Da Fortunato, sacer, haec pia uota, Syagri. / Erfülle, heiliger Syagrius, Fortunatus die frommen Wünsche!; das Telestichon diesen: Cristus se misit cum nos a morte reuexit. / Christus schickte sich selbst, als uns er vom Tod erlöst / zurückgebracht hat. Der erste und der letzte Vers bilden mit Akrostichon und Telestichon einen Rahmen: Dius apex Adam ut fecit, dat somnia, donec / Als die göttliche Macht Adam geschaffen hatte, gab sie ihm Träume und ipsaue libertas uos liberat atque beabit. / und die Freiheit selbst befreit Euch und wird Euch glücklich machen. Zusammen mit Vers 17 ergibt das Mesostichon ein Kreuz: Captiuos laxans, domini meditatio fies / Wenn Du die Gefangenen auslöst, wirst Du unseren Herrn nachahmen (Mesostichon) und Hac nati morimur

102

3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

Intextfigur ein doppeltes Kreuz, ein Andreaskreuz durch die Diagonalen und ein zweites Kreuz durch Mesostichon und Mittelvers. Aber nicht nur dem mittleren Vers kommt eine Scharnierstellung zu, sondern auch dem mittleren Buchstaben. Bewusst ist das M gewählt, da es die Mitte des lateinischen Alphabets markiert (wenn man K und Z mitrechnet). Unter Zuhilfenahme von Webmetaphorik erklärt Venantius das in Paragraph 15: 15. In meditullio autem parui huius opusculi illam fiximus litteram quae inter uiginti tres numeratur per media ac tantas ante se respicit quantas et post se transilit, quia concurrentibus uersibus et diuiditur tota et manet integra res diuisa. Littera uero quae tinguitur in discendenti uersiculo et tenetur in uno et currit in altero et, ut ita dicatur, et stat pro stamine et pro trama currit in tramite, ut esse potest in pagina licia litterata.

15. In die Mitte dieses kleinen Werkes haben wir jenen Buchstaben gestellt, der zwischen den dreiundzwanzig (Buchstaben des Alphabets) die Mitte einnimmt und auf so viele Buchstaben vor sich blickt wie er (bereits) hinter sich gelassen hat, 130 weil einerseits, wenn die Verse zusammenstoßen, das Ganze geteilt wird, andererseits aber das Geteilte unversehrt bleibt. Der Buchstabe aber, der im absteigenden Vers eingefärbt ist, wird in dem einen gehalten und läuft auch in dem anderen (weiter), und er steht anstelle des Fadens an der Spindel und läuft anstelle des Einschlags 131 auf dem Weg, wie es auf einer Seite geschehen kann: Fäden aus Buchstaben.132

Über die Funktion als Autorkommentar hinaus machen Figurengedicht und Begleitbrief es Syagrius nahezu unmöglich, der Bitte des Venantius Fortunatus nicht zu entsprechen. Schon die ausführliche Schilderung der Bittgangs und der Tränen des Vaters, der jeden, wenn er nicht aus Stein ist oder von wilden Tigern abstammt (so Venantius in Paragraph 4) erweichen muss, macht es für den Bischof schwierig, sich der Bitte zu entziehen. Denselben Zweck erfüllt auch das Lob des Syagrius am Ende des Figurengedichts und seine Parallelisierung mit dem Erlösungswerk Christi, das hier als Loskauf charakterisiert wird: O regis uenale caput, quod de cruce fixit telo uoce manu malfactus uerbere felle, ac tu hac soluis captiuos sorte creator:

25

Oh, Haupt des Königs, das er zum Kauf angeboten ans Kreuz heftete, 25 der Du mit Spieß, Wort, Hand, Schlägen und Galle misshandelt wurdest, und durch dieses Geschick, Schöpfer, die Gefangenen auslöst.

damnati lege parentum / Wir sind geboren und sterben, weil wir durch das Gesetz für die Eltern verurteilt sind (Vers 17). 130 Wenn bei den Buchstaben des lateinischen Alphabets K und Z mitgerechnet werden (I und J sind wie U und V als ein Buchstabe anzusehen, W kommt nicht vor) erhält man dreiundzwanzig Buchstaben, in deren Mitte das M steht. 131 In Rückkehr zur Textilmetaphorik wird hier zwischen stamen / den Grundfäden beim Weben und trama / die zum Gewebe aufgezogenen und durch die licia für den Einschlag geöffneten Fäden und bzw. auch der Einschlag, einzuwebende Faden (vgl. OLD s. v.) differenziert. 132 Venantius Fortunatus, Carm., V, 6, & 15, lateinischer Text nach REYDELLET, II, 31.

3.1.1. Venantius als Epistolograph

sero uera data est uitalis emptio morte; ymnos unde Deo loquor absoluente reatu. At uos, aeternae suffulti laude coronae, Gallorum radii uobis quo fulgeat et nox, rumpite lora iugis et sumitis arma diei: ipsaue libertas uos liberat atque beabit.

30

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spät wurde vom waren Tod lebendiges Lösegeld geschenkt. Daher singe ich Gott Hymnen, der uns von der Sünde befreit hat. Ihr jedoch, der ihr Euch auf das Lob der ewigen Krone stützt, 30 Glanz der Gallier, dass auch die Nacht Euch erglänzet, Brecht die Riemen im Joch und nehmt die Waffen des Tages auf: und die Freiheit selbst befreit Euch und wird Euch glücklich machen.133

Um das aus konkreten Anlass generierte Ziel zu erreichen, konzipiert Venantius Fortunatus also Brief und Figurengedicht als Diptychon, eine ähnliche Verfahrensweise wie bei dem Brief an Martin von Braga, auf den ebenfalls ein Gedicht folgte. Innerhalb des Briefes kombiniert er panegyrische Elemente (besonders am Anfang) mit einer manieristischen Stilistik. Der Brief selbst dient zugleich als Begleitschreiben wie als Autorkommentar zum folgenden Figurengedicht. Mit dem Figurengedicht überschreitet Venantius Fortunatus aber nicht nur die Grenzen literarischer Gattungen, sondern die zwischen Malerei und Literatur, was den Prozess der Transgression, der bereits im Brief dadurch eingeleitet wurde, dass das Begleitschreiben sich zum Kommentar entwickelte, schließlich zur Vollendung bringt. 3.1.1.4. Zusammenfassung Venantius Fortunatus betätigt sich also innerhalb des literarisches Genos Brief im Bereich der Prosa in verschiedenen Subgattungen. Neben dem hier nicht behandelten Widmungsbrief mit proömialen Charakter,134 finden sich Prosaenkomien in Briefform, die auf Grund ihrer späteren Stellung im poetischen Korpus des Venantius Fortunatus die Funktion von Binnenpraefationes einnehmen können. Das erste Beispiel, der Brief an Martin von Braga, hat zudem den Charakter eines Begleitschreibens zum folgenden Gedicht, bzw. bildet mit diesem Gedicht ein Diptychon, das dem ursprünglichen Anliegen und Anlass des Briefes größeres Gewicht verleiht. Stellt man diesen Brief in den Kontext anderer exempla lateinischer Epistolographie, zeigt sich, dass Venantius Fortunatus, was die Verwendung von zwei bzw. dreigliedrigen Grundelementen der Komposition betrifft, ganz in der rhetorischen Tradition steht. Im Vergleich zu Sidonius Apollinaris, dessen Brief dem Venantius wohl nicht nur durch die Vermittlung des Gregor von Tours bekannt war, zeigen sich Verbindungen hinsichtlich des vielfältigten Einsatzes wie auch einer verfeinerten Elaboration der rhetorischen Mittel. Dennoch ist bei Venantius 133 Venantius Fortunatus, Carm., V, 6a, lateinischer Text nach REYDELLET, II, 171f., Verszählung nach den Versen des Basistextes. 134 Vgl. dazu Kapitel 3. 2. 1. dieser Arbeit.

104

3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

Fortunatus ein weit höherer Grad eines rhetorisch-stilistischen Manierismus konstatieren. Zudem lässt sich eine differenzierte Anpassung von Stil und Inhalts an den Adressaten beobachten. In formal-literarischer Hinsicht scheint hier sogar eine Art von aemulatio vorzuliegen. Damit geht er aber sogar über Sidonius Apollinaris hinaus, indem er nicht nur in besonders ausgefeilter Weise seinen Adressaten anschreibt, sondern implizit mit ihm in einen literarischen Wettstreit tritt und damit dem traditionellen Charakter eines Briefes als Gespräch mit einem Abwesenden eine andere Nuance verleiht, nämlich die eines impliziten literarischen Wettstreits mit einem Abwesenden. Den ausgefeilten Sentenzen des Martin von Braga setzt er noch ausgefeiltere Vergleiche und Bilder entgegen. Überschreitet der Brief an Martin von Braga durch die Diptychonfunktion die Grenzen zwischen Prosaenkomion und Begleitbrief, liegt im Brief an Bischof Syagrius von Autun tatsächlich ein Multifunktionsbrief vor. Einerseits handelt es sich um ein Begleitschreiben zu einem Gedicht, das mit einem Autorkommentar verbunden wird, andererseits sind Brief und das damit verbundene Figurengedicht dem konkreten Ziel, die Freilassung eines Gefangenen zu erreichen, gewidmet, und machen es dem Empfänger praktisch unmöglich, sich dafür nicht zu verwenden. Dichtungstheoretisch werden „moderne“ experimentelle Dichtungsformen mit einem würdigen Inhalt verbunden, nämlich der Heilsgeschichte, deren Darstellung in Verbindung mit dem Lob des Adressaten ganz konkret zur Auslösung eines Kriegsgefangenen führen kann. Venantius Fortunatus versucht hier also nicht nur innerhalb der Epistolographie mit Hilfe einer manieristischen rhetorischen Durchdringung Vorgängertexte zu übertreffen, sondern durch die Vereinigung verschiedener Elemente die Grenzen der Gattung zu transgredieren. So wird im Brief an Martin von Braga der Adressat panegyrisch gebührend hervorgehoben, gleichzeitig aber auch literaturtheoretischen Überlegungen Platz gegeben, wobei Venantius Fortunatus mit Martin auf einer bestimmten Ebene in eine literarische aemulatio tritt. Im zweiten Beispiel, dem Brief an Syagrius von Autun, wird der Begleitbrief zum Autorkommentar und bildet mit dem carmen figuratum, das er begleitet zugleich eine Einheit, die mit poetischen Mitteln ein ganz konkretes Ziel erreichen will und es wohl auch erreicht hat. Gerade in derartigen kunstvollen Kombinationen von literarischen Genera im Hinblick auf konkrete Zielsetzungen beschreitet Venantius Fortunatus neue Wege, so dass die selbstironische Stilisierung als novus Orpheus in der Gesamtpraefatio, wenn man sein epistolographisches Oeuvre allein betrachtet, nicht ganz unberechtigt zu sein scheint.

3.1.2. Venantius Fortunatus als Biograph 3.1.2.1. Die Proömien der Heiligenviten a) Das Proöm der Vita sanctae Radegundis Redemptoris nostri tantum dives est largitas, ut in sexu muliebri celebret fortes victorias et corpore fragiliores ipsas reddat feminas virtute mentis inclitae gloriosas. Quas habentes nascendo mollitiem facit Christus robustas ex fide, ut quae videntur imbecilles, dum coronantur ex meritis, a quo efficiuntur laudem sui cumulent creatoris, habendo in vasis fictilibus thesauros caeli reconditos: in quarum visceribus cum suis divitiis ipse rex habitator est Christus.

Die Freigebigkeit unseres Erlösers ist so reich, dass er im weiblichen Geschlecht tapfere Siege feiert und Frauen, die körperlich zerbrechlicher sind, durch die tugendhafte Kraft einer ruhmreichen Gesinnung berühmt macht. Und die, welche von Geburt aus Zartheit besitzen, macht Christus stark aus dem Glauben, so dass die, welche schwach scheinen, während sie wegen ihrer Verdienste gekrönt werden, das Lob ihres Schöpfers, von dem sie geschaffen werden, aufhäufen und in irdenen Gefäßen die Schätze des Himmels verborgen haben: In ihrem Inneren ist mit seinem Reichtum Christus, der König, selbst der Bewohner.

So beginnt die Vita sanctae Radegundis1 des Venantius Fortunatus, die er nach ihrem Tod auf die Klostergründerin verfasste. Innerhalb seines Prosawerkes nehmen die Viten schon vom Umfang her eine exponierte Stellung ein, innerhalb der Viten sticht in besonderer Weise die der Radegunde hervor,2 nicht nur auf Grund der persönlichen Beziehung zwischen Venantius Fortunatus und Radegunde (auch die Vita sancti Germani handelt von einem Bischof, dem Venantius persönlich verbunden war), sondern weil es seine einzige Vita über eine Frau ist.3 Dass dies 1 2

3

Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, [I], 1, lateinischer Text nach KRUSCH, MGH, AA, IV, 2, 38. Zur Entwicklung der Gattung Biographie in Spätantike und Frühmittelalter siehe W. BERSCHIN, Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter. I. Von der Passio Perpetuae zu den Dialogen Gregors des Großen, Stuttgart 1986, zu den Viten des Venatius Fortunatus dort, 277–288. Speziell zur Vita sanctae Radegundis: Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis / Das Leben der heiligen Radegunde, lat. & dt. hrsg. von G. HUBER-REBENICH Stuttgart 2008. Zum Proöm im Vergleich mit der Vita des Baudonivia und Hildebert de Lacardin vgl. F. PEJENAUTE RUBIO, El prólogo de Venancio Fortunato a la „Vita de Santa Radegunda“ frente a los de Baudonivia y Hildeberto de Lavardin, Minerva 18 (2005), 171–186. Vgl. zur hagiographischen Literatur speziell unter dem Aspekt der Bildung P. GEMEINHARDT, Das lateinische Christentum und die antike pagane Bildung (Studien und Texte zu Antike und Christentum 41), Tübingen 2007, 244–306. Radegunde ist keine Märtyrerin, und bis auf wenige Pilgerbiographien von Frauen der Spätantike (vgl. dazu BERSCHIN, Biographie und Epochenstil, I, 156–160), handelt es sich beim überwiegenden Teil der lateinischen Viten vor Venantius Fortunatus um die von Männern, vor allem von Bischöfen, Äbten und Reklusen; so gibt es auch im gesamten achten Buch der Miracula des Gregor von Tours keine Lebensbeschreibung einer Frau. Zur historischen Rade-

106

3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

einer besonderen Begründung bedurfte, zeigt schon der Anfang des oben zitierten Proöms. Dabei rekurriert Venantius Fortunatus auf die Vorstellung vom schwachen Geschlecht, wenn er von der körperlichen Zerbrechlichkeit (corpore fragiliores / die körperlich zerbrechlicher sind) und der natürlichen Zartheit des weiblichen Geschlechts (habentes nascendo mollitiem / welche von Geburt aus Zartheit besitzen) und schließlich von seiner Schwäche (imbecilles videntur / die schwach scheinen) spricht. Dieser Vorstellung werden antithetisch Begriffe wie fortes victorias / tapfere Siege und die Stärke im Glauben (facit Christus robustas ex fide / macht Christus stark aus dem Glauben) entgegengesetzt. Die Paradoxie löst sich durch den Glauben (ex fide) bzw. durch die tugendhafte Kraft4 der ruhmreichen Gesinnung (virtute mentis inclitae) auf: Denn durch diesen Glauben an Christus wird aus dem schwachen Geschlecht ein starkes und erwirbt sich in irdenen Gefäßen / in vasis fictilibus die Schätze des Himmels / thesauros caeli. Und in dieser Umkehrung des Erwarteten zeigt sich eben die Freigebigkeit des Erlösers / Redemptoris...largitas, die Venantius Fortunatus programmatisch als Begründung an den Anfang stellt. Dieser rhetorisch überhöhten allgemeinen Feststellung folgt ein weiterer allgemeiner Gedanke: Quae mortificantes se saeculo, despecto terrae consortio, defecato mundi contagio, non confidentes in lubrico, non stantes in lapsu, quaerentes vivere deo, ad gloriam redemptoris sunt copulatae paradiso. In quo est pariter numero illa cuius vitae praesentis cursum licet tam privato sermone ferre temptamus in publico, ut cuius est vita cum Christo memoria gloriae relicta celebretur in mundo.

Und diese töten sich in der irdischen Welt nach Verachtung der Gemeinschaft auf Erden, nach Reinigung von der Berührung mit der Welt, vertrauen nicht auf das Vergängliche, verweilen nicht auf dem schlüpfrigen Boden der Sünde, sondern streben danach, in Gott zu leben, und sind deshalb zum Ruhm des Erlösers (mit ihm) im Paradies verbunden. Unter ihnen ist jene, deren Lebenslauf auf Erden wir – mag er auch im privaten Ton gehalten sein – in die Öffentlichkeit zu bringen versuchen, damit die Erinnerung an den Ruhm derer, die ihr Leben (nun) mit Christus zusammen verbringt, (hier) zurückgelassen und in der Welt gefeiert wird.5

Noch wird der Name der Heiligen nicht genannt. Bisher ist nur von einer bestimmten Gruppe von Frauen die Rede, in welche die Heilige eingeordnet wird. Diese Gruppe wird zunächst in sechs Partizipialkonstruktionen charakterisiert, die

4

5

gunde vgl. jetzt auch A. FÖßEL, Herrscherin-Regentin-Klosterfrau-Heilige. Schicksale merowinigscher Königinnen zwischen Macht und Ohnmacht, in: H. EIDAM & G. NOLL (Hrsg.), Radegunde. Ein Frauenschicksal zwischen Mord und Askese, Ausstellungskatalog Erfurt 2006, 56–63 sowie R. FAVREAU, Radegunde in Poitiers, ebenda, 64–78. Der Begriff virtus kann sowohl die sittliche Tugend als die Kraft oder Wunderkraft bezeichnen, vgl. OLD s. v. Da für einen spätantiken Rezipienten wohl beides mitschwingt, ist hier die Übersetzung tugendhafte Kraft gewählt. Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, [I] 2, lateinischer Text nach KRUSCH, MGH, AA, IV, 2, 38.

3.1.2. Venantius als Biograph

107

jeweils nach einem zweigliedrigen Kompositionsschema geordnet sind: Das Mittelstück bilden die beiden jeweils parallel aufgebauten Ablativi absoluti despecto terrae consortio / nach Verachtung der Gemeinschaft auf Erden und defecato mundi contagio / nach Reinigung von der Berührung mit der Welt sowie die beiden Participia coniuncta non confidentes in lubrico / vertrauen nicht auf das Vergängliche und non stantes in lapsu / verweilen nicht auf dem schlüpfrigen Boden der Sünde; dieses Mittelstück wird wiederum von zwei Participia coniuncta umschlossen, die antithetisch mit den Begriffen Tod und Leben operieren (mortificantes se saeculo / töten sich in der irdischen Welt und quaerentes vivere deo / streben danach, in Gott zu leben). In dieser Antithese verbirgt sich der paradoxe Gedanke, sich selbst zu töten, um das Leben zu erlangen. Dass die Selbsttötung nicht im Sinne von Selbstmord zu verstehen ist, sondern in einem Rückzug von der Welt und weltlichen Angelegenheiten machen die beiden Ablativi absoluti (die erste Hälfte des Mittelstückes) deutlich. Sie sind vorzeitig, gehen also den beiden folgenden Participia coniuncta voraus und bilden somit gleichsam die condicio, sine qua non, die notwendige Voraussetzung für das sündenfreie Leben, von dem dort die Rede ist und das die letzte Partizipialkonstruktion (quaerentes vivere deo / streben danach, in Gott zu leben) inhaltlich füllt. Der Rest des Satzes formuliert den Lohn für diese Lebensweise, nämlich die Verbindung (mit dem Erlöser) im Paradies. Dabei ist auch hier die Gleichzeitigkeit zu beachten: Die Betreffenden befinden sich infolge ihrer Sündlosigkeit bereits im Paradies, genau wie Christus bereits in ihrem Inneren Wohnung bezogen hat.6 Doch war zuvor nur ganz allgemein von der Stärke des schwachen Geschlechts, die aus dem ex fide / aus dem Glauben herrührt, gesprochen worden, wird hier eindeutig auf eine klösterliche Lebensweise angespielt, in der sich dies alles vollzieht. Oder anders ausgedrückt: Bevor der Name der Radegunde überhaupt genannt wird, wird sie bereits mit einer klösterlichen Lebensweise in Verbindung gebracht. Das Proöm selbst scheint bereits in einen Argumentationszusammenhang eingeordnet, an dessen Ende etwas bewiesen werden soll. Nun dienen Heiligenviten zumeist der kompletten oder abschnittsweisen lectio beim jeweiligen Heiligenfest oder bei monastischen Gemeinschaften der Lektüre durch die Mitglieder dieser Gemeinschaft. Die durch die Vita perpetuierte memoria an den Heiligen hat für den jeweiligen Kult bzw. die Gemeinschaft auch stets eine identitätsfördernde und stabilisierende Funktion. Heiligenviten können aber auch erst der Etablierung eines Heiligenkultes dienen und sind dann in der Regel an ein weiteres Publikum gerichtet. Aufschluss über die Funktion einer Vita liefern häufig die Proömien, die entweder mit der Vita verbunden oder in Form eines Widmungsbriefes vorgeschaltet sind. Ehe die Vita sanctae Radegundis hier also einer genaueren Analyse unterzogen wird, scheint es sinnvoll, nach ein paar allgemeinen Bemerkungen, dem Proöm dieser Vita zunächst andere fortunatische Vitenproömien gegenüberzustellen, um so einige grundsätzliche Charakteristika seines biographischen Oeuvres herauszuarbeiten.

6

Siehe Paragraph 1 Ende: in quarum visceribus cum suis divitiis ipse rex habitator est Christus. / In ihrem Innern ist mit seinem Reichtum Christus, der König, selbst der Bewohner.

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3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

Anders als bei der paganen Biographie sind bei ihm die Protagonisten nicht bedeutende Staatsmänner, Philosophen, Dichter oder Kaiser, aber auch nicht wie in den Anfängen christlicher Hagiographie Märtyrer oder Eremiten. 7 Die von Venantius Fortunatus verfassten und auch die ihm nicht sicher zugeschriebenen Viten sind bis auf eine Ausnahme Bischofsviten. Diese Ausnahme bildet die genannte Vita sanctae Radegundis. Begründer der Bischofsvita im lateinischen Bereich ist Sulpicius Severus,8 dessen Martinsvita Venantius Fortunatus im Auftrag von Gregor von Tours später als Grundlage für seine hexametrische Dichtung verwendet. Nachdem bedeutende Kirchenväter wie Ambrosius und Augustin einer Vita gewürdigt worden waren, entwickelte sich eine rhetorisch durchgestaltete Tradition in Südgallien, deren exponierte Beispiele die Viten des Honoratus, Hilarius und Caesarius von Arles darstellen.9 Für das sechste nachchristliche Jahrhundert sind vor dem biographischen Werk des Venantius Fortunatus Reihenbiographien wie der (unter gotischer Herrschaft begonnene und dann bis zur Renaissance stetig ergänzte) Liber pontificalis zu nennen, die de facto die Aufgaben der Historiographie übernehmen.10 Wie bei den Caesarenviten des Sueton liegt auch hier ein festes Gliederungsschema zugrunde. Sind es bei Sueton Name, Herkunft und Abstammung, Geburt, Erziehung bis Anlegen der toga virilis, Beginn der Laufbahn, Taten im Krieg, Privatleben, Prodigien vor dem Tod, Tod und Testament, enthält jede Papstvita des Liber pontificalis „Name (1), Herkunft (2), Abstammung (3), Regierungszeit (4), Datierung nach Kaisern und Konsuln (5), Erlasse (6), Stiftungen, Bauten (7), Ordina-

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Die erste Mönchvita, die Vita Antonii des Athanasius, bildet auch einen Ausgangspunkt für die Abfassung ähnlicher Werke im Westen, wobei die lateinischen Übersetzungen bzw. Bearbeitungen der Vita Antonii durch Evagrius und Hieronymus am Anfang stehen, vgl. dazu auch GEMEINHARDT, Das lateinische Christentum und die antike pagane Bildung, 254–262. Zu den Anfängen der Bischofsviten im lateinischen Bereich siehe W. BERSCHIN, Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter. I. Von der Passio Perpetuae zu den Dialogi Gregors des Großen, Stuttgart 1986, 193–266, speziell zu Sulpicius Severus, 195–211. Ausführlich C. STANCLIFFE, St. Martin and his Hagiographer. History and Miracle in Sulpicius Severus, Oxford 1983. Siehe dazu ausführlich BERSCHIN, Biographie und Epochenstil, I, 241–258. Zu der von F. LOTTER, Methodisches zur Gewinnung historischer Erkenntnisse aus hagiographischen Quellen, in: HZ 229 (1979), 298–356, hier 309–312, vorgeschlagenen Unterscheidung zwischen „aretalogisch-hagiographischen Viten“, die an ein eher wenig gebildetes Publikum gerichtet seien, und „rhetorisch-idealisierenden Biographien“, die ein gebildetes Publikum voraussetzten, siehe GEMEINHARDT, Das lateinische Christentum und die antike pagane Bildung, 249, wo er auf die zahlreichen Mischformen hinweist. Auch bei Venantius Fortunatus gestaltet sich das Problem nicht so einfach, da sich zwischen den Proömien und der eigentlichen Vita deutliche Unterschiede im Stil zeigen, andererseits der eigentliche Vitentext, auch wenn er in schlichterer Sprache gehalten ist, durchaus rhetorisch durchdrungen ist. Vgl. BERSCHIN, Biographie und Epochenstil, I, 269: „Mit Tacitus († 120) bricht die annalistisch arbeitende römische Historiographie ab. An die Stelle des annalistischen tritt das biographische Prinzip. Man kann mit Friedrich Leo füglich bezweifeln, dass Sueton seine Kaiserbiographien von Caesar bis Domitian in der Absicht schrieb, ‚der Geschichtsschreibung eine andere Form zu geben’...; de facto freilich haben seine Vitae Caesarum so gewirkt.“

3.1.2. Venantius als Biograph

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tionen (8), Tod und Begräbnis (9), Sedisvakanz (10),“11 die in den frühen Beispielen nur kurz Punkt für Punkt abgehandelt wurden, sich in den Beispielen ab der Mitte des sechsten Jahrhundert und dann wieder ab dem achten Jahrhundert, wo dem Werk ein fingierter Briefwechsel zwischen Hieronymus und Damasus vorgeschaltet wurde, (vor allem in der Vita Agapiti, Vita Silverii, Vita Vigilii und der Vita Pelagii) deutlich ausgestaltet präsentieren.12 Dass es Venantius Fortunatus um mehr geht, als um das Festhalten bestimmter Daten, die sich in ein spezifisches kategoriales Schema fügen lassen, zeigt schon das oben analysierte elaborierte Proöm zur Vita sanctae Radegundis,13 dass er den Eindruck hat, mit seinen Prosaviten, in einer gewissen Weise Neuland zu betreten, zeigen die impliziten literaturtheoretischen Äußerungen in der Vita Sancti Albini, die wahrscheinlich die älteste oder zumindest zweitälteste seiner Prosaviten darstellt.14 b) Das Proöm der Vita sancti Albini In diesem Falle besteht das Proöm aus einem Brief des Venantius Fortunatus an den Bischof Domitianus von Angers, der die Vita in Auftrag gegeben hat. Gleich im Anschluss an die salutatio kommt er auf seinen Besuch in Angers zu sprechen, bei dem der Gedanke zur Abfassung der Vita sancti Albini zum ersten Mal geäußert wurde: Memini, vir apostolice, cum ad urbem quam Christo praesule regitis vestris praesentandus obtutibus occurrissem, inter reliqua maturitatis consulta, quae sensus vester torrentis more mihi visus est inundare etiam de sacratissimo viro Albino vestro antestite vos fecisse tenuiter mentionem, ut eius vita, quae inmarcescibilius meritis florere probatur caelestibus inpressa libellis ad aedificationem plebis humanis etiam fixa conderetur in chartis: duplici beneficio populis consulitura, dum et in illo cernerent

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Ich erinnere mich, Bischof, dass Ihr, als ich in die Stadt kam, welche Ihr unter Christi Leitung regiert, um mich Euch vorzustellen, mir unter den anderen Ratschlägen des Alters, von denen Euer Sinn mir nach Art eines Gebirgsbaches überzuströmen schien, über den hochheiligen Albinus, Euren Vorgänger, leichthin die Bemerkung gemacht habt, dass sein Leben, von dem es sicher ist, dass es durch unverwelkliche Verdienste eingeschrieben in den himmlischen Büchern in Blüte steht, zur Erbauung des Volkes

Kategorien des Liber pontificalis bei BERSCHIN, Biographie und Epochenstil, I, 271f. Speziell zur Kategorie der Bautätigkeit der Päpste im Liber pontificalis siehe die Monographie von H. GEERTMANN, Edifici ecclesiastici, Groningen 1975. Zu den suetonischen Kategorien und der frühen Hagiographie vgl. auch G. LUCK, Die Form der suetonischen Biographie und die frühen Heiligenviten, in: Festschrift T. KLAUSER, Münster 1964, 230–241. Vgl. dazu BERSCHIN, Biographie und Epochenstil, I, 273–276. Interessanterweise wird das rein schematische Ausfüllen von Kategorien gerade im sechsten Jahrhundert durch eine episodenhaft szenische Erzählweise erweitert, wie sie sich später auch in den Viten den Venantius Fortunatus findet. Vgl. dazu die entsprechenden Abschnitte zu Beginn dieses Kapitels. Siehe dazu BERSCHIN, Biographie und Epochenstil, I, 279, zu den Prosaviten des Venantius Fortunatus allgemein dort 277–287. Vgl. auch W. FELS, Studien zu Venantius Fortunatus, Diss. Heidelberg 2006, 41–49, wo allerdings von einem Primat der Vita sancti Hilarii ausgegangen wird.

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3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

admiranda, quae colerent et in se respicerent quod unusquisque sagaciter emendaret, id est dum apud unum tot praedicanda cognoscerent, apud se resecare vitia singuli non different, quatenus tam unica beati viri relatio medella publica fieret audientium.

auch auf von Menschen verfassten Seiten fixiert sein solle: In doppelter Hinsicht werde es dem Volk zum Wohl gereichen, da es bei jenem Bewundernswertes sehe, was es verehren solle, und auch bei sich selbst erblicke, was ein jeder klug verbessern solle, das bedeute, jeder einzelne werde nicht zögern, da er bei einem einzigen (Mann) soviel Rühmenswertes erkenne, bei sich selbst die Fehler auszumerzen, so dass der Bericht über einen einzigen heiligen Mann öffentliche Medizin für die Zuhörer werde.15

Die Funktion der Vita beschränkt sich also keineswegs auf die Propagierung oder Intensivierung eines Heiligenkultes, sie soll zugleich durch das exemplum des von unverwelklichen Verdiensten blühenden Lebens zur sittlichen Besserung des Volkes führen.16 Die sittliche Besserung erfolgt radikal, wie das Verbum resecare / abschneiden, ausmerzen signalisiert, denn wenn soviel Rühmenswertes bei einem einzigen Mann möglich ist, können wohl vom Einzelnen die jeweils individuellen Fehler radikal ausgemerzt werden. So wird allein schon die Betrachtung des Exempels, worin sich ein weit tugendhafteren Lebens, als es ein Einzelner zu führen für möglich hält, manifestiert, zu Medizin und durch seine Verbreitung zur öffentlichen Medizin. Dass Venantius Fortunatus von einer medella publica...audientium spricht, also eine Zuhörerschaft erwähnt, deutet im Übrigen auf eine Rezeption der Vita im Rahmen einer lectio hin. Die Argumentation ist damit aber nicht abgeschlossen. Im Folgenden wird der Aspekt der memoria deutlich herausgestrichen: Intellegitis sane velociter fugientes a saeculo memoriae subripi, et si de vita sanctissimi neglegantur aliqua cito lapsura litteris alligari, non facile rursus in animum recipi, quod semel inceperit oblivione temporis invadente subduci.

Ihr versteht genau, dass diejenigen, die aus der Welt scheiden, rasch der Erinnerung entrissen werden, und wenn es versäumt wird, irgendetwas, was doch so schnell entgleitet, schriftlich festzuhalten, geschieht es nicht leicht, dass wiederum im Geiste aufgenommen wird, was einmal begonnen hat zu schwinden, weil das Vergessen der Zeit seinen Einzug hält.17

Der Gedanke einer literarisch tradierten memoria,18 schon in paganen Zeiten ein Mittel, um ein gewisses Weiterleben nach dem Tode zu sichern,19 wird hier nicht 15 16 17 18

Lateinischer Text nach Venantius Fortunatus, Vita sancti Albini, I Ende (1 Ende) 27, Z. 31–28, Z. 7 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. Vgl. dazu auch BERSCHIN, Biographie und Epochenstil, I, 279. Lateinischer Text nach Venantius Fortunatus, Vita sancti Albini, II Anfang (2), 28, Z. 8–10 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. Einen allgmeinen Überblick über den Bereich der modernen Gedächtnisforschung gibt jetzt auch A. ASSMANN, Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen Fragestellungen (Grundlagen der Anglistik und Amerikanistik 27), Berlin 2006, 179–204. Ausführli-

3.1.2. Venantius als Biograph

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auf den Autor, sondern auf den Gegenstand seines Werkes, den Heiligen, bezogen. Stellt sich Venantius Fortunatus so in die Tradition einer Exempla-Literatur, ergibt sich für deren Umsetzung dennoch ein Problem, auf das er hier zu sprechen kommt: Denn dem zuvor genannten doppelten Nutzen arbeitet die Zeit entgegen, die oblivio / Vergessen mit sich bringt. Während Domitian dem zusätzlichen Problem, dass Venantius Fortunatus keinerlei persönliche Beziehung oder Kenntnis des Heiligen besitzt, dadurch begegnet, dass er seine Bitte um Abfassung der Vita von einem Zeitzeugen überbringen lässt,20 wird durch die Äußerungen dieses Gewährsmanns das Problem von memoria und oblivio zusätzlich exponiert: Illud vero adieciens, ut quae ipse de gestis sancti viri Albini iuxta fidem compererat eo insinuante indubitabiliter propalarem, in hoc se magis querimoniarum mole conficiens, eo quod quae praedictus vir occulte quidem sed digna relatu gesserat per veritatis indaginem nec ad ea singula meruerit pervenire et aliqua se de

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Dies aber fügte er hinzu, dass ich das, was er selbst zuverlässig von den Taten des heiligen Albinus erfahren hatte, auf seinen Bericht hin ohne jeden Zweifel bekannt machen könne, und erhob eher eine Fülle von Klagen darüber, dass er das, was der oben genannte Mann heimlich aber dennoch erwähnenswert vollbracht hatte, in

cher A. ERLL, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Stuttgart 2005; M. HALBWACHS, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt a. M. 1985; A. MARGALIT, The Ethics of Memory, Cambridge, Massachusetts 2003; N. PETHES & J. RUCHAZ (Hrsg.), Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdiziplinäres Lexikon, Reinbek 2001; H. WEINRICH, Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens, München 1998. Der Gedanke, die Erinnerung an das Leben möglichst lange zu erhalten (und damit eine gewisse Art von Unsterblichkeit zu erlangen), erscheint in Verbindung mit dem Ruhmgedanken schon klassisch formuliert bei SALLUST, Catilinae coniuratio, 1, 1–4 (lat. Text nach der Edition von KURFESS, Leipzip 1981, 2, Z. 1–11): Omnes homines, qui sese student praestare ceteris animalibus, summa ope niti decet, ne vitam silentio transeant veluti pecora, quae natura prona atque ventri oboedientia finxit. sed nostra omnis vis in animo et corpore sita est: animi imperio, corporis servitio magis utimur; alterum nobis cum dis, alterum cum beluis commune est. quo mihi rectius videtur ingeni quam virium opibus gloriam quaerere et, quoniam vita ipsa, qua fruimur, brevis est, memoriam nostri quam maxume longam efficere. nam divitiarum et formae gloria fluxa atque fragilis est, virtus clara aeternaque habetur. / Allen Menschen, die sich bemühen, die übrigen Lebewesen zu übertreffen, steht es gut an, mit höchster Kraft danach zu streben, dass sie ihr Leben nicht in Stillschweigen verbringen wie das Vieh, das die Natur gebeugt und seinem Magen gegenüber gehorsam geschaffen hat. Aber unsere gesamte Kraft liegt in Geist und Körper: Wir nützen den Geist zum Herrschen, den Körper mehr zum Dienen, das eine ist uns mit den Göttern, das andere mit den Tieren gemein. Daher scheint es mir um so richtiger, mit den Kräften des Ingeniums eher als mit denen des Körpers Ruhm zu erstreben und, weil das Leben selbst, welches wir genießen, kurz ist, eine möglichst lange währende Erinnerung an uns zu schaffen. Denn der Ruhm von Reichtum und Schönheit ist flüchtig und zerbrechlich, die Tugend wird für berühmt und ewig erachtet. Der Gedanke des eigenen Nachlebens durch den literarischen Ruhm wird hier erstmals in einem vollständig erhaltenen lateinischen Prosawerk greifbar, in der Dichtung ist er häufig anzutreffen, man vergleiche nur Horaz, Oden, III, 30, 1: Exegi monumentum aere perennius / Ich habe ein Monument geschaffen, das dauerhafter ist als Erz. Der Gegengedanke, in einer Vita gerade nicht dem eigenen Ruhm, sondern den des Heiligen zu dienen, findet sich schon bei Sulpicius Severus, Vita Martini, 1, 1–5. Siehe dazu GEMEINHARDT, Das lateinische Christentum und die antike pagane Bildung, 267f. Venantius Fortunatus, Vita sancti Albini, II (3 Anfang), 28, Z. 10–12 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2.

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3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

cognitis memoraret a memoria abolevisse. (4) In his autem qui meminit sine ambiguitate suo testimonio populum nobis attulit assentantem, cum certe de eius praeteritis dubitare non liceat qui operatur in singulis cotidie clariora.

seinem Forschen nach der Wahrheit nicht bis ins Einzelne herausfinden konnte und dass er sich erinnere, Dinge vergessen zu haben, die ihm einst bekannt waren. (4) Bei dem allerdings, woran er sich erinnerte, brachte er uns das Volk bei, das seinem Zeugnis ohne Zweifel in allem Recht gebe, da es sicher nicht möglich ist, an der vergangenen Taten dessen zu zweifeln, der täglich an einzelnen noch Glänzenderes bewirke.21

Selbst der Zeitzeuge ist also nicht gegen die oblivio / das Vergessen gefeit. Bemerkenswert ist auch, dass es Venantius Fortunatus offenbar für nötig hält, sich ausführlich mit der Beglaubigung dessen, was berichtet wird, auseinanderzusetzen. Wie in der Historiographie tritt als Quelle neben Bericht des Zeugen (quod ipse ... iuxta fidem conpererat / was er selbst ... zuverlässig erfahren hatte) die Nachforschung / indago nach der Wahrheit / veritatis, was der Grundbedeutung des griechischen Wortes i(stori/a entspricht. Allerdings liegt hier eine kunstvolle Variation mit Einschaltung einer weiteren Ebene vor: Zwar hört Venantius Fortunatus den Bericht des Zeugen (wenig später als relator bezeichnet)22 persönlich, dieser hat aber durch seine Nachforschungen sich seinerseits als Historiker betätigt. Durch diese weitere Ebene wird eine Doppelung erreicht, in der sich sowohl der Autor der Vita, nämlich Venantius Fortunatus, durch Zeugenbefragung historisch betätigen, als auch sein Zeuge durch dessen zuvor erfolgte Nachforschungen. Stellt sich Venantius Fortunatus so literarisch in die Tradition der Historiographie, geht er zugleich darüber hinaus, denn für das, was sein Gewährsmann bezeugen kann, wird zur Bestätigung ein weit gewichtigerer Zeuge benannt, das Volk, das die Wunder bestätigen kann, die täglich (am Grabe des Heiligen) geschehen. Der Gedanke, der dahinter steht und nur verkürzt wiedergegeben wird, ist der von der Gnade Gottes, die diese Wunder möglich macht und damit beweist, dass der Heilige, an dessen Grab die Wunder geschehen, schon zu Lebzeiten besonderer Gnade teilhaftig war. Letztlich wird damit Gott zum Zeugen dieses Berichts. Zugleich wird durch Einführung dieses denkbar gewichtigsten Zeugen die Vita einem bloßen historiographischen Bericht übergeordnet. Außerdem löst sich das Problem, dass Venantius Fortunatus selbst nur einen einzigen Gewährsmann für seine Vita hat. Hat es Venantius Fortunatus bisher für nötig erachtet, diese Vita gattungsmäßig einzuordnen und dem Problem der Beglaubigung verhältnismäßig weiten Raum zu geben, setzt er sich nun, ebenfalls verhältnismäßig ausführlich, nach einem Lob seines Gewährsmanns, das er aber vor allem dessen Lehrer Domitianus zuschreibt,23 mit seinen eigenen literarischen Fähigkeiten auseinander, die er in einer gewissen Bescheidenheitstopik darstellt: 21 22 23

Lateinischer Text nach Venantius Fortunatus, Vita sancti Albini, II (3 Ende–4), 28, Z. 12–19 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. Venantius Fortunatus, Vita sancti Albini, III (5 Anfang), 28, Z. 20 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. Venantius Fortunatus, Vita sancti Albini, III (5), 28, Z. 20–24 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2.

3.1.2. Venantius als Biograph

Quod cum ego meae exiguitatis conscius attingere trepidarem, re vera qui noverim hoc debere committi exertis ingenio, facundis eloquio, devotis officio, probatis stilo, qui sunt sensu divites, linguae rota torrentes, famulatu celeres, carmine coruscantes, cum ante vestram peritiam ipsa Ciceronis ut suspicior eloquia currerent vix secura, et cui apud Caesarem Roma aliquid deliberans Aquitanico iudice forsitan Galliam formidaret, incongruum esse persensi | quod a me infra doctorum vestigia latitante res alta requireretur, quem ad scribendi seriem nec natura profluum nec litteratura facundum nec ipse usquequaque usus reddit expeditum, cum etsi voto traherer, rei magnitudine deterrerer, quia radiantem vitam si pigri relatoris impar lingua praedicat obsoletat et quod illuminare debuit hoc nube sermonis abscondit, ubi ageretur rectius, si quae ab aliis poscitis ipse ederetis.

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Als ich aber – eingedenk meiner geringen literarischen Fähigkeiten – zitternd davor zurückschreckte, mich an diesen Stoff zu machen, da ich ja wusste, dass dies in Wahrheit Leuten überantwortet werden musste, die herausragen durch ihr Ingenium, gewandt in der Rede, gewissenhaft der Pflichterfüllung und erprobt im Stil sind, welche in den Gedanken originell, im Fluss der Sprache überströmend, in ihrer Dienstbarkeit rasch und im Lied glänzend sind, da, wie ich vermute, im Wettlauf mit Eurer Kenntnis die Beredsamkeit Ciceros kaum sicher abschnitte, fühlte ich deutlich, dass ich auch Caesar nicht gewachsen bin, vor dem sich Rom, wenn es irgend etwas überlegte, – nach dem Urteil des Aquitaners 24 – möglicherweise wegen des (Schicksals) Galliens fürchtete | weil von mir, der ich unterhalb der Fußspuren gelehrter Männer verborgen bin, eine erhabene Sache verlangt wurde, von mir, den zur schriftlichen Darstellung weder die Natur mit flüssiger Sprache noch die Literatur mit gewandter Rede noch die Praxis selbst allenthalben gerüstet hat, da ich, obwohl ich durch mein feierliches Versprechen dazu getrieben wurde, vor der Größe der Sache zurückschreckte, weil die unangemessene Sprache eines langweiligen Berichterstatters, wenn sie ein strahlendes Leben rühmt, es unscheinbar macht und das, was sie erleuchten müsste, unter der Wolke ihrer Sprache verbirgt, wo es doch richtiger wäre, wenn Ihr das, was Ihr von anderen verlangt, selbst herausgäbet.25

Auch wenn der Geburtsort Calagurris Quintilians nicht in Aquitanien, sondern im Baskenland am Ebro auf spanischer Seite liegt, ist wohl er mit dem Aquitaner gemeint. (Zur Zeit des Venantius Fortunatus gehörte Spanien und das Baskenland zum Gotenreich, wahrscheinlich wird der große Rhetoriklehrer deshalb noch für Gallien vereinnahmt). Es liegt hier wohl eine Anspielung auf das Urteil des Quintilians über Caesar vor. Siehe Quintilian, Institutio oratoria, X, 1, 114: C. vero Caesar si foro tantum vacasset, non alius ex nostris contra Ciceronem nominaretur... / Wenn Gaius Caesar nur für das Forum frei gewesen wäre, würde kein anderer von den Unsrigen gegen Cicero genannt werden... Lateinischer Text nach Venantius Fortunatus, Vita sancti Albini, III Ende–IV Anfang (6), 28, Z. 25–35 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2.

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3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

Die Bescheidenstopik 26 hinsichtlich der literarischen Fähigkeiten des Venantius Fortunatus erscheint hier in einer rhetorisch ausgefeilten Periode, die durch ihre Komposition den Adressaten vom Gegenteil überzeugen soll. Das Zentrum dieser Periode bildet der Hauptsatz incongruum persensi / ich fühlte deutlich, dass ich nicht gewachsen war. Exponiert am Anfang nennt sich Venantius selbst ego meae exiguitatis conscius / ich – eingedenk meiner geringen literarischen Fähigkeiten, exponiert am Ende steht Domitian, der Auftraggeber der Vita, mit einem indirekten Lob seiner literarischen Kenntnisse ubi ageretur rectius, si quae ab aliis poscitis ipse ederetis / wo es doch richtiger wäre, wenn Ihr das, was Ihr von anderen verlangt, selbst herausgäbet. Während in der ersten Hälfte der Periode positiv ausgeführt wird, wem eine solche Aufgabe anvertraut werden müsste und Venantius Fortunatus diese erst in einer adjektivischen Prädikation eines parallel komponierten Tetrakolon charakterisiert (exertis ingenio, facundis eloquio, devotis officio, probatis stilo / die herausragen durch ihr Ingenium, gewandt in der Rede, gewissenhaft der Pflichterfüllung und erprobt im Stil sind), dem sich eine relativische Prädikation ebenfalls in einem parallelen Tetrakolon anschließt (qui sunt sensu divites, linguae rota torrentes, famulatu celeres, carmine coruscantes / welche in den Gedanken originell, im Fluss der Sprache überströmend, in ihrer Dienstbarkeit rasch und im Lied glänzend sind) wird die zweite Hälfte durch vier Begründungen gegeben, die gemäß dem Prinzip der Variatio mit quod, quem (anstelle des Kausalsatzes hier ein Relativsatz, der aber begründete Funktion hat), cum und quia eingeleitet werden. Diese vier Begründungen sind ihrerseits als eine quantitativ wie qualitativ aufsteigende Klimax angeordnet: die erste als normaler Kausalsatz (quod a me infra doctorum vestigia latitante res alta requireretur / weil von mir, der ich unterhalb der Fußspuren gelehrter Männer verborgen bin, eine erhabene Sache verlangt wurde), die zweite als begründender Relativsatz mit eingelegtem parallelen und als Klimax gestalteten Trikolon (quem ad scribendi seriem nec natura profluum nec litteratura facundum nec ipse usquequaque usus reddit expeditum / von mir, den zur schriftlichen Darstellung weder die Natur mit flüssiger Sprache noch die Literatur mit gewandter Rede noch die Praxis selbst allenthalben gerüstet hat), die dritte mit einem eingeschobenen Konzessivsatz in Gegengrund und Grund als antithetische Differenzierung (cum etsi voto traherer, rei magnitudine deterrerer / da ich, obwohl ich durch mein feierliches Versprechen dazu getrieben wurde, vor der Größe der Sache zurückschreckte) und die vierte schließlich als Dikolon, dessen Kola jeweils aus einem zweigliedrigen Satzgefüge bestehen (quia radiantem vitam si pigri relatoris impar lingua praedicat obsoletat et quod illuminare debuit hoc nube sermonis abscondit / weil die unangemessene Sprache eines langweiligen Berichterstatters, wenn sie ein strahlendes Leben rühmt, es unscheinbar macht und das, was sie erleuchten müsste, unter der Wolke ihrer 26

Zum Thema der rusticitas / bäurischer Stil bei Gregor von Tours vgl. auch GEMEINHARDT, Das lateinische Christentum und die antike pagane Bildung, 273–275. In der Praefatio zu De virtutibus sancti Martini, I, setzt er seinen bäurischen Stil interessanter Weise gerade gegen den des Venantius Fortunatus ab: Utinam Severus aut Paulinus, aut certe Fortunatus adesset, qui ista discriberet! / Ach wären doch Severus oder Paulinus oder auch Fortunatus da, die diese Dinge beschreiben könnten!

3.1.2. Venantius als Biograph

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Sprache verbirgt). Das Lob Domitians am Abschluss ist ebenfalls als Trikolon in Form einer Klimax gestaltet, bestehend aus einem Gliedsatz in Verbindung mit einer Kombination von Glied- und Hauptsatz (ubi ageretur rectius, si quae ab aliis poscitis ipse ederetis / wo es doch richtiger wäre, wenn Ihr das, was Ihr von anderen verlangt, selbst herausgäbet). Die Vorliebe des Venantius Fortunatus für eine Kompositionstechnik, die auf der Kombination von zwei- bzw. dreigliedrigen Grundelementen fußt, hatte bereits die Analyse seines Briefes an Martin von Braga gezeigt.27 Auch dort hatte Venantius in panegyrischer Absicht einen Vergleich der literarischen Fähigkeiten des Adressaten mit Cicero angestellt, bei denen Cicero von Martin von Braga in den Schatten gestellt wurde und als Dichter noch Vergil in diesen Vergleich miteinbezogen.28 Wie dieser Vergleich in dem Brief an Martin von Braga ungefähr in der Mitte des gesamten Briefes steht, findet er sich hier ebenfalls ungefähr in der Mitte der Periode. Anstelle von Vergil erscheint hier Caesar, der nach dem Urteil des Quintilian nach Cicero die zweite Stelle unter den lateinischen Rednern einnimmt. Venantius Fortunatus spielt hier wohl auf diese Stelle bei Quintilian an.29 Während auf diese Weise in rhetorisch ausgefeilter Manier die literarische exiguitas des Venantius Fortunatus der peritia des Bischofs Domitian entgegengestellt wird, ist zugleich ein Punkt berührt, der eine der wichtigsten Neuerungen der biographischen Literatur des Venantius Fortunatus im Vergleich zu seinen Vorgängertexten darstellt: Der Verfasser steht nicht mehr notwendigerweise in einer persönlichen Beziehung zum Gegenstand seiner Vita, wie es bis dahin vor allem für die Bischofsviten gegolten hatte. Aus dem Umfeld des Heiligen kommt nunmehr nur noch der Stoff. 30 Die Behauptung, dass die eigenen literarischen Fähigkeiten für Anforderungen des Gegenstandes nicht ausreichend sind, die dann rhetorisch formal konterkariert wird, begegnet bei Venantius Fortunatus mehrfach, sowohl in Proöm einer weiteren frühen Vita, der Vita sancti Marcelli, die noch zu Lebzeiten des Bischofs Germanus von Paris von die-

27 28 29

30

Venantius Fortunatus, Carm., V, 1. Vgl. dazu die entsprechenden Ausführungen in Kapitel 3. 1. 1. dieser Arbeit. Venantius Fortunatus, Carm., V, 1, 6, in der Ausgabe von REYDELLET, II, 10f. Quintilian, Instutio oratoria, X, 1, 114; vgl. Anm. 161 in diesem Kapitel. Da bei Quitilian Caesar nur den zweiten Platz gegenüber Cicero einnimmt, Domitian Cicero aber übertrifft, ordnet Venantius, wenn er seine Fähigkeiten geringer einschätzt als die von Caesar, vor dem ganz Rom zitterte, seine Fähigkeiten denen des Bischofs Domitian ebenfalls unter. Darauf weist BERSCHIN, Biographie und Epochestil, I, 280 hin: „Neu ist das formale, rein literarische Verhältnis eines Autors zu seinem Gegenstand. Es sind natürlich schon vor Venantius Fortunatus Biographien von Autoren geschrieben worden, die den Helden ihrer Darstellung nicht gekannt oder nur Gehörtes oder Gelesenes bearbeitet haben. Aber normalerweise hatte der Autor zum Stoff irgendeine persönliche Beziehung. Das galt bis dahin besonders für die Bischofsbiographie. Jeder Bischof hatte rede- und schreibkundige Kleriker in seiner nächsten Umgebung, die an erster Stelle berufen waren, wenn es darum ging, sein Bild für die Nachwelt zu bewahren. Ab der Mitte des VI. Jahrhunderts war dies in Gallien nicht mehr selbstverständlich. Jetzt bedurfte es eines Auswärtigen, eines Schriftstellers zur Niederschrift einer Vita. Aus der Umgebung des Biographierten wird nur mehr der Stoff geliefert; die Form besorgt ein anderer.“

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3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

sem zu Ehren seines Amtsvorgängers in Auftrag gegeben worden war31 als auch (variiert und zu einer aemulatio literaria gestaltet) geradezu leitmotivisch in seinem Brief an Martin von Braga.32 Diese Behauptung ist wohl nicht rein topisch33 zu verstehen, sondern erfüllt hier eine mehrfache Funktion: Einerseits drückt Venantius Fortunatus so die gebotene christliche humilitas / Demut gegenüber seinem bischöflichen Auftraggeber als auch dem Heiligen, dem Gegenstand seiner Vita, aus. Andererseits entzieht er einer möglichen Kritik an seiner Darstellung oder an der fehlenden persönlichen Beziehung zu dem Heiligen (die Viten sind nicht anonym überliefert, sondern unter dem Namen des Autors) von vorne herein die Grundlage. Zugleich ist sie an die Adresse des Publikums gerichtet: Denn wenn seine Darstellung (in der er rhetorische Mittel keineswegs völlig beiseite lässt) nur unzureichend das Wirken des Heiligen wiederzugeben vermag, muss es sich das Publikum um ein Vielfaches wunderbarer denken, als es aus dem Text hervorgeht. Dennoch bleibt das Neue und Ungewöhnliche an der Situation, dass ein Fremder im Auftrag die Vita eines Bischofs verfasst. Der eigentliche Grund, dass der Auftraggeber weder selbst dazu in der Lage ist noch einen geeigneten Verfasser in seiner unmittelbaren Umgebung aufweisen kann, würde dem panegyrischen Duktus des Proöms widersprechen. Also bedient sich Venantius Fortunatus einer positiven Argumentation: Vnde certus intellego non vos posse huiusmodi quopiam indigere, sed id voluisse ut de peregrinis etiam nostra vobis aliquid sitarcia non negaret, velut si quicquam inter fruges triticeas sterilitatis meae ordiatia conferant.

Daher sehe ich ein und bin ich mir sicher, dass Ihr nicht eines bedurftet, der dazu in der Lage war, sondern dass Ihr dies wolltet, damit Euch unsere Vorratskiste auch etwas von fremder Kost nicht verweigerte, gleich als ob unter Weizenfrüchten die Keime meiner Unfruchtbarkeit irgend etwas beisteuern könnten.34

Das Bild von der Vorratskiste des Venantius Fortunatus, in der fremde Gerichte enthalten sind, die sich allerdings nur kümmerlich neben den Weizenbroten in der des Bischofs Domitian ausnehmen, ist auch hier wieder mehr als bloße Bescheidenheitstopik. Im Hintergrund steht nämlich implizit ein Gedanke, der sich an die historiographischen Überlegungen zu Anfang 35 anschließt: die Darstellung der Geschehnisse durch einen Fremden und damit Unabhängigen. Venantius Fortunatus gerät so in die Rolle des Historiographen, der ohnehin nur in den seltensten 31 32 33

34 35

Siehe Venantius Fortunatus, Vita sancti Marcelli, II (5–7), 49, Z. 24–50, Z. 6 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2, vgl. dazu BERSCHIN, Biographie und Epochenstil, I, 280f., wo auch eine Übersetzung von Teilen dieser Passage gegeben wird. Venantius Fortunatus, Carm., V, 1, vgl. dazu die entsprechenden Ausführungen in Kapitel 3. 1. 1. dieser Arbeit. Zum Topos der eigenen mangelnden literarischen Fähigkeiten innerhalb der hagiographischen Literatur, der dann nicht selten stilistisch konterkariert wird, vgl. GEMEINHARDT, Das lateinische Christentum und die antike pagane Bildung, 276ff. Lateinischer Text nach Venantius Fortunatus, Vita sancti Albini, IV (7), 28, Z. 35–38 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. Venantius Fortunatus, Vita sancti Albini, II (2–4), 28, Z. 8–19 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2.

3.1.2. Venantius als Biograph

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Fällen Augenzeuge für das ist, was er berichtet. Aus Sicht des Auftragebers der Vita erhält diese den Anschein größerer Objektivität, da sie offenkundig nicht von einem Schreiber aus der unmittelbaren Umgebung des Auftraggebers verfasst worden ist. Sofern der Verfasser schon einen gewissen literarischen Ruf hat, wird der Vita und ihrem Gegenstand zudem ein größerer Glanz verliehen, was hier in dem Bild der Vorratskiste mit ihren fremdländischen Gerichten impliziert wird. Wie im Proöm zur Vita sanctae Radegundis hält Venantius Fortunatus offenbar eine Rechtfertigung für die Abfassung dieser spezifischen Art von Vita für nötig. Ist sie in der Vita sancti Albini vor allem dadurch veranlasst, dass es sich um eine Auftragskomposition handelt und das Manko zu erklären ist, dass er selbst – im Gegensatz zu den Verfassern von Bischofsviten zuvor – in keinem persönlichen Verhältnis zu Albinus steht, muss er sich bei der Vita sanctae Radegundis dafür rechtfertigen, dass er eine Vita nicht auf einen Bischof, sondern auf eine Frau verfasst, deren einziger geistlicher Rang der einer Diakonissin ist. Im Falle der Vita sancti Albini rechtfertigt er sich auf einer inhaltlichen und einer literarischen Ebene: inhaltlich durch den Rekurs auf das der memoria würdige exemplum des Heiligen, literarisch durch die Einreihung der eigenen Arbeit in das Genos der Historiographie. Im Falle der Vita sanctae Radegundis genügt der inhaltliche Rekurs auf die memoria und das exemplum, in dem sich das Wirken der Gnade Gottes offenbart. Nur angedeutet wird in beiden Fällen jedoch, dass es offenbar nicht um die Stabilisierung eines bereits vorhandenen, sondern um Etablierung eines neuen Heiligenkultes geht. Um das zu erreichen, spielt die Verbreitung, wie auch die Verständlichkeit des Textes eine große Rolle. Darauf geht Venantius Fortunatus am Ende des Proöms der Vita sancti Albini selbst ein: (8) Nunc itaque causas ambiguitatis in arbitrii statera suspendens, eligo rusticus agnosci per oboedientiam magis quam indevotus effici per doctrinam, ut cuius fastidire poteritis eloquium saltem adprobetis affectum, et ne mihi videlicet in hoc opere ad aures populi minus aliquid intellegibile proferatur.

(9) Idcirco tota mediocritate contentus etsi relator ineptus tamen beatae vitae cupio gesta breviter intimare: superest ut qui novit me oboedire magis quam praesumere ipse fluctuanti paginae portum suae dexterae subministret, qui vivit et regnat deus per omnia saeculorum. Amen.

(8) Wenn ich nun deshalb die Gründe meines Schwankens auf die Waage der Entscheidung lege, ziehe ich es vor, bäurisch zu erscheinen aus Gehorsam als ungehorsam gegenüber der Lehre zu werden, damit ihr wenigstens Beifall spendet der Leidenschaft dessen, bei wessen Redefähigkeit ihr Langeweile empfindet, und (entscheide mich zugleich dafür), dass nicht bei diesem Werk etwas von mir an die Ohren des Volkes getragen wird, das zuwenig verständlich ist. (9) Deshalb will ich, ganz mit dem mittleren Stil zufrieden, auch wenn ich als Berichterstatter dazu eigentlich ungeeignet bin, dennoch kurz die Taten seines heiligmäßigen Lebens mitteilen: Übrig bleibt, dass derjenige, der weiß, dass ich eher gehorche als aus freien Stücken handele, selbst der in der See treibenden Seite den Hafen seiner Rechten darreicht, nämlich Gott, welcher lebt und herrscht von Ewigkeit

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3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

zu Ewigkeit. Amen.36

Hervorgehoben durch die chiastische Wortstellung fallen hier zwei Kernbegriffe, deren Nennung man in einer bloßen Auftragskomposition so zunächst nicht erwarten würde (eligo rusticus agnosci per oboedientiam magis quam indevotus effici per doctrinam / ich ziehe ich es vor, bäurisch zu erscheinen aus Gehorsam als ungehorsam gegenüber der Lehre zu werden), denn oboedientia / Gehorsam und doctrina / die (christliche Lehre) gehören in den klerikalen bzw. monastischen Bereich, und es ist eher unwahrscheinlich, dass Venantius Fortunatus bei Abfassung dieser Vita bereits dem Klerikerstand angehörte. Und selbst wenn er zu diesem Zeitpunkt bereits Presbyter gewesen wäre, hätte seine oboedientia zunächst dem ortansässigen Bischof gegolten und nicht einem fremden Bischof, den er einmal bei einem Besuch getroffen hat. Die oboedientia bezieht sich somit wohl weniger auf eine Pflichterfüllung innerhalb der Kirchenhierarchie als auf die Erfüllung eines Versprechens, das Venantius Fortunatus bei seinem Besuch geleistet hat und das er so auf die Stufe eines votum, eines Gelübdes, hebt. Wird hier also die excusatio gegen die oboedientia abgewogen und gibt die Erfüllung des votum nach Venantius Fortunatus schließlich den Ausschlag dafür, die Vita zu schreiben, folgt eine Junktur, die auf den ersten Blick nicht ganz verständlich ist. Sie gibt, hält man den handschriftlich überlieferten Text, eine zweite, diesmal literaturpraktische Begründung zu eligo rusticus agnosci / ich ziehe es vor, bäurisch zu erscheinen: Lag die erste Begründung in dem angeblich unzureichenden eloquium / der Redefähigkeit des Venantius Fortunatus, ist es hier der Verständnishorizont des Publikum, für dessen Ohren ad aures (offensichtlich ist an eine lectio am Todestag des Albinus) die Vita bestimmt ist. Das Prinzip der perspicuitas / der Verständlichkeit bedingt den Stil, dem Publikum soll nicht etwas vorgetragen werden, das minus...intellegibile / zu wenig verständlich ist. Und so bezieht sich der Begriff mediocritas nicht nur auf eine eventuelle Mittelmäßigkeit der schriftstellerischen Fähigkeiten des Venantius, sondern in erster Linie auf die Stilhöhe, ein mittlerer Stil, welcher dem Verständnishorizont angepasst ist. Für die Etablierung eines Heiligenkultes stellt diese Rücksicht auf das Verständnis des Publikums aber eine noch größere Notwendigkeit dar als bei der liturgischen lectio innerhalb eines bereits etablierten Kultes. Daher findet sich eine elaborierte rhetorische Durchdringung in der Vita sancti Albini37 nur im proömialen Widmungsbzw. Begleitbrief an Domitian, der mit einer topischen Invokation Gottes um Beistand endet,38 da offenbar vor allem der Rest der Schrift ad aures populi / für die 36 37 38

Lateinischer Text nach Venantius Fortunatus, Vita sancti Albini, IV (8–9), 28, Z. 38–29, Z. 5 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. Venantius Fortunatus, Vita sancti Albini, I–IV (1–9), 27, Z. 30–29, Z. 5 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. In derselben Funktion erscheint die Invokation Gottes im Proöm bei Gregor von Tours, Liber Vitae Patrum (lateinischer Text nach der Ausgabe von KRUSCH, MGH, Scriptorum rerum Merovingicarum, I, 2, 213, Z. 2–4: ...orantes Dominum, ut dignetur dare verbum in ore nostro, qui ora mutorum ad usus praestinos saepius reseravit, et quod in sanctis praecipit scribi, reputet ea suis in laudibus declamari. / und bitten den Herrn, dass er das Wort in unseren Mund legen will, den Herrn, der häufiger die Münder von Stummen zum vorbestimmten

3.1.2. Venantius als Biograph

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Ohren des Volkes bestimmt war. Und so weist die eigentliche Vita ein eigenes kurzes Proöm auf: Religiosorum vita virorum quantum est meritis clarior tantum voce crebrior populorum, quia dum illis universis beneficia tribuit, in suam laudem linguas excitat singulorum, ad quod perspicacissime propalandum vita vel gesta beatissimi Albini deducantur ad medium.

Das Leben gottesfürchtiger Männer wird, inwieweit es durch ihre Verdienste berühmter ist, desto häufiger in der Rede des Volkes genannt, weil es, während es durch jene allen Wohltaten zuteilt, die Zungen der einzelnen sich zum Lobpreis erheben lässt, und um dies besonders deutlich offenbar zu machen, soll das Leben bzw. die Taten des heiligen Albinus in die Öffentlichkeit getragen werden.39

Das eigentliche Proöm beschränkt sich im Vergleich zu der ausführlichen Argumentation im Widmungsbrief an Domitian auf einen einzigen Punkt, die Verdienste / merita des Heiligen. Diese Verdienste / merita haben zwei Wirkungen, nämlich erstens Wohltaten / beneficia (gemeint sind wohl in erster Linie die Wunder am Grab des Heiligen), die allen zugute kommen, und zweitens das Lob (der Heiligen und Gottes) durch den Einzelnen. Der zugrunde liegende Gedanke ist hier verkürzt: Die Heiligen erwerben sich durch ihr Leben Verdienste, wegen dieser Verdienste wirkt Gott Wunder, die Wunder lassen den einzelnen das Wirken Gottes in der Welt erkennen, weshalb er durch das Lob der Heiligen auch Gott preist. Damit wird aber zugleich der Bogen zum Beginn des Widmungsbriefes geschlagen, wo es um das exemplum ging: Durch das exemplum des Heiligen wird Gottes Gnade in der Welt deutlich, und um Gottes Gnade in der Welt ging es auch zu Beginn der Vita sanctae Radegundis, eine Gnade, die sich in diesem Fall nicht bei einem heiligen Mann, sondern einer heiligen Frau zeigte. Vergleichbare Gedanken finden sich auch in den meisten anderen fortunatianischen Vitenproömien, die hier nicht ausführlich behandelt werden müssen.40

39 40

Gebrauch entriegelt hat, und das, was nach seinem Auftrag über die Heiligen geschrieben wird, ansieht, als ob es zu seinem Lob verkündet wird. Das Gebet um göttlichen Beistand findet sich schon bei Hieronymus, De viris inlustribus, Prolog 3 (lateinischer Text nach PL 23 603 B) itaque dominum Iesum precor, ut quod Cicero tuus, qui in arce Romanae eloquentiae stetit, non est facere dedignatus in Bruto oratorum latinae linguae texens catalogum, id ego, in ecclesiae eius scriptoribus enumerandis, digne cohortatione tua inpleam. / Deshalb bitte ich den Herrn Jesus Christus, dass ich das, was Dein Cicero, der auf der Burg der römischen Beredsamkeit stand, im Brutus zu machen nicht verschmäht hat, nämlich einen Katalog der Redner lateinischer Sprache aufzustellen, bei der Aufzählung der Kirchenschriftsteller, Deiner Mahnung würdig erfülle. Lateinischer Text nach Venantius Fortunatus, Vita sancti Albini, V Anfang (10), 29, Z. 6–9 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. Z. B. in der Vita sancti Paterni, die ebenfalls zu den frühen Viten des Venantius Fortunatus gehört.

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3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

3.1.2.2. Vita sanctae Radegundis Doch zurück zur Vita sanctae Radegundis: Der Prolog nannte den Namen der Radegunde nicht, sondern endete mit der allgemeinen Bemerkung, dass sich bisweilen Gottes Gnade im vermeintlich schwachen Geschlecht offenbare: In quo est pariter numero illa cuius vitae praesentis cursum licet tam privato sermone ferre temptamus in publico, ut cuius est vita cum Christo memoria gloriae relicta celebretur in mundo.

Unter ihnen ist jene, deren Lebenslauf auf Erden wir – mag er auch im privaten Ton gehalten sein – in die Öffentlichkeit zu bringen versuchen, damit die Erinnerung an den Ruhm derer, die ihr Leben (nun) mit Christus zusammen verbringt, (hier) zurückgelassen und in der Welt gefeiert wird.41

Es ist also eine These aufgestellt, die im Folgenden – und zwar am Beispiel der noch nicht genannten Radegunde – zu beweisen ist. Dabei weist das Beweisziel zwei Perspektiven auf: Einerseits soll die These durch das Leben der Radegunde exemplifiziert, andererseits muss aber auch das Leben der Radegunde als heilig erwiesen werden, damit es die Funktion eines Exempels erfüllen kann. Im Proöm war bereits das Ideal des Rückzugs von der Welt und der monastischen Lebensweise angesprochen worden; 42 dieses Ideal gibt die Richtung für die folgende Konkretisierung vor. So beginnt das zweite Kapitel zwar mit Nennung von Namen und Herkunft der Radegunde 43 und schildert kurz, wie sie nach der Eroberung Thüringens Chlothar als Kriegsbeute zufiel und er sie in Adteias / Athies auf einem königlichen Landgut erziehen ließ,44 berichtet dann aber ausführlich über ihr Leben in Adteias, das bereits vorklösterliche Züge trägt: 41 42 43

44

Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, [I] 2, lateinischer Text nach KRUSCH, MGH, AA, IV, 2, 38. Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, [I] 1. Mit der Erwähnung von Abstammung und Herkunft lehnt sich Venantius Fortunatus an den von Sueton entwickelten Typ der Vita an. Die Übernahme rhetorischer loci communes war in der frühen Hagiographie nicht unumstritten, vgl. dazu GEMEINHARDT, Das lateinische Christentum und die antike pagane Bildung, 252f., wo auch auf die Vita Cypriani des Pontius hingewiesen wird (Kap. 2), der die Taten eines Gottmenschen erst zu dem Zeitpunkt für berichtenswert hält, ex quo Deo natus / an dem er für Gott geboren ist, also dem Zeitpunkt der conversio. Allerdings wird in der Vita Ambrosii des Paulinus sehr wohl der Bildungsweg des Protagonisten erwähnt, vgl. ebendort 276ff. Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, [II] 3–5 Anfang (lateinischer Text bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2, 38): Radegundis Exil wird hier einerseits mit dem Israels verglichen (...vice Israhelitica exit et migrat de patria / nach Art der Israeliten ging sie ins Exil und verließ die Heimat), andererseits liegt wohl eine Anspielung auf den Streit der Fürsten im ersten Gesang der Ilias vor, wenn es heißt: tunc inter ipsos victores cuius esset in praeda regalis puella fit contentio de captiva, et nisi reddita fuisset, transacto certamine in se reges arma movissent / Damals erhob sich ein Streit sogar unter den Siegern über die Gefangene, zu wessen Beute das königliche Mädchen gehören sollte, und wenn sie nicht zurückgegeben worden wäre, hätten die Könige nach Beendigung des Krieges gegen sich selbst zu den Waffen gegriffen.

3.1.2. Venantius als Biograph

(5) Quae veniens in sortem praecelsi regis Chlotharii, in Verumandensem ducta Adteias in villa regia nutriendi causa custodibus est deputata. Quae puella inter alia opera quae sexui eius congruebant litteris est erudita, frequenter loquens cum parvulis, si conferret sors temporis, martyra fieri cupiens. Indicabat adolescens iam tunc merita senectutis, obtinens pro parte quae petiit.

(6) Denique dum esset in pace florens ecclesia, ipsa est a domesticis persecutionem perpessa. Iam tunc id agens infantula, quidquid sibi remansisset in mensa, collectis parvulis, lavans capita singulis, conpositis sellulis, porrigens aquam manibus, ipsa inferebat, ipsa miscebat infantulis.

(7) Hoc etiam praemeditans cum Samuhele parvulo clerico gerebat. Facta cruce lignea praecedentem subsequens, psallendo ad oratorium cum gravitate matura simul parvuli properabant, et ipsa tamen cum sua veste nitidans pavimentum. Circa altare vero cum facitergio iacentem pulverem colligens, foris cum reverentia recondebat potius quam vergebat.

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(5) Und sie kam zum Beuteanteil des erhabenen König Chlothar, wurde nach Athies ins Gebiet der Veromandois geführt und dort auf dem königlichen Landgut Wächtern zur Erziehung übergeben. Und sie wurde als Mädchen neben den anderen Arbeiten, die zu ihrem Geschlecht passten, (auch) literarisch gebildet, und häufig sagte sie zu den anderen kleinen Kindern, dass sie, wenn es das Los der Zeit hergäbe, Märtyrerin werden wolle. Sie zeigte damals schon als Heranwachsende die Würde des Alters und hatte sie in dem Maße, in welchem sie sie erstrebte. (6) Schließlich erlitt sie, während die Kirche in Frieden in Blüte stand, zu Hause Verfolgung. Damals machte sie nämlich schon als kleines Mädchen Folgendes: Was auch immer ihr bei Tisch übrig geblieben war, dies trug sie selbst kleinen Kindern auf, nachdem sie sie zusammengebracht und ihnen Stühlchen aufgestellt hatte, wusch jedem einzelnen sogar das Haupt, reichte ihnen Wasser für die Hände und schenkte den Kindern auch selbst gemischte Tränke ein. (7) Folgendes aber ersann sie und führte es zusammen mit Samuel, einem kleinen Jungen im geistlichen Stand, aus. Nachdem sie sich ein hölzernes Kreuz gemacht hatten, folgte sie ihm, während er voranging, und zum Gebetshaus gingen die kleinen Kinder unter Gesang zusammen in schon reifer Würde, und sie selbst machte aber mit ihrem Gewand den Estrich sauber. Während sie um den Altar mit einem Schweißtuch den Staub aufwischte, verbarg sie ihn draußen eher in Ehrfurcht, als dass sie ihn auf die Erde ausschüttelte.45

Dass diese Schilderung einer frühzeitigen Hinwendung zu einer vita religiosa nicht singulär ist, zeigt der Vergleich mit einer Schilderung der Kindheit Mariens. Im sogenannte Pseudo-Matthäus-Evangelium wird, ähnlich wie hier, ein Kapitel dem Heranwachsen Mariens im Jerusalemer Tempel gewidmet. Maria ist im Alter von drei Jahren aufgrund eines Gelübdes ihrer Eltern als eine Art puella oblata dem Tempel geweiht worden. Interessanterweise entbehrt dieses Kapitel einer Ent-

45

Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, [II] 5 Ende–7 (lateinischer Text nach KRUSCH, MGH, AA, IV, 2, 38f.).

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3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

sprechung in der griechischen Vorlage, dem so genannten Protevangelium Jacobi. Der Anfang des Kapitels lautet folgendermaßen:46 VI 1 Erat autem Maria in admirationem omnibus quae, cum trium esset annorum, ita maturo gressu ambulabat et perfectissime loquebatur atque ita in dei laudibus studebat ut non infantula putaretur esse sed magna. Et quasi iam triginta annorum esset, ita in orationibus insistebat; et splendebat facies eius ut uix potuisset in eius uultum quisquam attendere. Insistebat autem in lanificio, et omnia quae mulieres antiquae facere non poterant, ista in tenera aetate posita explicabat.

VI 1 Es stand aber Maria in der Bewunderung aller, die sie, als sie drei Jahre alt war, so mit reifen Gang einher schritt und höchst vollkommen sprach und so eifrig war im Lob Gottes, dass man glaubte, sie sei kein kleines Kind, sondern eine Erwachsene. Und als ob sie schon dreißig Jahre alt sei, verharrte sie so im Gebet; und es glänzte ihr Antlitz, so dass ihr kaum jemand ins Gesicht sehen konnte. Sie verharrte aber bei der Wollarbeit, und alles, was die alten Frauen nicht machen konnten, leistete sie in zartem Alter.47

Auch hier ist von typisch weiblicher Arbeit die Rede oder, wie Venantius Fortunatus es formuliert, von opera, quae sexui eius congruebant / Arbeiten, die zu ihrem Geschlecht passten.48 Zwar begehrt Maria nicht Märtyrerin zu werden (was von der Chronologie auch nicht passen könnte), zeigt sich aber im Lob Gottes bereits als magna / Erwachsene, ein ähnlicher Gedanke, wie er bei Venantius auf Radegunde bezogen wird: Indicabat adolescens iam tunc merita senectutis / sie zeigte damals schon als Heranwachsende die Würde des Alters.49 Im Pseudo-Matthäus-Evangelium wird dieser Gedanke im Hinblick auf die Erfüllung klösterlicher Regeln weiter ausgeführt: 2 Hanc autem sibi ipsa regulam statuerat ut in mane usque ad horam tertiam oratoribus insisteret, a tertia uero usque ad nonam textrino se in opere occupabat. A nona uero hora iterum ab oratione non recedebat usque dum illi dei angelus appareret de cuius manu escam

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2 Diese Regel hatte sie sich aber selbst aufgestellt, dass sie vom Morgen bis zur dritten Stunde im Gebet verharrte, und von der dritten bis zur neunten Stunde mit der Wollarbeit beschäftigt war. Und von der neunten Stunde ließ sie wiederum nicht ab vom Gebet, bis ihr der Engel

Das so genannte Pseudo-Matthäus-Evangelium ist eine lateinische Neufassung des griechischen Protevangelium Jacobi aus dem späten zweiten Jahrhundert n. Chr. Der Archetyp der uns vorliegenden Fassung stammt wahrscheinlich aus dem achten Jahrhundert, siehe dazu: Libri de Nativitate Mariae: Pseudo-Matthaei Evangelium. Textus et Commentarius cura J. GIJSEL, Turnhout 1997 [CCSA 9], 59–67; seine inhaltlichen Wurzeln reichen aber wohl bis in die Merowingerzeit zurück. Lateinischer Text nach der Rezension A bei GIJSEL, Pseudo-Matthaei Evangelium, 331–333. Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, II (5), 38, Z. 20f. bei KRUSCH , MGH, AA, IV, 2. Die Wollarbeit widerspricht im Übrigen nicht einer klösterlichen Lebensweise, ist doch Kapitel 14 der Regel des Caesarius Arles für Nonnenklöster überschrieben: Ut in lanificiis faciendum suum pensum quotidianum accipit / Wie sie bei der Wollarbeit ihr Tagespensum empfängt, siehe PL 67, Sp. 1107 A und 1109 B. Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, II (5), 38, Z. 23 bei KRUSCH , MGH, AA, IV, 2.

3.1.2. Venantius als Biograph

acciperet, et ita melius atque melius in dei timore proficiebat. Denique cum a maioribus suis uirginibus in dei laudibus agere docebatur, zelo nimio bonitatis satagebat ut in uigiliis inueniretur prior, in sapientia legis dei eruditior, in humilitate humilior, in carminibus dauiticis elegantior, in caritate gratiosior, in puritate purior, in omni uirtute perfectior. Erat enim constans, immobilis, et quae cotidie melior atque melior transiret.

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Gottes erschien, aus dessen Hand sie die Speise empfing, und machte so immer größere Fortschritte in Gottesfürchtigkeit. Als sie schließlich von älteren Jungfrauen, die mit ihr im Tempel waren, gelehrt wurde, den Lobpreis Gottes zu vollführen, mühte sie sich in übergroßem Bestreben, gut zu sein, dass sie als erste bei den Vigilien gefunden wurde, in der Kenntnis von Gottes Gesetz gebildeter (als die anderen), in der Demut demütiger, beim Singen der Psalmen Davids eleganter, in der Nächstenliebe wohlgefälliger, in der Reinheit reiner, in jeder Tugend vollkommener. Sie war nämlich standhaft und beständig und wurde täglich besser und besser.50

Parallelen dazu finden sich in den Prozessionen der Radegunde mit dem puer oblatus Samuel sowie ihrer Demut vor dem Altar. Bemerkenswert ist auch die Wendung psallendo ad oratorium cum gravitate matura simul parvuli properabant / und zum Gebetshaus gingen die kleinen Kinder mit Gesang zusammen in schon reifer Würde.51 Hier zeigt sich Radegunde so wie Maria wiederum als weibliches Gegenstück eines puer-senex, 52 was durch die Wiederholung des Motivs noch unterstrichen wird. Der Schluss des Kapitels über Mariens Jugend im Jerusalemer Tempel nimmt noch deutlicher Bezug auf Klosterregeln: 3 Hanc irascentem nullus uidit, hanc maledicentem numquam ullus audiuit. Omnis sermo eius ita erat gratia plenus ut cognosceretur in lingua eius deus. Semper in oratione et scrutatione legis dei permanebat. Et erat sollicita circa socias suas ne aliqua ex eis uel in uno sermone peccaret, ne aliqua in risu exaltaret sonum suum, ne aliqua in iniuriis aut in superbat circa parem suam existeret. Sine intermissione benedicebat deum et, ne forte uel in salutatione sua a laudibus domini tolleretur, si quis eam salutaret, illa pro salutatione “Deo gratias” respondebat. Denique ab ipsa primum exiit ut dum se resalutant homines sancti “Deo gratias” dicant. Cotidie autem esca quam de angeli manu accipiebat ipsa tantum reficiebatur, 50 51 52

3 Niemand sah diese zürnen, niemals hörte sie jemand fluchen. Ihre ganze Rede war so voll Anmut, dass man auf ihrer Zunge Gott erkennen konnte. Immer blieb sie in Gebet und Studium von Gottes Gesetz. Und bei ihren Gefährtinnen sorgte sie eifrig dafür, dass nicht eine von ihnen auch nur in einer Rede sündigte, dass nicht eine ihre Stimme im Gelächter erhöbe, dass nicht eine sich in Unrecht und Hochmut gegenüber ihres Gleichen überhebe. Ohne Unterlass pries sie Gott und damit sie nicht zufällig beim Gruß vom Lob Gottes abgebracht würde, wenn sie jemand grüßte, antwortete sie anstelle des Grußes „Deo gratias.“ Schließlich ging es von ihr aus, dass sich Menschen geistlichen Standes gegenseitig begrüßen und „Deo gratias“ sagen. Und täglich

Lateinischer Text nach der Rezension A bei GIJSEL, Pseudo-Matthaei Evangelium, 333–337. Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, II (7), 39, Z.5 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. Zur Variation des puer-senex Motivs in der Vita Ambrosii vgl. GEMEINHARDT, Das lateinische Christentum und die antike pagane Bildung, 277.

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3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

eam uero quam a pontificibus templi consequebatur pauperibus dividebat. Frequenter uidebant cum ea angelos loqui, et quasi carissimae obtemperabant ei. Si quis autem de infirmantibus tetigisset eam, saluus ab ea eadem hora reuertebatur.

ernährte sie sich nur von der Speise, die sie aus der Hand des Engels empfing, die Speise aber, die sie von den Priestern des Tempels erhielt, teilte sie den Armen zu. Häufig sah man, dass Engel mit ihr sprachen und ihr wie einer sehr lieben Freundin gehorchten. Wenn sie aber irgendein Kranker berührt hatte, kehrte er in derselben Stunde geheilt zurück.53

Auch wenn hier eine andere Zielsetzung vorliegt, nämlich Maria zur Erfinderin der Klosterregeln für Nonnen zu machen, und ihr aitiologisch der Gruß Deo gratias zugeschrieben wird, liegt eine Parallele zu Radegunde in der caritas vor: Die Speise, die sie eigentlich als Tempeljungfrau erhalten sollte, gibt sie den Armen (denn sie wird von einem Engel gespeist). Radegunde gibt die Reste ihres Essens ebenfalls (armen) kleinen Kindern; sie begnügt sich allerdings nicht damit, sondern bedient ihre Gäste persönlich. 54 Der Vergleich zeigt also deutliche Parallelen auf. Auch wenn Radegunde nicht als Erfinderin der Klosterregeln für Nonnen hingestellt werden soll, wird hier doch ihre Bestimmung zu einer vita religiosa deutlich herausgestrichen. Zugleich wird dem Rezipienten unmissverständlich klar gemacht, dass es sich dabei nicht um ein kindliches Spiel ohne Bedeutung handelt, was durch antithetisch gebrauchte Paradoxa, sie zeige schon als Heranwachsende (adulescens) die Würde des Alters (merita senectutis) 55 oder gehe voll Eifer in der Prozession zusammen mit Samuel mit reifer Würde (gravitate matura), obwohl beide noch kleine Kinder seien (simul parvuli),56 nicht nur betont, sondern im Hinblick auf das Motiv des Kindes, das zugleich schon die reifen Eigenschaften des Alters zeigt, gedeutet.57 Ebenso wird deutlich gemacht, dass ihre Bestimmung eben nicht, wie von Chlothar beabsichtigt, in der einer weltlichen Königin liegt, wenn sie wegen ihres Verhaltens, das gar nicht dem einer künftigen weltlichen Herrscherin entspricht, zwar nicht das Martyrium erleidet, aber den Nachstellungen zu Hause a domesticis58 (gemeint ist wohl das Personal des königlichen Landgutes, auf dem sie eigentlich zur Königin erzogen werden soll), ausgesetzt ist. Auch der Versuch einer Flucht vor der Hochzeit 53

54 55 56 57 58

Lateinischer Text nach der Rezension A bei GIJSEL, Pseudo-Matthaei Evangelium, 337–341. Vgl. auch die Klosterregel für Nonnen des Caesarius von Arles, die Radegunde bei sich eingeführt hatte, Kapitel 2 (lateinischer Text nach PL 67 1107 C: Juramentum et maledictum, velut venenum diaboli, fugere et vitare contendat. / Sie soll sich anstrengen, Eid und Verleumdung wie dem Gift des Teufels zu entfliehen und zu meiden. Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, II (6), 39, Z. 1–3 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, II (5), 38, Z. 21 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, II (6), 39, Z. 5 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. Vgl. zu diesem Punkt, der Übertragung des puer-senex Topos auf Radegunde GÄBE, Radegundis: Sancta, Regina, Ancilla, 9 mit Anm. 50. Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, II (6), 38, Z. 24–39, Z. 1 bei KRUSCH, MGH IV 2.

3.1.2. Venantius als Biograph

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passt in dieses Deutungsschema. Der Verzicht auf jeglichen Pomp ist nur logische Konsequenz.59 Dass sie auch als Königin dieser Bestimmung zur vita religiosa nicht untreu geworden ist, drückt der Anfang des nächsten Kapitels programmatisch in einem antithetischen Paradoxon aus: (9) Nubit ergo terreno principi nec tamen separata caelesti, ac dum sibi accesisset saecularis potestas, magis quam permitteret dignitas se plus inclinavit voluntas. Subdita semper deo, sectans monita sacerdotum, plus participata Christo quam sociata coniugio...

(9) Sie heiratete also einen irdischen Fürsten und war dennoch nicht vom himmlischen getrennt, und als ihr die weltliche Macht genaht war, schwand ihr Wunsch (danach) mehr, als es ihre Würde erlaubte. Immer war sie Gott ergeben, folgte den Ermahnungen der Priester und war mehr Christus teilhaftig als ihrer Ehe verbunden...60

Die in ihrer Zeit in Athies bereits explizierte munificentia in Verbindung mit klösterlicher Lebensweise der Radegunde zieht sich leitmotivisch durch die nächsten Kapitel, die ihre Zeit als weltliche Königin behandeln. Und damit löst sich zugleich das Problem, das sich durch ihre neue Stellung in Hinblick auf die geplante vita religiosa ergibt. Den Geschenken ihres Mannes ihr gegenüber kann sie sich nicht entziehen. Aber sie kann sie, wo nur möglich, in eine eigene munificentia umwandeln, für die sie dadurch die entsprechenden Mittel erhält. Und diese munificentia übt sie in so hohem Maße, dass sich eine paradoxe Situation ergibt, die Venantius Fortunatus so umreißt: A cuius munificentia nec ipse abscondere potuit Vor ihrer Freigebigkeit konnte sich nicht einmal heremita. ein Eremit verstecken.61

Sie verwandelt Athies in ein Heim für bedürftige Frauen, wo auch Kranke gepflegt werden, und hilft selbst bei der Pflege. Das alles steht im paradoxen Gegensatz zu ihrer Rolle als Königin: Sic devota femina nata et nupta regina, palatii So war die fromme Frau als Königin gedomina pauperibus serviebat ancilla. boren und verheiratet, als Herrin des Palastes diente sie den Armen als Magd.62

59 60 61 62

Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, II (8) (lateinischer Text bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2, 39). Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, II (9), Anfang (lateinischer Text nach KRUSCH, MGH AA IV, 2, 39, Z. 12–15). Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, III (11), 39, Z. 20 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, III (12), 39, Z. 24–28 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2.

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3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

Heimliches nächtliches Beten auf dem kalten Boden setzt wiederum eine klösterliche Lebensweise fort und zeigt, wie sie ihrer Bestimmung auch als weltliche Königin treu bleibt.63 Das Paradoxon der weltlichen regina, die im Grunde eine ancilla Domini ist und die Lebensweise einer monacha führt, wird auch im sechsten Kapitel deutlich exponiert, in dem von ihrem Verhalten in der vierzigtägigen vorösterlichen Fastenzeit die Rede ist: Das Bild vom scheinbaren Äußeren und dem wahren Innern zeichnet ihre Kleidung; unter ihrem königlichen Ornat trägt sie ein rauhes Bußgewand. 64 Nach langem Fasten sättigt sie sich an Tränen, nach Verachtung der Nahrung für den Bauch [ist] Christus ihre ganze Mahlzeit / despecto ventris edulio Christus tota refectio , [liegt] ihr ganzer Hunger bei Christus / tota fames ... in Christo. 65 Dass ihre Heiligkeit schon in ihrer Zeit am Hofe unzweifelhaft feststeht, macht Venantius Fortunatus in vier Kapiteln deutlich, an deren Anfang und Ende von ihrem Verhältnis zu Clothar die Rede ist.66 Verständlicherweise kommt es wegen ihrer Lebensführung zu Streitereien (rixae) mit dem König: Chlothar schilt Radegunde. Das wird von Venantius Fortunatus aber als Sünde gewertet, die er durch reichliche Geschenke später abbüßt,67 was eigentlich nur dann möglich ist, wenn sie den Stand der Heiligkeit schon erreicht hat. Dieser Stand der Heiligkeit wird nicht nur dadurch unterstrichen, dass sie wie Jesus seinen Aposteln68 Klerikern, die zu Besuch sind, die Füße wäscht und ein ihr geschenktes mit Edelsteinen versetztes Linnen als palla für den Kelch am Altar stiftet,69 sondern vor allem darin, dass sie bei Todesurteilen interveniert, indem sie durch zuverlässige Mittelsleute den König solange bestürmt, bis der Zorn des Königs besänftigt ist.70 Nicht zufällig bezeichnet sie Venantius Fortunatus gerade in diesem Abschnitt als sanctissima regina / heiligste Königin und setzt sie durch die Formulierung moriebatur cruciatu / pflegte 63 64 65 66 67

68 69 70

Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, V (14–15), 40, Z. 4–11 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, VI (16), 40, Z. 12–17 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, VI (17), 40, Z. 17–20 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, VII–X (18–22), 40, Z. 21–41, Z. 10 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. Siehe Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, VII (18), 40, Z. 21–25 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2, insbesondere Z. 24f.: ita ut vicibus multis per munera satisfaceret quod ei per linguam peccasset / so dass häufig (der König) durch Geschenke Schadenersatz leistete, weil er sich ihr gegenüber im Ton versündigt hatte. Vgl. Io 13, 1–11. Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, VIII–IX (19–21), 40, Z. 26–41, Z. 5 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, X (22), 41, Z. 6–10 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2, vgl. insbesondere die paradoxe Formulierung Z. 8–10: Qualiter concursabat per domesticos fideles servientes et proceres, quorum blandimentis mulcebat animum principis, donec in ipsa ira regis unde processerat sors mortis inde curreret vox salutis? / Wie sorgte sie für einen Auflauf durch treue Bedienstete im Haus oder Vornehme, durch deren Schmeicheleien sie das Gemüt des Königs besänftigte, bis gerade aus dem Zorn des Königs, woher das Todesurteil seinen Ausgang genommen hatte, die Stimme der Rettung kam?

3.1.2. Venantius als Biograph

127

(wenn sie von einem Todesurteil erfuhr, selbst) den Kreuzestod zu erleiden wiederum in Beziehung zu Christus.71 Die Bezeichnung sanctissima wird wieder aufgenommen in Zusammenhang mit den Fortschritten, die Radegunde durch göttliche Gnade macht (provexit divina clementia), und die in Wundern gipfeln, die von ihr, obwohl sie noch dem Laienstand angehört (laica), vollbracht werden. Zur Illustration dieser Wunder schildert Venantius eines davon ausführlich: Bei einem Morgenspaziergang hört die Heilige (sanctissima), wie Eingekerkerte sie um Hilfe bitten. Als sie sich nach deren Vergehen erkundigt, erhält sie von ihren Dienern die falsche Auskunft, es handele sich um Betrüger. In der Nacht aber zerbrechen auf wundersame Weise die Ketten der Eingekerkerten, so dass die Diener plötzlich selbst als Betrüger dastehen. 72 Dadurch dass in diesem ersten Drittel der Vita sanctae Radegundis der Gedanke der „Prädestination Radegundes zu heiligmäßigem Leben, das im Laufe der Zeit immer vollkommener wird“73 initiiert und exemplifiziert wird, erscheint die Ermordung ihres Bruders durch Chlothar in einem anderen Licht: Es ist lediglich ein Schicksalsfall (casus), der mit Hilfe der göttlicher Vorsehung (divinitate prosperante) der Bestimmung der Radegunde zur Erfüllung verhilft. 74 Ihre Weihe zur Diakonin durch den Bischof Medardus in Noyon erscheint so als Konsequenz der Prädestination und nicht der Gewalttat, für die wohl Chlothar verantwortlich zeichnete. 75 Die Weihe geschieht nicht durch irgend jemanden, sondern durch Medardus, der hier mit dem Attribut beatus / selig belegt wird, und dessen Heiligkeit Venantius Fortunatus in einer Vita, von der sowohl eine Prosafassung als auch eine versifizierte Version in elegischen Distichen überliefert ist, zu belegen sucht.76 Der Klostergründung in Poitiers geht eine Zeit voraus, in der Radegunde erst in Tours, dann auf einem Landgut in Saix das Leben einer velata führt, was in der Schilderung des Venantius Fortunatus etwa ebenso viel Raum ausnimmt wie die 71 72 73 74

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Siehe Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, X (22), 41, Z. 7 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XI (23–25), 41, Z. 11–19 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. GÄBE, Radegundis: Sancta, Regina, Ancilla, 8. Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XII (26), 41, Z. 20–23 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2: Et quoniam frequenter aliqua occasione divinitate prosperante casus ceditur ad salutem, ut haec religiosius viveret frater interficitur innocenter. Directa igitur a rege veniens ad beatum Medardum Novomago, supplicat instanter ut ipsam mutata veste domino consecraret.[...] Quo ille contestationis concussus tonitruo, manu superposita consecravit diaconam. / Und da ja häufig bei einer Gelegenheit ein Schicksalsschlag, weil Gott ihm einen glücklichen Ausgang gibt, sich zum Heil wendet, wird ihr Bruder, damit sie ein religiöses Leben führen kann, unschuldig umgebracht. Direkt vom König zum seligen Medardus kommend, bittet sie ihn, dass er sie nach Vertauschung des Gewandes (mit dem des geistlichen Standes) weihe. [...] Vom Donner ihrer Bitte erschüttert, legte er ihr die Hand auf und weihte sie zur Diakonin. Vgl. dazu auch GÄBE, Radegundis: Sancta, Regina, Ancilla, 9f. bzw. die entsprechenden Ausführungen in Kapitel 1. 2. 2. dieser Arbeit. Nämlich Venantius Fortunatus, Vita sancti Medardi und Carmen II, 16. Zur Echtheit der Prosafassung siehe BERSCHIN, Biographie und Epochenstil, I, 279 mit Anm. 31.

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3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

Darstellung ihres Lebens als regina.77 Dieser Abschnitt beginnt mit Ausführungen zu ihrer Kleidung: Mox indumentum nobile, quo celeberrima die solebat pompa comitante regina procedere, exuta ponit in altare et blattis, gemmis, ornamentis mensam divinae gloriae tot donis onerat per honorem. Cingulum auri ponderatum fractum dat opus in pauperum.

Bald legte sie die vornehme Kleidung, in der sie an einem sehr hohen Feiertag in Begleitung ihrer Gefolgschaft als Königin aufzutreten pflegte, ab, deckte sie auf den Altar und belud den Tisch des göttlichen Ruhmes mit so vielen Gaben zur Ehre, nämlich mit, Edelsteinen und Schmuckstücken. Einen schweren mit Gold besetzten Gürtel ließ sie zerbrechen und gab ihn als Werk für die Armen.78

Die Weihung eines besonders kostbaren Gewandes als Altardecke korrespondiert mit der Schilderung in Kapitel IX, in der davon die Rede ist, dass sie bereits häufiger kostbare Gewänder als Altardecke gestiftet hat;79 die Spende eines kostbaren Gürtels für die Armen mit den Schilderungen in Kapitel III, wo berichtet wird, dass sie von allem, was sie erhielt, stets den zehnten Teil spendete.80 Entsprechungen gibt es auch bei der Schilderung ihres Verhaltens während der vorösterlichen Fastenzeit;81 wobei der soziale Aspekt breiter ausgeführt wird, wenn berichtet wird, wie sie eigenhändig Kranke pflegt und selbst Leprakranke aufnimmt: (44) Hanc quoque rem intremescendam qua peragebat dulcedine! Cum leprosi venientes signo facto se proderent, iubebat adminiculae, ut unde vel quanti essent pia cura requireret. Qua sibi renuntiante, parata mensa, missorium, cocleares, cultellos, cannas, potum et calices scola subsequente intromittebatur furtim, quo se nemo perciperet. Ipsa tamen mulieres variis leprae maculis conprehendens in amplexu, osculabatur et vultum toto diligens animo.

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(44) Mit welcher Liebe pflegte sie auch dies, wovor man zittern muss, zu vollbringen! Als Leprakranke kamen und sich mit der Klapper zu erkennen gaben, trug sie einer Dienerin auf, sich in frommer Sorge zu erkundigen, woher sie kämen und wie viele sie seien. Und als sie ihr darüber Auskunft gab, wurde ein gedeckter Tisch, ein Serviertablett, Löffel, Messer, Kannen, Trank und Becher, wobei die Dienerschaft ihr folgte, heimlich dort hineingebracht, wo sie niemand wahrnahm. Sie selbst nahm jedoch Frauen mit den verschiedenartigen Wundmalen der Lepra in den Arm und küsste sie auch ins Gesicht, weil sie diese aus vollem Herzen liebte.

Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XIII (29)–XX (49) bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2, 41, Z. 32–44, Z. 4. Lateinischer Text nach Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XIII (29), 41, Z. 32–42, Z. 2 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, IX (21), 41, Z. 1–5 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, III (9–11), 39, Z. 12–23 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radgundis, XVI (37–38), 42, Z. 23–28 mit VI (16–17), 40, Z. 12–20 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2.

3.1.2. Venantius als Biograph

(45) Deinde posita mensa ferens aquam calidam, facies lavabat, manus, ungues et ulcera et rursus administrabat ipsa pascens per singula. Recedentibus praebebat auri et vestimenti vix una teste munuscula.

(46) Minstra tamen praesumebat et blandimentis sic appellare: Sanctissima domina, quis te osculetur quae sic leprosos amplecteris? Illa respondit benivole: Vere si me non osculeris, hinc mihi cura nec ulla est.

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(45) Dann brachte sie, als der Tisch herbeigestellt war, warmes Wasser, wusch die Gesichter, die Hände, Füße und Geschwüre und bediente sie wiederum, und wartete ihnen dabei einzeln auf. Als sie schieden, gab sie ihnen kleine Geschenke von Gold und Kleidung, wobei kaum eine einzige Zeugin zugegen war. (46) Ihre Dienerin wagte es dennoch sie in Schmeichelworten so anzusprechen: Heiligste Herrin, wer soll dich küssen, die du so die Leprakranken umarmst? Jene antwortete wohlwollend: Aber wenn du mich nicht küsst, ist mir das völlig egal.82

Die Steigerung ihres heiligmäßigen Verhaltens ist hier evident, denn sie verfährt gegenüber den Leprakranken so, wie sie in ihrer Zeit als regina hohen Geistlichen aufwartete.83 Ihre Gewohnheit, diesen aufzuwarten, gibt sie zwar nicht auf, macht sich aber neben dem Gebet für den Sonntag zur Regel, die Armen zu speisen, was sie erst, wenn der geistliche Besuch angekommen ist, ihren Dienerinnen überlässt.84 Genau wie der Abschnitt über ihr Leben als regina mit einem Kapitel über Wunderberichte beschlossen wurde,85 so steht auch am Ende dieses Abschnittes eine Darstellung von Wundern, die sich ereignen, nachdem Radegunde den Schleier genommen hat.86 Wie im gesamten Abschnitt ist auch hier das Prinzip der Steigerung zu beobachten. Das macht schon der erste Satz des Kapitels deutlich: Quae tamen praestante deo diverso fulsit Und diese erstrahlte mit Hilfe Gottes durch miraculo. Wunder verschiedenster Art.87

Venantius Fortunatus führt drei Arten von Heilungswundern auf, die, indem sie nicht auf einen konkreten Fall spezifiziert sind, typologischen Charakter anneh82

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Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XVII (39–42), 42, Z. 29–43, Z. 13 und XIX (44–46), 43, Z. 19–29 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2, was mit IV (12), 39, 24–28 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2 korrespondiert. Siehe insbesondere XIX (44–46), 43, Z. 19–29 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. Bezeichnenderweise beendet Venantius Fortunatus diesen Abschnitt mit einem Diktum der Heiligen, so dass die Schilderung anekdotischen Charakter erhält. Zugleich wird gezeigt, dass es Radegunde nicht auf das Urteil der Menschen ankommt. Siehe Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, VIII (19–20), 40, Z. 26–33 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XVIII (43), 43, Z. 14–18 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XI (23–25), 41, Z. 11–19 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XX (47–49), 43, Z. 30–44, Z. 4 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. Lateinischer Text nach Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XX (47 Anfang), 43, Z. 30 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2.

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3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

men. Ausgangspunkt für die erste Art ist die Heilung der blutflüssigen Frau durch Jesus,88 die nur den Saum seines Gewandes berührt und dadurch gesund wird. Bei Venantius Fortunatus heißt es: Denique si quis pustulae desperaret de vulnere, offerebat ministra sanctae folium pampani mentiens sibi opus hoc esse. Sic vix obtento signaculo portans ad desperatum, vulneri superposito mox occurebat remedium.

Wenn jemand über eine eiternde Wunde verzweifelte, brachte die Dienerin der Heiligen ein Weinblatt und täuschte vor, dass sie es für sich selbst benötigte. Und kaum, nachdem sie das Segenszeichen darüber erhalten hatte, brachte sie (das Weinblatt) zu dem Verzweifelten, und nachdem es auf die Wunde gelegt worden war, wurde es bald zum Heilmittel.89

Die Übertragung der Heilkräfte auf einen Gegenstand erscheint häufig in apokrypher Tradition, so wird bereits im Protevangelium Jacobi die Hebamme Salome , die an der Jungfräulichkeit Mariens zweifelt und deren Hand durch ein Strafwunder daraufhin verdorrt, geheilt, indem sie die Windeln des neugeborenen Jesuskindes berührt. 90 Die deutlichste Parallele dürfte sich wohl im arabischen Kindheitsevangelium finden, wo ein leprakrankes Mädchen zunächst durch das Badewasser des Jesuskindes geheilt wird, dann zur Dienerin von Maria und Joseph wird und in dieser Funktion einer jungen Mutter, die einen leprakranken Sohn hat, ebenfalls etwas von Jesu Badewasser verschafft, woraufhin auch deren Sohn geheilt wird:91 XVII Postero die eadem mulier aquam odoratam sumsit, ut Dominum Jesum lavaret; eoque loto aquam illam penes se reservavit. Eratque ibi puella, cujus corpus lepra album erat, quae cum aqua hac perfunderetur et lavaretur, mundata fuit ex tempore a lepra sua...

XVII Am folgenden Tag nahm dieselbe Frau wohlriechendes Wasser, um Jesus, den Herrn, zu baden; und nachdem dieser gebadet worden war, verwahrte sie jenes Wasser bei sich. Und dort gab es ein Mädchen, dessen Körper von Lepra weiß war, und als es mit diesem Wasser übergossen und gebadet wurde, war es sofort von seiner Lepra geheilt...

und

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Mt 9, 20–22; Mc 5, 25–29; Lc 8, 43–48. Lateinischer Text nach Venatius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XX (47 Ende), 43, Z. 30–33 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. Protevangelium Jacobi, XX 1–4, für den griechischen Text siehe: La forme la plus ancienne du Protévangile de Jacques, hrsg. & übers. von É. DE STRYCKER, Brüssel 1961, 158–166. Mit arabischem Text und lateinischer Übersetzung findet sich das arabische Kindheitsevangelium unter dem Titel Evangelium infantiae Salvatoris in: Codex apocryphus Novi Testamenti, e libris editis et manuscriptis, maxime Gallicanis, Germanicis et Italicis, collectus, recensitus notisque et prolegomenis illustratus opera et studio I. C. THILO, Leipzig 1832, 45–158, hier 82–85. Zitat hier nach der lateinischen Übersetzung: Cap. XVII (83) und Cap. XVIII (85).

3.1.2. Venantius als Biograph

XVIII ... Postera vero luce aquam odoratam sumsit, qua Dominum Jesum ablueret, et filium suum, quem secum assumserat, eadem deinde aqua perfudit, et extemplo filius ejus mundatus est a lepra sua. Grates ergo et laudes Deo canens, Beata, inquit, mater, quae te peperit, o Jesu! itane homines, ejusdem tecum naturae participes, aqua, qua corpus tuum perfusum fuit, mundas? Ingentia porro munera Dominae Herae Mariae obtulit, eamque eximio cum honore dimisit.

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XVIII …Am folgenden Morgen aber nahm sie wohlriechendes Wasser, mit dem sie Jesus wusch, und übergoss (dann) ihren Sohn, den sie mit sich genommen hatte, mit dem selben Wasser, und sofort wurde ihr Sohn von der Lepra geheilt. Also sang sie Gott Dank und Lob: Selig ist die Mutter, die dich geboren hat, oh Jesus! Reinigst du so Menschen, die mit dir derselben Natur teilhaftig sind, mit dem Wasser, das über deinen Körper gegossen worden ist? Dann brachte sie der Herrin Maria gewaltige Geschenke dar und ließ sie unter besonders großer Ehre weiterziehen.

Wie im Falle der Radegunde geschieht die Heilung ohne Wissen Mariens bzw. ohne direkte Einwirkung des Jesuskindes. Auch hier wird zumindest im zweiten Fall die Heilung heimlich durch eine Dienerin bewirkt. Ist es im arabischen Kindheitsevangelium das Leben spendende Wasser, das als Wundermittel fungiert, ist es bei Radegunde Weinlaub, wohl in Anlehnung an das Bild von Jesus als dem wahren Weinstock.92 Auch der zweite Typ von Heilungswundern vollzieht sich ohne direktes Eingreifen der Heiligen. Er betrifft Fieberkranke, denen im Traum Heilung durch Begegnung mit Radegunde geweissagt worden ist. Die Heilung erfolgt in diesen Fällen durch die Übergabe einer Kerze an Radegundes Dienerinnen, nach deren Entzündung nicht der Kranke, sondern die Krankheit den Tod erleidet / morbus accipiebat mortem.93 Nur beim dritten Typus der Heilungswunder ist Radegunde persönlich zugegen, indem sie einem Kranken ausländische Früchte gibt und dieser mit der Frucht auch die Genesung empfängt.94 Im Vergleich mit dem Wunderbericht aus Kapitel XI liegt hier sowohl eine Amplifikation (drei Wunder statt eines) als auch eine Betonung der karitativen Seite vor, die durch die Schilderung von Radegundes Umgang mit den Leprakranken zuvor95 bereits angelegt war. Bezeichnend ist auch, dass zwei der drei Typen von Heilungswundern genauso wie die Befreiung der Gefangenen in ihrer Zeit als regina96 ohne unmittelbare Anwesenheit der Radegunde vor sich gehen.

92 93

94 95 96

Io 15, 1. Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XX (48), 43, Z. 33–44, Z. 1 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. Dass in Träumen Hinweise auf Möglichkeiten der Heilung gegeben werden, zeigt im paganen Bereich bereits das Traumbuch des Artemon von Milet, vgl. dort II, 44 (Hinweise des Gottes Serapis auf Heilmittel). Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XX (49), 44, Z. 1–4 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XIX (44–46), 43, Z. 19–29 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XI (23–25), 41, Z. 11–19 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2.

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3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

Der dritte große Abschnitt behandelt die Zeit Radegundes im Kloster von Poitiers.97 Auch dieser Abschnitt endet mit einer Schilderung der Wunder Radegundes. Anders als in den Abschnitten zuvor nimmt diese Schilderung den quantitativ größten Raum ein98 und mündet in der Darstellung ihres Todes aus, die mit einem weiteren Wunder verknüpft wird.99 Darauf folgt nur noch eine kurze Charakteristik ihrer Tugenden. 100 Die ersten beiden Kapitel dieses Abschnittes beschäftigen sich nach einer kurzen Aufzählung ihrer Tugenden, nämlich ieiunium / Fasten, obsequium / Gehorsam, humilitas / Demut, caritas / Barmherzigkeit, labor / Arbeit und cruciatus / (Selbst)kasteiung, 101zunächst mit Radegundes ieiuniium / Fasten und zwar außerhalb der vorösterlichen Fastenzeit und währenddessen. 102 Wenn sie sich schon normalerweise hauptsächlich von Linsen und Kohl ernährt, so nimmt sie während der Fastenzeit nichts als Wurzel und Malvengemüse und kaum Wasser zu sich. Die oben aufgeführten Tugenden bilden auch das Gliederungsschema für die folgenden Kapitel: Dabei zeigt sich ihr obsequium darin, dass sie schon vor Einführung der Regel des Caesarius von Arles als erste aufsteht für die Morgenandacht, ihre humilitas darin, dass sie auch außerhalb der Fastenzeit meist ein Bußgewand aus Ziegenhaar trägt, ihr labor darin, dass sie als erste zu allen Arbeiten im Kloster bereit ist (auch zum Reinigen der Toiletten); labor und caritas schließlich erweisen sich darin, dass sie in der Küche alle Tätigkeiten vom Gemüseputzen bis zum Kochen und Spülen verrichtet und den Kranken das warme Essen selbst bringt und ihnen die Füße wäscht.103 Der letzten Tugend, der (Selbst)kasteiung / cruciatus sind ebenfalls zwei Kapitel gewidmet,104 so dass sie vom Umfang her ein ähnliches Gewicht erhalten wie die Schilderung des ieiunium / des Fastens. Radegunde schnürt ihren Körper mit Ketten ein, über welche die Haut wächst105 oder fügt sich heimlich selbst Verbrennungen zu.106 Damit wird von Venantius ein Thema auf97 98 99 100 101 102 103 104 105 106

Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radgundis, XXI–XXXVIII (50–90), 44, Z. 5–49, Z. 2 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. Nämlich Kapitel XXVI (Ende)–XXXVIII (63 Ende–90), 45, Z. 29–49, Z. 2 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XXXVIII (87–90), 48, Z. 21–49, Z. 2 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XXXIX (91), 49, Z. 3–6 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XXI (50 II), 44, Z. 6–8 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2, hier in Form einer rhetorischen Frage formuliert. Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XXI–XXII (50–53), 44, Z. 5–20 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XXIII–XXIV (54–59), 44, Z. 21–45, Z. 10 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XXV–XXVI (60–63), 45, Z. 11–30 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XXV (60), 45, Z. 11–17 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XXVI (61–63), 45, Z. 18–30 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. Während der Gehorsam in der Regel des Caesarius leitmotivisch zahlreiche Kapitel durchzieht und es zwar Anweisungen für die Vigilien (Kapitel 13, vgl. PL 67, Sp. 1109

3.1.2. Venantius als Biograph

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genommen, dass bei ihrer Erziehung in Athies eine Rolle spielte, wo sie als Kind bereits den Wunsch geäußert hatte, Märtyrerin zu werden,107 worauf er durch seine Formulierung ausdrücklich aufmerksam macht: Hinc discedentibus reliquis, membris trepidantibus, animus armatur ad poenam, tractans quia non essent persecutionis tempora a se ut fieret martyra.

Als die übrigen von hier fort gingen, wappnete sich bei zitternden Gliedern der Geist zur Strafe und sorgte dafür, dass sie, weil die Zeiten nicht die der (Christen)verfolgungen waren, dass sie durch sich selbst zur Märtyrerin wurde.108

Vergleicht man den Tugendkanon, der diesen sechs Kapiteln vorangestellt und in ihnen exemplifiziert wird mit dem, der im letzten Kapitel der Vita genannt ist, so fallen markante Unterschiede auf: (91) Sed de beatae virtutibus sufficiat exiguitas, ne fastidiatur ubertas, nec reputetur brevissimum, ubi de paucis agnoscitur in miraculis amplitudo, qua pietate, parcitate, dilectione, dulcedine, humilitate, honestate, fide, fervore sic vixerit, ut adhuc ipsam post obitum gloriosi transitus mirabilia prosequantur.

(91) Aber über die Tugenden der Heiligen möge eine knappe Aufzählung ausreichen, damit eine ausführliche Schilderung keine Langeweile errege, und nicht soll es für zu kurz gehalten werden, wo doch aus wenigen in den Wundern die Fülle erkannt werden kann, in welcher Frömmigkeit, Sparsamkeit, Liebe, Güte, Demut, in welcher Tugendhaftigkeit, Glauben und religiösem Eifer sie so gelebt hat, dass immer noch nach ihrem glorreichen Übergang (in die andere Welt) Wunder geschehen.109

Allein die humilitas / Demut erscheint in beiden Fällen. Offensichtlich ist der zweite Kanon nach vier alliterierenden Zweiergruppen geordnet, während der erste (mit Ausnahme des cruciatus) klösterliche Tugenden aufzählt. War es Ziel des C) gibt, sind die asketischen Bußübungen in der Schärfe, wie Radegunde sie vollführt, nicht vorgeschrieben. Sie geht damit also über das hinaus, was die Klosterregel verlangt. 107 Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, II (5 II), 38, Z. 21–23 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. 108 Lateinischer Text nach Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XXVI (62 II), 45, Z. 23–25 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. Vgl. HUBER-REBENICH (Hrsg.), Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, 59, Anm. 72, wo auf Parallelen bei Gregor von Tours (De gloria martyrum, 5; De gloria confessorum 104) hingewiesen wird sowie auf das später erweiterte Begriffsspektrum von confessor. Der Begriff confessor (vgl. LThK s. v. „Bekenner“, Sp. 142) wird ursprünglich synomym mit martyr verwendet, erfährt dann aber eine allmähliche Ausdehnung auf alle, welche die christliche Lehre leben. Die explizite Hervorhebung Radegundes bei Venantius Fortunatus a se martyra verweist wie schon im Kapitel II der Vita auf den ursprünglichen Sinngehalt des Begriffs. Offenbar ist es für Venantius Fortunatus (wie auch für Gregor von Tours) noch notwendig, eine Nichtmärtyrerin in die Tradition von Märtyrern, denen schon früh passiones und vitae gewidmet waren, einzureihen, so dass er schon sie schon zuvor (Kapitel XXI) sowohl als confessor als auch als martyr apostrophiert. 109 Lateinischer Text nach Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XXXIX (91), 49, Z. 3–6 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2.

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3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

Fortunatus gewesen, bereits in der Schilderung ihres vorklösterlichen Lebens, Radegundes Berufung zum Klosterleben aufzuzeigen, so wird sie hier bewiesen, indem Radegunde durch Exemplifizierung der einzelnen klösterlichen Tugenden als Musternonne erscheint.110 Allen Zweifeln, die nach ihrem Tode hinsichtlich des Status ihres Klosters aufkommen mochten, wird damit jegliche Grundlage entzogen. Durch die Deutung ihrer Selbstkasteiungen als Martyrium rückt Venantius Fortunatus sie nicht nur in die Nähe christlichen Märtyrer und unterstreicht so ihre Heiligkeit, sondern vermag auch durch die Schilderung genau an dieser Stelle von einem Umstand abzulenken, der sich im oben zitierten Schluss andeutet. Die Verehrung eines Heiligen hängt eng mit Wundern zusammen, die sich nach seinem Tode ereignen und deren Schilderung bisweilen eine eigene Schrift gewidmet ist.111 Voraussetzung ist natürlich, dass der Tod schon eine Weile zurückliegt, damit sich am Grab Wunder ereignen können. Liegt er noch nicht allzu weit zurück, kann am Ende der Vita auf Wunder zurückgegriffen werden, die sich bei der Beerdigung ereignen, wie z.B. im Falle des heiligen Medardus. 112 Hier wird das Problem anders gelöst: Bis zum Ende der Vita folgen Berichte von Wundern, die sich zwar noch zu Lebzeiten der Radegunde ereignen, aber gleichsam nach Schilderung ihres Martyriums. Durch diesen literarischen Kunstgriff können die Wunder, die nun geschildert werden, gleichsam ein Liber de virtutibus sanctae Radegundis ersetzen. Vom Umfang her nehmen sie ohnehin fast ein Viertel der gesamten Schrift ein.113 Zugleich erscheinen die Wunder / miracula als logische Konsequenz aus dem Martyrium: Sic femina pro Christi dulcedine tot amara So nahm die Frau für die Güte Christi freiwillig libenter excepit. Hinc actum est, quod ipsa so viel Bitternis auf sich. Daher geschah es, dass abdiderit, hoc miracula non tacerent. dies, was sie selbst verbarg, die Wunder nicht verschwiegen.114

Ringkompositorisch umschließt Venantius Fortunatus die Schilderung der Wunder, indem er ihr denselben Gedanken vor- und nachstellt, dass nämlich die Tugenden eines Heiligen (von Gott), in den Wundern, die er durch ihn bewirkt, sichtbar werden:

110 Insofern nimmt er einen Aspekt vorweg, den die Radegundisvita der Baudonivia deutlicher herausstreicht. Zu Radegunde als „Musternonne“ bei Baudonivia vgl. GÄBE, Radegundis: Sancta, Regina, Ancilla, 25. 111 So verfasst Venantius Fortunatus neben seiner Vita sancti Hilarii auch noch ein Liber de virtutibus sancti Hilarii, das die Wunder an seinem Grab schildert; im Falle seiner Martinsvita stammen die ergänzenden Bücher über die Wunder am Grab des heiligen Martin von Gregor von Tours. 112 Siehe Venantius Fortunatus, Vita sancti Medardi, XII–XIII, wobei in diesem Falle in den Kapiteln XIV und XV Wunder am Grab angefügt werden. 113 Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XXVI Ende–XXXVIII (63 Ende–90), 45, Z. 29–49, Z. 2 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. 114 Lateinischer Text nach Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XXVI Ende (63 III), 45, Z. 28–30 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2.

3.1.2. Venantius als Biograph

...ubi de paucis agnoscitur in miraculis amplitudo, qua pietate, parcitate, dilectione, dulcedine, humilitate, honestate, fide, fervore sic vixerit...

135

...wo doch aus wenigen in den Wundern die Fülle erkannt werden kann, in welcher Frömmigkeit, Sparsamkeit, Liebe, Güte, Demut, in welcher Tugendhaftigkeit, Glauben und religiösem Eifer sie so gelebt hat...115

Die Schilderung der miracula / Wunder folgt dem Prinzip der variatio. Am Anfang steht die Heilung einer Blinden,116 an die sich die einer vom Teufel geplagten Frau anschließt, aus der durch das Gebet der Heiligen tatsächlich ein Wurm heraus kriecht,117 die Heilung einer Nonne von einer Fiebererkrankung sowie eine Dämonenaustreibung, 118 die Rettung eines Seemanns, der bei einem Sturm auf hoher See um die Fürsprache Radegundes betet, woraufhin sich der Sturm legt119 und wiederum die Heilung eines fieberkranken Mädchens. 120 Diese Wunderberichte erhalten durch die namentliche Nennung (bis auf eine Ausnahme) derjenigen, denen das Wunder zuteil geworden ist, Beweiskraft für die Heiligkeit der Radegunde. Aufgelockert wird diese Darstellung durch zwei anekdotische Wunderberichte, denen ein kurzer Dialog Radegundes mit ihrer Äbtissin (und Pflegetochter Agnes) vorausgeht: Beim ersten Mal droht diese im Scherz, Radegunde zu exkommunizieren, wenn sie nicht innerhalb von drei Tagen, eine Besessene heile, beim zweiten Mal ihr nichts zu essen zu geben, wenn ein ohne Wurzel umgepflanzter Lorbeer nicht ausschlüge, woraufhin beide Wunder zustande kommen.121 Zwei Totenerweckungen rahmen die nächsten vier Kapitel. 122 Sie schließen den Bericht ein über die Errettung einer Nonne vom Tode, nachdem sie im Traum von Radegunde gesalbt worden ist, und die dialogisch gestaltete kurze Erzählung von einem wundersamen Erklingen geistlicher Gesänge bei einem Tanzfest vor den Mauern des Klosters.123 Bei der ersten Totenerweckung handelt es sich um einen kleinen Jungen, den die Eltern kurz nach der Geburt exanimem / leblos zur Bestattung auf das 115 Lateinischer Text nach Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XXXIX (91), 49, Z. 3–5 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. 116 Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XXVII (64–65), 45, Z. 31–46, Z. 2 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. 117 Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XXVIII (66–67) 46, Z. 3–8 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. 118 Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XXIX (68–70), 46, Z. 9–18 und XXX (71–72), 46, Z. 19–26 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. (72 ist eine angeschlossene Schilderung des wundersamen Todes einer Spitzmaus, die sich an einem von Radegunde gesponnenen Wollknäuel vergreifen wollte). 119 Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XXXI (73), 46, Z. 27–32 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. 120 Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XXXII (74), 46, Z. 33–47, Z. 2 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. 121 Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XXXIII (75–77), 47, Z. 3–15 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. 122 Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XXXIV–XXXVII (78–86), 47, Z. 16–48, Z. 20 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. 123 Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XXXV–XXXVI (80–83), 47, Z. 25–48, Z. 8 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2.

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3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

Bußgewand der Radegunde legen, woraufhin das Leben in ihn zurückkehrt.124 Ist dieses Wunder durch namentliche Nennung des Vaters Anderedus beglaubigt, so betrifft die zweite Totenerweckung eine Schwester, die noch ein Kind ist, wohl eine puella oblata aus dem Kloster der Radegunde. Diesmal ist es nicht nur ihr Bußgewand, sondern das aktive Eingreifen Radegundes, das das Mädchen wieder zum Leben erweckt.125 Diese Totenerweckung weist sowohl eine biblische Parallele als auch eine zum Leben des heiligen Martin von Tours auf, worauf von Venantius Fortunatus explizit hingewiesen wird: Praedicetur in laude Christi more beati Martini Es soll zum Lob Christi nach Art des heiligen tempore praesenti antiqui norma miraculi. Martin in gegenwärtiger Zeit ein Wunder verkündet werden, das der Regel alter Zeit folgt.126

Die biblische Parallele ist die Auferweckung der Tochter des Synagogenvorstehers Jairus,127 die zu Martin von Tours eine Auferweckung eines Katechumenen, die sich in Poitiers ereignet. 128 Wie Martin zieht sich auch Radegunde mit dem Leichnam zurück: (85) Condolens sancta tunc imperat, ut cadaver ipsius suam deferret in cellulam. Quo sibi deportato, excepit manu propria, reclusa post se mox ianua, iubens longe discedere, ne quis sentiret quid ageret, sed quod occulte gessit celare diu non potuit.

(85) Aus Mitleid trägt da die Heilige auf den Leichnam in ihre Zelle zu bringen. Als er dort hingebracht worden war, nahm sie ihn mit eigener Hand auf, schloss rasch hinter sich die Tür und ordnete an, dass sie weit weggehen sollten, damit niemand bemerkte, was sie tat, aber was sie heimlich tat, vermochte sie nicht lange zu verbergen.129

124 Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XXXIV (78–79), 47, Z. 16–24 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. 125 Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XXXVII (84–86), 48, Z. 9–20 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. 126 Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XXXVII Anfang (84, I), 48, Z. 9–10 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. 127 Mt 9, 18–26; Mc 5, 21–43, Lc 8, 40–56. In den synoptischen Evangelien ist in die Schilderung dieses Wunders der Bericht von einem weiteren Wunder Jesu eingelegt, nämlich der von der Heilung der blutflüssigen Frau (Mt 9, 20–22; Mc 5, 25–29; Lc 8, 43–48). Parallelen zu diesem Wunder gab es bei Venantius bereits zuvor, als er von der Behandlung eines eitrigen Geschwürs durch ein von Radegunde gesegnetes Weinblatt erzählte, siehe Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XX (47 Ende), 43, Z. 30–33 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. Auch in der Apostelgeschichte findet sich (Ac 9, 40) ein Wunder, das nach diesem Vorbild gestaltet ist: Petrus erweckt Tabita. 128 Siehe dazu Kapitel 7 der Martinsvita des Sulpicius Severus nach der Zählung von FONTAINE: Sulpice Sévère, Vie de saint Martin, introduction, texte et traduction par J. FONTAINE, Paris 1967 (SC 133), dort I, 266–269. In seiner eigenen versifizierten Martinsvita wird diese Wundererzählung ebenfalls aufgegriffen: Venantius Fortunatus, Vita sancti Martini / Vie de saint Martin, I, 159–178, 13f. in der Ausgabe von QUESNEL. 129 Lateinischer Text nach Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XXXVII (85 I), 48, Z. 12–15 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2.

3.1.2. Venantius als Biograph

137

Bei Sulpicius Severus findet Martin den Katechumenen, nachdem er drei Tage abwesend war, bei seiner Rückkehr nach Poitiers aufgebahrt und von den Mitbrüdern beweint vor. Sulpicius Severus fährt folgendermaßen fort: Tum uero, tota sanctum spriritum mente concipiens, egredi cellulam, in qua corpus iacebat, ceteros iubet, ac foribus obseratis super exanimata defuncti fratris membra prosternitur. Et cum aliquamdiu orationi incubuisset sensissetque per spiritum Domini adesse uirtutem, erectus paululum et in defuncti ora defixus, orationis suae ac misericordiae Domini intrepidus expectabat euentum.

Dann befiehlt er, während von ganzem Herzen den Heiligen Geist herbeiwünscht, den übrigen aus der Zelle, in der er lag, hinauszugehen, verriegelt die Türen und wirft sich über die leblosen Glieder des verstorbenen Bruders. Und als er eine Zeit lang sich dem Gebet hingegeben und gespürt hatte, dass die Kraft des Heiligen Geistes da war, richtete er sich ein wenig auf und erwartete, (den Blick) auf das Gesicht des Verstorbenen geheftet, den Ausgang seines Gebets und seines Mitleids.130

In beiden Fällen erfolgt die Totenerweckung also, nachdem sämtliche Zeugen entfernt und der Heilige / die Heilige allein mit dem Toten / der Toten in der Zelle ist. Diese Parallele wird in einem Vergleich mit Venantius eigener Version der Erweckung des Katechumenen um so deutlicher:

Iungitur inde sacro caticumenus ore docendus,

Dann kam zur Lehr‘ durch heiligen Mund ein Katechumene, atque, absente uiro, rapuit graue funus amicum. Und den Freund ihm raubte der bittere Tod, als 160 er fort war. 160 En subito Martinus adest, qui defuit absens.

Plötzlich ist Martin da, der, als er von dannen, so fehlte. Ecce redit pietas, redit, et simul arra salutis. Siehe, zurück die Frömmigkeit kehrt und das Angeld des Heiles. Ergo ubi conspexit gelidum de febre cadauer, Also, sobald er erblickt, den vom Fieber erkalteten Leichnam, flet, gemit, accurit, dolet, heiulat, uritur, angit weint er, seufzt, rennt herbei, und leidet, heulet und quält sich, concipiensque fidem cella omnes iussit abire165 fasst dann Vertrauen (zu Gott) und hieß alle verlassen die Zelle, 165 Exclusitque foris foribus, sine teste relictus. schloss sie draußen aus vor Tür, ohne Zeuge allein nun.131

Während Martins Gefühlsausbrüche beim Anblick des Toten von Venantius in grellen Farben geschildert werden (wobei er seine Vorlage Sulpicius Severus nur 130 Sulpicius Severus, Vita sancti Martini, 7, 3 Anfang, lateinischer Text nach FONTAINE, 268. 131 Venantius Fortunatus, Vita sancti Martini, I, 159–166, lateinischer Text nach QUESNEL, 13.

138

3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

ein wenig erweitert),132 schildert er die Reaktion der Radegunde nur mit einem condolens / aus Mitleid. Außerdem ist es ihre eigene Zelle, in der sie sich mit dem Leichnam einschließt. Was dort in Abwesenheit von Zeugen geschieht, schildert Venantius Fortunatus nicht, ganz anders als in seiner Martinsvita, wo er in diesem Punkt wieder der Vorlage des Sulpicius Severus folgt: Tum super algentis corpus prosternitur ardens, iudicis exactor reuomant ut Tartara functum.

Brennend wirft er sich dann hin über den Leichnam des Kalten, als des Richters Vollstrecker, dass Tartarus ausspeit den Toten.133

Stattdessen schwenkt bei Venantius Fortunatus in der Vita sanctae Radgundis mit dem Point of view, der Blickwinkel der Erzählung, rasch hin und her: Inter haec dum defunctae exsequiae Als währenddessen die Beerdigung der Verpraeparentur, fere per horas septem mortuae storbenen vorbereitet wird, behandelt sie sieben tractat corpusculum. Stunden hindurch den Leichnam der Toten.134

Die Beerdigungsvorbereitungen sind schon im Gange, während Radegunde den Leichnam behandelt, wobei die genaue Art der Behandlung des Leichnams aber nicht geschildert wird. Allerdings wird erwähnt, dass (im Gegensatz zu der Erweckung durch Martin) der Vorgang nicht zwei, sondern symbolträchtige sieben Stunden dauert. Der point of view verbleibt bei Sulpicius Severus und in der Martinsvita des Venantius Fortunatus bei Martin in der Zelle, in welche die Brüder dann hineinkommen. Auch die eigentliche Erweckung durch Martin ist wesentlich ausführlicher geschildert. So bei Sulpicius Severus: Vixque duarum fere horarum spatium intercesserat, uidet defunctum paulatim, membris omnibus commoueri et laxatis in usum uidendi palpitare luminibus.

Und kaum war eine Spanne von ungefähr zwei Stunden vergangen, als er sieht, dass sich der Verstorbene mit allen Gliedern regt und mit zum Sehen geöffneten Augen blinzelt.135

Und in der Versifikation des Venantius Fortunatus:

132 Siehe Sulpicius Severus, Vita sancti Martini, 7, 2, lateinischer Text nach FONTAINE, 268: ...Corpus in medio positum tristi maerentium fratrum frequentabatur officio, cum Martinus flens et eiulans accurit. / ...Der Leichnam lag in der Mitte (der Zelle) und ihm wurde von der Schar der trauernden Brüder die letzte Ehre erwiesen, als plötzlich Martin weinend und heulend herbeieilte. 133 Venantius Fortunatus, Vita sancti Martini, I, 167f., lateinischer Text nach QUESNEL, 13. 134 Lateinischer Text nach Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XXXVII (85 II), 48, Z. 15–17 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. 135 Sulpicius Severus, Vita sancti Martini, 7, 3 Ende, lateinischer Text nach FONTAINE, 268.

3.1.2. Venantius als Biograph

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Interea geminis spatio remorante sub horis,

Und inzwischen, als er verweilte die Zeit von zwei Stunden, ecce redit facies, saliunt per membra uapores, sieh, die Gestalt kehrt zurück und Wärme strömt 170 durch die Glieder, 170 stat rubor inde genis, oculos pupilla repingit Röte steht in den Wangen, die Augen färbt die Pupille rursus et insertus renouat specularia uisus, wiederum, und darin erneuert der Blick den Gesichtssinn, uena tumet riuis animato fonte cruoris. anschwillt die Vene vom Strom der lebendigen Quelle des Blutes.136

Der point of view verbleibt auch hier in der Zelle, wobei Venantius in seiner Version über sein Vorbild hinausgeht137 und die Totenerweckung mit einer Erweckung des ganzen Klosters einhergehen lässt, was im Dank des erweckten Katechumenen endet: Paulatim adsurgit fabrica titubante columna,

Und es steht auf in schwankender Kunst allmählich sein Rückgrat, erigiturque iacens pariter domus et suus hospes. Liegend richtet sich auf zugleich das Haus und 175 sein Gastfreund. 175 Ipse iterum post se uiuens, idem auctor et heres. Nach (seinem Tod) ist er wieder am Leben, selbst Autor und Erbe. Qui rediuus ait, se iudicis ante tribunal Sagt, nachdem er zurück, vor das Tribunal seines Richters ductum damnandum, Martino orante reductum. sei er zum Urteil geführt und durch Martins Gebet rückberufen.138

Während hier das Gebet Martins sowohl während der Erweckung als auch hinterher (als Rettung des Katechumenen vor dem Totengericht) exponiert wird, wird es in der Vita sanctae Radegundis nur an einer Stelle erwähnt. Eine Parallelisierung des sich Erhebens der Toten mit anderen Vorgängen findet sich allerdings auch hier:

136 Venantius Fortunatus, Vita sancti Martini, I, 169–173, lateinischer Text nach QUESNEL, 13f. Die Erweckung des Toten erscheint hier wie eine Metamorphose und weist in ihrer Umkehrung Parallelen zur Verwandlung der Niobe bei Ovid, Metamorphosen, VI, 304f. auf (lateinischer Text nach ANDERSON, Stuttgart / Leipzig 1993): in vultu color est sine sanguine lumina maestis / stant inmota genis; nihil est in imagine vivum / im Gesicht ohne Blut ist die Farbe, starr stehen die Augen / auf den Wangen betrübt, im Bilde ist nichts mehr an Leben. 137 Siehe die Vorlage bei Sulpicius Severus, Vita sancti Martini, 7, 4, lateinischer Text nach FONTAINE, 268: Tum uero, magna ad dominum uoce conuersus, gratias agens cellulam clamore compleuerat. Quo audito, qui pro foribus adstiterant statim inruunt. Mirum spectaculum, quod uidebant uiuere quem mortuum relinquissent. / Dann aber hatte er sich mit lauter Stimme zum Herrn gewandt und ihm dankend die Zelle mit Lärm erfüllt. Kaum, als sie das gehört hatten, stürzten die, welche vor der Tür gestanden hatten, hinein. Welch wundersamer Anblick, dass sie den leben sahen, den sie tot zurückgelassen hatten. 138 Venantius Fortunatus, Vita sancti Martini, I, 174–178, lateinischer Text nach QUESNEL, 14.

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3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

(86) Sed Christo vidente fidem, cui negare non potuit, reddita prorsus salute, surgit haec ab oratione, resurgit illa de funere et se tunc sublevat vetula cum revixisset infantula. Quam tacto iterum signo laetificata reddit vivam, quam flens acceperat mortuam.

(86) Als Christus aber den Glauben sieht, dem er sich nicht verweigern kann, und (daher) die Gesundheit (des Mädchens) gänzlich wiederhergestellt hat, erhebt sich diese (Radegunde) vom Gebet, jenes (das Mädchen) vom Tod, und die alte (Schwester) richtet sich auf, als das kleine Mädchen wieder zum Leben erweckt ist. Diese brachte sie nach der Berührung des Kreuzzeichens froh wieder ins Leben zurück, welche sie weinend als Tote empfangen hatte.139

Dass die Erweckung des Katechumenen durch Martin seinem Publikum bekannt sein dürfte, kann Venantius Fortunatus voraussetzen, da sie sich in Poitiers ereignet hat. Dennoch weist er ausdrücklich darauf hin, lehnt die Darstellung aber nicht strikt an seine eigene versifizierte Form des Wunderberichtes an. 140 Stattdessen baut er eine eigene szenische Dramatik auf und wechselt in diesem kurzen Bericht mehrfach die Perspektive. Zunächst liegt der point of view bei Radegunde in ihrer Zelle, wo sie draußen Weinen hört und sich nach der Ursache erkundigt. Mit dem Bericht der Nonne über den Tod der Schwester und die Vorbereitungen zur Leichenwaschung wechselt er kurz zu der Nonne. 141 Dann liegt der point of view wieder bei Radegunde, schwenkt aber am Ende des Paragraphen kurz auf den Fortschritt bei den Vorbereitungen für die Bestattung und kehrt gleich darauf wieder zu Radegunde und ihrer Behandlung der Toten zurück.142 Durch Einblendung der Bestattungsvorbereitungen erhält die Schilderung eine zusätzliche Dramatik, gleich als ob Radegunde gegen die Zeit arbeite. Die Zeitangabe per horas septem verstärkt diesen Effekt noch. Trotz dieser langen Zeit gibt Radegunde nicht auf. Ihr Glaube / ihre fides bleibt unerschütterlich. Die fides ist zugleich der Schlüsselbegriff für die Realisierung des Wunders, die Venantius Fortunatus in ungewöhnlicher Verbindung von Perspektivwechsel und Parallelisierung darstellt und sie durch antithetische Verwendung von Paradoxien dem Gedächtnis einprägt: Christus sieht Radegundes fides und bewirkt deshalb die Rettung / salus des Mädchens; Radegunde erhebt sich vom Gebet, das Mädchen vom Tod und die alte Nonne / vetula richtet sich (von ihrem Kummer) auf, weil das kleine Mädchen / infantula ins Leben zurückkehrt ist / revixisset. 143 Der letzte Satz streicht dann 139 Lateinischer Text nach Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XXXVII (86), 48, Z. 17–20 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. Das Wort signum kann auch für das Kreuzzeichen stehen, siehe NIERMEYER s. v. Denkbar wäre hier natürlich auch eine Berührung mit der Reliquie des Heiligen Kreuzes, die im Radegunde-Kloster in Poitiers aufbewahrt wurde. 140 Die Martinsvita des Venantius Fortunatus enthält ein Proöm an Radegunde und Agnes, muss als vor der Vita sanctae Radegundis entstanden sein. 141 Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XXXVII (84, II–Ende), 48, Z. 10–12 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. 142 Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XXXVII (85), 48, Z. 12–17 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. 143 Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XXXVII (86 I), 48, Z. 17–19 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2.

3.1.2. Venantius als Biograph

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zusammenfassend noch einmal Radegunde als diejenige heraus, welche die Tote zum Leben erweckt hat,144 und beschließt diese Vierergruppe von Wunderberichten, an deren Anfang bereits eine Totenerweckung gestanden hatte,145 mit einer dramatisierten Schilderung, die zeigt, dass Radegunde wie Martin von Tours sich in dem Zustand höchster göttlicher Gnade befand, der es ermöglicht, Tote wieder zum Leben zu erwecken. Die Schilderung einer Totenerweckung bildet zugleich den Anknüpfungspunkt zu Radegundes eigenem Tod. Dieser wird von Venantius Fortunatus aber nicht direkt geschildert, sondern im Zusammenhang mit der Schilderung eines weiteren Wunders. Ähnlich wie in der zuvor geschilderten Erweckung der infantula lässt sich hier eine auf Dramatik ausgelegte Kompositionstechnik des Venantius Fortunatus aufzeigen. Dass ihr Tod im Rahmen der Wunderberichte interpretiert werden soll, macht bereits der erste Satz deutlich: (87) Commemoretur et illud nobile factum.

(87) Erwähnt werden soll auch jenes ehrwürdige Geschehnis.146

Kurz wird die Ausgangssituation durch Nennung der beteiligten Person, des Zeitpunktes und der Vorgeschichte geschildert: Per somnium tribunus fisci cognomento Domolenus die qua sanctissima migravit de saeculo dum graviter suffocationis totus languore deficeret videbatur ipsi, quod sancta in vicum eius dignabiliter accessisset.

Im Traum schien einem tribunus fisci mit Namen Domolenus an dem Tag, an dem die Heilige aus der irdischen Welt ging, während er schwer an einem Erstickungsanfall litt, dass ihm die Heilige gnädig in sein Dorf gekommen sei.147

Durch ein asyndetisches Trikolon wird die sofortige Reaktion des Domolenus unterstrichen und zugleich in eine Dialogszene übergeleitet: Currit, salutat, interrogat quid beata requireret. (88) Tunc ipsa dicit, quod ad eum illic videndum pervenerit. Et quia votum plebis erat, ut beati Martini oratorium conderent, adprehendit tribuni manum beatissima dicens: Hoc loco sunt confessoris venerandae reliquiae, per hoc aedificate templum, quod sibi ducat dignissimum.

Er eilt, grüßt und fragt, was die Heilige verlange. (88) Da sagt sie, dass sie gekommen sei, um ihn zu sehen. Und weil es der Wunsch des Volkes war, eine Basilika für den heiligen Martin zu bauen, nimmt die Heilige die Hand des tribunus fisci und sagt: An dieser Stelle befinden sich die verehrungswürdigen Reliquien eines Bekenners, dort baut die Kirche, die er als würdigste er-

144 Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XXXVII (86 II), 48, Z. 19–20 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. 145 Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XXXIV (78–79), 47, Z. 16–24 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. 146 Lateinischer Text nach Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XXXVIII (87, I), 48, Z. 21 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. 147 Lateinischer Text nach Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XXXVIII (87, II), 48, Z. 21–24 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2.

142

3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

achten würde.148

Venantius Fortunatus beginnt in indirekter Rede, gibt den entscheidenden Satz der Heiligen aber in direkter Rede wieder. Durch die dialogische Struktur wird die Dramatik gesteigert und das Diktum der Radegunde besonders hervorgehoben. Ein auktorialer Kommentar leitet die Schilderung des daraus resultierenden Wunders ein: Quale dei mysterium! Fundamentum et Was für ein Mysterium Gottes! Ein Fundament pavimentum repertum est, quo basilica facta est. und ein Fußboden wurde dort gefunden, wo die Basilika errichtet wurde.149

Nach dieser Prolepse, die die eigentliche Traumerscheinung verlässt, kehrt Venantius in den Traum zurück und schildert ein weiteres Wunder, dass wiederum in einem Diktum der Radegunde gipfelt: Adhuc in ipso sopore manum trahit per fauces eius, et gulam diu deliniens, insuper et hoc dicens: Veni ut tibi melior a deo sanitas conferatur. Et videbatur sic rogare: Per meam vitam ut propter me relaxes illos, quos habes in carcere.

Noch in diesem Traum greift sie mit der Hand in seinen Rachen und besänftigt über längere Zeit seine Kehle und spricht daraufhin: Ich bin gekommen, damit dir von Gott her eine bessere Gesundheit zuteil werde. Und sie schien ihn folgendermaßen zu bitten: Bei meinem Leben (bitte ich), dass du diejenigen entlässt, die du im Kerker hast.150

Dass dieser Kombination von Auffindungs- / Heilungswunder und Gefangenenbefreiung in der Traumerscheinung ein besonderes Ereignis zugrunde liegen muss, ist offensichtlich. Deswegen deutet Domolenus beim Aufwachen die Erscheinung bereits im Hinblick auf den Tod der Radegunde: (90) Evigilans tribunus refert quod viderat coniugi dicens: Vere credo, quod hac hora exiit sancta de saeculo. Dirigit ad civitatem; ut per hoc vera cognosceret, transmittit ad carcerem qui septem reos ibi retentos admonitus relaxaret. Redeunte transmisso refert ea hora migrasse iustam de saeculo, et triplici mysterio, carcere relaxato, tribuno sano reddito, aedificato templo, sanctae probavit oraculum.

(90) Als er aufwacht, berichtet der tribunus fisci das, was er gesehen hatte, seiner Ehefrau und spricht: Wahrlich, ich glaube, dass die Heilige zu dieser Stunde aus der Welt gegangen ist. Er begibt sich zur Stadt; um dadurch die Wahrheit zu erfahren, sendet er jemanden zum Kerker, der auf sein Geheiß hin die sieben Angeklagten, die dort inhaftiert waren, entlassen sollte. Als der, den er geschickt hat, zurückkehrt, berichtet er, dass zu eben dieser Stunde die Gerechte aus der Welt gegangen sei und bestätigte durch das

148 Lateinischer Text nach Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XXXVIII (87, III–88), 48, Z. 24–27 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. 149 Lateinischer Text nach Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XXXVIII (89, I), 48, Z. 28–29 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. 150 Lateinischer Text nach Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XXXVIII (89 Ende), 48, Z. 29–31 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2.

3.1.2. Venantius als Biograph

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dreifache Mysterium, dass die Gefangenen befreit, der tribunus fisci geheilt und die Kirche errichtet worden war, die Prophezeiung der Heiligen.151

Venantius Fortunatus ersetzt also die Schilderung des Todes der Heiligen durch die eines dreifachen Wunders, wobei es sich streng genommen nur um zwei Wunder handelt, die Entlassung der Gefangenen erfolgt auf Weisung der Heiligen durch Domolenus, nicht durch wunderbares Zerspringen ihrer Ketten, weswegen Venantius Fortunatus nicht von einem dreifachen Wunder / triplici miraculo sondern von einem dreifachen Mysterium / triplici mysterio spricht. Die Unterteilung dieses Wunderberichts in Traumvision und Bestätigung hat dabei zwei Funktionen: Erstens dient sie als Ersatz für einen Zeugenbericht über eine Himmelfahrt, wie man ihn sowohl in paganer 152 als auch christlicher Literatur findet.153 Zweitens werden

151 Lateinischer Text nach Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XXXVIII (90), 48, Z. 32–49, Z. 2 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. Auch der Biograph Sulpicius Severus (Ep. II, 1–6) erfährt vom Tode des heiligen Martin durch eine Traumvision, die allerdings nicht mit Wundern verbunden ist, sondern ganz die Züge einer Himmelfahrt trägt, vgl. dazu HUBER-REBENICH (Hrsg.), Vita sanctae Radegundis, 63, Anm. 110. 152 Ein berühmtes Beispiel aus dem paganen Bereich ist der Bericht des Proculus Iulius, der die Apotheose des Romulus erst bestätigt, siehe Livius, Ab urbe condita, I, 16, 5–8, (lateinischer Text nach Titi Livi Ab urbe condita, rec. et adnot. crit. instr. R. M. OGILIVIE, I, Oxford 1974): (5) Et consilio etiam unius hominis addita rei dicitur fides. Namque Proculus Iulius, sollicita ciuitate desiderio regis et infensa patribus, grauis, ut traditur, quamuis magnae rei auctor in contionem prodit. (6) ‘Romulus,’ inquit, ‘Quirites, parens urbis huius, prima hodierna luce caelo repente delapsus se mihi obuium dedit. Cum perfusus horrore uenerabundusque adstitissem petens precibus ut contra intueri fas esset, (7) “Abi, nuntia” inquit, “Romanis, caelestes ita uelle ut mea Roma caput orbis terrarum sit; proinde rem militarem colant sciantque et ita posteris tradant nullas opes humanas armis Romanis resistere posse.” (8) Haec’ inquit ‘locutus sublimis abiit.’ Mirum quantum illo uiro nuntianti haec fidei fuerit, quamque desiderium Romuli apud plebem exercitumque facta immortalitatis lenitum sit. / (5) Und der Sache wurde auch durch die kluge Überlegung eines einzigen Mannes Glaubwürdigkeit verliehen. Denn Proculus Iulius trat, nachdem die (ganze) Stadt in Aufruhr war und den Vätern feindlich gegenüberstand, als gewichtiger Gewährsmann einer großen Sache in der Volksversammlung hervor und sprach: (6) „Romulus, Quiriten, der Vater dieser Stadt, ist vom Himmel herabgestiegen und mir heute bei Tagesanbruch erschienen. Als ich, von Schrecken erfüllt und in Ehrfurcht verharrend, zum Stehen gekommen war, richtete ich die Bitte an ihn, es möge mir erlaubt sein, ihn anzusehen. (7) ‚Geh,’ sprach er, ‚künde den Römern, dass die Himmlischen es so wünschen, dass mein Rom die Hauptstadt der Welt sei; daher sollen sie das Kriegswesen pflegen und kennen und es so ihren Nachkommen übergeben, dass keine menschliche Kraft den römischen Waffen widerstehen kann.’ (8). Als er dies“, sprach er, „gesagt hatte, fuhr er auf in die Höhe.“ Es ist seltsam, wie viel Vertrauen jenem Mann, der das berichtete, geschenkt und wie die Sehnsucht nach Romulus bei Volk und Heer nach Bestätigung seiner Unsterblichkeit gelindert wurde. Wenn auch Livius zuvor (I, 16, 1–4) die Apotheose des Romulus als ein plötzliches Verschwinden unter großem Donner geschildert hatte, erhält sie für das einfache Volk ihre Bestätigung erst durch eine Erscheinung des Romulus, für die es einem namentlich genannten Zeugen gibt. Bei Livius wird sie durch die Furcht des Zeugen als typische Göttererscheinung charakterisiert. Bemerkenswert ist hier, dass sowohl der Stadtgründer Romulus wie die Klostergründerin Radegunde die Erscheinung

144

3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

die Wunderberichte dadurch so abgeschlossen, dass die wichtigsten Akzente im Leben und Wirken der Radegunde noch einmal akzentuiert werden. War sie im Leben Klostergründerin, so stiftet bzw. erneuert sie hier einen Märtyrerkult. Hatte sie sich schon in ihrer Zeit als regina am Hofe für die Freilassung von Gefangenen eingesetzt und war das erste Wunder, das Venantius Fortunatus von ihr berichtet, das Zerbrechen der Ketten von Gefangenen, die sie um Hilfe angerufen hatten,154 so werden auf ihr Geheiß hin hier ebenfalls Gefangene auf freien Fuß gesetzt. Diese Gefangenenbefreiung geschieht in Verbindung, gleichsam als Gegenleistung zu der Befreiung des Domolenus von seinen Erstickungsanfällen, einem Heilungswunder. Es ist aber mehr als ein Heilungswunder, es steht in Zusammenhang mit der vorher berichteten Totenerweckung:155 Radegunde befreit den tribunus fisci von dem Tod, den sie in dieser Stunde erleidet. Damit ergibt sich wiederum eine Parallele zu Christus, dessen Tod ebenfalls stellvertretend ist. Diese artifizielle inhaltliche Komposition wird durch die Darstellung als Traumvision und Bestätigung mit eingelegten dialogischen Passagen dramatisch exponiert, so dass beim Publikum des Venantius Fortunatus kein Zweifel an der Heiligkeit der Radegunde aufkommen kann, obwohl weder ein Abschnitt über de virtutibus / über die Wunder, die sich an ihrem Grab ereignen, existiert noch irgend etwas über ihre Bestattung berichtet wird. Stattdessen wird die Vita mit einem kurzen Tugendkatalog beschlossen.156 Charakteristisch an dieser Vita ist vor allen der dreifache Argumentationsgang, der nach den äußerlichen Lebensphasen der Radegunde, einerseits ihre Bestimmung zum monastischen Leben und andererseits ihre Heiligkeit beweist. Auch Anfang und Ende, die mit Nennung der Herkunft und abschließender Würdigung (im Gegensatz zum Mittelteil) Nähe zum suetonischen Vitenschema aufweisen, sind diesem Beweisziel untergeordnet: Durch ihr Exil wird Radegunde bereits mit dem Geschick des Volkes Israel in Zusammenhang gebracht; der Tugendkatalog am Ende fasst ihre Heiligkeit prägnant zusammen. Durch diese Konzeption aber steht die Vita in engem Zusammenhang zu rhetorischen Schriften und geht im

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für Aufträge an Proculus Iulius bzw. Domolenus verwenden, die inhaltlich natürlich unterschiedlicher Natur sind. Eines Zeugenberichtes zur Bestätigung der Himmelfahrt seines Urgroßvaters bedient sich auch Gregor von Tours, Liber vitae patrum, VII, De Sancto Gregorio episcopo, 4 (lateinischer Text nach Gregorii Episcopi Turonensis Miracula et opera minora, ed. BRUNO KRUSCH, Hannover 1885 [MGH, SRM, I, 2] 239, Z. 14–16): Post haec beatus confessor multis se virtutibus declaravit. Agebat enim quidam religiosus, caelos se apertos in die eius sepulturae vidisse; nec enim ambigitur, quod post actus angelicos sidereis sit coetibus adgregatus... / Danach offenbarte sich der Bekenner in vielen Wundern. Es erzählte nämlich ein gewisser Mönch, dass er am Tag seines Begräbnisses den Himmel offen gesehen habe; denn es besteht kein Zweifel, dass er nach Taten, die den Engeln zukommen, der himmlischen Gesellschaft beigesellt worden ist... Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XI (23–25), 41, Z. 11–19 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XXXVII (84–86), 48, Z. 9–20 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XXXIX (91), 49, Z. 3–6 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2; vgl. dazu die entsprechenden Ausführungen oben in diesem Kapitel.

3.1.2. Venantius als Biograph

145

Hinblick auf die Zielsetzung über eine reine epideiktische „Lobrede“ hinaus. All das deutet darauf hin, dass diese Vita auch zu einem ganz bestimmten Anlass verfasst worden ist. Was diesen Anlass betrifft, so kann der Tod der Radegunde noch nicht lange zurückliegen, da sich sonst Berichte von Wundern an ihrem Grab fänden. 157 Wie bereits gesagt besteht die Zielsetzung ganz offensichtlich darin, Radegunde als Heilige zu etablieren. Bedenkt man, dass die Position der Radegunde in ihrem Kloster nicht die einer einfachen Nonne gewesen ist, sondern die einer mater et domna, die zugleich für den Verkehr des Klosters mit der Außenwelt zuständig war,158 musste der Tod der Radegunde für das Kloster einem markanten Einschnitt bedeuten, der auch die Existenz des Klosters selbst betraf. Während der Lebenszeit der Radegunde hatte es stets Spannungen mit dem Bischof von Poitiers, Maroveus, gegeben, was von Gregor von Tours als Hauptgrund dafür angeführt wird, dass Radegunde die Regel des Caesarius von Arles in ihrem Kloster einführte und sich unter den direkten Schutz des Königs stellte.159 Die Überführung der Kreuzesreliquien in das Kloster der Radegunde müssen ebenfalls in Hinblick auf die Bemühungen zur Absicherung der Stellung des Klosters verstanden werden.160 Nach 157 Bereits MEYER, Der Gelegenheitsdichter Venantius Fortunatus, 23 geht (allerdings ohne nähere Begründung) von einem zeitlichen Zusammenhang aus: „Die Vita des G e r m a n u s († 576) und der R a d e g u n d e († 587) sind natürlich kurze Zeit nach dem Tode der beiden, von Fortunat hochgeehrten Personen verfasst.“ Vgl. auch J. FONTAINE, Hagiographie et politique, de Sulpice Sévère à Venance Fortunat, in: La christianisation des pays entre Loire et Rhin (IV–VII). Actes du colloque de Nanterre 3–4 mai 1974 (Revue d’ histoire de l’Eglise de France 62 = No. 168), Paris 1976, 113–140, hier 138. Fontaine geht davon aus, dass durch die Vita der Radegundekult in ihrem Kloster im Hinblick auf ein Ideal monastischer Askese gefördert werden soll. Vgl. dazu auch HUBER-REBENICH (Hrsg.), Vita sanctae Radegundis, 89 (Nachwort): „Als Zielgruppe der Vita hat man sich somit wohl die Insassen des Heiligkreuzklosters in Poitiers vorzustellen, aber ebenso den gallischen Klerus, der für eine Verbreitung des Kultes über die Klostermauern hinaus sorgen kann.“ 158 Vgl. dazu GÄBE, Radegundis: Sancta, Regina, ancilla, 14. Ausführlich zur Stellung der Radegunde G. SCHEIBELREITER, Königstöchter im Kloster, Radegund († 587) und der Nonnenaufstand in Poitiers (589), in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 87 (1979), 1–37. Gerade die Tatsache, dass es nur zwei Jahre nach dem Tode der Radegunde einen Nonnenaufstand gibt, der sich gegen die Äbtissin richtet, macht deutlich, dass die Position des Klosters noch keineswegs gefestigt ist. 159 Gregor von Tours, Hist. Franc., IX, 40, siehe insbesondere folgende Passage (lat. Text nach BUCHNER, II, 304, Z. 3–11): De qua regulam / sancti Caesarii atque Casariae beatae susceptam, reges se tutione munierunt, scilicet quia in illum, qui pastor esse debuerat, nullam curam defensiones suae potuerant repperire. Ex hoc scandalum de diae in diae propagatum, tempus migrationis beatae Radegundis advenit. Qua migrante, iterum petiit abatissima se sub sacerdotis sui potestate degere. Quod ille cum primum respuere voluisset, consilio suorum promisit, se patrem earum, sicut dignum erat, fieri et, ubi necessitas fuisset, suam praebere defensionem. / Als sie dort die Regel des heiligen Caesarius und der heiligen Casaria empfangen hatten, schützten sie sich durch die Protektion des Königs, weil sie nämlich bei dem, der ihr Hirte hätte sein müssen, keine Bemühung um Verteidigung zu finden vermocht hatten. Die daraus erwachsene Zwietracht verbreitete sich Tag für Tag; schließlich kam die Zeit des Todes der heiligen Radegunde. Als sie starb, versuchte die Äbtissin sich wiederum unter den Schutz des Bischofs zu stellen. Obwohl er dies zunächst zurückweisen wollte, versprach er auf Drängen seiner Berater, dass er, so wie es würdig war, der (geistliche) Vater (der Nonnen) werden, und, wo die Notwendigkeit bestünde, seinen Schutz gewähren wolle. 160 Vgl. dazu die entsprechenden Ausführungen in Kapitel 2. 1. 2 dieser Arbeit.

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3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

dem Tode der Radegunde könnte sich eine weitere Komplikation durch eine mögliche Konkurrenz zum bereits etablierten Hilariuskult ergeben haben, hinter dem sich, bedingt durch den Strom der Pilger, wohl auch handfeste wirtschaftliche Interessen verbargen. Da zuvor in erster Linie die besondere Stellung der regina Radegunde Begehrlichkeiten auf die Kreuzesreliquien entgegengestanden hatte, war unter den neuen Umständen wohl durchaus eine Situation denkbar, in der eine Translation der Kreuzereliquien an einen anderen Ort zu befürchten war. Eine Etablierung der Radegunde als Heilige bereits kurz nach ihrem Tod würde die Stellung des Klosters erhalten und festigen. 161 Dass im Gegensatz zur späteren Radegundisvita der Baudonivia 162 das Begräbnis und die virtutes post mortem Radgundis ausgespart bleiben, ist ein zusätzliches Argument für eine Abfassungszeit unmittelbar nach ihrem Tod. Aufgrund der engen Bindung 163 des Venantius Fortunatus an das Kloster und seine Gründerin und des Fehlens jedes Hinweises auf eine Leichenrede in dessen Werk, ist die Vermutung wohl nicht völlig abwegig, dass seine Vita sanctae Radegundis eine solche gleichsam ersetzt hat, wenn es auch auf Grund der Länge nicht wahrscheinlich ist, dass Venantius Fortunatus sie bereits zur Bestattung Radegundes fertig gestellt hat. Den Plan dazu kann er aber unmittelbar nach ihrem Tode gefasst und die Ausarbeitung begonnen haben. Die durch und durch rhetorische Konzeption als argumentatio mit einem dreifachen Beweisgang deutet wiederum auf die Wichtigkeit des Zieles, dem Venantius Fortunatus mit einer gewissen Dringlichkeit nachgekommen ist.

161 Tatsächlich gibt es Anzeichen für eine spätere Konkurrenz zwischen dem Hilarius und Radegundiskult in Poitiers in der Radegundisvita der Baudonivia, die gerade darin deutlich wird, dass die Verfasserin eine friedliche Koexistenz beider Kulte so betont propagiert, vgl. GÄBE, Radegundis: sancta, regina, ancilla, 20f. mit Anm. 127. Diese Kultkonkurrenz wird aber durch die Verehrung der Kreuzesreliquien im Kloster der Radegunde schon zuvor bestanden haben. Die Heiligkeit der Klostergründerin stärkt nach deren Ableben die Position ihres Klosters in einer solchen Konkurrenz. 162 Baudonivia, Vita sanctae Radegundis, XX–XXIV liefert einen ausführlichen Bericht von Tod und Begräbnis der Radegunde, auf die dann (XXV–XXXII) die Schilderung von Wundern nach ihrem Tode folgt. 163 Zur Beziehung zwischen Venantius Fortunatus und Radegunde vgl. auch V. EPP, Männerfreundschaft und Frauendienst bei Venantius Fortunatus, in: Variationen der Liebe. Historische Psychologie in der Geschlechterbeziehung, hrsg. von T. KORNBICHLER & W. MAAZ (Forum Psychohistorie, Bd. 4), Tübingen 1995, 9–26.

3.1.2. Venantius als Biograph

147

3.1.2.3. Zusammenfassung Ausgangssituation und Zielsetzung der Vita sanctae Radegundis stehen in Zusammenhang mit einigen der oben untersuchten inhaltlichen und stilistischen Aspekte des Werkes. Anders als im Brief an Martin von Braga,164 richtet sich diese Schrift nicht an eine hoch gebildete Einzelperson, sondern an ein breiteres Publikum. Die Stilhöhe wird daher abgesenkt, die Sätze folgen dem Ideal der brevitas und perspicuitas. An die Stelle einer ausgefeilten, artifiziellen Metaphorik tritt eine episodische Erzählweise, die bis hin zur szenischen Darstellung dramatisiert wird, in der dem wörtlich wiedergegebenen Diktum der Heiligen eine besondere Bedeutung zukommt. Dabei nimmt die Ausführlichkeit der Darstellung zum Ende der Vita sanctae Radegundis deutlich zu: Während das letzte Wunder zu Lebzeiten der Heiligen, eine Totenerweckung, zur Erhöhung der Dramatik mit gleitendem point of view geschildert wird und es an Ende einer Gruppe von Wundererzählungen steht, deren Einleitung ebenfalls eine Totenerweckung bildet, wird im darauf folgenden Kapitel aus einem gänzlich anderen point of view erzählt: An die Stelle einer Schilderung des Todes der Heiligen treten die Erlebnisse des tribunus fisci Domolenus, die sich als artifizielle Kombination dreier mysteria präsentieren, welche die Heilige Domolenus in einer Traumvision ankündigt. Zeigt sich hier eine Stilhöhe und Publikum angepasste Kompositionstechnik innerhalb der Mikrostruktur, so folgt auch die Komposition der Makrostruktur einfachen, Ziel orientierten Prinzipien. Es handelt sich um keine bloße Aufzählung von Wunderberichten, sondern um einen dreifachen Beweisgang, der den einzelnen Lebensphasen der Radegunde zugeordnet ist: Kindheit und Zeit als weltliche regina, 165 nach Rückzug aus dem weltlichen Leben, aber vor der Klostergründung in Poitiers,166 und ihr Leben im Kloster in Poitiers bis zu ihrem Tod.167 Diese drei Phasen sind wiederum jeweils in eine Schilderung typischer, charakteristischer Geschehnisse aus dem Alltag der Radegunde und Wunderberichte unterteilt. Einmalige äußere Ereignisse werden nur berichtet, sofern sie in einem engen Zusammenhang zu ihrer Hinwendung zur vita religiosa stehen (wie der Tod des Bruders und ihre Weihung zur Diakonin durch Medardus),168 ansonsten ausgeblendet (wie die Überführung der Kreuzesreliquien). 169 Häufig nach inhaltlichen Kriterien in Gruppen zusam164 Venantius Fortunatus, Carm., V, 1. Siehe dazu die entsprechenden Ausführungen in Kapitel 3. 1. 1. dieser Arbeit. 165 Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, II–XI (3–25), 38, Z. 13–41, Z. 19 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. 166 Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XII–XX (26–49), 41, Z. 20–44, Z. 4 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. 167 Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XXI–XXXVIII (50–90), 44, Z. 5–49, Z. 2. bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. 168 Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XII (26–28), 41, Z. 20–31 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. 169 Vgl. dazu GÄBE, Radegundis: Sancta, Regina, Ancilla, 16f., wo sie davon ausgeht, dass dieser Punkt bewusst unterdrückt wurde, um den Konflikt mit dem Stadtbischof Maroveus nicht thematisieren und nicht herausstellen zu müssen, dass Radegunde nämlich „den Rahmen

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3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

mengefasst haben sie argumentative Funktion, die Radegundes Berufung zur vita religiosa schon von Kindesbeinen an beweisen sollen. Die Wunderberichte am Ende eines jeden Abschnittes bestätigen diese Berufung von göttlicher Seite und haben somit ebenfalls argumentativen Charakter. Der Raum, den Venantius Fortunatus den Wunderberichten einräumt, nimmt gegen Ende der Vita sanctae Radegundis deutlich zu: Wurden die ersten beiden Abschnitte jeweils nur durch ein Kapitel mit Wunderberichten beschlossen, 170 besteht mehr als die Hälfte der Schilderung der Zeit der Radegunde im Kloster von Poitiers aus Wunderberichten, die dann in das Dreifachmysterium bei ihrem Tod einmünden. 171 Diese Wunder decken die Bereiche ab, die auch von den Wundern Jesu im Neuen Testament her bekannt sind: Heilungswunder, Austreibung von Dämonen bis hin zur Totenerweckung. Damit wird sie in die Tradition Jesu und der Heiligen gestellt, die wie Martin von Tours kraft göttlicher Gnade Wunder wirken können. Mit Martin von Tours wird sie explizit parallelisiert, indem Venantius Fortunatus unter Nennung des Heiligen als letztes Wunder zu Lebzeiten der Radegunde von einer Totenerweckung berichtet, deren Vorbild in Poitiers einen gewissen Bekanntheitsgrad gehabt haben dürfte, da es sich ebenfalls in Poitiers ereignet hat.172 Die Häufung der Wunderberichte am Ende ersetzt zugleich einen Abschnitt De virtutibus post mortem / über die Wunder, die sich nach ihrem Tode (an ihrem Grab) ereignen. In der Schilderung ihres Alltagslebens, sowohl vor als auch nach dem Rückzug aus den weltlichen Angelegenheiten, liegt der Schwerpunkt auf bestimmten Bereichen: Denn durch ihre nächtlichen Gebete, Buß- und Fastenübungen erweist sich Radegunde als wahrhaft humilis, ein paradoxer Gegensatz zu ihrer Stellung als regina, der von Venantius Fortunatus verschiedentlich antithetisch herausgestrichen wird. Zentraler Aspekt ist hier die geglückte Nachfolge Christi bzw. der Märtyrer; damit das Publikum Radegunde in die ihm vertrauten Schilderungen von Märtyrerpassionen einreiht, wird von Venantius Fortunatus in Zusammenhang mit ihren exzessiven asketischen Übungen mehrfach ausdrücklich auf diese Parallele hingewiesen. Die Tatsache, dass Venantius Fortunatus derartige Hinweise für nötig erachtet, macht deutlich, dass das intendierte Publikum wohl nicht homogen ist, was seinen Bildungsstand betrifft. Für einen Rezipienten von der Bildung eines Martin von Braga hätten Andeutungen ausgereicht, explizite Deutungen wären überflüssig gewesen. Einem solchen Publikum ist ein nahezu völliger Verzicht auf eine metaphorische Ebene angemessen, implizite Parallelen gibt es nur zu neutestamentarischen Stellen, die aus der Liturgie vertraut sein müssen. So heilt Radegunde zwar keine Leprakranken, hat aber, ohne Furcht, sich anzustecken, Umgang dessen, was einer einfachen Nonne – und das war sie, kirchenrechtlich gesehen – erlaubt war, weit überschritten“ hatte (Zitat 16). Allerdings muss man hier anmerken, dass Venantius Fortunatus auch alle anderen Ereignisse, die keinen typologischen Charakter hatten, übergeht. 170 Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XI (23–25), 41, Z. 11–19 (nur ein Wunder) und XX (47–49), 43, Z. 30–44, Z. 4 (drei Wunder) bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. 171 Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XXVI (Ende)–XXXVIII (63 Ende–90), 45, Z. 29–49, Z. 2 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. 172 Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XXXVII (84–86), 48, Z. 9–20 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2.

3.1.2. Venantius als Biograph

149

mit ihnen;173 die Bewirtung der Aussätzigen durch Radegunde rekurriert nicht nur auf das entsprechende Heilungswunder durch Jesus,174 sondern wohl auch auf Jesu Mahl mit den Zöllnern.175 Ebenso liegt ein Akzent auf der biblischen Parallele, wenn Venantius Fortunatus berichtet, Radegunde habe in ihrer Zeit als weltliche regina geistlichen Würdenträgern, die in den Königspalast gekommen seien, die Füße gewaschen. 176 Zwar lässt sie sich am folgenden Tag von dem geistlichen Lehrer belehren und ordnet sich somit in gewisser Weise kirchlicher Autorität unter,177 die biblische Parallele liegt aber in Fußwaschung der Jünger durch Jesus vor dem letzten Abendmahl. 178 Nimmt man diese Parallele ernst, so stehen die geistlichen Würdenträger auf Stufe der Apostel, Radegunde aber auf der von Jesus und damit höher. So dient auch diese Stelle dazu, die Heiligkeit der Radegunde zu exponieren und jedem Zweifel daran von vorne herein die Grundlage zu entziehen. Die angewandten kompositorischen und stilistischen Mittel haben dabei die Aufgabe, bereits unmittelbar nach dem Tod der Radegunde ihre Heiligkeit zu propagieren und einen Heiligenkult zu etablieren. Darüber hinaus weist die Vita sanctae Radegundis viele Züge auf, die sich auch in den anderen Viten des Venantius Fortunatus finden. Dies betrifft vor allem die Stilhöhe und die Kompositionstechnik in der Mikrostruktur. In der Makrostruktur findet sich normalerweise eine schematische Vorgehensweise des Autors: Nach einer Einleitung allgemeiner Natur geht er auf die Herkunft und den Werdegang des Heiligen ein. Es folgt in der Regel eine episodenhafte Schilderung typischer Ereignisse und Wunder. Den Abschluss bilden der Tod bzw. Wunder bei Tod und Begräbnis und Wunder, die sich nach dem Tode des Heiligen ereignet haben, die wie im Falle des Hilarius aber auch ein ganzes Buch füllen können. Damit verwendet er dasselbe Schema, wie es sich auch in den (zeitgleichen) Viten des Gregor von Tours findet. Wie bei Gregor kann die Vita (z. B. die Vita sancti Hilarii über Hilarius von Poitiers für einen bereits etablierten Heiligenkult zur lectio beim Fest des Heiligen)179 aber auch für einen sich erst etablierenden Kult verfasst sein (z. B. die Vita sancti Germani über Germanus von Paris). Wichtig für Venantius Fortunatus als Biograph ist, wie die Analysen der Proömien und der Vita sanctae Radegundis gezeigt haben, an erster Stelle das 173 Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XIX (44–46), 43, Z. 19–29 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. 174 Mc 1, 40–45; Mt 8, 2–4; Lc 5, 12–16. 175 Mc 2, 13–17; Mt 9, 9–13; Lc 5, 27–32. 176 Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, VIII (19–20), 40, Z. 26–33 bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. 177 Siehe dazu GÄBE, Radegundis: Sancta, Regina, Ancilla, 16f., wo sie darauf hinweist, dass hier und in einigen anderen Kapiteln der Vita Radegundes „‚probischöfliche’ Haltung klar zutage“ (17) trete. „Nach einer Aussage über das Verhältnis zu Amtsträgern der Kirche in der Klosterzeit sucht man in der Vita Fortunats vergebens, das Lob ihrer Folgsamkeit der Kirche gegenüber steht aber so exponiert und ist so einprägsam, daß stillschweigend der Eindruck erweckt wird, es habe für ihr ganzes Leben Gültigkeit.“ (17). 178 Io 13, 1–20. 179 Ausführlicher zu Hilarius von Poitiers M. DURST, Hilarius von Poitiers als orthodoxes Leitbild der Spätantike, in: J. DUMMER / M. VIELBERG (Hrsg.), Leitbilder im Spannungsfeld von Orthodoxie und Heterodoxie, (AwK 19), Stuttgart 2008, 47–99.

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3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

Prinzip der Anpassung. Während die Funktion der jeweiligen Vita theoretisch unterschiedlich begründet werden kann, fußt sie doch auf denselben Grundelementen, die von Heiligen zu Heiligen in verschiedener Weise akzentuiert werden. Die Grundelemente finden sich so auch bei Gregor von Tours, sind also keineswegs originell, neu ist allerdings, dass mit Venantius Fortunatus erstmals die persönliche Beziehung des Verfassers zum Gegenstand seiner Vita zu einem „formale[n], rein literarische[n] Verhältnis“180 wird. Dieses „literarische Verhältnis“ bestimmt auch die Viten des Venantius Fortunatus, deren Gegenstand er persönlich verbunden war, wie die Vita sancti Germani oder die Vita sanctae Radegundis. Auch hier ist das Prinzip der Anpassung an Situation, Publikum und Zielsetzung zu beobachten. Venantius Fortunatus senkt (im Vergleich zu seinen Briefen) die Stilhöhe und verzichtet auf elaborierte Metaphern. Seine Kompositionstechnik ist dabei allerdings weder, was die Makrostruktur noch was die Mikrostruktur des Textes angeht, kunstlos. In seinen Reihungen von charakteristischen Episoden und Wunderberichten folgt er den Prinzipien der Bildung von kleineren Einheiten, die entweder durch Zusammenhörigkeit oder Variation der Thematik bestimmt sind. In der Vita sanctae Radegundis haben diese Reihungen argumentativen Charakter, den Wunderberichten kommt die Funktion von Beweismitteln zu. In der Mikrostruktur der Episoden werden geschickt Elemente der Dramatisierung eingesetzt, die Schilderung eines dreifachen Mysteriums anstelle des Todes der Radegunde ist komplex ersonnen und ersetzt geschickt den Teil de virtutibus / der Berichte über Wunder an ihrem Grab, der gewöhnlich den zweiten Teil des Vita ausmacht, aber auch (wie im Falle des Hilarius) eine eigene Schrift füllen kann. Innerhalb der Mikrostruktur verbindet zudem – trotz der unterschiedlichen Stilhöhe – Venantius Vorliebe für antithetische Verwendung von Paradoxien seine Viten- mit seiner Briefliteratur. Man sieht also auch hier, dass sich Venantius Fortunatus keineswegs mit traditionellen Vorgaben zufrieden gibt, sondern je nach Anlass und Zielsetzung eigene Wege beschreitet. So erhalten Wunderberichte und abgeschlossene Episoden mitunter eine zusätzliche Funktion, die ganz auf die allgemeine Zielsetzung der Vita abgestimmt ist, nämlich entweder einen bereits bestehenden Heiligenkult zu stabilisieren oder einen neuen zu etablieren.

180 BERSCHIN, Biographie und Epochenstil, I, 280.

3.1.3. Venantius Fortunatus als theologischer Schriftsteller Allgemeine Vorbemerkungen Die klerikale Seite des Venantius Fortunatus zeigen zwei kleinere theologische Traktate, die in der Sammlung seiner Carmina überliefert sind und dort exponiert die Bücher X und XI einleiten. Es handelt sich um Exegesen zum Vater unser1 und zum Glaubensbekenntnis. 2 Während im zehnten Buch drei weitere Prosastücke, nämlich Briefe folgen3, ehe die Reihe der Gedichte eröffnet wird, bildet die expositio symboli / die Erklärung des Glaubensbekenntnisses das einzige Prosastück des elften Buches. Exemplarisch sei hier die expositio symboli einer genaueren Betrachtung unterzogen, da die Quelle des Venantius Fortunatus bekannt ist und somit gezeigt werden kann, wie er sich hier fremdes Material aneignet und welche Schwerpunkte er dabei setzt. Gattungsgeschichtlich lässt die expositio symboli dem seit hellenistischer Zeit entwickelten und in christlicher Literatur übernommenen Schema des Kommentars zuordnen,4 womit sich Venantius Fortunatus in einem Spektrum bewegt, das in der Spätantike allein von der Quantität her den größten Teil der literarischen Produktion ausmacht:5 Nach einem allgemeinen Proöm wird der Text Zeile für Zeile bzw. Ausdruck für Ausdruck in verschiedener Hinsicht interpretiert. Die älteste Form besteht im Scholienkommentar, indem entweder marginal oder interlinear kurze Informationen dem Text (neben Wort- und Sacherklärungen, Zitate von Parallelen, lexikologische, syntaktische, antiquarische und historische Erläuterungen) hinzu1 2 3 4

5

Venantius Fortunatus, Carm., X, 1: Expositio orationis dominicae, 39–59 bei REYDELLET, III, Paris 2004. Venantius Fortunatus, Carm., XI, 1: Exposition symboli, 101–113 bei REYDELLET, III. Venantius Fortunatus, Carm., X, 2–4, 60–70 bei REYDELLET, III. Für einen ersten Überblick zur christlichen Kommentarliteratur siehe T. FUHRER, Art.: Kommentar, in: LACL (11998), 381–383. Zum Bibelkommentar siehe auch J. GRIBOMONT, Bibel, B, b) – d) Bibelglossen, Bibelkommentare, Bibelkatenen, in: LexMa Bd. 2, Sp. 42–44. Zu den im sechsten Jahrhundert aufkommenden Katenen siehe, B. NEUSCHÄFER, Katene, in: LACL (1 1998), 374f. Ausführlich zur Kommentarliteratur und ihrer Genese J. GEFFCKEN, Entstehung und Wesen des griechischen wissenschaftlichen Kommentars, Hermes 67 (1932), 397–412; I. HADOT, Les introductions aux commentaires, in: Les règles de interprétation, hrsg. M. TARDIEU, Paris 1987, 99–122 und für den christlichen Bereich R. SCHLIEBEN, Christliche Theologie und Philologie in der Spätantike. Berlin 1974 sowie F. SIEGERT, Homerinterpretation - Tora-Unterweisung - Bibelauslegung. Vom Ursprung der patristischen Hermeneutik (Studia patristica 25), Löwen 1993. Über die aktuelle Diskussion informiert G. MOST (Hrsg.), Commentaries – Kommentare (Aporemata 4), Göttingen 1999. Vgl. dazu R. HERZOG (Hrsg.), Restauration und Erneuerung: Die lateinische Literatur von 284 bis 374 n. Chr. (Handbuch der lateinischen Literatur der Antike, Bd. 5) München 1989, § 500, Einführung in die lateinische Literatur der Spätantike, 32f.: „…Es muß vor dem Hintergrund einer Kultur globaler Auslegung gesehen werden (sie ist in ihrer Ausprägung als schulmäßige curiositas wohlbekannt) – einer Kultur der Welterklärung durch normative Texte, nicht mehr der Weltdarstellung durch normative Werke. Zu einem solchen normativen Text schließen sich in der christlich-profanen Mischliteratur der Epoche römische Klassiker und Bibel zusammen…“ (ebendort 33).

152

3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

gefügt werden. Dabei vollzieht sich die Übernahme im jüdisch-christlichen Bereich in verschiedenen Stufen, wobei in der jüdischen Tradition Philo von Alexandria zu nennen ist, dessen Pentateuch Auslegung allerdings nicht systematisch an einzelnen Lemmata arbeitet,6 während im christlichen Bereich bereits im Lukasevangelium durch Jesus selbst eine alttestamentarische Stelle ausgelegt wird.7 Bei Origenes finden sich verschiedene Arten exegetischen Schrifttums, die nach dem jeweiligen Publikum differenziert sind. Neben der homiletischen Exegese verwendet er für ein weiter fortgeschrittenes Publikum (im Schulbetrieb in Alexandria) das pagane Kommentarschema mit der systematischen Erklärung einzelner Lemmata. Allerdings folgt er den paganen Schemata und Topoi nicht sklavisch, sondern schreibt „seine Bibelkommentare in einem bestimmten theologischen Horizont mit heilspädagogischen Zweck“ und rezipiert „daher das philologische Instrumentarium nicht als Block oder Schema.“8 Dabei bedient sich Origenes auch der Methode des mehrfachen Schriftsinns, die im Mittelalter zum beherrschenden Verfahren wird. Daneben kommt wohl spätestens im sechsten nachchristlichen Jahrhundert die Form des Katenenkommentars auf, bei dem in Art einer Kette (catena) zu einer Bibelstelle Exzerpte aus der patristischen Literatur, also die autoritativen Meinungen der Kirchenväter angeführt werden. Diese Art der Kommentierung findet besonders im frühen Mittelalter Verbreitung; z. B. sind die theologischen Kommentare des Hrabanus Maurus nach dem Schema eines Katenenkommentars angelegt. Die Schriften des Origenes sind im Westen durch die Übersetzungen des Rufin bekannt, wobei Rufin bemüht ist, im Sinne der damals vorherrschenden Orthodoxie heterodoxe Partien zu entschärfen. Von Rufin stammt auch die Vorlage zur expositio symboli des Venantius Fortunatus. Da diese Vorlage ungefähr den zehnfachen Umfang der fortunatianischen Fassung aufweist, kann von einer bloßen Übernahme des rufinischen Textes durch Venantius Fortunatus nicht die Rede sein. Allein durch die Kürzung ergeben sich notwendigerweise Akzentverschiebungen. a) Das Proöm zur expositio symboli Hinsichtlich der Richtung dieser Akzentverschiebungen sind bereits die Äußerungen im Proöm aufschlussreich. Dieses Proöm besteht aus nur fünf Sätzen, von denen der erste fast die Hälfte des Umfangs ausmacht: 1. Summam totius fidei catholicae recensentes, in 1. Wenn wir die Summe des ganzen katholischen qua et integritas credulitatis ostenditur et unius Glaubens betrachten, in welchem sowohl die Dei omnipotentis, id est sanctae Trinitatis, Unversehrtheit des Glaubens als auch des einen 6

7 8

Siehe dazu C. MARKSCHIES, Origenes und die Kommentierung des paulinischen Römerbriefs: Bemerkungen zur Rezeption von antiken Kommentartechniken im Christentum des dritten Jahrhunderts und ihrer Vorgeschichte, in: G. MOST (Hrsg.), Commentaries – Kommentare (Aporemata 4), Göttingen 1999, 66–94, hier 70–72. Lc 4, 16–30 auf Is 61, 1f.; siehe dazu MARKSCHIES, Origenes und die Kommentierung des paulinischen Römerbriefes, 67f. MARKSCHIES, Origenes und die Kommentierung des paulinischen Römerbriefs, 91.

3.1.3. Venantius als theologischer Schriftsteller

aequalitas declaratur et mysterium incarnationis filii Dei, qui pro salute humani generis a Patre de caelo descendens de uirgine nasci dignatus est, quo ordine uel quanto pertulerit, quomodo sepultus surrexit et in carne ipsa caelos ascendens ad dexteram Patris consederit iudexque uenturus sit, qualiter remissionem peccatorum sacro baptismate renatis contulerit et resurrectio humani generis in eadem carne in uitam aeternam futura sit, quia multa in symbolo paucis uerbis conplexa sunt, mediocriter nobis sermo temperandus est, ne aut breuiter dicendo non aperiat intellectum aut prolixitate uerbi generetur fastidium.

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allmächtigen Gottes, d.h. der heiligen Dreieinigkeit, Gleichheit verkündet wird als auch das Geheimnis der Inkarnation des Gottessohns, der für die Erlösung des Menschengeschlechts im Auftrag des Vaters vom Himmel hinab stieg und sich herabließ, von einer Jungfrau geboren zu werden, in welcher Reihenfolge oder wann er die Passion erlitt, wie er nach seiner Bestattung auferstand und im Fleisch zum Himmel aufstieg und dort zur Rechten des Vaters sitzt und als Richter kommen wird, wie er die Erlösung von den Sünden für die, welche in der heiligen Taufe wiedergeboren sind, brachte und die Wiedererstehung des Menschengeschlechts im selben Fleisch im ewigen Leben sein wird, weil vieles im Glaubensbekenntnis mit wenigen Worten umfasst wird, muss von uns eine Erörterung in mittlerer Länge gehalten werden, damit sie weder durch die stilistische Kürze das Verständnis verhindert noch durch weitschweifige Formulierung Langeweile erregt.9

Inhaltlich dient dieser erste Satz der Begründung, warum die expositio symboli eine Erörterung / ein sermo von mittlerer Länge (mediocriter temperandus) ist. Die eigentliche Begründung nimmt allerdings nur einen relativ geringen Umfang innerhalb dieses Satzes aus, nämlich acht Wörter in einem mit quia eingeleiteten Kausalsatz, der dann am Ende durch einen verneinten Finalsatz näher erläutert wird. Prägnant wird dort ein paradoxer Gegensatz als Grund angegeben: quia multa in symbolo paucis uerbis conplexa sunt / weil vieles im Glaubensbekenntnis mit wenigen Worten umfasst wird. Die Erläuterung erfolgt in einem parallel gebauten Dikolon, das die Kernbegriffe jeweils in die betonte Endstellung setzt: ne aut breuiter dicendo non aperiat intellectum aut prolixitate uerbi generetur fastidium / damit sie weder durch die stilistische Kürze das Verständnis verhindert noch durch weitschweifige Formulierung Langeweile erregt. Es geht also um Fragen der Stilistik, warum sich Venantius Fortunatus des mittleren Stils bedient, was die Länge und wohl auch was die Stilhöhe betrifft. Eine Begründung, warum diese expositio symboli überhaupt nötig ist, wird nur implizit gegeben: die Fülle (multa) der Glaubensinhalte, die im Glaubensbekenntnis nur kurz (paucis uerbis) dargestellt wird (und daher einer Erklärung bedarf). Diese Fülle (multa) wird aber zuvor in fünf Nebensätzen skizziert, die nach dem Prinzip der variatio aus zwei Relativsätzen und drei indirekten Fragesätzen bestehen. Der erste Relativsatz gibt die Thematik vor und ist in Anlehnung an die Dreieinigkeit Gottes als Trikolon gestaltet, das als Klimax zum letzten Glied dem mysterium incarnationis filii Dei / 9

Venantius Fortunatus, Carm., XI, 1, 1, lateinischer Text nach REYDELLET, III, 101f.

154

3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

Geheimnis der Inkarnation des Gottessohnes aufsteigt. Dieses letzte Glied wird durch den zweiten Relativsatz und die drei indirekten Fragesätze näher erläutert. Durch chiastische Wortstellung korrespondieren die Begriffe integritas / Unversehrheit und aequalitas / Gleichheit, die sich inhaltlich auf unterschiedliche Begriffe beziehen, nämlich einmal auf den Glauben / credulitas und einmal auf den einen allmächtigen Gott / unus Deus omnipotens, der in einer Apposition ganz im nizäischen Sinne als heilige Dreieinigkeit / sancta Trinitas apostrophiert wird. So wird auch rein stilistisch die Orthodoxie mit ihrem Kernsatz, dem nizänischen Bekenntnis zur Dreieinigkeit Gottes, unauflöslich verklammert. Der Schwerpunkt liegt aber auf dem Erlösungswerk Christi, das ringkompositorisch am Anfang (pro salute humani generis / für die Erlösung des Menschengeschlechts) und am Schluss steht, wo es den ganzen letzten indirekten Fragesatz ausnimmt: qualiter remissionem peccatorum sacro baptismate renatis contulerit et resurrectio humani generis in eadem carne in uitam aeternam futura sit

wie er die Erlösung von den Sünden für die, welche in der heiligen Taufe wiedergeboren sind, brachte und die Wiedererstehung des Menschengeschlechts im selben Fleisch im ewigen Leben sein wird.

Dabei wird der Gedanke der Auferstehung durch Taufe und Erlösungswerk noch dadurch hervorhoben, dass renati / die, welche wiedergeboren sind, und resurrectio / Wiedererstehung, Auferstehung demselben Wortfeld angehören. Durch diese Ringkomposition werden die übrigen Kernpunkte des Glaubensbekenntnisses (Jungfrauengeburt, Ordnung und Zeitpunkt der Passion, Bestattung und Auferstehung, Himmelfahrt und Richteramt bei der zweiten Parusie) gerahmt und damit in Hinblick auf das Erlösungswerk interpretiert. Während es in diesem ersten Satz also eigentlich um stilistische Fragen ging, wird zugleich der Inhalt des zu erläuternden Glaubensbekenntnisses rekapituliert und bereits ansatzweise einer Deutung unterzogen. Venantius Fortunatus bedient sich also schon zu Anfang einer kunstvollen polyphonen Struktur, in der sowohl inhaltliche wie literaturtheoretische Überlegungen eine Rolle spielen. Eine ähnliche polyphone Struktur weist auch der Rest des Proöm auf:

2. Itaque resurgente Christo et ascendente in caelum, misso Sancto Spiritu, conlata apostolis scientia linguarum, adhuc in uno positi hoc inter se symbolum, unusquisque quod sensit dicendo, condiderunt, ut discedentes ab inuicem hanc regulam per omnes gentes aequaliter praedicarent.

2. Deshalb schufen die Apostel, als Christus auferstanden und in den Himmel aufgefahren und der Heilige Geist geschickt worden war und sie die Kenntnis der Sprachen erlangt hatten und sich noch an einem Ort befanden, dies als Symbolum (Glaubensbekenntnis) untereinander, was ein jeder von ihnen meinte und aussprach, damit sie, wenn sie auseinander gingen, dies als Regel bei allen Völkern in gleicher Weise verkündigten. 3. Denique symbolum graece conlatio dicitur, 3. Schließlich meint Symbolum auf Griechisch

3.1.3. Venantius als theologischer Schriftsteller

quia hoc ipsi inter se per Sanctum Spiritum salubriter contulerunt. Dicitur et indicium, quod per hoc qui recte crediderit indicetur. Ergo cunctis credentibus quae continentur in symbolo salus animarum et uita perpetua bonis actibus praeparetur.

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Zusammenstellung, weil (die Aposteln) selbst dies untereinander mit Hilfe des Heiligen Geistes zusammengestellt haben. Es bedeutet auch Kennzeichen, weil dadurch derjenige, der den rechten Glauben hat, gekennzeichnet wird. Also wird allen, die glauben, was im Symbolum (Glaubensbekenntnis) enthalten ist, das Heil der Seele und das ewige Leben durch gute Taten vorbereitet.10

Inhaltlich wird hier die historische Genese dargestellt und mit einer philologischen Erklärung des griechischen Begriffs sÚmbolon verknüpft. Die Schilderung der fiktiven (historischen) Genese knüpft an die expositio symboli des Rufin an, wonach das Glaubensbekenntnis auf alle zwölf Apostel zurückgeht 11 und dessen (erheblich ausführlichere Schrift zu dem Thema) von Venantius Fortunatus als Vorlage benutzt wird. Die letzten beiden Wörter dieses Satzes aequaliter praedicant12 betonen dabei einen Gedanken, auf den es Venantius Fortunatus bereits zu Beginn ankam, die intergritas credulitatis / die Unversehrheit des Glaubens. Das symbolum / das Glaubensbekenntnis wird somit als Grundlage der Orthodoxie herausgestellt, als das, was den Rechtgläubigen von den Häretikern unterscheidet. Dieses Motiv der Orthodoxie verbindet die historische mit der philologischen Erklärung, wenn es im übernächsten Satz heißt: Dicitur et indicium, quod per hoc qui recte Es bedeutet auch Kennzeichen, weil dadurch crediderit indicetur. derjenige, der den rechten Glauben hat, gekennzeichnet wird.13

Daraus wird die Schlussfolgerung gezogen, dass der Glaube an die im symbolum enthaltenen Kernsätze eine der Voraussetzungen für das Seelenheil und das ewige Leben ist,14 wobei die zweite Voraussetzung in guten Taten boni actus besteht. Das Thema der individuellen Erlösung wird so in den Vordergrund gerückt, für die eine orthodoxe Rechtgläubigkeit die unmittelbare Voraussetzung bildet. Dies wird umso deutlicher, wenn man Venantius Fortunatus mit seiner Vorlage Rufin vergleicht. Abgesehen davon, dass sich die Schrift Rufins als homiletischer Kom10 11

12 13 14

Venantius Fortunatus, Carm., XI, 1, 2–3, lateinischer Text nach REYDELLET, III, 102. Rufinus, Expositio symboli, 2. Vgl. auch P. BRUNS, Art. Symbol / Symbolerklärung in: LACL (11998), 575–577, hier 576. Ausführlich zur Genese des Glaubensbekenntnisses H. VON CAMPENHAUSEN, Bekenntnis im Urchristentum, ZNW 63 (1972) 210–253. Vgl. auch die Monographien M. T. NADEAU, Foi de l’église, Paris 1988 und H. E. TURNER, Pattern of Christian Truth, New York 1978. Angespielt wird auf hier auf die Apostelgeschichte, Ac 2, 1. Venantius Fortunatus, Carm., XI, 1, 2, II. Venantius Fortunatus, Carm., XI, 1, 3, II. Venantius Fortunatus, Carm., XI, 1, 3 Ende, lateinischer Text nach REYDELLET, III, 102: Ergo cunctis credentibus, quae continentur in symbolo salus animarum et uita perpetua actibus bonis praeparatur / also wird allen, die glauben, was im Symbolum (Glaubensbekenntnis) enthalten ist, das Heil der Seele und das ewige Leben durch gute Taten bereitet.

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3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

mentar präsentiert, der in Form eines Briefes dem Bischof Laurentius gewidmet ist, beruht erst die zweite Hälfte des Proöm auf rufinischer Vorlage.15 Dabei gibt es allerdings einige Unterschiede. Zunächst bildet bei Rufin die historische und philologische Erklärung eine Einheit, es sind die Aposteln, die dem Glaubensbekenntnis den Namen symbolum geben, während nach dem Text des Venantius Fortunatus diese Bezeichnung auch durchaus später entstanden sein kann. Inhaltlich liegt eine verkürzende Paraphrase des Rufintextes vor. So heißt es bei Rufin: Tradunt maiores nostri quod post ascensionem domini, cum per aduentum Sancti Spiritus supra singulos quosque apostolos igneae linguae sedissent ut loquelis diuersis uariisque loquerentur, per quod eis nulla gens extera, nulla linguae barbaries inaccessa uideretur et inuia, praeceptum eis a domino datum, ob praedicandum Dei uerbum ad singulas quasque proficisci nationes. Discessuri itaque ab inuicem, normam prius futurae sibi praedicationis in commune constituunt, ne forte alius alio abducti, diuersum aliquid his qui ad fidem Christi inuitabantur, exponerent. Omnes igitur in uno positi et Spiritu Sancto repleti, breue istud futurae sibi, ut diximus, praedicationis indicium, conferendo in unum quod sentiebat unusquisque, conponunt, atque hanc credentibus dandam esse regulam statuunt. Symbolum autem hoc multis et iustissimis ex causis appellari uoluerunt. Symbolum enim Graece et indicium dici potest et conlatio, hoc est quod plures in unum conferunt.

Id enim fecerunt apostoli in his sermonibus, in unum conferendo unusquisque quod sensit. Indicium autem uel signum idcirco dicitur, quia illo in tempore, sicut et Paulus apostolus dicit et in actibus apostolorum refertur, multi ex circumcisis iudaeis simulabant se esse apostolos Christi, et lucri alicuius uel uentris gratia ad 15

Es überliefern unsere Vorfahren, dass nach der Himmelfahrt des Herrn, als sich durch die Ankunft des Heiligen Geistes über jedem einzelnen Apostel Feuerzungen gesetzt hatten, so dass in den verschiedenen Sprachen, in denen sie redeten, wodurch ihnen kein Volk fremd, keine barbarische Sprache unzugänglich und unwegsam schien, ihnen die Weisung vom Herrn gegeben worden sei, um das Wort Gottes zu verkündigen, zu jedem einzelnen Volk aufzubrechen. Deshalb beschlossen sie, ehe sie auseinander gingen, für sich zuvor insgeheim eine Norm für die künftige Verkündigung, damit sie nicht, wenn jeder irgendwo anders hin gekommen sei, denjenigen, die zum Glauben an Christus geladen wurden, jeder etwas anderes verkündigten. Als sie sich also alle noch an einem Ort befanden und mit dem Heiligen Geist erfüllt waren, verfassten sie dieses, wie wir es genannt haben Kennzeichen, indem sie zu einem (Text) zusammenstellten, was ein jeder meinte, und setzten fest, dass dies als Regel allen Gläubigen zu geben sei. Dass es Symbolum genannt werde, wollten sie aus vielen äußerst triftigen Gründen. Symbolum kann nämlich auf Griechisch sowohl Kennzeichen bedeuten als auch Zusammenstellung, d.h. was mehrere zu einem Text zusammenstellen. Dies aber taten die Apostel bei diesen Gesprächen, dass sie zu einem (Text) zusammenstellten, was ein jeder von ihnen meinte. Kennzeichen oder Zeichen wird es aber deshalb genannt, weil in jener Zeit, wie es der Apostel Paulus sagt und es in der Apostelgeschichte berichtet wird, viele von den beschnittenen Juden vortäuschten, dass

Venantius Fortunatus, Carm., XI, 1, und Rufinus, Expositio symboli, 2.

3.1.3. Venantius als theologischer Schriftsteller

praedicandum proficiscebantur, nominantes quidem Christum, sed non integris traditionum lineis nuntiantes. Idcirco igitur istud indicium posuere, per quod agnosceretur is qui Christum uere secundum apostolicas regulas praedicaret.

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sie Apostel Christi seien, und um irgendeines Vorteils oder um des Magens willen zur Verkündigung aufbrachen und Christus zwar nannten, ihn aber nicht nach den unverfälschten Regeln der (apostolischen) Tradition verkündigten. Deshalb stellten sie dies als Kennzeichen auf, wodurch derjenige erkannt werden konnte, welcher Christus wahrhaft nach den Regeln der Apostel verkündigte.16

Dabei legt Rufin den Akzent auf die gemeinsamen Norm für die Predigt; dass es zugleich eine Regel für die Gläubigen sein soll, wird zwar ausdrücklich gesagt (atque hanc credentibus dandam esse regulam statuunt / und setzten fest, dass dies als Regel allen Gläubigen zu geben sei), erhält aber durch die folgenden ebenfalls historisch gefärbten Ausführungen einen geringeren Akzent als die Verkündigung, bei der es vor allem darauf ankommt, dass sie unverfälscht nach apostolischer Norm geschieht: Idcirco igitur istud indicium posuere, per quod Deshalb stellten sie dies als Kennzeichen auf, agnosceretur is qui Christum uere secundum wodurch derjenige erkannt werden konnte, apostolicas regulas praedicaret. welcher Christus wahrhaft nach den Regeln der Aposteln verkündigte.17 16 Rufinus, Expositio symboli, 2; lateinischer Text nach SIMONETTI, CCSL, 20, 134f. 17 Rufinus, Expositio symboli, 2; 134f., bei SIMONETTI, CCSL 20. Die Erklärung des Rufin verlässt bis zum Ende des Proöm die historische Ebene nicht und gibt dabei implizit eine Begründung, warum das symbolon nicht schon in den Schriften der Apostel schriftlich fixiert ist (Lateinischer Text nach SIMONETTI, CCSL 20, 135, Z. 26–49): Denique et in bellis ciuilibus hoc obseruari ferunt: quoniam et armorum habitus par et sonus uocis idem et mos unus est atque eadem instituta bellandi, ne qua doli subreptio fiat, symbola discreta unusquisque dux suis militibus tradit, quae latine uel signa uel indicia nominantur: ut si forte occurrerit quis de quo dubitetur, interrogatus symbolum, prodat si sit hostis an socius. Idcirco denique haec non scribi cartulis aut membranis, sed retineri cordibus tradiderunt, ut certum esset neminem haec ex lectione, quae interdum peruenire etiam ad infideles solet, sed ex apostolorum traditione didicisse. Discessuri igitur, ut diximus, ad praedicandum, istud unanimitatis et fidei suae apostoli indicium posuere, non sicut filii Noe discessuri ab alterutrum turrem ex latere cocto et bitumine construentes, cuius cacumen pertingeret usque ad caelum, sed munimenta fidei, quae starent aduersum faciem inimici, e lapidibus uiuis et margaritis dominicis aedificantes: quae neque uenti inpellerent neque flumina subruerent neque tempestatum ac procellarum turbines permouerent. Merito ergo illi ab inuicem separandi, turrem superbiae aedificantes, linguarum confusione damnati sunt uti, ne unusquisque posset aduertere proximi sui loquelam. Isti uero, qui turrem fidei construebant, omnium linguarum scientia et agnitione donati sunt, ut illud peccati, hoc fidei probaretur indicium. / Schließlich berichtet man, dass dies auch in Bürgerkriegen genau beachtet werde: Da ja das Aussehen der Waffen gleich, der Klang der Stimme derselbe, die Sitte identisch ist und dieselben Einrichtungen in der Kriegführung vorherrschen, übergibt ein jeder Heerführer, damit sich keine List einschleicht, seinen Leuten heimliche Symbola, die auf lateinisch entweder Zeichen / signa oder Kennzeichen / indicia genannt werden, so dass dann, wenn zufällig einer begegnet, an dem Zweifel aufkommt, er, nach dem symbolum gefragt, verrät, ob er Feind oder Freund ist. Deshalb haben sie es ihnen übergeben, nicht um es auf Papyrus oder Pergament aufzuschreiben, sondern um es im Herzen zu behal-

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3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

Mit dem alliterierten cunctis credentibus / für alle Gläubigen wird bei Venantius Fortunatus hingegen die Seite des Glaubens und der Gemeinde stärker akzentuiert, deren Seelenheil das Ziel der Verkündigung der Apostel ist. Von der eben dort genannten vita perpetua / dem ewigen Leben ist bei Rufin ebenso wenig die Rede wie von den guten Taten / actus boni, die bei Venantius Fortunatus von der Satzstellung her mit den Gläubigen korrespondieren und so rein stilistisch als zweite Grundlage des Heils erscheinen: Ergo cunctis credentibus quae continentur in Also wird allen, die glauben, was im Symbolum symbolo salus animarum et vita perpetua bonis (Glaubensbekenntnis) enthalten ist, das Heil der actibus praeparetur. Seele und das ewige Leben durch gute Taten bereitet..18

Damit liegt eine deutlich andere Akzentuierung vor als in der rufinischen Vorlage. Von guten Taten ist bei Rufin nicht die Rede, dafür wird dem Charakter des symbolum als Erkennungszeichen eine ausführliche Erklärung gewidmet,19 wodurch deutlich wird, dass Rufin der antihäretischen Funktion des symbolum eine besondere Wichtigkeit zumisst.

18 19

ten, damit sicher war, dass niemand aus der Lesung (der Schrift), die manchmal auch zu den Ungläubigen zu gelangen pflegt, sondern aus der Tradition der Apostel lernte. Als sie aber, wie wir gesagt haben, zur Verkündigung aufbrachen, legten die Apostel jenes Kennzeichen ihrer Einmütigkeit und ihres Glaubens nieder, nicht so wie die Söhne Noahs, als sie sich voneinander trennten, einen Turm aus Stein und gekochtem Pech errichteten, dessen Spitze bis in den Himmel reichen sollte, sondern als Bollwerke des Glaubens, die gegen das Angesicht des Feindes bestehen sollten, aus lebendigen Steinen und den Perlen des Herrn erbauten, die weder die Winde angreifen noch die Flüsse verschütten noch die Wirbel von Unwetter und Stürmen bewegen könnten. Mit Recht also sind jene, als sie auseinander gingen, um den Turm des Hochmuts zu bauen, mit der Verwirrung der Sprache bestraft worden, so dass kein einziger die Rede seines Nächsten verstehen konnte. Diese aber, die den Turm des Glaubens errichteten, sind mit der Kenntnis und Beherrschung aller Sprachen beschenkt worden, damit sich jenes als Kennzeichen der Sünde, dieses als das des Glaubens erwies. Venantius Fortunatus, Carm., XI, 1, 3 Ende. Rufinus, Expositio symboli, 2, 135, bei SIMONETTI, CCSL 20.

3.1.3. Venantius als theologischer Schriftsteller

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b) Die expositio symboli Im Vergleich zur Vorlage Rufins nimmt die Fassung des Venantius Fortunatus höchstens zehn Prozent an Umfang ein. Das bedeutet, dass es dem Autor allein schon durch die Auswahl der Passagen, die übernommen werden und derjenigen, die fortfallen, möglich ist, bestimmte Akzente zu setzen. Der Vergleich der Proömien hat zudem gezeigt, dass Venantius Fortunatus Rufin inhaltlich zwar weitgehend folgt, in der Formulierung aber eigene Wege beschreitet. Die Analyse des folgenden Textstückes soll deshalb vor allem unter der Fragestellung erfolgen, ob diese zu beobachtende Akzentverschiebung sich auf das Proöm beschränkt oder ob Venantius Fortunatus auch im eigentlichen Kommentarteil andere Akzente setzt. 4. Credo in deum patrem omnipotentem. Praeclarum in primordio ponitur fidelis testimonii fundamentum, quia saluus esse non poterit, quin recte salutem crediderit, apostolo pradicante: credere oportet accedentem ad Deum; item: corde creditur ad iustitiam; et: credidi propter quod locutus sum.; uel illud: iustus ex fide uiuit et: nisi credideritis, non intellegetis.

4. Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen. An den Anfang wird die glänzende Grundlage des Glaubenszeugnisses gestellt, weil nicht gerettet werden kann, wer das Heil nicht recht geglaubt hat, wie der Apostel verkündet: Es ist nötig, dass der, welcher zu Gott geht, glaubt.20 Ebenso: Mit dem Herzen glaubt man, um Gerechtigkeit zu erlangen.21 Und: Ich habe geglaubt und deswegen gesprochen. 22 Oder jenes Wort: Der Gerechte lebt aus dem Glauben. 23 Und: Wenn ihr nicht glaubt, werdet ihr nicht erkennen.24

Venantius stellt also fünf Zitate an den Anfang, von denen nur das erste und das letzte auf die rufinische Vorlage zurückgehen. Allein das erste Zitat findet sich als Apostelwort bei Rufin, das letzte stammt von Jesaja, den Venantius Fortunatus hier nach der Version bei Rufin zitiert. Die mittleren Zitate streichen den Zusammenhang von Glauben und Gerechtigkeit heraus; sie stammen aus anderen Paulusbriefen. Auch die rufinische Formulierung wird von Venantius Fortunatus verändert, bei Rufin heißt es nur: ‘Credo’ ergo primo omnium ponitur, sicut et ‚Ich glaube’ wird an den Anfang von allem apostolus Paulus ad Hebraeos scribens dicit: gestellt, so wie der Apostel Paulus in seinem Brief an die Hebräer sagt, 20 21

22 23 24

Hb 11, 6. Rm 10, 10: Corde enim creditur ad iustitiam, ore autem confessio fit in salutem / Mit dem Herzen glaubt man nämlich, um Gerechtigkeit zu erlangen, mit dem Mund geschieht das Bekenntnis, um des Heils teilhaftig zu werden. II Cor 4, 13 nach Ps 115 (116), 10: Credidi propter quod locutus sum / Ich habe geglaubt und deswegen gesprochen. Rm 1, 17, nach Hb, 2, 4: iustus autem in fide sua vivet / der Gerechte aber lebt in seinem Glauben. Is 7, 9. Nisi credideritis, non permanebitis / Wenn ihr nicht glaubt, werdet ihr nicht überdauern. Venantius Fortunatus, Carm., XI, 1, 4, lateinischer Text nach REYDELLET, III, 102f.

3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

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Credere enim primo omnium accedentem ad Es ist nötig, dass der, welcher zu Gott geht, als Deum oportet, quia est et credentibus in se erstes von allem glaubt, dass er ist und denen, remunerator fit. welchen an ihn glauben, ihren Lohn geben wird.25

Venantius Fortunatus gestaltet den Text rhetorisch durch Alliterationen aus und verleiht ihm durch die Verwendung von mindestens dreisilbigen Wörtern eine besondere Würde. Ergänzt wird dies durch eine Umgestaltung eines rufinischen Bildes. Bei Rufin heißt es: Vt ergo intelligentiae tibi aditus patescat, recte primo omnium te credere profiteris, quia nec nauem quis ingreditur et liquido ac profundo uitam committit elemento, nisi se prius credat posse saluari.

Damit sich Dir also der Zugang zur Erkenntnis eröffnet, bekenne als erstes von allem, dass Du glaubst, weil auch niemand ein Schiff besteigt, wenn er nicht vorher glaubt, dass er unversehrt bleiben wird.26

Das Bild der Schifffahrt ist bei Venantius Fortunatus aufgegeben, um eine rhythmisch gestaltete Klausel mit Homoioteleuton zu gebrauchen, die durch ihre parallele Wortstellung den Zusammenhang von Rettung und Glauben unterstreicht, indem der Glauben zur notwendigen Voraussetzung der Rettung wird: quia saluus esse non poterit, quin recte salutem crediderit

weil nicht gerettet werden kann, wer das Heil nicht recht geglaubt hat.

Die Bibelzitate sollen dies unterstreichen, daher wird die rufinische Vorlage um drei weitere Pauluszitate erweitert. Die Zitate selbst werden dabei (wenn nötig) auf eine eingängige Formel verkürzt. Durch die Einführung des Aspektes der Gerechtigkeit wird eine Verbindung zwischen Glauben, Erkenntnis und Gerechtigkeit aufgestellt. Daraus zieht Venantius Fortunatus folgenden Schluss: Ergo uel in rebus humanis nullum incipitur, nisi labor omnis ad effectum uenire credatur. Vnde credendum est in Deum, a quo tam praesens uita quam futura tribuitur.

Es wird ja auch bei den menschlichen Unternehmungen keine begonnen, wenn man nicht glaubt, dass die gesamte Mühe eine Wirkung zeitigen wird. Daher muss man an Gott glauben, von dem das gegenwärtige wie das zukünftige Leben geschenkt wird.27

Der rufinische Beispielkatalog28 wird hier durch ein Resümee ersetzt, die daraus resultierende Folgerung, man müsse an Gott glauben, da von ihm das gegenwärtige wie zukünftige Leben geschenkt werde, findet sich bei Rufin in diesem Zusammenhang nicht. Damit erhält die Argumentation bei Venantius Fortunatus eine 25 26 27 28

Rufinus, Expositio symboli, 3; lateinischer Text nach SIMONETTI, CCSL 20, 136. Rufinus, Expositio symboli, 3; lateinischer Text nach SIMONETTI, CCSL 20, 136. Venantius Fortunatus, Carm., XI, 1, 5, lateinischer Text nach REYDELLET, III, 103. Rufinus, Expositio symboli, 3, 136f. bei SIMONETTI, CCSL 20.

3.1.3. Venantius als theologischer Schriftsteller

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andere Stoßrichtung: Das menschliche Streben sieht auf den Erfolg und richtet darauf seine ganze Mühe. Ursache für das Leben ist aber Gott, der es den Menschen schenkt. Um dieses Leben zum Erfolg zu führen, ist daher der Glaube an Gott die notwendige Voraussetzung. Implizit wird aber noch mehr gesagt. Das Leben wird differenziert in ein gegenwärtiges und ein zukünftiges. Der Erfolg des gegenwärtigen Lebens besteht gleichsam darin, dass Gott auch ein zukünftiges Leben schenkt. Auch dafür ist die unabdingbare Voraussetzung der Glaube. Zuvor war aber durch autoritative Apostel- bzw. Prophetenworte der Glaube mit der Gerechtigkeit in eine enge Verbindung gebracht worden. Damit wird aber die Gerechtigkeit (im gegenwärtigen Leben) zur Voraussetzung für ein künftiges Leben, wobei diese Gerechtigkeit wiederum ihre Quelle im (rechten) Glauben hat. Die Wichtigkeit und die zentrale Stellung des Glaubensbekenntnisses werden so von Venantius Fortunatus unmissverständlich herausgestrichen: 6. Deus autem appellatio est substantiae sempiternae siue timoris diuini. Igitur Deus est sine principio, simplex incorporeus inconprehensibilis. 7. Patrem autem cum audis, agnosce quod habeat filium ueraciter genitum, quomodo possessor dicitur qui aliquid possidet et dominus, qui alicui dominetur. Deus ergo Pater secreti sacramenti uocabulum est, cuius uere filius est Verbum et speculum et caracter et imago uiuens Patris uiuentis, in omnibus Patri similis, eiusdem naturae et in diuinitate genitus, genitori per omnia coaequalis. 8. Nec quaeratur quomodo genuit Filium: quod et angeli nesciunt, prophetis est incognitum. unde illud dictum est: generationem eius quis enarrabit? Quam secretam originem cum proprio filio nouit ipse solus qui genuit.

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6. Gott ist aber die Bezeichnung für die ewige Substanz oder die Gottesfurcht. Gott ist ohne Anfang, ohne Ende, einzig, körperlos und unfassbar. 7. Wenn Du aber Vater hörst, erkenne, dass er einen Sohn hat, der wahrhaft gezeugt worden ist, wie Besitzer genannt wird, wer etwas besitzt, und Herr, wer jemanden beherrscht. Gottvater ist also die Bezeichnung für das verborgene Geheimnis, dessen Sohn wahrhaft Wort und Spiegel und Zeichen und lebendiges Bild des lebendigen Vaters ist, in allem dem Vater gleich, von derselben Natur und der Gottheit gezeugt, dem Zeuger in allem gleich. 8. Und nicht soll man fragen, wie er den Sohn zeugte: Denn auch die Engel wissen es nicht, und es ist den Propheten unbekannt. Daher stammt jenes Schriftwort: Seine Zeugung, wer wird sie schildern? 29 Diesen geheimen Ursprung kennt allein zusammen mit seinem eingeborenen Sohn, er selbst, der ihn gezeugt hat.30

Is 53, 8, dort aber eher in dem Sinne: Wer wird noch von seiner (des Gottesknechtes) Abstammung reden? Die Übertragung der Stelle auf die Zeugung des Gottessohns findet sich schon bei Hieronymus, Commentarii in Evangelium Matthaei, 1, 1 (lateinischer Text nach HURST / ADRIAEN, CCSL 77): in Esaia legimus: generationem eius quis enarrabit? non ergo putemus euangelium prophetae esse contrarium ut quod ille impossibile dixit effatu, hic narrare incipiat, quia ibi de generatione diuinitatis, hic de incarnatione est dictum. / Bei Jesaja lesen wir: Seine Zeugung, wer wird sie schildern? Nun sollen wir nicht glauben, dass das Evangelium im Gegensatz zum Propheten steht, dass dieser (Matthäus) zu erzählen sich anschickt, wovon jener (Jesaja) sagte, es sei unmöglich zu schildern, weil dort von der Zeugung der Gottheit, hier von der Inkarnation die Rede ist. Venantius Fortunatus, Carm., XI, 1, 6–8, lateinischer Text nach REYDELLET, III, 103.

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3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

Inhaltlich folgt Venantius Fortunatus auch hier der rufinischen Vorlage: Deus, secundum quod opinari potest humana mens, naturae ipsius uel substantiae, quae est super omnia, appellatio est. pater archani et ineffabilis sacramenti uocabulum est. Deum cum audis, substantiam intellege sine initio sine fine simplicem sine ulla admixtione inuisibilem in qua nihil adiunctum nihil creatum sit. Sine auctore est enim ille, qui auctor est omnium. Patrem cum audis, Filii intellege Patrem, qui Filius supra dictae sit imago substantiae.

Sicut enim nemo dicitur dominus, nisi habeat uel possessionem uel seruum cui dominetur, et sicut nemo magister dicitur, nisi discipulum habeat: ita et pater nullo pacto quis dici potest, nisi filium habens. Hoc ergo ipso nomine quod Deus Pater appellatur, cum Patre pariter subsistere Filius demonstratur. Quomodo sane Deus Pater genuerit Filium, nolo discutias nec te curiosus inseras in profundi huius archanum, ne forte dum inaccessae lucis fulgorem pertinacius perscrutaris, exiguum ipsum, qui mortalibus diuino munere concessus est, perdas adspectum.

Gott ist, nach dem, was der menschliche Geist vermuten kann, die Bezeichnung der Natur selbst oder der Substanz, die über allem ist. Vater ist die Bezeichnung des verschlossenen und unaussprechlichen Geheimnisses. Wenn Du Gott hörst, verstehe darunter ein Wesen ohne Anfang, ohne Ende, einzig, ohne dass etwas hinzu gemischt worden ist, unsichtbar, körperlos, nicht nennbar und nicht schätzbar, in dem nichts Hinzugefügtes, nichts Geschaffenes ist. Ohne Schöpfer ist nämlich der, welcher der Schöpfer aller ist. Wenn Du Vater hörst, verstehe darunter den Vater des Sohnes, welcher Sohn das Bild der oben genannten Substanz ist. So wie nämlich niemand Herr genannt wird, wenn er nicht entweder Besitz oder einen Knecht hat, den er beherrscht, und wie niemand Lehrer genannt wird, wenn er nicht einen Schüler hat, so kann auf keinerlei Weise jemand Vater genannt werden, wenn er nicht einen Sohn hat. Weil Gott mit diesem Namen als Vater bezeichnet wird, wird bewiesen, dass zugleich mit dem Vater der Sohn existiert. Wie aber Gott, der Vater, seinen Sohn gezeugt hat, sollst Du nicht erörtern noch Dich allzu neugierig auf das Geheimnis dieser unergründlichen Tiefe einlassen, damit Du nicht gerade, während Du allzu hartnäckig nach dem Glanz des unerreichbaren Lichts forschst, den geringen Einblick, der den Sterblichen durch göttliches Geschenk gewährt ist, verlierst.31

Während die Version bei Rufin zuvor noch in einer Prolepse auf den Sohn eingeht32 und eine Erörterung über die Frage der Wesensgleichheit anschließt,33 konzentriert sich Venantius Fortunatus auf die Implikationen, die in der bloßen Wortbedeutung angelegt sind, und übernimmt gerade diese aus der rufinischen Vorlage. Diese Vorgehensweise entspricht den Auswahlkriterien im Proöm, wo er die lexikalische 31 32 33

Rufinus, Expositio symboli, 4, lateinischer Text nach SIMONETTI, CCSL 20, 137f. Rufinus, Expositio symboli, 4, 137 bei SIMONETTI, CCSL 20. Rufinus, Expositio symboli, 4, 138f. bei SIMONETTI, CCSL 20, siehe Z. 32f.: Quodmodo haec cum diuersa sint rebus et actibus, unum tamen sunt substantia uel natura? / Wie ist es, obwohl dies in Dingen und Taten verschieden ist, dennoch ein und dasselbe in Substanz oder Natur?

3.1.3. Venantius als theologischer Schriftsteller

163

Erklärung des Begriffes symbolum von Rufin übernahm und dadurch stärker in den Vordergrund rückte.34 Die rufinische Vorlage wird stilistisch so umgestaltet, dass sie sich auf zweigliedrige Bauformen zurückführen lässt. So ist bei Rufin vom Sohn des Vaters die Rede: qui Filius supra dictae sit imago substantiae.

welcher Sohn das Bild der oben genannten Substanz ist.

Daraus gestaltet Venantius Fortunatus ein Tetrakolon mit Klimax: cuius uere filius est uerbum et speculum et dessen Sohn wahrhaft Wort und Spiegel und caracter et imago uiuens patris uiuentis. Zeichen und lebendiges Bild des lebendigen Vaters ist.

Durch die Alliteration wird das theologisch bedeutsame uere...uerbum / wahrhaft ...Wort und durch die Wortwiederholung das imago uiuens patris uiuentis / lebendiges Bild des lebendigen Vaters besonders hervorgehoben, wobei das imago / Bild durch die demselben Bedeutungsfeld angehörigen Begriffe speculum / Spiegel und caracter / Zeichen erweitert wird. Indem Venantius Fortunatus im folgenden Satz ein Schriftzitat des Propheten Jesaja (generationem eius quis enarrabit? / seine Zeugung, wer wird sie schildern?) einfügt, führt er den Text von der bei Rufin folgenden theologischen Erörterung ab und betont dann die Wichtigkeit des Glaubens: 9. Nec a nobis Deus discutiendus est, sed credendus: qui in nobis ipsis nescimus quod sapimus, quomodo sapientia ingenium aut intellectus consilium aut mens nostra generat uerbum.

9. Und nicht muss von uns über Gott diskutiert, sondern an ihn geglaubt werden: da wir ja bei uns selbst nicht wissen, in welcher Hinsicht unser Verstand funktioniert, wie die Weisheit Verstand und Intellekt und unser Geist das Wort hervorbringt.35

Mit dieser Betonung des Glaubens wird ringkompositorisch auf das Thema des Absatzes, das Credo Bezug genommen. Es handelt sich nicht um eine Angelegenheit philosophischer oder theologischer Spekulation, es ist allein eine Sache des Glaubens. Dabei wird die inhaltliche Seite auf die zentralen Aspekte beschränkt, die ihrerseits mit Schriftzitaten belegt werden: 10. Sed, ut breuiter dicamus, sufficit nos scire quia lux genuit splendorem, propheta testante: in splendoribus sanctorum ex utero ante luciferum genui te; et illud: hic Deus noster, et non

34 35

10. Aber, um es kurz zu sagen, genügt es uns zu wissen, dass das Licht den Glanz gezeugt hat, wie der Prophet es bezeugt: Im Glanz der Heiligen habe ich dich aus meinem Leib vor dem

Venantius Fortunatus, Carm., XI, 1, 3. Venantius Fortunatus, Carm., XI, 1, 9, lateinischer Text nach REYDELLET, III, 103f.

164

3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

reputabitur alter ad eum; et post: in terris uisus Morgen gezeugt,36 und jenes Wort: Dies ist unser est et inter homines conuersatus est. Gott und nicht wird ein anderer neben ihm gelten,37 und schließlich: Auf Erden ist er erschienen und verweilte unter den Menschen.38

Das Psalmenzitat ist eine Zutat von Venantius Fortunatus, die beiden Zitate aus dem Buch Baruch sind von Rufin übernommen. Allerdings stehen sie dort am Ende seiner theologischen Erörterung über Sichtbarkeit und Leidensfähigkeit der Dreifaltigkeit, sie werden hier also anders verwendet, nicht zum Beleg der Leidensfähigkeit Christi in seiner menschlichen Inkarnation, sondern zur Rekapitulation von Kernpunkten des Glaubens: Der Vater hat den Sohn vor Anbeginn der Zeit gezeugt, nicht geschaffen; es gibt nur einen Gott, und Gott kam auf die Erde und verweilte unter den Menschen. Es geht also um die aequalitas ... unius Dei omnipotentis / die Gleichheit des einen allmächtigen Gottes und das Geheimnis der Inkarnation des Gottessohnes / mysterium incarnationis filii Dei, Kernvorstellungen des christlichen Glaubens, die Venantius Fortunatus in seiner Aufzählung am Beginn des Proöm genannt hatte.39 Und weisen die ersten beiden Zitate zurück auf den gesamten Abschnitt, so weist das letzte auf den nächsten voraus, in dem es um die Inkarnation Christi geht. Dies ist das einzige, was diese Stelle mit der rufinischen Vorlage verbindet. Anders als Rufin schließt Venantius an die Schriftzitate die Erklärung des omnipotens an, die ihrerseits wieder zum Sohn überleitet: 11. Omnipotens uero dicitur eo quod omnia 11. Allmächtig wird er aber deswegen genannt, possit et omnium obtinet potentatum; quia Pater weil er alles vermag und die Macht über alles omnia creauit per Filium. hat; weil der Vater alles durch den Sohn geschaffen hat.40

Auch hier wird die rufinische Vorlage verändert und an eine andere Stelle gesetzt.41 Dabei erfolgt eine Kürzung im Hinblick auf die Worterklärung und den theologischen Kernsatz, dass der Vater durch den Sohn alles erschaffen hat.

36 37

38

39 40 41

Ps 109, 3. Bar 3, 36: hic est deus noster, et non aestimabitur alius adversus eum. Venantius folgt hier dem rufinischen Text, der dort allerdings in einem anderen Zusammenhang gebraucht wird, Rufinus, Expositio symboli, 5, 141 bei SIMONETTI, CCSL 20. Venantius Fortunatus, Carm., XI, 1, 10, lateinischer Text nach REYDELLET, III, 104, letztes Schriftzitat: Bar 3, 38: post haec in terris visus est et cum hominibus versatus est. Venantius folgt hier wiederum dem rufinischen Text, Rufinus, Expositio symboli; 5, 141 bei SIMONETTI, CCSL 20. Venanitus Fortunatus, Carm., XI, 1, 1. Venantius Fortunatus, Carm., XI, 1, 11, lateinischer Text nach REYDELLET, III, 104. Vgl. Rufinus, Expositio symboli, 5, 140, Z. 15f. und Z. 21–23 bei SIMONETTI, CCSL 20: Omnipotens autem ab eo dicitur, quod omnium teneat potentatum / Allmächtig wird er deshalb genannt, weil er die Macht über alles hat. und Quod si per ipsum saecula instituit pater, et per ipsum creata sunt omnia, et ipse est heres omnium, per ipsum ergo potentatum omnium tenet. / Wenn aber durch ihn der Vater die Zeit eingerichtet hat und durch ihn alles geschaffen ist und er der Erbe aller Dinge ist, hat er durch ihn auch die Macht über alles.

3.1.3. Venantius als theologischer Schriftsteller

165

Die Analyse von Proöm und dem Abschnitt über Gott Vater im Vergleich mit der rufinischen Vorlage hat gezeigt, wie es Venantius Fortunatus gelingt, trotz zum Teil wörtlicher Übernahmen durch Umstellung, stilistische Bearbeitung und gezielte Auswahl aus dem Prätext eigene Akzente und eine eigene Gewichtung zu setzen. Da die Prinzipien seiner Vorgehensweise bereits deutlich geworden sind, genügt ein kursorischer Überblick über den nächsten Abschnitt, der als Mittelteil fast die Hälfte der Schrift ausmacht:42 Am Anfang steht wieder eine Worterklärung, nämlich von Iesus und Christus. Bei Iesus / Joshua (Retter) wird eine Parallele gezogen zwischen Joshua, der die Israeliten nach Moses Tod aus der Wüste ins gelobte Land und Jesus, der de tenebris et terra ignorantiae se sequentes ad diejenigen, die ihm folgen, aus der Dunkelheit caelos educit. und der Erde der Unwissenheit zum Himmel führt.43

Der Beiname Christus wird mit Schriftbeleg44 als der erklärt, der vom Heiligen Geist gesalbt ist;45 was bei Rufin als Abschluss und Überleitung diente,46 erhält bei Venantius Fortunatus den Charakter einer Rekapitulation eines Kernsatzes, der durch den Parallelismus mit Klimax im zweiten Glied gut zu memorieren ist: Iesus ergo dicitur eo quod saluet populum; Jesus also wird er genannt, weil er sein Volk Christus, quod sit unctus pontifex in aeternum rettet; Christus, weil er gesalbter Pontifex in Ewigkeit ist.47

Die ausführlichen theologischen Erörterungen über Jesus als Sohn Gottes,48 werden bei Venantius Fortunatus auf den Gedanken des einzigen Sohnes beschränkt und seine Wesensgleichheit mit dem Vater; dass auch die Menschen Söhne Gottes / filii Dei genannt würden, geschehe aus der Gnade Gottes, nicht aus der Vergleichbarkeit im Wesen.49 Der Jungfrauengeburt widmet Venantius Fortunatus einen vergleichsweise langen Abschnitt,50 dabei legt er einen besonderen Akzent darauf, dass Christus durch die Inkarnation nicht verunreinigt wurde: 20. Denique sol aut ignis si lutum inspiciat, quod 20. Schließlich reinigt das Sonnenlicht oder das tetigerit purgat et se tamen non inquinat: nec fuit Feuer, wenn es auf den Lehm fällt, das, was es Deo iniuriae causa misericordiae, neque sit berührt hat, und befleckt sich dennoch nicht:

42 43 44 45 46 47 48 49 50

Venantius Fortunatus, Carm., XI, 1, 12–34, REYDELLET, III, 104–111. Venantius Fortunatus, Carm., XI, 1, 12, bei REYDELLET, III, 104. Is 61, 1. Venantius Fortunatus, Carm., XI, 1, 13, bei REYDELLET, III, 104. Rufinus, Expositio symboli, 6, 142 bei SIMONETTI, CCSL 20. Lateinischer Text nach Venantius Fortunatus, Carm., XI, 1, 14, REYDELLET, III, 104. Rufinus, Expositio symboli, 7, 142–145 bei SIMONETTI, CCSL 20. Venantius Fortunatus, Carm., XI, 1, 15–16, bei REYDELLET, III, 105. Venantius Fortunatus, Carm., XI, 1, 17–20, bei REYDELLET, III, 105f.

166

3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

incredibile quod est ipse natus de uirgine, qui Und weder gab es für den Gott des Mitleids einen Adam de puluere et primam mulierem potuit Grund des Unrechts, noch ist es wohl unglaubformare. würdig, dass derjenige selbst von einer Jungfrau geboren worden ist, der es vermochte, Adam aus Staub und die erste Frau zu bilden.51

Im Gegensatz zu Rufin, der die Jungfrauengeburt mit Beispielen aus der antiken Mythologie parallelisiert,52 bleibt Venantius Fortunatus in seiner Argumentation gänzlich im biblischen Kontext. Mit dem Rekurs auf die Schöpfungsgeschichte wird hier zugleich ein Übergang zum nächsten Abschnitt geschaffen, der die Passion und den Tod behandelt und in dem Christus als der neue Adam erscheint. Auch hier bietet die rufinische Vorlage eine sehr ausführliche Erörterung, 53 die bei Venantius Fortunatus auf bestimmte theologisch relevante Kernpunkte reduziert wird.54 Dabei zählt er zunächst einmal die arma Christi / die Leidenswerkzeuge Christi auf, 55 die dann gedeutet werden: Der Tod erfolgt am Kreuzesbaum, um die Menschheit von der Schuld der Speise vom verbotenen Baum zu erlösen; Christus bekommt Galle / Essig zu trinken wegen der Bitterkeit der Frucht, mit der gesündigt wurde; die Dornenkrone dient der Erlösung von der alten Schuld der verfluchten Erde; das Durchstechen seiner Seite mit der Lanze verkündet durch den Fluss von Wasser und Blut sowohl die Taufe als auch das Geheimnis des Martyriums, und er wird in der Rippe getroffen, um die Wunde zu entfernen, die Eva, die aus der Rippe ihres Mannes gebildet war, schlug.56 Venantius Fortunatus stellt also eine allegorische Deutung nach der Lehre des Origenes vom mehrfachen Schriftsinn in den Vordergrund, wobei er zwar betont an den Anfang stellt, dass dies von den Propheten vorausgesagt worden sei, anders als Rufin aber keine Schriftzitate zum Beleg anführt.57 Wörtlich zitiert er nur Paulus:

23. Vt tamen ad hoc intellegendum aliquantulum extendamur – sicut dicit scriptura: cordis oculi aperti sint ad intellegendum quid sit altitudo, latitudo et profundum – quod est crucis significatio, quare Dominus in patibulo se pati

51 52 53 54 55 56 57

58

23. Um dies zu verständlich zu machen, müssen wir ein wenig ausholen – so wie die [Heilige] Schrift sagt: Die Augen des Herzens sollen offen sein, um zu verstehen, was Höhe, Breite und Tiefe meint 58 – dies ist die Bedeutung des

Venantius Fortunatus, Carm., XI, 1, 20, lateinischer Text nach REYDELLET, III, 106. Rufinus, Expositio symboli, 9, 146f. bei SIMONETTI, CCSL 20. Fast zwölf Druckseiten, siehe Rufinus, Expositio symboli, 12–26, 149–151 bei SIMONETTI, CCSL 20. Venantius Fortunatus, Carm., XI, 1, 21–29, bei REYDELLET, III, 106–109. Venantius Fortunatus, Carm., XI, 1, 21, bei REYDELLET, III, 106. Venantius Fortunatus, Carm., XI, 1, 22, bei REYDELLET, III, 106f. Bei diesem stehen eindeutig die Schriftzitate im Vordergrund und die allegorische Deutung geschieht mehr en passant, vgl. vor allem Rufinus, Expositio symboli, 20–21, 157f. bei SIMONETTI, CCSL 20. Eph. 3, 1 (Anfang) & 3, 18 (Ende). Diese Vermischung zweier Pauluszitate erfolgt schon bei Rufinus, Expositio symboli, 12, 149, 2–4 bei SIMONETTI, CCSL 20; allerdings wird dort nur

3.1.3. Venantius als theologischer Schriftsteller

elegerit quaeritur; ratio tamen haec redditur: crux species tropei est quod deuictis hostibus solet fieri triumphanti; et quia Dominus tria regna sibi subiecit, suspensus in aera uictoriam de caelestibus et spiritalibus nequitiis est adeptus; expandens autem manus ad populos, palmam de terrenis. quod uero sub terra crux fixa est, ostendit eum et de Tartaro triumphare.

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Kreuzes; Man fragt sich, weshalb der Herr an einem Kreuzesblock zu leiden wählte: Dennoch gibt es dafür folgende vernünftige Begründung: Das Kreuz ist das Zeichen des Siegesmals, das nach Bezwingung der Feinde dem triumphierenden Feldherrn zuteil wird; und weil der Herr sich drei Königreiche unterwarf, hat er in der Luft hängend den Sieg über himmlische und dämonische Geister erlangt, indem er aber die Hände über die Völker ausbreitet, die Siegespalme über die irdischen. Dass aber das Kreuz unter der Erde befestigt ist, zeigt, dass er auch über den Tartarus triumphiert.59

Inhaltlich fußt die Stelle auf der rufinischen Vorlage,60 doch wird dieser Inhalt von Venantius Fortunatus präziser und prägnanter formuliert: So korrespondieren z. B. im ersten Glied betont durch die Anfangs- und bzw. Endstellung crux / das Kreuz mit triumphanti, / dem, der einen Triumph feiert, im letzten wird Christi Triumph über die Unterwelt durch Alliteration, die Verwendung von dunklen Vokalen und den Klauselrhythmus de Tartaro triumphare / über den Tartarus triumphiert hervorgehoben. Anders als bei Rufin leitet dieser Paragraph zu einer Passage über, die man In honorem Sanctae Crucis überschreiben könnte und die vollständig auf Venantius Fortunatus zurückgeht und deshalb hier einer genaueren Betrachtung unterzogen werden soll. Dass dieses Kreuzeslob für Venantius Fortunatus von besonderer Wichtigkeit ist, zeigt der auktoriale Kommentar zu Beginn:

59 60

indirekt zitiert. Anders als bei Venantius Fortunatus leitet dieses indirekte Zitat den Abschnitt über Passion und Tod Christi bei Rufin ein. Lateinischer Text nach Venantius Fortunatus, Carm., XI, 1, 23, bei REYDELLET, III, 107. Vgl. Rufinus, Expositio symboli, 12, lateinischer Text nach SIMONETTI, CCSL 20, 149, Z. 12–24: ...Vnde sciendum est, quod crux ista triumphus erat: triumphi enim insigne est tropaeum; tropaeum autem deuicti hostis indicium est. Quia ergo adueniens Christus, sicut apostolus dicit, tria pariter regna subiecit (hoc enim indicat ubi ait quia: In nomine Iesu omne genu flectetur: caelestium et terrestrium et infernorum), et haec omnia sua morte uincebat, conueniens mysterio mors quaesita est, ut in aerem sublimatus et aerias subiugans potestates, uictoriam de his supernis et caelestibus traderet; expansas autem manus tota die, sicut propheta dicit, teneret ad populum, qui est in terra, ut et incredulos contestaretur et inuitaret credentes; ea uero parte qua sub terram demergitur, inferni sibi regna subiceret. / Daher muss man wissen, dass dieses Kreuz der Triumph war: Das Zeichen des Triumphs ist nämlich das Siegesmal, das Siegesmal ist aber das Zeichen, dass der Feind besiegt worden ist. Weil nämlich Christus bei seiner Ankunft, so wie der Apostel sagt, drei Königreiche unterwarf (dies nämlich meint er, wo er sagt: Im Namen Jesu sollen sich die Knie aller beugen, sowohl der Himmlischen als auch der Irdischen als auch der Unterirdischen [Phil 2, 10] ); und diese (Reiche) alle bezwang er durch seinen Tod und in Verbindung mit dem Mysterium wurde (von ihm) nach dem Tod verlangt, damit er in der Luft hängend sich auch die Mächte der Luft unterwarf, den Sieg über diese dem Himmel und seinen Bewohnern überantwortete, den ganzen Tag aber die Hände ausgebreitet hielt, so wie der Prophet es sagt, über das Volk, das auf Erden ist, um die Ungläubigen zu ermahnen und die Gläubigen einzuladen; mit dem Teil (des Kreuzes) aber, das in der Erde versenkt ist, unterwirft er sich die Reiche der Unterwelt.

168

3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

24. Et quia de aliis breuitate causa praeteriemus plurima, non generemus fastidium, si pro honore sanctae crucis nobis hic sermo distenditur, ut uobis aedificatio et illi crescat praeconium.

24. Und während wir um der Kürze willen sehr vieles übergehen werden, werden wir wohl keine Langeweile erregen, wenn von uns zur Ehre des Heiligen Kreuzes diese Erörterung hier erweitert wird, dass es euch zur Erbauung diene und jenem sein Ruhm wachse.61

Venantius Fortunatus signalisiert hier einen Exkurs: Bezieht man die Praeteritio auf den Stoff seiner Vorlage, wird zugleich deutlich gemacht, dass er bewusst davon abweicht. Der Begriff des fastidium / der Langeweile spielte bereits im Proöm eine Rolle als Begründung für Länge des Werkes, das einen Mittelweg zwischen zu großer Weitschweifigkeit und unverständlicher Kürze einschlagen sollte. 62 Damit hält er sich an die Forderungen der Rhetorik für den mittleren Stil, die Stilqualität der brevitas / Kürze wird explizit angesprochen. Zugleich wird die Kreuzespanegyrik mit dem terminus technicus für Erbauungsliteratur / aedificatio in einen Zusammenhang gebracht. Ganz in diesem Sinne fährt Venantius Fortunatus fort: 25. Ergo quia nec ipsa sidera in conspectu Dei pro humano crimine non erant pura et erat tota terra polluta, ideo Christus suspensus est in aera, ut simul terras et astra purgaret; aut quia ipse dixerat: sicut Moyses exaltauit serpentem, ideo cruci suspenditur, ut adimplerentur uerba, quae creator praedixerat; aut quia inter caelum et terram grandis erat discordia, ut tolleret reconciliator se mediante scandalum, in aera suspenditur, ut se in medio posito inter caelum et terram inter hominem et Deum pax rediret post odium.

25. Weil also nicht einmal die Sterne im Angesicht Gottes durch die menschliche Sünde rein und die ganze Erde befleckt war, deshalb hing Christus in der Luft, damit er zugleich Erde und Sterne rein mache, oder wie er selbst sagte: Wie Moses die Schlange erhöht hat,63 deshalb hing er am Kreuz, damit die Worte in Erfüllung gingen, die der Schöpfer vorausgesagt hatte; oder weil zwischen Himmel und Erde große Zwietracht herrschte, hing er in der Luft, damit er, indem er als Mittler auftrat, das Ärgernis beseitigte, damit, während er sich in der Mitte zwischen Himmel und Erde befand, zwischen Mensch und Gott Friede einkehrte nach dem Hass.64

In typischem Stil einer Homilie wird der Gedanke, dass Christus (am Kreuz) in der Luft hängt, dreifach (leicht variiert) wiederholt und dreifach gedeutet. Dabei liegt derselbe allegorische Sinn zugrunde, der nur anders nuanciert wird: Durch seine Position zwischen Himmel und Erde kann Jesus vermitteln, sowohl Sterne als auch die Erde von der Schuld reinwaschen als auch die Zwietracht zwischen Himmel und Erde bzw. zwischen Gott und den Menschen beenden. Um die Bedeutung des am Kreuz hängenden Christus zu betonen, wird der Gedanke noch dreimal wiederholt und wiederum jeweils mit einer Deutung versehen: 61 62 63 64

Lateinischer Text nach Venantius Fortunatus, Carm., XI, 1, 24, bei REYDELLET, III, 108. Venantius Fortunatus, Carm., XI, 1, 1. Io 3, 14. Lateinischer Text nach Venantius Fortunatus, Carm., XI, 1, 25, bei REYDELLET, III, 108.

3.1.3. Venantius als theologischer Schriftsteller

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26. Aut ideo quia ante grauis latro in cruce configebatur, ergo ad hoc elegit Christus principale supplicium, ut hominem absolueret originali peccato quod erat principale tormentum. aut ideo Dominus in cruce suspenditur, ut pro captiuitate nostra pretium sui corporis mercator in statera pensaret.

26. Oder deshalb, weil man zuvor einen Schwerverbrecher ans Kreuz zu schlagen pflegte, wählte Christus diese ursprüngliche Art der Todesstrafe, damit er den Menschen von der Ursprungssünde erlöste, was die ursprüngliche Art der Folter war. Oder deshalb hing der Herr am Kreuz, damit er als Kaufmann für unsere Gefangenschaft das Lösegeld seines Körpers für uns in die Waagschale legen konnte. 27. Aut ideo crucifigitur, quia mortui eramus per 27. Oder deshalb wurde er gekreuzigt, weil wir pomum et arborem, ut denuo crux et Christus, id tot waren durch Frucht und Baum, damit est arbor et pomum, per ipsam similitudinem nos schließlich Kreuz und Christus, d.h. Baum und a morte liberaret. pomum dulce cum arbore! Frucht, uns gerade durch die Ähnlichkeit vom Tod befreiten. Süße Frucht am Baum!65

Diesmal beziehen sich die Deutungen auf die Funktion des Kreuzes als Marter- und Hinrichtungswerkzeug und auf sein Material, Baumholz, weswegen es mit dem Baum der Erkenntnis und dem Sündenfall in Verbindung gebracht werden kann. Der Gedankengang, der diesen Allegorien zugrunde liegt, ist paradox: Das Kreuz ist die Strafe für Schwerverbrecher, also wäre es die gerechte Strafe für Adam wegen des Sündenfalls gewesen. Gerade diese Strafe nimmt paradoxer Weise Christus auf sich und wird so seiner Mittlerfunktion, von der zuvor die Rede war, gerecht. Dieselbe Mittlerfunktion steht auch im Vordergrund, wenn Venantius Fortunatus das Bild vom Kaufmann gebraucht, der in paradoxer Weise sich selbst zum Lösegeld für einen Gefangenen macht.66 Ein Paradoxon liegt auch im dritten Fall vor, wenn die Frucht des Baumes der Erkenntnis, deren Genuss im Ergebnis für die Menschheit der Tod war, einen Ausgleich durch Christus als Frucht am Kreuzesbaum findet, die im Ergebnis für die Menschheit süß ist (und die Befreiung vom Tod bedeutet).67 Wird so dem Kreuz und seiner Symbolik innerhalb des gesamten Abschnittes eine exponierte Stellung eingeräumt und diese durch einen kurze Paragraphen über die zeitliche Angabe Sub Pontio Pilato abgerundet,68 werden der Abstieg in die Unterwelt und die Auferstehung am dritten Tage nur kurz behandelt 69 und im ersten Fall zwei Schriftzitate als Beleg70 angeführt, im zweiten darauf ganz verzichtet. Es folgt ein ausführlicherer Abschnitt über Himmelfahrt und Totengericht,71 der damit 65 66 67

68 69 70 71

Lateinischer Text nach Venantius Fortunatus, Carm., XI, 1, 26–27, bei REYDELLET, III, 108f. Dieser Gedanke erscheint ähnlich auch bei Venantius Fortunatus, Carm., V, 6a, 25–29 (bei REYDELLET, II, 33). Als dulce wird das Kreuz bzw. das Kreuzesholz z.B. auch in seinem berühmten Hymnus Pange, lingua, gloriosi..., Venantius Fortunatus, Carm., II, 2, 24 (bei REYDELLET, I, 51) bezeichnet. Venantius Fortunatus, Carm., XI, 1, 28, bei REYDELLET, III, 109. Venantius Fortunatus, Carm., XI, 1, 29–30, bei REYDELLET, III, 109. Ps 87, 4; Mt 11, 3. Venantius Fortunatus, Carm., XI, 1, 31–34, bei REYDELLET, III, 110f.

3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

170

ebenfalls ein größeres Gewicht erhält, wenn er auch in der Länge nicht an die rufinische Vorlage heranreicht. 72 Auch hier ist der Schriftbeleg von besonderer Wichtigkeit, wobei sich Venantius Fortunatus im ersten Paragraphen allerdings auf zwei Zitate beschränkt; das erste nimmt das Thema der captiuitas / Gefangenschaft wieder auf: ascendens in altum captiuam duxit captiuitatem

als er zum Himmel aufstieg führte er die Gefangenschaft als Gefangene.73

Das zweite drückt das Staunen der Engel aus, als Christus erstmalig in körperlicher Gestalt im Himmel erscheint: quis est iste rex gloriae?

Wer ist dieser König der Herrlichkeit?74

In beiden Fällen liegen Paradoxien zugrunde, die Venantius Fortunatus, wie sich in den vorangegangen Analysen gezeigt hat, häufig zur betonten Exponierung eines Gedankens verwendet. Hier geschieht es, um das Mysterium der leiblichen Auferstehung Christi gebührend hervorzuheben: 32. Nam et ipsum sedere mysterium est carnis adsumptae et prouectum sedis non diuina, sed humana natura requirit: inde et hoc dictum est: parata sedes tua, domine et: dixit Dominus Domino meo, sede a dextris meis et illud: a modo uidebitis filium hominis sedentem a dextris uirtutis.

32. Denn das Sitzen selbst ist ein Mysterium des angenommenen Fleisches und die Verlegung eines Sitzes (in den Himmel) erfordert nicht die göttliche, sondern die menschliche Natur: Darauf bezieht sich auch folgendes (Schriftwort): Bereit ist dein Sitz75 und: Es sprach der Herr zu meinem Herrn, setze dich zu meiner Rechten76 und jenes: Bald werdet ihr den Menschensohn zur Rechten der (göttlichen) Macht sitzen sehen.77

Der einfache Gedanke, dass nur eine körperlich vorhandene Existenz einen Sitz bzw. Stuhl benötigt, wird hier im Zusammenhang mit den Schriftzitaten als Beweis für die körperliche Himmelfahrt Christi angeführt. Diese Argumentation ist bereits in der rufinischen Vorlage vorhanden,78 wird hier aber durch die Beschränkung auf nur drei Schriftzitate, die jeweils nur eine These formulieren, wesentlich prägnanter als bei Rufin formuliert.

72 73 74 75 76 77 78

Rufinus, Expositio symboli, 29–32, 164–169 bei SIMONETTI, CCSL 20. Eph 4, 8. (nach Ps 67, 19). Ps 23, 8. Ps 92, 2. Ps 109, 1. Schriftzitat: Mt 26, 64; lateinischer Text nach Venantius Fortunatus, Carm., XI, 1, 32, bei REYDELLET, III, 110. Rufinus, Expositio symboli, (30), 165f. bei SIMONETTI, CCSL 20.

3.1.3. Venantius als theologischer Schriftsteller

171

Das Prinzip des dreifachen Schriftbelegs liegt auch dem Ende des Abschnittes über Christus zugrunde. Es geht um die Interpretation des Satzes 33. Iudicaturus uiuos et mortuos.

33. Zu richten die Lebenden und die Toten.

Wiederum folgt Venantius Fortunatus Rufin nur inhaltlich und gestaltet dessen Erklärung79 um: Aliqui dicunt uiuos iustos, mortuos uero iniustos; aut certe uiuos quos in corpore inuenerit aduentus dominicus et mortuos iam sepultos; nos tamen intellegamus uiuos et mortuos, hoc est animas et corpora pariter iudicandas.

Manche sagen, die Lebendigen seien die Gerechten, die Toten aber die Ungerechten; oder zweifellos seien die Lebenden diejenigen, die der Herr bei seine Ankunft im Leib vorfinde, und die Toten die, welche schon bestattet worden seien; wir aber wollen Lebendige und Tote darunter verstehen, d.h. dass die Seelen und die Körper zugleich verurteilt werden.80

Auffällig ist auch hier die Dreizahl der Interpretationen, von denen nur die letzten beiden bei Rufin ihre Entsprechung finden. Zwar übernimmt Venantius Fortunatus die theologische Position des Rufin und lehnt eben wie dieser die Interpretation ab, es gehe um diejenigen, die am jüngsten Tag noch (im Körper) leben und diejenigen, die schon bestattet seien, aber er fügt eine weitere hinzu und erreicht so eine Dreigliedrigkeit, wie sie sowohl schon zuvor als auch im folgenden Paragraph in der Auswahl seiner Schriftbelege deutlich wird: 34. Nam de aduentu Domini et Malachias ait: ecce uenit Dominus omnipotens et Danihel: ecce in nubibus caeli quasi filium hominis; et illud: sicut fulgor ab oriente, ita erit aduentus filii hominis.

79

80 81

82 83

34. Denn über die Ankunft des Herrn sagt auch Malachias: Siehe der allmächtige Herr kommt81 und Daniel: Siehe in den Wolken des Himmels gleichsam den Menschensohn; 82 und jenes (Schriftwort): So wie der Glanz bei Sonnenaufgang, so wird die Ankunft des Menschensohnes sein.83

Vgl. Rufinus, Expositio symboli, 31 (lateinischer Text nach SIMONETTI, CCSL 20, 166, 31, Z. 8–11): ...Quod autem dicitur iudicare uiuos et mortuos: non quo alii uiui alii mortui ad iudicium ueniant: sed quod animas simul iudicabit et corpora, in quibus uiuos animas, mortuos corpora nominauit... /...Was aber bedeutet zu richten die Lebenden und die Toten? Nicht dass die einen lebend und die anderen tot zum Gericht erscheinen, sondern dass er zusammen die Seelen und die Körper richten wird, bei denen er die Seelen als Lebende und die Körper als Tote bezeichnet hat. Lateinischer Text nach Venantius Fortunatus, Carm., XI, 1, 33, bei REYDELLET, III, 110. Mal 3, 1.: ecce venit, dicit dominus exercituum / Seht er kommt, spricht der Heer der Heerscharen. Version des Venantius nach Rufinus, Expositio symboli, 32, (siehe 166, Z. 4 bei SIMONETTI, CCSL 20). Dan 7, 13. Schriftzitat: Mt 24, 27; lateinischer Text nach Venantius Fortunatus, Carm., XI, 1, 34, bei REYDELLET, III, 111.

172

3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

Während die rufinische Vorlage zwölf Schriftzitate über die Parusie Christi anführt und sich dabei nicht nur auf ein oder zwei Kola beschränkt,84 wählt Venantius Fortunatus drei Zitate aus, die er in einer quantitativ wie qualitativ aufsteigend Klimax (vom Alten zum Neuen Testament) anordnet. Damit korrespondiert dieses Kompositionsschema in Mikrostruktur mit dem der Makrostruktur, wo jeweils Gott Vater, Sohn und Heiligem Geist ein Großabschnitt gewidmet ist. Durch Umfang und inhaltlich eigene Ergänzung beim Erlösungswerk Christi am Kreuz erhält der zweite Großabschnitt über Gott Sohn das stärkste Gewicht, wobei auch dieser Abschnitt sich dreifach untergliedern lässt (Geburt, Erlösungswerk, Totengericht). Die Schriftzitate am Ende haben dabei keineswegs nur argumentierende Funktion, um etwa zu belegen, dass die zuvor genannte Deutung des Totengerichts als Gericht über Seele und Körper die zutreffende ist, sondern illustrieren auch die Herrlichkeit der Parusie Christi, deren Glanz exponiert am Ende des Großabschnittes steht und damit zugleich den Erfolg des Erlösungswerkes symbolisiert. Die Dreigliederung in der Makrostruktur beschließt der Abschnitt über den Heiligen Geist, der mit der Explikation des Glaubens an die Kirche, die Vergebung der Sünden und die Auferstehung im Fleisch kombiniert wird,85 so dass sich eigentlich nur der Anfang mit der Dreifaltigkeit Gottes auseinandersetzt. Dort wird nach einer Definition der göttlichen Personen philologisch argumentiert, dass die Verwendung der Präposition an Göttlichkeit bezeugt:

35. Credo in sanctum spiritum. In huius commemoratione mysterium trinitatis impletur: unus Pater, unus Filius, unus Spiritus Sanctus. Vt fiat distinctio personarum, uocabula secernuntur: Pater ex quo omnia et qui non habet patrem; Filius ex patre genitus; Spiritus Sanctus de Dei ore procedens et cuncta sanctificans.

84 85

35. Ich glaube an den Heiligen Geist. Mit dessen Erwähnung erfüllt sich das Geheimnis der Dreifaltigkeit: ein Vater, ein Sohn, ein Heiliger Geist; um eine Unterscheidung der Personen zu tätigen, werden unterschiedliche Begriffe verwendet: Vater, aus dem alles ist und der keinen Vater hat, Sohn, der vom Vater gezeugt worden ist, und Heiliger Geist, der aus dem Mund des Vaters hervorgeht und alles heiligt.

Siehe Rufinus, Expositio symboli, 32, 166–169 bei SIMONETTI, CCSL 20. Venantius Fortunatus, Carm., XI, 1, 35–42, bei REYDELLET, III, 111–113.

3.1.3. Venantius als theologischer Schriftsteller

36. Ergo una diuinitas in trinitate, quia dixit symbolum: credo in Deum Patrem, et in Iesum Christum et in Spiritum Sanctum. ergo in ubi praepositio ponitur, ibi diuinitas adprobatur, ut est: credo in Patrem, in Filium, in Spiritum Sanctum. nam non dicitur in sanctam ecclesiam nec dicitur in remissionem peccatorum, sed remissionem peccatorum credit.

173

36. Und es gibt nur eine einzige Gottheit in der Dreieinigkeit, weil das Glaubensbekenntnis sagt: Ich glaube an Gott, den Vater, und an Jesus Christus und an den Heiligen Geist. Wo also die Präposition an gesetzt wird, dort wird die Göttlichkeit bezeugt. Denn es wird nicht gesagt: (Er glaubt) an die heilige Kirche, und es wird nicht gesagt: (Er glaubt) an die Vergebung der Sünden, sondern: Er glaubt die Vergebung der Sünden86.

Zugleich schließt diese philologische Erklärung die folgenden Ausführungen zu heiligen Kirche, der Sündenvergebung und der Auferstehung im Fleisch an. Allein vom Umfang her legt Venantius Fortunatus auf die letzten beiden Punkte ein besonderes Gewicht.87 Die Vergebung der Sünden erklärt er zur Sache des Glaubens, argumentiert dann aber doch mit einem Syllogismus in bester rhetorischer Tradition:

38. ...Ipse rex terrenus a nullo discutitur, si quodcumque largitur. Nam ille, qui potuit de luto hominem facere, idem potens est etiam lutulentum purgare, et ualet innocentiam perditam restituere qui sepultos et membra perdita reuocat ad salutem.

38. ...Auch bei einem irdischen König wird von niemanden eine Diskussion begonnen, wenn er irgendetwas schenkt. Denn jener, der es vermochte, aus Dreck den Menschen zu machen, ist auch imstande, Dreckiges zu reinigen, und es vermag die verlorene Unschuld wieder herzustellen, wer Bestattete und vergangene Glieder wieder zum Leben ruft.88

In diesem Syllogismus wird en passant bereits die Auferweckung der Toten erwähnt, welche die Schrift abschließt: 39. Resurrectionem in Carnis. Summa perfectionis concluditur et caro ipsa quae cadit resurrectura erit, immortalis ut maneat, licet resurrectio a paganis et quibusdam hereticis non credatur. Tamen Esaias dicit: surgent mortui et suscitabuntur; et Danihel ait: resurgent tunc qui sunt in terrae puluere.

86

87 88

39. (Ich glaube) die Auferstehung des Fleisches. Der Gipfel der Vollkommenheit wird erreicht und das Fleisch selbst, was (zer-)fällt, wird sich erheben, dass es unsterblich bleibt, mag auch die Auferstehung von den Heiden und bestimmten Häretikern angezweifelt werden: Doch sagt Jesaja: Die Toten werden sich erhe-

Venantius Fortunatus, Carm., XI, 1, 35–36, bei REYDELLET, III, 111. Siehe dort (lateinischer Text nach REYDELLET). Zur inhaltlichen Vorlage siehe Rufinus, Expositio symboli, 33–34, 169f. bei SIMONETTI, CCSL 20. Venantius Fortunatus, Carm., XI, 1, 38–42, bei REYDELLET, III, 112f. Lateinischer Text nach Venantius Fortunatus, Carm., XI, 1, 38 Ende, bei REYDELLET, III, 112.

174

3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

ben und erweckt werden; 89 und Daniel sagt: Dann werden sich die erheben, welche im Staub der Erde liegen.90

Die alttestamentlichen Prophezeiungen sind durch neutestamentarische ergänzt, wobei Venantius Fortunatus es so anlegt, dass jeder alttestamentarischen Prophezeiung zwei aus dem Neuen Testament gegenüberstehen, womit sich zwei Dreiergruppen ergeben: 40. Christus dicit: quod autem resurgent mortui non legitis? et: non est Deus mortuorum, sed uiuentium. Item apostolus dicit: tu quod seminas non uiuificatur, nisi prius moriatur. Et dicit scriptura: post resurrectionem erunt sicut angeli Dei.

40. Und Christus spricht: Habt ihr aber nicht gelesen, dass die Toten auferstehen werden?91 Und: Er ist nicht der Gott der Toten, sondern der Lebenden. 92 Ebenso spricht der Apostel: Das, was du säst, wird nicht leben, wenn es nicht zuvor stirbt.93 Und die Heilige Schrift sagt: Nach der Auferstehung werden sie sein wie die Engel Gottes.94

Wiederum wählt er nur eine bestimmte Anzahl aus den zahlreichen Schriftzitaten in der rufinischen Vorlage aus95 und reduziert diese auf eine prägnante Formulierung. Diese prägnante Formulierung mündet in einen sentenzartigen Schluss aus: 41. Ergo nec hoc credentibus inpossibile iudicetur, quia qui potuit hominem de terra conponere, poterit hunc ex homine in angelum transformare et post hanc uitam temporalem uitam aeternam tribuere. 42. Ergo moritur homo quasi granum in sulco, ut resurgat cum spico et multiplicetur in fructu, adsimiletur et angelo. Quod ipse salutatis auctor nobis tribuere dignetur, qui triumphato Tartaro cum Patre et Sancto Spiritu glorioso principatu intrans uictor regnat in caelo. Amen. 89

90 91 92 93 94 95

41. Also wird auch dies von den Gläubigen nicht als unmöglich erachtet, dass der, welcher den Menschen aus Erde zu schaffen vermochte, diesen aus einem Menschen in einen Engel verwandeln und nach diesem zeitlichen das ewige Leben schenken kann. 42. Also stirbt der Mensch wie ein Weizenkorn in der Furche, um mit der Ähre des Korn aufzuerstehen und sich in der Frucht zu vervielfältigen und sich einem Engel anzugleichen: Denn dies wollte der Urheber unserer Erlösung uns selbst schenken, der nach dem Triumph über den Tar-

Is 26, 19; zitiert nach Rufinus, Expositio symboli, 39, 175, Z. 7 bei SIMONETTI, CCSL 20, dort allerdings: Resurgent mortui et suscitabuntur, qui sunt in sepulchris / Die Toten werden sich erheben und erweckt werden diejenigen werden, die in den Gräbern sind. Die Änderung bei Venantius vermeidet eine Wiederholung zum Danielzitat und ermöglicht zugleich die Alliteration von surgent und sucitabuntur. Schriftzitat Dan 12, 2. (nach Rufinus, Expositio symboli, 39, 175, Z. 9 bei Simonetti, CCSL 20). Lateinischer Text nach Venantius Fortunatus, Carm., XI, 1, 39, bei REYDELLET, III, 112. Mt 22, 31. Mt 22, 32. I Cor 15, 36. Mt 22, 30, Venantius Fortunatus, Carm., XI, 1, 40, lateinischer Text nach REYDELLET, III, 112. Schriftzitate bei Rufinus, Expostio symboli, (30–40), 175f. bei SIMONETTI, CCSL 20.

3.1.3. Venantius als theologischer Schriftsteller

175

tarus als Sieger den Himmel betreten hat und zusammen mit dem Vater und dem Heligen Geist dort in glorreicher Herrschaft regiert. Amen.96

Mit der Schlussformel kehrt Venantius Fortunatus zum Heiligen Geist zurück. Die Anlage des gesamten Abschnittes exponiert aber ein weiteres Leitthema, nämlich die Auferstehung der Toten. Dieses Leitthema korrespondiert mit den Ausführungen über den Tod Christi am Kreuz und dem Kreuzeslob im Christusabschnitt: Stand dort das Erlösungswerk Christi im Mittelpunkt, so hier sein Ergebnis, die Auferstehung der Toten. Zugleich wird eine Brücke zum ersten Abschnitt der expositio symboli geschlagen, wo Sündenvergebung und Auferstehung das Ende der verbindlichen Glaubensinhalte bildeten. 97 Gleichsam ist hier das tšloj des Glaubens, das ewige Leben erreicht, was durch Anlage und Komposition unmissverständlich herausgehoben wird. c) Zusammenfassung Die expositio symboli zeigt, wie Venantius Fortunatus als theologischer Schriftsteller mit seinen Vorlagen umgeht. Im Gegensatz zu seiner Kommentierung des Vater unser, die wohl auch auf eine oder mehrere Vorlagen zurückgeht,98 ist in diesem Falle der Prätext, nämlich die expositio symboli des Rufin für uns greifbar. Beim Umgang mit dieser Vorlage stechen einige Charakteristika hervor: Venantius Fortunatus folgt Rufin in inhaltlicher Hinsicht: Dabei übernimmt er in erster Linie philologische Worterklärungen und Schriftzitate, während er weitschweifige theologischen Erörterungen entweder völlig auslässt oder auf Kernsätze reduziert. Damit nimmt er eine Präzisierung vor und stellt durch die Übernahme zugleich sicher, dass seine Schrift den orthodoxen Glaubensinhalten verpflichtet bleibt. Er schließt sich dabei einem theologischen Denker an, achtet aber bei der 96 97 98

Lateinischer Text nach Venantius Fortunatus, Carm., XI, 1, 41–42, bei REYDELLET, III, 113. Siehe Venantius Fortunatus, Carm., XI, 1, 1, vgl. auch die entsprechenden Ausführungen zu Beginn dieses Kapitels. Während in der expositio symboli des Venantius Fortunatus kein Adressat genannt wird, ist das im Proöm der Expositio orationis dominicae / der Auslegung des Gebets des Herrn anders: Dort werden die filii dilectissimi / die äußerst geliebten Söhne direkt angesprochen, während Venantius Fortunatus die Kernelemente des Glaubens, Erlösung der Sünden und Taufe herausstreicht und das Vater unser als von Gott gegebenen Schutz vor dem Rückfall in die Sünde darstellt. Dann fährt er fort (Carm., X, 1, 2, lateinischer Text nach REYDELLET, III, 40): Inde retinentes eius mysteria et quam multa sint in breuitate conlata, propter aedificationem ecclesiae paucis docemus explicare, quia tunc nobis melius placebunt auditu, cum patuerint intellectu. Itaque ad ipsum ueniamus sanctae orationis sermonem. / Daher wollen wir lehren, seine Mysterien, die wir haben,, wie viele es auch sind, kurz und bündig in wenigen Worten zu erklären, weil sie beim Hören eher unsere Zustimmung finden werden, wenn sie mit dem Verstand begriffen worden sind. Deshalb wollen wir uns an eine Erörterung über das heilige Gebet machen. Dieser Text richtet sich an die hochgeschätzten Söhne und möchte zur Erklärung des Vater unsers anleiten (docemus explicare) und richtet sich offensichtlich an Mitbrüder aus dem geistlichen Stand, die für ihre eigene Predigttätigkeit angeleitet werden sollen.

176

3.1. Venantius als Prosaschriftsteller

Auswahl und Exponierung einiger Passagen sorgfältig darauf, dass er selbst den orthodoxen Glaubensinhalten verhaftet bleibt.99 In stilistischer Hinsicht hingegen beschreitet er sowohl in der Konzeption und Komposition der Makro- als auch der Mikrostruktur eigene Wege: Das betrifft einerseits die Reduzierung der Schriftzitate auf einen leicht memorierbaren Kern, andererseits ihre Zusammenfassung zu Dreiergruppen. Das passt in diesem Text zur Trinität Gottes, die sich im dreigeteilten Grundschema der Makrostruktur spiegelt (Auch die allegorischen Deutungen von Kreuz und Geschehen am Kreuz erscheinen in der Dreizahl). Ferner exponiert Venantius Fortunatus sowohl durch Ausführlichkeit der Behandlung als auch durch rhetorische Gestaltung bestimmte Stellen des Glaubensbekenntnisses und setzt so – im Vergleich zur rufinischen Vorlage – eigene Akzente. Auch das zeigt sich am deutlichsten in der zahlentektonisch strukturierten allegorischen Deutung der Mittlerfunktion Christi am Kreuz, die bei Rufin keine Entsprechung hat. Die zahlentektonische Komponente verbindet die expositio symboli mit anderen Werken Venantius Fortunatus z. B. den nach dem numerus perfectus achtundzwanzig gestalteten vierten Buch seiner Carmina oder dem Figurengedicht Carmen, V, 6a, das analog zu den dreiunddreißig Jahren der Inkarnation Christi auf Erden einen Basistext von dreiunddreißig Hexametern aufweist. Bei den wohl aus dem Nachlass veröffentlichten theologischen Schriften handelt es sich um Texte, die mit der klerikalen Tätigkeit des Venantius Fortunatus als Presbyter und dann vielleicht auch als Bischof von Poitiers in Verbindung stehen.100 In der expositio symboli zeigt sich zunächst, wie er sich in die christliche Kommentarliteratur einreiht und einer literarischen Tradition folgt, die sich aus der Bibelexegese entwickelt hat. Es zeigt sich aber auch, dass er, obwohl er inhaltlich und theologisch zum großen Teil auf einer einzigen Vorlage fußt, in der Bearbeitung und Kürzung dieser Vorlage, literarische Verfahrensweisen anwendet, die den 99

Allgemein zu Rufin siehe M. SKEB, Rufin von Aquileia, in: LACL 11999, 536f. Durch seine Übersetzung der Werke des Origenes wird Rufins eigene Orthodoxie angezweifelt. Er verteidigt sich mit der Behauptung, die heterodoxen Stellen bei Origenes seien spätere Interpolationen, vgl. dazu ebendort 536. Zur Übersetzungstätigkeit des Rufin vgl. F. WINKELMANN, Einige Bemerkungen zu den Aussagen des Rufinus von Aquileia und des Hieronymus über ihre Übersetzungstheorie und -methode, in: Festschrift Quasten, Münster 1970, 532–547; ausführlich H. MARTI, Übersetzer der Augustin-Zeit, München 1974 und DERS., Übersetzen philosophischer Texte, in: J. HAMESSE & M. FATORI (Hrsg.), Rencontres de cultures, Cassino 1990, 23–45. 100 Eine interessante Parallele stellt vielleicht die berühmte Einführung in das Christentum von J. RATZINGER / PAPST BENEDIKT XVI., München 32000 dar. Es handelt sich ursprünglich, wie auch der Untertitel herausstreicht, um Vorlesungen über das Apostolische Glaubensbekenntnis; das Werk ist also unmittelbar aus der theologischen Ausbildung heraus entstanden und stellt den zentralen Text des Glaubensbekenntnisses in dem Mittelpunkt. Eine theologische Ausbildung seiner Presbyter dürfte auch einem Bischof von Poitiers, ein Amt, das Venantius Fortunatus nach dem Zeugnis des Paulus Diaconus am Ende seines Lebens bekleidete, am Herzen gelegen haben, so dass man sich von daher einen ganz praktischen Anlass für die kurz gefassten theologischen Traktate zu den zentralen Texten des Vater unser und des Glaubensbekenntnisses gut vorstellen kann.

3.1.3. Venantius als theologischer Schriftsteller

177

Text über den Status reiner „Gebrauchsliteratur“ herausheben. Das verbindet sein theologisches Schrifttum mit seinen übrigen (erhaltenen) Prosaschriften. Zeigten seine Prosabriefe (dem Verständnis des Adressaten angepasste) artistische Transgressionen auf der Bild- und Stilebene, die jeweils ein konkretes Ziel unterstützen, so stellen seine Viten trotz des (dem Horizont des Publikums) angepassten mittleren Stils argumentativ rhetorische Meisterleistungen dar, in Hinblick darauf, entweder einen Heiligenkult zu stabilisieren oder zu etablieren. Seine theologischen Kommentare wiederum setzen bewusst auf eine literarische Darstellung, um die zentralen Inhalte des christlichen Glaubens unverfälscht im Sinne einer Orthodoxie zu vermitteln, was einen konkreten „Sitz im Leben“, z. B. zur Unterweisung von Klerikern natürlich nicht ausschließt.

3.2. DAS POETISCHE WERK DES VENANTIUS FORTUNATUS 3.2.1. Zum dichterischen Selbstverständnis: Die Proömien Allgemeine Vorbemerkungen Auch wenn die Problematisierung des Gattungsbegriffs bis hin zu seiner gänzlichen Negierung vor allem eine Erscheinung der Literaturtheorie seit dem achtzehnten Jahrhundert darstellt, konnte ein Dichter zur Zeit des Venantius Fortunatus doch auf eine theoretische Tradition hinsichtlich der Definition literarischer Gattungen zurückgreifen, die in der Philosophie wie in der Rhetorik verwurzelt ist.1 Während schon Platon im Zuge seiner Mimesistheorie eine Grunddifferenzierung nach der Sprecherrolle (direkte Rede in Tragödie und Komödie, Dichtererzählung vor allem im Dithyrambos und eine Mischform vor allem im Epos) vornimmt2 und Aristoteles in seiner Poetik die Mimesis nach Darstellungsmittel, dargestellten Gegenständen und Darstellungsart kategorisiert, wobei nach ethischen Kriterien das gute bzw. schlechte Handeln der Menschen den zentralen Gegenstand der Mimesis ausmacht und daher in Form der Idealisierung, Karikatur oder der Porträtierung dargestellt werden kann,3 wurde die Literaturtheorie im lateinischen Bereich vor allem von der Ars poetica des Horaz für die Dichtung und der Quintilians Institutio oratoria, in der das Gedankengut aus Ciceros rhetorischen Schriften aufgegriffen wird, für den Bereich der Prosa maßgeblich geprägt, zwei Werke, die Venantius Fortunatus mit einiger Wahrscheinlichkeit vertraut waren. 4 Durch die Erweiterung des Mimesisbegriffs vom menschlichen Handeln auf die imitatio beispielhafter literarischer Vorbilder bei Horaz5 werden nicht nur literarische Gattungen konstituiert, sondern jeder dieser Gattungen auch mustergültige Autoren und Werke zugeordnet, denen in der Folge der Charakter normativer Praetexte zukommt. Ist die Ars poetica des Horaz als Diatribe ohne strenge Systematik angelegt und stellt sie eine Fülle von Einzelvorschriften für den Dichter präskriptiv zusammen, zeigt Quintilians Hand1

2

3 4

5

Allgemein zur Gattungslehre und ihrer historischen Entwicklung siehe S. KOMFORT-HEIN / H. KNOBLOCH, Gattungslehre, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 3, Tübingen 1996, Sp. 528–564, speziell zur Antike dort Sp. 528–534, vgl. auch M. FUHRMANN, Dichtungstheorie der Antike: Aristoteles-Horaz-‚Longin’, Darmstadt 21992, insbesondere 15ff. Vgl. dazu KOMFORT-HEIN, Gattungslehre, Sp. 530. Im Mittelalter werden diese Kriterien in der Rota Vergiliana auf die drei Werke Vergils übertragen: direkte Rede in den Eklogen, Dichterrede in den Georgica und das genus mixtum in der Aeneis. Vgl. KOMFORT-HEIN, Gattungslehre, Sp. 530f. Aus der Ars poetica wird z. B. Venantius Fortunatus, Carm., V, 6, 7 (Brief an Syagrius zitiert), Venantius Fortunatus, Vita sancti Albini, 6 scheint auf Quintilian, Inst. orat., X, 1, 114 anzuspielen. Vgl. dazu KOMFORT-HEIN, Gattungslehre, Sp. 531.

3.2.1. Die Proömien

179

buch eine breite und systematische Anlage. Obwohl für den angehenden Rhetor konzipiert, beschränkt sich der Kanon der mustergültigen Autoren im zehnten Buch6 nicht allein auf Prosaschriftsteller, sondern umfasst ebenso die Poesie, deren Nutzen als Stilvorbild herausgestrichen wird. Als Einteilungskriterium dient neben einer Differenzierung nach griechischer und lateinischer Literatur sowie einer Unterscheidung nach Prosa und Poesie die literarische Gattung, die jeweils mit Gattungsbezeichnung und den wichtigsten Vertretern aufgeführt wird. Bei Horaz wird der aristotelische Begriff des pre/pon als aptum bzw. decorum zum beherrschenden Gebot im Zentrum seiner Poetik und erscheint insofern erweitert, als er nicht mehr nur „das Verständnis von Charakter und Rollentyp [reguliert], sondern das Verhältnis von Vers und Stil auf der einen sowie von poetischer Gattung, Affekt, Charaktertyp und Situation auf der anderen Seite“7 bezeichnet. Zugleich definiert er aber Gattungsgrenzen, die sich einerseits durch konkrete Präskripte, andererseits durch das, was exempla der mustergültigen Autoren vorgeben, konstituieren. Auf diese Weise ergibt sich für einen antiken Dichter nicht nur durch das Studium der wenigen literaturtheoretischen Schriften, sondern auch durch das der kanonischen Vorgänger eine klar umrissene Vorstellung von den einzelnen Gattungen, die neben der Gattungsbezeichnung und (bei den poetischen Genera) des entsprechenden Metrums das aptum bzw. decorum für die jeweilige Gattung beinhaltet. Die Malern und Dichtern zugestandene Freiheit 8 wird von Horaz nach der Kategorie des aptum sogleich eingeschränkt.9Auch wenn es nicht explizit gesagt wird, lassen die Einzelvorschriften doch erkennen, dass Horaz diese Freiheit nicht im Sinne einer Gattungsmischung oder Gattungstransgression auffasst. Für Venantius Fortunatus hingegen stellt dies, begründet sogar mit einem Rekurs auf Ars Poetica des Horaz,10 ein legitimes Mittel dar, nicht nur Gattungsgrenzen, sondern sogar die zwischen Malerei und Literatur zu überschreiten. Eine Transgression dieser Grenzen als Mittel der Auseinandersetzung mit literarischen Vorgängertexten im Sinne einer aemulatio oder sogar superatio setzt allerdings wiederum eine klar umrissene Vorstellung vom jeweiligen Genos voraus. Beim Versuch einer historischen Rekonstruktion dieser Vorstellung müssen wir uns daher neben den theoretischen Texten, die Venantius Fortunatus bekannt sein konnten, auf das konzentrieren, was die exempla enthalten, und zwar neben denen der klassischen Zeit insbesondere diejenigen, welche dem Dichter zeitlich am nächsten kommen. Darüber hinaus kann auch auf die wenigen poetologischen Selbstaussagen des Dichters zurückgegriffen werden, die allerdings nicht absolut genommen werden dürfen, sondern zuvor innerhalb ihres jeweiligen Kontextes interpretiert werden müssen. 6 7

8 9 10

Quintilian, Inst. orat., X, 1, 20–131. FUHRMANN, Dichtungstheorie, 132f. In der späteren mittelalterlichen Rezeption wird er noch dahingehend erweitert, dass die drei Stilarten mit den drei Ständen korrespondieren, vgl. dazu KOMFORT-HEIN, Gattungslehre, Sp. 536f. Horaz, Ars poetica, 9f. Horaz, Ars poetica, 11ff. Siehe Venantius Fortunatus, Carm., V, 6, 7 (Brief an Syagrius).

180

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

Dabei bietet die exponierte Stellung von Proömien bzw. Prosapraefationes in besonderem Maße Raum für programmatische Äußerungen des Autors, die traditionell nicht nur zur Vorstellung von Anlass und Thematik des Werkes, sondern auch zur Reflexion über die eigene Stellung innerhalb einer literarischen Tradition genutzt werden können. 11 Berücksichtigt man die spezifische Form des Gedichtkorpus des Venantius Fortunatus, so kommen für eine Untersuchung derartiger Äußerungen in erster Linie die Gesamtpraefatio und das Einleitungsgedicht zum achten Buch in Frage,12 da man davon ausgehen muss, dass die Gedichtsammlung in verschiedenen Stufen herausgegeben worden ist, wobei zumindest für die ersten beiden der Dichter selbst verantwortlich zeichnete. 13 Das ebenfalls durch seine Stellung zu Beginn der zweiten Hälfte der ursprünglichen Sammlung exponierte Schreiben an Martin von Braga ist zuvor bereits behandelt worden, wobei die Analyse gezeigt hat, dass Literatur und literarische aemulatio ein durchgehendes Unterthema bilden.14 In der Prosapraefatio in Form eines Widmungsbriefes an Gregor von Tours stehen derartige Überlegungen thematisch im Mittelpunkt. 11

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14

Ausführlich zu den lateinischen Prosapraefationes und ihrer Topologie T. JANSON, Latin Prose Prefaces, Stockholm 1964, zur späteren Kaiserzeit bis zu den christlichen Autoren siehe insbesondere 113–151. Vgl. auch M. R. CLELAND, Sophistic epideictic rhetoric: A classical theory and a contemporary interpretation, Diss. Northern Illinois University 1989, UMI 1990, insbesondere 53–109. Der Sammlung der Carmina des Venantius Fortunatus ist in der uns vorliegenden Form eine ausführliche Prosapraefatio in Form eines Widmungsbriefes an Gregor von Tours vorangestellt. Ebenso beginnen das dritte und das fünfte Buch mit einem Prosabrief an einen Bischof. (Venantius Fortunatus, Carm., III, 1 an Eufronius, den Großvetter und Amtsvorgänger von Gregor von Tours, und Carm., V, 1 an Martin von Braga), während die dazwischen liegenden Bücher jeweils mit einem Gedicht beginnen. So schon W. MEYER, Der Gelegenheitsdichter Venantius Fortunatus, 25f. Allein über den Umfang und Zeitpunkt der jeweiligen Editionen gibt es unterschiedliche Auffassungen: Während MEYER von einer Edition der ersten acht Bücher durch den Dichter ausgeht, der er später die des neunten Buches hinzugefügt habe, wohingegen die Bücher zehn und elf postum herausgegeben worden seien, umfasst nach D. TARDI, Fortunat, 93, die zweite Edition die Bücher VIII und IX, eine Auffassung, die sich vor allem durch das Proöm zu Buch VIII stützen lässt und der sich sowohl zuletzt REYDELLET, Venance Fortunat I, LXVIII–LXXI angeschlossen hat. Diese Auffassung wird im wesentlichen von J. W. GEORGE, Venantius Fortunatus, 208–211 geteilt, wobei sie davon ausgeht, dass die Herausgabe der letzten beiden Bücher in ihrem Kern auch auf Venantius Fortunatus zurückgeht, vgl. dazu auch J. W. GEORGE, Venantius Fortunatus: The End Game, Eranos 96, 1998, 32–43. Dass zumindest die ersten sieben Bücher nach einer einheitlichen Gesamtkonzeption angelegt sind, lässt sich auch durch den Wechsel zwischen einem Anfang in Versen oder Prosa erkennen: So beginnen nach der Gesamtpraefatio die ersten beiden in Versen, das dritte mit einem Prosabrief, das vierte, das nur Epitaphien enthält, in Versen, das fünfte mit einem Prosabrief und die Bücher sechs und sieben wiederum in Versen, ein Strukturprinzip, das darauf hindeutet, das die ursprüngliche Sammlung sieben Bücher umfasste. Der Brief leitet programmatisch das fünfte Buch ein, das unmittelbar nach dem inhaltlich wie formal abgeschlossenen vierten Buch, welches gleichsam die Stellung einer Mittelsäule unter den ersten sieben Büchern einnimmt, die zweite Hälfte der ursprünglichen Sammlung markiert. Vgl. zu dem Brief an Martin von Braga die entsprechenden Ausführungen in Kapitel 3. 1. 1. dieser Arbeit.

3.2.1. Die Proömien

181

Wie auch bei anderen Werken des Venantius Fortunatus, seien sie in ungebundener oder gebundener Rede verfasst, ergibt sich auch hier aufgrund ihrer vielschichtigen Aspekte die Notwendigkeit einer genaueren Analyse. Dem literarischen Genos nach handelt es sich bei der Praefatio um einen Widmungsbrief an Gregor von Tours.15 Anders als die anderen Briefe, welche in die Sammlung der Carmina inkorporiert sind, steht diese Praefatio vor dem ersten Buch; in den Handschriften folgen erst dann die capitula.16 Der offiziöse Charakter des Schreibens sowie die unterschiedliche gesellschaftliche Stellung von Adressat (Bischof Gregor von Tours) und Dichter (Presbyter Venantius Fortunatus) setzen dem Verfasser einen gewissen Rahmen, der von ihm berücksichtigt werden muss und in den sämtliche inhaltlichen Äußerungen einzubetten sind. 17 Das bedeutet für die Interpretation, dass neben der zentralen Thematik, nämlich der Selbsteinordnung in die literarische Tradition und der Frage nach dem Wert literarischer Beschäftigung, der Adressatenbezug zu berücksichtigen ist, um die literaturtheoretischen Äußerungen in den richtigen Kontext einzuordnen. Deshalb ist hier auch der Analyse der Praefatio eine Gliederung vorangestellt.

3.2.1.1. Praefatio des Gedichtcorpus a) Gliederung §1–3 §1–2

§3 §4–5 §4 §5 §6

15 16 17

Einleitung: Übermacht der literarischen Tradition & Unsterblichkeit der mustergültigen Autoren. Die Fähigkeiten der heutigen Autoren. Hauptteil: Das Werk des Venantius. Entstehung der carmina auf der Reise. Fehlen jeglicher kompetenter Kritiker. Schluss: Bitte, das Werk nur innerhalb eines engen Kreises von Vertrauten publik zu machen.

Zum Typ des Widmungsbriefes als Praefatio und seiner Verbreitung im lateinischen Bereich vgl. auch JANSON, Latin Prose Prefaces, 108–112. So auch in der Ausgabe von REYDELLET, dort I, 1–6 (Praefatio), 7–19 (Übersicht über die capitula des Gedichtkorpus). Vgl. dazu auch JANSON, Latin Prose Prefaces, 120.

182

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

b) Interpretation: Selbsteinordnung in die literarische Tradition Schon der Anfang der Praefatio thematisiert die literarische Tradition und streicht dabei die Vorbildfunktion der Literaten der alten Zeit besonders heraus: 1. Acuminum suorum luculenta ueteris aetatis ingenia, qui natura feruidi, curatura fulgidi, usu triti, auso securi, ore freti, more festivi, praeclaris operibus celebraturi posteris stupore laudanda reliquere uestigia, certe illi inuentione prouidi, partitione serii, distributione librati, epilogiorum calce iucundi, colae fonte proflui, commate succiso uenusti, tropis paradigmis periodis epichirematibus coronati pariter et coturnati, tale sui canentes dederunt specimen ut adhuc nostro tempore quasi sibi postumi uiuere credantur etsi carne uel carmine.

1. Die in ihrem Scharfsinn glänzenden Talente der alten Zeit, die von Natur aus glühend, in ihrer Sorgfalt strahlend, in der Praxis verwegen, im Wagnis sicher, in Vertrauen auf ihre Beredsamkeit, im Charakter heiter durch hoch glänzende Werke im Begriff, gefeiert werden, ihre Fußspuren, die vom Staunen der Nachwelt zu loben sind, zurückgelassen haben, jene waren sicherlich in der Inventio voraussichtig, in der Partitio gewissenhaft, in der Distributio harmonisch, im Ziel der Epilogien anmutig, im Quell der Kola flüssig, in den Zäsuren voll Liebreiz, in den Tropen, Paradigmen, Perioden und Epicheiremata zugleich gekrönt und erhaben und gaben in ihrem Gesang ein solches Bild von sich, dass man glaubt, sie lebten noch in unserer Zeit als Abkömmlinge ihrer selbst, wenn auch nicht im Fleische, so doch wenigsten im Carmen.18

Wenn man davon ausgeht, dass bei einem Dichter Talent und Technik die wichtigsten Voraussetzungen für sein Schaffen bilden, so ist auffällig, wie sehr Venantius Fortunatus hier die artifizielle Seite betont. Inspiration spielt überhaupt keine Rolle, die Naturanlage wird zwar erwähnt, aber nur insoweit, wie sie auch für einen Redner Voraussetzung ist. Dann werden unter Anführung der Fachtermini Arbeitsstadien des Redners angeführt, in die einige Redeteile, wieder unter Verwendung der entsprechenden Termini einfließen. Wäre am Schluss nicht von carmen die Rede, könnte man den Eindruck gewinnen, es gehe gar nicht um Poeten, sondern um Rhetoren. Mit dieser Betonung der rhetorischen Seite der Dichtung steht Venantius Fortunatus in der spätantiken Tradition eines Claudian oder Sidonius Apollinaris.19 Dass Venantius Fortunatus diesen Gedanken in Ausführungen über die me-

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Venantius Fortunatus, Praefatio, 1, lateinischer Text nach REYDELLET, I, 2. Zu Claudian vgl. vor allem das Standardwerk von A. CAMERON, Claudian. Poetry and Propaganda at the Court of Honorius, Oxford 1970, zu Sidonius Apollinaris J. HARRIES, Sidonius Apollinaris and the Fall of Rome, A. D. 407–485, Oxford 1994 und jetzt auch F. M. KAUFMANN, Studien zu Sidonius Apollinaris, Frankfurt am Main 1995. Interessante Aspekte zu Orpheus entwickelt C. SCHMITZ, Das Orpheus-Thema in Claudians De raptu Proserpinae, in: W. - EHLERS u.a. (Hrsg.), Aetas Claudianea, München, Leipzig 2004, 38– 56. Zu Claudians Panegyriken siehe C. SCHINDLER, Tradition-Transformation-Innovation:

3.2.1. Die Proömien

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moria nach dem Tode, die in Abhängigkeit von der Tradierung ihrer Worte gesehen wird, ausmünden lässt,20 unterstreicht die Vorbildhaftigkeit, die er diesen Autoren zubilligt. Dabei geht er noch einen Schritt weiter und stellt dieser übermächtigen rhetorischen Tradition die Wirkung mangelnder Fähigkeiten auf diesem Gebiet gegenüber: 3. Sed sicut hos quos clarae linguae iactitat lux illustres – quorum fuerat aperte damnum pati dicta celari, qui pomposae facundiae florulenta germina nisi misissent in publicum, fecerant peculatum – merito famae radii per quaqua traxerunt ut peragrantes omnia quicquid magis carmina locis innotescerent laus ageret, ita fit eis consultius si occulantur taciti qui fastidiri poterunt reuelati; nec tantum sit exprobabile nesciri quod horreat quam patesci quod urat minorisque dispendii celata uideatur inscitia quam prolata, quia illic obstat pudor ne prodatur notitia, hic audacia proditur ut ingerat notam.

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3. Aber so wie diejenigen, die das Licht der klaren Zunge berühmt macht – bei denen es offenkundig ein Verlust gewesen wäre, es zuzulassen, dass ihre Worte verborgen werden, die doch, wenn sie die blühenden Sprösslinge ihrer prachtvollen Beredsamkeit nicht in die Öffentlichkeit gebracht hätten, eine Unterschlagung begangen hätten – zu Recht die Strahlen des Ruhmes (in die Öffentlichkeit) gezogen haben, so dass das Lob sie führte, während sie auf der Reise waren, und all ihre Lieder sie allerorts noch besser bekannt machten,21 so ist es ratsamer, wenn im Schweigen diejenigen verborgen bleiben, die veröffentlicht nur Langeweile hervorbringen könnten: Und nicht bringt es so große Schande, dass nicht gekannt wird, was Schauder erweckt, als dass bekannt wird, was brennenden Schmerz verursacht, und das Unvermögen, das mit wohl geringerem Schaden verborgen geblieben als in die Öffentlichkeit gebracht worden wäre, weil dort das Schamgefühl entgegensteht, dass Bekanntheit erreicht wird, hier die Dreistigkeit bekannt gemacht wird, so dass sie eine Rüge nach sich ziehen muss.22

Claudians Panegyriken und das Epos, in: W. - W. EHLERS u. a. (Hrsg.), Aetas Claudianea, München, Leipzig 2004, 16–37. Venantius Fortunatus, Praefatio, 2: Der Tod lasse, solange die Worte der Verstorbenen erhalten bleiben (cum dicta permanent) etwas der lebendigen Erinnerung an die Toten / uiuaci memoria de mortuis übrig, vgl. dazu die Ausführungen weiter unten. Zu den textlichen Problemen vgl. REYDELLET, I, 3: „...au point que la gloire les accompagne dans leur course à travers tous les lieux où leur vers devaient se faire mieux connaître...“ und 165, Anm. 7: Die Konjektur Leos (nach Mommnsen) von quicquid in quotquot ist sinnvoll, aber nicht zwingend. Venantius Fortunatus, Carm., Praef., 3, lateinischer Text nach REYDELLET, I, 3. Auch dieser Passus zeigt eine bemerkenswerte rhetorische Durchdringung, wobei Venantius Fortunatus wiederum – wie in seinen anderen Prosatexten – seine Komposition auf zwei- bzw. dreigliedrigen Grundelementen aufbaut: Es ist nicht einfach von der Beredsamkeit die Rede, sondern von prachtvoller Beredsamkeit blühenden Sprößlingen / pomposae facundiae florulenta germina die Rede, dem ersten mit sed sicut / aber sowie eingeleiteten Teil korrespon-

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3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

Die elaborierte rhetorische Durchdringung dieses Abschnittes unterstreicht auf der Stilebene die verbindliche Vorbildhaftigkeit dieser rhetorischen Tradition. Im Vergleich zu Quintilian, von dem die Dichterlektüre einem angehenden Redner zwar empfohlen wird, aber noch einige Kautelen eingeflochten sind,23 wird von Venantius Fortunatus hier ein Bild einer Dichtung entwickelt, die ihre Qualität ganz nach rhetorischen Kategorien bemisst. Die Rhetorisierung der Dichtung, die bereits in augusteischer Zeit einsetzt und in spätantiken Dichtungen wie denen des Ausonius24 oder Claudian25 einen Höhepunkt erreicht, scheint vollendet, wobei der Dichter Venantius Fortunatus selbst manieristisch26 mit dieser Tradition in einen aemulativen Wettstreit tritt, während Dichtung geradezu als Unterabteilung der Rhetorik erscheint. Betrachtet man den Kontext des Widmungsbriefes, stehen bei Venantius Fortunatus diese allgemeinen Ausführungen in einem argumentativen Zusammenhang, nämlich einer excusatio an Gregor von Tours.27 Durch diesen Kontext wird aber zugleich Verbindung zur literarischen Tradition geschaffen, bildet die excusatio doch einen festen Topos seit den augusteischen Elegikern und Lyrikern. Venantius Fortunatus geht allerdings auf der begrifflichen Ebene einen Schritt weiter zurück: Denn bei der Gegenüberstellung des eigenen Werks mit dem vorbildhafter Autoren

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diert der zweite, der mit ita fit / so geschieht es anfängt. Gerade der Schluss des Abschnittes ist ein Musterbeispiel für dieses Kompositionsprinzip, wobei sich Venantius Fortunatus in seiner Begründung nicht nur wachsender Glieder bedient (nec tantum sit exprobabile nesciri quod horreat quam patesci quod urat minorisque dispendii celata uideatur inscitia quam prolata / Und nicht bringt es so große Schande, dass nicht gekannt wird, was Schauder erweckt, als dass bekannt wird, was man brennenden Schmerz verursacht, und das Unvermögen, das mit geringerem Aufwand verborgen als in die Öffentlichkeit gebracht worden wäre), sondern auch Gegensatzpaare wie pudor / Schamgefühl und audacia / Dreistigkeit in einer ansonsten parallelen Satzstellung dadurch hervorhebt, dass die ihnen folgenden Nebensätze gegensätzlich, nämlich erst mit ne, dann mit ut eingeleitet werden. Quintilian, Inst. orat., X, 1, 27–30. Ähnlich argumentiert er hinsichtlich der Geschichtsschreibung und der Philosophie (31–35): Sie sind nützlich für den Redner hinsichtlich Wortwahl, historische Exempla und Argumentation, aber grundsätzlich eigenständig. Allgemein zu Ausonius S. H. SIVAN, Ausonius of Bordeaux. Genesis of a Gallic Aristocracy. London 1993; speziell zu Ausonius als Dichter siehe: E. S. SALOR, Hin zu einer Poetik des Ausonius, in: M. J. LOSSAU (Hrsg.), Ausonius, Darmstadt 1991 (Wege der Forschung 652), 112–145. Vgl. dazu auch C. E. GRUZELIER, Claudian: Court Poet as Artist, Ramus 19 (1990), 89–108. Zum literarischen Manierismus vgl. R. ZYMNER u. a., Manierismus, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 5, Tübingen 2001, Sp. 872–907. Die excusatio ist zumeist verbunden mit der Erwähnung der Unzulänglichkeit des dichterischen Vermögens. Zum Motiv der eigenen Inkompetenz in der Praefatio vgl. JANSON, Latin Prose Prefaces, 124–140, wo zahlreiche Beispiele aufgeführt und nach verschiedenen Typen kategorisiert werden. Auffällig bei Venantius Fortunatus ist, dass er bis jetzt noch gar nicht auf die eigene Inkompetenz zu sprechen gekommen ist, sondern eine ungewöhnlich manieristische allgemeine Argumentation vorschaltet, die wiederum auf den Argumentationszusammenhang des Briefes genau abgestimmt ist. Er verwendet also einen rhetorischen Topos nicht als blind zu erfüllendes Schema, sondern in genauer Justierung auf seine Intention. Zugleich variiert er ihn und zeigt dabei sein eigenes rhetorisches Können. Außerdem geht er über spätantike Vorbilder zurück und rekurriert auf klassische Vorbilder.

3.2.1. Die Proömien

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spricht er von nugae / poetischen Kleinigkeiten, seit Catull28 ein terminus technicus für elaborierte poetische Kleinformen. Eine weitere Verbindung zur literarischen Tradition stellt der spielerische Rekurs auf ovidianische Exiltopik dar, der inhaltlich einen besonders gewagtem Kontrast gestaltet, indem die im Begriff der nugae implizierte elaborierte Kleinform durch die Fiktion einer Entstehung der Gedichte auf seiner Reise nach Gallien konterkariert wird: 4. Vnde, uir apostolice, praedicande papa Gregori, quia uiritim flagitas ut quaedam ex opusculis inperitiae meae tibi transferenda proferrem, nugarum mearum admiror te amore seduci quae cum prolatae fuerint nec mirari potuerunt nec amari, praesertim quod ego impos de Ravenna progrediens

Padum Atesim Brintam Pluem Liquentiam Teliamentumque tranans, per Alpem Iuliam pendulus montanis anfractibus, Drauum Norico, Oenum, Breonis, Liccam Baiuaria, Danuuium Alamannia Rhenum Germania transiens ac post Mosellam, Mosam, Axonam et Sequanam, Ligerem et Garonnam, Aquitaniae maxima fluenta transmittens, Pyrenaeis occurens Iulio mense niuosis paene aut equitando aut dormitando conscripserim, ubi inter barbaros longo tractu gradiens aut uia fessus aut crapula, brumali sub frigore, musa hortante nescio gelida magis an ebria, nouus Orpheus lyricus siluae uoces dabam, silua reddebat.

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4. Daher, apostolischer Mann, erlauchter Bischof Gregor, weil Du von mir eindringlich forderst, dass ich Dir einige von den kleinen Werken meiner Unkenntnis schicke, wundere ich mich, dass Du von der Liebe zu meinen nichtigen Spielereien verführt wirst, die veröffentlicht weder bewundert noch geliebt werden könnten, zumal da ich sie, ohne dazu imstande zu sein, als ich von Ravenna aufbrach, den Po, die Etsch, die Brenta, die Piave, die Livenza und den Tagliamento durchschwommen, durch die Julischen Alpen auf Bergpässen hängend, die Drau in Noricum, den Inn bei den Breonen, den Lech in Bavarien, die Donau in Alemannien, den Rhein in Germanien überquert habe und nach der Mosel, die Maas, die Aisne und die Seine, die Loire und die Garonne, die größten Flüsse Aquitaniens und dann im Juli in den schneereichen Pyrenäen angekommen bin, entweder beim Reiten oder im Halbschlaf verfasst habe, wo ich zwischen Barbaren über eine Wegstrecke wanderte, entweder vom Weg oder Weinrausch unter der winterlichen Kälte erschöpft, auf Aufforderung einer – ich weiß nicht, ob eher kalten oder betrunkenen Muse, – ich als neuer lyrischer Orpheus dem Wald sang, und der Wald widerhallte.29

Vgl. Catull, Carmen 1, 3f. (lat. Text nach der Ausgabe von MYNORS, Oxford 1958): namque tu solebas / meas esse aliquid putare nugas / denn du pflegtest zu glauben, / dass meine nichtigen Kleinigkeiten irgendetwas wert seien. Vgl. dazu J. P. ELDER, Catull c. 1, sein poetisches Bekenntnis und Nepos, in: R. HEINE (Hrsg.), Catull. (Wege der Forschung 308), Darmstadt 1975, 27–35. Nepos verfasste neben seine erhaltenen Biographien das verlorene Geschichtswerk Chronica in drei Büchern, war also genau wie Gregor von Tours als Biograph und Historiker tätig. Zum Begriff der Neuheit vgl. auch W. KINZIG, Die Kategorie des Neuen in alter Literatur. Anmerkungen zur literaturästhetischen Verwendung des Neuheitsbegriffs in lateinischen Antike, Arcardia 25, 2 (1990), 113–126. Venantius Fortunatus, Carm., Praef., 4, lateinischer Text nach REYDELLET, I, 4.

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3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

Auch hier geht Venantius Fortunatus über reine Topik hinaus und stellt die Motive in einen größeren literarischen Zusammenhang: 30 So nimmt die Erwähnung der eigenen Unerfahrenheit / inperitiae meae direkten Bezug auf das Unvermögen / inscitia, von der im Satz zuvor die Rede war. Auf die angeblich noch nicht genügend entwickelten Fähigkeiten des Dichters bezieht sich auch das impos / ohne dazu imstande zu sein. Indem Venantius Fortunatus mit der doppelten Bedeutung von (ad)mirari / sich wundern, bewundern spielt (nugarum mearum admiror te amore seduci quae cum prolatae fuerint nec mirari potuerunt nec amari / wundere ich mich, dass Du von der Liebe zu meinen nichtigen Spielereien verführt wirst, die veröffentlicht weder bewundert noch geliebt werden könnten) betont er, dass seine Dichtungen nicht nach den strengen, eben explizierten Kriterien der Rhetorik beurteilt werden können, beugt damit einer entsprechenden Kritik vor und spielt zugleich mit dem dieser Behauptung entgegenstehenden Begrifflichkeit der nugae. Ein direkter Bezug zu Catull liegt auch darin, dass dieser seine Gedichtsammlung dem Historiker Cornelius Nepos widmet, 31 einem Vertreter einer literarischen Großform ganz wie Gregor von Tours. So gelingt es, sich innerhalb eines affektierten Bescheidenheitstopos in eine literarische Tradition einzuordnen und sich trotzdem gegen jede mögliche Kritik von Anfang an abzusichern.32 Eine ähnliche Funktion hat das zweite Argument, das Venantius Fortunatus anführt, um zu erklären, warum seine Gedichte den strengen Kriterien der Rhetorik nicht genügen, nämlich das ovidianische Argument der Entstehung in der Fremde:33 Sie dürfen also schon von ihrer Entstehung her keine Sorgfältigkeit beanspruchen, was im Hinblick auf Gelegenheitsdichtung zudem ganz in Tradition des Statius steht,34 so dass auch in 30 31 32 33

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Zur Verteidigung für stilistische Unzulänglichkeiten in den Praefationes vgl. JANSON, Latin Prose Prefaces, 130–133. Vgl. Catull, Carm., 1, 3f. Vgl. dazu auch JANSON, Latin Prose prefaces, 130ff., wo andere Möglichkeiten der Absicherung gegen Kritik mit Beispielen aufgeführt werden. Venantius übertrifft hier den Kerngedanken ovidianischer Exildichtung dadurch, dass seine Gedichte nicht nur inter barbaros / unter Barbaren entstanden, sondern zudem noch beim Reiten sowie in Erschöpfung und Weinrausch komponiert sind. Zu Ovid siehe z. B. Trist., III, 1, insbesondere V. 17f. (lateinischer Text nach WHEELER, London, Cambridge, Mass., 1988): siqua videbuntur casu non dicta Latine, / in qua scribebat, barbara terra fuit / wenn zufällig etwas nicht auf Latein ausgedrückt scheinen wird, / das Land, wo es geschrieben wurde, war Barbarenland. Diese Stelle enthält eine literarische Selbstpräsentation in vielschichtiger Form: Dass sich Venantius Fortunatus als novus Orpheus in der Tradition des poeta viator präsentiert, zeigt M. VIELBERG, Venantius Fortunatus: Extensa viatica? Zur poetischen Selbstreflexion des Hagiographen, REAug 51 (2005), 153–186, siehe insbesondere 166–170. Zur Orpheus Thematik vgl. auch SCHMITZ, Das Orpheus Thema in Claudians De raptu Proserpinae, insbesondere 39–45. Siehe Statius, Silvae, I, Praef. (lateinischer Text nach MARASTONI, Leipzig 1970, 1): Diu multumque dubitavi, Stella iuvenis optime et in studiis nostris eminentissime, qua parte evolvisti, an hos libellos, qui mihi subito calore et quadam festinandi voluptate fluxuerunt, cum singuli de sinu meo pro [....] congregatos ipse dimitterem / Lange habe ich gezögert, bester und in unseren Studien höchst hervorragender Stella, worum du in Deinem Brief gebeten hast, Dir die Büchlein, die von mir in plötzlicher Hitze und in der Lust, sie eilig niederzuschreiben (aus der Feder) geflossen sind, während die Gedichte einzeln aus meiner

3.2.1. Die Proömien

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dieser Argumentation eine Selbsteinordnung des Venantius Fortunatus in die Tradition literarischer Klein- und experimenteller Formen erfolgt.35 In diesem Zusammenhang erscheint der traditionelle Musenbegriff konsequent ironisiert: Die musa ist entweder gelida / frostig oder ebria / betrunken. Nicht ist sie als Inspiration gedeutet, die Taten der Vorfahren oder die Götter zu besingen, wie sie einem Dichter auf dem Helikon zuteil wird,36 sondern Kälte- oder Weinphantasien sind es, die den Dichter zu dem veranlassen, was er von sich gibt. Als selbstironische Wendung wird den Kritikern auf diese Weise symbolisiert, dass die Gedichte des Venantius Fortunatus nicht nur hinsichtlich ihrer formalen Gestaltung, sondern auch hinsichtlich ihres Stoffes keinen hoch stehenden Ansprüchen genügen, was durch die elaborierte Ausgestaltung des folgenden Paragraphen genauso ironisch konterkariert wird: 5. Quid inter haec extensa uiatica consulte dici potuerit? Censor ipse mensura, ubi me non urgebat uel metus ex iudice uel probabat usus ex lege nec inuitabat fauor ex comite emendabat lector ex arte, ubi mihi tantundem ualebat raucum gemere quod cantare apud quos nihil disparat aut stridor anseris aut canor oloris,

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5. Was hätte von mir auf dieser langen Reise überlegt gesagt werden können? Mein Zensor war die Strecke, wo mich doch weder Furcht vor einem Kritiker bedrängte oder die Praxis mich nach dem Gesetz prüfte noch der Beifall eines Begleiters mich einlud noch mich ein Leser nach Kunstverstand verbesserte, wo es mir ebenso möglich war, heiser zu krächzen als zu singen, bei denen, die keinen Unterschied kennen zwischen dem Geschrei einer Gans und dem Gesang eines Schwans

Brust [hervorströmten], als Sammlung zu schicken. Ähnlich argumentiert auch Ausonius im Begleitbrief zum Cento nuptialis und führt die schnelle Entstehung (innerhalb von anderthalb Tagen) als excusatio für die möglicherweise mangelnde dichterische Qualität an. Siehe Ausonius, Cento nuptialis, Epistula ad Paulum, 133, Z. 17ff. in der Ausgabe von GREEN, Oxford 1991. Dazu, dass er sich in eine Dichtungstradition stellt, passt an dieser Stelle auch die Anspielung auf Vergil, Eklogen, 1, 4f. (lat. Text nach MYNORS, Oxford 1969), ...tu, Tityre lentus in umbra / formosam resonare doce Amaryllida siluas / Du, Tityrus, lehrst ruhig im Schatten / die Wälder von der schönen Amaryllis widerzuklingen. Wie in der ältesten Stelle, in der von den Musen und ihrer Wirkung auf den Dichter gesprochen wird, Hesiod, Theogonie, 1–115, siehe insbesondere V. 95–105, wo von der glukerh/ au)dh/ / dem süßen Gesang, den die Musen dem Dichter verleihen, die Rede ist (V. 97) und der Stoff der Dichtung in den klei=a prote/rwn a)nqrw/pwn/ den berühmten Taten der Vorfahren besteht und darin, die ma/karaj qeou/j / die glückseligen Götter zu besingen (V. 100f.).

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3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

sola saepe bombicans barbaros leudos arpa relidens ut inter illos egomet non musicus poeta sed muricus deroso flore carminis poema non canerem sed garrirem, quo residentes auditores inter acernea pocula salute bibentes insana Baccho iudice debaccharent.

und oftmals eine Harfe nur barbarische Lieder begleitete, so dass ich unter jenen nicht als musischer Dichter, sondern als (unmusikalische) Maus nach dem Abnagen der Blüte des Liedes mein Poem nicht sang, sondern dahin plapperte, wo meine Zuhörer zwischen Bechern aus Ahornholz saßen und auf die Gesundheit tranken, während sie sogar nach dem Urteil des Bacchus gänzlich von Sinnen waren.37

Hier hebt Venantius Fortunatus unter Einsatz einer möglichst rhetorischen Diktion auf die Unmöglichkeit ab, der horazischen Forderung nachzukommen, vor Herausgabe der Dichtung am Werk vielfach und lange zu feilen und Korrekturen anzubringen,38 indem er auf den Mangel an einem kompetenten Publikum verweist und dies dadurch noch betont, dass er den Gedanken inter barbaros / unter Barbaren in einem Oxymoron von seiner Zuhörerschaft ausmalt, welche so auf die Gesundheit anstößt, dass es schon wieder höchst ungesund ist.39 Es entsteht eine ironische Distanz, die bis zum den Schluss des Paragraphen aufrechterhalten wird: Quid ibi fabre dictum sit, ubi quis sanus uix creditur, nisi secum pariter insanitur, quo gratulari magis est si uiuere licet post bibere, de quo conuiuam tyrsicum non fatidicum licet exire sed fatuum? cum, quantum ad mei sensus intellegentiam pertinet, quia se pigra non explicat brutae animae ipsa ieiuna sunt ebria.

Was soll dort kunstgerecht formuliert worden sein, wo kaum einer für gesund gehalten wird, wenn er nicht zugleich von Sinnen ist, wo man sich mehr gratulieren muss, wenn man nach dem Trinken noch lebt, von wo der Gast mit dem Tyrsosstab nicht als Orakel sprechender Dichter, sondern als Narr weggeht? Wenn, soweit es meine eigene Wahrnehmung betrifft, da sie sich träge nicht auszudrücken versteht, die Nüchternheit einer stumpfen Seele selbst ein Zustand der Trunkenheit ist.40

So gipfelt das literarische Spiel mit dem Gegensatz zwischen (literarischer) Kultur einerseits, die gerade am Anfang des gesamten Abschnittes in dem Tetrakolon ubi 37 38

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Venantius Fortunatus, Carm., Praef., 5, I (lateinischer Text nach REYDELLET, I, 4f.). Siehe Horaz, Ars poetica, 291–294 (lateinischer Text nach der Ausgabe von KLINGNER, Leipzig 1959): ...vos o / Pompilius sanguis, carmen reprehendite, quod non / multa dies et multa litura coercuit atque / praesectum deciens non castigavit ad unguem. / oh ihr / pompilisches Blut, weist ein Carmen zurück, das nicht / eine lang und häufige Korrektur in Schranken gehalten und / nicht zehnmal mit dem Nagel geprüft hat. Zu anderen Beispielen in Prosapraefationes vgl. JANSON, Latin Prose prefaces, 141–144. Die Rhetorisierung dieses Gedankens zeigt sich besonders im antithetischen Gebrauch von Gegensatzpaaren (stridor anseris / Kreischen einer Gans und canor oloris / Gesang eines Schwans oder non musicus poeta / kein musischer Dichter, sed muricus, sondern eine unmusikalische Maus), ein Wortspiel mit musicus / musisch und muricus / Maus, was die Selbstironie noch verstärkt, vgl. auch REYDELLET, I, 5, Anm. 13. Venantius Fortunatus, Carm., Praef., 5 II (lateinischer Text nach REYDELLET I, 5).

3.2.1. Die Proömien

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me non urgebat uel metus ex iudice uel probabat usus ex lege nec inuitabat fauor ex comite emendabat lector ex arte / wo mich doch weder Furcht vor einem Kritiker bedrängte oder die Praxis mich nach dem Gesetz prüfte noch der Beifall eines Begleiters mich einlud noch mich ein Leser nach Kunstverstand verbesserte eindrucksvoll expliziert wurde, und Barbarentum andererseits,41 im Bild der Barbaren, die selbst dann betrunken sind, wenn sie nichts getrunken haben. Auch hier geht Venantius Fortunatus in der Entfaltung seines Bildes über traditionelle Topoi weit hinaus:42 Dass hier im Zusammenhang mit dem argumentativen Ziel der excusatio und der Vorbeugung gegen Kritik geäußert und dazu mit der Fiktion verbunden wird, dass außerdem alle Gedichte gleichsam unterwegs auf der Reise des Venantius Fortunatus ins Frankenreich entstanden seien,43 bleibt dem Ideal einer ausgefeilten und elaborierten Dichtung verpflichtet und damit einer bestimmten literarischen Tradition, in die sich Venantius Fortunatus in selbstironisch spielerischer Weise einordnet und sich damit zugleich davon distanziert. Die Wertigkeit literarischer Beschäftigung Dieses selbstironische literarische Spiel verstellt in gewissem Maße den Blick auf andere poetologische Fragestellungen, die nichts desto trotz in der Gesamtpraefatio angerissen werden. Ein Unterthema bildet die Wertigkeit der literarischen Beschäftigung, die bereits in der paganen Literatur traditionell mit dem Unsterblichkeitsgedanken verknüpft ist, wie es besonders prägnant von Ovid in der Sphragis am Ende der Metamorphosen formuliert wird: Iamque opus exegi, quod nec Iovis ira nec Und nunmehr habe ich ein Werk vollendet, ignes dass weder Jupiters Zorn noch Feuer nec poterit ferrum nec edax abolere vetustas. noch Eisen noch das gefräßige Alter zu zerstören vermögen.

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Für einen Überblick über dieses Thema in der Spätantike, siehe J. VOGT, Kulturwelt und Barbaren. Zum Menschenbild der spätantiken Gesellschaft (Akademie der Wissenschaften und der Literatur [Mainz] / Geistes- und Sozialwissenschaftliche Klasse: Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse Bd. 1), Wiesbaden 1967. Vgl. auch Y. A. DAUGE, Le Barbare. Recherches sur la conception romaine de la barbarie et de la civilisation, Paris 1981 und A. DIHLE, Die Griechen und die Fremden, München 1994. Zum Terminus siehe S. RUGULLIS, Die Barbaren in den spätrömischen Gesetzen. Eine Untersuchung des Terminus barbarus, Frankfurt a. M. / Bern / New York / Paris 1992. Zu den griechischen Wurzeln vgl. auch W. NIPPEL, Griechen, Barbaren und „Wilde“. Alte Geschichte und Sozialanthropologie, Frankfurt a. M. 1990. Zu diesen Topoi (mit Beispielen) vgl. JANSON, Latin Prose Prefaces, 141–143. Auch dies geschieht im Hinblick auf die Argumentation. Nur ein Teil der Gedichte der ersten sieben Bücher dürfte unterwegs entstanden sein; so sind die Kreuzgedichte im zweiten Buch (II, 1–6) im Zusammenhang mit der Translation der Kreuzesreliquie in das Radegundiskloster in Poitiers zu sehen und wohl auch vor Ort entstanden. Andererseits enthält das erste Buch auch Gedichte (z. B. I, 1), die noch vor dem Aufbruch des Venantius Fortunatus ins Frankenreich verfasst wurden.

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3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

cum volet illa dies, quae nil nisi corporis huius ius habet, incerti spatium mihi finiat aevi: parte tamen meliore mei super alta perennis Astra ferar, nomenque erit indelebile nostrum, quaque patet domitis Romana potentia terris, ore legar populi, perque omnia saecula fama, siquid habent veri vatum praesagia, vivam.

Wenn jener Tag will, der kein Recht hat außer dem an diesem Körper, soll er mir die Spanne des unbestimmten Lebensalters beenden: Dennoch werde ich mit meinem besseren Teil für immer über die hohen Sterne getragen werden, und unser Name wird unzerstörbar sein, wo auch immer in den unterworfenen Ländern die Macht Roms sich erstreckt, werde ich vom Mund des Volkes gelesen werden, und für alle Zeiten durch meinen Ruhm leben, wenn die Voraussagen der Dichter etwas Wahres enthalten.44

Bei Venantius Fortunatus erscheint er gleich im ersten Abschnitt als Abschluss und Konsequenz des Katalogs rühmenswerter rhetorischer Fähigkeiten, 45 allerdings deutlich anders akzentuiert: Nicht in seiner Rolle als vates, als von den Göttern begnadeter Dichter, wird hier die Unsterblichkeit erlangt, sondern aufgrund rhetorisch technischer Fertigkeiten, die den Dichter gleichsam zum eigenen Nachkommen machen und ihn durch seine stilistische Vorbildfunktion, obwohl schon verstorben, präsent sein lassen. 46 Im zweiten Abschnitt der Einleitung der Gesamtpraefatio wird dieser zunächst nur angerissene Gedanke sogar ins Zentrum gestellt: 2. Quos licet sors fine tulerit, tamen cum dicta permanent uiuaci memoriae de mortuis aliquid mors reliquit nec totum usquequaque sepeliuit in tumulo cui restat liberum ut uel lingua uiuat in mundo.

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2. Mag diese auch das Todeslos am Ende dahingerafft haben, hat dennoch der Tod, wenn die Worte bleiben, etwas der lebendigen Erinnerung an die Toten zurückgelassen und nicht gänzlich denjenigen im Grab bestattet, wem etwas (vom Tode) Freies zurückbleibt, dass nämlich wenigstens seine Zunge in der Welt lebendig bleibt.

Ovid, Metamorphosen, XV, 871–879, lateinischer Text nach der Ausgabe von ANDERSON, Stuttgart 1993. Venantius Fortunatus, Carm., Praef., 1. Siehe ebendort: ut adhuc nostro tempore quasi sibi postumi uiuere credantur etsi non carne uel carmine / dass man glaubt, sie lebten noch in unserer Zeit als Abkömmlinge ihrer selbst, wenn auch im Fleische, so doch wenigsten im Carmen.

3.2.1. Die Proömien

Hoc nesciens auara mors auferre cum funere quod per ora uiuentium defunctos uidet currere si non pede, poemate. In hoc tamen melius superata mors inuida si se sermone senserit et mercede bis uictam.

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Denn der gierige Tod versteht es nicht, dies zusammen mit der Bestattung zu verhindern, dass er sieht, dass die Verstorbenen im Munde der Lebenden einhergehen, wenn nicht zu Fuß, so doch wenigstens mit ihrer Dichtung. Darin ist der neidische Tod besser überwunden, wenn er sieht, wie er doppelt durch Rede und Ruhm besiegt ist.47

Der unsterbliche Teil des Toten besteht in seinen Worten, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass sie von den Lebenden noch im Munde geführt werden, nur damit bleibt ein Teil des Verstorbenen lebendig und kann den Tod bezwingen. Dieser Gedanke der Unsterblichkeit durch die memoria48 steht sowohl bei Ovid, der auf Aussagen von Prätexten rekurriert,49 als auch bei Venantius Fortunatus in antiker Tradition.50 Wie bei Ovid und Horaz ist es bei Venantius nur ein Teil, der den physischen Tod überlebt, allerdings enthält er sich einer Wertung dieses Teils, der bei Ovid noch als der bessere und bei Horaz als ein großer charakterisiert wird. Mit dem paradoxen Bild des Wiedergängers, den der Tod zwar nicht mit dem (eigenen) Fuß / non pede, sondern durch sein Gedicht / poemate einhergehen / currere sieht, geht er in gewisser Weise über seine Vorgängertexte hinaus; dennoch bleibt der zeitliche Rahmen bis zu Gegenwart (nostro tempore) beschränkt, über die Zukunft wird keine Aussage gemacht, so dass von einer wirklichen Unsterblichkeit eigentlich nicht gesprochen werden kann.51 Diese Nuancierung ist ebenso 47 48

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Venantius Fortunatus, Carm., Praef., 2, lateinischer Text nach REYDELLET, I, 3. Zur memoria in der Antike vgl. L. BRACCESI, Poesia e memoria. Nuove proiezioni dell’antico, Rom 1995, außerdem O. G. OEXLE, Memoria als Kultur, in: DERS. (Hrsg.), Memoria als Kultur. Göttingen: 1995 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte. 121), 9–78; ferner J. H. SMITH, The death of classical paganism, New York 1976; J. M. CLAASEN, Exile, death and immortality, Voices from the grave, Latomus 55 (1936), 571–590; TH. KLAUSER, Jenseitsvorstellungen in Antike und Christentum, Münster 1988; TH. PELLÁRY, Mors perpetua est. Zum Jenseitsgluaben in Rom, in: H. - J. DREYHAGE, H. - J. & J. SUNSKEB THOYBEN (Hrsg.), Tod, Bestattung und Jenseits in der griechisch römischen Antike, St. Katharinen, 1994, 87–103; speziell zum frühen Mittelalter: DERS., Memoria und Memorialüberlieferung im frühen Mittelalter, Frühmittelalterliche Studien 10 (1976), 70– 95. Siehe allgemein zu Kultur und Memoria: J. ASSMANN, & T. HÖLSCHER, Kultur und Gedächtnis, Frankfurt 1988. Vgl. Horaz, Oden, III, 30, 1: Exegi monumentum aere perennius... / ich habe ein Monument geschaffen, dass dauerhafter ist als Erz... Bei Horaz wird die Erinnerung mit dem Erinnerungsmal / monumentum gleich im ersten Vers thematisiert, der Gedanke, dass ein Teil von ihm überlebt, V. 6f.: non omnis moriar multaque pars mei / vitabit Libitinam... / nicht werde ich ganz sterben, und einen großen Teil von mir wird die Todesgöttin meiden... Zum Gedanken der Unsterblichkeit in der Antike vgl. auch E. MERWALD, Der Unsterblichkeitsgedanke bei Horaz und Ovid, Frankfurt a. O. 1998; U. WENZEL, Properz, Hauptmotive seiner Dichtung: Lebenswahl, Tod, Ruhm und Unsterblichkeit, Kaiser und Rom, Diss. Phil, Freiburg i. B. 1968. Eine Wendung des Gedankens ins Christliche erfolgt bei Venantius Fortunatus an dieser Stelle nicht. Anders bei Prudentius, der in seiner Praefatio einen ähnlichen Gedanken äu-

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3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

auffällig wie der Umstand, dass die dichterischen Qualitäten allein in Begriffen der Rhetorik bemessen werden. Außerdem wird der Gedanke durch den einer negativen Unsterblichkeit erweitert: Wie die Beherrschung rhetorischer Formalia einen gewissen Grad an Unsterblichkeit mit sich bringen kann, bringt es nur Schimpf und Schande, seine eigenen mangelhaften Fähigkeiten in die Öffentlichkeit zu tragen.52 Und indem man sich so der Lächerlichkeit preisgibt, erlangt man diese andere Art der Unsterblichkeit, gleichsam eine negative Unsterblichkeit. Durch die Bindung an die memoria und zwar die memoria dictorum / das Gedächtnis an die Worte bleiben beide Arten der Unsterblichkeit zeitlich beschränkt und erscheinen im Vergleich zu den Äußerungen von Ovid oder Horaz deutlich relativiert. Insofern sie an die memoria gebunden ist, steht sie auch in enger Beziehung zum Adressaten bzw. dem Rezipienten der Dichtung. Eingebettet sind diese Äußerungen in den Kontext eines Widmungsbriefes, so dass sie auch unter dem Aspekt des spezifischen Verhältnisses zwischen Verfasser und Adressat betrachtet werden müssen. Adressatenbezug Adressat des Widmungsbriefes und Gedichtsammlung ist Gregor von Tours, der den Dichter zur Herausgabe seiner Gedichte aufgefordert hat. 53 Obwohl Gregor selbst nach der Anrede zu Beginn des Hauptteils und des Schlusses erwähnt wird,54 nimmt er eine besondere Rolle ein, die über die eines reinen Widmungsträgers hinausgeht. Das wird schon durch die Fiktion der Entstehung aller Gedichte auf der Reise unter Barbaren deutlich:55 Indem Venantius Fortunatus Gregor von Tours gegenüber von den Meisterleistungen früherer Autoren spricht, die durch ihre rhe-

52

53 54 55

ßert, vgl. Prudentius, Carm., Praef., 28–30 (lateinischer Text nach der Ausgabe von CUNNINGHAM, Turnhout 1966): Numquid talia proderunt / carnis post obitum uel bona uel mala, / cum iam quidquid id est quod fueram mors aboleuerit / Dort wird etwa Derartiges wohl nützen, nach dem Tod des Fleisches, sei es gut oder schlecht, wenn der Tod, das, was auch immer es ist, was ich war, vernichtet hat? Als spezifisch christlicher Ausweg aus diesem Dilemma erscheint bei Prudentius das Dichten von Hymnen zum Lobe Gottes oder der Märtyrer, was im Gedanken der Befreiung von den Fesseln des Körpers gipfelt: (Vers 42– 45): Haec dum scribo uel eloquor / uinclis o utinam corporis emicem / liber quo tulerit lingua sono mobilis ultimo! / Während ich dies schreibe oder sage / möge ich mich aus den Fesseln des Körpers aufschwingen und frei und beweglich mit dem letzten Klang sein, wohin die Zunge ihn wohl tragen wird. Venantius Fortunatus, Carm., Praef., 3. Zu den Topoi bei der Widmung vgl. JANSON, Latin Prose Prefaces, 116–124, wo einerseits Beispiele für eine Widmung an den Kaiser, andererseits Widmungen im christlichen Bereich exemplifiziert werden. Aufgrund des freundschaftlichen Verhältnisses zu Gregor von Tours und der Tatsache, dass die Vita sancti Martini tatsächlich in Gregors Auftrag entstanden ist (die Bücher De virtutibus sancti Martini verfasst Gregor selbst), ist davon auszugehen, dass auch die Gesamtedition der Gedichte, die zuvor nur einzeln zu einem bestimmten Anlass an bestimmte Adressaten geschickt worden waren, tatsächlich auf die Anregung Gregors von Tours zurückgeht. Venantius Fortunatus, Carm., Praef., 4. Praef., 4 & 6. Siehe Paragraph 4.

3.2.1. Die Proömien

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torisch ausgefeilten Werke eine bestimmte Art der Unsterblichkeit erlangt haben,56 zugleich aber die Wichtigkeit eines kunstverständigen Publikums hervorhebt, das er seinem Barbarenpublikum57 entgegenstellt, dessen einzige Kultur in seiner Trinkkultur besteht, setzt er Gregor davon ab und weist ihn als gebildeten Rezipienten auf, als einen, der in der Lage ist, die notwendige Kritik zu äußern, und dem er deshalb seine Gedichte anvertrauen kann. Dieses Zensoramt wird besonders am Schluss des Briefes herausgestrichen: 6. Hinc est quod latens opusculum, etsi minus uidetur esse famosum, plus liberum, quia de exanimatione non habet quod tam trepidet priuatum quam publicum. Vnde necessarie angusti sensus ingenium se mensuret censore quod est mittendum sub iudice.

6. Darin liegt der Grund, dass dieses kleine Werk verborgen geblieben ist, wenn es auch weniger berühmt als frei zu sein scheint, da es weder privat noch öffentlich irgendetwas an prüfender Kritik zu fürchten hatte. Daher musste sich das Talent eines beschränkten Geistes mit sich selbst als Zensor begnügen, was doch dem Urteil eines Richters hätte unterworfen werden müssen.58

Mit der Klimax vom Begriff des Zensors zu dem des iudex / Richter wird die Wichtigkeit eines gebildeten Rezipientenkreises noch weiter exponiert: Während die Formulierung angustus sensus / beschränkter Geist in topischer Bescheidenheit auf die zuvor geschilderten äußeren Gegebenheiten anspielt, darf der Begriff liber / frei keineswegs im Sinne eines Freiseins von Publikum verstanden werden, sondern als Freisein von einem kritischen Publikum. Tatsächlich sind die Gedichte der Sammlung sowohl an Einzelpersonen wie auch an ein größeres Publikum jeweils zu einer ganz bestimmten Gelegenheit gerichtet. Und je nach Adressat bzw. Adressatenkreis befanden sich in diesem Publikum gebildete Leute aus dem gallischen Adel oder Klerus, die ähnlich wie Gregor von Tours in der Lage waren, literarische Qualität zu würdigen, worauf auch die Aufnahme einiger elaborierter Carmina figurata in die Sammlung weist.59 Diese implizite Spezifizierung des Publikums stellt auch einen Unterschied zu den selbstbewussten Äußerungen eines Ovids in der Sphragis seiner Metamorphosen dar, wenn dieser davon ausgeht, dass sein Werk für alle Zeiten im gesamten lateinischsprachigen Raum gelesen wird:60 Das Publikum des Venantius Fortunatus 56 57 58 59 60

Paragraph 1–3. Von der Gewohnheit der Franken, sich bis zur Besinnungslosigkeit zu betrinken, berichtet allerdings auch Gregor von Tours, Hist. Franc., z. B. IX, 27; X, 22; X, 27. Venantius Fortunatus, Carm., Praef. 6 I (lateinischer Text nach REYDELLET, I, 5). Z. B. Venantius Fortunatus, Carm., II, 4. Ovid, Metamorphosen, XV, 877–879 (lateinischer Text nach ANDERSON, Stuttgart 1993): quaque patet domitis Romana potentia terris, / ore legar populi, perque omnia saecula fama / siquid habent veri vatum praesagia, vivam / wo auch immer in den unterworfenen Ländern die Macht Roms sich erstreckt, / werde ich vom Mund des Volkes gelesen werden, und für alle Zeiten / durch meinen Ruhm leben, wenn die Voraussagen der Dichter etwas Wahres enthalten.

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3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

soll handverlesen sein, was gut zu dem durch den Begriff der nugae61 angedeuteten neoterischen Ideal passt. Auch wenn am Schluss des Briefes62 die Topik der recusatio63 auf die Spitze getrieben wird, indem nicht – wie in augusteischer Zeit – behauptet wird, die individuellen Fähigkeiten reichten für eine bestimmte Dichtungsform (das Epos) nicht aus, sondern der Mangel an Fähigkeiten auf jegliche Art von Dichtung bezogen wird und zuvor noch zur Begründung eine übermächtige literarische Vergangenheit ins Feld geführt war, bleibt die Dichtung doch einem bestimmten Publikum verpflichtet, einem Publikum, das seinerseits über ein bestimmten Grad der Bildung verfügt und Qualitätsunterschiede zwischen dem Kreischen einer Gans und dem Gesang eines Schwans 64 durchaus wahrzunehmen und zu würdigen weiß. Und als Exponent dieses Publikums erscheint Gregor in dieser Praefatio. Spezifisch christliche Elemente Der Rang des Adressaten Gregor, des Bischofs von Tours, sowie der des Venantius Fortunatus als für das Kloster der Radegunde zuständige Presbyter,65 legt die Frage nach der christianitas, spezifisch christlichen Elementen nahe, wie sie auch in seinen Prosaschriften begegnen. Am deutlichsten greifbar sind sie am Schluss des Briefes: Sed quoniam humilem inpulsum alacriter, acrius renitentem, sub testificatione diuini mysterii et splendore uirtutum beatissimi Martini coniurans hortaris sedulo ut contra pudorem meum deducar in publicum me meis friuulis arbitre scabrosi operis ignorantiam confitente,

61 62 63

64 65

Aber da Du mich Demütigen, der ich, obwohl ich lustvoll (von der Idee) angetan war, mich um so heftiger sträubte, unter Anrufung des göttlichen Mysteriums und Beschwörung des Glanzes der Wunder, die der heilige Martin vollbracht hat, eifrig mahnst, dass ich entgegen meinem Schamgefühl in die Öffentlichkeit gezerrt werde und dabei selbst als Kritiker für mein ungeschliffenes Werk mein mangelndes Können bekenne;

Paragraph 4. Paragraph 6 Ende, lateinischer Text nach REYDELLET, I, 5f. Zur recusatio in klassischer Literatur vgl. W. WIMMEL, Recusatio-Form und Pindarode, Philologus 109 (1965), 83–103; P. L. SMITH, Poetic Tensions in the Horatian Recusatio, AJPH 89 (1968), 56–65; außerdem J. P. HALLETT, Book IV: Propertius’ Recusatio to Augustus an Augustan Ideals, HSPh 76 (1972), 285–289; zu den Ursprüngen siehe P. BING, Callimachus‘ Cows: A Riddling Recusatio, ZPE 54 (1984), 1–8; ausführlicher mit besonderem Gewicht auf Horaz F. DE MARTINO, Orazio e i prototipi greci della recusatio, in: DERS. (Hrsg.): Kleos. Estemporaneo di studi e testi sulla fortuna dell’ antico, Bari 1994, 129–162; nur zu den griechischen Ursprüngen G. SERRAO, All’ origine della recusatio – excusatio: Teocrito e Callimaco, Eikasmos 6 (1995), 141–152. Vgl. auch allgemein W. WIMMEL, Kallimachos in Rom. Die Nachfolge seines apologetischen Dichtens in der Augusteerzeit, Wiesbaden 1960. Paragraph 5. Vgl. die entsprechenden Ausführungen in Kapitel 2. 2. dieser Arbeit.

3.2.1. Die Proömien

quod aliis poscentibus patefacere distuli, oboediendo cedo uirtuti. Hanc saltim obtemperanti uicissitudinem repensurus ut quia haec fauore magis delectantur quam iudice, aut tibi tantummodo innotescentia relegas aut intimorum auribus tecum amicaliter quaeso conlatura committas.

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und das, was ich, obwohl andere es verlangten, zu veröffentlichen hinausgezögert habe, (bringe ich nun heraus) und weiche im Gehorsam Deiner Tugend. Dafür erwarte ich als Gegenleistung, dass Du bitte das, weil es Dich mehr durch Neigung als durch kritisches Urteil erfreut, entweder nur selbst liest oder nur den Ohren derjenigen, die mit Dir eng in Freundschaft verkehren, anvertraust.66

Hier steht die Bescheidenheitstopik67 in einem spezifisch christlichen Kontext, was durch die Verwendung christlich geprägter Begriffe wie humilis / demütig und oboedire bzw. optemperare / gehorchen signalisiert wird. 68 Damit erscheint die Herausgabe der Gedichte als ein Werk christlichen Gehorsams, der ansonsten von Venantius Fortunatus für Werke spezifisch christlichen Inhalts, wie Heiligenviten oder sein Martinsepos, ins Feld geführt wird.69 Zugleich wird sowohl dem unterschiedlichem Rang von Venantius Fortunatus (Presbyter) und Gregor von Tours (Bischof), als auch den Erfordernissen christlicher Demut 70 Rechnung getragen, was durch die Anrufung des göttlichen Mysteriums und des heiligen Martin (sub testificatione diuini mysterii et splendore uirtutum beatissimi Martini) unterstrichen wird. Ansonsten stehen in der Praefatio die literaturtheoretischen Überlegungen eindeutig im Vordergrund, die von Venantius Fortunatus in Form einer argumentatio gestaltet werden, deren vordergründiges Thema das Zögern des Dichters hinsichtlich einer Veröffentlichung seiner Werke ist.71 66

67

68

69 70

71

Venanitus Fortunatus, Carm., Praef. 6, II (lateinischer Text nach REYDELLET, I, 5f.). Die Konjektur me…arbitre… confidentem im vorletzten Absatz stammt von Blomgren und verstärkt die Bedeutung des eigenen Urteils des Venantius Fortunatus, während die Konjektur Leos aptiorem sich auf ignorantia bezöge, eine Unkenntnis, die für ungeschliffene Werke (friuulis) geeigneter ist. Damit würde Venantius Fortunatus im Gegensatz zu vorherigen Äußerungen sein eigenes Werk eben nicht als kunstlos hinstellen, was zu dem gesamten Gedankengang m. E. nicht so gut passen würde wie Blomgrens Konjektur. Zur Fiktion, dass der Adressat der Widmung den einzigen Leser darstellt vgl. JANSON, Latin Prose Prefaces, 148f., wo darauf hingewiesen wird, dass seit dieser Topos seit Hieronymus Einzug in die christliche Literatur gehalten hat. Allerdings fällt in den dort genannten Beispielen der Begriff des oboedire / gehorchen nicht. Den Begriff des Gehorsams spielt auch am Ende des Proöm der Vita Sancti Albini, der wohl frühsten Heiligenvita des Venantius Fortunatus eine ähnliche Rolle, vgl. dazu die entsprechenden Ausführungen in Kapitel 3. 1. 2. dieser Arbeit. Vgl. Venantius Fortunatus, Vita sancti Martini, Praef., 2. Grundlegend dazu nach wie vor: O. SCHAFFNER, Die Humilitas als Grundhaltung und Auswirkung christlicher Anthropologie nach der Lehre des heiligen Augustinus in Unterscheidung und Beziehung zur Philosophie der Antike. Tübingen, Diss. Phil. 1952. Während die Gestaltung einer Praefatio nach dem Muster einer argumentatio innerhalb einer Rede nicht ungewöhnlich ist, handelt es sich dennoch um ein Gestaltungsprinzip, das von Venantius Fortunatus auch in anderen literarischen Gattungen Verwendung findet: Musterbeispiel ist die Vita sanctae Radegundis, die als dreifacher Argumentationsgang gestaltet ist; vgl. die entsprechenden Ausführungen in Kapitel 3. 1. 2. dieser Arbeit.

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3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

c) Zusammenfassung Die literaturtheoretischen Äußerungen des Venantius Fortunatus erscheinen in eine argumentatio eingewoben, nach der die gesamte Praefatio konzipiert ist. Der Argumentationsgang soll die Frage beantworten, warum Venantius Fortunatus seine Gedichte erst jetzt und auf Drängen des Gregor von Tours in einer Sammlung zusammengestellt hat und zugleich einer möglichen Kritik von vorne herein die Grundlage entziehen. Innerhalb dieses Rahmens gibt es Anspielungen auf ein kleines, handverlesenes Publikum, was in der Regel ein Indiz für eine literarische Avantgarde72 darstellt, in die auch Gregor durch die implizite Hervorhebung seines literarischen Kunstsinns eingeordnet wird. So scheint es durchaus denkbar, dass Venantius Fortunatus gerade in einem solchen Kreis rezipiert zu werden wünscht, auch wenn dies hier inmitten von recusatio und christlicher Bescheidenheitstopik nicht explizit formuliert, sondern allenfalls angedeutet werden kann. Schließlich eröffnet er Gregor die Möglichkeit, seine Werke weiter zu geben,73 und der Kreis derjenigen, die mit dem Bischof eng in Freundschaft verbunden sind, dürfte auch über eine gewisse literarische Bildung verfügen, so dass Gregor ihnen die Werke des Venantius Fortunatus überhaupt zur Lektüre übergeben kann. Gerade diese Aufforderung wird betont ans Ende der Praefatio gestellt. Indem Venantius Fortunatus sich auf Andeutungen beschränkt, während er vordergründig eine gegenteilige Aussage macht, entzieht er zugleich sowohl sich selbst als auch sein Werk jeglicher Kritik. Verklausuliert erscheinen allerdings Elemente programmatischer Art. Neben der auffälligen Unterordnung des Poetischen unter das Rhetorische flicht Venantius Fortunatus – in gekonnt selbstironischer Verkehrung – Kernbegriffe für eine avantgardistische Literatur ein; das gilt für das kleine, handverlesene Publikum ebenso wie für den Begriff des novus Orpheus. Die Orpheus-Thematik spielt auch im Einleitungsgedicht des siebten Buches eine wichtige Rolle, so dass es sich empfiehlt, vor Betrachtung des Binnenproöm zu Beginn des achten Buches die entsprechenden Passagen zum Vergleich heranzuziehen. 3.2.1.2. Die Orpheus-Thematik in Carmen, VII, 1 a) Gliederung von Carmen VII, 1 Ursprünglich gehört dieses Carmen wohl in den Zusammenhang der Hochzeit des Sigibert mit Brunichilde. Gewidmet ist es Gogo, der als Brautwerber ins gotische Spanien gereist war und so für das Zustandekommen der Hochzeit gesorgt hat. 72 73

Zur Theorie der Avantgarde siehe R. POGGIOLI, The theory of the Avantgarde, Cambridge (Mass.) 1968. Venantius Fortunatus, Carm., Praef., 6 (lateinischer Text nach REYDELLET, I, 5f.): Hanc saltim obtemperanti uicissitudinem repensurus ut quia haec fauore magis delectantur quam iudice, aut tibi tantummodo innotescentia relegas aut intimorum auribus tecum amicaliter quaeso conlatura committas / Dafür erwarte ich als Gegenleistung, dass Du bitte das, weil es Dich mehr durch Neigung als durch kritisches Urteil erfreut, entweder nur selbst liest oder nur den Ohren derjenigen, die mit Dir eng in Freundschaft verkehren, anvertraust.

3.2.1. Die Proömien

197

Das epithalamium 74 hebt als offizielles Hochzeitsgedicht Sigibert in besonderer Weise heraus, während das unmittelbar folgende Gedicht 75 Brunichilde und ihre Konversion zum katholischen Glauben enkomiastisch herausstreicht und somit die Königin in den Vordergrund stellt. Hier wird nun der Brautwerber Gogo gepriesen. Von der Gattung her handelt es sich also um ein Enkomion, das wahrscheinlich sogar von Sigibert zur Belohnung für Gogos Dienste in Auftrag gegeben worden ist. Das Gedicht lässt sich, wie folgt, gliedern: I. V. 1 – 10 II. V. 11 – 44 V. 11 – 22 V. 23 – 34 V. 35 – 44 III. V. 45 – 50 V. 45 – 48 V. 49 – 50

Einleitung: Orpheus. Hauptteil: Die virtutes des Gogo. Die elocutio des Gogo. Vergleich mit Orpheus. Die übrigen virtutes, prudentia, pietas, forma. Die Wertschätzung Gogos durch Sigibert und Gogos Leistung bei der Brautwerbung. Schluss: Zusammenfassung und abschließende Wünsche. Ruhm des Gogo spricht für sich, bräuchte gar nicht hervorgehoben zu werden. Wunsch eines langen Lebens. b) Übersetzung des Orpheus-Vergleichs

Während Gogo im Hauptteil konventionell wegen seiner prudentia / Klugheit / pietas / Frömmigkeit und seiner forma / äußerlichen Schönheit gelobt wird, nimmt den größten Teil des Lobes doch seine elocutio / Redegewandtheit ein, die den Hauptgrund für seine Wertschätzung durch den König Sigibert darstellt76 und die ihn als Brautwerber zum Erfolg verhalf und dadurch sein Lob voll und ganz rechtfertigt.77 Der ausführliche Orpheus-Vergleich in der Einleitung und im ersten Abschnitt des Hauptteils stellt die Orpheus-Thematik eindeutig in einen Zusammenhang mit der Rhetorik und sollte hier deswegen ausführlicher betrachtet werden. Orpheus orditas moueret dum pollice cordas uerbaque percusso pectine fila darent,

74 75 76 77

Venantius Fortunatus, Carm., VI, 1. Venantius Fortunatus, Carm., VI, 1a. Venantius Fortunatus, Carm., VII, 1, 35–40. Vgl. Vers 41–44.

Während Orpheus mit seinem Daumen die auf den Rahmen gespannten Saiten bewegte und die Fäden nach Anschlagen Worte von sich gaben,

198

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

mox resonante lyra tetigit dulcedine siluas, ad citharae cantus traxit amore feras.

berührte die Lyra im Widerklang durch ihre süße Melodie bald die Wälder, und der Gesang der Kithara zog in Liebe die wilden Tiere an. Vndique miserunt uacuata cubilia dammas 5 Von überall entließen – verlassen – die Lager deposita rabie tigris et ipsa uenit. ihre Gämsen 5 der Tiger legte seine Wildheit ab und kam selbst. Sollicitante melo nimio filomela uolatu, Unter Einfluss des Liedes eilte durch den rapignora contemnens fessa cucurrit auis. sche Flug erschöpft die Nachtigall herbei und ließ ihre Nachkommen im Stich. Sed quamuis longo spatio lassauerat alas, Aber obwohl er durch den langen Weg seine Ad uotum ueniens se recreauit auis. 10 Flügel erschöpft hatte, erholte sich der Vogel, als er ans Ziel seiner Wünsche gelangt war. 10 Sic stimulante tua captus dulcedine, Gogo, So, Gogo, betrat, gefangen vom süßen Einfluss longa peregrinus regna uiator adit. Deiner Überredungskunst, der Wanderer aus der Fremde weit entfernte Königreiche. Vndique festini ueniant ut promptius omnes Dass alle von überall eilends und, ohne zu sic tua lingua trahit sicut et ille lyra. zögern, kommen, dafür zieht Deine Zunge so an wie jener mit der Lyra. Ipse fatigatus huc postquam uenerit exul 15 Selbst der Verbannte entbehrt, nachdem er antea quo doluit te medicante caret. erschöpft hierher gekommen ist, 15 weil Du ihn heilst, das, woran er zuvor litt. Eruis adflictis gemitus et gaudia plantas; Den Bedrückten entreißt Du das Seufzen und Ne tamen arescant, oris ab imbre foues. pflanzt ihnen Freude ein, Du wärmst sie, damit sie dennoch nicht vertrocknen, mit dem Regen Deines Mundes. Aedificas sermone fauos noua mella ministrans Du baust durch Deine Rede Bienenwaben und dulcis et eloquii nectare uincis apes. 20 lieferst neuen Honig, und besiegst die Bienen durch den Nektar Deiner süßen Beredsamkeit. 20 Vbere fonte rigat labiorum gratia pollens Von der reichen Quelle Deiner Lippen strömt cuius ab arcano uox epulanda fluit. mächtige Anmut herab, von deren geheimen Inneren fließt eine Stimme wie ein Festmahl.78

78

Venantius Fortunatus, Carm., VII, 1, 1–22, lateinischer Text nach REYDELLET, II, 85f.

3.2.1. Die Proömien

199

c) Interpretation Die Orpheus-Thematik rekurriert bei Venantius Fortunatus auf die Klage des Orpheus, nachdem er Eurydike zum zweiten Mal verloren hat, wie sie am Ende der Georgica des Vergil geschildert wird79 und nicht auf die entsprechende Stelle bei Ovid.80 So wird bei Vergil schon der Tiger durch das Lied des Orpheus besänftigt und auch das Lied der Nachtigall wird zum Vergleich herangezogen: septem illum totos perhibent ex ordine mensis

Man sagt, dass jener sieben volle Monate hintereinander Rupe sub aeria deserti ad Strymonis undam unter einem hohen Felsvorsprung am Ufer des verlassenen Strymo flesse sibi, et gelidis haec euoluisse sub antris für sich geweint und dies unter eiskalten Höhlen habe entströmen lassen mulcentem tigris et agentem carmine quercus: und die Tiger besänftigt und mit dem Lied die 510 Eichen hervorgelockt habe. 510 qualis populea maerens philomela sub umbra Wie die Nachtigall unter dem Schatten der Pappel amissos queritur fetus, quos durus arator ihre verlorenen Jungen beklagt, die ein hartherziger Bauer, obseruans nido implumis detraxit; at illa als er sie bemerkte, während sie noch ohne Federn waren, aus dem Nest riss, jene aber flet noctem, ramoque sedens miserabile carmen die ganze Nacht weint, und auf dem Zweig sitzend immer wieder ein Mitleid erregendes Lied erklingen lässt integrat, et maestis late loca questibus implet. und weit und breit die Ebene mit trauriger 515 Klage erfüllt. 51581

In Auseinandersetzung mit dieser Vergilstelle schildert bereits Claudian im Prolog zum zweiten Buch De raptu Proserpinae die Wirkung des orpheischen Gesangs, der hier aus Freude darüber, dass Herakles die Rosse des Diomedes gebändigt hat, wieder zur Leier greift: Tunc patriae festo laetatus tempore vates Desuetae repetit fila canora lyrae

79 80 81

Da schlug er wieder an, voll Freude über die festliche Zeit in der Heimat, die klingenden Saiten der Lyra, die es schon nicht mehr gewohnt war.

Vergil, Georgica, IV, 507–522. Vgl. Ovid, Metamorphosen, XI, 1–66. Vergil, Georg., IV, 507–515, lateinischer Text nach der Ausgabe von MYNORS, Oxford 1969.

200

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

Et resides levi modulatus pectine nervos Pollice festivo nobile duxit ebur.

15

Und er brachte mit leichtem Kamm die Saiten zum Klingen, 15 und führte dabei das edle Elfenbein mit festlich gestimmten Daumen. Vix auditus erat: venti frenantur et undae, Kaum war er gehört worden: Winde und Wogen Pigrior astrictis torpuit Hebrus aquis, werden im Zaum gehalten, und der Hebros zügelte seine Wasser und erstarrte. Porrexit Rhodope sitientes carmina rupes, Rhodope streckte seine Felsen aus, die nach Excussit gelidas pronior Ossa nives; 20 Liedern dürsteten, Ossa neigte sich näher und schüttelte dabei den eiskalten Schnee ab. 20 Ardua nudato descendit populus Haemo Die Pappel steigt von Gipfel herunter, nachEt comitem quercum pinus amica trahit, dem der Haemos entblößt ist, und die Fichte zieht als Begleiterin die Eiche mit sich. Cirrhaeasque dei quamvis despexerit artes, Obwohl er die Künste des delphisches Gottes Orpheis laurus vocibus acta venit. verachtete, kommt der Lorbeer getrieben von der Stimme des Orpheus herbei. Securum blandi leporem fovere molossi 25 Sicher hegten die molossischen Jagdhunde den Vicinumque lupo praebuit agna latus. Hasen 25 und das Lamm legte sich neben dem Wolf. Concordes varia ludunt cum tigride dammae Einträchtig spielen die Gämse mit dem Tiger Massylam cervi non timuere iubam. und die Hirsche fürchteten nicht die massylische Löwenmähne.82

Wenn Claudian auch den Gedanken der Felsen breit ausspinnt und damit eine Leerstelle bei Ovids Schilderung von Orpheus Tod83 ausfüllt und innerhalb dieser Verse auf andere Stellen im Werk Vergils und Ovids rekurriert, so ist dennoch der eigentliche Praetext in der oben zitierten Stelle aus den Georgica zu sehen, die Claudian zu übertreffen versucht. Es ist nicht der trauernde Orpheus, sondern einer, der sich der allgemeinen Feststimmung anschließt, er sitzt nicht unter eiskaltem Felsen, sondern bringt die Felsen dazu, den eiskalten Schnee abzuschütteln, um sich seinem Lied zuzuneigen.84 Er bringt nicht nur die Eiche in Bewegung, sondern eine Reihe von Bäumen, die Fichte, die Pappel (bei Vergil im Zusammenhang mit der Nachtigall erwähnt), und sogar den Lorbeer Apolls aus Delphi. 85 Das vergilische Bild vom besänftigten Tiger erweitert er durch die Erwähnung von Gämsen, und gestaltet es mit der Einführung von Hund und Hase und Wolf und Lamm, Hirsch und 82 83 84 85

Claudian, De raptu Prosepinae, II, Prolog, 12–26; lateinischer Text nach BIRT, MGH, AA, X, 362. Vgl. Ovid, Metamorphosen, XI, 2 sequentia saxa / die Felsen, die (seinem Lied) folgen. Vgl. Claudian, De raptu Proserpinae, II, Prolog, 20. Vgl. Vers 22–24.

3.2.1. Die Proömien

201

Löwe zu einem Panorama des Friedens. 86 Venantius Fortunatus bezieht sich auf beide Stellen und bringt (länger als Vergil, etwas kürzer als Claudian) einige entscheidende Neuerungen ein: Zunächst verbindet er das Bild vom Anschlagen der Saiten mit einer Webmetaphorik, was bereits einen textus-Begriff moderner Prägung antizipiert,87 wobei er zugleich das Amaryllis-Motiv aus Vergils erster Ekloge anklingen lässt.88 Den Tiger nimmt er von Vergil, die Gämsen von Claudian auf,89 die Nachtigall, bei Vergil rein metaphorisch gebraucht, lässt bei Venantius Fortunatus sogar ihre Jungen im Stich (die sie bei Vergil beklagt), und kommt von weither, um das Lied des Orpheus zu hören.90 Bei der Übertragung des Vergleichs auf Gogo geht es allerdings gar nicht mehr um Poesie, sondern um sein eloquium / die Redefähigkeit, also um seine rhetorischen Fähigkeiten. Sie lassen von überall her Fremde herbeikommen, lindern (ganz im christlichen Sinne) die Not der Betrübten und spenden Honig und Nektar.91 Und gerade das letzte Bild92 verweist wiederum in den Bereich avantgardistischer Literatur und auf einen poeta doctus, nimmt es doch das kallimachäische Bild vom Tropfen und Quelle auf. Bemerkenswert ist hier aber vor allem die Übertragung auf die Rhetorik, worin ein deutlicher Bezug zur Präferenz der Rhetorik in der Praefatio des Gesamtwerkes liegt. Auch der wohl zweite von Venantius Fortunatus selbst herausgegebene Teil der Sammlung beschäftigt sich in seinem Eröffnungsgedicht mit Fragen der Literatur. Formal handelt es sich um einen offenen poetischen Brief an einen nicht näher spezifizierten Adressatenkreis, daher die überlieferte Überschrift Ex nomine suo ad diuersos / im eigenen Namen an verschiedene. Zugleich erfüllt es die Funktion eines Binnenproöms, bzw. des Proöms des zweiten, später herausgegebenen Teils der Sammlung der Carmina.93 3.2.1.3. Carmen VIII, 1 (Binnenproöm) a) Gliederung Carmen VIII, 1 weist eine sorgsame Gewichtung und Komposition seiner Teile auf. Es umfasst siebzig Verse: In den ersten zwanzig spricht Fortunatus von sich 86

87 88 89 90 91 92 93

Vgl. Vers 25–28. Zum Motiv der Besänftigung in diesem Prolog vgl. auch CH. SCHMITZ, Das Orpheus-Thema in Claudians De raptu Proserpinae, insbesondere 39–45, wo darin das verbindende Element zwischen den Prologen und dem gesamten Epos gesehen wird. Siehe Venantius Fortunatus, Carm., VII, 1, 1–4. Vgl. Vergil, Eklogen, 1, 1–5. Vgl. Venantius Fortunatus, Carm., VII, 1, 5f. Vers 6–10. Vers 12–22. Vers 18–22. Während KOEBNER, Venantius Fortunatus, 133f. diese Versepistel noch im Zusammenhang mit dem Erwerb der Kreuzreliquie sieht und davon ausgeht, sie sei an den byzantinischen Hof gerichtet gewesen und habe dort Radegunde empfehlen wollen, sieht REYDELLET, I, LXX (in Nachfolge von TARDI) darin das Proöm zum zweiten Teil der Gedichtsammlung, das deswegen keinen speziellen Adressaten habe, weil es an alle gerichtet sei, die sich für schöne Literatur interessierten.

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

202

selbst, wobei Vers 21 eine Gelenkstelle bildet, nach der nur noch von Radegunde die Rede ist. Die Gesamtkomposition wird von drei Katalogen bestimmt, von denen der erste ein Dichterkatalog ist, in den sich Venantius Fortunatus selbst einordnet.94 So lässt sich folgendes Gliederungsschema aufstellen: V. 1 – 20 V. 1 – 2 V. 3 – 4 V. 5 – 6 V. 7 – 10 V. 11 – 12 V. 15 – 20 V. 21 – 64 V. 21 – 40 V. 41 – 50 V. 51 – 60 V. 61 – 64 V. 65 – 70

I. Einleitung: Die literarische Tradition (1. Katalog) Die Camenen / Musen an der kastalischen Quelle. Die pagane griechische Tradition. Die pagane lateinische Tradition. Die Christen. Venantius Fortunatus. Hilarius von Poitiers. II. Hauptteil: Radegunde Herkunft und Werdegang der Radegunde. Vergleich mit heiligen Frauen. (2. Katalog) Radegunde und die Kirchenväter. (3. Katalog) Zusammenfassung der Charakteristik der Radegunde. III. Schluss: Abschließende Wünsche des Dichters. b) Interpretation der drei Kataloge

Bei der Interpretation empfiehlt es sich, von den drei Katalogen auszugehen, und von dort zu einer Gesamtinterpretation fortzuschreiten: Text und Übersetzung der Einleitung (1. Katalog) Aonias auido qui lambitis ore Camenas Castaliusque quibus sumitur aure liquor,

Ihr, die ihr mit gierigem Mund die äonischen Camenen küsst, von denen das Wasser der kastalischen Quelle mit dem Ohr aufgenommen wird, quos bene fruge sua Demosthenis horrea ditant welche gut mit ihrer Frucht die Speicher des Largus et inriguis implet Homerus aquis Demosthenes bereichern, und Homer reichlich mit tränkenden Wassern erfüllt,

94

Zum Zusammenhang der Gedichtteile siehe die entsprechenden Ausführungen weiter unten in diesem Kapitel.

3.2.1. Die Proömien

203

fercula siue quibus fert diues uterque minister, denen als Diener reich gedeckt Speisetabletts 5 jeder von beiden bringt, 5 Tullius ore cibum, pocula fonte Maro; nämlich Tullius (Cicero) vom Mund Speise, (Vergilius) Maro von der Quelle die Becher; uos quoque qui numquam morituras carpitis ihr, die ihr von Speisen nehmt, die niemals escas, sterben werden, quos paradisiaco germine Christus alit, welche Christus mit dem Spross aus dem Paradies nährt, facundo tonitru penetrati qui retinentur die, durchdrungen vom Donner der Redegabe, nunc monitis Pauli, postea claue Petri, 10 zurückgehalten werden bald durch die Mahnungen des Paulus, bald durch den Schlüssel des Petrus, 10 Fortunatus ego hinc humili prece uoce saluto, euch grüße ich, Fortunatus, in demütiger Bitte, – Italiae genitum gallica rura tenent, – – mich, den Sohn Italiens, hält nun gallisches Land – Pictauis residens qua sanctus Hilarius olim der ich mich in Poitiers niedergelassen habe, natus fuit, notus in orbe pater. wo einst der heilige Hilarius geboren war, der auf der ganzen Welt bekannte Vater. Eloquii currente rota penetrauit ad Indos 15 Mit dem rollenden Rad seiner Beredsamkeit ingeniumque potens ultima Thyle colit. drang er bis zu den Indern vor, 15 und sein mächtiges Redetalent verehrt Thule am äußersten Rand der Welt. Perfundens cunctas uice solis nomine terras Wie die Sonne erfüllte er alle Länder mit seicuius dona fauens Persa, Britannus habet. nem Namen und seine Gaben besitzt der Perser und der Britannier und spendet ihnen Beifall. Christicolo scythicas laxauit amore pruinas: Mit christlicher Liebe schmolz er skythischen dogmate feruenti frigida corda calent. 20 Frost, durch seine glühende Lehre erwärmen sich 20 eisige Herzen.95

Interpretation Dass das Carmen programmatischen Charakters hat, deutet nicht nur die unspezifische Überschrift ad diuersos, die nicht näher expliziert werden,96 an, sondern auch die exponierte Selbstnennung des Dichters (als Subjekt des Hauptsatzes).97 Dennoch stehen nicht diese Adressaten am Anfang, vielmehr das Attribut Aonias, das als Hyperbaton mit seinem Bezugswort Camenas den ersten Vers umschließt. Der Gedichtanfang ist also nach Art einer klassischen Museninvokation gestaltet, aller95 96 97

Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 1, 1–20 (lateinischer Text nach REYDELLET, II, 124f.). Vgl. dazu REYDELLET, I, LXX. Vers 11; in Vers 21 spricht er ebenfalls wieder von sich und leitet damit zu dem Abschnitt über Radegunde über.

204

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

dings nicht in direkter Anrufung, sondern in Invokation derjenigen, die sie küssen. Passend dazu wird das Distichon durch die Erwähnung der kastalischen Quelle beschlossen. Dabei erfolgt die Aufnahme des Wassers der kastalischen Quelle nicht, (wie bei Kallimachos die des Taus der Blüten) 98 tropfenweise (mit dem Mund) aufgenommen, sondern mit dem Ohr. Mit dem Mund wurden zuvor die Musen geküsst, eigentlich geleckt. Steht das kallimacheische Ideal im Hintergrund, so wird es hier variiert und weiter ausdifferenziert. Die folgenden acht Verse sind unterteilt in einen paganen und einen christlichen Teil von je vier Versen.99 Dabei wird der pagane Teil noch aufgeteilt in einen griechischen und einen lateinischen Bereich, dem je zwei Verse gewidmet sind:100 Jeweils wird ein Prosaiker und ein Dichter genannt, für die Griechen Demosthenes und Homer, für die Römer Cicero und Vergil. Beide Prosaiker sind Rhetoren und gelten im Bereich der Prosa als die Stilvorbilder schlechthin.101 Es wird also wiederum wie in der Gesamtpraefatio die stilistisch / rhetorische Seite exponiert.102 Überraschend ist das, was auf den Katalog der paganen Klassiker folgt: In den nächsten vier Versen werden nur drei Namen genannt, und zwar jeweils im Pentamenter, Christus103 und seine wichtigsten Apostel, nämlich Paulus und Petrus.104 Die Nennung dieser Trias ist verblüffend. Denn ganz offensichtlich werden Christus, Paulus und Petrus in einen literaturgeschichtlichen Zusammenhang eingeord98

Kallimachos, Apollohymnos, 105–113: o( Fqo/noj ¹Apo/llwnoj e)p' ouÃata la/qrioj eiåpen: "ou)k aÃgamai to\n a)oido\n oÁj ou)d' oÀsa po/ntoj a)ei¿dei." to\n Fqo/non w¨po/llwn podi¿ t' hÃlasen wÒde/ t' eÃeipen: ")Assuri¿ou potamoiÍo me/gaj r(o/oj, a)lla\ ta\ polla/ lu/mata gh=j kaiì pollo\n e)f' uÀdati surfeto\n eÀlkei. DhoiÍ d' ou)k a)po\ panto\j uÀdwr fore/ousi me/lissai, a)ll' hÀtij kaqarh/ te kaiì a)xra/antoj a)ne/rpei pi¿dakoj e)c i¸erh=j o)li¿gh liba\j aÃkron aÃwton." xaiÍre, aÃnac: o( de\ Mw½moj, iàn' o( Fqo/noj, eÃn-

99 100 101 102

103 104

qa ne/oito. Der Neid sprach aber heimlich in die Ohren Apolls: / / Den Neid trat Apoll mit dem Fuß und sprach folgendermaßen: / / Herr, sei gegrüßt, dort, wo der Neid ist, soll die Krittelei wohnen. Bei Kallimachos ist zwar noch nicht speziell von der kastalischen Quelle die Rede, und die Bienen beziehen sich wohl (nach antikem Scholion) auf die Priesterinnen der Demeter, für das Dichtungsideal einer elaborierten Kleinform ist die Stelle aber der locus classicus. Durch das Bild von der Aufnahme des musischen Stoffes durch Lecken mit dem Mund und Trinken mit dem Ohr bedient sich Venantius Fortunatus einer ähnlich elaborierten Metaphorik, die ebenso programmatischen Charakter hat. Vgl. auch Horaz, Oden, III, 4, 61, wo davon die Rede ist, das Apoll im Tau / rore der kastalischen Quelle badet. Vers 3–6, wo die Namen paganer Autoren genannt werden und Vers 7–10, wo von Christus, Petrus und Paulus die Rede ist. Vers 3–4 und Vers 5–6. Vgl. Quintilian, Inst. orat., X, 2, 24 (zu Demosthenes) und 3, 1f. (zu Cicero). Zu beachten ist dabei auch die Klimax in der Metaphorik. Während Demosthenes Frucht aus seinem Getreidespeicher liefert und Homer Wasser, bringt Cicero fertige Speise und Vergil Trank, jeweils auf einem Tablett / ferculum, womit die lateinische Literatur die griechische übertrifft und gleichsam vollendet. Vers 7. Vers 10.

3.2.1. Die Proömien

205

net. Die Adressaten des Gedichts, die nicht näher explizierten uos, werden von Christus mit paradiesischer Speise genährt, von den Mahnungen des Paulus und dem Himmelsschlüssel des Petrus in Schranken gehalten.105. Der Zusammenhang ergibt sich aus der Predigttätigkeit von Christus, die in den Evangelien greifbar ist, und der des Paulus und des Petrus, von der die paulinischen bzw. die katholischen Briefen des Neuen Testaments zeugen. Deshalb spricht Venantius Fortunatus von facundo tonitru ... penetrati / durchdrungen ... vom Donner der Redegabe.106 Der Schwerpunkt liegt auch hier auf der rhetorischen Tätigkeit der Predigt, für die Christus, Paulus und Petrus Vorbildcharakter haben und dabei zugleich durch ihre Mahnungen eine allzu ausufernde Beredsamkeit in Schranken halten.107 Die paganen Autoren erfüllen demnach in erster Linie die Rolle von Stilvorbildern, zu denen aber der christliche Inhalt kommen muss, wie er bei Christus und den Aposteln in der Predigt vorgeprägt ist, und der die eigentliche Ursache für den Ruhm des Hilarius darstellt, welcher nach den Aposteln als einziger christlicher Autoren erwähnt wird.108 Er erscheint gleichsam als Vollender einer christlichen Beredsamkeit, die ihn im ganzen Erdkreis bekannt / notus gemacht hat.109 Während diesem Katalog die Hälfte der ersten zwanzig Verse gewidmet waren, handeln die zweiten von Fortunatus selbst und Hilarius von Poitiers, wobei deutliche Korrespondenzen zu erkennen sind: Denn im ersten Teil geht es in den beiden Einleitungsverse um die Musen und die kastalischen Quelle, bei den Einleitungsversen des zweiten Teils um Fortunatus selbst. 110 Dann steht Hilarius von Poitiers im Mittelpunkt. Was Venantius Fortunatus mit Hilarius verbindet, ist der gemeinsame Ort Poitiers. Hilarius ist aber nicht nur der Heilige, dessen Kult Poitiers auszeichnet, er ist auch als bedeutender christlicher Schriftsteller und Dichter hervorgetreten. Nimmt man also den Dichterkatalog zu Anfang ernst, stellt sich 105 Vers 6–10. 106 Vers 9. 107 Vers 9f. facundo tonitru penetrati qui retinentur / nunc monitis Pauli, postea claue Petri / die, durchdrungen vom Donner der Redegabe, zurückgehalten werden / bald durch die Mahnungen des Paulus, bald durch den Schlüssel des Petrus. 108 Vers 13–20. Zu Hilarius von Poitiers siehe die Sammelbände E. - R. LABANDE (Hrsg.), Hilarius, évêque et docteur, Paris 1968 und DERS. (Hrsg.), Hilarius et son temps, Paris 1968; speziell zu seinem Exil: T. D. BARNES, Hilarius on his Exile, VigChr 46 (1992), 129–140; zu seiner Poesie M. PELLEGRINO, La poesia di santo Hilario, VigChr 1 (1947), 201–226; zu Hilarius als Stilist M. F. BUTELL, The Rhetoric of St. Hilarius, Washington 1933. Vgl. jetzt auch M. DURST, Hilarius von Poitiers als ‚orthodoxes Leitbild’ der Spätantike, in: J. DUMMER & M. VIELBERG (Hrsg.), Leitbilder im Spannungsfeld von Orthodoxie und Heterodoxie, Stuttgart 2008, 47–99. Zu Venantius und den Kirchenvätern allgemein vgl. L. PIETRI, Venance Fortunat, lecteur de Pères latins, in: B. GAIN, P. JAY & G. NAUROY (Hrsg.), „Chartae charitatis“, études de patristique et d’ antiquité tardive en hommage à YVES-MARIE DUVAL, Paris 2004, 127–141. 109 Vers 14. Durch die symmetrische Komposition der ersten zwanzig Verse wird das deutlich hervorgehoben. Bei der grundsätzlichen Zweiteilung der ersten zwanzig Verse umfasst das panegyrische Lob des Hilarius acht Verse (Vers 13–20), also doppelt so viele wie den paganen Dichtern und ebenso viele, wie paganen Dichtern und der Trias von Christus, Paulus und Petrus gewidmet sind. 110 Vers 11f.

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3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

Venantius, obwohl er von sich nur Herkunft (Italien) und gegenwärtigen Aufenthaltsort (Gallien)111 preisgibt, in der Mitte eines Abschnittes, in der es um Literatur und Literaturvertreter geht, die in einer Reihe von Demosthenes bis Hilarius, von griechisch paganer bis zu christlich lateinischer Literatur führen. In diesem Zusammenhang wird auch das Thema der Wertigkeit literarischer Beschäftigung angerissen, das in der Gesamtpraefatio einen breiten Raum einnimmt.112 Allerdings wird es hier nur indirekt thematisiert. Und dies geschieht vor allem in den acht Versen über Hilarius von Poitiers. 113 Dabei geben die ersten beiden114 gleichsam mit notus in orbe pater / der auf der ganzen Welt bekannte Vater115 das Thema vor, den Bekanntheitsgrad des Hilarius, der in den folgenden Versen durch geographische Angaben untermauert wird: im Süden bis zu den Indern, im Norden bis nach Thule,116 im Osten bis zu den Persern, im Westen bis zu den Britanniern.117 Als Ursache für diese Bekanntheit erscheinen sein mächtiges Talent / ingenium potens118 und das rollende Rad seiner Beredsamkeit / eloquii curren[s] rota,119 nicht in erster Linie ein heiligmäßiges Leben. Die Äußerungen beziehen sich offenbar auf einen literarisch begründeten Ruhm, dessen Inhalt in der Verkündigung der Lehre / dogma120 besteht, die durch seine Christus verehrende Liebe / Christicolo amore121 erst ermöglicht wird. Die (literarische) Verkündigung des Glaubens macht also Hilarius’ Ruhm aus, so dass er am Ende eines Kataloges von Schriftstellern erscheint. Die Nennung von paganen antiken griechischen und lateinischen Stilvorbildern in einer Reihe mit christlichen Autoren, deren Höhepunkt hier Hilarius von Poitiers bildet, setzt sie in eine gewisse Gleichzeitigkeit zu den christlichen Autoren, auf die im dritten Katalog noch ausführlich eingegangen wird. Der Radegundeteil (2. & 3. Katalog) Anbindung an die Einleitung Der lange Abschnitt über Radegunde führt die spezifisch christliche Thematik, mit welcher der vorangegangene Abschnitt endete, fort und erweitert sie, indem er mit Radegunde eine Person in den Vordergrund stellt, die nicht in stilistischer Hinsicht vorbildhaft ist, sondern im Hinblick auf ihre Lebensführung.122 Dennoch spielt auch 111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122

Vers 12. Vgl. die entsprechenden Ausführungen weiter oben in diesem Kapitel. Vers 13–20. Vers 13f. Vers 14. Vers 15f. Vers 16f. Vers 16. Vers 15. Vers 20. Vers 19. Vers 21–70. Bemerkenswert ist dabei das Verhältnis der Verszahl zum ersten Abschnitt: die doppelte Anzahl der bisherigen Verse + der Anzahl der Verse einer der beiden Teile des

3.2.1. Die Proömien

207

das Thema der Literatur weiterhin eine wichtige Rolle. Eingeleitet mit einer Selbstaussage des Venantius Fortunatus, die mit der zuvor erfolgten über Herkunft und Aufenthaltsort korrespondiert, 123 ist der Zusammenhang mit dem Vorangegangenen nicht auf den ersten Blick ersichtlich; im Anschluss an einen Dichter- und Autorenkatalog wirkt die einleitende Aussage Martinum cupiens uoto Radegundis adhaesi

Martin begehrte ich aufgrund eines Gelübdes und bin nun Anhänger der Radegunde.124

verblüffend und bedarf einer eingehenden Betrachtung. Exponiert wird Martin von Tours am Anfang des Verses genannt, von dem – anders als bei Hilarius keine von ihm selbst verfassten Schriften existieren, so dass man ihn nicht in einen Kanon von Literaten einordnen kann. Der Hinweis auf die Erfüllung eines Gelübdes (uotum), den Venantius Fortunatus gibt,125 deutet in die religiöse Sphäre, die zuvor durch die Bezüge auf die Predigttätigkeit des Hilarius bereits evoziert worden war. Eine Verbindung zu Hilarius besteht auch in der kultischen Verehrung als Heiligen, der in Tours für Martin, wie in Poitiers für Hilarius schon lange etabliert ist. Zugleich macht ihre Heiligkeit sie zu einem möglichen Sujet für literarische Texte, was von Venantius Fortunatus in der Prosavita des Hilarius und in seinem Martinsepos aufgegriffen wurde. Indem Venantius Fortunatus Radegunde mit diesen Heiligen in eine Reihe stellt, propagiert er einerseits ihre Heiligkeit, macht sie andererseits aber auch zu einem möglichen literarischen Sujet. Und dies erklärt den Zusammenhang mit den ersten zwanzig Versen: War dort die inhaltliche Seite bei den paganen Autoren nicht bezeichnet und bei den christlichen mit dem Rekurs auf die Predigttätigkeit nur unspezifisch umrissen worden, liegt hier ein klares Sujet vor, dass von Venantius Fortunatus unter spezifisch christlichem Blickwinkel behandelt wird: Herkunft und Charakteristik der Radegunde So wird zunächst ihre Herkunft aus Thüringen als Enkelin des Heminefred und als Cousine des Hamalfred 126 herausgestrichen, die hier als Folie verwendet ist, um

123 124

125

126

ersten Abschnittes. Auf diese Weise wird deutlich, dass den ersten zwanzig Versen nur eine Einleitungsfunktion zukommt, während der thematische Schwerpunkt auf dem Radegundeabschnitt liegt. Vers 11f. Vers 21. uoto / Gelübde, Wunsch ist hier wohl apokoinu zu verstehen, wörtlich also: Martin begehrte ich aufgrund eines Gelübdes und bin beim Wunsch der Radegunde hängen geblieben. Venantius Fortunatus spielt mit der Doppelbedeutung des Begriffs uotum und hebt so den Wunsch der Radegunde auf die religiöse Ebene eines Gelübdes, wie er es dem heiligen Martin gegenüber getan hat. Zum Gelübde des Venantius Fortunatus, zum Grab des heiligen Martin von Tours zu pilgern, vgl. auch Vielberg, Extensa viatica, 91f. und siehe die entsprechenden Ausführungen in Kapitel 2. 2. dieser Arbeit. Vers 22–24. Zum traditionellen Lob von Heimat, Vorfahren und Elternhaus vgl. Rhet. Her. III, 6, 10.

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3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

ihre christliche devotio durch die Schilderung der freiwilligen Aufgabe des königlichen Status besonders deutlich hervorzuheben: Mens ornata bonis fugituos spreuit honores sciens in solo firma manere Deo.

Ihr Sinn, mit Gütern geschmückt, verschmähte die weltlichen Ehren weil er wusste, dass Festes allein in Gott Bestand hat.127

Auch bei der näheren Ausführung ihrer conversio, die sich im Rückzug vom weltlichen Dingen äußert, werden christliche Wertvorstellungen durch Paradoxa, die antithetisch gegenübergestellt sind, in den nächsten vier Distichen deutlich exponiert: Regia lactineo conmutans pallia cultu, uilior ancillae uestis amata tegit.

Splendida serraco quondam subuecta superbo nunc terit obsequio planta modesta lutum. 30

Quae prius insertis onerata est zmaragdis seruit inops famulis sedulitate suis.

dextra

Aulae celsa regens quondam modo iussa ministrat quae dominando prius, nunc famulando placet.

Indem sie königliche Gewänder mit milchweißer Wolle vertauschte, bedeckt sie nun – aus Liebe – ein Gewand, billiger als das einer Magd. Die Fußsohle, die einst glänzend hoch im Wagen fuhr, geht nun im Gehorsam bescheiden im Dreck. 30 Die Rechte, die vordem beladen war mit Smaragdringen, dient nun mittellos voll Eifer ihren eigenen Dienern. Die, welche einst in den hohen Hallen des Hofes regierte, dient nun Befehlen, Die, welche vordem beim Herrschen gefiel, gefällt nun beim Dienen.128

Dabei wird das erste wie das vierte Distichon mit einem Hinweis auf ihren königlichen Rang eingeleitet (Regia ... pallia / königliche Gewänder bzw. Aulae celsa / die hohen Hallen des Hofes) und Venantius Fortunatus stellt die Situation nach ihrer conuersio noch im selben Vers bzw. im folgenden Pentameter dar: Das Gewand, das sie nun amata / aus Liebe (zu Christus) trägt, ist billiger als das einer Magd, ihr Fuß, der nie mit der Straße in Berührung gekommen war, weil sie stets im Wagen gefahren wurde, geht nun im Dreck (der Straße). Zugleich operiert Venantius Fortunatus alliterierend mit den Anspielungen auf den früheren Status (Splendida serraco quondam subuecta superbo / die einst glänzend hoch im Wagen fuhr) und flicht Laster- und Tugendbegriffe mit ein. Denn superbus kann auch als Adjektiv zu superbia / Hochmut hochmütig bedeuten, dem mit modestus das Adjektiv zur Tugend der modestia / Bescheidenheit entgegengestellt wird. Handelt 127 Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 1, 25f. (lateinischer Text nach REYDELLET, II, 125). 128 Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 1, 27–34 (lateinischer Text nach REYDELLET, II, 125f.).

3.2.1. Die Proömien

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es sich bei der modestia um eine christliche Tugend, die nicht zwangsläufig in den klerikalen bzw. monastischen Bereich verweist, ist das Stichwort obsequium / Gehorsam, das in diesem Zusammenhang fällt, ganz in diesen Bereich einzuordnen.129 Hier wird also auf die klösterliche Lebensweise der Radegunde angespielt. Die dreifache Betonung des Aspektes des Dienen in den folgenden beiden Distichen (seruit inops famulis sedulitate suis / dient nun mittellos voll Eifer ihren eigenen Dienern; modo iussa ministrat / dient nun Befehlen bzw. quae dominando prius, nunc famulando placet / Die, welche vordem beim Herrschen gefiel, gefällt nun beim Dienen) erfolgt nicht nur zur Exponierung des Gegensatzes, sondern weist ebenfalls in diesen Bereich. Unterstrichen wird das noch durch die Erwähnung der Armut, die in betonter Anfangsstellung wiederum eine paradoxe Aussage einleitet: Paupertate potens et solo libera uoto clarius abiecto stat radiata loco.

35

Durch Armut ist sie mächtig und frei allein durch das Gelübde; 35 Heller steht sie umstrahlt, nachdem sie ihren Rang aufgegeben hat. Aurea fulcra tenens, iam tum sibi uilis honore, Sie hatte ein goldenes Lager und achtete die effugit exstructum puluere fusa torum. Ehre gering, und floh das gedeckte Bett, nachdem sie sich in den Staub gelegt hatte. Si contemnatur, tunc nobilis esse fatetur Wenn sie verachtet wird, dann meint sie voret putat esse minor, si datur ullus honor. 40 nehm zu sein, und glaubt, zu unbedeutend zu sein, wenn ihr irgendeine Ehre zuteil wird. 40

Diese letzten beiden Verse variieren das neutestamentarische Motiv,130 dass derjenige, der groß oder der erste sein will, zum Diener werden wird bzw. seine traditionelle Umkehrung, dass wer sich selbst erniedrigt, erhöht werden wird, 131 was gleichsam als thematische Überschrift die ersten zehn Distichen über Radegunde zusammenfasst.

129 Vers 30. Vgl. dazu auch K. S. FRANK, Gehorsam, in: RAC IX (1976), 390–430. 130 Siehe Mt 20, 25–26 (Vulgata): 25 Iesus autem vocavit eos ad se et ait: scitis quia principes gentium dominantur eorum et, qui magni sunt, potestatem exercent in eos. 26 non ita erit inter vos, sed quicumque voluerit inter vos magnus fieri, erit vester minister; 27 et, quicumque voluerit inter vos primus esse, erit vester servus; 28 sicut Filius hominis non venit ministrari sed ministrare et dare animam suam redemptionem pro multis. / 25 Jesus aber rief sie zu sich und sprach: ”Ihr wisst, dass die Fürsten ihre Völker unterjochen und diejenigen, die groß sind, ihre Gewalt ihnen gegenüber missbrauchen. 26 Nicht wird es zwischen euch so sein, sondern wer auch immer unter euch groß sein will, wird euer Diener sein, 27 und wer auch immer unter euch der erste sein will, wird euer Sklave sein; 28 so wie der Menschensohn nicht gekommen ist, um bedient zu werden, sondern um dienen und sein Leben zu geben zur Erlösung von vielen.” 131 Io 18, 11.

210

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

2. Katalog In den christlichen, spezifisch klösterlichen Bereich verweist auch der zweite Katalog in diesem Gedicht,132 der folgendermaßen beginnt: Parca cibo Eustochium superans, abstemia Sie übertrifft beim Fasten Eustochium, in der Paulam, Enthaltsamkeit Paula, uulnera quo curet dux Fauiola monet, bei der Pflege von Wunden gibt ihr Faviola Leitung und Mahnung, Melaniam studio reparans, pietate Blesillam, Im Glaubenseifer bringt sie Melanie, in der Marcellam uotis aequiperare ualens, Frömmigkeit Blesilla zurück, und vermag es, im Gebet Marcella gleichzukommen, obsequio Martham renouat lacrimisque im Gehorsam ist sie eine zweite Martha, in den Mariam, 45 Tränen eine zweite Maria, 45 peruigil Eugeniam, uult patiendo Theclam. im Durchwachen (der Nächte) eine zweite Eugenia, in der Passion möchte sie eine zweite Thekla werden.133

Durch den Vergleich mit Eustochium, Paula, Fabiola, Melanie, Blesilla, und Marcella erscheint Radegunde eingereiht in weiblich monastische Tradition. 134 Radegunde wird aber nicht nur mit dem Kreis frommer Frauen, die am Anfang der Geschichte von Frauenklöstern stehen, eingeordnet, der Katalog dient zugleich zur Exponierung ihrer christlich monastischen Tugenden, wenn davon die Rede ist, dass sie ihnen gleich kommt und sie sogar in bestimmter Hinsicht (nämlich in der Askese) übertrifft.135 In diesem Sinne sind auch die letzten vier Frauennamen aufzufassen, sie stehen jeweils für eine Eigenschaft der Radegunde und teilen sich auf in zwei biblische und zwei nicht biblische Gestalten: Marta und Maria, sowie Eugenia und Thekla. Martha, die Schwester des Lazarus,136 steht für das obsequium / Gehorsam, was gut in den monastischen Zusammenhang passt, Maria, entweder 132 Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 1, 41–46 (lateinischer Text nach REYDELLET, II, 126). 133 Vers 35–46, lateinischer Text nach REYDELLET, II, 126. 134 Vgl. auch zu den einzelnen Namen REYDELLET, II, 188f., Anm. 4 (die zweite Tochter der Paula, Blesilla, wird in Vers 43 als Muster der Frömmigkeit genannt); siehe speziell zu dem Kreis um Hieronymus S. REBENICH, Hieronymus und sein Kreis, Stuttgart 1992. Paula und ihre Tochter Eustochium, die Hieronymus nach Bethlehem folgten und dort ein Pilgerhospitz sowie ein Männer- und Frauenkloster ins Leben riefen, werden hier wohl nicht allein wegen ihrer asketischen Lebensweise an den Anfang der Reihe gestellt, sondern ebenfalls wegen der Einrichtung eines Klosters. In die Reihe der Klostergründerinnen gehört auch Melanie, gleich ob hier die Ältere (ca. 350–410), die das Kloster auf dem Ölberg gründete, gemeint ist oder die Jüngere, die in Thagaste zwei Klöster gründete, bevor sie im Kloster auf dem Ölberg 14 Jahre in einer Zelle verbrachte, während Fabiola und Marcella ebenfalls in den Kreis um Hieronymus gehören. 135 Vers 41. 136 Vgl. Io 11, 17–44. Ihr obsequium äußert sich dort allerdings eher im Bekenntnis ihres Glaubens (Io 17, 22–27).

3.2.1. Die Proömien

211

die zweite Schwester des Lazarus 137 oder vielleicht auch die Mutter Jesu, 138 für ihre Tränen. Die Tränen deuten ihrerseits wieder in Richtung der misericordia / des Mitleids, womit ebenfalls in den Bereich spezifisch christlicher Tugenden verwiesen wird. Die misericordia spielte bei Radegunde auch im Zusammenhang mit ihrem Rückzug ins monastische Leben eine große Rolle.139 Eugenia, die im Mosaikzyklus von S. Apollinare nuovo in Ravenna den Zug der Jungfrauen anführt, steht für die ebenfalls monastische Tugend der pervigilitas / Wachsamkeit,140 Thekla für das Martyrium, das Radegunde (aufgrund der Zeitumstände) nicht erreichen konnte, aber gerne erreicht hätte.141 Der gesamte Katalog der Frauennamen stellt Radegunde also in eine Reihe mit Klostergründerinnen oder Frauen, die als exempla klösterlicher Tugenden gesehen werden können, wobei Thekla als einzige Märtyrerin in dieser Reihe keineswegs unpassend ist, da sie auch als exemplum für die Tugend der patientia / der Duldsamkeit verstanden werden kann, was wiederum zu der asketischen Lebensweise der Radegunde im Kloster passt.142 Dass es bei diesem Katalog vor allem um die Verankerung der Radegunde in dieser Tradition geht, macht auch das abschließende Distichon deutlich: Sensibus ista gerit quicquid laudatur in illis: signa recognosco quae prius acta lego.

In ihrem Sinn macht sie alles, was bei jenen gelobt wird: Ich erkenne Zeichen, die – wie ich nur lese – früher geschehen sind.143

3. Katalog Zugleich bildet es die Überleitung zu einer Würdigung der Radegunde, in der es um den Erweis ihrer Heiligkeit geht und in die ein dritter Katalog eingebettet ist: Omnia despiciens et adhuc in corpore constans Alles verachtet sie, und obwohl sie noch im spiritus hic uiuit, sed caro functa iacet. 50 Körper ist, lebt hier (nur) ihr Geist, das Fleisch liegt bestattet danieder. 50

137 So REYDELLET, II, 188 Anm. 4, vgl. auch Io 11, 33, wo ihr Weinen ausdrücklich erwähnt wird. 138 Die Klage der Gottesmutter ist ein Motiv, dass z. B. in den so genannten Acta Pilati weit ausgestaltet wird, vgl. dazu die griechische Rezension B (TISCHENDORF (Hrsg.), Evangelia apocrypha, Leipzig 2 1876, 305ff. mit Apparat. 139 So zumindest nach Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, vgl. dort insbesondere Kapitel IV & XIX bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2, 39 & 43. 140 Vgl. dazu das Gleichnis von den wachsamen Jungfrauen, Mt 25, 1–13. 141 Derselbe Gedanke findet sich Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, II (5) bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2, 38. 142 Vgl. dazu Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, XXV–XXVI (60–63) bei KRUSCH, MGH, AA, IV, 2, 45, wo auch der Begriff martyra (Z. 25) fällt. 143 Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 1, 47f., lateinischer Text nach REYDELLET, II, 126.

212

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

Terram habitans caelos intrat bene libera Obwohl sie die Erde bewohnt, betritt sie schon sensu, frei im Geist den Himmel atque homines inter iam super astra petit. und noch unter Menschen strebt sie über die Sterne hinaus. Cuius sunt epulae quicquid pia regula pangit, Ihre Speisen sind das, was die fromme Regel quicquid Gregorius Basiliusque docent, bestimmt, was auch immer Gregorius und Basilius lehren, acer Athanasius, quod lenis Hilarius edunt. 55 was der streitbare Athanasius und der milde quos causae socios lux tenet una duos, Hilarius schreiben, 55 auf die beide ein Licht als Genossen in (derselben) Streitsache strahlt, Quod tonat Ambrosius, Hieronimus atque was Ambrosius donnern und Hieronymus blitcoruscat. zen lässt, siue Augustinus fonte fluente rigat oder Augustin aus fließender Quelle benetzt, Sedulius dulcis, quod Orosius edit acutus, Und was der anmutige Sedulius, was der Regula Caesarii linea nata sibi est. 60 scharfsinnige Orosius verfasste. 60 Die Regel des Caesarius ist für sie zur Richtschnur geworden. His alitur ieiuna cibis, palpata nec umquam Mit diesen Speisen stillt sie ihren Hunger, und Fit caro, sit nisi iam spiritus ante satur. niemals wir das Fleisch liebkost, wenn nicht vorher der Geist gesättigt ist.144

Bei diesem Katalog handelt es sich um eine Aufzählung von Kirchenvätern, die alle Schriften hinterlassen haben und deren Werke Radegunde gleichsam als Speise dienen. Ähnlich wie beim ersten Katalog werden sowohl griechische als auch lateinische Autoren aufgeführt, beginnend mit den Kapadokiern Gregor und Basilius, wobei offenbleiben muss, ob Gregor von Nazianz oder Gregor von Nyssa gemeint sind oder ob Venantius Fortunatus dies bewusst offen hält, so dass mit dem Namen Gregor beide gemeint sein können. Nach Nennung des Athanasius leitet Hilarius von Poitiers bereits in den lateinischen Bereich über; das verbindende Merkmal ist beider Kampf gegen den Arianismus, der sie zu causae socios / Genossen in (derselben) Streitsache macht. Hilarius erscheint somit zweimal in diesem Gedicht, zugleich eröffnet er hier eine Viererreihe von Kirchenvätern, die auch im Brief des Venantius Fortunatus an Martin von Braga erscheint145 und dort einem Kanon von paganen Philosophen, nämlich Plato, Aristoteles, Chrysipp und Pittacus gegenübergestellt wird. Der einzige Unterschied besteht darin, dass in diesem Brief anstelle des Hieronymus der hier bereits zuvor erwähnte Gregorius genannt wird. Venantius Fortunatus bleibt diesmal also ganz im lateinischen Bereich und wählt die letzten drei Vertreter im Hinblick auf stilistische Qualitäten. Mit dem Bild des 144 Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 1, 49–62, lateinischer Text nach REYDELLET, II, 126. 145 Venantius Fortunatus, Carm., V, 1, 7 (bei REYDELLET, II, 11).

3.2.1. Die Proömien

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Gewitters, das in Donner und Blitz aufgespalten wird (Ambrosius für Donner und Hieronymus für Blitz) wird auf die Formulierung facundo tonitru / mit redegewandtem Donner am Anfang des Gedichtes Bezug genommen. Dort ist es als Bild für Redegewandtheit (in der Predigt) des Paulus und Petrus verwendet.146 Durch diesen Rückbezug erscheinen Ambrosius und Hieronymus in einer Reihe mit Paulus und Petrus, während Augustin durch die Formulierung Augustinus fonte fluente rigat / Augustin aus fließender Quelle benetzt sogar mit Vergil, Homer und den Wassern der kastalischen Quelle147 in Zusammenhang gebracht wird. Könnte man meinen, dass Augustin aufgrund dieser Rückbezüge den Höhepunkt der Reihe bildet, überraschen die folgenden Namen. Dabei kann die Lebenszeit nicht das Ordnungskriterium gebildet haben, denn nur Sedulius und Caesarius von Arles stammen aus fünften bzw. frühen sechsten Jahrhundert, während Orosius ein Zeitgenosse Augustins ist. Caesarius von Arles schlägt den Bogen zur monastischen Lebensweise und steht deshalb am Ende, weil Radegunde seine Regel, die hier ausdrücklich erwähnt wird, in ihrem Kloster eingeführt hat.148 Auch der am Anfang der Reihe erwähnte Basilius ist der Verfasser einer Klosterregel, genauso wie mit Hieronymus und Augustin zwei Verfasser von Klosterregeln in der Mitte stehen, so dass sich ein zusätzlicher Bezug zur monastischen Lebensweise ergibt. Bei den anderen genannten Vertretern handelt es sich um Archegeten spezifisch christlicher Gattungen im lateinischen Bereich: Sedulius verfasste sein Carmen paschale als opus geminum in Vers und Prosa und Orosius steht mit seiner Chronik am Anfang christlicher Universalgeschichte. Neue Wege (zumindest in der lateinischen Literatur) beschritten auch die vorher genannten Autoren, nämlich Ambrosius in der Hymnendichtung, Hieronymus in der Bibelübersetzung und Augustin in seinen Confessiones und in De civitate dei. Im Argumentationszusammenhang der Passage geht es darum, dass Radegunde gerade mit diesen Autoren ihren Geist nährt, denen nicht nur inhaltlich, sondern auch auf literarischem Gebiet (ausdrücklich von Ambrosius, Hieronymus und Augustin gesagt), in den jeweiligen Gattungen, in denen sie sich betätigt haben, ein besonderer Rang zukommt. Damit wird sie aber als jemand präsentiert, der ein besonderes Maß an christlich literarischer Bildung besitzt, welche sich nicht allein nicht auf den lateinischen Bereich beschränkt. Und die Betonung dieser umfassenden christlich literarischen Bildung steht hier am Ende eines Abschnittes, der Radegunde in eine Tradition mit christlichen Klostergründerinnen und Heiligen stellt und ihre Tugenden in diesem Zusammenhang herausstreicht. Daraus ergibt sich die Frage, welcher Wert einer solchen christlich literarischen Bildung zugemessen wird und in welchem Verhältnis dieser Kanon zum ersten Kanon paganer und christlicher Autoren steht. Möglicherweise lässt sich diese Frage leichter beantworten, wenn man zunächst klärt, an wen dieses Gedicht eigentlich gerichtet ist.

146 Vers 9f. Vgl. dazu die entsprechenden Ausführungen weiter oben in diesem Kapitel. 147 Vers 6; 4; 1 & 2. 148 Vgl. dazu die entsprechenden Ausführungen in Kapitel 1. 2. 2 dieser Arbeit.

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3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

Schlussteil Die Adressaten werden in den letzten Versen noch einmal angesprochen, so dass es sinnvoll erscheint, diese etwas genauer in den Blick zu nehmen. Nach einer Überleitung, die in Form einer praeteritio die Tugenden der Radegunde preist und Gott zum Zeugen aufruft, wendet sich Venantius Fortunatus wiederum an den nicht näher bestimmten Adressatenkreis: Cetera nunc taceam, melius quia teste Tonante iudicioque Dei glorificanda manent.

Das übrige will ich verschweigen, weil es mit dem Donnerer als Zeugen und nach Gottes Urteilsspruch verbleibt, um verherrlicht zu werden. 149 Cui sua quisque potest sanctorum carmina Wer es auch immer von den heiligen Dichtern uatum 65 es vermag, soll seine Lieder 65 mittat in exiguis munera larga libris. ihr schicken, in kleinen Büchern, geringe Gaben. Se putet inde Dei dotare manentia templa Es soll glauben, dass er dadurch die bleibenquisquis ei uotis scripta beata ferat. den Tempel Gottes ausstattet, Wer auch immer nach seinen Gelübden selig machende Schriften bringt. Haec quoque qui legitis, rogo, reddite uerba Ihr auch, die ihr dies lest, bitte ich, schickt salutis; Worte des Grußes, nam mihi charta leuis pondus amoris erit.70 Denn ein leichter Brief wird mir der Liebe Gewicht haben. 70150

In Verbindung mit dem Anfang erscheint hier das ganze Gedicht als poetischer Brief. Es ist vermutet worden, dass es sich um eine Art Rundbrief handelt, der um Bücher für die Klosterbibliothek in Poitiers bitten sollte.151 Damit läge ein konkreter Anlass für die Abfassung des Gedichtes vor und auch die panegyrische Betonung der literarischen Bildung Radegundes innerhalb dieses Gedichtes wäre so leicht zu erklären. Allerdings wird Radegunde zuvor, wie die Analyse gezeigt hat, in einen Kanon christlicher Klostergründerinnen bzw. von heiligen Frauen gestellt, die jeweils für eine Tugend stehen, die mit der monastischen Lebensweise verbunden sind. Dadurch erhält das Lob Radegundes allein vom Umfang her ein besonderes Gewicht, das für die Bitte um Bücher nicht unbedingt so breit ausgerollt werden müsste. Hinzukommt, dass, wenn es sich wirklich um eine Aufforderung dem Kloster Bü149 Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 1, 63f., lateinischer Text nach REYDELLET, II, 127: Interessanterweise wird hier Gott zunächst als Tonans bezeichnet, an sich ein Beiwort Jupiters, siehe OLD s. v., das auf den christlichen Gott übertragen wurde. Die Bezeichnung als Donnerer / tonans weist aber wieder auf facundo tonitru / mit redegewandtem Donner (Vers 9) und tonat Ambrosius / donnert Ambrosius (Vers 57) zurück. 150 Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 1, 65–70, lateinischer Text nach REYDELLET, II, 127. 151 So sieht es zuletzt REYDELLET, II, 127 Anm. 7; gegen diese Interpretation schon MEYER, Der Gelegenheitsdichter Venantius Fortunatus, 109.

3.2.1. Die Proömien

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cher zu schicken handelte, es allein um Bibeltexte (so müsste dann scripta beata interpretiert werden) und Prophetenbücher ginge (sua ... sanctorum carmina vatum müsste dann als Prophetenbücher, die sich im Besitz der Angeschriebenen befinden, gedeutet werden). 152 Wenn Radegunde aber griechische und lateinische Kirchenväter liest (und diese dann wohl im Kloster vorhanden sind) ist es äußerst unwahrscheinlich, dass der Klosterbibliothek gerade Bibeltexte fehlen. Zudem mutet der Musenbezug ganz zu Anfang etwas seltsam an. Daher lässt sich vermuten, dass es wohl eher um selbst verfasste Gedichte zum Lobe der Radegunde geht. Nicht nur durch ihre Tugenden, sondern auch durch ihre christlich literarische Bildung liefert sie das, was normalerweise Musen und kastalische Quelle liefern, nämlich den Stoff für die Dichtung. Radegunde wird damit gleichsam zur Muse. Mit dem Fehlen der Spezifizierung des Adressatenkreises bleibt ihre Rolle nicht auf die einer persönlichen Muse beschränkt, die allein für den Dichter Venantius Fortunatus Quelle der Inspiration seiner Dichtung ist, obwohl er sich selbst an einer Schlüsselstelle nach dem ersten literarischen Kanon nennt.153 Durch die Aufforderung an andere, gebildetere Dichter, Gedichte zum Lobpreis der Radegunde zu schicken, und die Anfangsstellung des Gedichtes im achten Buch, das in besonderem Maße Gedichte des Venantius Fortunatus an oder auf Radegunde enthält, wird ihre Stellung jeder persönlichen Sphäre enthoben. Es stellt sich hier die Frage, ob diese Sicht der Radegunde gleichsam als Muse nur singulär auftritt oder ob es Parallelen dazu im übrigen Werk des Dichters gibt. Diese Frage lässt sich durch einen Vergleich mit dem Widmungsbrief an Agnes und Radegunde am Anfang der Vita sancti Martini klären. Exkurs: Vergleich mit dem Widmungsbrief in der Vita sancti Martini Die Vita sancti Martini des Venantius Fortunatus enthält neben dem Widmungsbrief an Gregor von Tours, in dessen Auftrag das Werk entstanden ist, einen Prolog, der an Agnes, die von Radegunde eingesetzte Äbtissin des Klosters von Poitiers,154 und Radegunde gerichtet ist. Nach einem breit angelegten Selbstvergleich mit einem unerfahrenen Seemann, der in unruhiger See völlig erschrocken und ängstlich das Ruder aus der Hand verliert und, weil er der Kunst, ein Schiff zu steuern, unkundig ist, von der Gewalt des Wassers besiegt daliegt, 155 spricht er Agnes und Radegunde an: 152 153 154 155

Siehe dazu MEYER, Der Gelegenheitsdichter Venantius Fortunatus, 109. Vers 11. Vgl. dazu die entsprechenden Ausführungen in Kapitel 2. 2. 2. dieser Arbeit. Venantius Fortunatus, Vita sancti Martini, Prologus ad Agnem et Radegundem, 1–24, S. 4f. bei QUESNEL. Zur Seefahrtsmetaphorik in Proömien vgl. JANSON, Latin Prose Prefaces, 146f. Ausführlich zu der Schifffahrtsmetaphorik und ihre Wiederaufnahme im Binnenproöm des zweiten Buches des Martinsepos siehe M. VIELBERG, Der Mönchsbischof von Tours im Martinellus. Zur Form des hagiographischen Dossiers und seines spätantiken Leitbilds. Berlin / New York 2006, 77–79. Einen vergeleichenden Überblick über die dichterischen Umarbeitungen der Martinsvita des Sulpicius Severus durch Venantius Fortunatus und Paulinus

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3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

Sic ego de modicis minimus, uenerabilis Agnes, So werde ich, der geringste von den UnbedeuCum Radegunde sacra quas colo sorte pia. tenden, verehrungswürdige Agnes, und heilige Radegunde, die ich in frommer Liebe verehre, tendere pollicitum quia cogor ad ardua weil ich gezwungen werde, wie versprochen, gressum, den Schritt in schwieriges Gelände zu lenken, imperiis tantis, uiribus impar, agor. 30 hin und her gerissen durch einen so gewaltigen Auftrag, dem ich an Kräften nicht gewachsen bin. 30 Fluctuat ingenium cui non natat unda Umher treibt nämlich mein Ingenium, das nicht Camenae, die Woge der Muse bespült, sensus harenosus non rigat ore lacus. und im Mund bewässert der versandete See nicht meine Sinne. Nam celsum meritis Martinum ad sidera notum, Denn über den durch seine Verdienste bis zu Cum sint uota mihi, non ualet arca loqui. den Sternen bekannten Martin zu sprechen, vermag, obwohl es mein Wunsch ist, das Schatzkästlein (meiner Fähigkeiten) nicht. Poscendum est uobis, ne naufraga prora Damit es keinen Schiffbruch erleidet, muss von laboret, 35 Euch erbeten werden, 35 flatibus ille suis ut mea uela iuuet. das jener mit seinem Wind meine Segel bläht. Credere tunc potero ad portum mea carbasa Dann werde ich glauben können, dass meine ferri, Segel zum Hafen eilen, adspirante fide, si sua flabra fauent. während der Glaube mir hilft, wenn seine Winde günstig sind. Ferte precanter opem et de Verbo poscite Bringt im Gebet Hilfe und erbittet Worte vom uerba: (lebendigen) Wort: si fons ille rigat, riuulus iste meat. 40 Wenn jene Quelle es bewässert, wird mein Bächlein fließen. 40 Vos date quod uobis cum fenore reddat Gebt, was Euch der gütige Gott mit Zinsen alumnus, zurückgeben möge, Addam ut thesauris parua talenta suis. Dass ich seinen Schätzen mickrige Talente hinzufüge.156

Die Musen, wie im Eröffnungsgedicht des achten Buches157 mit dem lateinischen Begriff Camenae bezeichnet, geben dem Dichter nicht die nötige Inspiration für das Werk, das er sich vorgenommen hat. Anstelle der Wasser der kastalischen Quelle hat er nur einen vertrockneten See zur Verfügung. Der Topos des unerfahrenen Seemanns, der zuvor als Bild stilistisch elegant entfaltet wurde, passt hier von Périgueux gibt M. PUTNA, Dichterische Umarbeitungen der „Vita Martini“ des Sulpicius Severus: Paulinus von Périgueux und Venantius Fortunatus, GLP 20 (2004), 153–161. 156 Venantius Fortunatus, Prologus ad Agnem et Radegundem, 27–42, lateinischer Text nach QUESNEL, 5. 157 Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 1, 1.

3.2.1. Die Proömien

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genau in die Situation des Venantius Fortunatus: Die Großform des epischen, hexametrischen Gedichtes in mehreren Büchern ist für Venantius Fortunatus tatsächlich neu. Um nun die Inspiration und Kraft für ein Werk dieser Größenordnung und dieses Stoffes zu erlangen, wendet der Dichter sich an Radegunde und Agnes. Ihnen kommt dabei eine doppelte Funktion zu, wenn sie einerseits bei dem heiligen Martin, andererseits bei Gott selbst eben diese Inspiration und Kraft für Venantius Fortunatus erbitten sollen. Zwar liefern sie ihm nicht selbst die Inspiration für die rechte Behandlung des Stoffes158 (anders als Radegunde im Eröffnungsgedicht des achten Buches), was thematisch auch unpassend wäre, da Radegunde und ihr Kloster in Poitiers in keinem Zusammenhang mit dem heiligen Martin von Tours stehen; indirekt aber sind sie genau dafür zuständig, denn ihre Vermittlung bei Martin und Gott ist dazu erforderlich, dass Venantius Fortunatus die notwendige Inspiration vom heiligen Martin und Gott selbst erhält. Deshalb werden sie sogar dreimal direkt um ihre Unterstützung gebeten.159 Und obwohl die Inspiration eigentlich von Martin und Gott als uerbum / Wort ausgeht, sind es doch Radegunde und Agnes, die hier die Musen ersetzen, wobei sie anders als die Musen bei Hesiod den Dichter nicht beauftragen, von der göttlichen Ebene zu singen,160 sondern – ganz im christlichen Sinne – die notwendige Mittlerrolle übernehmen. Damit erweitert Venantius Fortunatus auch hier rhetorische Topoi: Zwar tritt anstelle der Bitte um Beistand der Musen im christlichen Kontext häufig die Bitte an Gott,161 ferner kann auch eine Person, wie der Kaiser, im Panegyrikos diese Funktion übernehmen, doch hier sind es Agnes und Radegunde, die wie christliche Heilige agieren, indem sie ihren Beistand in Form der Fürbitte geben sollen. c) Zusammenfassung Im Eröffnungsgedicht des achten Buches ist also Radegunde nicht nur zwischengeschaltet. Das Gedicht nimmt seinen Ausgang bei den Musen, welche die Quelle der Inspiration für diejenigen darstellen, an die das Gedicht gerichtet ist.162 Diesen Adressaten stellt sich der Dichter selbst mit dem programmatischen Fortunatus ego / ich Fortunatus gegenüber,163 den Musen Radegunde entgegen, von der die letzten 158 Es ist Martin von Tours, der Gegenstand der Martinsvita, der die Segel blähen soll (Vers 36); der Begriff fons / Quelle, in Carmen VIII, 1 für Vergil gebraucht, erscheint hier für das göttliche uerbum, den lÒgoj, Vers 40. 159 Vers 35: Poscendum est vobis / von Euch muss erbeten werden; Vers 39 Ferte precanter opem et de Verbo poscite uerba / Bringt im Gebet Hilfe und erbittet Worte vom (lebendigen) Wort; Vers 41: Vos date quod uobis cum fenore reddat alumnus / Gebt, was Euch der gütige Gott mit Zinsen zurückgeben möge. Dass es um die Inspiration geht, macht Vers 38 deutlich, wo in der Formulierung adsprirante fide / während der Glaube mir zuweht (hilft) ein Terminus technicus fällt, vgl. Ovid, Metamorphosen I, 2f. ...di coeptis...adspirate meis / Götter, weht zu, helft meinem Beginnen, dort auf die Götter bezogen. 160 Vgl. Hesiod, Theogonie, Vers 33. 161 Vgl. dazu JANSON, Latin Prose Prefaces, 144f. 162 Venantius Fortunatus, Vita sancti Martini, Prolog an Agnes und Radegunde, Vers 1: die äonischen Camenen. 163 Vers 11.

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3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

fünfzig Verse des Gedichtes handeln.164 So wie Martin in der Vita sancti Martini durch Radegundes Vermittlung die Inspiration für das Werk liefern soll, so ist es hier, wie die Analyse des Gedichtes gezeigt hat, Radegunde, die Inspiration und Stoff für Gedichte liefern soll. Venantius Fortunatus bringt insofern zum Schluss eine überraschende Wendung, als dass er sich selbst zurücknimmt und von den Adressaten Gedichte für Radegunde erbittet: Er selbst hat allerdings mit diesem Carmen ein solches Gedicht verfasst, hier hat also für ihn Radegunde die Rolle einer Muse übernommen.165 Die Wendung an die Adressaten zu Ende des Gedichtes lässt sich so als eine Aufforderung interpretieren, es ihm gleich zu tun und somit den Kreis der Verehrer Radegunde auszuweiten. Damit wäre aber Radegunde nicht mehr nur für Venantius Fortunatus Quelle der Inspiration, sondern auch für diejenigen, die ihr ihre Gedichte schicken. Hier erscheint sie also auf einer allgemeinen Ebene als Muse. Fragt man nach einem konkreten Anlass für dieses Gedicht, so ist die Möglichkeit, dass es sich lediglich um eine Aufforderung, dem Kloster Psalmen und Bibeltexte zu schicken, zwar gegeben, da die von Radegunde eingeführte Caesarius Regel die Lektüre religiöser Schriften zur monastischen Aufgabe erhoben hat, bildet aber meines Erachtens wohl nicht das eigentliche Sujet des Gedichtes.166 Koebners Interpretation, in der das Gedicht in Zusammenhang mit der Überführung der Kreuzesreliquie aus Byzanz gebracht wird und um Hymnen auf das Kreuz von Seiten byzantinischer Dichter bittet,167 hat ebenfalls ihre Schwachpunkte, vor allem darin, dass sie nicht erklärt, warum es in mehr als zwei Dritteln des Gedichtes ausschließlich um Radegunde geht. Außerdem ist es nur schwer vorstellbar, dass es am Hofe in Byzanz genügend Dichter gab, die in der Lage waren, Hymnen auf die Kreuzesreliquie zu verfassen, die im Poitiers hätten gesungen werden können, da diese Hymnen in lateinischer Sprache abzufassen gewesen wären. Andererseits stellen die Betonung literarischer Gesichtspunkte und die drei Kanones, von denen zwei Dichter bzw. Schriftsteller behandeln, das Gedicht eindeutig in einen literarischen Zusammenhang. Dass es in der Sammlung am Anfang des achten Buches steht, deutet ebenfalls in diese Richtung. Freilich gibt es nirgendwo in diesem Gedicht einen Hinweis darauf, dass Radegunde bereits gestorben ist, im Gegenteil: Die durchgehende Verwendung des Präsens, wenn es um Radegunde geht, lässt darauf schließen, dass das Gedicht noch zu ihren Lebzeiten abgefasst ist. Dies ist insofern von Bedeutung, als das achte Buch auch Gedichte enthält, die eindeutig nach dem Tode der Radegunde entstanden sind.168 Wenn es sich dabei nicht um spätere Einfügungen in das Buch handelt, spricht das gegen eine Abfas164 Vers 21–70. Vgl. die entsprechenden Ausführungen zu Beginn dieses Kapitels. 165 Venantius Fortunatus verwendet für sein Verhältnis zu Radegunde die Formulierung: Martinum cupiens uoto Radegundis adhaesi / Martin begehrte ich aufgrund eines Gelübdes und bin nun Anhänger der Radegunde, wobei adhaerere ein Terminus technicus für eine Anhängerschaft eines Gottes ist (siehe OLD s. v.). Man bedenke, dass auch die Philosophenschulen in Athen als Kultgemeinschaft für Musen bzw. einen Gott organisiert waren. 166 Vgl. die entsprechenden Ausführungen weiter oben in diesem Kapitel. 167 Siehe KOEBNER, Venantius Fortunatus, 134f. 168 Z. B. Carmen VIII, 12 & 12a.

3.2.1. Die Proömien

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sung, die unmittelbar vor Herausgabe des zweiten Teils der Gedichtsammlung geschehen ist. Allerdings wäre ein zweiter Teil der Gedichtsammlung, der sich in erster Linie der Radegunde widmete, für die Stärkung der Stellung ihres Klosters in Potiers gegenüber dem Hilariuskult und in den Auseinandersetzungen mit dem Ortsbischof Merovech sicher hilfreich gewesen,169 so dass von daher eine bereits ursprüngliche Funktion als Proömium für eine Sammlung von Gedichten, die sich vornehmlich mit Radegunde und dem Kloster in Poitiers befassen, durchaus denkbar ist. Dann wäre die Veröffentlichung aber erst nach ihrem Tode und in erweiterter Form geschehen. Was läst sich nun für das dichterische Selbstverständnis des Venantius Fortunatus nach der Analyse der Proömien festhalten? Trotz einer gewissen Bescheidenheitstopik stellt er sich selbst in einem literaturgeschichtlichen Zusammenhang. Diese Tradition wurzelt im griechischen Bereich der paganen Literatur, geht dann nach Nennung der paganen Meister lateinischen Sprache über zu einer spezifisch christlichen Literatur, die zumindest im formalen Bereich in Kontinuität mit der paganen steht. Sie hat allerdings andere Inhalte, für welche die Nennung von Christus, Paulus und Petrus170 (aufgrund ihrer Predigt) charakteristisch ist. Durch die christlichen Inhalte erhält diese literarische Tradition ein neues, höherwertiges Sujet. Bei Venantius Fortunatus ist nicht in erster Linie die Predigttätigkeit entscheidend; seinen Stoff liefern herausragende christliche Gestalten wie Martin von Tours oder Radegunde und letztere fungiert dabei gleichsam als Muse.

169 Zu den Konflikten mit dem Stadtbischof Maroveus vgl. die entsprechenden Ausführungen in Kapitel 2. 1. 2. dieser Arbeit. 170 Siehe Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 1, 8–10.

3.2.2. Panegyrisches auf Personen und Gebäude (Carmen VI, 1; II, 10) Allgemeine Vorbemerkungen Ein großer Teil der Carmina des Venantius Fortunatus, die zu einer speziellen Gelegenheit entstanden sind, ist an einen spezifischen Adressaten gerichtet, der meist der hohen Geistlichkeit oder dem hohen Adel zugerechnet werden muss. Adressat und Anlass ordnen diese Carmina der panegyrischen bzw. enkomiastischen Dichtung zu. Bei Venantius Fortunatus sind dabei vor allem zwei Typen von Gedichten zu unterscheiden, Carmina, die eine Person zum Thema haben, und solche, die der Selbstrepräsentation dienen, indem sie eine Kirche oder eine Basilika über einem Heiligengrab feiern und damit das Werk des Stifters bzw. des Restaurators eines bestehenden Heiligtums hervorheben. Im Hinblick darauf, dass beide Typen letztlich einen panegyrischen Hintergrund haben, wird in diesem Kapitel nur rein äußerlich nach Gedichten auf Personen und Gedichten auf Gebäude differenziert. Während diese Gedichte bisher vorwiegend unter historischen Aspekten untersucht wurden,1 soll hier die literarische Seite im Vordergrund stehen. Venantius Fortunatus konnte auf eine reiche antike und spätantike Tradition panegyrischer Dichtung zurückblicken, die im lateinischen Bereich in besonderem Maße durch die Dichtungen eines Statius in paganer oder eines Claudian in christlicher Zeit repräsentiert werden. 2 Wenn auch die panegyrischen Dichtungen innerhalb seines poetischen Werkes vielleicht die stärkste Anbindung an die Tradition zeigen, so setzt Venantius Fortunatus doch auch hier eigene Akzente. Dies lässt sich exemplarisch durch die Analyse der folgenden Gedichte demonstrieren. Ausgewählt sind vier Beispiele der Kasuallyrik des Venantius Fortunatus, die vom Anlass her unterschiedlichen Subgattungen zurechnen sind. Als erstes Beispiel dient das Hochzeitsgedicht auf Sigibert und Brunichilde (Carmen VI, 1), das dem Genos des epithalamium zurechnen ist. Epithalamien dienen aber traditionell dem Lobpreis von Braut und Bräutigam, Claudian nutzt sein epithalamium auf Honorius außerdem dazu, auch den Schwiegervater der Braut Stilicho enkomiastisch herauszustellen. Beim zweiten Beispiel (Carmen II, 10) bildet die Kathedrale von Paris das Sujet. Könnte man es gattungstheoretisch mit Architekturgedichten und Stifterlob in Zusammenhang bringen, so lassen sich gerade hier die eigenen Akzente, welche Venantius Fortunatus setzt, besonders deutlich exemplifizieren. Doch zunächst zum epithalamium auf Sigibert und Brunichilde.

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Die Beziehung zwischen dem Dichter und einflussreichen Persönlichkeiten der Merowingerzeit, soweit sie sich im Werk des Venantius Fortunatus spiegeln, untersucht ausführlich J. W. GEORGE, Venantius Fortunatus. A Latin Poet in Merovingian Gaul, Oxford 1992. Zur kaiserzeitlichen Panegyrik vgl. M. MAUSE, Die Darstellung des Kaisers in der lateinischen Panegyrik (Palingenesia 50), Stuttgart 1995.

3.2.2. Panegyrisches auf Personen und Gebäude

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3.2.2.1. Carmen VI, 1 Allgemeine Vorbemerkungen Das epithalamium auf die Hochzeit von Sigibert und Brunichilde (566)3 steht nicht nur am Anfang der dichterischen Tätigkeit des Venantius Fortunatus im Frankenreich. In diesem Gedicht, das seinen dichterischen Ruhm dort begründete und wohl auch begründen sollte, ordnet sich Venantius Fortunatus ganz in die literarische Tradition ein: Diese Tradition reicht von den Epithalamien der äolischen Lyrik bis in die gallo-römische Tradition. Es erscheint daher sinnvoll, neben der Berücksichtigung der grundsätzlichen Spezifika der Gattung und ihrer theoretischen Fundierung, wie sie sich vor allem bei Menander Rhetor findet, Autoren zum Vergleich heranzuziehen, die zeitlich von Venantius Fortunatus nicht allzu sehr entfernt sind, da sich die Frage von „Traditionalität“ und „Modernität“ vor allem im Vergleich mit direkten Vorgängertexten beantworten lässt. In diesem Falle sollen als Vertreter des epithalamium in der Spätantike vor allem Claudian4 und Sidonius Apollinaris,5 der wie Venantius Fortunatus ebenfalls in Gallien wirkte, herangezogen werden. Doch zunächst einige grundsätzliche Bemerkungen zum Genos des epithalamium:6 Ursprünglich das Lied, das vor der Tür des Brautgemachs gesungen wurde, nachdem dort Bräutigam und Braut eingezogen sind (auch als Hymenaios, seit hellenistischer Zeit als Epithalamion bezeichnet) und in lyrischen Maßen oder im Hexameter verfasst, konnte es in späterer Zeit auch andere Elemente enthalten, die zur Hochzeitsfeier gehörten. So beziehen sich auch die erhaltenen Fragmente von Sappho auf den ganzen Hochzeitstag. Bei Sappho sind ebenfalls bereits die wichtigsten Motive angelegt: Preis von Bräutigam und Braut, 7 sowie Wünsche für Nachtruhe und Nachkommenschaft.8 Durch die Preisung der Brautleute ergibt sich eine Nähe zur Enkomiastik, das letzte Motiv kann je nach Adressat im Sinne eines dynastischen Elementes ausgestaltet werden. Für die spätantike Entwicklung der Gattung im lateinischen Bereich kommt Statius’ epithalamium auf Stella und Violentilla9 Vorbildcharakter zu, wo eine dialogische Partie zwischen Venus und Amor die zentrale Passage ausmacht. Sowohl Claudian als auch Sidonius Apollinaris orientieren sich an diesem Vorbild. Beide Autoren können aber ebenso wie Venantius 3 4

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Venantius Fortunatus, Carm., VI, 1. Zum Vergleich bietet sich hier an: Claudian, Epithalamium de nuptiis Honorii Augusti (Carmina maiora 9 & 10 bei BIRT, MGH, AA, 10, 125–139). & Epithalamium dictum Palladio V. C. Tribuno et Notario et Celerinae (Carmina minora 25 bei BIRT, MGH, AA, 10, 301–307). Hier bieten sich von Sidonius Apollinaris, Carm., 10 & 11 (bei LUETJOHANN, MGH, AA, 8, 226–230) in besonderer Weise zum Vergleich an. Allgemein zum Epithalamion bzw. Hymenaios siehe J. N. BREMMER & E. ROBBINS, Hymenaios, in: Der neue Pauly, Bd. 5 (1998), Sp. 785–788. Frg. 128, 116a und 120 Diels. Vgl. Frg. 134 Diels. Statius, Silvae, I, 2.

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3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

Fortunatus auf eine rhetorische Tradition zurückgreifen, die das epithalamium oder griechisch den e)piqala/mioj lo/goj unter die Gattung der epideiktischen Rede subsumierte. An der Verwendung griechischer rhetorischer Fachtermini zeigt sich deutlich, dass Venantius Fortunatus mit der entsprechenden Theorie vertraut war. Für uns ist sie noch in den Traktaten des Menander Rhetor, einem Autor aus dem dritten nachchristlichen Jahrhundert greifbar. So unterscheidet Menander Rhetor verschiedene Teile im ordo: ¸O e)piqala/mioj le/getai u(po/ tinwn kaiì

Das Epithalamium wird von manchen auch gamh/lioj, lo/goj d' e)stiìn u(mnw½n qala/ - als Hochzeitsrede bezeichnet, es ist nämlich mouj te kaiì pasta/daj kaiì numfi¿ouj kaiì eine Rede, welche Gemächer, Brautgemächer ge/noj, kaiì pro/ ge pa/ntwn au)to\n to\n und Brautleute rühmt und auch ihre Herkunft qeo\n tw½n ga/mwn: xai¿rei de\ dihgh/masin und vor allem den Hochzeitsgott selbst: Er e)pafrodi¿toij te kaiì e)rwtikoiÍj: tau=ta erfreut sich aber an aphroditischen erotiga\r oi¹keiÍa tv= u(poqe/sei. schen Erzählungen: Diese sind nämlich dem Thema verwandt. metexeiri¿santo de\ to\ eiådoj oi¸ me\n Diese Gattung handhaben die einen in einer sunto/nwj, oi¸ de\ suggrafikw¯teron, kaiì einfachen Form, die anderen in einer poetidh=lon oÀti o( me\n su/ntonoj sune/straptai scheren Weise. Offenbar ist die eine Form lo/goj aÀte politikw½j proi+wn ¯ , kaiì eÀcei einfach, weil sie wie die politische Rede vorta\j a)reta\j tou= politikou= lo/gou progeht, und sie wird die Qualitäten der politioi¿mia/ te e)gkateskeuasme/na, schen Rede aufweisen, wie elaborierte ProöhÄ me/geqoj periqh/seij tv= u(poqe/sei auÃcwn mien, in denen du entweder dem Thema Gröau)th\n a)po\ tw½n prosw¯pwn tw½n zeugnuße verleihst, indem du es erhabener gestaltest me/nwn, aÄn wÕsin oi¸ numfi¿oi tw½n e)nvon den Personen der Brautleute her, wenn do/cwn, hÄ th\n ai¹ti¿an e)n au)toiÍj e)reiÍj, sie aus vornehmer Familie stammen, oder di' hÁn parelh/luqaj e)piì to( le/gein...10 darin den Grund nennst, weswegen du dazu gekommen bist, eine Rede zu halten... ...eÃsti de/ pote e)n a)ne/t% lo/g% kaiì a)po\ ...Es ist aber möglich, in der freieren (und dihgh/matoj aÃrcasqai a)nu/onta/ ti dia\ poetischeren) Form mit einer Erzählung zu tou= dihgh/matoj tw½n proeirhme/nwn beginnen, dabei aber in dem zuvor genannten e)nnoiw½n, oiâon ei¹ le/goij oÀti gamou=ntoj Gedankengang zu bleiben, z. B. wenn du Dionu/sou th\n ¹Aria/dnhn parh=n erzählst, dass der junge Apollo bei der Hocho( ¹Apo/llwn ne/oj wÔn kaiì th\n lu/ran zeit von Dionysos und Ariadne anwesend war eÃplhtten: hÄ oÀti Phle/wj gamou=ntoj und die Lyra spielte oder dass bei der Hochparh=san me\n aÀpantej oi¸ qeoi¿, prosh=san zeit von Peleus und Thetis alle Götter zugede\ Mou=sai, kaiì ou)k h)me/lei tw½n gen waren, aber auch die Musen und jeder paro/ntwn eÀkastoj pre/pousan au(t%½ der Anwesenden sorgsam darauf bedacht war, dwrea\n xari¿zesqai t%½ ga/m%, a)ll' für die Hochzeit die passende Gabe zu scheno( me\n e)di¿dou dw½ra, o( de\ eÃplhtte ken, aber der eine Geschenke darbrachte, der lu/ran, ai¸ de\ huÃloun, ai¸ de\ vÅdon, ¸Ermh=j andere aber die Lyra spielte, die einen zur de\ e)kh/rutte to\n u(me/naion: o(rw½ de\ kaiì Flöte spielten, die anderen sangen, Hermes 10

Menander Rhetor, Peri epideiktikon, 399, griechischer Text nach RUSSELL / WILSON, Oxford 1981, 134.

3.2.2. Panegyrisches auf Personen und Gebäude

nu=n par' h(miÍn skirtw½sin,

oÀmoia. kaiì ga\r oi¸ me\n

oi¸ de\ a)neua/zousin,

e)gwÜ de\

le/gw kaiì #Ãdw tou\j ga/mouj...11

223

aber die Hochzeit verkündete: „Ich sehe aber auch nun bei uns Ähnliches: Die einen sind ausgelassen, die anderen jubeln, ich aber spreche und singe von der Hochzeit...

Auf das Proöm soll eine allgemein reflektierende Passage folgen: Kaiì periì me\n prooimi¿wn tosau=ta: dw¯sei ga\r

h(miÍn

h( u(po/qesij pro\j ta\ to/te

paro/nta

pro/sfora

e)nnoi¿aj kaiì

a)lhqeste/raj

ma=llon

iãswj

oi¹kei¿aj:

ta\ de\ meta\ ta\ prooi¿mia eÃstw periì tou= qeou= tou= ga/mou kaqo/lou kalo\n

th\n

lo/goj wÐsper e)ce/tasin

o( ga/moj,

meta\ th\n

qetiko\j

perie/xwn

oÀti

aÃrcv de\ aÃnwqen,

lu/sin

tou=

xa/ouj

oÀti

eu)qu\j

u(po\ th=j fu/sewj e)dhmiourgh/qh o( ga/moj, ei¹ de\

bou/lei,

w¨j

¹Empedoklh=j fhsi,

kaiì eÃrwj. geno/menoj de\

o( qeo\j ouÂtoj

me\n

tv= gv=,

ou)rano\n

Kro/non

tv= ¸Re/#,

pro\j tau=ta

sunergou=ntoj

tou= eÃrwtoj:

e)reiÍj oÀti h( tw½n oÀlwn to\n

suna/ptei

suna/ptei

de\ au)t%½

eiåta e)fech=j

diako/smhsij dia\

ga/mon ge/gonen, a)er / oj, a)ste/rwn, qa-

la/sshj: tou= ga\r qeou= tou/tou th\n sta/sin pau/santoj kaiì suna/yantoj o(monoi¿# kaiì teletv= gamhli¿% to\n ou)rano\n pro\j th\n gh=n, aÀpanta diekri¿qh kaiì sta/sin oi¹kei¿an eÃlaben...12

Und soviel über die Proömien: Das Sujet wird uns nämlich bezüglich der dann herrschenden Situation treffendere Ideen liefern und vielleicht auch angemessenere. Der Teil nach dem Proöm soll eine Rede über den Hochzeitsgott sein, welche insgesamt eine Betrachtung darüber anstellt, wie schön die Hochzeit ist; du sollst aber weit zurückgreifen, dass die Hochzeit nach der Auflösung des Chaos sofort von der Natur erschaffen wurde wie auch der Eros, wenn du es willst, wie Empedokles sagt. Als dieser Gott aber geboren war, vermählte er den Himmel mit der Erde, vermählte Kronos mit Rhea, dabei half ihm aber der Eros: Danach wirst du aber sagen, dass entweder die Ordnung aller Dinge durch die Hochzeit entstanden ist, die der Luft, der Sterne, und die des Meeres: Denn dieser Gott beendete den Zwist und verband den Himmel mit der Erde in Eintracht und im ehelichen Ritus, und alles wurde unterschieden und nahm seine eigene Stellung an...

In diesen Abschnitt können nach Menander Rhetor erzählende Partien eingeflochten sein. Dann soll ein panegyrischer Teil folgen: Meta\ to\n periì tou= ga/mou lo/gon, e)n to\n

qeo\n

uÀmnhsaj, hÀceij e)piì ta\ tw½n

gamou/ntwn e)gkw¯mia. eirhme/na



pa/nta

koina\ de\ ta\ pro-

kaiì

r(hqhso/mena

tou= te sunto/nou kaiì tou= a)ne/tou lo/gou, dioi¿sousi de\ t%½ xarakth=ri a)paggeli¿aj: ta\

11 12

mo/n% th=j

toiau=ta e)gkw¯mia

Nach der Rede über die Hochzeit, in der du den Gott gerühmt hast, wirst du zum Lob der Brautleute kommen. Alles, was zuvor gesagt worden ist, und das, was noch gesagt werden wird, gilt gleichermaßen für die einfache wie freiere (und poetischere) Rede, sie werden sich allein im Charakter der Erzählung unter-

Menander Rhetor, Peri epideiktikon, 400, griechischer Text nach RUSSELL / WILSON, 136. Menander Rhetor, Peri epideiktikon, 400–401, griechischer Text nach RUSSELL / WILSON, 136 / 138.

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

224 ditth\n [d']

eÃxei th\n

me/qodon:

hÄ ga\r

scheiden: Für derartige Enkomien gibt es eine zweifache Methode: Entweder wirst du mh\ dokv=j to\ me\n e)lattou=n, to\ de\ auÃcein, die eine Familie mit der anderen zusammena)lla\ kata\ a)ntece/tasin proa/gwn to\n bringen – ohne eine Wertung abzugeben, lo/gon, oÀti oÀmoion o(moi¿% suna/ptetai: damit du die eine nicht herabzusetzen, die parakolouqeiÍ de\ t%½ eiãdei tou/t% a)sa/feia/ andere aber aufzuwerten scheinst, aber trotztij kaiì au)xmhro/thj dia\ th\n miÍcin, hÁn w¨j dem einen Vergleich anstellst, dass Ähnliches dunato\n fulattome/nouj xrh\ proa/gein mit Ähnlichem verglichen wird. Für diesen safhnei¿aj fronti¿zontaj. Teil ergibt sich aber eine gewisse Undeutlichkeit und Trockenheit durch die Vermischung, vor der man sich, so weit wie möglich, in Acht nehmen und auf Klarheit sinnen muss. hÄ ou) suna/yeij me\n ou)d' a)nteceta/seij, Oder du verbindest und vergleichst sie nicht, i¹di¿# de\ e)paine/seij pro/teron me\n to\ tou= sondern rühmst sie einzeln, zunächst aber die numfi¿ou, aÄn ouÀtw tu/xv, deu/teron de\ to\ Familie des Bräutigams, wenn es sich so th=j ko/rhj. deiÍ de\ zhteiÍn to\ e)n doco/teron trifft, danach die des Mädchens. Es ist aber e)n tou/toij toiÍj kairoiÍj kaiì tou=to pro- nötig, zu erforschen, welches die angeseheneta/ttein, ou)k e)ndiatri¿yeij de\ sfo/dra t%½ re Familie unter ihnen ist; nicht wirst du dich periì tou= ge/nouj lo/g% th\n tou= mh/kouj allzu sehr bei der Rede über die Familie a)hdi¿an profulatto/menoj kaiì t%½ mhd' aufhalten, weil du dich vor dem Überdruss e)pa/ggelma tou=to eÃxein th\n u(po/qesin, über die Länge hüten wirst und auch weil a)lla\ tou\j ga/mouj ma=llon kaiì th\n nicht dies das Thema ist, das du versprochen 13 pasta/da.... hast, sondern eher die Hochzeit und das Brautgemach... ge/noj ge/nei suna/yeij ou) sugkri¿nwn, iàna

Neben dem Lob der Familie steht das des Brautpaars: Tri¿toj to/poj e)stiìn o( a)po\ tw½n numfi¿wn, xarie/statoj d' aÄn ouÂtoj ge/noito ei¹ kata\ sumplokh\n

a)ntecetastikw½j

oÀti qauma/sioj de\ h(ko/rh, e)n

me\n

proe/lqoi,

o( neani¿aj, qaumasi¿a

paidei¿#

sofo\j ouÂtoj, e)n

lu/r#, kaiì e)n mou/saij ouÂtoj a)ri¿zhloj, e)kei¿nh de\ e)n semno/thti: ei¹ d' ou)k eÃxoij tou=to, le/ge, oÀti e)kei¿nh de\ e)n

ouÂtoj me\n e)n lo/goij,

i¸stourgi¿aij kaiì ¹Aqhna=j

kaiì Xari¿twn eÃrgoij.

kaiì aÃneu

13

me\n a)nteceta/sewj, kata\ sum-

Der dritte Topos ist aber der von den Brautleuten; er wird wohl am anmutigsten sein, wenn er einen wechselseitig verflochtenen Vergleich anstellt, dass der Jüngling bewundernswert ist und bewundernswert das Mädchen, er sich in seiner Bildung auszeichnet, hervorragend ist bei der Lyra und in den musischen Dingen, jene aber in ihrem ehrbaren Charakter: Wenn du dies nicht sagen kannst, sage, dass sich dieser in den Reden, jene in den Webarbeiten und den Werken der Athene und der Grazien auszeichnet. Und ohne wechselseitigen Vergleich geht es

Menander Rhetor, Peri epideiktikon, 402–403, griechischer Text nach RUSSELL / WILSON, 140.

3.2.2. Panegyrisches auf Personen und Gebäude

plokh\n de\ aÃllwj:

a)mfote/rwn

de\ ti¿j

ou)k aÄn ta\j a)reta\j e)paine/seie, kaiì th\n prosou=san

swfrosu/nhn,

kaiì th\n e)n-

upa/rxousan e)piei¿keian; dunato\n de\ kaiì i¹di¿# kaiì xwriìj e(ka/stou dielo/menon to\n eÃpainon

e)paineiÍn,

ka/lloj de\

par'

a)mfoiÍn kata\ a)ntece/tasin pa/ntwj: ou)x h(me\n

futw½n kalli¿st% e)lai¿#, o( de\ foi¿-

niki paraplh/sioj; kaiì oÀti o( me\n

r(o/d%

prose/oiken, h( de\ mh/l%. diagra/yeij de\ kaiì to\n neani¿an oiâoj i¹deiÍn, oiâoj o)fqh=nai, w¨j xari¿eij kaiì eu)pro/swpoj, w¨j i¹ou/loij

kata/komoj, w¨j aÃrti h(ba/skwn:

th=j parqe/nou de\ fula/cv dia\ ta\j a)ntipiptou/saj diabola\j ka/lloj e)kfra/zein, plh\n ei¹ mh\ suggenh\j eiãhj kaiì w¨j ei¹dwÜj a)nagkai¿wj piÍpton

lu/oij to\ a)nti-

t%½ le/gein "a)khko/amen tau=ta".14

225

bei der Verbindung aber auch anders: „Wer wird wohl ihrer beider Tugenden nicht loben, ihre Besonnenheit und den ehrenwerten Charakter, der in ihnen liegt. Es ist aber auch möglich, für sich allein und gesondert das Lob eines jeden zu behandeln, die Schönheit muss aber bei beiden stets in einem Vergleich behandelt werden: „Ist sie nicht dem Ölbaum, der schönsten aller Pflanzen, er aber der Dattelpalme ähnlich?“ „Und gleicht er nicht der Rose, sie aber dem Apfel?“ Und du wirst auch beschreiben, wie der Blick des Jünglings und wie er anzusehen ist, wie anmutig er ist und welch schönes Gesicht er hat, wie er einem Milchbart hat, als sei er gerade zum Mann geworden: Bei dem Mädchen aber sei vorsichtig, ihre Schönheit zu preisen, wegen des Skandals, den das verursachen könnte, wenn du nicht ein Verwandter bist oder sprichst, wie einer, der es in jedem Fall wissen muss, oder du den möglichen Skandal dadurch vermeidest, dass du sagst: „Wir haben gehört.“

Dann soll eine Beschreibung des Brautgemachs folgen: Te/tartoj to/poj e)stiìn periì to\n qa/lamon

a)po\ tou=

kaiì pasta/daj kaiì

qeou\j gamhli¿ouj e)reiÍn, w¨j oÀtan le/gwmen,

sunelh/luqe me\n ouÅn h( po/lij, sun-

eorta/zei

de\

aÀpasa,

peph/gasi de\

pasta/dej oiâai ou)x e(te/r% pote/,

qa/lamoj

de\ pepoi¿kiltai aÃnqesi kaiì grafaiÍj pantoi¿aij, pollh\n de\ th\n ¹Afrodi¿thn eÃxei:... ...u(me/naioj de\ a)nayei lampa/daj h(miÍn kaiì d#=daj gamhli¿% moneu/seij mikro\n uÀsteron

14

kaiì

puri¿: xari¿twn te mnh¹Afrodi¿thj, kaiì meta\

loxei¿aj ¹Arte/midoj, oÀti o)li¿g% diade/cetai loxei¿a ãArtemij kaiì

Der vierte Topos ist, von den Dingen im Schlaf- und Brautgemach zu sprechen und die Hochzeitsgottheiten zu nennen, wie wenn wir sagen: „Die Stadt ist zusammengekommen, ganz nimmt sie mit am Fest teil, das Brautgemach ist bereitet wie für niemand anders zuvor; das Schlafgemach ist aber mit Blumen und Bildern aller Art geschmückt, es ist voll von der Aphrodite:“… „…Der Hymenaios wird für uns Lampen und Fackeln mit Hochzeitsfeuer entzünden.“ Du wirst die Grazien erwähnen und Aphrodite und kurz danach Artemis als Göttin der Geburt, du wirst sagen, dass Artemis als

Menander Rhetor, Peri epideiktikon, 403–404, griechischer Text nach RUSSELL / WILSON, 142; 144.

226

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

maieu/setai, kaiì te/cete paiÍdaj u(miÍn

te

o(moi¿ouj kaiì e)n a)retv= lamprou/j. eiåta ei¹j eu)xh\n katastre/yeij to\n lo/gon.

15

Geburtsgöttin kurze Zeit später aufgenommen werden und als Hebamme wirken wird: „Und ihr werdet Kinder bekommen, die euch ähnlich sind und an Tugend hervorragen.“ Dann wirst du die Rede mit einem Gebet beschließen.

Beschreibungen des Hochzeitsgottes, des Eros oder der personifizierten Hochzeit können nach Menander Rhetor noch eingeflochten werden. Für die Rede vor dem Brautgemach, dem so genannten kateunastiko(j lo/goj empfiehlt er zudem noch auf die Jahreszeit einzugehen, in der die Hochzeit stattfindet.16 Diese theoretischen Vorgaben bilden den Rahmen, in dem sich ein Dichter wie Venantius Fortunatus bewegen und auch eigene Akzente setzen konnte. Das zeigt sich schon am Proöm. Proöm (V. 1 – 24) Wie Claudian17 und Sidonius Apollinaris18 unterteilt Venantius Fortunatus das Gedicht in ein Proöm aus elegischen Distichen und das eigentliche epithalamium in daktylischen Hexametern. a) Text und Übersetzung Vere nouo, tellus fuerit dum exuta pruinis, se picturato gramine uestit ager, longius extendunt frondos cacumina montes et renouat uirides arbor opaca comas.

Promittens grauidas ramis genitalibus uuas. 5 palmite gemmato uitis amoena tumet.

15 16 17 18

Am Frühlingsanfang, als sich die Erde gerade vom Schnee entkleidet hat, und sich das Feld mit buntem Gras kleidet, recken die Berge ihre Gipfel voll Laub weiter in die Höhe und erneuert der Schatten spendende Baum sein grünes Haar. Der liebliche Weinstock schwillt von mit Knospen geschmückten Zweigen 5 und verspricht auf fruchtbarem Zweigwerk schwere Trauben,

Menander Rhetor, Peri epideiktikon, 404, griechischer Text nach RUSSELL / WILSON, 144. Vgl. Menander Rhetor, Peri epideiktikon, 408. Claudian, Carmina maiora, 9 & 10. Sidonius Apollinaris, Carm., 10 & 11. In der Länge gleicht das epithalamium des Venantius Fortunatus eher dem des Sidonius Apollinaris: Denn während das Epithalamion auf die Hochzeit des Honorius bei Claudian nahezu epische Ausmaße (elf Distichen und 341 Hexameter) erreicht, entspricht das Gedicht des Venantius Fortunatus in der Länge etwa dem Epithalamion auf Ruricius und Iberia von Sidonius Apollinaris. Allerdings besteht der Prolog bei Venantius Fortunatus aus zwölf elegischen Distichen, während sowohl Claudian als auch Sidonius Apollinaris jeweils elf Distichen verwenden. Die Zwölfzahl liegt auch dem eigentlichen epithalium (10 x 12) zugrunde, wobei der eine fehlende Vers durch den Prolog ersetzt wird.

3.2.2. Panegyrisches auf Personen und Gebäude

227

Praemittens flores gracili blanditia susurro deliciosa fauis mella recondit apes;

Mit feinem Gesumme fliegt die liebliche Biene, schickt den Blütenstaub voraus und birgt in den Waben köstlichen Honig; progeniem reparans casto fecunda cubili und fruchtbar in keuschem Gemach sorgt sie artifices natos gignere flore cupit. 10 für ihren Nachwuchs und begehrt mit dem Blütenstaub Arbeiterinnen zu gebären. 10 Nexibus apta suis pro posteritate amore Aus Liebe zu seiner Nachkommenschaft, seinen ad fetus properans garrula currit avis. Verpflichtungen gehorchend, eilt der geschwätzige Vogel zu seiner Nachkommenschaft. Semine quisquis suo senio iuuenescit in ipso, Durch seinen Spross wird ein jeder selbst Greiomnia dum redeunt gaudia mundus habet. senalter wieder jung, und während alles zurückkehrt, ist die Welt in Freude. Sic modo cuncta fauent, dum prosperitate So spendet alles Beifall, während durch himmsuperna 15 lisches Glück 15 regia caesario proficit aula iugo. der königliche Palast durch das kaiserliche Paar an Bedeutung gewinnt. Ordine multiplici felicem in saecula regem In vielfacher Reihe haben den für immer glückundique cinxerunt lumina tanta ducum. lichen König von allen Seiten so viele glanzvolle Fürsten umgeben. Culmina tot procerum concurrunt culmen ad So viele vornehme Häupter eilen zu einem unum. einzigen Haupt. Mars habet ecce duces, [P]ax habet ecce Siehe! Mars hat Führer! Siehe! der Frieden decus. 20 hat Glanz! 20 Cunctorum aduentu festiua palatia feruent, Durch die Ankunft all dieser Leute ist der Paconiugio regis gens sua uota uidet. last in festlicher Aktivität, Durch die Hochzeit des Königs sieht sein Volk seine Wünsche erhört. Vos quorum inrigui fontis meat unda fauete: Ihr, deren Woge der Wasser spendenden Quelle iudicio uestro crescere parua solent. dahin rauscht, spendet Beifall, durch euer Urteil pflegt Kleines zu wachsen. 19

b) Gliederung Die zwölf Distichen des Prologs weisen eine Zweiteilung auf, nämlich in die Schilderung einer bukolischen Szenerie und die der Situation am Hofe. Dabei entfallen

19

Venantius Fortunatus, Carm., VI, 1, 1–24, lateinischer Text nach REYDELLET, II, 43f.

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

228

zwei Drittel, nämlich acht Distichen,20 auf die Naturschilderung und nur ein Drittel auf die Ereignisse am Hofe selbst: I. V. 1 – 16 V. 1 – 4 V. 5 – 6 V. 7 – 10 V. 11 – 14 V. 15 –16 II. V. 17 – 24 V. 17 – 20 V. 21 – 22 V. 23 – 24

I. Die Natur als Spiegel der Ereignisse am Hofe: Frühling über Erde, Feld und Bergwald. Die Weinstöcke versprechen eine reiche Ernte. Sorge der Bienen um ihre Nachkommenschaft. Sorge der Vögel und der übrigen Natur um ihre Nachkommenschaft. Überleitung: Alles ist in Freude, während das Glück dem Hof winkt. II. Die Ereignisse am Hofe: Fürsten und Könige versammeln sich am Hof. Anlass ist die königliche Hochzeit. Aufforderung zum Applaus. c) Interpretation

Der Prolog expliziert die Ausgangssituation in einem bukolischen Landschaftsbild. Zugleich wird in Form von Reminiszenzen auf klassische Dichtung Bezug genommen, nämlich auf Ovid, 21 möglicherweise auch auf die voluptas Schilderung bei Lukrez im Prolog von De rerum natura,22 während sich das vierte und fünfte Distichon auf das vierte Buch der Georgica Vergils bezieht.23 Inhaltlich lässt sich bei der Beschreibung der Naturszenerie eine Entwicklung konstatieren, von der Pflanzen- zur Tierwelt, wobei das Thema die Fruchtbarkeit ist, die zunächst durch das 20

21 22

23

Vers 1–16, wobei das letzte Distichon (Vers 15f.) im Pentameter zu den Ereignissen am Hofe überleitet, während der Hexameter das, was vorher gesagt wurde, zusammenfasst und mit dem Begriff der prosperitas superna / des Glücks, das vom Himmel ausgeht, die göttliche Ebene einbezieht. Zu Vers 4, vgl. Ovid, Trist., I, 1, 40 und zu Vers 6 vgl. Ovid, Fast., III, 238. Vgl. Lukrez, De rerum natura, I, 1–42. Diese Verbindung ist allerdings nur allgemeiner Art: Während im voluptas-Hymnus des Lukrez die Allmacht der Venus exemplifiziert wird und sie unter anderem auch mit dem Frühling (V. 10) in Verbindung gebracht wird, liegt bei Venantius der Hauptakzent auf dem Sprießen der Natur und der Nachkommenschaft. Vgl. zu der Formulierung ...casto fecunda cubili / fruchtbar im keuschen Gemach (Vers 9) Vergil, Georg., IV, 197–199 (lateinischer Text nach MYNORS, Oxford 1969): Illum adeo placuisse apibus mirabere morem, / quod neque concubitu indulgent, nec corpora segnes / in Venerem soluunt aut fetus nixibus edunt; / Du wirst dich aber wundern, dass jene Sitte den Bienen so sehr gefallen hat, dass sie weder dem Beischlaf nachgeben noch träge die Körper zur geschlechtlichen Liebe lösen oder den Nachwuchs durch Gebären hervorbringen.

3.2.2. Panegyrisches auf Personen und Gebäude

229

langsame Grünen,24 dann durch das Knospen der Weinreben,25 die Sorgen der Bienen um ihren Nachwuchs 26 und schließlich durch den der Vögel exemplifiziert wird, ehe das Thema allgemeingültig in einer Gnome formuliert wird: Durch den Nachwuchs ist es dem Alter möglich, sich zu verjüngen.27 Hier liegt einerseits der traditionelle Gedanke eines Kreislaufes der Natur zugrunde, wie er durch das betonte uere novo / am Frühlingsanfang28 nahe gelegt wird, andererseits macht die Betonung der Sorge für den Nachwuchs deutlich, dass es um die Fortführung der Dynastie geht, also bereits auf einen Thronfolger gedeutet wird, durch den sich nicht nur das Alter, sondern das Herrscherhaus verjüngt und fortsetzt. Hier wird also das seit Sappho traditionelle Motiv des Wunsches nach Nachkommenschaft des Brautpaares auf die Begründung einer neuen Dynastie erweitert. Dass dies einen besonderen Akzent setzt, macht der Vergleich mit den Vorgängertexten deutlich:29 Vergleich mit Patricius, Claudian und Sidonius Apollinaris Das epithalamium des Patricius oder Patritius beginnt zwar wie das des Venantius Fortunatus mit der Schilderung der Natur (wobei es bei Venantius wörtliche Anklänge gibt), setzt sich dann aber in einer Auflistung von Besuchern aus der göttlichen Ebene fort, während sich Venantius Fortunatus im Prolog fast völlig auf die menschliche konzentriert und auf die anwesende höfische Gesellschaft rekurriert. Zum Vergleich sei hier der Anfang des epithalamium des Patricius angeführt: Vere nouo florebat humus, satus aethere sudo Imbre maritatum uegetabat spiritus orbem.

24 25 26 27 28 29

Am Frühlingsanfang blühte der Boden, unter heiterem Himmel Belebte durch Regen der Windhauch, (selbst) gesät, Saat den Erdkreis bei der Vermählung.

Vers 1–4. Vers 5–6. Vers 8–10. Vers 13. Vers 1. Mit der Naturschilderung bewegt sich Venantius Fortunatus ganz im Rahmen der Theorie, wie sie bei Menander Rhetor greifbar ist, allerdings zeigt die Bildebene eine andere Ausrichtung. So heißt es bei Menander Rhetor: ei¹ me\n ga\r eiãh eÃar, oÀti a)hdo/nej kaiì xelido/nej u(ma=j katamousi¿zousai kaiì katakhlou=sain u=n me\n ei¹j uÀpnon kaqe/lkousi, nu=n de\ pa/lin u(po\ th\n au)gh\n tereti¿zousai a)nasth/sousime muhme/nouj, kaiì oÀti nu=n h( gh= aÃnqesi kallwpi¿zetai kaiì w¨rai¿+zetai toiÍj blasth/masin, wÐsper kaiì u(meiÍj e)n wÐr# kaiì a)kmv= tou= ka/llouj tugxa/nete, kaiì de/ndra de/ndresin e)pitou=to ge/nhtai teleth\ kaiì ga/moj. / Wenn es Frühling ist: „Nachtigallen und Schwalben singen und bezaubern euch und geleiten euch bald in den Schlaf, bald werden sie bei der Morgendämmerung zwitschern und euch aufwecken, die ihr dann in die Mysterien eingeweiht seid“. Und: „Nun macht sich die Erde mit Blüten schön und schmückt sich mit Sprösslingen, wie auch ihr in Blüte und Reife der Schönheit steht, Bäume verbinden sich mit Bäumen, dass dies Weihe und Hochzeit wird.“, Menander Rhetor, Peri epideiktikon, 408, griechischer Text nach RUSSELL / WILSON, 152.

mi¿gnutai, iàna

230

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

Ipsa quoque aetherea deducta propagine Auch die aus himmlischen Spross herab geführflamma te Flamme, Visceribus suffusa cauis noua germina largo In die hohlen Eingeweide hinab geglitten, brachte im weiten Schoß neue Sprösslinge hervor Vrgebat gremio reparans elementa calore. 5 Und bedrängte die Elemente mit ihrer Glut.5 Latonae geminum numen, Cythereius ignis, Das Zwillingspaar der Latona, das cytherische Feuer, Iuppiter ipse parens et Maiae mobile pignus Vater Jupiter selbst und der rasch fliegende Temperie unanimi, secluso frigore tristi Sohn der Maia, Strahlten in einmütiger Milde, nachdem der traurige Frost Saturni ueteris, mundi per aperta nitebant: Des alten Saturn vergangen war, über das Cum Venus Idaliis comitata sororibus exit, 10 offene Antlitz der Welt: Als Venus, begleitet von den Schwestern vom Ida Gebirge auszog, 10 Thessalicos uisura Lares, ubi florida Tempe Um die thessalischen Laren zu besuchen, wo Perpetuis faciles conseruant cultibus hortos. sie im blühenden Tempetal In immerwährender Pflege ohne Mühe die Gärten pflegen.30

Auch im epithalamium des Claudian auf Honorius werden andere Akzente gesetzt. So bildet die Hochzeit von Peleus und Thetis31 das zentrale Element seines Prologs: Surgeret in thalamum ducto cum Pelion arcu Nec caperet tantos hospita terra deos,

Cum socer aequoreus numerosa turba sororum Certarent epulis continuare dies

Praeberetque Iovi communia pocula Chiron, 5 Molliter obliqua parte refusus equi,

30

31

Als sich Pelion in lang gezogenem Bogen zum Brautgemach erhob, Und die gastliche Erde nicht so viele Götter fasste, Als der Schwiegervater vom Meer und die zahlreiche Schar der Schwestern, Eifrig strebten, durch das Festmahl die Tage zu verbinden, Und Chiron mit Jupiter gemeinsam aus dem Becher trank 5 Und sich mit dem restlichen Pferdeteil seines Körpers bequem ausstreckte,

Lateinischer Text nach BAEHRENS, Poetae Latinae minores, V., 422, dort Carmen CXVIII, 1–11 des Anhangs. I dem folgenden erhaltenen Stück (Vers 12–92) erscheinen neben Cupido, Phoebus und Faunus personifizierte Gestalten wie Virtus und Concordia, deren Zug nach Rom geschildert wird, womit der Autor dem klassischen Beispiel des Aufzugs der Götter bei der Hochzeit von Peleus und Thetis (vgl. Catull, Carmen 64, 265ff.) folgt. Vgl. Menander Rhetor, Peri epideiktikon, 400, wo der Vergleich mit der Hochzeit von Peleus und Thetis wie auch die Schilderung der verschiedenen Gaben, welche die einzelnen Götter mitbringen, empfohlen wird.

3.2.2. Panegyrisches auf Personen und Gebäude

Peneus gelidos mutaret nectare fontes Oetaeis fluerent spumea vina iugis:

Terpsichore facilem lascivo pollice movit Barbiton et molles duxit in antra choros. 10

Carmina nec superis nec displicuere Tonanti, Cum teneris nossent congrua vota modis.

Centauri Faunique negant. Quae flectere Rhoeton, Quae rigidum poterant plectra movere Pholum? Septima lux aderat caelo totiensque renato 15 Viderat exactos Hesperus igne choros:

Tum Phoebus, quo saxa domat, quo pertrahit ornos, Pectine temptavit nobiliore lyram. Venturumque sacris fidibus iam spondet Achillem, Iam Phrygias caedes, iam Simoenta canit. 20 Frondoso strepuit felix Hymenaeus Olympo; Reginam resonant Othrys et Ossa Thetim.

231

Der Peneus kaltes Wasser in Nektar verwandelte, Und vom Rücken des Oeta schäumender Wein floss: Da rührte Terpsichore mit reizendem Anschlag leicht die Laute Und führte die zarten Musenchöre in die Höhle. 10 Weder missfielen den Göttern noch Jupiter die Lieder, Weil sie es verstanden, ihre Wünsche mit zarten Melodien in Harmonie zu bringen. Die Zentauren und Faune weigerten sich (zu kommen). Welches Saitenspiel hätte Rhoeton, welches den starrsinnigen Pholus bewegen können? Der siebte Tag war da und am wieder entstandenen Himmel, 15 Hatte Hesperus im Feuer die vollendeten Chortänze gesehen: Da suchte Phoebus im edleren Anschlag die Lyra zu spielen, Mit der er die Felsen bezwang, mit der er die Bergeschen aus dem Boden zog, Auf heiligen Saiten versprach er, dass Achill kommen würde, dann besang er den Krieg in Phrygien, dann den Simois. 20 Der glückliche Hymenaeus ertönte auf dem laubreichen Olymp, Othrys und Ossa hallten von der Königin Thetis wider.32

Claudian lässt die olympischen Götter auftreten und gibt eine Schilderung der Hochzeit von Peleus und Thetis, an deren Ende im Lied des Apoll die Geburt Achills und der trojanische Krieg vorweggenommen werden. 33 Die Hochzeit des Kaisers Honorius (398 n. Chr.) wird auf diese Weise in direkten Zusammenhang mit der Hochzeit an sich, der Vermählung eines Sterblichen mit einer Göttin, gebracht. Und statt der Fürsten des Reiches erscheinen hier die Götter als Gäste der Hochzeitsfeier. Dabei geht Claudian zur Glorifizierung der zu schildernden Hochzeit nach einem Muster vor, das auch Sidonius Apollinaris im Prolog für das epi32 33

Claudian, Epithalamium de nuptiis Honorii Augusti, Praefatio, lateinischer Text nach BIRT, MGH, AA, X, 125f. Vers 19–20.

232

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

thalamium des Ruricius und der Iberia verwendet. Auch dort erhält die Hochzeit einen größeren Glanz, indem sie mit der Hochzeit von Peleus und Thetis in Verbindung gebracht wird: Flucticolae cum festa nurus Pagasaca per Als sich der Pelion durch die festlich geantra, schmückten thessalischen Höhlen der im Wasrupe sub Emathia Pelion explicuit, ser lebenden Schwiegertochter unter dem Ematischen Felsen öffnete, angustabat humum superum satis ampla Verengten den Boden die reichlichen Geschensupellex; ke der Götter, certabant gazis hinc polus, hinc pelagus. mit ihren Schätzen wetteiferten hier der Himmel, dort das Meer. ducebatque choros viridi tectus amictu 5 Der Schwiegervater führte, bedeckt mit grünem caeruleae pallae concolor ipse socer; Gewand die Chöre 5 und hatte dieselbe Farbe wie sein meerfarbener Mantel. nympha quoque in thalamos veniens de gurgite Und die Braut, die nackt aus dem Wasser ins nuda Brautgemach kam, vestiti coepit membra timere viri. begann die Glieder ihres bekleideten Ehemannes zu fürchten. tum divum quicumque aderat terrore remoto Damals spielte, wer auch immer von den Götquo quis pollebat lusit in officio. 10 tern da war, ohne dass man sie fürchten musste, in der Disziplin, in der er mächtig war. 10 Iuppiter emisit tepidum sine pondere fulmen Jupiter schleuderte einen warmen Blitz, der et dixit: ‘melius nunc Cytherea calet.’ keinen Schaden anrichtete, und sprach: ‚Besser brennt nun die Liebe.’ Pollux, wegen seines Schlagriemens gelobt, Pollux tum caestu laudatus, Castor habenis, Pallas tum cristis, Delia tum pharetris; spielte damit, Castor mit den Zügeln, Pallas Athene mit ihrem Helmbusch, die delische Diana mit ihrem Köcher. Alcides clava, Mavors tum lusit in hasta, 15 Der Alkide (Herkules) mit der Keule, Mars mit Arca tum virga, nebride tum Bromius. der Lanze, 15 Arkas mit der Rute, Bacchus mit Hirschkalbfell. hic et Pipliadas induxerat optimus Orpheus Hierher hatte auch der vorzügliche Orpheus chordis, voce manu, carminibus, calamis. die Musen geführt mit Saiten, Stimme, Hand, Liedern und Flötenmusik. ambitiosus Hymen totas ibi contulit artes; Dort brachte der ehrgeizige Hymen alle Künste qui non ingenio, fors placuit genio. 20 zusammen; wer nicht durch sein Talent gefiel, gefiel vielleicht durch seinen Genius. 20

3.2.2. Panegyrisches auf Personen und Gebäude

233

fescennina tamen non sunt admissa, priusquam Die fescenischen Verse wurden jedoch nicht intonuit solita noster Apollo lyra. zugelassen, ehe unser Apoll sie, wie gewohnt, auf seiner Lyra intonierte.34

Venantius Fortunatus verzichtet bewusst auf diese mythologische Reminiszenz und ersetzt sie durch die zweiteilige Schilderung der Natur außerhalb des Palastes und des Geschehens innerhalb des Palastes, das in der Versammlung der vornehmen Fürsten35 allerdings eine Parallele zu Claudian aufweist. Mit der Naturschilderung zu Anfang36 greift er neben dem schon erwähnten Patricius eher auf das Vorbild des Ennodius zurück. Allerdings zeigt sich dort eine andere Akzentuierung: Annus sole novo teneras dum format aristas, Natura in thalamis orbe tepente sedet,

Pingitur et vario mundus discrimine florum, Vna soli facies: gratia, cultus, amor.

Arbuta vitali coalescunt uda vapore, Lignea concretus semina sucus alit.

5

Erigitur genio tellus tumefacta marito, Torrida lascivis silva viret spoliis.

Lactans cespitibus in nodum truditur herba, Vitea gemmatos brachia dant digitos. 10

In rerum vultu lex iungit pronuba taedas: Aura poli ut sponsum germina cuncta facit.

Ergo pari voto lux caelum flumina Nereus Montes prata ferae gaudia concipiunt.

34 35 36

Während unter neuer Sonne das Jahr die zarten Ähren bildet, Erwärmt sich die Erde und die Natur lässt sich im Brautgemach nieder, Die Welt wird mit den mannigfaltigen Farben der Blumen bemalt, Der Boden hat nur ein Gesicht: Anmut, Kultur, Liebe. Die feuchten Erdbeerbäume wachsen im Leben spendenden Nebel zusammen 5 Ihr gemeinsamer Saft nährt den hölzernen Spross. Die Erde wölbt sich, geschwängert vom ehelichen Genius, Der trockene Wald ist ergrünt vor reizender Beute. Milch spendendes Kraut wird auf den Wiesen zur Knospe gebracht, Die Arme der Weinstöcke schenken mit Gemmen geschmückte Finger. 10 Im Angesicht (dieser) Dinge stiftet als Brautführerin das Gesetz die Ehe: Der Lufthauch des Himmels lässt wie zur Verlobung alles ersprießen. Und in Erfüllung des gemeinsamen Wunsches freuen sich Licht, Himmel, Flüsse, Nereus, die Berge, Wiesen und Tiere.

Vgl. Sidonius Apollinaris, Carmen 10 (lateinischer Text nach LUETJOHANN, MGH, AA, VIII, 226f.). Venantius Fortunatus, Carm., VI 1, 16–20. Vers 1–14.

234

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

De te quod vernat sortitur, Maxime, mundus,15 Von dir, Maximus, erlangt die Welt, was den Et naturalem dos tua comit opem, Frühling macht, 15 Und deine Gabe ordnet die natürliche Kraft, Cui sanguis census genius mens vota superstant Auf dem Blut, Zensus, Genius, Geist und WünMusarum primo fulta supercilio. sche ruhen, Gestützt auf die Stirn der Musen. Saecula te fidei monumentum nostra dederunt, Unser Zeitalter gab dich als ein Muster des Corporis et cordis virginitate parem. 20 Glaubens, in Jungfernschaft sowohl des Körpers als auch des Herzens. 20 Vincentem meritis sponsam dat candida vita, Ein glänzendes Leben gibt dir deine Braut, Quae cum te superat, sic tibi palma venit. siegreich durch ihre Verdienste, Wenn sie dich besiegt, so kommt zu dir die Siegespalme. Huic niveis consors adridet flamma labellis, Sie hat Anteil daran und lächelt mit schneeweiAlba verecundas spargit in ora notas. ßen Lippen, Und das rein weiße Schamgefühl zeigt auf dem Gesicht seine Zeichen.37

Vergleicht man diese Proömien miteinander, so ergeben sich zu Venantius Fortunatus bemerkenswerte Unterschiede in der Diktion wie auch in der Komposition. Claudian und Sidonius Apollinaris konzentrieren sich auf die Erscheinung der Götter bei der Hochzeit,38 und folgen damit den Topoi, die sich bei Menander Rhetor greifen lassen, wobei Claudian Apoll die Rolle übernehmen lässt, die Catull den Parzen zugeordnet hatte.39 Bei beiden werden die Götter zum Teil durch ihre traditionellen Epitheta benannt, bei Claudian wird zudem das Trojageschehen durch geographische Angaben wie Phrygia[e] caedes40 verdeutlicht. Außerdem liegt bei ihm liegt das Hauptaugenmerk auf der Freude und allgemeinen Harmonie (Jupiter und Chiron trinken zusammen,41 der Fluss Peneus verwandelt sein Wasser in Nektar und vom Berg Oeta fließt Wein herab).42 Sidonius Apollinaris bringt einen anderen Akzent hinein, indem er die Götter als Hochzeitsgeschenk mit ihren Attributen spielen lässt und damit den entsprechenden Topos in origineller Weise ausgestaltet.43 Bei Venantius Fortunatus erscheinen im Proöm nur zwei Götter, nämlich Mars und Pax,44 die allerdings als Personifikation für Krieg und Frieden auftreten 37 38 39 40 41 42 43 44

Vgl. Ennodius, Epithalamium Dictum Maximo V. S., Praefatio (carm. I, 4 [CCCLXXXVIII]), lateinischer Text nach VOGEL, MGH, AA, VII, 276f. Vgl. zu den Göttern im Epos D. C. FEENEY, The Gods in Epic, Oxford 1991. Vgl. Catull, Carmen 64, 303–381: In Prolepse der Ereignisse um Troja lässt Catull Apoll und Artemis bei der Hochzeitsfeier gar nicht teilnehmen (Vers 299–302). Claudian, Epithalamium de nuptiis Honorii Augusti, Praefatio, Vers 20. Vers 5. Vers 7 f. Sidonius Apollinaris, Carmen 10, Vers 9ff. Vers 20; wenn Mars hier Personifikation erscheint, sollte (anders als bei REYDELLET, II, 44), auch Pax personifiziert und daher groß geschrieben werden.

3.2.2. Panegyrisches auf Personen und Gebäude

235

und wohl in Anspielung auf die konkrete Situation die Hoffnung symbolisieren, dass durch eine Allianz zwischen dem Frankenreich und dem der Westgoten die Konflikte zwischen beiden Reichen beigelegt werden können.45 Das ist vergleichbar mit dem Proöm des Ennodius, wo als einzige Göttergestalt Nereus auftritt, der hier aber nur metonymisch für das Meer steht,46 dort allerdings ohne Bezug auf den konkreten Anlass. Ennodius widmet zudem die letzten fünf Distichen dem Lobpreis von Bräutigam47 und Braut,48 was Venantius Fortunatus für das epithalamium selbst aufspart und sich damit an den Regeln der rhetorischen Tradition orientiert, wo das Lob des Brautpaares dem epithalamium selbst vorbehalten bleibt. 49 Die Gesamtzahl der Distichen entspricht sich bei Ennodius und Venantius Fortunatus (jeweils zwölf), ebenso wie (anders als bei Claudian und Sidonius Apollinaris) das Verfahren, eine Naturschilderung an den Anfang zu stellen. In beiden Fällen handelt es sich um eine Frühlingsschilderung,50 was jeweils durch den Anfang bereits deutlich gemacht wird: annus sole novo / das Jahr ... unter neuer Sonne 51 bzw. uere novo / am Frühlingsanfang. 52 Beide verwenden dieselben Bilder: das Blühen der Blumen,53 der Wald, der wieder grün wird,54 die Weinstöcke, deren Knospen ausschlagen.55 Das Bild von den Bienen56 und von den Vögeln, die für ihren Nachwuchs sorgen, 57 findet bei Ennodius keine Entsprechung, während das vom zusammenwachsenden Erdbeerbaum und die schwangere Erde58 bei Venantius Fortunatus kein Äquivalent hat. Wird bei Ennodius implizit auf den Geschlechtsakt angespielt,59 verzichtet Venantius Fortunatus bewusst auf 45

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Die spätere Hochzeit zwischen Sigiberts Bruder Chilperich und Brunichildes Schwester Gailsvinth verfolgte wohl denselben Zweck, der allerdings durch die Ermordung der Gailsvinth die Wirren innerhalb der fränkischen Königshäuser eher verstärkte. Ennodius, Epithalamium Dictum Maximo V. S., Praefatio, Vers 13. Im epithalamium selbst lässt Ennodius hingegen Götter auftreten, beschränkt sich dabei allerdings auf Phoebus und die Musen sowie Venus und Amor, die auch bei Venantius Fortunatus im eigentlichen epithalamium auftreten. Zur literarischen Verwendung paganer Gottheiten bei Ennodius siehe S. A. H. KENNELL, Ennodius and the Pagan Gods, Athenaeum 80 (1992), 236–242. Vers 15–20. Vers 21–24. Das einzige Attribut, das er für die Brautleute verwendet ist, caesareus / kaiserlich (Vers 16), und bezieht sich auf das Paar, nicht auf Braut oder Bräutigam alleine. Vgl. auch Menander Rhetor, Peri epideiktikon, 404. Zur Jahreszeit, in der die Hochzeit stattfindet, vgl. Menander Rhetor, Peri epideiktikon, 408, da allerdings mit Bezug auf den kateunastikò(j lo/goj. Ennodius, Epithalamium Dictum Maximo V. S., Praefatio, Vers 1. Venantius Fortunatus, Carm., VI, 1, 1. Ennodius, Vers 3; Venantius Fortunatus, Vers 1f. Ennodius, Vers 8; Venantius Fortunatus, Vers 3f. Ennodius, Vers 10; Venantius Fortunatus, Vers 5f. Venantius Fortunatus, Vers 7–10. Venantius Fortunatus, Vers 11f. Ennodius, Vers 5–7. Ennodius, Vers 5–10: Arbuta vitali coalescunt uda vapore, / Lignea concretus semina sucus alit. / Erigitur genio tellus tumefacta marito, / Torrida lascivis silva viret spoliis / Lactans cespitibus in nodum truditur herba / Vitea gemmatos brachia dant digitos. / Die feuchten

236

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

derartige Anspielungen. Bei ihm steht der Nachwuchs im Vordergrund, durch ein Paradoxon exponiert, deutet das Exempel der Bienen in eine andere Richtung.60 Auch das Bild des Weinstocks erscheint nicht am Ende der Bilderreihe, bevor von der legitimen Ehe die Rede ist,61 sondern wird dem Bild der Bienen vorangestellt.62 Der Ausdruck gemmatus bezieht sich hier allein auf die Knospen am Weinstock, während Ennodius mit der Doppelbedeutung von gemma / Knospe, Gemme spielt: Die mit Gemmen geschmückten Finger63 können auch im Hinblick auf das Austauschen der Eheringe verstanden werden, so dass die Erwähnung der lex als pronuba / Brautführerin64 auf legitime Ehe verweist. Bei Venantius Fortunatus rekurriert dieses Bild in erster Linie auf die Weinernte und damit auf den Nachwuchs des Paares, was gerade durch die Verwendung des Ausdrucks promittens / versprechend in exponierter Anfangsstellung unterstrichen wird.65 Venantius Fortunatus setzt sich also selbst in den Kontext der literarischen Tradition und evoziert diese mit Reminiszenzen und zum Teil wörtlichen Anklängen an Vorgängertexte. Auffällig ist dabei, dass diese Einordnung nicht nur innerhalb der Gattung epithalamium erfolgt, sondern durch Anspielungen auf Vergil und Ovid die Gattungsgrenzen überschreitet. Während in seinen Vorgängertexten das enkomiastische Element zum Teil schon im Prolog vertreten ist, bleibt es bei Venantius Fortunatus für das eigentliche epithalamium aufgespart. Der Prolog beschränkt sich auf die Apostrophierung als kaiserliches Paar,66 was sich sowohl

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Erdbeerbäume wachsen im Leben spendenden Nebel zusammen / Ihr gemeinsamer Saft nährt den hölzernen Spross. / Die Erde wölbt sich, geschwängert vom ehelichen Genius, / Der trockene Wald ist ergrünt vor reizender Beute / Milch spendendes Kraut wird auf den Wiesen zur Knospe gebracht, / Die Arme der Weinstöcke schenken mit Gemmen geschmückte Finger. Venantius Fortunatus, Vers 7–10: Praemittens flores gracili blanditia susurro / deliciosa fauis mella recondit apes; / progeniem reparans casto fecunda cubili / artifices natos gignere flore cupit./ Mit feinem Gesumme fliegt die liebliche Biene, schickt den Blütenstaub / voraus und birgt in den Waben köstlichen Honig; / und fruchtbar in keuschem Gemach sorgt sie für ihren Nachwuchs / und begehrt mit dem Blütenstaub Arbeiterinnen zu gebären. So bei Ennodius, Vers 10f. Venantius Fortunatus, Carm., VI, 1, 5f.: Promittens grauidas ramis genitalibus uuas. / palmite gemmato uitis amoena tumet / Der liebliche Weinstock schwillt von mit Knospen geschmückten Zweigen / und verspricht auf fruchtbarem Zweigwerk schwere Trauben. Ennodius, Vers 10. Ennodius, Vers 11. Venantius Fortunatus, Vers 5. Durch diese unterschiedliche Akzentuierung ergeben sich auch Unterschiede in der Diktion. Die elaborierte Wortwahl des Ennodius ist im Wesentlichen durch die zweite Sinnebene bedingt, auf der bestimmte Ausdrücke einen besseren Sinn ergeben als auf der Textoberfläche. Im Vergleich dazu ist die Diktion des Venantius Fortunatus wesentlich schlichter gehalten, im Gegensatz zu einigen seiner Briefe (vgl. vor allem Venantius Fortunatus, Carm., V, 1 und die entsprechenden Ausführungen in Kapitel 3. 1. 1. dieser Arbeit) ist die Bildebene nicht übermäßig elaboriert. Die Reminiszenzen an klassische Autoren wie Ovid und Vergil verankern diese Dichtung in der Tradition; die Bezüge zu den „moderneren“ Dichter wie Ennodius (um die Wende zum 6. Jahrhundert n. Chr.) ordnen Venantius in eine bestimmte progressive Richtung ein, was allerdings wohl nur von den Gebildeteren in seinem Auditorium goutiert werden konnte. Vers 16.

3.2.2. Panegyrisches auf Personen und Gebäude

237

auf den konkreten Anlass bezieht als ihn auch in spezifischer Weise interpretiert. Und gerade durch diesen Gedanken ergibt sich eine organische Verbindung zum Aufzug der vornehmen Fürsten, der in den folgenden Versen geschildert wird:67 Sie erweisen der neuen Dynastie ihre Referenz, deren Bedeutung (Hochzeit eines Frankenkönigs mit einer Gotenprinzessin) in dem oben genannten Paradoxon 68 exponiert wird. Die Hochzeit ist klar unter dynastischen Aspekten69 gesehen, die Verbindung eines fränkischen Königs mit einer Gotenprinzessin auf eine Stufe mit dem Kaisertum gestellt, das durch die Reconquista Justinians zu diesem Zeitpunkt noch im Westen über Rom und Ravenna herrschte. Auch die Naturschilderung am Anfang, die zuvor unter dem Aspekt des Traditionszusammenhangs besprochen worden war, erscheint dadurch auf den konkreten Anlass hin interpretiert und bereitet den Gedanken an eine neue Dynastie vor. Dem Naturbild korrespondiert der Aufzug der Fürsten, der in der Nennung der einzigen Götter im Proöm gipfelt, nämlich Mars und Pax,70 die als Personifikation für Krieg und Frieden auftreten. Diese stilistisch besonders hervorgehobene Ankunft 71 gipfelt in der Erfüllung der Wünsche des Volkes,72 was im Hinblick auf die konkrete Situation nur auf die Hoffnung anspielen kann, dass durch eine Allianz zwischen dem Frankenreich und dem der Westgoten, die Konflikte zwischen beiden Reichen beigelegt werden können.73 d) Zusammmenfassung Obwohl das Spiel mit der Tradition sich wohl nur an die Gebildeteren unter den Rezipienten richten kann, so bleibt doch für diejenigen, die derartiges nicht realisieren, die Diktion und die Schilderung der frühlingshaften Natur verständlich. Auch ohne eine spezifisch literarische Bildung lassen sich die Anspielungen auf die konkrete Situation verstehen, sowohl die Begründung einer neuen Dynastie als auch die Friedenshoffnungen, die damit verknüpft sind. Es zeigt sich also auch hier wie in den Prosaschriften des Venantius Fortunatus, dass der Bezug zum jeweiligen

67 68 69 70 71 72 73

Vers 15–20. Vers 16: regia caesareo aula proficit aula iupo / der königliche Palast gewinnt durch das kaiserliche Paar an Bedeutung. Vgl. dazu auch GEORGE, Venantius Fortunatus, 155. Vers 20; wenn Mars hier als Personifikation erscheint, sollte (anders als bei REYDELLET, II, 44) auch Pax personifiziert und daher groß geschrieben werden. Vgl. die Alliteration Culmina tot procerum concurrunt culmen ad unum / so viele vornehme Häupter eilen zu einem Haupt zusammen (Vers 19). Vers 21: coniugio regis gens sua uota uidet / durch die Hochzeit des Königs sieht das Volk seine Wünsche erfüllt. Die spätere Hochzeit zwischen Sigiberts Bruder Chilperich und Brunichildes Schwester Gailsvinth verfolgte wohl denselben Zweck, der allerdings durch die Ermordung der Gailsvinth die Wirren innerhalb der fränkischen Königshäuser eher verstärkte, vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel 2. 1. 3. dieser Arbeit.

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

238

Anlass und die Adressaten bzw. Adressatenkreis bei Venantius Fortunatus eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt. Die Stilhöhe wird dabei nicht in erster Linie vom literarischen Genos (hier dem Festgedicht), sondern von den Adressaten bestimmt, wobei auf deren Bildungsgrad in höherem Maße Rücksicht genommen werden muss, als das noch zu Zeiten eines Claudian oder Sidonius Apollinaris notwendig war. Epithalamium, V. 25-143 Bei der Analyse des eigentlichen epithalamiun74, soll hier neben dem Bezug zur literarischen Tradition, der im Proöm bereits deutlich geworden ist, ein besonderer Schwerpunkt auf die panegyrischen Elemente gelegt werden, die vor allem im Preis des Bräutigams und der Braut zutage treten. Da diese Panegyrik als Preis von Bräutigam und Braut auch in den narrativen Passagen dominant ist, empfiehlt es sich, nach einer Gesamtgliederung die Analyse dahingehend zu differenzieren, ob die Panegyrik Sigibert, Brunichilde oder beiden Brautleuten gilt. Doch zunächst zur Gesamtgliederung: a) Gliederung I. V. 25 – 36 II. V. 37 – 115 V. 37 – 46 V. 47 – 62 V. 63 – 98 V. 99 – 115 III.V. 116 – 143

74

I. Exposition: Der Heiratswunsch des Sigibert. II. Hauptteil: Gespräch zwischen Cupido und Venus: Cupido lässt Sigibert in Liebe entbrennen. Cupido berichtet seiner Mutter und reist mit Venus zur Hochzeit. Lob des Sigibert durch Cupido. Lob der Brunichilde durch Venus. III. Schluss: Lob des Paares aus dem Munde des Dichters.

Eine etwas ausführlichere Interpretation gibt GEORGE, Venantius Fortunatus, 154–158; vgl. auch KOEBNER, Venantius Fortunatus, 25f.; MEYER, Der Gelegenheitsdichter Venantius Fortunatus, 12f.

3.2.2. Panegyrisches auf Personen und Gebäude

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b) Analyse der panegyrischen Elemente Sigibert Gleich zu Anfang des eigentlichen epithalamium steht eine Tugend des Sigibert im Vordergrund, nämlich seine bisherige Keuschheit:75 Dabei ist die Lichtmetaphorik eingesetzt, um sowohl den Glanz des Ereignisses als auch seinen reinen Charakter herauszustreichen: Die Sonne wird nämlich aufgefordert, den Tag mit reinem Licht / sincero lumine76 zu bescheinen, das zugleich als Bild der Keuschheit des Sigibert verstanden werden kann. Denn Sigibert ist frei von der Liebe zu einer anderen / alieno liber amore,77 sein keuscher Sinn erstrebt die Ehe und weist alle Liebeleien von sich / conubium mens casta petit lasciua retundens.78 Er ist im Herzen schamhaft / corde pudicus79 und begnügt sich, was die Natur (so) fordert / quod natura requirit80 mit einer einzigen Frau, wie es römischem und kirchlichem Gesetz entspricht.81 Die Vorstellung einer christlichen Monogamie steht im Hintergrund, die hier als naturgemäß und dem Gesetz entsprechend charakterisiert wird. Daher erlaubt sich seine Liebe keine Fehltritte, sondern bleibt treu und begründet so eine Dynastie, wo zuvor die Erben der Promiskuität frönten.82 Dabei nehmen sowohl der dynastische Gedanke als auch der der Keuschheit Motive aus dem Proöm auf.83 Einen besonderen Akzent erhält dieses Lob durch den Bezug auf die konkrete historische Situation: Chlothars Söhne stammen von verschiedenen Frauen; auch Sigiberts Brüder, insbesondere Chilperich, sind in der Tradition der fränkischen Könige Verbindungen zu mehreren Frauen eingegangen. Dass dies im Falle Sigiberts anders ist, wird hier programmatisch deutlich gemacht.84 Durch diesen Hintergrund 75 76 77 78 79 80 81 82

83 84

Vers 25–36, vgl. dazu auch GEORGE, Venantius Fortunatus, 155f. für den lateinischen Text siehe REYDELLET, I, 44f. Vers 26. Vers 29. Vers 30. Vers 32. Vers 33. Vers 34: lege maritali amplexu est contentus in uno / nach dem Ehegesetz ist er in den Armen einer einzigen zufrieden. Vers 35f.: quo non peccat amor, sed casta cubilia seruans / instaurat de prole lares, ubi luserit heres / wobei die Liebe nicht fehlt, sondern keusch das Ehegemach bewahrt / und von der Nachkommenschaft Laren (ein Haus) einrichtet, wo der Erbe (zuvor) dem Liebesspiel frönte. (luserit ist hier wohl als Konjunktiv Perfekt aufzufassen). Um den Gedanken zu betonen, bedient sich Venantius Fortunatus nicht nur in Vers 35 einer Vergilreminiszenz (Aeneis, VIII, 412f. ...castum ut servare cubile / coniugis et possit parvos educere natos / um das Ehegemach keusch zu halten und die kleinen Kinder zu erziehen), sondern auch in Vers 36 eines leoninischen Reims lares / heres. Vgl. Vers 13f. und Vers 9 (bezogen auf die Biene): progeniem reparans casto fecunda cubile / fruchtbar im keuschen Ehegemach bringt sie ihre Nachkommenschaft hervor. Vgl. dazu auch REYDELLET, II, 45 Anm. 5 und GEORGE, Venantius Fortunatus, 155. Gregor von Tours stellt dies später als bewusste Abkehr Sigiberts vom Verhalten seiner Brüder dar,

240

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

erscheint Sigibert seinen Brüdern nicht nur moralisch überlegen, sondern erhält die Züge eines spezifisch christlichen Herrschers, ein Bild, das Venantius Fortunatus im Folgenden weiter ausbaut: Im Hauptteil85 stellt sich Venantius Fortunatus ganz in die literarische Tradition, indem er zwei pagane Gottheiten Cupido und seine Mutter Venus auftreten lässt. Die Schilderung, wie Cupido mit seinen Liebespfeilen zunächst das niedere Volk, schließlich auch den König trifft, und die Charakterisierung des Liebesgottes als unentrinnbare Macht86 stellt den König in die Tradition elegischer Liebhaber, was im folgenden die Reminiszenzen zu Vorgängertexten, insbesondere zu Claudian87 noch unterstreichen: ...Tandem dehinc sensus opimi 40 ..Endlich trank dann der Sinn des herrlichen 40 regis anhelantem placidis bibit ossibus 88 Königs mit den sanften Knochen das dampfenignem, de Feuer, molliter incumbens et inhaesit flamma sacht drang die Flamme ein und blieb im Mark stecken. medullis.89 90 Regalis feruebat apex nec nocte sopora Der König war entbrannt, und nicht gab es in der Schlaf bringenden cordis erat requies. Oculis animoque recurrens Nacht Ruhe für das Herz. Mit Augen und Geist ad uultus quos pinxit Amor mentemque fatigans eilte zurück, 45 zu dem Gesicht, das Amor gemalt hatte, und erschöpfte seinen Sinn 45 saepe per amplexum falsa sub imagine lusit. oft in der trügerischen Umarmung eines falschen Bildes.91

Sigibert ist in die literarische Tradition von Herrschenden eingeordnet, die (nur) von Amor bezwungen werden, womit bereits zu einer weiteren Tugend der fortitudo / der Tapferkeit übergeleitet wird,92 die in der folgenden Lobrede des Cupido

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87

88 89 90 91 92

was nicht nur die Zahl der Ehefrauen als auch ihre Herkunft betrifft, siehe Gregor von Tours, Hist. Franc., IV, 27. Vers 37–46. Vers 37–39, lateinischer Text nach REYDELLET, II, 45: Torsit amoriferas arcu stridente sagittas / forte Cupido uolans, terris genus omne perurit / nec pelagus defendit aquis / Mit schwirrendem Bogen verschoss im Fluge Cupido die Liebe bringenden Pfeile / auf dem Land verbrannte er das ganze (Menschen-)Geschlecht und auch das Meer bot durch sein Wasser keinen Schutz. Siehe dazu GEORGE, Venantius Fortunatus, 156 mit Anm. 21. Die Vergilreminiszenzen (Aeneis. VI, 390, Georgica, III, 271) beziehen sich vor allem auf die Diktion, die Anspielung auf Claudian (Epithalamium de nuptiis Honorii Augusti nuptiis, 5–7) dient der gattungsmäßigen Selbsteinordnung. Vgl. Vergil, Aeneis, IV, 101. Vgl. Vergil, Georgica, III, 271, Aeneis, IV, 66. Vgl. Vergil, Aeneis, VI, 390. Venantius Fortunatus, Carm., VI, 1, 40–46, lateinischer Text nach REYDELLET, II, 45. Die Tapferkeit, fortitudo stellt die erste der vier Kardinaltugenden dar. Auch bei Menander Rhetor werden die Kardinaltugenden als Ordnungsprinzip für den Herrscherpreis im basiliko(j lo/goj vorgeschlagen, so heißt es 373, (griechischer Text nach RUSSELL / WILSON 84):

3.2.2. Panegyrisches auf Personen und Gebäude

241

auf Sigibert im Gespräch mit seiner Mutter Venus entfaltet wird.93 War zuvor nämlich noch die Rede davon gewesen, dass er sich freiwillig Zügel angelegt habe,94 ist es hier allein das Werk des Cupido, dessen Triumph über einen derartig mächtigen Herrscher umso größer erscheint. 95 Dabei macht Venantius Fortunatus die überkommenen Motive der Streitrede (lis) zwischen Cupido und Venus und ihre Reise zur Hochzeit in besonderem Maße seiner panegyrischen Absicht zunutze: Die Schilderung der Reise verbindet elf Verse,96 in denen Cupido nicht nur die Ausgangssituation umreißt, sondern kurz auch Bräutigam und Braut lobt,97 auf welche die Streitrede (lis) zwischen Venus und Amor folgt, in der Cupido Sigiberts Vorzüge98 und Venus die der Brunichilde99 darstellt. Anders als in seinen Vorgängertexten erscheinen so bei Venantius Fortunatus die rein narrativen Passagen stark reduziert: Cupidos Wirken und dem Bezwingen des Sigibert sind genau zehn Verse gewidmet, 100 ihrer Reise nur drei, 101 von denen zwei die Reisevorbereitungen102 und nur einer den Flug schildert.103 Dann sind sie bereits angekommen.104 Vor der diai¿rei ga\r a(pantaxou= ta\j pra/ceij wÒn aÄn me/llvj e)gkwmia/zein ei¹j ta\j a)retàj a)retaiì de\ te/ssare/j ei¹sin, a)ndrei¿a, dikaiosu/nh, swfrosu/nh, fro/nhsijŸ kaiì oÀra ti¿nwn a)retw½n ei¹sin ai¸ pra/ceij, kaiì ei¹ koinai¿ tine/j ei¹si tw½n pra/cewn tw½n te kata\ to\n po/lemon kaiì kat' ei¹rh/nhn a)reth=j mia=j, wÐsper [e)piì] th=j fronh/sewj: fronh/sewj ga/r e)sti kaiì to\ strathgeiÍn kalw½j e)n toiÍj pole/moij, fronh/sewj de\ kaiì to\ kalw½j nomoqeteiÍn kaiì to\

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96 97 98 99 100 101 102 103

sumfero/ntwj diatiqe/nai kaiì dioikeiÍn ta\ kata\ tou\j u(phko/ouj. / Ordne überall die Handlungen, die du rühmen willst, nach den Tugenden (es gibt aber vier Tugenden: Tapferkeit, Gerechtigkeit, Besonnenheit und Klugheit), und sieh, von welchen Tugenden die Handlungen zeugen, und ob es in den Handlungen im Krieg und im Frieden welche gibt, die gemeinsam von einer einzigen Tugend zeugen, wie z. B. von der Klugheit: Es ist nämlich Zeichen der Klugheit, sowohl in Kriegen das Heer gut zu führen als auch gute Gesetze zu erlassen und die Angelegenheiten der Untertanen gut zu verrichten bzw. zu verwalten. Venantius Fortunatus, Carm., VI, 1, 47–49, lateinischer Text nach REYDELLET, II, 45: Mox ubi conspexit telo superante Cupido / uirgenea mitem torreri lampade regem / laetus ait Veneri: / Sobald Cupido sah, dass sein Pfeil den gnädigen König / bezwungen hatte und er nun von der Liebesfackel einer Jungfrau / verbrannt wurde, sprach er fröhlich zu Venus. Venantius Fortunatus, Carm., VI, 1, 32f., dort wieder als Paradoxon formuliert (lateinischer Text nach REYDELLET, II, 44: ...rector tot gentibus unus / et sibi frena dedit... / ...und der alleinige Herrscher über so viele Völker / legte sich selbst Zügel an. Venantius Fortunatus folgt hier traditionellen Mustern: Bei Claudian (Epithalamium de nuptiis Honorii Augusti, (X.), 126–139 bei BIRT, MGH, AA, X) wird das epithalamium zu einem Epyllion ausgestaltet, das mit der Liebesklage des Honorius beginnt, über den Einzug von Venus, Amor und Nereiden zur Hochzeit schließlich in einem Lobpreis des Honorius endet und sowohl Ennodius (Ennodius, Epithalamium Dictum Maximo V. S., Vers 95–98.) als auch Sidonius Apollinaris (Sidonius Apollinaris, Carmen 11, Vers 111–123) schildern die Reise von Venus und Amor zur Hochzeitsfeier. Venantius Fortunatus, Carm., VI, 1, Vers 60–66. Vers 49–59. Vers 67–98 Vers 99–115. Zur Streitrede als traditionellem Motiv siehe auch GEORGE, Venantius Fortunatus, 156. Vers 37–46. Vers 60–62. Vers 60f. Vers 63, lateinischer Text nach REYDELLET, II, 46: et pariter leuibus fregerunt nubila pinnis / und zusammen durchbrachen sie auf leichten Schwingen die Wolken.

242

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

Abreise hatte Cupido einen kurzen Lobpreis beider Brautleute angestimmt, wobei Sigibert wegen seiner fortitudo / Tapferkeit (ein zweiter Achill) und Brunichilde wegen ihrer Schönheit und ihrer Schamhaftigkeit (pudor, uerecundia) gelobt worden waren: ...Mater, mea bella peregi: ...Mutter, ich habe meinen Krieg erfolgreich zu pectore flagranti mihi uincitur alter Achilles,50 Ende geführt: Ein zweiter Achill ist von mir besiegt, und (vor Liebe) brennt sein Herz, 50 Sigibertus amans Brunichilde carpitur igne; Sigibert wird in Liebe verzehrt vom Feuer der Quae placet apta toro, maturis nubilis annis, Brunichilde, welche ihm gefällt, passend für das Ehebett, im richtigen Alter zur Hochzeit, uirginitas in flore tumens, complexa marito ihr jungfräuliches Alter steht in Blüte, in den primitiis placitura suis, nec damna pudoris Armen des Mannes, wird sie durch ihre Erstlingsgabe gefallen, und keinen Verlust ihrer Ehre sustinet, unde magis pollens regina uocatur.55 erleidet sie, daher wird sie eine mächtige KöHoc quoque uirgo cupit, quamuis uerecundia nigin genannt. 55 sexus Dies wünscht das Mädchen, mag auch die Scheu ihres Geschlechts obstet: amata uiri dextra leuiore repellit dem entgegenstehen: Die Geliebte des Mannes ignoscitque sibi culpas quas intulit ignis. weist ihn mit nur leichter Hand zurück und verzeiht sich die Schuld, welche das Liebesfeuer ihr beibrachte. Sed modo laeta ueni, quoniam te uota Komm aber froh, da (eure gemeinsamen) Wün105 requirunt. sche dich verlangen.

Nun spielt der Gedanke der Herkunft des Sigibert eine besondere Rolle: ...tibi quem promisimus, hic est‚ Sigibertus, amor populi, lux nata parentum, qui genus a proauis longo tenet ordine reges

...Hier ist, den wir dir versprochen haben, Sigibert, die Liebe des Volkes, das Licht seiner Eltern, der einen Stamm von den Vorfahren her in einer langen Reihe von Königen hat,

104 Vers 64–67a, lateinischer Text nach REYDELLET, II, 46: Vt uenere simul thalamos ornare superbos, / hinc Venus egregiam praeponere coepit alumnam, / inde Cupido uirum, nubentibus ambo fauentes / et litem fecere piam. Sic deinde Cupido / matri pauca refert:.. / Sobald sie angekommen waren, das erhabene Ehegemach zu schmücken / begann Venus die Vorzüge der Braut hervorzuheben, / und Cupido die des Mannes, wobei sie beide dem Brautpaar gewogen waren, / und sie hielten ein frommes Streitgespräch. So berichtete Cupido / der Mutter einige wenige Dinge:… 105 Vers 49b–59, lateinischer Text nach REYDELLET, II, 45f.

3.2.2. Panegyrisches auf Personen und Gebäude

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et reges geniturus erit, spes gentis opimae, 70 und Könige zeugen wird, Hoffnung des herrliquo creuit natale decus, generosa propago. chen Stammes, 70 wodurch die Zierde des Hauses wächst, der edle Spross.106

Das genealogische Element dient in erster Linie der Einordnung des Sigibert in die militärischen Erfolge seines Geschlechts und erscheint nicht nur im epithalamium, sondern auch im basiliko(j lo/goj, für den verlangt wird, wo es möglich ist, die Familie und die Taten der Vorfahren gebührend herauszustellen;107 ausdrücklich wird in den folgenden Versen auf den Sieg von Chlothar, Sigiberts Vater, und seinem Neffen Theudebert angespielt, von denen 531 die Thüringer und 556 die Sachsen besiegt worden waren.108 Ihr gemeinsamer militärischer Erfolg kehrt in der einen Person des Sigibert zurück.109 In einer Diktion mit Anklängen an Claudian,110 verbindet Venantius Fortunatus die genealogische Tradition mit dem Motiv des puer senex:111 Cardinis occidui dominans in flore iuuentae, Er beherrscht in Blüte der Jugend den Himiam grauitate senes tenerosque superuenit melsstrich des Westens, annos: 80 durch die Würde eines Greises übertrifft er seine zarten Jugendjahre: 80 legem naturae meruit praecedere factis, Er verdiente es, das Gesetz der Natur mit Taten quamuis parua tamen nulli minor impedit zu überschreiten, obgleich seine Jugend, die aetas. dennoch keinem anderen Herrscher nachsteht, dem eigentlich entgegenstände.112

106 107 108 109

Venantius Fortunatus, Carm., VI, 1, 67b–71, lateinischer Text nach REYDELLET, II, 46. Vgl. Menander Rhetor, Peri epideiktikon, 370 (basiliko(j lo/goj) und 403 (e)piqala/mion). Vers 72–77, vgl. dazu auch REYDELLET, II, Anm. 6. Siehe Vers 72–73a: Ac melior de stirpe redit famamque priorum / posteritas excelsa fouet... / Und eine noch bessere Nachkommenschaft kehrt zurück und hält den Ruhm der Vorfahren lebendig... und Vers 78: reddidit iste duos, pro ambobus sufficit unus / dieser gab beide (Chlothar und Theudebert) zurück, für zwei reicht (nun) einer aus. (lateinischer Text bei REYDELLET, II, 46 & 47). 110 Claudian, In Ruf., II, 274: Cardo occiduus als geographische Angabe westlicher Himmelsstrich. 111 Vgl. dazu REYDELLET, II, 47, Anm. 7. Dieses Motiv erscheint bei Venantius Fortunatus auch an anderer Stelle z. B. in der Vita sanctae Radegundis II (5), siehe dazu die entsprechenden Ausführungen in Kapitel 3. 1. 2. dieser Arbeit. Zu den Vorbildern des puer / senex Motiv siehe CHR. GNILKA, Aetas spiritalis. Die Überwindung der natürlichen Altersstufen als Ideal frühchristlichen Lebens, Köln 1972, 233–244. 112 Im Gegensatz zu LEO und REYDELLET (siehe dort 47, Anm. 7) soll hier an dem überlieferten impedit festgehalten werden. Den im vorigen Vers genannten herausragenden Taten steht die parua aetas / das geringe Alter des Sigibert entgegen, das (bei) niemandem geringer ist / nulli minor. Gemeint ist hier wohl, dass im Vergleich zu anderen Herrschern Sigibert erst ein Alter hat, in dem man normalerweise gar nicht herrscht. Sigibert wird bereits 561, nach dem Tode Chlothars, König, im Alter von 25 oder 26 Jahren.

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3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

Qui sensum mature regit generosior hic est Quisquis in angusto fuerit moderatior aeuo.

Der, welcher seinen Sinn voller Reife beherrscht, ist edler, wer er auch ist, und mäßiger, als es seinem noch kurzen Leben entspricht.113

Dieses Motiv fügt sich nicht nur zur Frühlingsmotivik aus dem Proöm, sondern macht es zugleich ist möglich, die Jugend des Herrschers114 mit den traditionellen Herrschertugenden zu verbinden. Es ensteht das Bild eines jungen Begründers einer Dynastie, der zugleich den Typ des besonnenen, gerechten Königs verkörpert, und das programmatisch ist in Abgrenzung zu seinen Brüdern, insbesondere zu Chilperich: Sic fouet hic populos ipsis intrantibus annis: 85 So hegt dieser das Volk, obwohl er selbst noch ut pater et rex sit, nullum grauet erigat omnes. jung an Jahren ist, so dass er Vater und König ist, keinen bedrückt, und alle aufrichtet. Nulla dies sine fruge uenit: nisi congrua Kein Tag kommt ohne Frucht: Wenn er nicht praestet das Gebührende getan hat, Perdere plura putat, si non concesserit ampla. meint er mehr zu verlieren, wenn er nicht reichlich gegeben hat. Gaudia diffundit radianti lumine uultus: Freuden verbreitet mit strahlendem Licht seine nubila nulla grauant populum sub rege sereno. Miene: 90 Keine Wolken bedrücken das Volk unter einem heiteren König. 90 Pectore maturo culpas indulget acerbas. Mit reifem Herzen übt er Nachtsicht bei bitteVnde alii peccant, ignoscendo iste triumphat. rer Schuld. Wo andere fehlen, triumphiert dieser durch Verzeihen. Doctus enim quoniam prima est in principe Darin nämlich gelehrt – da es bei einem Fürsuirtus ten die vornehmste esse pium, quia semper habet qui parcere Tugend ist, fromm zu sein, weil der stets hat, nouit, wer zu verzeihen versteht – corrigit ipse prius quod poscit ut alter emendet. verbessert er selbst, was er verlangt, bevor es 95 ein anderer verbessert. Qui sibi censura est reliquos bene lege coercet. Wer bei sich selbst das Zensoramt ausübt, hält die übrigen durch Gesetz gut in Schranken. In quo digna manent quicquid de rege requiras. Bei dem bleibt alles würdig, was auch immer Solus amat cunctos et amatur ab omnibus unus. du vom König verlangst. Allein liebt er alle und wird als einziger von allen geliebt.115 113 Venantius Fortunatus, Carm., VI, 1, 79–84. Zur Übersetzung von angusto ... aeuo im Sinne von noch kurzem Leben = Jugendalter siehe REYDELLET, II, 175, Anm. 8. 114 Sigibert hat zwar vierzehn Jahre regiert, wurde aber schon mit 40 (575) ermordet, vgl. Gregor von Tours, Hist. Franc., IV, 51. 115 Vers 85–98, lateinischer Text nach REYDELLET, II, 47.

3.2.2. Panegyrisches auf Personen und Gebäude

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Sigibert werden dabei drei Tugenden zugeschrieben, die sich aus seiner Charakterisierung als puer / senex ergeben: Wohltätigkeit,116 Milde117 und das Bestreben, sich selbst zu verbessern.118 Die letzte, die aus der sapientia / Weisheit hervorgeht (das Schlüsselwort doctus / gelehrt119 spielt auf diese Tugend an), bringt die clementia / Milde hervor. Zu dieser Milde passt die wiederholte Verwendung des Terminus grauare / beschweren, bedrücken, Beschwernisse, die eben unter diesem König nicht stattfinden: ut...nullum grauet / so dass er keinen bedrückt120 und nubila nulla grauant / keine Wolken bedrücken das Volk.121 In beiden Fällen betont Venantius Fortunatus dies durch die Antithese mit dem Gegenteil: ut ... erigit omnes / so dass er alle aufrichtet 122 und durch die Lichtmetaphorik im Zusammenhang mit dem Bild vom heiteren Himmel sub rege sereno / unter heiterem König.123 Dass er seine eigenen Fehler verbessert, ehe es andere tun,124 verleiht ihm Vorbildcharakter und wird von Venantius Fortunatus als eigentliche Voraussetzung für eine gelungene Herrschaft aufgewiesen: Qui sibi censura est reliquos bene lege coercet

Wer bei sich selbst das Zensoramt ausübt, hält die übrigen durch Gesetz gut in Schranken.125

Interessanterweise sind die Tugenden, die der heidnische Gott Cupido hier aufführt, nicht nur spezielle Herrschertugenden, sondern spezifisch christliche. Diese Tugenden leiten sich zwar von den Kardinaltugenden,126 insbesondere von der sapienta / Weisheit ab,127 weisen aber insbesondere mit dem Rekurs auf das Verzeihen / ignoscentia128 ein christliches Gepräge auf. Daher kann Venantius Fortunatus 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126

Vers 87f. Vers 91–94. Vers 95f. Vers 93. Vers 86. Vers 90. Vers 86. Vers 90. Vers 95. Vers 96. Zur Rezeption der Kardinaltugenden vor der Zeit des Venantius Fortunatus siehe M. BECKER, Die Kardinaltugenden bei Cicero und Ambrosius, (Chresis 4), Basel 1994, für die spätere Zeit, insbesondere die Karolingerzeit S. MÄHL, Quadriga virtutum. Die Kardinaltugenden in der Geistesgeschichte der Karolingerzeit (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 9), Köln 1969. 127 Vgl. Vers 93 das Schlüsselwort doctus. Mit der Formulierung moderatior aeuo / mäßiger als für sein Alter üblich wird zudem auf die Kardinaltugend der modestia / Mäßigung, Selbstbeherrschung verwiesen. Mit dem Bezug auf die militärischen Erfolge (Vers 73–78) wurde auf die Tapferkeit / fortitudo rekurriert, so dass bis auf die iustitia alle vier Kardinaltugenden angesprochen werden. 128 In Vers 92 fällt der Begriff des Verzeihung, ignoscere im Zusammenhang mit dem spezifisch christlichen Begriff des peccare / sündigen, so dass hier ein christliche Konnotation eindeutig vorliegt (vgl. Mt. 18, 21f., Lc 17, 3b–4), während die angedeutete largitio (Vers

246

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

davon sprechen, es sei die erste Tugend bei einem Fürsten, fromm zu sein,129 und damit explizit die pietas / die Frömmigkeit in seinen Tugendkatalog einzufügen. In diesem Sinne ist auch das Primat der Liebe / amor zu verstehen,130 so dass durch die Wiederholung des Begriffes amare der Rede des Cupido besonders herausgestellt wird: Solus amat cunctos et amatur ab omnibus unus

Allein liebt er alle und wird als einziger von allen geliebt.131

Die Liebe des Herrschers zu seinen Untertanen bewirkt die Liebe der Untertanen zu ihrem Herrscher und resultiert aus dessen Tugenden. Die vier Kardinaltugenden erscheinen dabei nur als Grundlage der Rede des Cupido, die iustitia / Gerechtigkeit wird durch die auf Liebe und Frömmigkeit beruhenden spezifisch christlich geprägte Tugenden ersetzt. So lobt ein heidnischer Gott einen christlichen Herrscher. Brunichilde Während also das Lob des Sigibert in erster Linie auf seine Tugenden und damit innere Werte abzielt, wird Brunichilde in der Rede der Venus aufgrund ihrer äußerlichen Vorzüge gepriesen: Incipit inde Venus laudes memorare puellae: ”O uirgo miranda mihi, placitura iugali, 100

Daraufhin begann Venus das Lob des Mädchens anzustimmen: ”Oh, Jungfrau, die Du von mir bewundert werden musst, und Deinem Gemahl gefallen wirst, 100

87 bis 89) noch in Tradition der largitio der Herrscher, insbesondere der römischen Kaiser gesehen werden kann. Der Kontext: Nulla dies sine fruge uenit: nisi congrua praestet / Perdere plura putat, si non concesserit ampla / Kein Tag kommt ohne Frucht: Wenn er nicht das Gebührende getan hat, meint er mehr zu verlieren, wenn er nicht reichlich gegeben hat, weist aber ebenfalls auf christliche Vorstellung, vgl. die Aufforderung Jesu an einen reichen jungen Mann, all sein Hab und Gut den Armen zu geben und so einen dauernden Schatz im Himmelreich zu erlangen (Mt 19, 16–30, Mc 10, 17–31, Lc 18, 18–30). Zum Begriff der Verzeihung bis in die Spätantike siehe die Monographie von K. METZLER, Der griechische Begriff des Verzeihens. Untersuchungen am Wortstamm „sygnome“, von den ersten Belegen bis zum vierten Jahrhundert n. Chr. (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 2. Reihe, 44), Tübingen 1991. 129 Vers 93f. 130 Zum Primat der Liebe bei den Christen vgl. schon I. Cor 13. Dort findet sich auch zum ersten Mal die von den Kardinaltugenden unabhängige Trias Glaube, Hoffnung, Liebe. (I. Cor 13, 13). 131 Vers 98.

3.2.2. Panegyrisches auf Personen und Gebäude

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clarior aetherea, Brunichildis, lampade die Du heller als das Licht am Himmel, Brunifulgens, childe, glänzest, lumina gemmarum superasti, lumine uultus, und mit dem Glanz Deines Gesichts den der Perlen übertriffst, altera nata Venus regno dotata decoris. eine zweite Venus ist geboren und bringt als nullaque Nereidum de gurgite talis Hibero Mitgift das Königreich der Anmut. Keine der Neriden aus dem Iberischen Meer ist von solcher Art und Oceani sub fonte natat, non ulla Naphea 105 schwimmt unter der Quelle des Okeanos, keine pulchrior ipsa suas subdunt tibi flumina der Talnymphen 105 nymphas. ist schöner, selbst die Flüsse unterwerfen Dir ihre Nymphen. Lactea cui facies incocta rubore coruscat, Milchweiß, durchzogen mit Röte, glänzt ihr lilia mixta rosis, aurum si intermicet ostro, Gesicht, wenn Lilien mit Rosen gemischt sind, wenn Gold auf Purpur schimmert, decertata tuis numquam se uultibus aequant. kommen sie im Wettstreit Deinem Gesicht nicht Saphirus, alba, adamans, crystalla, zmaragdus, gleich. iaspis 110 Der Saphir, die weiße Perle, der Diamant, Bergkristall, Smaragd und Jaspis, 110 cedant cuncta: nouam genuit Hispania sie alle weichen Dir: Spanien hat eine neue gemmam. Perle hervorgebracht. Digna fuit species potuit quae flectere regem. Würdig war die Schönheit, dass sie es vermochte, einen König zu erweichen. Per hiemes ualidasque niues, Alpenque, Durch Winter und heftigen Schnee, durch die Pyrenen, Alpen und Pyrenäen, perque truces populos uecta est duce rege Durch wilde Völker reiste sie unter der Fühsereno rung des erlauchten Königs, 115 terrenis regina toris”... 115 als Königin für irdische Lager.132

Brunichildes Lobpreis umfasst die Hälfte dessen, was Sigibert gewidmet ist, nämlich sechzehn Verse.133 Nach einem Einleitungsvers befassen sich die ersten zwölf Verse mit ihrer Schönheit, die in der Vorstellung des Rezipienten dadurch ins Unendliche gesteigert wird, dass sie mit der strahlendsten Schönheit von Himmelslicht, 134 Venus selbst, 135 See-, Tal- und Flussnymphen verglichen wird136 und sie alle übertrifft. Dabei spielt einerseits die Lichtmetaphorik,137 andererseits das Motiv 132 Venantius Fortunatus, Carm., VI, 1, 99–115a, lateinischer Text nach REYDELLET, II, 48f. 133 Sigiberts Lob beginnt Vers 67 und erstreckt sich bis Vers 98, das der Brunichilde beginnt mit Vers 100 und geht bis 115, wie Cupido seine Rede mit einem Halbvers beginnt, so endet die der Venus ebenfalls mit einem Halbvers. 134 Vers 101–102. 135 Vers 103. 136 Vers 104–106. 137 Vers 101: clarior aetheria, Brunichildis, lampade fulgens / die Du heller als das Licht am Himmel, Brunichilde, glänzest. Zur Lichtmetaphorik und der Evokation von Lichteffekten

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3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

der Perle eine zentrale Rolle, das nach Nennung des Namens der Brunichilde138 ringkompositorisch die anderen Prädikationen umschließt (von lumina gemmarum / der Glanz der Perlen139 bis nouam genuit Hispania gemmam / Spanien hat eine neue Perle hervorgebracht).140 Die Lichtmetaphorik und das Bild von der strahlenden Miene verknüpft ihren Lobpreis mit dem des Sigibert,141 der ansonsten nur aufgrund seiner Tugenden gelobt wird.142 Bei dem Lob der Brunichilde wird Licht und Glanz zum Leitmotiv, denn auch der Vergleich mit den Perlen geschieht in erster Linie unter dem Aspekt des Glanzes.143 Der Lobpreis der Braut aufgrund ihrer Schönheit ist ein traditionelles Element.144 Auch hinsichtlich der Bildebene steht und stellt sich Venantius Fortunatus hier in die literarische Tradition eines Claudian. Im epithalamium auf Honorius des Claudian sucht Venus die Braut des Honorius Maria sogar persönlich auf und spielt gleichsam die Rolle der Brautwerberin. Nachdem Venus Maria begrüßt und ihr von der Liebe des Honorius berichtet hat, beginnt sie ihre Vorzüge zu rühmen: ...quamvis aliena fuisses Principibus, regnum poteras hoc ore mereri.

...Magst Du auch nicht dem Fürstenstand angehört haben, So konntest Du doch die Königsherrschaft durch Dein Gesicht erlangen. Quae propior sceptris facies? qui dignior aula Welches Antlitz ist dem von Königen ähnliVultus erit? Non labra rosae, non colla cher? Welches Gesicht pruinae, Wird der Halle von Königen würdiger sein? 265 Nicht lassen sich die Lippen 265 Non crines aequant violae, non lumina mit Rosen, nicht der Hals mit Schnee vergleiflammae. chen Quam iuncti leviter sese discrimine confert Nicht das Haar mit dem Veilchen, nicht die Augen mit der Flamme des Feuers.

138 139 140 141

142 143 144

siehe auch M. VIELBERG, Nitor omnibus unus? Beobachtungen zur Farbgestaltung im ‚Martinellus’, Vigiliae Christianae 57 (2003), 1–22; speziell zu Licht und Farbeffekten bei der Schilderung der Kirche als Braut Christi, dort 16–18. Vers 101. Vers 102. Vers 111. Siehe Vers 89: Gaudia diffundit radianti lumine uultus / Freuden verbreitet mit strahlendem Licht seine Miene. Zu Edelsteinen in der Literatur der Spätantike und des Mittelalters siehe CH. MEIER, Gemma spiritalis. Methode und Gebrauch der Edelsteinallegorese vom frühen Christentum bis ins 18. Jahrhundert, Teil 1 München, 1977, dort zu den Lichtwirkungen 236–253, besonders bei Saphir und Topas wird in den Quellen ihre Leuchtkraft bei einfallendem Licht hervorgehoben, siehe 243. Vgl. die entsprechenden Ausführungen weiter oben in diesem Kapitel. Vgl. Vers 102: lumina gemmarum superasti lumine uultus / mit dem Glanz Deines Gesichtes übertriffst Du den der Perlen. Vgl. dazu Menander Rhetor, Peri epideiktikon, 404, wobei die Kautelen hinsichtlich der Schilderung der Schönheit der Braut aus dem griechisch-orientalischen Kontext zu verstehen sind, in dem sich unverheiratete Frauen nur zu bestimmten Gelegenheiten in der Öffentlichkeit zeigten.

3.2.2. Panegyrisches auf Personen und Gebäude

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Umbra supercilii! miscet quam iusta pudorem Wie fügt sich leicht und hebt sich harmonisch Temperies nimio nec sanguine candor abundat der Schatten der verbundenen Augenbrauen ab! Wie recht mischt die Farbe ihres Gesichts die Schamröte unter und mit nicht zuviel Blut fließt ihr Antlitz über vor blendendem Weiß! Aurorae vincis digitos umerosque Dianae: 270 Du besiegst die Strahlen der Morgenröte und Ipsam iam superas matrem. Si Bacchus amator die Schultern der Diana, 270 Und die Mutter selbst übertriffst Du. Wenn als Liebhaber Bacchus Dotali potuit caelum signare corona, Vermochte den Himmel mit der Krone, die er Cur nullis virgo redimitur pulchrior astris? als Mitgift schenkte, zu zeichnen, Warum wird nicht das Mädchen gekrönt, das schöner ist als die Sterne? Iam tibi molitur stellantia serta Bootes Schon bewegt Bootes für Dich seinen SternenInque decus Mariae iam sidera parturit aether. kranz 275 Und zur Zierde Mariens gebiert der Äther (neue) Sterne. 275145

Auch hier findet sich eine Blumenmetaphorik bei der Beschreibung des Gesichtes,146 auch hier wird das rechte Verhältnis von Rot und Weiß in der Gesichtsfarbe hervorgehoben.147 Ebenso erscheint die Braut schöner als die Sterne des Himmels, was mit der mythologischen Anspielung auf Ariadne, die Bacchus unter die Sterne versetzte, unterstrichen wird.148 Auch hier ist es Venus, welche die Schönheit einer sterblichen Frau lobt, wobei sich da allerdings ein wichtiger Unterschied zu Venantius Fortunatus zeigt: Denn bei diesem räumt Venus ein, dass Brunichilde ihr selbst an Schönheit gleich kommt. 149 Berücksichtigt man antike Traditionen, beginnend beim Urteil des Paris, und vergleicht man das Verhalten paganer Göttinnen gegenüber Konkurrentinnen,150 so zeigt Venus bei Venantius Fortunatus ein äußerst ungewöhnliches Verhalten, wobei nicht der Vergleich einer jungen Frau mit der Schönheit der Venus bzw. Aphrodite ungewöhnlich ist. 151 Dadurch, dass dieser 145 Claudian, Epithalamium de nuptiis Honorii Augusti, 262b–275, lateinischer Text nach BIRT, MGH, AA, X, 136. 146 Vers 265f. 147 Vers 268f. Das Schönheitsideal einer weißen Gesichtshaut mit rosigen Wangen ist traditionell, vgl. Ovid, Amores, III, 3, 5f. (lateinischer Text nach der Edition von KENNEY, Oxford 1961): candida, candorem, roseo suffusa rubore, / ante fuit: niveo lucet in ore rubor. / Weiß war sie zuvor, die Weiße mit rosiger Röte durchzogen: / im schneeweißen Gesicht leuchtete die Röte. Zur traditionellen Schminke aus Bleiweißpuder mit aufgelegtem Rouge siehe auch K. - W. WEEBER, Alltag im alten Rom. Ein Lexikon, Düsseldorf / Zürich, 1995, s. v. Makeup, 241f. 148 Vers 271–275. 149 Venantius Fortunatus, Carm., VI, 1, 103. 150 Z. B. das Verhalten Athenes gegenüber Arachne, vgl. Ovid, Metamorphosen, VI, 1–145. 151 Dies hat Tradition in der lateinischen wie griechischen Literatur, vgl. z.B. Chariton, Chaireas und Kallirhoe, I, I, 2 (griechischer Text nach MOLINIÉ / BILLAULT, Paris 1989)): ’Hn

250

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

Vergleich hier von der Liebesgöttin selbst angestellt und damit die traditionelle Topik übertroffen wird, erscheint die Schönheit der Brunichilde ins Unendliche gesteigert, ohne dass eine genauere Beschreibung von Einzelheiten oder weitere Metaphern – wie bei Claudian – überhaupt erforderlich sind. Bei Venantius Fortunatus wird im Bereich der Dingwelt die Blumenmetaphorik durch eine Vergleichsreihe mit den kostbarsten Edelsteinen ergänzt.152 Mit der Erwähnung von Kostbarkeiten wie Gold und Purpur153 gibt es zugleich einen Bezug zum Proöm, wo von der Hochzeit eines kaiserlichen Paars im Königspalast die Rede war,154 da Gold und Purpur traditionelle Zeichen eben dieser Würde sind. Und dieser Gedanke erscheint hier noch einmal im Anschluss an den Vergleich mit den Edelsteinen: Digna fuit species potuit quae flectere regem

Würdig war die Schönheit, dass sie es vermochte, einen König zu erweichen.155

Interessanterweise bleibt das Lob der Venus aber nicht auf die äußere Schönheit beschränkt. Wie Sigibert am Anfang als elegischer Liebhaber156 erscheint, wird am Schluss des Lobpreises der Brunichilde ein weiteres Motiv der römischen Liebeselegie aufgenommen, nämlich die militia amoris, bei der den Liebenden weder Schnee noch widrige Umstände davon abhalten, zum Objekt seiner Liebe zu kommen.157 Die Formulierung duce rege sereno / unter der Führung eines erlauchten

152 153 154 155 156 157

g¦r Ð k£lloj oÙk ¢nqrèpinon ¢ll¦ qe‹non oÙd Nhrh…doj À NÚmfhj tîn Ñreiîn ¢ll\ aÙtÁj 'Afrod…thj Parqšnou / Die Schönheit (der Kallirhoe) war aber nicht menschlich, sondern göttlich, und weder die einer Nereide noch einer Bergnymphe, sondern die der mädchenhaften Aphrodite selbst. Schon Chariton bedient sich, um die Schönheit seiner Heldin ins Unermessliche zu steigern, genau wie später Venantius Fortunatus, eines Vergleiches mit den denkbar schönsten Halbgöttinnen und schließlich der Liebesgöttin selbst, der bei Chariton allerdings von einem allwissenden Erzähler in der dritten Person vorgetragen wird. Venantius Fortunatus, Carm., VI, 1, 110. Vers 108. Vers 16. Vers 112. Zum elegischen Motiv der Schlaflosigkeit des amans vgl. z. B. Ovid, Amores, I, 2, 1–4. Vgl. Ovid, Amores, I, 9, 9–16 (lateinischer Text nach der Ausgabe von KENNEY, Oxford 1961, 22): militis officium longa est uia: mitte puellam / strenuus exempto fine sequetur amans; / ibit in aduersos montes duplicataque nimbo / flumina, congestas exteret ille niues, / nec freta pressurus tumidos causabitur Euros / aptaque uerendis sidera quaeret aquis. / quis nisi uel miles uel amans et frigora noctis / et denso mixtas perferet imbre niues? / Die Pflicht des Soldaten ist der lange Marsch: schicke ein Mädchen / entschlossen wird der Liebende ihr ohne Ende folgen. / Er wird in feindliche Berge und Flüsse gehen, die vom Regenwasser auf / die doppelte Größe angeschwollen sind und aufgetürmten Schnee zertreten. / Und nicht wird er, wenn er das Meer durchfahren will, vor den schwellenden Südwinden / zurückschrecken und für die Schifffahrt die passenden Sterne suchen. / Wer außer einem Soldat oder einem Liebenden wird die Kälte der Nacht / und Schnee, mit dichtem Regen gemischt, ertragen?

3.2.2. Panegyrisches auf Personen und Gebäude

251

Königs158 stellt die Reise der Brunichilde von Spanien nach Gallien ausdrücklich in die Tradition der militia amoris. Das elegische Motivrepertoire setzt Venantius Fortunatus im folgenden fort und überdeckt durch die nähere Explikation der militia amoris den Umstand, dass der Sprecher wechselt und sich der Dichter in eigener Person, anstelle der Venus, direkt an Brunichilde und Sigibert wendet: ...Super ardua montis 115 ...Über die Gipfel des Gebirges 115 planum carpis iter: nil obstat amantibus nimmst du einen ebenen Weg: Nichts steht umquam Liebenden jemals im Wege, quos iungi diuina uolunt. Quis crederet autem welche das Göttliche vereinigen will. Wer aber würde glauben, hispanam tibimet dominam, Germania, nasci, dass dir, Germanien, eine spanische Herrin quae duo regna iugo pretiosa conexuit uno? entsteht, die zwei kostbare Königreiche zu einem verbunden hat?159

Der schlaflose amans, der Liebhaber, wird nach der miltitia amoris mit seiner amata / der Geliebten verbunden, in variatio und superatio des elegischen Motivs ist es hier die Geliebte, welche die militia amoris leistet, so aber indirekt ihre fortitudo / Tapferkeit erweist, welche ihr Gemahl Sigibert im Krieg gezeigt hatte. Sigibert und Brunichilde Diese motivische Verbindung ermöglicht ein panegyrisches Fazit, bezogen auf das Brautpaar. Dabei bewirkt der Kunstgriff des Sprecherwechsels zweierlei: Zum einen kehrt Venantius Fortunatus räumlich wieder zum Ausgangspunkt zurück, dem im Proöm geschilderten Königspalast, wo die Festivitäten stattfinden,160 zum anderen macht er deutlich, dass die heidnischen Göttergestalten hier nur in literarischer Funktion auftreten, indem er in dem letzten dreißig Versen auf eine Erwähnung verzichtet und nunmehr in eigener Autorität spricht. Damit ist die mythologische Ebene abrupt verlassen, während sich die Panegyrik gleichsam verselbständigt und durch die Genealogie einen stärkeren programmatischen Akzent erhält. Dies wird bereits in der Kennzeichnung der beiden Königreiche / regna als pretiosa / kostbar161 deutlich, wobei Venantius Fortunatus, um ihre Macht zu charakterisieren, sich eines Attributes bedient, das sich ganz in den zuvor erfolgten Vergleich162 der Brunichilde mit den verschiedensten Edelsteinen fügt. Zugleich wird ein programmatischer Punkt aus dem Proöm aufgenommen, der dort als Hochzeit eines kaiser158 Venantius Fortunatus, Carm., VI, 1, 114. Zu metaphorischen Bedeutung des Begriffs dux vgl. auch REYDELLET, II, 49, Anm. 9. 159 Venantius Fortunatus, Carm., VI, 1, 115b–119, lateinischer Text nach REYDELLET, II, 49. Reydellet lässt zu Recht die Rede der Venus mit Vers 115a enden, da mit carpis...iter / du nimmst einen ... Weg Brunichilde direkt angesprochen ist. 160 Vers 15–24. 161 Vers 119. 162 Vers 110f.

252

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

lichen Paares im Königspalast dargestellt wurde.163 Seine Bedeutung rückt Venantius Fortunatus in die Nähe eines Wunders (Quis crederet / Wer würde glauben)164 und verwendet im Folgenden explizit den Begriff mirum / Wunder: Non labor humanus potuit tam mira parare; nam res difficilis diuinis utitur armis.

Denn keine menschliche Mühe vermochte solche Wunder zu vollbringen; denn eine schwierige Sache verlangt göttliche Waffen.165

Die dynastische Verbindung zwischen Goten- und Frankenreich, wie sie durch die Hochzeit von Sigibert und Brunichilde vollzogen wird, bringt die Hoffnung auf einen dauerhaften Frieden zwischen den beiden Völkern, nachdem noch ein halbes Jahrhundert zuvor Clodwig 507 den Westgotenkönig Alarich II. besiegt und ganz Aquitanien dem Frankenreich angegliedert hatte. Das, was bereits im Proöm angedeutet wurde,166 ist hier nicht nur thematisch wieder aufgenommen, sondern in den Bereich des Wunders gehoben, das nur durch göttliche Mithilfe (diuinis armis) zustande kommen konnte. Diese göttliche Ebene ist es, die das Paar verbinden will (quos iungi diuina uolunt / welche das Göttliche vereinigen will), 167 nicht etwa menschliche Überlegung, die dazu auch gar nicht imstande wäre. Das diuina168 und die diuina arma169 beziehen sich dabei vordergründig auf Cupido und Venus, lassen sich aber durch die neutrale Formulierung, losgelöst vom paganen Hintergrund auf das Göttliche allgemein bzw. auf das Eingreifen Gottes beziehen. Folgerichtig werden Cupido und Venus im Rest des epithalamium nicht mehr erwähnt. Das Wunderbare dieses Geschehens unterstreicht Venantius Fortunatus, indem – wie zuvor bei Sigibert –170 nun auch von den Vorfahren der Brunichilde die Rede ist:

Longa retro series regi hoc uix contulit ulli: Eine Ahnenreihe, die so weit zurückreicht, gab difficili nisu peraguntur maxima rerum. es bei kaum einem König: In schweren Geburtswehen werden die größten Dinge vollbracht. Nobilitas excelsa nitet, genus Athanagildi Erhabener Adel erglänzt, das Geschlecht des longius extremo regnum qui porrigit orbi, 125 Athanagild, welcher seine Herrschaft weiter als bis zum Rande der Welt erstreckt, 125 163 164 165 166 167 168 169 170

Vers 16. Vers 117. Vers 120f., lateinischer Text nach REYDELLET, II, 49. Vers 20: Mars habet ecce duces, [Pax] habet ecce decus. / Siehe! Mars hat Heerführer! Siehe! Der Frieden [Pax] hat seine Zierde! Vers 117. Vers 117. Vers 121. Cupido beginnt seinen Lobpreis des Sigibert mit dessen Vorfahren (Vers 69–78), während Venus die Schönheit der Brunichilde in den Vordergrund stellt (Vers 101–111).

3.2.2. Panegyrisches auf Personen und Gebäude

253

diues opum quas mundus habet populumque reich an Schätzen, welche die Welt besitzt, und gubernat das spanische Volk hispanum sub iure suo pietate canenda. regiert unter seiner Jurisdiktion mit einer Frömmigkeit, die zu besingen ist. Cur tamen egregii genitoris regna renarrem, Warum soll ich von dem Königreich des vorquando tuis meritis uideo creuisse parentes? trefflichen Vaters erzählen, wenn ich sehe, dass durch deine Verdienste die Eltern an Größe gewannen.171

Hier wird Brunichildes Vater, der Westgotenkönig Athanagild erwähnt. Dieser weist eine lange Ahnenreihe (longa...series) 172 auf. Mit dem Aeneis-Zitat diues opum / reich an Schätzen173 wird sogar indirekt ein Vergleich des Gotenreichs mit Karthago impliziert, was die Herkunft noch altehrwürdiger macht. Da sich die Franken über Clodwig hinaus legendär von den Trojanern herleiten, bringt diese Anspielung beide Brautleute in eine Ahnenreihe, die bis in die mythische Vorzeit zurückreicht. Auf Athanagilds Bemühungen das nach den Niederlagen gegen die Franken und zeitweiliger ostgotischer Herrschaft in sich zerstrittene Westgotenreich wieder zu einen174 mag die Formulierung sub iure suo pietate / unter seiner Jurisdiktion mit Frömmigkeit175 anspielen. Der Begriff der pietas passt gut zu dem Lobpreis auf Sigibert, bei dem spezifisch christliche Herrschertugenden betont wurden; 176 dass Athanagild arianischen Bekenntnisses war, spielt dabei offenbar keine Rolle oder wird hier bewusst übergangen, um Brunichilde wie Sigibert in eine christliche Herrschertradition einzuordnen. Die Betonung der Ausdehnung des Gotenreichs bis an den Rand der bekannten Welt oder sogar darüber hinaus, 177 verleiht Brunichilde nicht nur eine gewisse Exotik, sondern lässt auch die Verbindung kaiserlicher178 erscheinen, weil Sigiberts Franken- und Athanagilds Gotenreich zusammengenommen ein Gebiet umfassen, das in eine gewisse Konkurrenz zum oströmischen Kaiserreich treten kann. Dabei ist der Begriff meritum / Verdienst in der Wendung tuis meritis / durch deine Verdienste179 hier – wie häufig bei Venantius Fortunatus – im moralischen Sinne zu verstehen:180 War zuvor von der 171 172 173 174 175 176 177 178 179 180

Vers 122–129, lateinischer Text nach REYDELLET, II, 49. Vers 122. Vers 126, vgl. Vergil, Aeneis, I, 13. Vgl. zu Athanagild auch REYDELLET, II, 175 Anm. 11. Vers 127. Vgl. die entsprechenden Ausführungen weiter oben in diesem Kapitel. Vers 125. Vgl. Vers 16. Vers 129. Der Begriff meritum / Verdienst kommt bei Venantius Fortunatus häufig vor und bezeichnet das, was jemandem einen Platz im Himmel sichert. Durch diese merita / Verdienste ist es möglich, auch für andere Fürsprache bei Gott einzulegen, so dass dieser Begriff bei Heiligen besonders am Platz ist, vgl. z. B. den Anfang von Carm., V, 1 (lateinischer Text bei REYDELLET, II, 18): Martini meritis per tempora longa, Gregori, / Turonicum foueas pastor in urbe gregem / Durch die Verdienste des (heiligen) Martin, hegst du, Gregor, (schon) lange Zeit / als Hirte in der Stadt die Herde von Tours.

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3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

räumlichen Ausdehnung und dem Wohlstand des Reiches von Athanagild die Rede gewesen181 und dann mit dem Begriff der pietas / Frömmigkeit182 die Wendung zu moralischen Werten eingeleitet worden, stehen sie nun im Mittelpunkt. Eben diese merita / Verdienste im moralischen Sinn lassen die Eltern noch größer erscheinen, ein Paradoxon, denn normalerweise wächst man durch die Verdienste seiner Vorfahren. Die Besonderheit der Verbindung wird durch einen summarischen Lobpreis, dass das Paar alle Brautpaare übertreffe in Verbindung mit den traditionellen Wünschen nach Nachwuchs abgeschlossen, wobei die Hoffnung auf ein anbrechendes Friedensreich besonders exponiert wird: Quantum, uideris

uirgo micans,

turbas superare Wie weit, strahlendes Mädchen, scheinst du die Scharen der Frauen 130 130 zu überragen, wie weit du, Sigibert, die Ehefemineas, quantum tu, Sigiberte, maritos. männer! Ite diu iuncti membris et corde iugati, Geht, seid lange mit den Gliedern verbunden Ambo pares genio, meritis et moribus ambo, und dem Herzen vereint, beide gleich an Geist, an Verdiensten und Sittlichkeit beide, sexum quisque suum pretiosis actibus ornans, jeder ziert sein Geschlecht durch kostbare cuius amplexu sint colla conexa sub uno Taten, eure Nacken seien in einer einzigen Umarmung verbunden, et totos placidis pergatis lusibus annos. 135 und möget ihr in süßen Liebesspielen die ganHoc uelit alterutrum quicquid dilexerit alter. zen Jahre zubringen. 135 Dies wolle ein jeder von beiden, was jeweils der andere liebt. Aequa salus ambobus eat, duo pectora seruans Gleiche Gesundheit sei Euch beiden und möge Unus amor uiuo solidamine iunctus alescat. zwei Herzen bewahren eine einzige Liebe und euch nähren, mit lebendigem Band verbunden.183

Die moralische Dimension der merita / Verdienste wird durch den alliterierenden Konnex mit mores / Sitten, Charakter (Vers 133) unterstrichen. Venantius Fortunatus legt zudem eine besondere Betonung auf die Eintracht der Liebenden und spinnt damit die motivischen Anklänge an die Liebeselegie weiter. Es ist von einer einzigen Umarmung / unus amplexus (Vers 135), einer einzigen Liebe / unus amor die Rede, außerdem davon, dass jeder das wolle, was der andere liebe (Vers 139). Der entsprechende Begriff wird kurz vor Schluss genannt und erscheint dort ins Politische übertragen: concordia / die Eintracht (Vers 137). Die Eintracht zwischen der Gotenprinzessin und dem Frankenkönig sichert den Frieden zwischen den Völkern: 181 Venantius Fortunatus, Carm., VI, 1, 125f. 182 Vers 127. 183 Venantius Fortunatus, Carm., VI, 1, 130–139, lateinischer Text nach REYDELLET, II, 49f.

3.2.2. Panegyrisches auf Personen und Gebäude

255

Auspiciis uestris cunctorum gaudia surgunt,140 Unter euren Auspizien erhebt sich die Freude pacem mundus amet, uictrix concordia regnet. aller, 140 die Welt soll den Frieden lieben, die Eintracht als Siegerin herrschen. Sic iterum natis celebretis uota parentes Möget ihr so als Eltern wiederum die Hochzeit et de natorum teneatis prole nepotes. Eurer Kinder feiern und vom Spross der Kinder Enkel haben.184

Damit wird ringkompositorisch auf das programmatische Mars habet ecce duces, [Pax] habet ecce decus / Siehe! Mars hat Führer! Siehe! Der Frieden hat Glanz! (Vers 20) aus dem Proöm Bezug genommen und zugleich in elegischer Tradition Liebes- und Kriegsthematik verbunden, wenn die Begriffe amet / soll lieben und victrix / siegreich unmittelbar nebeneinander erscheinen (Vers 141). Die Programmatik wird dadurch noch deutlicher, dass dies alles in Form von guten Wünschen für die Brautleute formuliert und durch diese Einbettung im Konjunktiv erscheint. Gerade der scheinbar traditionelle Abschluss, der sich mit den Wünschen für eine reiche Nachkommenschaft ganz in die Gattung des epithalamium einordnet,185 geht durch seine Programmatik über die Genregrenzen hinaus: Während sich sonst die Eintracht allein auf die Eheleute bezieht, hat sie bei Venantius Fortunatus eine politische Dimension, dasselbe gilt für die Nachkommenschaft, die im Falle von Sigibert und Brunichilde Hoffnung auf einen dauerhaften Frieden zwischen Franken und Goten gibt.186 Venantius Fortunatus schließt auf diese Weise mit dem Thema, mit dem er begonnen hatte, die Sorge um den Nachwuchs, die im der Naturschilderung des Proöm im Vordergrund stand.187 Trotz der unterschiedlichen Metrik (elegisches Distichon und rein hexametrische Dichtung) bilden Prolog und epithalami184 Venantius Fortunatus, Carm., VI, 1, 140–143, lateinischer Text nach REYDELLET, II, 50. 185 Vgl. Menander Rhetor, Peri epideiktikon, 404, wo ein Gebet für das Ende des epithalamium verlangt wird. Auch Sidonius Apollinaris spricht in seinem Epithalamion auf Ruricius und Iberia von Eintracht, Kindern und Enkeln: ...feliciter aevum / ducite concordes; sint nati sintque nepotes; / cernat et in proavo sibimet quod pronepos optet. / Verbringt glücklich / und in Eintracht die Zeit: es möge Kinder und Enkel geben; / und bei seinem Urgroßvater möge er für sich sehen, was der Urenkel wünscht (Sidonius Apollinaris, Carm., 11, Epithalamium auf Ruricius und Iberia, 131b–133, lateinischer Text nach LUETJOHANN, MGH, AA, VIII, 230. 186 Größere Ähnlichkeit besteht hier zu Claudians epithalamium auf Honorius, wo am Ende (Vers 319ff.) Honorius’ Heerführer Stilicho gefeiert wird, der vom Prinzenerzieher zum wichtigsten Mann im Staate aufgestiegen war und als Vater der Braut seine Familie mit dem Kaiserhaus verbunden hat. So lassen sich auch dort die beiden letzten Verse (340f.) dynastisch deuten (lateinischer Text nach BIRT, MGH, AA, X, 139): Sic uterus crescat Mariae; sic natus in ostro / Parvus Honoriades genibus considat avitis. / So möge der Bauch der Maria sich wölben; so möge der kleine, in Purpur geborene / Sohn des Honorius auf den Knien des Großvaters sitzen. Anders als bei Venantius Fortunatus geht es hier nicht um die Verbindung zweier Reiche, sondern der (Vandalen-)familie des Stilicho mit dem Kaiserhaus, deren besondere Bedeutung auch nur angerissen wird. 187 Vgl. die entsprechenden Ausführungen zu Beginn dieses Kapitels.

256

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

um eine thematische Einheit, in der das Auftreten der paganen Götter Cupido und Venus gleichsam einen Exkurs darstellt, der aber funktional in die Gesamtthematik integriert ist und in panegyrischer und programmatischer Absicht dazu dient, die Tugenden des künftigen fränkisch gotischen Herrscherpaares zu betonen. c) Zusammenfassung Der Vergleich mit anderen Epithalamien, insbesondere dem des Claudian auf die Hochzeit des Kaisers Honorius, des Sidonius Apollinaris auf Ruricius und Iberia sowie dem des Ennodius auf Maximus hat ergeben, dass sich Venantius Fortunatus bei diesem frühen Werk in die allgemein rhetorische wie in die spezifische Tradition der Gattung stellt, wobei er Vorschriften, wie sie für uns noch im Werk des Menander Rhetor greifbar sind, einerseits beachtet, andererseits variiert, z. B. indem das Ordnungsprinzip nach den Kardinaltugenden für das Lob der Brautleute aus dem basiliko(j lo/goj übernimmt und ihm durch Verbindung mit den christlichen Tugenden ein spezifisch christliches Gepräge gibt. Außerdem nimmt er zum Teil explizit Bezug auf seine Vorgängertexte. Das betrifft vor allem das Naturbild am Anfang des Proöm, wo sich deutliche Parallelen zu Ennodius aber auch zu Patricius zeigten, und die Einführung einer Götterebene mit Venus und Cupido, die den direkten Vergleich mit Claudian und Sidonius Apollinaris zulässt. Venantius Fortunatus beschränkt sich aber nicht darauf, nur auf ihm zeitlich nähere spätantike Dichter, die sich in der Gattung des epithalamium betätigt haben, Bezug zu nehmen, sondern rekurriert durch das Motiv der militia amoris direkt auf die Klassiker der römischen Liebeselegie. Literarische Anspielungen, Motivik wie Komposition sind aber in höchstem Maße auf Anlass und Intention des Gedichtes zugeschnitten. Dabei geht es nicht allein um traditionelle Herrscherpanegyrik. Indem bei Sigibert spezifisch christliche Tugenden in den Vordergrund gestellt werden, die concordia des Paares betont und die Friedensthematik mit dem dynastischen Element in einem Atemzug genannt wird, drückt sich eine politische Programmatik aus, die es Sigibert und Brunichilde ermöglicht, sich ganz als ein Paar zu präsentieren, das die alte Feindschaft zwischen Franken und Goten überwindet und den Grundstein zu einer nahezu kaiserlichen Dynastie im Westen legt. Zwar transgrediert Venantius Fortunatus hier nur partiell in der Form die Grenzen der Gattung, anders als etwa Ausonius in seinem Cento nuptialis, bei dem es sich im Grunde auch um ein epithalamium handelt, das allerdings komplett aus Bruchstücken von Vergilversen zusammengesetzt ist, doch geht er inhaltlich über sie hinaus und spielt dabei virtuos mit den Möglichkeiten der Gattung, der die Gelegenheit und Intention der Dichtung optimal angepasst werden. Somit präsentiert der Dichter nicht nur sich selbst und seine Fähigkeiten im Frankenreich, sondern dient zugleich der Selbstpräsentation des Herrscherpaares. Außerdem spiegeln sich hier wohl auch fränkische Großbzw. Mittelmachtsträume, denen Venantius Fortunatus in diesem Carmen Ausdruck verleiht. In ähnlicher Weise exponiert Venantius Fortunatus das Lob des Königspaars im folgenden Gedicht (Carmen V, 1a), das hier aber nicht mehr ausführlich erörtert werden soll.

3.2.2. Panegyrisches auf Personen und Gebäude

257

3.2.2.2. Carmen II, 10 Allgemeine Vorbemerkungen Die literarische Tradition des poetischen Enkomions, seit hellenistischer Zeit verbreitet und im lateinischen Bereich seit den augusteischen Dichtern zum Preis der jeweiligen Machthaber und ihrer Gönner in Blüte, überschreitet bereits in der bukolischen Dichtung die Gattungsgrenzen (z. B. in den Eklogen des Calpurnius Siculus). 188 Innerhalb der Kasuallyrik haben panegyrische Elemente ihren natürlichen Platz in Gedichten, die nicht nur einer Person gewidmet sind, sondern sie auch zum Thema haben, während in christlicher Zeit zu den weltlichen Adressaten auch geistliche hinzutreten. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob panegyrische Elemente eine ähnliche Bedeutung wie im analysierten Beispiel auch in Gedichten zeigen, die ein Gebäude zum Sujet haben, und wenn ja, ob sich vergleichbare Spezifika herausarbeiten lassen. Diese Fragestellung soll im Folgenden anhand der Analyse eines, sonst eher selten behandelten Gedichtes aus dem zweiten Buch der Gedichtsammlung des Venantius Fortunatus untersucht werden.189 Es ist ebenfalls in der frühen Phase seines Aufenthalts im Frankenreich entstanden, als sich Venantius Fortunatus im Umfeld des Bischofs Germanus von Paris aufhielt (566 / 567), ehe er nach dessen frühzeitigem Ableben weiter nach Tours und Poitiers zog.190 Zahlreiche Gedichte des Venantius Fortunatus haben ein Gebäude zum Sujet. Nach moderner Terminologie handelt es sich also um „Bildgedichte“ im weiteren Sinne, wenn man zwischen den drei Subgattungen „Gemäldegedicht“, „Skulpturgedicht“ und „Architekturgedicht“ differenziert.191 Während von Venantius Fortunatus zwar auch im Sinne eines „Gemäldegedichts“ auch der Bildzyklus auf den heiligen Martin in der von Gregor restaurierten Kathedrale von Tours dargestellt wird, allerdings eingebettet in eine Behandlung des gesamten Gotteshauses,192 handelt es sich bei der überwiegenden Mehrheit seiner „Bildgedichte“ um „Architek-

188 189 190 191

Vgl. TH. PAYR, Enkomion, RAC 5, Sp. 334f.. Venantius Fortunatus, Carm., II, 10. Vgl. dazu die entsprechenden Ausführungen in Kapitel 2. 2. dieser Arbeit. So U. ERNST, Bildgedicht, in: D. LAMPING, Handbuch der literarischen Gattungen, s. v. Gisbert Kranz sieht im „Architekturgedicht“ eine eigenständige Gattung, die er allerdings nach annähernd denselben Kriterien wie das „Bildgedicht“, also „Transposition, Suppletition, Assoziation, Interpretation, Provokation, Spiel, Konkretisation“ behandelt, wobei die Punkte der „Memoria, Symbolik, Metaphorik“ als „Leistung“ noch hinzutreten, siehe G. KRANZ, Das Bildgedicht. Theorie, Lexikon, Bibliographie, Köln 1981, insbesondere 27–171 und DERS., Das Architekturgedicht mit einem anthologischen Anhang von 14 Abbildungen und 16 Texten, Köln 1988, insbesondere 11–45. 192 Venantius Fortunatus, Carm. X, 6. „Bildgedichte“ können sowohl in reiner als auch kombinierter Form auftreten. Kranz unterscheidet sieben Typen: 1. das deskriptive Bildgedicht, 2. das panegyrische Bildgedicht, 3. das pejorative Bildgedicht, 4. das didaktisch-moralische Bildgedicht, 5. das politische Bildgedicht, 6. das sozialkritische Bildgedicht, 7. das amouröse Bildgedicht, ausführlich dazu KRANZ, Das Bildgedicht, 173–234.

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

258

turgedichte“. Diese „Architekturgedichte“ können sowohl Profan-193 als auch Sakralbauten behandeln, wobei die Gedichte auf Sakralbauten bei Venantius Fortunatus deutlich überwiegen,194 und zwar auf Sakralbauten, die entweder neu errichtet oder wiederhergestellt worden sind. Von einem „Architekturgedicht“ kann man dabei insofern sprechen, als die Ekphrasis des Gebäudes einen breiten Raum einnimmt. Bei Sakralbauten wird diese von Venantius Fortunatus häufig auch mit einer narratio von Teilen der Legende des Heiligen, dem die Kirche geweiht ist,195 verbunden. Eine gewisse Nähe ergibt sich zudem zur Epigrammatik (nicht nur vom Metrum, dem elegischen Distichon, her), da in den Gedichten der Stifter bzw. Restaurator des Gebäudes verewigt wird und sie wie Epigramme zu dessen Reputation beitragen. Paradigmatisch soll zum Abschluss des Kapitels das sich unmittelbar anschließende Gedicht196 analysiert werden, das als ein typisches Exempel für ein „sakrales Architekturgedicht“ des Venantius Fortunatus gelten kann. b) Gliederung Auch hier soll der Analyse zunächst eine kurze Gliederung vorangestellt werden. Das Gedicht besteht aus nur dreizehn Distichen und weist eine zweiteilige Gliederungsstruktur auf: I. V. 1 – 16 V. 1 – 4 V. 5 – 10 V. 11 – 16

I. Die Kirche in Paris: Einleitung: Vergleich mit dem Tempel Salomons. Ausführung des Vergleichs I: Ausstattung der Kirche. Ausführung des Vergleichs II: Das Licht in der Kirche.

193 Ein klassisches Beispiel eines Gedichts auf einen Profanbau stellt Statius, Silvae, II, 2 dar, ein hexametrisches Lob einer Villa des Pollius Felix, das im bukolischen Ambiente in einer breiten Ekphrasis die Schönheit des Hauses hervorhebt. 194 Ausnahmen bilden Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 19, fünf Distichen als Dank an Gregor von Tours für die Überlassung einer Villa, sowie Carm., I, 18–20 auf Villen des Bischofs Leontius II. von Bordeaux, die ganz in der Tradition des Statius (II, 2) stehen. Zur Bedeutung solcher Stiftungen zur Zeit des Venantius Fortunatus siehe auch M. HEINZELMANN, Gregor von Tours. Zehn Bücher Geschichte, Darmstadt 1994, 24–26. 195 Zum Gelegenheitsgedicht und seinen Unterformen siehe R. DRUX, Gelegenheitsgedicht, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 3., 1996, Sp. 653–667. 196 Venantius Fortunatus, Carm., II, 10.

3.2.2. Panegyrisches auf Personen und Gebäude

II.V. 17 – 26 V. 17 – 18 V. 19 – 24 V. 25 – 26

259

II. Lob des Childebert: Childebert I. als Stifter der Kirche. Die Tugenden des Childebert. Wunsch, dass sein Ruhm über den Tod hinaus dauern möge. b) Interpretation Die Kirche in Paris

Da es sich beim Sujet wohl um die Kathedrale von Paris handelt,197 fällt der Bezug zu einer spezifischen Heiligenlegende fort. Venantius Fortunatus ersetzt ihn durch die Reminiszenz an den Tempel Salomons,198 mit der er das Gedicht eröffnet: Si salomoniaci memoretur machina templi, arte licet par sit, pulchrior ista fide.

Nam quaecumque illic ueteris uelamine legis clausa fuere prius, hic reserata patent.

Wenn man von der Architektur des salomonischen Tempels berichtet, mag er an Kunst gleich sein, diese Kirche ist schöner durch den Glauben. Denn was auch immer dort, durch den Vorhang des alten Gesetzes, früher verschlossen war, liegt hier offen zutage.199

Dadurch hebt Venantius Fortunatus auf die religiöse Dimension ab und unterstreicht mit der Doppeldeutigkeit des Begriffs uelamen, der einerseits für den Tempelvorhang, andererseits für den alten Bund steht, der die Wahrheit noch verhüllte (ueteris uelamine legis / durch den Vorhang des alten Gesetzes)200 und der symbolträchtig bei Jesu Tod reißt,201 die Überlegenheit des Neuen gegenüber dem Alten Bund. Diese Überlegenheit liegt im Glauben / fide202 und wird im Kirchengebäude selbst sichtbar, da das Allerheiligste nicht mehr wie einst in Salomons Tem-

197 Carmen II, 10 ist nur De ecclesia parisiaca / über die Pariser Kirche betitelt, ob es sich um Saint Vincent oder die Kathedrale handelt, ist umstritten, siehe REYDELLET, I, 188, Anm. 78. Für die zweite Möglichkeit plädieren J. DERENS und M. FLEURY, La construction de la cathédrale de Paris par Childebert Ier: d’ après le de ecclesia parisiaca de Fortunat. Journal des Savants, oct–déc. 1977, 247–256. Die Diskussion der Frage schon bei MEYER, Der Gelegenheitsdichter Venantius Fortunatus, 55–62, der ebenfalls die Auffassung vertritt, dass die Kathedrale von Paris gemeint sei. 198 Ein Vergleich einer Kirche mit dem Tempel Salomons findet sich bereits bei Sidonius Apollinaris, epist., IV, 18, 5, V, 13–16, der sich dort allerdings auf zwei Distichen beschränkt und nur allgemein den Glanz von Silber, Gold und Edelsteinen evoziert. 199 Venantius Fortunatus, Carm., II, 10, 1–4, lateinischer Text nach REYDELLET, I, 66. 200 Vers 3. 201 Mt, 27, 51; Mc 15, 38; Lc 23, 45. 202 Venantius Fortunatus, Carm., II, 9, 2.

260

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

pel verhüllt ist.203 Bei der nun folgenden Ekphrasis wird diese Aussage durch die Evokation eines visuellen Eindrucks verifiziert: Floruit illa quidem uario intertexta metallo, clarius haec Christi sanguine tincta nitet.

5 Jener freilich erblühte durch Einarbeitung verschiedener Metalle, 5 dieser glänzt heller, weil er in das Blut Christi getaucht ist, Illam aurum, lapides, ornarunt, cedrina ligna, jenen schmückten Gold, Edelsteine und Zehuic uenerabilior de cruce fulget honor. dernholz, in diesem erstrahlt vom Kreuz ein ehrwürdigerer Glanz. Constitit illa uetus ruituro structa talento, Jener alte stand errichtet durch vergänglichen haec pretio mundi stat solidata domus. 10 Reichtum, dieses (Gottes-)haus hier steht fest durch der Welt Lösegeld. 10 Splendida marmoreis attollitur aula columnis, Glänzend erhebt sich die Halle auf Säulen aus et quia pura manet, gratia maior inest. Marmor, und weil sie rein bleibt, liegt größere Anmut darin. Prima capit radios uitreis oculata fenestris Durch gläserne Fenster mit Augen versehen, artificisque manu clausit in arce diem. fängt sie frühmorgens die Sonnenstrahlen ein und hält durch des Künstlers Hand den Tag in der Kirche verschlossen. Cursibus Aurorae uaga lux laquearia conplet Das unstete Licht der Aurora erfüllt im Lauf 15 die Felder der Fenster 15 atque suis radiis et sine sole micat. und es glänzt durch eigene Strahlen auch ohne die Sonne.204

Nicht die prunkvolle Ausstattung (wie im Tempel im Jerusalem)205 als vielmehr das Licht ist hier von zentraler Bedeutung. Daher nennt Venantius Fortunatus nur wenige Einzelheiten der Ausstattung, neben dem christlichen Kreuz206 vor allem die Marmorsäulen 207 und die Glasfenster, 208 die durch Reflexion bzw. dank ihrer 203 Vers 4: Um diesen Gegensatz pointiert hervorzuheben, dient das Gegensatzpaar clausa fuere / waren verschlossen und reserata patent / liegen offen zutage, die chiastisch die zeitlich / räumliche Antithese prius / zuvor und hic / hier umklammern. 204 Venantius Fortunatus, Carm., II, 10, 5–16, lateinischer Text nach REYDELLET, I, 66f. Mit dem Lösegeld ist Christus gemeint, der durch seinen Tod am Kreuz das Lösegeld für die Menschheit bezahlt hat; vgl. REYDELLET, I, 67, Anm. 80. Denselben Gedanken führt Venantius Fortunatus auch in seinem Carmen figuratum V, 6a, 25–28 (26–29 nach der Zählung von REYDELLET, II, 33) aus; dort verwendet er den Begriff uitalis emptio / lebendiges Lösegeld (Vers 28 bzw.29). 205 Vers 5 & 7. 206 Vers 8. 207 Vers 11. 208 Vers 13. Die laquearia / Kassetendecke dürfte dabei ebenfalls eine reflektierende Wirkung ausüben, falls hier nicht ohnehin die Felder der Kirchenverglasung gemeint sind, wie es

3.2.2. Panegyrisches auf Personen und Gebäude

261

Durchlässigkeit in engem Zusammenhang mit dem Licht stehen. Das Außergewöhnliche an dieser Kirche liegt also nicht in dem finanziellen Aufwand, der für Bau und Ausstattung betrieben worden ist, den es auch bei dem inzwischen zerstörten Tempel in Jerusalem gegeben hat,209 sondern darin, dass in ihm das Licht der Morgenröte eingefangen wird und der Tag dort gleichsam verweilt. 210 Das Licht steht aber metonymisch für Christus, das Licht der Welt,211 und nimmt damit Bezug auf die Formulierung pretio mundi / der Welt Lösegeld,212 durch das diese Kirche im Gegensatz zum Tempel in Jerusalem erbaut ist: Der Schmuck dieser Kirche besteht nicht in Äußerlichkeiten, sondern in der Gegenwart Christi. Der Stifter Childebert I. Auf diese Ekphrasis folgen zum Abschluss des Carmen fünf Distichen, die sich nicht auf die Kirche, sondern den bereits verstorbenen König Childebert I. beziehen: Haec pius egregio rex Childebertus amore dona suo populo non moritura dedit.

Diese unsterblichen Gaben schenkte in außergewöhnlicher Liebe der fromme König Childebert seinem Volk. Totus in affectu diuini cultus adhaerens In glühender Liebe ganz dem Kult Gottes ergeecclesiae iuges amplificauit opes. 20 ben, mehrte er die immerwährenden Schätze der Kirche. 20 Melchisedech noster, merito rex atque sacerdos Unser Melchisedech, zu Recht König und compleuit laicus religionis opus. Priester, erfüllte als Laie ein Werk der Religion. Publica iura regens ac celsa palatia seruans: Während er die staatlichen Angelegenheiten unica pontificum gloria norma fuit. lenkte, diente er dem Himmelspalast, der Ruhm der Priester war für ihn die einzige Richtschnur.

209 210 211 212

wohl REYDELLET, I, 67 auffasst, wenn er übersetzt: Eclairée par des verrières / Hell erleuchtet durch die Kirchenfenster. Vers 9. Vers 13–16. Vgl. Io 1, 5. Vers 10.

262

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

Hinc abiens illic meritorum uiuit honore. 25 Hic quoque gestorum laude perennis erit.

Aus dem Leben hier schied er und lebt nun in der Ehre seiner Verdienste. 25 Hier wird er auch durch den Ruhm seiner Taten unsterblich werden.213

Auch in diesem Gedicht steht also ein Enkomion auf eine Person am Ende, in die der breit angelegte Vergleich des Tempels in Jerusalem mit dieser christlichen Kirche ausmündet. Diesem Vergleich sind die ersten fünf Distichen gewidmet,214 genauso viele wie dem Lob Childeberts I. am Ende des Gedichtes.215 Die übrigen drei Distichen216 nehmen somit eine Scharnierstellung innerhalb des Gedichtes ein. In ihnen wird das Motiv des Lichtes aus dem Vergleich217 wieder aufgenommen und in eine Schilderung der Lichtverhältnisse innerhalb der Kirche überführt. Anders als der Schmuck des salomonischen Tempels, 218 besteht der Schmuck dieser Kirche darin, dass das wahre Licht in ihr weilt und somit die Gegenwart Christi erkennen lässt. Die Ausstattung, die dies möglich macht, verdankt die Kirche aber dem bereits 558 verstorbenen Childebert I.219 Und dieser wird von Venantius Fortunatus in einen Paradoxon als König und Hohepriester präsentiert, als Laie, der ein Werk ausführt, das an sich die Aufgabe eines Klerikers wäre.220 Zwar erscheint er nicht wie Germanus im zuvor behandelten Gedicht schon auf Erden gleichsam in einem Zustand der Heiligkeit,221 dafür wird er aber mit dem alttestamentlichen Priesterkönig Melchisedek verglichen,222 was ihn noch höher stellt, da er sich damit in einer Tradition mit den Königen von Jerusalem befindet, die ebenfalls königliche und priesterliche Aufgaben hatten. Dabei wird hier die klerikale Seite höher veranschlagt, wenn davon die Rede ist, dass einzig der Ruhm der Priester für Childebert die Richtschnur / norma gewesen sei.223 Darin besteht die Ehre seiner Verdienste / meritorum honor,224 die ihm im Himmelspalast das ewige Leben sichert. Hier auf Erden wird ihn zusätzlich der Ruhm seiner Taten unsterblich machen.225 Das passt 213 Venantius Fortunatus, Carm., II, 10, 17–26, lateinischer Text nach REYDELLET, I, 67. Zur Konstruktion von Vers 24 siehe REYDELLET, I, 189, Anm. 84, wo er darlegt, dass hier wohl gloria als Subjekt und norma als Prädikatsnomen aufgefasst werden muss. 214 Vers 1–10. 215 Vers 17–26. 216 Vers 11–16. 217 Dort besonders Vers 6 und 8. 218 Siehe Vers 3, 5 & 7. 219 Dass es hier nicht um die Stiftung der Kirche, sondern um ihre Ausstattung geht, vermutet schon MEYER, Der Gelegenheitsdichter Venantius Fortunatus, 56–62, der davon ausgeht, dass dieses Gedicht im Auftrag und Interesse der wieder in Paris lebenden Witwe des Childebert und ihrer beiden Töchter verfasst worden ist. 220 Siehe zu dieser Stelle auch M. REYDELLET, La royauté dans la littérature de Sidoine Apollinaire à Isidore de Séville, B. E. F. A. R. 243, Paris 1981, 323f. 221 Siehe Venantius Fortunatus, Carm., II, 9, 26–44. 222 Venantius Fortunatus, Carm., II, 10, 21. 223 Vers 24. 224 Vers 25. 225 Vers 26.

3.2.2. Panegyrisches auf Personen und Gebäude

263

nicht nur zur Doppelfunktion des Priesterkönigs Melchisedek, sondern verbindet in eigentümlicher Weise paganes mit christlichem Gedankengut: Durch seine Verdienste hat er ein ewiges Leben im Himmel erworben, aber auch auf Erden wird er durch die ruhmreiche Memoria an seine Taten (laude gestorum) ebenfalls ewig / perennis sein,226 d.h. jene Art von Unsterblichkeit erlangen, die schon in paganer Zeit für große Persönlichkeiten zu erlangen war. Der Hinweis auf die Unsterblichkeit im letzten Distichon schafft eine Verbindung zum Genos des Epitaphion, denen das ganze vierte Buch der Carmina des Venantius Fortunatus gewidmet ist.227 Architektur und Panegyrik Hier liegt also ein Gedicht vor, das man aufgrund der Proportionen, die das Lob des Childebert darin einnimmt, gleichermaßen den Stifter wie die Stiftung hervorhebt. Da der Stifter am Ende steht, wird das Lob der Stiftung geradezu zum Vorspiel dieses Stifterlobs, so dass das Lob der Person in den Vordergrund tritt und man hier vielleicht von einem „panegyrischen Architekturgedicht“ sprechen kann. Es bleibt die Frage, inwieweit dies dem konkreten Anlass geschuldet ist,228 oder ein Charakteristikum der „Architekturgedichte“ des Venantius Fortunatus darstellt. Anders ausgedrückt: Nutzt der Dichter über den Anteil hinaus, der dem Stifter innerhalb der Gattung ohnehin zukommt, seine Gedichte auf Sakralbauten als Spielart eines Enkomions auf eine Person? Vergleicht man dieses Gedicht mit der Reihe der Gedichte des Venantius Fortunatus auf Kirchenbauten, die der Bischof Leontius I von Bordeaux und sein Nachfolger Leontius II ausführen bzw. restaurieren ließen,229 so ergeben sich deutliche Parallelen. Auch wenn die Proportionen nicht die Länge des Lobpreises von Childebert I. erreichen, 230 so bleibt das Geschilderte doch auf Leontius als Bauherrn bezogen. Dies lässt sich z. B. anhand des Gedichtes über die Basilika des D. Dionysios deutlich machen. 231 Zwar ist dort Leontius nur einmal namentlich erwähnt,232 doch bleibt das ganze Gedicht auf ihn bezogen. Schon der epigrammatische Anfang in Dialogform macht ihn zum Thema:

226 Vers 26. 227 Vgl. dazu auch die Ausführungen in Kapitel 3. 2. 3. dieser Arbeit. 228 Es ist durchaus möglich (wie schon MEYER, Der Gelegenheitsdichter Venantius Fortunatus, 56–62, vermutete), dass dieses Gedicht für Childeberts Witwe Ultrogotha nach ihrer Rückkehr mit ihren Töchtern aus der Verbannung verfasst worden ist, ähnlich wie Carmen VI, 6, De Ultrogothonis horto. Speziell zu diesem Gedicht und der Ausgangssituation siehe J. W. GEORGE, Variations on Themes of Consolation in the Poetry of Venantius Fortunatus, Eranos 86 (1988), 53–66, insbesondere 60–65. 229 Venantius Fortunatus, Carm., I, 6, 8, 9, 10, 11, 12, 13. 230 Vgl. Venantius Fortunatus, Carm., I, 10, 7f., wo der Name des Leontius nur in einem (allerdings zentralen) Distichon erscheint: Haec tibi templa sacer deuota Leontius offert / maiorem suam hinc cupit esse domum / Dieses fromme Gotteshaus bietet Dir der heilige Leontius / und möchte, dass sein Haus größer ist (als der Vorgängerbau). 231 Venantius Fortunatus, Carm., I, 11. 232 Vers 9.

264

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

Qui cupis egregii structorem noscere templi, tam pia non patiar uota latere tibi.

Der du begehrst den Bauherrn der großartigen Kirche kennen zu lernen, nicht will ich es dulden, dass deine Wünsche unerfüllt bleiben.233

Nach einer kurzen Erwähnung, dass der Bischof Amelius den Vorgängerbau hatte errichten lassen und dass dieser aber dem Pilgerstrom von der Größe her nicht gewachsen war,234 ist die zentrale Partie Leontius gewidmet: Quo uitae claudente diem dehinc prole graduque uenit ad heredem hoc opus atque locus fundauitque piam hanc papa Leontius aulam Obtulit et Domino splendida dona suo. 10

Als dieser die Zeit seines Lebens beschloss, kamen Werk und Ort nach Abkunft und Würde zu einem Erbe, und Bischof Leontius gründete diese heilige Halle und brachte seinem Herrn ein glänzendes 10 Geschenk dar.235

Auch die folgende narratio über den Märtyrer Dionysios, dem die Kirche geweiht ist, und Gedanke darin, dass Dionysios bereit war, sich für seinen Glauben köpfen zu lassen, bleiben nicht ohne Bezug zum Bauherrn.236 Denn wie sie mit vier Versen über Leontius eingeleitet wurden, so werden sie mit ebenfalls vier Versen über ihn beschlossen, so dass eine Rahmung entsteht:

233 234 235 236

Venantius Fortunatus, Carm., I, 11, 1f., lateinischer Text nach REYDELLET, I, 30. Vers 4–7. Vers 7–10, lateinischer Text nach REYDELLET, I, 30. Vers 11–20 (lateinischer Text nach REYDELLET, I, 30): Quam uenerandus habet propriam Dionisius aedem, / nomine sub cuius sanctificata nitet. / Qui feruente fide Christi solidatus amore, / uertice subposito colla secanda dedit. / Membrorum contemptor erat cupiendo coronam, / uile putans quicquid ferret amore Dei. / Vt moritura caro donum inmortale pararet, / uulnera dilexit, sed caritura nece. / Hostili occurrens gladio se misit Olimpo: / unde mori uoluit, uota salutis habet. (20) / Was für eine Kirche hat der ehrwürdige Dionysius zu eigen, / die unter seinem Namen geheiligt erglänzt. / Dieser legte in glühendem Glauben, gefestigt durch die Liebe zu Christus, / seinen Kopf auf den Richtblock, um sich enthaupten zu lassen. / Er war ein Verächter der leiblichen Glieder, weil er die Krone begehrte / und hielt für gering, was auch immer er aus Liebe zu Gott ertrug. / Dass das sterbende Fleisch ein unsterbliches Geschenk ihm bereite, / liebte er die Wunden, aber die, welche ihm vom Tod befreien würden. / Dem Schwert des Feindes begegnend, begab er sich in den Himmel, / da er sterben wollte, erfüllte sich sein Wunsch nach dem (ewigen) Heil. (20).

3.2.2. Panegyrisches auf Personen und Gebäude

265

Nec angusta prius subtraxit fana sacerdos, Und nicht ließ der Bischof das kleine Heiligtum haec nisi perficeret quae modo culta abreißen, placent, bevor er dies vollendete, wo nun der Kult stattfindet, adsidue in prisco peragens cerimonia templo, und beständig führte er in der alten Kirche die donec rite sequens consolidasset opus. religiösen Zeremonien aus, bis das nachfolgende Bauwerk fest errichtet und geweiht war.237

Von den insgesamt vierundzwanzig Versen sind also, rechnet man den Anfang mit, zehn Leontius gewidmet, 238 der damit ebenso vieler Verse gewürdigt wird, wie Dionysios,239 auf dessen Grab die Kirche erbaut worden ist. Und nur vier Verse beziehen sich auf die Geschichte des Heiligtums bzw. den Vorgänger des Leontius. 240 Einige Eigenschaften des Leontius werden dabei en passant oder indirekt gerühmt: Zunächst Abkunft und Stand,241 dann vor allem seine pietas / Frömmigkeit, die sich darin äußert, dass er nicht nur einen größeren Kirchenbau in Auftrag gibt, sondern bis zu seiner Fertigstellung den alten für die Pilger offen lässt. Die Rahmung der Passage über Dionysios durch die über Leontius hebt letzteren deutlich hervor und macht ihn zum Garant dafür, dass der Kult des Märtyrers überhaupt stattfinden kann. Eine ausführliche Würdigung des Leontius erfolgt zudem in Anschluss an die Gedichte, die sich seiner Bautätigkeit widmen, in einem Carmen, das über hundert Vers umfasst.242 d) Zusammenfassung Wie diese Beispiele gezeigt haben, steht also auch in Gedichten des Venantius Fortunatus, die eigentlich Gebäude zum Sujet haben, die Person des Stifters oder des Bauherrn deutlich im Vordergrund. Das Gedicht über die Basilika des D. Dionysios243 zeigt, dass diese Person ein eben so großes oder noch größeres Gewicht erhalten kann wie der Heilige, dem ein solcher Sakralbau gewidmet ist. Man muss also tatsächlich von einer Verbindung von Panegyrik und „Archtitekturgedicht“ ausgehen, wobei die Panegyrik und die Steigerung der Reputation des Stifters bzw. Restaurators ein zentrales Element bilden, was diese Art der Gedichte mit der Epigrammatik verbindet. Innerhalb dieses „panegyrischen Architekturgedichtes“ setzt Venantius Fortunatus allerdings einige eigene Akzente, ebenso wie in den 237 238 239 240 241 242

Vers 21–24, lateinischer Text nach REYDELLET, I, 30f. Vers 1f., Vers 6–7 und Vers 21–24. Vers 11–20. Vers 3–6. Vers 7. Venantius Fortunatus, Carm., I, 15. Seinem Nachfolger, Leontius II., widmet Venantius Fortunatus ein Epitaphion, Carm., IV, 10. 243 Venantius Fortunatus, Carm., I, 11.

266

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

Enkomien auf Personen: Dies gilt sowohl für die spezifisch christlichen Elemente, die mit traditionellem Herrscherlob verbunden werden, als auch die ausgiebige Verwendung der Lichtmetaphorik in den ekphrastischen Passagen. Gerade in Hinblick auf die Sakralbauten wird diese Metaphorik im Sinne einer spezifischen interpretatio christiana verwendet, was das Bemühen des Venantius Fortunatus verdeutlicht, traditionelle Grenzen nicht nur formal, sondern inhaltlich als poeta doctus Christianus zu überschreiten.

3.2.3. Epitaphien (IV 9, 21, 22, 28) Allgemeine Vorbemerkungen Anders als bei den übrigen Gattungen fortunatischer Kasuallyrik sind die Epitaphien in einem eigenen Buch gesammelt. Das vierte Buch enthält achtundzwanzig Epitaphien und nimmt in der ursprünglichen Sammlung von sieben Büchern1 die Mittelstellung ein. Die Frage, ob es sich dabei ursprünglich um reale Grabinschriften handelte, ist viel diskutiert und unterschiedlich beantwortet worden.2 Während sie in der älteren Forschung durchweg als reale Grabinschriften (mit Ausnahme des Epitaphium auf Vilithuta, IV 26, und des auf Victorianus, IV 11) aufgefasst und auch in die Inschriftensammlung von E. LeBlant aufgenommen wurden,3 bleibt der Umstand, dass sich nur für Nicetus von Lyon eine Grabinschrift von Venantius Fortunatus erhalten hat, die allerdings nicht in das Epitaphienbuch aufgenommen ist. Von Bischof Chaletricus von Chartres, Victorianus und Königin Theudechilde sind Grabsteine erhalten, deren Inschriften nicht von Venantius Fortunatus stammen.4 Das bedeutet allerdings noch nicht, dass die Epithaphien des vierten Buches in der Sammlung der Carmina des Venantius Fortunatus nicht als Grabinschriften oder für einen Vortrag am Grab bei einer Feier zum Gedenken an den Verstorbenen (bei der Beerdigung oder einem Jahrestag des Todes) konzipiert worden sind. Wenn ein Carmen als Grabinschrift zunächst auf Holz statt auf Stein aufgetragen worden wäre, hätte sich die Inschrift ohnehin nicht erhalten, wenn es in erster Linie zum Vortrag bestimmt war, ebenfalls nicht. In der vorliegenden Form und Auswahl der Gedichte werden jedoch eindeutig literarische Ziele verfolgt,5 so dass, auch wenn man von einem ursprünglich realen Hintergrund ausgeht, eine Auswahl und Redaktion der Gedichte angenommen werden muss. Dafür spricht schon, dass die Gesamtzahl genau achtundzwanzig ausmacht, ein numerus perfectus.6 Daneben spielen nume1 2

3

4 5 6

Zur Frage der Publikation der Sammlung vgl. REYDELLET, I, LXVIII–LXXI. Auf die Zwitterstellung der Epitaphien des Venantius Fortunatus innerhalb von inschriftlich überlieferten Grabepigrammen, Epitaphien als laudes funebres und Grabelegie hat bereits KEYDELL in seinem ausführlichen RAC-Artikel hingewiesen, wobei er zwischen literarischen und nicht literarischen Epigrammen nach der Überlieferungslage (handschriftlich oder inschriftlich) differenziert., vgl. R. KEYDELL, Epigramm, in: RAC 5 (1962), Sp. 539–577, hier Sp. 568. Siehe dazu jetzt auch D. WALZ, Das Epitaphium Vilithutae (Carmen IV, 26). Überlegungen zum Epitaphienbegriff des Venantius Fortunatus, in: W. BERSCHIN, J. GÓMEZ PALLARÈS & J. MARTINEZ GÁZQUEZ (Hrsg.): Mittellateinische Biographie und Epigraphik, Heidelberg 2005, 55–68, insbesondere 56ff. E. LEBLANT, Inscriptions chrétienne de la Gaule antérieures au VIIIe siècle, Paris 1856 – 1865, Konkordanz bei REYDELLET I, LXXXVIff. Anm. 251, vgl. WALZ, Epitaphium Vilithutae, 56 mit Anm. 7. Vgl. dazu WALZ, Epitaphium Vilithutae, 57 mit Anm. 11 & 12. Vgl. dazu WALZ, Epitaphium Vilithutae, 57f. Zur Bedeutung der 28 als numerus perfectus, siehe H. MEYER / R. SUNTRUP, Lexikon der mittelalterlichen Zahlenbedeutung (Münstersche Mittelalter Schriften 56), München 1987, Sp. 689–692. Hrabanus Maurus verfasst genau 28 Figurengedichte auf das Heilige Kreuz. Die

268

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

rische Gliederungssysteme auch innerhalb des Buches eine Rolle. So folgt die Anordnung der Gedichte einerseits dem Stand der Toten, 7 drückt aber andererseits durch die Anzahl der Gedichte, die dem jeweiligen Stand der Verstorbenen zugeordnet sind, indem er mit den Zahlen 2, 3, 5, ihren Vielfachen und Potenzen, spielt, eine exemplarische Vollständigkeit aus, beginnend mit geistlichen Würdenträgern, vom Bischof bis zum Diakon, denen die Carmina 1–15 gewidmet sind, fünfzehn Carmina, zehn für die Bischöfe und fünf für die übrigen Kleriker (zwei Priester, zwei Äbte, ein Diakon), was man auch als Produkt der Primzahlen 3 und 5 deuten kann.8 Den Laien sind die restlichen 13 Gedichte dediziert, davon Männern die Gedichte 16–24, also neun Gedichte, die erste Potenz der Zahl 3.9 Am Schluss (25–28) stehen Epitaphien auf Frauen, die mit dem auf die Königin Theudechilda (25) eingeleitet werden und von denen das Epitaphium auf die jung verstorbene Vilithuta (26) die übrigen Epitaphien mit 160 Versen an Länge deutlich überragt und daher auch separat ediert und untersucht worden ist.10 Auch hier liegt durch die Vierzahl, die sowohl als erste Potenz der zwei als auch als Summe der Zahlen 1 und 3 aufgefasst werden kann,11 ein numerologischer Bezug vor, handelt es sich doch um die Epitaphien für eine Königin und drei adelige Damen, wobei Eusebia gerade verlobt ist und noch im Kindesalter verstirbt.12 Bei den Epitaphien sind (wie Walz es formuliert) ”[l]ängst Verstorbene, Zeitgenossen, Geistliche und Laien, Verlobte, Verheiratete, Witwer und Witwen, Mütter und Väter, Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Greise [...] vertreten. In diesem Panoptikum der Christenheit als einem Abbild der Kirche fallen zwar die Verdienste der einzelnen unterschiedlich und abhängig von Stand, Alter und Geschlecht aus, allen Verstorbenen ist die Vollkommenheit ihres Lebenswandels gemeinsam. Mit großer Beflissenheit stellt Venantius Fortunatus alle als Heilige dar, nicht nur diejenigen, die zu seiner Zeit schon als solche verehrt wurden wie die Bischöfe Gregor von Langres oder Gallus von Clermont.”13 Der Zahlentektonik in der Makrostruktur kommt dabei eine stützende Funktion zu hinsichtlich der Fülle der exempla zu, die das gesamte Spektrum menschlichen Lebens und Sterbens beinhaltet und durch den numerus perfectus bereits auf die durch ihre Verdienste erworbene Heilig- und damit Unsterblichkeit verweist.

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8 9 10

11 12 13

28 gilt als numerus perfectus, weil sie sich aus der Summe ihrer Divisoren ergibt (1 + 2 + 4 + 7 + 14 = 28). É DELBEY, La poétique della „copia“ chez Venance Fortunat: Le livre IV des épitaphes dans les carmina, R.É.L. 80 (2002), 206–222, weist nach, dass innerhalb der Anordnung nach Ständen (Bischöfen, sonstige Kleriker, Laien) meist zwei oder drei Gedichte dieselbe Verszahl aufweisen und dabei bisweilen auch inhaltliche korrespondieren. Zur Bedeutung siehe MEYER / SUNTRUP, Lexikon der mittelalterlichen Zahlenbedeutungen, Sp. 654–658. Zur Bedeutung der 9 siehe MEYER / SUNTRUP, Lexikon der mittelalterlichen Zahlenbedeutungen, Sp. 581–591. Eine ausführliche Behandlung und Kommentierung liegt vor in: Venanzio Fortunato, Epitaphium Vilithutae (IV 26), introd., trad. e commento a cura P. SANTORELLI, Neapel 1994 und jetzt auch bei WALZ, Epitaphium Vilithutae. Vgl. dazu MEYER / SUNTRUP, Lexikon der mittelalterlichen Zahlensymbolik, Sp. 332–402. Siehe Venantius Fortunatus, Carm., IV, 28, 11f. WALZ, Epithaphium Vilithutae, 58f.

3.2.3. Epitaphien

269

Hinsichtlich ihrer formalen Gestaltung haben die Epitaphien innerhalb der neueren Forschung vor allem unter dem Aspekt des fortunatischen Beitrags zur Epigrammatik14 und ihre Bezüge zur elegischen Dichtung15 Aufmerksamkeit gefunden. Zudem weist Walz darauf hin, dass alle Epitaphien des Buches deutliche formale Parallelen zu Trostreden mit ihren dreiteiligen Schema von laudatio – lamentatio – consolatio zeigen, was sie am Epithaph auf Vilithuta exemplifiziert.16 In diesem Spannungsfeld zwischen epigrammatischen, elegischen und konsolatorischen Elementen zeigt auch die Konzeption und Komposition der Einzelgedichte, dass sich Venantius Fortunatus keineswegs darauf beschränkt, überkommene literarische Muster zu tradieren, wiewohl er immer wieder auf traditionelle Elemente rekurriert: So findet sich auch bei Venantius Fortunatus das viator-Motiv in Form der direkten Ansprache an den Betrachter, ebenso finden sich allgemeine Betrachtungen zum Todesfall wie schon in paganen Grabepigrammen seit dem dritten vorchristlichen Jahrhundert.17 Auch finden sich neben dem Namen des Toten und zumeist Angaben über das Alter und über den Stifter des Gedichtes, wobei dieser oftmals nur implizit genannt wird, so dass der Zusammenhang zu traditionellen Grabepigrammen paganer oder christlicher Provenienz, wie er sich in der Spätantike darstellt, gewahrt bleibt. 18 Innerhalb der Tradition der christlichen Epigrammatik gibt es, angefangen von Gregor von Nazianz, eine reiche griechische Tradition bis in justinianische Zeit, mit der Venantius Fortunatus durchaus während seines Studium in Ravenna in Berührung gekommen sein kann (Gregor von

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15 16 17

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Dieser Frage geht nach: R. FAVREAU, maggio Fortunat et l’épigraphie, in: Venanzio Fortunato tra Italia e Francia. Atti del convegno internazionale di studi Fortunatiani, Valdobbiadene 17 1990–Treviso 18–19 maggio 1990, Treviso 1993, 161–173. Hier wird vor allem die Frage diskutiert, inwieweit die nur literarisch überlieferten Epitaphien des Venantius Fortunatus als Grabepigramme Verwendung gefunden haben können: Favreau führt eine Reihe von mittelalterlichen Inschriften an, in denen Epitaphien und andere Carmina des Dichters direkt oder indirekt benutzt worden sind, und kommt zu dem Schluss, Venantius Fortunatus habe seine Epitaphien wohl so konzipiert, dass es dem jeweiligen Auftraggeber möglich war, sie ganz (bei den kürzeren) oder auch nur ein oder zwei Distichen daraus als Grabinschrift zu verwenden. Ähnliches gilt seiner Ansicht nach auch für seine Carmina auf Gebäuden. Zu christlichen Sarkophagbestattungen, der damit verbundenen Epigraphik und piktoralen Gestaltung in der Spätantike vgl. J. DRESKEN-WEILAND, Sarkophagbestattungen des 4.–6. Jahrhunderts im Westen des römischen Reiches, Freiburg im Breisgau 2003. Siehe dazu den Aufsatz von É. DELBEY, La poétique de la „copia“ chez Venance Fortunat, insbesondere 206–209 & 221f. Siehe WALZ, Epitaphium Vilithutae, 60–65. Vgl. KEYDELL, Epigramm, Sp. 540: „Neben das in der Form der Aufschrift gehaltene Grab-E. tritt nun das E. auf den Todesfall, das das Mitleid des Dichters oder eine an den Todesfall anschließende Betrachtung zum Inhalt hat.” Ausführlich zu Tod und Bestattung siehe U. VOLP, Tod und Ritual in den christlichen Gemeinden der Antike, Leiden 2002. Vgl. dazu auch W. ECK, Elite und Leitbilder in der römischen Kaiserzeit, in: J. DUMMER / M. VIELBERG (Hrsg.), Leitbilder der Spätantike – Eliten und Leitbilder (AwK 1), Stuttgart 1999, 31–55. Eck setzt sich mit dem cursus honorum in Bauinschriften auseinander, weist aber darauf hin, dass in einigen Fällen dort in der Spätantike Altersangaben erscheinen, die sonst nur in Grabinschriften erscheinen, siehe ebendort 38.

270

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

Nazianz wird vom Dichter mehrfach erwähnt). 19 Gregor entwickelt die paganen Vorbilder gerade bei Epitaphien für Personen geistlichen Standes oder für solche, die wie seine Mutter Nonna ein christliches Leben geführt haben, im Sinne des Christentums weiter, so dass der Tod z. B. als Gottes Wille erscheint oder ein früher Tod sogar als Lohn für ein Leben, das nach den himmlischen Dingen strebt, betrachtet wird. 20 Im lateinischen Bereich stehen die fiktiven Grabepigramme des Ausonius noch ganz in der paganen Tradition, der in seiner übrigen Epigrammdichtung vor allem von Martial beeinflusst ist,21 während erst die Epigramme auf Märtyrergräbern des Damasus die Form des Grabepigramms aufnehmen und für einen spezifisch christlichen Inhalt nutzbar machen.22 Während Damasus (Amtszeit 366–384) sich dafür des hexametrischen Metrums bedient,23 verwendet Ambrosius (339–397) für Epigramme auf Märtyrergräber das traditionelle Metrum des elegischen Distichons.24 Eine Verbindung christlichen Inhalts mit paganen Elementen findet sich in den Epitaphien des Sidonius Apollinaris, wobei das spezifisch Christliche gegenüber der Einordnung in die pagane literarische Tradition deutlich zurücktritt, was für Ennodius in noch stärkerem Maße gilt.25 In eben diesem Spannungsfeld bewegen sich auch die Epitaphien des Venantius Fortunatus: Während die Verwendung des elegischen Distichons als Metrum für sämtliche Epitaphien neben einer persönlichen Vorliebe wohl vor allem der Tradition geschuldet ist, da es schon im klassischen Griechenland das vorherrschende Metrum für Epigramme und insbesondere für 19 20 21

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23 24

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Siehe z. B. Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 1, 54. Vgl. KEYDELL, Sp. 542f. Eine gattungstheoretische Diskussion der Epigrammatik im allgemeinen kommt erst im Humanismus auf und wird von Julius Caesar Scaliger begründet. Scaliger rekurriert allerdings in erster Linie auf literarische Epigramme, die sich insbesondere an die pointierte Form bei Martial anlehnen; von dort her sind auch die Diskussionen des achtzehnten Jahrhunderts zu verstehen. Zu Geschichte und Genese dieser Form des Epigramms siehe T. VERWEYEN / G. WITTING, Epigramm, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 2. Tübingen 1994, wo allerdings auf Epigramme in Form von Epitaphien und ihre Entwicklung nicht eingegangen wird. Vgl. KEYDELL, Sp. 563f. Ausführlich zu Damasus U. REUTTER, Damasus, Bischof von Rom (366–384), Diss. Jena 1999; vgl. insbesondere dort 164: „Mit der Synthese von christlichem Inhalt, gekleidet in kunstvolle traditionelle römische Dichtersprache, werden sicherlich die gebildeten Römer angesprochen, denen in ihrer Sprache vermittelt werden soll, dass Christianisierung nicht gleichzeitig auch Verzicht auf Bildung bedeutet.“ Vgl. dazu Anthologia Latina. Carmina Latina epigraphica, conlegit F. BUECHELER, Bd. I, Leipzig 1895, Nr. 304–308. Vgl. dazu Anthologia Latina. Carmina Latina epigraphica, conlegit F. BUECHELER, Bd. II, Leipzig 1897, Nr. 906 & 907. Zu spätantiken Grabepigrammen unter dem Aspekt der darin exponierten Bildung siehe jetzt auch P. GEMEINHARDT, Das lateinische Christentum und die antike pagane Bildung (Studien und Texte zu Antike und Christentum 41), Tübingen 2007, 165–184. Vgl. KEYDELL, Sp. 565f. Von Sidonius Appolinaris sind in seinem Briefcorpus vier Epitaphien erhalten (in Epist., II, 8; III, 12; IV, 11 & VII, 17), wobei nur das letzte (in Epist., VII, 17) im elegischen Distichon abgefasst ist, die anderen in lyrischen Maßen. Neben den starken traditionellen Zügen werden die merita der Verstorbenen im christlichen Sinne stets herausgestrichen. Bei den Epitaphien des Ennodius hingegen enthält Carmen II, 2 gar keine christlichen Bezüge.

3.2.3. Epitaphien

271

Grabepigramme darstellte (wobei die konsequente Verwendung dieses Metrums schon einen Schritt über Sidonius Apollinaris hinausgeht), stellt sich die Frage, wieweit er motivisch und inhaltlich der Tradition folgt oder neue Wege beschreitet. Das soll im Folgenden exemplarisch anhand von vier weitgehend unbehandelten Beispielen aus jeder der drei oben genannten Adressatengruppen demonstriert werden, wobei der Schwerpunkt auf dem Verhältnis von epigrammatischen, elegischen 26 und konsolatorischen Elementen liegen soll. Das Epitaphium Vilithutae muss, da es anderswo bereits extensiv kommentiert worden ist,27 nicht ausführlich besprochen werden, sondern lediglich die Rolle eines Referenztextes übernehmen. Am Anfang wird stattdessen das Epitaphium auf Leontius, den Älteren, Bischof von Bordeaux, stehen.

3.2.3.1. Carmen IV, 9 a) Text und Übersetzung Dieses Epitaphium gehört vom Umfang zu den längeren Gedichten des vierten Buches. Sujet ist Leontius der Ältere, Bischof von Bordeaux, der vor 549 gestorben ist.28 Das Carmen ist also nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Tod des Bischofs entstanden, sondern viele Jahre später, und gehört damit wohl in den Kontext der Gedichte auf Leontius im ersten Buch der Sammlung, in denen er und sein Nachfolger wegen ihrer Bautätigkeit besonders hervorgehoben werden.29 Vltima sors auido grauiter properauit hiatu. Pastorem rapiens qui fuit arma gregis.

Mit gierigem Schlund eilte grimmig das Todeslos und raubte den Hirten, der die Waffe seiner Herde war. Hoc recubant tumulo uenerandi membra Leonti In diesem Grab ruhen die Glieder des ehrwürQuo stetit eximium pontificale caput. digen Leontius, in dem (die Gemeinde) einen hervorragenden Bischof als Haupt hatte.

26

27 28 29

Ausführlich zu diesem Themenkomplex W. HERZ, Vergänglichkeit und Tod in der römischen Elegie, Freiburg 1995, speziell zur Spätantike É. REBILLARD, Relgion et sépulture, l’ église, les vivants et les morts dans l’ antiquité tardive, Paris 2003. In der oben genannten kommentierten Edition von SANTORELLI (1994) und bei WALZ, Epitaphium Vilithutae (2005). Siehe dazu REYDELLET, I, 140, Anm. 45. Venantius Fortunatus, Carm., I, 9–15. Der kleine Gedichtzyklus endet mit einem enkomiastischen Carmen auf den jüngeren Leontius II. (Bischof von Bordeaux seit 549). Es ist nicht unwahrscheinlich, dass dieser, der später von Venantius Fortunatus auch eines kürzeren Epitaphium (Carmen IV, 10), gewürdigt wird, der Auftraggeber der Gedichte war. Das verspätete Epitaphium hier ist allerdings von einem gewissen nicht näher bekannten Theudosius in Auftrag gegeben (Vers 38). Zu Leontius II von Bordeaux vgl. auch GEORGE, Venantius Fortunatus, 108f.

272

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

Quem plebs cuncta gemens confusa uoce Diesen sucht das ganze Volk und klagt mit requirit, 5 aufgelöster Stimme, 5 Hinc puer, hinc iuuenis deflet et inde senes. hier weint der Knabe, hier der Jüngling, dort der Greis. Defensoris opem hic omnis perdidit aetas Hier verlor jedes Alter die Hilfe seines Schiret quantum coluit nunc lacrimando docet. mers, und wie sehr es ihn verehrte, zeigt es nun durch sein Weinen. Nemo ualet siccis oculis memorare sepultum, Niemand vermag mit trockenen Augen sich an qui tamen in populo uiuit amore pio. 10 den Bestatteten zu erinnern, der trotzdem in seinem Volk in frommer Liebe lebt. 10 Egregius, nulli de nobilitate secundus, Ehrenwert, keinem an Adel unterlegen, moribus excellens, culmine primus erat. hervorragend in seinem Charakter war er auf dem Gipfel der erste. Hic pietate noua cunctis minor esse uolebat, In neuartiger Frömmigkeit wollte er geringer als sed magis hic meritis et sibi maior erat. alle sein, war aber durch seine Verdienste größer noch als er selbst. Quo praesente uiro meruit discordia pacem,15 In der Gegenwart dieses Mannes verdiente die expulsa rabie corda ligabat amor. Zwietracht den Frieden, 15 nach der Vertreibung der Raserei band Liebe die Herzen. Ecclesiae totum concessit in ordine censum, Bei seiner Ordination gab er der Kirche sein et tribuit Christo, quod fuit ante suum. ganzes Vermögen, und teilte Christus zu, was vorher sein Eigentum war. Ad quem pauper opem, pretium captiuus Bei ihm fand der Arme Hilfe, der Gefangene sein habebat, Lösegeld, hoc proprium reputans quod capiebat egens. er rechnete dies als sein Eigentum, was der 20 Arme empfing. 20 Cuius de terris migrauit ad astra facultas Sein Vermögen wanderte von Erden zum Himmel et plus iste Deo quam sibi uixit homo, und mehr lebte dieser Mann für Gott als für sich selbst. cordis in amplexu retinens et pectore plebem, Das Volk hatte er im Arm und im Herzen, diceret ut populum se generasse patrem. so dass man sagen konnte, es habe sich selbst seinen Vater gezeugt. Namque suos ciues placida sic uoce monebat Denn so ermahnte er seine Bürger mit sanfter 25 Stimme, 25 confitereris ut hunc ad sua membra loqui. . dass du sagen würdest, er spreche mit seinen eigenen Gliedern. Ingenio uigilans, diues quoque dogmate Christi, Wachsam im Geiste, reich auch durch Christi et meruit studio multiplicare gradum. Lehre, verdiente er es durch seinen Eifer, seinen Aufstieg zu beschleunigen.

3.2.3. Epitaphien

273

Largior in donis absens sibi iunxit amantes et quo non fuerat munere notus erat. 30

Noch freigebiger, wenn er nicht da war, band er Menschen, die ihn liebten an sich. und dort, wo er nicht gewesen war, war er durch sein Geschenk bekannt. 30 Principibus carus huiusque amor unicus urbis, Den Fürsten war er teuer, und einmütige Liebe festinans animis omnibus esse parens. gab es in dieser Stadt, weil er sich eifrig mühte, Vater im Herzen aller zu sein. Lustra decem pollens, septem quoque uixit in Siebenundfünfzig Jahre war er stark und lebte, annos, dann drängte der Tag des Todes, und er wurde Mox urgente die raptus ab orbe fuit. von der Erde geraubt. Sed quis cuncta canat, cum tot bona solus Aber wer soll alles besingen, da er als einzelner habebat? 35 soviel Gutes hatte? 35 Nunc uno in tumulo plurima uota iacent. Nun liegen sehr viele Wünsche in einem einzelnen Grab. Haec tibi parua nimis, cum tu merearis opima, Diese allzu geringen Verse, da du reichliche carmina Theudosius praebet amore tuus. verdientest, bringt dein Theudosius aus Liebe dir dar.30

b) Gliederung Das Carmen weist ein dreiteiliges Gliederungsschema auf: I. V. 1 – 10 V. 1 – 4 V. 5 – 10 II. V. 11 – 32 V. 11 – 12 V. 13 – 14 V. 15 – 22 V. 15 – 17 V. 17 – 18 V. 19 – 20 V. 21 – 22

30

exordium und lamentatio: Das Grab des Leontius I. Grabmal des Leontius I. Trauer seiner Gemeinde. Hauptteil: laudatio: virtutes & merita des Leontius I. Die nobilitas des Leontius I. Die pietas des Leontius I. Die virtutes des Leontius. Leontius I. als Stifter der Eintracht I. Leontius I. entsagt allen irdischen Gütern. Die misericordia des Leontius I. Schon zu Lebzeiten ist Leontius I. eher bei Gott als hier auf Erden.

Venantius Fortunatus, Carm., IV, 9, lateinischer Text nach REYDELLET, I, 140–142.

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

274 V. 23 – 32 V.23 – 24 V. 25 – 26 V. 27 – 28 V. 29 – 30 V. 31 – 32 III. V. 33 – 38

Die merita des Leontius I: Die Vaterliebe des Leontius I. zu seiner Gemeinde. Leontius I. als Stifter der Eintracht II. Der geistige Reichtum des Leontius I. und seine misericordia als Grund für die Liebe seiner Gemeinde zu ihm. Liebe der Fürsten und der Stadt zu Leontius I. conclusio: Altersangabe und Nennung des Auftraggebers Theudosius. c) Interpretation

Carmen, IV, 9 folgt in der Makrostruktur dem traditionellen Aufbauschema eines Grabepigramms mit einem exordium, in dem auf Grab und Namen des Verstorbenen hingewiesen wird, einem Hauptteil, in dem der Verstorbene gepriesen wird, und einer conclusio mit Altersangabe und Nennung des Auftraggebers. Innerhalb dieses Schemas weist das Gedicht allerdings einige Besonderheiten auf. Das kann eine genauere Analyse, die bereits beim exordium ansetzt, verdeutlichen: Von den ersten beiden Distichen nennt erst das zweite Namen und Rang des Verstorbenen,31 das erste schildert drastisch das räuberische Todeslos,32 wobei der klerikale Rang des Toten schon im ersten Distichon (Vers 2) durch das traditionelle Bild vom Hirten und seiner Herde deutlich gemacht wird, während er erst im zweiten Distichon (eximium pontificale caput / ein hervorragendes bischöfliches Haupt, Vers 4) explizit genannt wird. Dabei geht die Junktur Ausdruck arma gregis / Waffe der Herde über den pastoralen in den militärischen Bereich über und liefert bereits implizit die Begründung dafür, dass in den letzten drei Distichen des exordium nicht mehr von dem Verstorbenen, sondern der Reaktion seiner Herde auf seinen Tod die Rede ist:33 Venantius Fortunatus schildert das trauernde Volk und macht durch die

31 32

33

Vers 3f. Vers 1f. Das schon pagane Motiv des räuberischen Todesloses findet sich (wohl nicht zufällig) bereits am Anfang des Buches im Epitaphium auf Eumerius und ist dort im Exordium programmatisch der Gewissheit auf das ewige Leben gegenübergestellt (Venantius Fortunatus, Carm., IV, 1, 1–4, lateinischer Text nach REYDELLET, I, 130): Quamuis cuncta auido rapiantur ab orbe uolatu, / attamen extendit uita beata diem / nec damnum de fine capit cui, gloria, uiuis / aeternumque locum missus ad astra tenet. / Mag auch alles im reißendem Flug von der Welt gerissen werden, / dehnt dennoch das selige Leben seinen Tag aus / und kein Schaden ergreift am Ende den, bei dem du, Ruhm, lebendig bist, und der zu den Sternen geschickt dort wohnt. Zu Carmen IV, 1 siehe auch DELBEY, La poétique della „copia“ chez Venance Fortunat, 213. Allgemein zu diesem Themenkomplex siehe den Sammelband von G. BINDER / B. EFFE (Hrsg.): Tod und Jenseits im Altertum, Trier 1991. Vgl. auch H. - J. DREXHAGE / J. SÜNSKES THOMPSON (Hrsg.), Tod, Bestattung und Jenseits in der griechisch-römischen Antike, St. Katharinen 1999. Venantius Fortunatus, Carm., IV, 9, 5–10.

3.2.3. Epitaphien

275

Einbeziehung aller Altersgruppen (Knabe, Jüngling, Greis)34 die Universalität der Trauer deutlich.35 Hier liegt also eine Verbindung von exordium und lamentatio, eine lamentatio vor, wie sie eigentlich typisch für Trostschriften ist.36 Anders als im klassischen Schema einer Trostrede mit der Abfolge laudatio – lamentatio – consolatio ist hier aber die lamentatio der laudatio vorangestellt. Eine weitere Besonderheit liegt darin, dass Leontius I. schon vor 549 gestorben sein musss,37 Venantius Fortunatus aber erst Mitte der sechziger Jahre ins Frankenreich gekommen ist, so dass sich eine Differenz von mindestens achtzehn Jahren zwischen Tod und Abfassung des Carmen ergibt, der Anfang aber trotzdem so wirkt, als sei der Bischof gerade erst verstorben. Diese zeitliche Distanz des Publikums zum Tod des Leontius I. wird von Venantius Fortunatus erst am Ende von exordium / lamentatio überbrückt, indem er sagt, (auch heute) könne sich niemand an den Verstorbenen erinnern, ohne dass ihm die Tränen in die Augen steigen,38 was zugleich als Beleg für das Weiterleben des Verstorbenen in der memoria seiner Stadt angeführt wird.39 Durch diesen Kunstgriff erscheint der folgende Lobpreis des Verstorbenen organisch als Begründung für die einleitende Schilderung der Trauer, wird also die traditionelle laudatio funebris argumentativ mit dem Gedichtanfang verknüpft. Dieser laudatio funebris ist der Hauptteil gewidmet, in dem die Tugenden des Verstorbenen unter spezifisch christlichen Aspekten exponiert werden.40 Zwar spielt 34 35

Vers 6. Menander Rhetor unterscheidet die Trostrede vom Epitaphium vor allem dadurch, dass in der Trostrede (am Grab) die enkomiastischen Elemente zugunsten der Klage ein wenig zurücktreten, während sie im Epitaphium ein dominierendes Element bleiben (Menander Rhetor, Peri epideiktikon 419, griechischer Text nach RUSELL / WILSON, Oxford 1981, 172): Diaireqh/setai de\ o( e)pita/fioj lo/goj, o( paqhtiko/j, o( e)piì prosfa/t% t%½ teqnew½ti. Der pathetische Epitaphios Logos über einen, der gerade gestorben ist, wird nach den wesentlichen Punkten des Enkomions gegliedert werden… Allerdings (ebendort): xrh\ ga\r ta\ kefa/laia mh\ kaqareu/ein tw½n qrh/nwn, a)lla\ kaÄn ge/noj le/gvj, qrhneiÍn kat'

a)rxa\j tou= ge/nouj to\n peptwko/ta kaiì mesou=ntoj tou= ge/nouj kaiì teleutw½ntoj,

/ ist es nämlich nötig, dass alle wesentlichen Punkte nicht frei sind von Klagen, sondern wenn du von seiner Herkunft sprichst, musst du am Anfang, in der Mitte und am Ende den Toten beklagen und ebenso bei den anderen wesentlichen Punkten. Zur Verbindung von Trostschrift und Epitaphium siehe WALZ, Epitaphium Vilithutae, 60ff.; allgemein zur spezifisch christlichen Trostliteratur: P. VON MOOS, Consolatio. Studien zur mittellateinischen Trostliteratur über den Tod und zum Problem der christlichen Trauer (Bd. 1–4.), München 1971–1972; zu ihren paganen Vorgängern R. KASSEL, Untersuchungen zur griechischen und römischen Konsolationsliteratur, München 1958. Vgl. dazu: REYDELLET, I, 140, Anm. 45. Venantius Fortunatus, Carm., IV, 9, 9. Vers 10. Bei Menander Rhetor, Peri epideiktikon, 420 (griechischer Text nach RUSSELL / WILSON, 174) heißt es: kaÄn eÀtero/n ti kefa/laion.

36

37 38 39 40

dia\ de\ tw½n e)pithdeuma/twn pistw¯sv to\ kefa/laion ouÀtwj, oÀti di¿kaion pareiÍxen e(auto/n, fila/nqrwpon, o(milhtiko/n, hÀmeron. to\ de\ me/giston kefa/laion tw½n e)gkwmiastikw½n ei¹sin ai¸ pra/ceij, aÀstinaj qh/seij meta\ ta\ e)pithdeumata: ou)k a)fe/cv de\ tou= kaiì e)n e(ka/stv e)pembaleiÍn... / Hinsichtlich seines Charakters wirst du diesen wesentlichen Punkt überzeugend folgendermaßen darstellen, dass er sich gerecht, menschenfreundlich, umgänglich und sanft zeigte. Der wichtigste Punkt beim Lob sind aber seine Handlungen, die

pra/cei qrh=non

276

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

wie in den panegyrischen Gedichten des Venantius Fortunatus auf weltliche Würdenträger die vornehme Herkunft des Leontius auch hier eine Rolle und wird gleich zu Anfang herausgestrichen; allerdings erscheint sie in einer Reihe mit seinem Charakter und seiner Frömmigkeit: Egregius, nulli de nobilitate secundus, moribus excellens, culmine primus erat. Hic pietate noua cunctis minor esse uolebat, sed magis hic meritis et sibi maior erat.

Ehrenwert, keinem an Adel unterlegen, hervorragend in seinem Charakter war er auf dem Gipfel der erste. In neuartiger Frömmigkeit wollte er geringer als alle sein, war aber durch seine Verdienste größer noch als er selbst.41

Betont durch das literarische Spiel mit Oxymoron und Paradoxien erscheint nicht nur sein wahrer Adel im Charakter (moribus excellens / hervorragend in seinem Charakter), 42 sondern dieser wird noch im christlichen Sinne spezifiziert, indem von einer neuen Frömmigkeit43 die Rede ist, die eben darin besteht, dass er trotz seiner vornehmen Herkunft geringer als alle sein wollte. Der topische Bezug zur Herkunft wird, anders etwa als im Falle eines Königs wie Sigibert nicht zur Herausstellung militärischer Verdienste, die in der Tradition der Vorfahren stehen, 44 verwendet, sondern um eine wahrhaft christliche deuotio zu unterstreichen, die sich in der Umkehrung der traditionellen Rangordnung äußert. Und unter diesem spezifisch christlichen Aspekt sind auch seine uirtutes / Tugenden und merita / Verdienste zu sehen.45 In dieser Explikation seiner Verdienste hat der Begriff amor / Liebe leitmotivischen Charakter. Zugleich umschließt er den ganzen Abschnitt, indem er

41 42 43

44 45

du der Behandlung seines Charakters anschließen wirst: Unterlasse es aber nicht, bei jeder Handlung eine Klage einzuflechten… Venantius Fortunatus, Carm., IV, 9, 11–14, lateinischer Text nach REYDELLET, I, 140–142. Vers 12. Vers 13. Ein ähnlicher Gedanke erscheint auch in Venantius Fortunatus, Carm., IV, 1, 7–10, wenn es von Eumerius heißt (lateinischer Text nach REYDELLET, I, 130): Stemmate deducit fulgens ab origine culmen / et meritis priscos crescere fecit auos. / Emicuit populis geminum memorabile donum: / inde gradu iudex, hinc pietate pater. / Den von Geburt glänzenden hohen Stand führte er vom Stammbaum hinab und ließ durch seine Verdienste die ehrwürdigen Ahnen wachsen. / Unter dem Volk strahlte er hinsichtlich einer doppelten der Erinnerung würdigen Gabe / da nach dem Rang ein Richter / dort nach seiner (gütigen) Frömmigkeit ein Vater. Die pietas findet sich schon traditionell im Tugendkanon römischer Herrscher und von daher auch von christlichen Königen und Bischöfen „als Symbol gütiger, väterlicher Herrschaftsausübung“ in Anspruch genommen, siehe M. HEINZELMANN, Bischofsherrschaft in Gallien. Zur Kontinuität römischer Führungsschichten vom 4. bis zum 7. Jahrhundert. Soziale, prosopographische und bildungsgeschichtliche Aspekte (Francia 5), München 1976, 68. Durch die Verbindung mit der deuotio / Demut erscheint der Begriff hier bei Venantius Fortunatus aber ein einer spezifisch christlichen Wendung. Vgl. Venantius Fortunatus, Carm., VI, 1a, 7–16. Vers 14. Ausgeführt werden sie jeweils in einem Distichon (V. 15–22 und V. 23–32), wobei es untereinander deutliche Bezüge gibt, im ersten Teil eher von der Warte des Leontius I. aus gesehen, im zweiten eher aus der Sicht seiner Gemeinde.

3.2.3. Epitaphien

277

ringkompositorisch sowohl im ersten Distichon 46 als auch im letzten47 verwendet wird. Angesprochen ist die einmütige Liebe seiner Stadt zu Leontius I.,48 die zur Eintracht / concordia der Bürger untereinander führt.49 Diese Liebe wird hervorgerufen durch die Gefolgschaft des Leontius I. zu Christus, die sich bereits bei seiner Ordination darin zeigt, dass er sein gesamtes Vermögen der Kirche und damit Christus stiftet.50 Dies ermöglicht die Ausübung der christlichen Tugend der misericordia / Mildtätigkeit gegenüber Armen und Gefangenen, 51 versetzt sein Vermögen von der Erde gleichsam in den Himmel52 und ist Ausdruck seiner übergroßen Liebe zum Volk, die von Venantius Fortunatus in dem Paradoxon ausgedrückt wird, dass man sagen könne, das Volk habe sich selbst seinen Vater gezeugt.53 Sie zeigt sich auch in der Sanftheit seiner Ermahnungen, die an die eigenen Glieder gerichtet sein könnten,54 sie äußert sich in dem Paradoxon, dass er auch dort, wo er gar nicht war, durch seine Freigebigkeit bekannt war, was wiederum Liebe zu ihm hervorbrachte.55 Sein zuvor genannter Reichtum in der Lehre Christi56 ist ebenfalls dazu angetan, Liebe zu Leontius hervorzubringen. Leontius I. wird also als idealer Vater seiner Gemeinde präsentiert, der vor allem durch seine munificentia / seine Freigebigkeit die Herzen seiner Gemeinde und von Menschen außerhalb auf sich vereint hat. Der ciceronianische Gedanke der concordia / Eintracht steht im Hintergrund und wird durch die wechselseitige christliche Liebe des Bischofs zu seiner Gemeinde und der Gemeinde zu ihrem Bischof erst ermöglicht. Auch der Schluss ist mit Nennung des Alters des Verstorbenen und des Auftraggebers auf den ersten Blick dem traditionellen Schema eines Epitaphs verpflichtet:

46 47 48 49 50 51

52 53 54

55 56

Vers 15f. Vers 31f. Vers 31. Vgl. Vers 15f. Vers 17f. Vers 19f. Im Vergleich mit dem Tugendkatalog des Eumerius in Venantius Fortunatus, Carm., IV, 1, 12–28, in dem Eumerius für seine Mildtätigkeit gegenüber Armen und Fremden, für den Trost, den er Trauernden schenkte, und seine Hilfe gegenüber Kranken gelobt wird (also für die christlichen Werke der misericordia), fällt auf, dass der Gedanke der concordia dort keine Rolle spielt. Damit lässt sich seine exponierte Rolle in Carmen, IV, 9 nicht als bloßer Topos erklären, sondern muss wohl in Hinblick auf einen realen Hintergrund gedeutet werden. Venantius Fortunatus, Carm., IV, 9, 23f. Vers 24. Vers 25f. Zur Anspielung des Begriffs membra / Glieder auf den mystischen Körper der Kirche, siehe REYDELLET I, 141, Anm. 47. Die Glieder symbolisieren die Gläubigen im Körper der Kirche von Bordeaux, wo Leontius als Bischof das Haupt Christus vertritt. Vers 29f. Vers 27f.

278

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

Lustra decem pollens, septem quoque uixit in annos, mox urgente die raptus ab orbe fuit. Sed quis cuncta canat, cum tot bona solus habebat? 35 Nunc uno in tumulo plurima uota iacent. Haec tibi parua nimis, cum tu merearis opima, carmina Theudosius praebet amore tuus.

Siebenundfünfzig Jahre war er stark und lebte, dann drängte der Tag des Todes und er wurde von der Erde geraubt. Aber wer soll alles besingen, da er als einzelner soviel Gutes hatte? 35 Nun liegen sehr viele Wünsche in einem einzelnen Grab. Diese allzu geringen Verse, da du reichliche verdientest, bringt dein Theudosius aus Liebe dir dar.57

Auffällig ist allerdings die Betonung der plurima uota / sehr vielen Wünsche,58 die mit Leontius I. begraben liegen und dem ganzen Gedicht – wie auch die gleichsam präsente Trauer um einen vor vielen Jahren verstorbenen Bischof – einen Bezug zu einer aktuellen Lage in Bordeaux geben. Zur Abfassungszeit scheint die concordia ciuium, die unter Leontius I. vorhanden war, offensichtlich nicht mehr zu existieren, so dass das ganze Carmen eine aktuelle Brisanz erhält:59 Es werden hier nämlich nicht nur die Tugenden und Verdienste des Verstorbenen gerühmt, sondern diese der Gegenwart vor Augen gestellt, so dass das Gedicht eine implizite Programmatik entfaltet. Das erklärt auch, dass das Carmen keinen explizit konsolatorischen Teil enthält, die Verdienste des Leontius I. haben ihn gleichsam bereits zu Lebzeiten in den Himmel versetzt,60 so dass der Trost, dass der Tote bei Gott weiter lebt, sich geradezu von selbst versteht, während die Trauer der Gemeinde (aufgrund der jetzigen Situation) bleibt. Neben Elementen wie dem gierigen Tod, 61 Trauer und 57 58

59

60 61

Venantius Fortunatus, Carm., IV, 9, 33–38, lateinischer Text nach REYDELLET, I, 141f. Vers 36. Venantius Fortunatus, Carm., IV, 1, 29–32 endet ebenfalls in einer Variation des traditionellen Schemas, indem bereits auf den Nachfolger rekurriert wird, der in diesem Falle wahrscheinlich der Auftraggeber des Epitaphs war und damit ein konsolatorischer Gedanke mit dem Ende verknüpft wird (lateinischer Text nach REYDELLET, I, 131): Extulit ecclesiae culmen, quod restitit unum / uenit ad heredem, qui cumularet opus. / Felix ille abiit, Felicem in sede reliquit; heredis meritis uiuit in orbe pater / Er ließ das Gewölbe der Kirche (gemeint die Kathedrale von Nantes) aufstocken; / was übrig blieb, gelangte zu einem einzigartigen Erben, der das Werk vollenden sollte. / Jener schied glücklich aus der Welt; auf seinem Bischofsstuhl ließ er Felix zurück; / durch die Verdienste des Erben lebt der Vater in der Welt. Während über Leontius I. nicht viel bekannt ist, außer dass er als ein Unterzeichner der Akten des Konzils von Orléans (541) in Erscheinung tritt, vgl. K. F. STROHEKER, Der senatorische Adel im spätantiken Gallien, Tübingen 1948, 188 (Nr. 218), berichtet Gregor von Tours (Hist. Franc., IV, 26) für seinen Nachfolger Leontius II. von einer Auseinandersetzung mit dem Bischof Emerius von Saintes, der nicht vom Metropoliten Leontius II., sondern von König Chlotar I. eingesetzt worden war. Nach Vertreibung des Emerius erbitten die Einwohner von Saintes von Chlotars Sohn Charibert die Einsetzung eines gewissen Heraclius als Bischof, worauf er Strafen gegenüber Leontius und den anderen Bischöfen, die Emerius abgesetzt haben, verhängt. Wahrscheinlich ist diese Bitte um Einsetzung des Heraclius hinter dem Rücken des Leontius II. geschehen, was auf deutliche Zwistigkeiten zwischen Metropolit und seiner Kirchenprovinz hindeuten würde. Vgl. Venantius Fortunatus, Carm., IV, 9, 21f. Vers 1.

3.2.3. Epitaphien

279

Tränen,62 welche das Carmen sowohl in die Tradition des Grabepigramms als auch in die der Trauerelegie einordnen,63 ersetzen bzw. begrenzen hier also christliche Motive die Totenklage. Es sind vor allem die Eigenschaften, welche einem wahrhaft christlichen Bischof zugeschrieben werden64 und dieses Ideal durch ihre Exponierung propagieren. Gilt dies für alle Epitaphien des vierten Buches auf Bischöfe,65 ist es in diesem Falle der Gedanke der concordia / Eintracht, der auf die zunehmenden politischen Funktionen eines Bischofs in der Merowingerzeit anspielt. Eben dadurch, dass er diese politische Eintracht durch die Liebe der Bürger zu seiner Person bewirkt, betrauern sie ihn und zeigen, wie sehr er dem gerecht geworden ist, was von einem wahrhaft christlichen Bischof und Stadtherrn66 zu erwarten ist. Dass das Fehlen des Oberhirten und seiner Funktion für die Gemeinde der eigentliche Grund für die Trauer ist, deutet sich in dem Gedanken an, dass er auf Erden mehr für Gott als für sich gelebt hatte und sein Vermögen schon zu Lebzeiten hatte ziehen lassen.67 In spezifisch christlicher Interpretation bedeutet dies, dass der Tod nicht für den Toten zu beklagen ist (denn er kommt in den Himmel), sondern für die Zurückgebliebenen aufgrund der Lücke, die er hinterlassen hat.68 In diesem Carmen erscheint zudem durch den Rekurs auf die Tugenden und Verdienste des schon vor vielen Jahren verstorbenen Leontius I. ein aktueller Bezug, der, über die christliche Thematik hinausgehend, die oben genannten Punkte der jetzigen Gemeinde programmatisch vor Augen führt.

3.2.3.2. Carmen IV, 21 / 22 Zeigte das Epitaphium auf Leontius I als Exempel für einen Verstorbenen klerikalen bzw. episkopalen Ranges sowohl Verwurzelung in der auf pagane Schemata zurückgehenden literarischen Tradition als auch ein spezifisch christliches Gepräge und eine gewisse Nähe zur Trostrede, so stellt sich die Frage, ob diese Charakteristika auch für die Epitaphien auf Laien gelten, oder ob sich dort deutliche Unterschiede zeigen. Dies wird anhand von drei kürzeren Epitaphien untersucht werden, wobei sich dem Gliederungsschema des vierten Buches entsprechend die geschlechtsspezifische Unterteilung nach Männern und Frauen beibehalten und die ersten beiden daher im Zusammenhang analysiert werden sollen. 62 63

64 65 66 67 68

Vers 5f. Musterbeispiel für eine Trauerelegie ist Ovid, Amores, III, 9 (auf den Tod Tibulls). Zur Ovidrezeption bei Venantius Fortunatus, siehe S. BLOMGREN, De locis Ovidii a Venantio Fortunato expressis, Eranos (1981), 82–85; speziell zur Rezeption dieser Elegie É. DELBEY, La poétique de la „copia“ chez Venance Fortunat: le livre iv des épitaphes dans les „carmina“, REL 80 (2002), 206–222, insbesondere 207f. Vgl. dazu DELBEY, La poétique de la „copia“, 208. Speziell zu diesem Carmen siehe 213f. Vgl. DELBEY, La poétique de la „copia“, 209–215. Vgl. die Implikation des Bildes vom Haupt und seinen Gliedern in Vers 25f. Vers 21f. Dieses typisch christliche Motiv findet sich z. B. auch schon bei Sulpicius Severus, Vita sancti Martini, Ep. 2, 7ff.

280

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

Carmen IV, 21 besteht aus nur sieben, Carmen IV, 22 aus nur sechs Distichen. Im ersten Fall handelt es sich um einem Verstorbenen namens Avolus, aus senatorischem Adel,69 im zweiten um das Epitaph von zwei Brüdern, die im selben Grab beigesetzt sind wie ihre Mutter. Carmen IV, 21 a) Text und Übersetzung Inriguis Auolum lacrimis ne flete sepultum qui propriis meritis gaudia lucis habet.

Beweint nicht mit strömenden Tränen den bestatteten Avolus welcher durch eigene Verdienste die Freuden des Lichtes besitzt. Nam si pensentur morum pia gesta suorum, Denn wenn die frommen Taten seines Charakfelix post tumulos possidet ille polos. ters abgewogen werden, wird jener nach dem Grab glücklich den Himmel gewinnen. Templa Dei coluit, latitans satiauit egentem, 5 Die Kirche des Herrn ehrte er, heimlich sättigte plenius illa metit quae sine teste dedit. er den Bedürftigen, 5 in größerer Fülle erntet er das, was er ohne Zeuge gegeben hat. Nobilitate potens, animo probus, ore serenus, Mächtig durch seinen Adel, redlich im Herzen, plebis amore placens, fundere promptus opes, heiter im Gesicht, beliebt durch seine Liebe zum einfachen Volk, bereit, sein Vermögen zu spenden, non usurae auidus; licet esset munere largus, nicht begierig auf Zinsen; wenn er auch großplus nihil expetiit quam numerando dedit.10 zügig beim Geben war, wollte er nicht mehr zurück, als was er ausgezahlt hatte. 10 Nil mercedis egens, merces fuit una salutis, Nicht bedurfte er des Lohns, sein einziger Lohn quod minus est pretio, proficit hoc merito. war der des Heils, was ihm weniger wert ist, davon profitiert er durch sein Verdienst. Luce perenne fruens felix cui mortua mors est, Glücklich genießt ewiges Licht der, dem tot der quem non poena premit uita superna manet. Tod ist, wen keine Strafe bedrängt, bleibt das Leben im Himmel.70

69 70

Siehe dazu REYDELLET, I, 151, Anm. 74; vgl. STROHEKER, Der senatorische Adel, 156, Nr. 62, HEINZELMANN, Gallische Prosopographie 568. Venantius Fortunatus, Carm., IV, 21, lateinischer Text nach REYDELLET I, 151.

3.2.3. Epitaphien

281

b) Gliederung Carmen, IV, 21 weist wie Carmen, IV, 9 eine dreiteilige Gliederungsstruktur auf: I. V. 1 – 2 exordium und lamentatio: Die Trauer um Avolus ist aufgrund seiner merita nicht berechtigt. II. V. 2 – 10 Hauptteil: laudatio: Explikation der uirtutes und merita des Avolus. III. V. 10 – 14 consolatio und conclusio: V. 10 - 11 Durch seine merita erlangte Avolus ewiges Heil: V. 12 - 14 Gnome: Wen keine Sündenstrafe bedrängt, den erwartet das ewige Leben. c) Interpretation Das Carmen verbindet wie Carmen IV, 9 das exordium mit der lamentatio. Es beginnt mit der Umkehrung des traditionellen Trauermotivs, wobei die Tränen exponiert an den Anfang des Verses gestellt werden, während die Aufforderung, nicht zu weinen, erst in der zweiten Hälfte steht.71 Die Begründung, die zugleich leitmotivischen Charakter hat, wird sofort angeschlossen: Avolus hat durch seine ureigenen merita / Verdienste das ewige Leben erlangt,72 wobei diese in den nächsten vier Distichen expliziert werden.73 Aus den merita folgt das ewige Leben, was Venantius Fortunatus in einem Distichon konsolatorischen Charakters expliziert74 und diesen Teil der consolatio mit einer allgemeinen Gnome als conclusio über den Zusammenhang von ewigem Leben und ewiger Strafe verbindet.75 Es ist deutlich, dass Venantius Fortunatus genau wie im zuvor analysierten Epitaphium auf Leontius I. von Bordeaux auch hier einem speziellen Schema folgt: exordium mit lamentatio und Namensnennung, als Hauptteil eine laudatio funebris, die Würdigung des Verstorbenen, die in einen konsolatorischen Teil allgemeiner christlicher Provenienz ausmündet. Während in der Einleitung des Epithaphium auf Leontius I. der Gedanke der Trauer seiner Gemeinde in den Vordergrund gerückt wird, 76 erscheint derselbe Gedanke hier in Negation und im Hinblick auf die Freuden formuliert, welche den

71 72 73 74 75

76

Venantius Fortunatus, Carm., IV, 21, 1: Inriguis Auolum lacrimis ne flete sepultum / Beweint nicht mit strömenden Tränen den bestatteten Avolus. Vers 2: qui propriis meritis gaudia lucis habet. / welcher durch eigene Verdienste die Freuden des Lichtes besitzt. Vers 3–10. Vers. 10–11 Vers 13f.: Luce perenne fruens felix cui mortua mors est, / quem non poena premit uita superna manet / Glücklich genießt ewiges Licht der, dem tot der Tod ist, / wen keine Strafe bedrängt, bleibt das Leben im Himmel. Venantius Fortunatus, Carm., IV, 9, 1–10.

282

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

Verstorbenen im jenseitigen Leben erwarten.77 Dabei ist das ewige Leben in christlicher Lichtmetaphorik als lux78 bzw. als lux perennis79 gedeutet. Wie bei Leontius I. 80 fällt der Begriff merita, hier vereinfacht als die Verdienste auf Erden gesehen, welche dem Verstorbenen einen Platz im Himmel sichern.81 Es handelt sich um die Belohnung für die pia gesta / frommen Taten, die in seinem Charakter begründet sind, wie es das nächste Distichon formuliert.82 Und daran schließt sich die Explikation dieser pia gesta an. Während bei der Würdigung des Leontius I. gerade das herausgestrichen wird, was ihn zu einem wahrhaft christlichen Bischof macht, gibt es bei dem Laien Avolus einerseits deutliche Parallelen, andererseits eine spezifische Akzentuierung: Er ehrte die Kirche Gottes und war mildtätig, wie es im Evangelium vorgeschrieben ist,83 nämlich sine teste / ohne Zeugen.84 Damit liegt der Hauptakzent auf der misericordia / Barmherzigkeit, wozu auch der dem Laster der auaritia genau entgegen gesetzte Geldverleih unter Verzicht auf Zinsen gehört. 85 Diese Betonung seiner Mildtätigkeit findet beim Epitaphium auf Leontius I. eine Parallele in der Stiftung des gesamten Vermögens an die Kirche, die nach seiner Ordination erfolgte; dort strich Venantius Fortunatus allerdings im Anschluss das Verhalten des Leontius I. gegenüber Bedürftigen noch einmal besonders heraus.86 Stellte dies bei Leontius I. einen der Gründe für seine besondere Beliebtheit beim Volk dar,87 so machte sich auch Avolus durch seine Großzügigkeit beim einfachen Volk beliebt.88 Eben dadurch, dass er auf Profit verzichtet, erreicht er den wahren Profit, nämlich das Heil, wie es Venantius Fortunatus in einem Paradoxon ausdrückt.89 Da es sich bei Avolus um einen Laien und nicht um einen Bischof mit politischer Funktion handelt, gibt es zu typisch episkopalen Tugenden wie auch zum Gedanken der concordia, die beim Epitaphium für Leontius I. gleichsam leitmotivischen Charakter annimmt, keine Entsprechung. Die als Paradoxon formulierte Gnome in der conclusio, dass glücklich das ewige Licht genießt, wem der Tod tot ist, und den, welchen keine Strafe bedrängt, das Leben im Himmel erwartet,90 entkleidet die Würdigung des Avolus der individuellen Züge und hebt das, was an ihm gerühmt wurde, auf eine allgemeine Stufe, ähnlich wie im Epitaphium des Leontius I. programmatisch das Idealbild eines Klerikers 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90

Venantius Fortunatus, Carm., IV, 21, 1f. Vers 2. Vers 13. Venantius Fortunatus, Carm., IV, 9, 14. Venantius Fortunatus, Carm., IV, 21, 2. Vers 3f. Vgl. DELBEY, La poétique de la „copia“, 217: „...les gaudia lucis (ibid., v. 2) représentent la félicité qui récompense les pia gesta (ibid., v. 3–4.).“ Mt 6, 1–4. Venantius Fortunatus, Carm., IV, 21, 5f. Vers 10. Venantius Fortunatus, Carm., IV, 9, 17–20. Vgl. Vers 21–24. Venantius Fortunatus, Carm., IV, 21, 8: plebis amore placens / beliebt durch seine Liebe zum Volk. Vers 11f. Vers 13f.

3.2.3. Epitaphien

283

präsentiert wird. Neben dem Gedanken des Trostes für Angehörige und Freunde spielt offenbar die Präsentation eines spezifisch christlichen Menschenbildes, das nach dem jeweiligen Stand des Verstorbenen und seiner Möglichkeiten ausdifferenziert ist, in beiden Gedichten für Venantius Fortunatus eine wichtige Rolle. Carmen, IV, 22 a) Text und Übersetzung Eine ganz andere Ausgangssituation ist im folgenden Carmen gegeben: Es handelt sich um das Epitaphium auf zwei Kinder: Hoc iacet in tumulo non flenda infantia fratrum In diesem Grab liegt - nicht zu beweinen - die quos tulit innocuos uita beata uiros. Kindheit zweier Brüder begraben, die das glückselige Leben noch als unschuldige Männer davontrug. Vno utero geniti simili sunt sorte sepulti Geboren aus einem Schoß sind sie durch ähnet pariter natos lux tenet una duos. liches Geschick bestattet, und ein einziges Licht hält in gleicher Weise die Kinder. Lotus fonte sacro prius ille recessit in albis, 5 Jener schied früher dahin in weißem Gewand, iste gerens lustrum ducitur ante Deum. gebadet in der heiligen Quelle, 5 dieser wird im ersten Lustrum vor Gott geführt. Nomine sed primus uocitatus rite Iohannes, Der erste aber wurde beim Ritus der Taufe alter, Patricius, munere maior erat. Johannes genannt, der andere, Patricius, war größer durch das, was er versprach. de cuius merito se plurima signa dederunt. Von seinem Verdienst gab es viele Zeichen, Felices animae quae pia uota colunt! 10 Glücklich die Seelen, welche fromme Wünsche hegen. 10 Hic etiam felix genetrix requiescit eorum, Hier ruht auch die glückliche Mutter der beiden, quae meruit partu lumina ferre suo. die es verdiente, durch ihre Geburt selbst das Licht zu erlangen.91

b) Gliederung Auch diesem Carmen liegt eine dreiteilige Gliederungsstruktur zugrunde: I. V. 1 – 2 II. V. 3 – 10

91

exordium und lamentatio: Grab zweier Brüder. Hauptteil: Laudatio und Consolatio: Tod, Alter, Name und merita der

Venantius Fortunatus, Carm., IV, 22, lateinischer Text nach REYDELLET, I, 152.

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

284

III. V. 11 – 12

Verstorbenen. conclusio: Auch die Mutter liegt im selben Grab. c) Interpretation

Wenn in besonderem Maße die merita, die Verdienste, die hier auf Erden erworben werden, den Schlüssel zum ewigen Leben oder zumindest ein für die Hinterbliebenen sichtbares Indiz darstellen, dass dem Verstorbenen ein Leben im Himmel zuteil wird, ergibt sich ein Problem in der theologischen Deutung, wenn der Verstorbene zu Tode gekommen ist, bevor er sich diese merita / Verdienste erwerben konnte, wenn der Tod also schon im Kindesalter erfolgte. Genau diese Situation liegt in Carmen IV, 22 vor, das Epitaphium innocentum überschrieben ist.92 Wie in Carmen IV, 21 wird der Gedanke des Trostes exponiert, der Gedanke, dass kein Grund zur Trauer bestehe, da dem Verstorbenen das ewige Leben gewiss ist.93 Das ist derselbe Gedanke wie im exordium des Epitaphs auf Avolus; wie dort erscheint die lamentatio direkt durch diesen konsolatorischen Gedankengang ins Gegenteil verkehrt. Doch gibt es in der Begründung einen wichtigen Unterschied: Hatte dieser aufgrund seiner merita / Verdienste ein glückseliges Leben zu erwarten,94 so folgt es hier aus der Unschuld der Verstorbenen, die noch innocui uiri / unschuldige Männer waren, als der Tod sie ereilte.95 Wie die laudatio des Avolus im Gedicht zuvor96 explikativen Charakter hat, dient auch hier der Hauptteil zur Entfaltung des Gedankens, warum die beiden Brüder das glückselige Leben erlangt haben und dient daher bereits der consolatio: Sie sind nach der Taufe gestorben, der eine wohl nicht allzu lange danach,97 der andere im Alter von fünf Jahren, und der 92

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Wahrscheinlich ist dieses Epitaphium ebenso wie das der Vilithuta (Carmen IV, 26) vom Ehemann bzw. dem Vater der Kinder in Auftrag gegeben worden. Hier liegt allerdings der Schwerpunkt nicht auf dem Tod der Mutter (wie bei der Vilithuta), von der noch nicht einmal gesagt wird, wann sie gestorben ist, sondern auf dem der Söhne. Venantius Fortunatus, Carm., IV, 22, 1f.: Hoc iacet in tumulo non flenda infantia fratrum / quos tulit innocuos uita beata uiros. / In diesem Grab liegt – nicht zu beweinen – die Kindheit zweier Brüder begraben, / die das glückselige Leben noch als unschuldige Männer davontrug. Vgl. Venantius Fortunatus, Carm., IV, 21, 1f. Vgl. Venantius Fortunatus, Carm., IV, 22, 1f. GEMEINHARDT, Das lateinische Christentum und die antike pagane Bildung, 167–172 führt einige Beispiele auf, bei denen in metrischen oder prosaischen Grabinschriften der (noch nicht vollendete) Bildungsgang eines verstorbenen Kindes oder Jugendlichen in der laudatio exponiert wird. Die Möglichkeit, wenigsten die Ansätze von Begabung herauszustreichen, fällt hier auf Grund des Alters der beiden Jungen fort. Andererseits exponiert eine solche Betonung der Fähigkeiten auch das, was dem Verstorbenen versagt geblieben ist, und passt so gut in das traditionelle Motiv der blindlings wütenden mors rapida / des raubenden Todes, ein Motiv, das bei Venantius Fortunatus im ersten Vers gemieden bzw. durch eine spezifisch christliche Wendung ersetzt wird. Vgl. Venantius Fortunatus, Carm., IV, 21, 3–12. Das prius / früher (Vers 5) bezieht sich hier wohl, wie REYDELLET, I, 152, es auffasst, nicht darauf, dass er noch gar nicht getauft ist, sondern dass er als erster vor seinem Bruder gestorben ist. Denn beide haben Taufnamen, der zweite, Patricius, zeigt in Ansätzen merita / Verdienste und ist immerhin fünf Jahre alt geworden (siehe Vers 8f. und Vers 6).

3.2.3. Epitaphien

285

zweite, Patricius, zeigte schon tugendhafte Anlagen und Zeichen von dem Verdienst,98 das er, wäre er nicht gestorben, wohl erlangt hätte.99 Die conclusio sagt aus, dass auch die Mutter im selben Grab begraben liegt. Es handelt sich wohl um ein Familiengrab.100 Auch im Zusammenhang mit der Mutter fällt der Begriff meruit / sie verdiente;101 ihre merita / Verdienste liegen gerade darin, dass sie solche Söhne zur Welt gebracht hat. Daraus wird deutlich, dass Venantius Fortunatus den Gedanken der merita / Verdienste, die zur Erlangung des ewigen Lebens führen oder zumindest als Indiz dafür zu gelten haben, hier nicht durch den der Unschuld102 ersetzt, sondern ihn ergänzt. Wie in den zuvor behandelten Beispielen wird dem Element der Trauer (und immerhin liegt in diesem Grab die halbe Familie bestattet) der spezifisch christliche Trost eines glückseligen Lebens entgegengesetzt,103 wobei auch dort, wo eigentlich keine merita / Verdienste zu erwarten sind, ihnen dennoch ein besonderes Gewicht zukommt. Durch die Gnome, die hier nicht am Ende des Gedichtes, sondern am Ende des Hauptteils steht,104 und in der das Glück der Seelen (felices animae) mit der Frömmigkeit in Zusammenhang gebracht wird (quae pia uota colunt / welche fromme Wünsche hegen), erhält auch die conclusio einen von individuellen Zügen abstrahierten grundsätzlichen Charakter: Es ist möglich, auch nur durch die Geburt von jemandem, der das ewige Leben erlangt hat, selber des Lichtes teilhaftig zu werden, sicher eine Analogie zu Maria, deren merita / Verdienste in erster Linie darin bestehen, dass sie Christus, den Erlöser, geboren hat. 3.2.3.3. Carmen IV, 28 a) Text und Übersetzung Das Schlussgedicht des vierten Buches ist einem Mädchen, Eusebia, gewidmet, das keine zehn Jahre alt geworden ist: Scribere per lacrimas si possint dura parentes, hic pro pictura littera fletus erat.

Wenn die Eltern durch ihre Tränen harten (Stein) beschreiben könnten, bestände hier anstelle eines Bildes der Buchstabe aus Weinen.

98 Vers 8. 99 Venantius Fortunatus, Carm., IV, 22, 3–10. 100 Venantius Fortunatus, Carm., IV, 22, 11f.: Hic etiam felix genetrix requiescit eorum, / quae meruit partu lumina ferre suo. / Hier ruht auch die glückliche Mutter der beiden, / die es verdiente, durch deren Geburt selbst das Licht zu erlangen. Zur Zunahme von Sarkophagbestattungen von Frauen in frühchristlicher Zeit siehe DRESKEN-WEILAND, Sarkophagbestattungen des 4.–6. Jahrhunderts, 22, vgl. auch die tabellarische Aufstellung 216–238. 101 Vers 12. 102 Vgl. Vers 2. 103 Siehe dazu auch DELBEY, La poétique de la „copia“, 208. 104 Vers 9f.

286

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

Sed quia lumen aquis non signat nomen amantis, Aber weil das Auge mit Wasser nicht den Namen tracta manus sequitur qua iubet ire dolor. des Liebenden zu zeichnen vermag, folgt die Hand, dorthin gezogen, wohin der Schmerz ihr zu gehen befiehlt. Nobilis Eusebiae furibundi sorte sepulchri 5 Finsterer Stein, der du durch das Schicksal des hic, obscure lapis, fulgida membra tegis. rasenden Grabes der 5 vornehmen Eusebia glänzende Glieder bedeckst. Cuius in ingenio seu formae corpore pulchro Bei ihrer Begabung oder der Formschönheit arte Minerua fuit, uicta decore Venus. ihres Körpers, war Minerva in der Kunst, in der Anmut Venus besiegt. Docta tenens calamos, apices quoque figere filo, Gelehrt den Griffel zu halten, und auch Buchquod tibi charta ualet hoc sibi tela fuit. 10 staben mit dem Faden zu sticken, war für sie das Gewebe, was für dich eine Briefseite ist. 10 Dulcis in Eusebii iam desponsata cubile, Schon war sie dem Gemach des schönen Euseuiuere sed tenerae uix duo lustra licet. bius versprochen, aber es war ihr nur erlaubt, kaum zwei Lustren zu leben. Vt stupeas iuuenem, sensum superabat anilem, Deine Geistesschärfe überragte die einer Alten, Se quoque uincebat non habitura diu. so dass man über das junge Mädchen staunte, und sie besiegte sich selbst, obwohl sie nicht lange leben würde. Conteriturque socer cui nata generque recedit: Der Schwiegervater wird von Trauer zerrieben, 15 dem Tochter und Schwiegersohn verloren sind, haec letalis obit, ille superstes abit. 15 diese starb, jener überlebte und ging fort. Sit tamen auxilium, quia non es mortua Christo. Dennoch gibt es wohl Hilfe, weil du nicht tot bist uiues post tumulum uirgo recepta Deo. für Christus, nach dem Grab wirst du leben als Jungfrau, von Gott aufgenommen.105

b) Gliederung Auch hier wird auf ein dreiteiliges Gliederungsschema zurückgegriffen: I. V. 1 – 4 II. V. 5 – 16 V. 5 – 6 V. 7 – 10 V. 11 – 14

exordium und lamentatio I: Trauer der Eltern. Hauptteil: 1. laudatio der Eusebia. Vornehme Abkunft der Eusebia. Begabung und Schönheit der Eusebia. Eusebia und ihr Verlobter Eusebius.

105 Venantius Fortunatus, Carm., IV, 28, lateinischer Text nach REYDELLET, I, 163.

3.2.3. Epitaphien

287

Hauptteil: 2. lamentatio II: Trauer des Schwiegervaters. consolatio und conclusio: Trost in Christus.

V. 15 – 16 III. V. 17 – 18

c) Interpretation Gleich zu Anfang wird mit den Schlüsselbegriffen lacrimae / Tränen, fletus / Tränen, dolor / Schmerz die Trauer der Angehörigen exponiert,106 und somit verschmilzt wiederum das exordium mit der lamentatio. Das Epitaphium nähert sich hier dem Genos der Trauerelegie an. Mit dem terminus technicus amans / Liebender 107 verweist Venantius Fortunatus zugleich auf die Gattung der Liebeselegie und verbindet so Trauer- und Liebesthematik. Das ungewöhnliche Bild, durch Tränen zu kommunizieren, verwendet Venantius Fortunatus auch in anderem Zusammenhang, in dem äußerst manierierten Brief an Bischof Syagrius von Autun, mit dem er für einen Vater die Freilassung seines Sohnes erreichen will.108 Dort erkennt der Dichter das Anliegen des Vaters aus seinen Tränen, ehe dieser noch ein einziges Wort hervorgebracht hat. Der Name der Verstorbenen erscheint erst im nächsten Distichon, das zugleich den Hauptteil einleitet: Nobilis Eusebiae furibundi sorte sepulchri hic, obscure lapis, fulgida membra tegis.

Finsterer Stein, der du durch das Schicksal des rasenden Grabes der vornehmen Eusebia glänzende Glieder bedeckst.109

Während mit Begriffen wie furibundus / wütend, rasend der Aspekt der Trauer wieder aufgenommen und auf Ohnmacht und Wut der Hinterbliebenen angespielt wird, leitet die im Gegensatzpaar obscurus / finster und fulgidus / glänzend angelegte Lichtmetaphorik zur Würdigung der Verstorbenen über. 110 Dabei ist die Junktur des Adjektivs furibundus / wütend, rasend mit dem Grab / sepulchrum, bzw. dem Schicksal / sors, das ins Grab führt, ungewöhnlich,111 da der Begriff furibundus meist in Zusammenhang mit der Raserei eines Menschen (in der Elegie auch der Geliebten)112 benutzt wird. Lediglich Ovid verwendet den Begriff im Zusammen106 Venantius Fortunatus, Carm., IV, 28, 1–4. Dazu passt auch die Betonung von Eusebias Schönheit in Vers 7. Vgl. DELBEY, La poétique de la „copia“ , 217f., wo der Aspekt der dreifachen Schönheit der Eusebia in physicher, moralischer und spritueller Hinsicht besonders hervorgehoben wird. Neben die physische Schönheit (V. 7) trete die christliche Schönheit, die durch den Glauben erlangt werde. 107 Venantius Fortunatus, Carm., IV, 28, 3. 108 Venantius Fortunatus, Carm., V, 6, 1–5. 109 Venantius Fortunatus, Carm., IV, 28, 5f. 110 Venantius Fortunatus, Carm., IV, 28, 7–16. 111 Vers 5. In der klassischen lateinischen Literatur ist die Junktur von sepulchrum furibundum gar nicht belegt. 112 Vgl. z. B. Properz, IV, 8, 52.

288

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

hang mit fortuna / dem Schicksal und das ausgerechnet in dem Epicedium, das er auf den Tod des Drusus verfasste. 113 Zu dieser Klassikerreminiszenz passt auch die Erwähnung zweier paganer Gottheiten, nämlich Minerva und Venus, 114 während Venantius Fortunatus ansonsten Vergleiche mit heidnischen Gottheiten meidet.115 Allerdings wird gerade durch diese Junktur von furibundus mit dem Todeslos das Motiv der maßlosen Trauer der Eltern aus der Einleitung aufgenommen und die scheinbare Sinnlosigkeit des Todes der Eusebia impliziert. Diese Sinnlosigkeit erscheint auf den ersten Blick noch größer, weil Eusebia in der Webkunst und in ihrer Schönheit die jeweiligen paganen Göttinnen übertraf. 116 Durch die Ausführung beider Gedanken, dass nämlich Eusebia in der Webkunst so geschickt war, wie andere im Schreiben, 117 wodurch ihr künstlerisches ingenium 118 hervorgehoben wird, und die schon erfolgte Verlobung mit dem dulcis Eusebius / dem anmutigen Eusebius, 119 womit – ihrer Schönheit angemessen – die Ehe mit einem schönen Jüngling ins Haus stand, erscheint ihr Tod noch unverständlicher und als Werk eines blind wütenden Schicksals. Hier ergibt sich eine deutliche Parallele zu Grabepigrammen, in denen der Bildungsgang eines jung Verstorbenen exponiert wird.120 So heißt in einer Inschrift aus dem Jahre 359 aus Farfa:121

113 Vgl. Ovid, Epic. Drusi, 373: Quaque ruit furibunda ruit totumque per orbem / fulminat et caecis caeca triumphat equis. / Wo auch immer sie hin eilt, eilt sie wütend durch den ganzen Erdkreis / blitzt und donnert und triumphiert blind auf blinden Pferden. 114 Venantius Fortunatus, Carm., IV, 28, 7. H. FELS, Studien zu Venantius Fortunatus, 95–98 entwickelt die These, dass das unvollendete Figurengedicht Carmen II, 5 gar nicht unvollendet, sondern von Eusebia auf ein Tuch übertragen worden sei, worüber diese aber verstorben wäre. Zusammen mit Carmen II, 4 hätten diese beiden Gedichte als die in Carmen II, 6 beschriebenen Banner uexilla regis im Kloster der Radegunde gedient. Und aus Pietätsgründen wäre das zweite Gedicht nie vollständig übertragen und so auch nur unvollständig von Venantius Fortunatus in die Sammlung seiner Gedichte aufgenommen worden. Abgesehen davon, dass uexilla regis zu Beginn von Carmen II, 6 auch als dichterischer Plural aufgefasst werden kann, spricht die für Venantius Fortunatus eher ungewöhnliche Erwähnung zweier paganer Göttinnen ebenso wie die ausdrücklich erwähnte Verlobung der Eusebia wohl dagegen, dass sie für das Kloster Webarbeiten ausführte. (Eine puella oblata kann sie auch nicht gewesen sein). 115 Eine bewusste Ausnahme bildet das Epithalamium auf Sigibert und Brunichilde, VI, 1, in dem neben Venus und Amor auch die personifizierten Gottheiten Mars und Pax auftreten, vgl. die entsprechenden Ausführungen in Kapitel 3. 2. 2. 1. dieser Arbeit. 116 Venantius Fortunatus, Carm., IV, 28, 6f. 117 Vers 9f.: Zur Übersetzung des tenens siehe REYDELLET, I, 163, Anm. 112, wo er auf die verschiedenen Möglichkeiten verweist. 118 Vers 7. 119 Vers 11. 120 Siehe dazu GEMEINHARDT, Das lateinische Christentum und die antike pagane Bildung, 170. 121 ILCV 739 = CLE 649 (a. 359 Farfa), Text und Übersetzung nach GEMEINHARDT, Das lateinische Christentum und die antike pagane Bildung, 170 mit Anm. 18.

3.2.3. Epitaphien

Eheu quos fletus retinet crudele sepulchrum da, lector, lacrumas et duro flectere casu! hic est Simplicius nam funere mersus acerbo, indole sublimis, morum grauitate colendus, praeclarus studiis, primis deceptus in annis. qui cum te pu[…] Ultra annos sapiens praeceps fata inuida raptum, de cuius spe promittens sibi plurima mater immeritos potius suscepit casta dolores, nec ualuere preces, quas fuderat anxia caras…

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Wehe, welch’ Jammer birgt in sich das grausame Grab! Lass Tränen fließen, o Leser, und dich beugen ob des harten Leidens! Denn hier liegt Simplicius ins vorzeitige Grab gesenkt, herausragend in Begabung, geformt durch die Strenge der Sitten, hochberühmt in den Studien, in frühen Jahren [um all’ das] betrogen. [unvollständig] …über sein Alter hinaus weise, übereilt vom missgünstigen Schicksal geraubt von der Hoffnung auf ihn versprach sich noch vieles die Mutter, die nun vielmehr unschuldig unverdiente Schmerzen empfing, und nicht ermessen kann man die Bitten, welche die Verängstigte liebend hervorbrachte….

Simplicius wurde vierzehneinhalb Jahre und zehn Tage alt, wie die abschließende Altersangabe angibt. Auch hier also eine Exponierung der Trauer, allerdings mit weit weniger ausgefeilten Bildern als bei Venantius Fortunatus, auch hier eine Apostrophierung der Bildung, die das Todeslos noch grausamer erscheinen lässt. Ungewöhnlich ist bei Venantius die Kombination von typisch weiblicher Ausbildung in Webarbeiten mit der literarischen Bildung, die im Bild von der Buchstaben webenden Eusebia ihren poetischen Ausdruck findet.122 Deutet sich bei Simplicius das puer / senex Motiv an, so ist es bei Venantius Fortunatus als weiblichen Äquivalent der puella / anus123 ausgestaltet und begründet nicht nur, warum sie ihrem Verlobten gefällt (nämlich neben der äußeren Schönheit durch ihre geistigen Gaben), sondern führt durch die paradox scheinende Betonung non habitura diu / obwohl sie nicht lange hier wohnen würde124 zum Schlüssel einer möglichen Erklärung, nämlich den 122 Venantius Fortunatus, Carm., IV, 28, 9f. Ein klassisches Beispiel für eine Grabinschrift eines Mädchens stellt ILCV 4341 = CLE 1620 dar für die elfjährige Gerontia aus Aquileia, die für Anzeichen künftiger Keuschheit, das Licht ihrer Weisheit und ihren Charakter gerühmt wird, vgl. dazu GEMEINHARDT, Das lateinische Christentum und die antike pagane Bildung, 170f. mit Anm. 20. Der Begriff der sapientia / Weisheit muss sich hier allerdings nicht auf ihre literarische Bildung beziehen, sondern kann wohl auch im Sinne eines Anteils an der göttlichen Weisheit verstanden werden. 123 Venantius Forutunatus, Carm., IV, 28, 13f. Ausführlich zu diesem Motiv siehe CH. GNILKA, Aetas spiritalis. Die Überwindung der natürlichen Altersstufen als Ideal frühchristlichen Lebens, Bonn 1972. Vgl. auch H. BRANDT, Wird auch silbern mein Haar. Eine Geschichte des Alters in der Antike, München 2002, insbesondere 229. 124 Venantius Fortunatus, Carm., IV, 28, 14.

290

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

von Menander stammenden und schon bei Plautus aufgenommenen Gedanken, dass derjenige, den die Götter lieben, früh stirbt.125 Bleibt Venantius Fortunatus bis hier sowohl in exordium und lamentatio wie auch in der laudatio funebris – anders als in den zuvor analysierten Beispielen – in einem Gedankengang, der auch ganz in der paganen Welt hätte Platz finden können und kommt er durch die Reminiszenzen an die pagane Tradition des Epitaphium wohl in besonderem Maße seinen Auftraggebern entgegen, so eröffnet der hier anklingende und durch das Motiv der puella / anus exponierte Gedanke den Weg in eine christliche Schlussdeutung, die durch die antithetische Gegenüberstellung mit der Trauer des Schwiegervaters126 noch stärker akzentuiert wird, wobei consolatio und conclusio wiederum zusammenfallen: Sit tamen auxilium, quia non es mortua Christo. Dennoch gibt es wohl Hilfe, weil du nicht tot bist uiues post tumulum uirgo recepta Deo. für Christus, nach dem Grab wirst du leben als Jungfrau, von Gott aufgenommen.127

Der im Christentum verankerte Unsterblichkeitsgedanke bildet wie bei den zuvor analysierten Epitaphien das zentrale Element, dem alle Reminiszenzen an die pagane literarische Tradition untergeordnet sind und das sie gleichsam auf ihr aufbauend spezifisch christlich überhöht. Vergleicht man diesen Tatbestand mit den zuvor analysierten Epitaphien, so zeigt sich, dass diese Akzentuierung offensichtlich je nach Auftraggeber und Rang des Verstorbenen verschieden ist: Während bei dem Epitaphium auf den Bischof Leontius I 128 aufgrund seines klerikalen Ranges und seiner merita / Verdienste das ewige Leben außer Frage steht und es zum Erweis genügt zu erwähnen, dass er schon auf Erden gleichsam im Himmel verweilte129 und so der Gedanke der memoria stärker in den Vordergrund treten konnte, wird bei den Laien, ob es sich nun um adelige Erwachsene oder Kinder aus vornehmen Haus handelt, dem Trauergedanken die Unsterblichkeit der Seele gegenübergestellt. Dies geschieht wiederum im Hinblick auf die Auftraggeber130 in Variation: Bilden in dem Epitaphium auf Avolus131 seine merita / Verdienste die Grundlage dafür, dass man 125 Vgl. Plautus, Bacchides, 816f., lateinischer Text nach der Ausgabe von LINDSAY, Oxford 1905: ...quem di diligunt / adulescens moritur, dum ualet, sentit, sapit. / Wen die Götter lieben, / der stirbt jung, während er gesund ist, fühlt, bei Verstand ist. 126 Venantius Fortunatus, Carm., IV, 28, 15f. Das überlieferte socer / Schwiegervater ist wohl anderen Lesarten vorzuziehen, siehe dazu REYDELLET, I, 163, Anm. 113. Es ist auch durchaus möglich, dass das Gedicht gemeinschaftlich von Eltern und Schwiegereltern in Auftrag gegeben wurde. 127 Venantius Fortunatus, Carm., IV, 28, 17f., lateinischer Text nach REYDELLET, I, 163. 128 Venantius Fortunatus, Carm., IV, 9. 129 Vgl. Vers 21. 130 Darauf weist J. W. GEORGE, Variations on themes of consolation in the poetry of Venantius Fortunatus, Eranos 86, (1988), 53–66, hin: Es handele sich um allgemeines Prinzip bei Venantius Fortunatus (Zitat 54): „...a poem by Fortunatus derives from a literary tradition familiar to poet and patron alike, a traditional theme being then embroidered with the variations which would appeal to a patron’s particular taste and interests...” 131 Venantius Fortunatus, Carm., IV, 21.

3.2.3. Epitaphien

291

ein ewiges Leben erwarten darf und deswegen sich die Trauer für die Hinterbliebenen erübrigt, wird dieser Gedanke im Hinblick auf im Kindesalter Verstorbene dahingehend variiert, dass sich bereits Ansätze für künftige Verdienste zeigen.132 In einem ähnlich gelagerten Fall, dem Tod eines kleinen Mädchens, kann aber auch auf das Element der Trauer und die literarische Tradition der paganen Trauerelegie, ein wesentlich stärkeres Gewicht gelegt werden. Bei den Laien treten zugleich der Gedanke des Trostes und damit die konsolatorischen Elemente in den Vordergrund; vom Gliederungsschema lassen sie sich in die Grundstruktur: laudatio – lamentatio – consolatio – conclusio einordnen, wobei die lamentatio bei Venantius Fortunatus bewusst mit dem exordium verbunden und der laudatio vorangestellt wird, während die consolatio in der Regel mit der conclusio verbunden oder, ohne einen selbständigen Teil zu binden, dort, wo sich die Heiligkeit des Verstorbenen aufgrund seiner merita wie bei Leontius I. außer Frage steht, in die laudatio eingeflochten wird. Diese Verbindung wird im besonderen Maße im längsten Epitaphium dieses Buches, das einer Vilithuta gewidmet ist,133 deutlich:134 d) Vergleich mit dem Epitaphium Vilithutae, Carmen IV, 26 Gliederung Um einen inhaltlichen Überblick zu geben, sei hier die ausführliche Gliederung nach Walz, wo der literargenerische Zusammenhang zur consolatio besonders herausgestrichen wird, vorangestellt: „ 1 – 6: Proömium: Allgemeine Sentenzen: Die Freuden der Welt sind flüchtig; sie bereiten Schmerz (Allgemeinfall) 7 – 50: Laudatio auf Wilithute 7 – 12: Narratio I: 13 – 24: Vita I: 25 – 32:

Consolatio:

33 – 44: 45 – 50:

Vita II: Narratio II:

51 – 68:

Lamentatio

69 – 136:

Consolatio

69 – 78: 79 – 136:

Tod Wilithutes (Einzelfall). ----| Abstammung, Bildung, Charakter, | Äußeres. -----|-| merces (V. 28) auf Erden; -----| | Vorbereitung der Consolatio || (V. 69 – 78). -----|-|-| Kindheit als Waise, Heirat. —–|-| | Todesursache, Lebensalter —–| | | Klage des Ehemanns und Vaters. | | Trost für Dagaulf. | | merces (V. 70) Wilithutes im Himmel | (Einzelfall). —| Vorstellung vom Leben nach dem Tod

132 Vgl. Venantius Fortunatus, Carm., IV, 22, 9. 133 Venantius Fortunatus, Carm., IV, 26. Siehe speziell zu diesem Epitaphinum DELBEY, La poétique de la „copia“, 218–220. 134 Eine ausführliche Analyse findet sich bei WALZ, Epitaphium Vilithutae, insbesondere 60ff.

292

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus (Allgemeinfall). Glücklich (felices, V. 79), die, die ohne Schuld leben, denn sie haben das ewige Leben verdient.

79 – 88:

89 – 112: 89 – 92: 93 – 98: 99 – 102: 103 – 112: 113 – 136: 113 – 118: 119 – 133: 134 – 136: 136 – 160:

Exhortatio

137 – 142: 143 – 146: 147 – 156:

157 – 160:

Conclusio (ergo)

Schicksal des Sünders. Furcht des Sünders (infelix, V. 89) vor den Schrecken des Jüngsten Gerichts. Ekphrasis der Himmelsversammlung. Die Schrecken des Jüngsten Gerichts: aut poena aut palma (V. 101). Die Strafe der Verdammten. Die Belohnung der Gerechten. Gegensatz zwischen den Gerechten und Verdammten. Ekphrasis von Paradies und Visio beatifica. Freude der Gerechten; Schmerz darüber, erst so spät das ewige Leben erlangt zu haben. Anwendung des Allgemeinfalls auf Dagaulf: Hör auf zu weinen! Rationes: a) Man würde glauben, du seist neidisch: a’) auf das Glück der Gattin, a’’) auf Christus. b) Wie kannst du der Gattin zumuten, vom Anblick Gottes in diese Welt zurückzukehren? c) Allgemeine Sentenzen: Alle Menschen müssen sterben; im Tod sind alle gleich. a) Zusammenfassung der Exhortatio: Weine nicht! b) Zusammenfassung der Consolatio (V. 79): Glücklich (felices, V. 159) die, die ohne Vergehen sind, denn ihr Leben nach dem Tod ist besser als vorher.”135

Vergleich Das Schicksal der Vilithuta, die im Alter von siebzehn Jahren bei der Geburt ihres ersten Kindes verstarb und bei der der Trostgedanke, sie habe ihr Leben für ein neues hingegeben, auch keine Anwendung finden konnte, da das Kind sie wohl nur kurz überlebt hat, weist, was die Ausgangssituation angeht, deutliche Parallelen zu dem analysierten Epitaphium auf Eusebia auf, auch wenn hier wohl nicht die Eltern, sondern der trauernde Ehemann das Werk in Auftrag gegeben hat. So spielt auch hier im exordium bzw. Proömium das Motiv der Trauer eine große Rolle, ist aber eingebettet in allgemeine Überlegungen zur Vergänglichkeit:

135 Gliederung nach WALZ, Epitaphium Vilithutae, 61.

3.2.3. Epitaphien

293

Omne bonum uelox fugitiuaque gaudia mundi, monstrantur terris et cito lapsa ruunt.

Jedes Gut ist rasch (vorbei) und flüchtig sind die Freuden der Welt, sie werden auf Erden gezeigt, und rasch entgleiten sie und stürzen. Vt dolor adquirat uires, cum perdit amantem, Damit der Schmerz an Kräften gewinnt, wenn er ante placere facit, durius inde premit. den Liebenden zugrunde richtet, lässt er uns erst Gefallen finden, und bedrängt uns dann um so härter. Heu lacrimae rerum, heu sors inimica uirorum, Ach, Tränen über die (weltlichen) Dinge, ach 5 feindliches Geschick der Männer, 5 cur placitura facis quae dolitura rapis. warum lässt du uns gefallen, was du uns Schmerzen bringend raubst? Vilithute decens, Dagaulfi cara iugalis, Die anmutige Vilithuta, die liebe Gattin des coniugis amplexu dissociata iacet. Dagaulf, liegt, den Umarmungen ihres Mannes genommen, im (Grab).136

Das unverständliche Todeslos der Vilithuta wird hier in einem elegischen Kontext situiert, der durch eine Gnome über die Vergänglichkeit allen Irdischen abgerundet wird.137 Der ausführliche Hauptteil ist dreigeteilt, zunächst erfolgt wiederum eine Würdigung der Verstorbenen, in der ihre Herkunft, ihre Schönheit, ihre Bildung und auch ihr Lebenslauf bis zum Tod bei der Geburt ihres ersten Kindes geschildert werden. 138 Dieser laudatio folgt die lamentatio mit einer breiten Darstellung der Trauer von Vater und Ehemann,139 worin sich deutliche Parallelen zum Einsatz des Trauermotivs von Eltern und Angehörigen im Epitaphium auf Eusebia140 zeigen. Dann ist von den merita / Verdiensten, (hier auch als merces bezeichnet) der Vilithuta die Rede,141 womit der dritte Abschnitt einer eigens ausgewiesen consolatio einleitet wird. Diese merita / Verdienste sichern ihr ein ewiges Leben: Tempore quam paruo lacrimas aut colligit In wie kurzer Zeit sammelt reichlich Tränen amplas 85 85 aut cui uita nitet, gaudia longa capit! oder empfängt der, dem das Leben glänzt, lang währende Freuden. Hac de morte leuis dolor est. Nam durius illud, Der Schmerz über ihren Tod ist leicht. Denn hic quem uiuentem Tartara nigra tenent, härter ist jenes (Geschick), wenn einen schon zu Lebzeiten der schwarze Tartaros hält.

136 137 138 139 140 141

Venantius Fortunatus, Carm., IV, 26, 1–8, lateinischer Text nach REYDELLET, I, 155. Vgl. zu der elegischen Situierung auch DELBEY, La poétique de la „copia“, 219f. Vers 7–50. Vers 51–68. Venantius Fortunatus, Carm., IV, 28. Venantius Fortunatus, Carm., IV, 26, 69–84.

294

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

Infelix quisquis maculosis actibus usus, ante redemptorem se laqueasse uidet. nubibus inuectus cum uenerit arbiter orbis, et tuba terribilis commouet arma polis.

90

Unglücklich ist, wer auch immer nach sündigen Taten, gefesselt vor dem Erlöser sieht, 90 wenn auf Wolken der Richter der Welt kommt, und der schreckliche Klang der Trompete die Waffen des Himmels bewegt.142

Mit Anklängen an das Endgericht in der Offenbarung des Johannes143 wird hier das von Venantius Fortunatus häufig gebrauchte Bild von demjenigen, der schon auf Erden gleichsam im Himmel lebt, umgekehrt, indem er von dem spricht, den schon zu Lebzeiten / uiuentem144 die Hölle (er benutzt hier den paganen Begriff des Tartaros, der, in der poetischen Tradition verankert, von christlichen Dichtern sowie von Hieronymus und Augustin als Synonym für die Hölle gebraucht wird)145 aufgrund seiner sündigen Taten 146 gefangen hält. Dieser Gedanke bestimmt den Rest der consolatio, wo das ewige Leben der Vilithuta unter den Heiligen der ewigen Verdammnis für die Sünder gegenübergestellt wird.147 Der Gedanke des ewigen Lebens, der im Epitaphium der Eusebia nur in einem Distichon der Trauer der Angehörigen entgegengesetzt wird,148 erscheint hier ausführlich; er eröffnet die exhortatio und wird in der abschließenden conclusio in Form einer Rahmung wieder aufgenommen, so dass er den gnomisch begründenden Teil der exhortatio ringkompositorisch umschließt: Tu quoque ne lacrimis uras pia fata iugalis cui modo creduntur huc meliora dari.

Auch du verbrenne nicht mit Tränen das fromme Todeslos Deiner Gattin, der, wie man glaubt, Besseres als hier zuteil wird.149

und:

142 143 144 145

146 147 148 149

Venantius Fortunatus, Carm., IV, 26, 85–92, lateinischer Text nach REYDELLET, I, 158f. Vgl. Apc 20, 11ff. Venantius Fortunatus, Carm., IV, 26, 88. Vgl. z. B. Lukrez, De rerum natura, III, 966, wo im epikureischen Sinne die Möglichkeit einer Höllenstrafe abgelehnt wird, (vgl. auch ebendort III, 978f.), oder Augustin, serm., 335, (PL 38, Sp. 1471, 31) Zur Kreuzigungsszene bei Lukas (Lc 39–43): dominus tanquam de tribunali inter ambos iudicauit: illum qui blasphemauit, in tartarum damnauit; alterum se cum duxit in paradisum / Der Herr hat wie vom Richterstuhl über beide geurteilt: Den, der sich der Blasphemie schuldig gemacht hat, hat er zum Tartarus verurteilt, den anderen hat er mit sich ins Paradies geführt. Venantius Fortunatus, Carm., IV, 26, 89. Vers 93–136. Venantius Fortunatus, Carm., IV, 28, 17f. Venantius Fortunatus, Carm., IV, 26, 137f., lateinischer Text nach REYDELLET, I, 160f.

3.2.3. Epitaphien

295

Non decet ergo graues pro coniuge fundere Nicht also ziemt es sich, heftige Tränen für die fletus, Gattin zu vergießen, De cuius meritis te dubitare negas. über deren Verdienste du nicht zweifeln kannst. Felices nimium hic qui sine crimine praesunt, Überaus glückselig sind die, welche hier ohne qui melius discunt uiuere post obitum. Sünde leben, die lernen, dass sie nach dem Tode besser leben.150

Dieser spezifisch christliche Trost durch die Hoffnung auf ein ewigen Lebens, das nach Venantius Fortunatus aufgrund der auf Erden erworbenen merita / Verdienste erlangt werden kann, ist das verbindende Element, das in allen analysierten (und auch in den nicht analysierten) Epitaphien geradezu leitmotivischen Charakter annimmt. Damit stellt es ein zentrales Element fortunatischer Epitaphiendichtung dar, deren Spezifika abschließend noch einmal kurz umrissen werden sollen. e) Zusammenfassung Obwohl die Epitaphien des Venantius Fortunatus lediglich literarisch überliefert sind, zeigen – wie bereits Favreau herausgearbeitet hat 151 – mittelalterliche Zitationen von fortunatischen Versen und Versstücken in Epigrammen den generischen Bezug zur Epigraphie. Bei den Toten handelt es sich um reale Persönlichkeiten, auch wenn der Tod, wie im Falle des Leontius I., schon länger zurückliegen kann. Ebenso sind es keine Märtyrerepigramme, wie die meisten Epitaphien des Damasus, die außerdem in Hexametern komponiert sind. Handelt es sich bei den Toten auch um reale Persönlichkeiten, so begegnen uns die Carmina des vierten Buches in Anordnung und zahlentektonischer Konzeption in einem dezidiert literarischen Zusammenhang, wobei davon auszugehen ist, dass unter den ursprünglich für einen konkreten Anlass verfassten Epitaphien eine Auswahl getroffen wurde und für die Veröffentlichung eine Überarbeitung stattgefunden hat. Bei der Einordnung in die literarische Tradition, beginnend mit paganen Grabepigrammen, ergeben sich Anknüpfungspunkte sowohl im Aufbau wie auch in der Motivik: Z. B. wird der Rezipient direkt angesprochen (viator-Motiv), bei der Darstellung der Trauer wird ein deutlicher Bezug zur Elegie in ihrer Ausprägung als Trauer- oder Klageelegie sichtbar. Bei diesen Bezügen auf die literarische Tradition bedient sich Venantius Fortunatus einer Fülle von Variationsmöglichkeiten im Ausdruck, die allerdings nicht allein im Rekurs auf die pagane Epigraphik, sondern genauso in der Verwendung christlicher Motivik sichtbar wird, wie bereits Delbey herausgestellt hat, der diese Vorgehensweise als poétique de la copia bezeichnet.152 Dennoch ergibt sich durch die spezifisch christliche Heilsgewissheit, die, wenn die entsprechenden merita 150 Venantius Fortunatus, Carm., IV, 26, 157–160, lateinischer Text nach REYDELLET, I, 161. 151 Siehe FAVREAU, Fortunat et l` epigraphie, insbesondere 169f. 152 Vgl. zu diesem Punkt DELBEY, La poétique de la „copia“, insbesondere 207–209.

296

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

vorliegen, also auf Erden ein gleichsam heiligmäßiges Leben geführt wurde, zum ewigen Leben führt, ein grundsätzlicher Unterschied, der sich bereits zuvor in christlichen Grabepigrammen andeutet und von Venantius Fortunatus als unabdingbarer Bestandteil aller seiner Epitaphien besonders exponiert wird:153 „An die Stelle der diesseitigen Memoria tritt vielmehr die Überzeugung vom ewigen Leben nach dem Tod, woraus der Trost der Hinterbliebenen resultiert. Die biographischen Angaben sind daher allein auf die Verdienste und den Lohn im Jenseits ausgerichtet und ganz dem Trost untergeordnet.“154 Das führt dazu, dass Venantius Fortunatus seine Epitaphien als consolationes / Trostreden konzipiert, und auch wenn er nicht starr am Schema laudatio – lamentatio – consolatio festhält, sondern häufig, wie die Analyse der ausgewählten Beispiele gezeigt hat, die lamentatio vorzieht und sie mit dem exordium verbindet und die consolatio mit der conclusio verschmilzt oder bei Toten aus dem geistlichen Stand, wo sie sich aufgrund ihrer merita nahezu von selbst versteht, sie in die laudatio einfließen lässt, „trifft man [doch] in der Gesamtheit der Epitaphien immer wieder auf dieselben rhetorischen Elemente, die in unterschiedlicher Reihenfolge und Akzentuierung miteinander kombiniert werden. Häufig begegnen allgemeine Sentenzen, gern als Exordium, aber auch in anderer Position. Regelmäßig werden in der Narratio der Name des Verstorbenen und die Grablege, aber auch der Stifter des Grabes als Auftraggeber des Dichters genannt. Es findet sich die Lamentatio..., die auch der Dichter selbst erheben kann..., ferner die Exhortatio mit der Aufforderung nicht zu weinen oder als Argument, dass Weinen sich nicht lohnt... Am längsten freilich – nicht ungewöhnlich bei Epitaphien – fällt die Laudatio aus mit den wichtigsten biographischen Daten wie Abstammung, Alter, Beruf und Stand, Episkopatszeit bei Bischöfen, Charaktereigenschaften und Fähigkeiten, z. B. Chorgesang oder Psalterspiel..., Eloquenz, Schreiben und Weben..., Taten wie der Bau oder die Ausstattung von Kirchen. Besonders werden die karitativen Taten gewürdigt.“155 Mag sich diese Variationsbreite nicht zuletzt durch die Anpassungen erklären, die sich aus den Erfordernissen des ursprünglichen Anlasses im Hinblick auf den jeweiligen Adressaten ergeben haben,156 so zeigt sich doch ein eindeutiger formaler Gestaltungswille, den Gedanken der Hoffnung bzw. Gewissheit eines jenseitigen Weiterlebens leitmotivisch zu exponieren. Und während in den 153 DRESKEN-WEILAND, Sarkophagbestattungen des 4.–6. Jahrhunderts, 19 mit Anm. 8, weist darauf hin, dass sich unter dem von ihr behandelten Material auch Sarkophage mit neutralem Inschriftenformular befanden, d.h. dass sie aufgrund ihrer Inschrift nicht als pagan oder christlich identifiziert werden konnten und daher nur aufgrund des Kontextes (Fund in Zusammenhang mit anderen christlichen Gräbern) Christen zugeordnet werden konnten. Das zeigt natürlich eine Konvergenz zwischen christlichen und heidnischen Epitaphien, oder anders ausgedrückt, dass die christliche Grabepigraphik auf der paganen fußte und nicht immer ausdrücklich christliche Akzente setzte. Ein Beispiel dafür ist das oben zitierte Grabepigramm des Simplicius ILCV 739 = CLE 649, wo nur der Bestattungskontext erkennen lässt, dass Simplicius wohl Christ gewesen ist, vgl. GEMEINHARDT, Das lateinische Christentum und die antike pagane Bildung, 170. 154 WALZ, Epitaphium Vilithutae, 63. 155 WALZ, Epitaphium Vilithutae, 63f. 156 Vgl. dazu auch GEORGE, Variations on themes of consolation, 54 und 65f.

3.2.3. Epitaphien

297

wenigen erhaltenen Epitaphien des Sidonius Apollinaris dieser spezifisch christliche Gedanke meist erst am Ende des Gedichtes aufgegriffen wird, durchzieht er bei Venantius Fortunatus jeweils das gesamte Gedicht. Ein adäquates Mittel, um dies zu erreichen, ist die Verbindung von Epitaphium und consolatio, die bei Venantius Fortunatus, anders als in den Trostbriefen des Hieronymus, die in Prosa verfasst sind,157 konsequent im elegischen Distichon steht, wodurch sich wiederum eine Nähe zur Klage- bzw. Trauerelegie ergibt. Durch die Zentralstellung des vierten Buches innerhalb der ersten, sieben Bücher umfassenden Ausgabe der Carmina, wird die Bedeutung der Heilsgewissheit angesichts des Todes exponiert; dass sie grundsätzlich für alle, Kleriker wie Laien, gilt, macht nicht nur die Auswahl der Verstorbenen, sondern auch die Anzahl der Carmina deutlich, die mit dem numerus perfectus einen vollständigen Querschnitt der Gesellschaft suggeriert. Dabei steht das auf den ersten Blick traurigste Schicksal, das der kaum zehnjährigen Eusebia, bewusst am Ende. Zwar wird dort die christliche Heilshoffnung nur im letzten Distichon artikuliert. Doch bildet dieses Distichon zusammen mit den ersten beiden Distichen des vierten Buches einen Rahmen, in den sich alle übrigen Gedichte einfügen und in dessen Licht sie zu verstehen sind. Heißt es am Anfang Quamuis cuncta auido rapiantur ab orbe uolatu, Mag auch alles in gierigem Flug von der Welt attamen extendit uita beata diem. gerissen werden, dehnt dennoch das selige Leben seinen Tag aus nec damnum de fine capit cui, gloria, uiuis und kein Schaden ergreift am Ende den, bei dem aeternumque locum missus ad astra tenet. du, Ruhm, lebendig bist, und der zu den Sternen geschickt dort wohnt. 158

schließt das Buch Sit tamen auxilium, quia non es mortua Christo. Dennoch gibt es wohl Hilfe, weil du nicht tot bist uiues post tumulum uirgo recepta Deo. für Christus, nach Grab wirst du leben als Jungfrau, von Gott aufgenommen.159

157 Siehe zum möglichen Vorbildcharakter des Hieronymus WALZ, Epitaphium Vilithutae, 65. 158 Venantius Fortunatus, Carm., IV, 1, 1–4, lateinischer Text nach REYDELLET, I, 130. Zur Tradition des schon paganen und von Venantius Fortunatus hier aufgenommen Gedankens, dass ein Verstorbener zu den Sternen versetzt wird, vgl. W. ORTH, Verstorbene werden zu Sternen. Geistesgeschichtlicher Hintergrund und politische Implikationen des Natasterimas in der römischen Kaiserzeit, in: H. - J. DREXHAGE / J. SÜNSKES-THOMPSON (Hrsg.), Tod, Bestattung und Jenseits in der griechisch-römischen Antike, St. Katharinen 1999, 148–166. 159 Venantius Fortunatus, Carm., IV, 28, 17f., lateinischer Text nach REYDELLET, I, 163.

298

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

Der Tod betrifft alle, gleich welchen Standes, Alters oder Geschlechts. Indem Venantius das vorführt, nähert er sich bereits einer Gedankenwelt, wie sich in den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Totentanzdarstellungen und darüber hinaus manifestiert.160 Nur ist hier dieser Gedanke positiv gewendet. Die Hoffnung auf das ewige Leben gilt ebenfalls für alle, wobei den merita / den Verdiensten des einzelnen oder auch deren Ansätzen eine besondere Rolle zukommt.

160 Einen Überblick darüber vermittelt: Ihr müßt alle nach meiner Pfeife tanzen. Totentänze vom 15. bis 20. Jahrhundert aus den Beständen der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel und der Bibliothek Otto Schäfer Schweinfurt (Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek 77), Wiesbaden 2000.

3.2.4. Viten im Metrum (II, 16) Allgemeine Vorbemerkungen Den quantitativ größten Teil innerhalb des fortunatischen Prosawerkes nehmen die Viten ein.1 Vita und Wunder am Grab von Heiligen spielen aber nicht nur in seinen Prosaschriften eine bedeutende Rolle, sondern ebenfalls in seinem poetischen Werk: Von epischem Ausmaß ist seine Martinsvita, eine hexametrische Dichtung in vier Büchern, für die er sowohl auf die Prosavita des Sulpicius Severus (Buch I & II) als auch dessen Dialogi (Buch III & IV)2 rekurriert. Dieses Martinsepos ist im Auftrag des Bischofs und Historikers Gregor von Tours entstanden, der seinerseits in seinen Miracula dem heiligen Martin von Tours vier Bücher in Prosa widmet. Zudem verfasste Venantius Fortunatus auf den heiligen Hilarius von Poitiers eine Prosavita und ein Buch De virtutibus / über die Wunder, die sich an seinem Grab ereignen; parallel dazu findet sich in der Sammlung seiner Carmina ein Gedicht in zehn elegischen Distichen auf Hilarius von Poitiers, das so etwas wie eine poetische Kurzvita darstellt.3 Das unmittelbar folgende Gedicht, das zugleich den Abschluss der Carmina des zweiten Buches bildet, stellt eine poetische Sonderform dar. In dreiundachtzig elegischen Distichen wird von Medardus’ Wundern, die er zu Lebzeiten bewirkte, sowie Wundern, die sich an seinem Grab ereigneten, berichtet. Der Heilige wird direkt angesprochen, mit Prädikationen versehen, worauf ein narrativer Teil folgt, der mit einer Bitte des Fortunatus abgeschlossen wird. Von der Makrostruktur der Komposition folgt das Carmen also dem klassischen dreigliedrigen Hymnenschema mit invocatio, praedicatio und precatio.4 Der narrative zweite Teil weist 1

2 3

4

Einen guten Überblick über die Entwicklung der Heiligenvita im lateinischen Bereich unter dem Aspekt des Spannungsfeldes von paganer literarischer Tradition und christlicher simplicitas, die auf literarische Bildung verzichten kann, gibt P. GEMEINHARDT, Das lateinische Christentum und die antike pagane Bildung, (Studien und Texte zu Antike und Christentum 41), Tübingen 2007, 245–305. Allgemein vgl. D. VON DER NAHMER, Die lateinische Heiligenvita. Eine Einführung in die lateinische Hagiographie, Darmstadt 1994. Zu den metrischen Formen ausführlich W. KIRSCH, Laudes sanctorum. Geschichte der hagiographischen Versepik vom IV.–X. Jahrhundert, Stuttgart 2004; zur Medardusvita insbesondere 362–365, wo auch Kirsch bereits auf den generischen Zusammenhang zum Hymnus verweist (364). Zum „Martinellus“ und den Versviten des Paulinus von Périgueux und des Venantius Fortunatus siehe jetzt auch M. VIELBERG, Der Mönchsbischof von Tours im ‚Martinellus’. Zur Form des hagiographischen Dossiers und seines spätantiken Leitbilds. Berlin 2006, insbesondere 60–107. Venantius Fortunatus, Vita sancti Martini, epistula ad Gregorium, 3. Venantius Fortunatus, Carm., II, 15. Von der literarischen Gestaltung her zeitigt es auch – durch sein besonderes Gewicht auf Herkunft und Würdigung des Hilarius – eine gewisse Nähe zu den Epitaphien des vierten Buches, es fehlen aber jegliche Hinweise auf den Tod oder die Reliquien des Heiligen. Vgl. zu diesem Schema W. D. FURLEY, Hymnos, Hymnus. I. Der griechische Hymnos. A. Kulthymnen. B. Literarische Hymnen. C. Isis-Aretalaogien, in: Der Neue Pauly 5 (1998), Sp. 788–791, hier Sp. 789.

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

300

dabei aber Besonderheiten auf, die über das Hymnenschema hinausgreifen und das Carmen eher als eine Versvita des heiligen Medardus erscheinen lassen, die als Versmaß allerdings sich nicht des heroischen Hexameters bedient wie die Vita sancti Martini, sondern des elegischen Distichons. Wird die Martinsvita durch vier Bücher in Prosa De virtutibus sancti Martini von Gregor von Tours ergänzt, ist (übrigens wie im Falle des heiligen Hilarius) zu Medardus auch eine Prosavita unter dem Namen des Venantius Fortunatus überliefert. Unter dem Gesichtspunkt der Transgression von Gattungsgrenzen als Kennzeichen einer „modernen“ Dichtung soll daher im Folgenden dieses Gedicht einer eingehenden Analyse unterzogen werden. Carmen II, 16 (De sancto Medardo) a) Gliederung Schon in der Gliederung zeigt sich die Überlagerung des dreiteiligen Hymnenschemas mit einer zweiteiligen Konzeption, die auch in den Prosaviten des Venantius Fortunatus zur Anwendung kommt, 5 nämlich in die eigentliche Vita und einem Abschnitt De virtutibus, die entweder in einer Schrift hintereinander oder, wie im Falle des Hilarius, in zwei Schriften realisiert werden: Die ersten 64 Verse von Carmen II, 16 behandeln das Leben des Medardus und Wunder, die sich bereits zu seinen Lebzeiten ereignet haben, der Rest des Gedichtes in gut hundert Versen6 die Wunder, die vom Tage seiner Bestattung an geschehen sind. So lässt sich folgendes Schema aufstellen: I. V. 1 – 4 II. V 5 – 156 V. 5 – 24 V. 25 – 64 [bzw.] [I. V. 1 – 64 [V. 1 – 24 [V. 25 – 64 V. 65 – 156 [bzw.] [II. V. 65 – 166 V. 65 – 66 V. 67 – 76 V. 77 – 92 V. 93 – 104 5 6

invocatio des Heiligen praedicatio des Heiligen allgemeine praedicatio Aretalogie I: Wunder zu Lebzeiten des Medardus. bzw. Lob des Medardus allgemein & zu Lebzeiten.] Allgemeines Lob des Medardus.] Wunder des Medardus zu Lebzeiten.] Aretalogie II: Wunder nach dem Tode des Medardus. bzw. De virtutibus sancti Medardi & Schlussbitte.] Überleitung Heilung eines Blinden. Heilung eines Besessenen I. Heilung eines Besessenen II.

Vgl. dazu die entsprechenden Ausführungen in Kapitel 3. 1. 2. dieser Arbeit. Venantius Fortunatus, Carm., II, 16, 65–166.

3.2.4. Viten im Metrum

V. 105 – 122 V. 123 – 132 V. 133 – 138 V. 139 – 156 III. V. 157 – 166 V. 158 –160 V. 161 – 166

301

Heilung eines lahmen Frau. Heilung eines lahmen Mädchens I. Heilung eines lahmen Mädchens II. Heilung eines Blinden. precatio praeteritio der weiteren Wunder am Grab. Bitten für Sigibert und Venantius Fortunatus. b) Interpretation invocatio

Das äußere Hymnenschema mag auch mit dem unmittelbaren Anlass für das Carmen zusammenhängen: Medardus starb 560 und wurde in Soissons beigesetzt. Die noch von Clothar I. in Auftrag gegebene Basilika über seinem Grab wurde erst von Sigibert vollendet: Wahrscheinlich verfasste Venantius Fortunatus dieses Gedicht zur Weihung dieser Basilika.7 So beinhalten die ersten beiden Distichen eine invocatio des Heiligen: Inter Christicolas quos actio uexit in astris Unter den Christen, die ihr Handeln zu den pars tibi pro meritis magna, Medarde, patet, Sternen beförderte, steht dir, Medardus, für deine Verdienste, ein großer Teil offen, qui sic uixisti terrenis hospes in oris der du auf irdischen Gestaden wie ein Gast ut caelos patriam redderes esse tuam. lebtest, so dass du den Himmel zu deiner Heimat machtest.8

Medardus wird angerufen und mit relativen Prädikationen apostrophiert, die ihn seiner actio / seinem Handeln auf Erden preisen.9 Bereits hier finden sich zwei für Venantius Fortunatus typische Elemente, nämlich der Hinweis auf die Verdienste / merita,10 die durch eine doppelte Alliteration (im Vers beginnen alle Wörter außer tibi mit m oder p) noch unterstrichen wird, und das Motiv, dass Medardus schon zu Lebzeiten gleichsam im Himmel gewohnt habe,11 das Venantius häufig verwendet,

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9 10 11

Siehe dazu REYDELLET, I, 192, Anm. 108. Venantius Fortunatus, Carm., II, 16, 1–4, lateinischer Text nach REYDELLET, I, 72f. Zum Motiv der Versetzung zu den Sternen siehe W. ORTH, Verstorbene werden zu Sternen. Geistesgeschichtlicher Hintergrund und politische Implikationen des Katasterimos in der römischen Kaiserzeit, in: H. - J. DREXHAGE / J. SÜNSKES-THOMPSON (Hrsg.), Tod, Bestattung und Jenseits in der griechisch-römischen Antike, St. Katharinen 1999, 148–166. Venantius Fortunatus, Carm., II, 16, 1. Vers 2. Vers 3f.

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3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

um die Heiligkeit einer Person zu exponieren.12 Setzt die praedicatio des Medardus schon hier ein, wird sie den folgenden Distichen breit ausgeführt: praedicatio allgemeine praedicatio Exilium tibi mundus erat caenosa cauenti et modo te gaudet ciue manente polus.

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Exil war für dich die Erde, der du dich vor dem Schmutz hütetest, 5 und nun freut sich der Himmel, weil du sein Bürger geblieben bist. Exutus tenebris, uestitus tegmine lucis Der Dunkelheit entkleidet, gehüllt in die Decke post obitum frueris liberiore die. des Lichts, genießt du nach dem Tode, einen freieren Tag, De tellure satus factus possesor Olympi Auf der Erde geboren, wurdest du Besitzer des et matrem linquens cum Patre laeta tenes.10 Olymps und indem du die Mutter verließest, hältst du dich mit dem Vater in heiterer Wohnung auf.10 Humani uictor uitii super astra triumphas Siegreich über die menschliche Sünde, triumatque cremans carnem das animae requiem. phierst du über den Sternen und indem du das Fleisch verbrennst, gibst du der Seele Frieden.13

Der Grundgedanke wird durch extensiven Gebrauch von Paradoxien unterstrichen und erläutert: Die Welt ist für Medardus gleichsam nur ein Exil, da er sich vor dem Schmutz hütet,14 womit die Welt selbst zugleich als caenosus / voller Schutz bzw. Kot charakterisiert wird. Diese Eigenschaft führt ansonsten dazu, dass auch der Mensch schmutzig bzw. sündig wird, nicht so bei Medardus. Als er nämlich wieder in dem Himmel kommt, freut dieser sich, weil Medardus ciue manente / Himmelsbürger geblieben ist. 15 Indem die Kleidungsmetaphorik mit der von Licht und Dunkelheit verbunden wird,16 ist das Paradoxon seines Todes bereits vorbereitet, denn nach seinem Tode ist er freier als vordem,17 wobei auf das schon pagane und von den Kirchenvätern aufgegriffene Motiv des sw=ma sh=ma, den Körper als Grabmal der Seele rekurriert wird. 18 Ebenso verbindet Venantius Fortunatus im nächsten Paradoxon traditionelle mit christlicher Motivik, wenn die Erde als Mutter 12 13 14 15 16 17 18

Vgl. z. B. Carmen II, 38 über Germanus von Paris und IV, 22 über Leontius I. von Bordeaux. Venantius Fortunatus, Carm., II, 16, 5–12, lateinischer Text nach REYDELLET, I, 73. Vers 5. Vers 6. Vers 7: Exutus tenebris, uestitus tegmine lucis / Der Dunkelheit entkleidet, gehüllt in die Decke des Lichts. Vers 8: post obitum frueris liberiore die / genießt du nach dem Tode, einen freieren Tag. Zu der damit verbundenen Vorstellung, dass jemand schon zu Lebzeiten gleichsam im Himmel verweilt, vgl. auch die Epitaphien des Venantius Fortunatus in Buch IV der Carmina und die entsprechenden Ausführungen in Kapitel 3. 2. 3. dieser Arbeit.

3.2.4. Viten im Metrum

303

gesehen, der Himmel als Olymp apostrophiert und trotzdem von einem Gottvater beherrscht wird, so dass Medardus durch seinen Tod die Mutter verlässt, um nun beim Vater zu wohnen.19 Schließlich kombiniert Venantius Fortunatus Militärmetaphorik mit dem Motiv des Leichenbrandes, der wiederum für die Verachtung des Körperlichen zu Lebzeiten steht. 20 Ein ähnlich komplexes Spiel mit literarischen Motiven paganer wie christlicher Provenienz findet sich in den folgenden Distichen: Te inter mundanos uepres gradiente fatemur calcatis spinis promeruisse rosas.

Wir bekennen, dass du, als du unter den Dornen der Welt einher gingst; die Dornen mit Füßen getreten hast und so Rosen verdientest. Flore refectus ager suaues tibi fundit odores,15 Das durch Blüte erquickte Feld ergießt dir süße balsama, tura replent quae paradisus habet. Düfte, 15 Balsam und Weihrauch, die das Paradies hat, erfüllen es. Cauta per angustum figens uestigia callem, Vorsichtige Spuren auf schmalen Bergpfad sic dedit arta tibi semita lucis iter. hinterlassend, so gab dir der enge Pfad den Weg des Lichts. Lata uoluptatum uia quae submergit Auerno Der weite Weg der Vergnügungen, der in den dulcia carnis alens, mortis amara parat. 20 Avernersee versinkt, bereitet, während er die Genüsse des Fleisches nährt, die Bitternis des Todes. 20 Hoc numquam sacros flexisti, tramite gressus, Auf diesem Pfad schreitend hast du niemals die nec potuere tuos praua tenere pedes. heiligen Füße gewendet, und nicht konnte das Verkehrte sie halten. Durum iter ad laudes, grauior uia ducit in Der harte Weg führt zum Ruhm, der schwerere altum; zum Himmel; quo labor est potior, gloria maior erit. wo mehr an Mühe ist, wird der Ruhm größer sein.21

Die doppelte Motivik der Dornen, die einerseits als uepres mundani / weltliche Dornen22 für das Leiden im irdischen Leben stehen, andererseits auf die Dornenkrone Christi verweisen und so eine imitatio Christi des Medardus implizieren, beinhaltet typisch christliches Gedankengut, was die Verbindung mit dem Rosen-

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21 22

Venantius Fortunatus, Carm., II, 16, 9f.: De tellure satus factus possesor Olympi / et matrem linquens cum Patre laeta tenes / Auf der Erde geboren, wurdest du Besitzer des Olymps / und indem du die Mutter verließest, hältst du dich mit dem Vater in heiterer Wohnung auf. Vers 11f.: Humani uictor uitii super astra triumphas / atque cremans carnem das animae requiem / Siegreich über die menschliche Sünde, triumphierst du über den Sternen / und indem du das Fleisch verbrennst, gibst du der Seele Frieden. Venantius Fortunatus, Carm., II, 16, 13–24, lateinischer Text nach REYDELLET, I, 73. Vers 13.

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3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

motiv unterstreicht,23 das traditionell für Liebe, Grab und Elysion bzw. in christlicher Ikonographie für das Paradies Verwendung findet. Über das Rosenmotiv wird zu den Düften des Paradieses übergeleitet, 24 das Medardus offen steht, weil er auf Erden den dornenreichen Weg beschritten hat. Durch den Begriff des Schreitens / te gradiente25 wird die Wegmetaphorik vorbereitet, die in den letzten vier Distichen der Einleitung nach dem Zwei-Wege Motiv ausgestaltet wird, das bereits auf die von Prodikos stammende und bei Xenophon geschilderte Situation von Herakles am Scheideweg zurückgeht.26 Christlich gewendet führt der steile und enge Weg der Tugend direkt in den Himmel, ein Gedanke, den Venantius Fortunatus ringkompositorisch sowohl im ersten dieser vier Distichen, 27 als auch im letzten ausführt.28 Steile und Enge des Pfades der Tugend sind im ersten dieser Distichen durch die artifizielle Wortwahl exponiert, wenn er einmal als angustus callis / schmaler Bergpfad apostrophiert wird,29 dann als arta semita / enger Pfad erscheint,30 auf dem man natürlich nur vorsichtig seine Fußspuren / cauta uestigia hinterlassen kann.31 Dieser Pfad wird in Verbindung mit der Lichtmetaphorik zum lucis iter / zum Weg des Lichts.32 Bei der Charakterisierung des weiten Weg(es) der Vergnügungen / lata uoluptatum via verbindet Venantius Fortunatus christliches und paganes Gedankengut, dass nämlich der Weg der Vergnügungen nicht wie bei Prodikos und Xenophon nur zu Beschwernissen im Alter führen,33 sondern zum (ewigen) Tode, indem er sich einer paganen Bezeichnung für die Unterwelt, nämlich des Averner Sees bei Cumae bedient, der traditionell als ein Eingang in die Unterwelt galt und in den folgerichtig derjenige, der diesen Weg beschreitet, versinkt.34 Das unbeirrbare Einhalten dieses Weges erscheint durch die Apostrophierung der Füße als sacros / heilig ebenfalls als Zeichen der Heiligkeit und steht in inhaltlicher Antithese zu dem Schlechten / Verkehrten / praua, auf dem sich die Füße nicht halten konnten.35 Die Gnome im letzten der vier Distichen, 36 dient sowohl als Abschluss des 23

24

25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36

Vers 14. Vgl. dazu auch das Standardwerk von M. J. SCHLEIDEN, Die Rose. Geschichte und Symbolik in Ethnographie und kulturhistorischer Beziehung. Ein Versuch, Leipzig, 1873, Ndr. 1976. Vers 15f.: Flore refectus ager suaues tibi fundit odores, / balsama, tura replent quae paradisus habet / Das durch Blüte gestärkte Feld ergießt dir süße Düfte / Balsam und Weihrauch, die das Paradies hat, erfüllen es. Vers 13. Xenophon, Memorabilien, II, 1, 21–34 (nach der Zählung von MARCHANT, Oxford 2 1921). Venantius Fortunatus, Carm., II, 16, 17f. Vers 23f. Vers 17. Vers 18. Vers 17. Vers 18. Xenophon, Memorabilien, II, 1, 31 (nach der Zählung von MARCHANT). Venantius Fortunatus, Carm., II, 16, 19. Vers 21f. Vers 23f.: Durum iter ad laudes, grauior uia ducit in altum; / quo labor est potior, gloria maior erit. / Der harte Weg führt zum Ruhm, der schwerere zum Himmel; / wo mehr an Mühe ist, wird der Ruhm größer sein.

3.2.4. Viten im Metrum

305

Zwei-Wege-Motivs, als auch der gesamten Einleitung. Sie reiht Medardus einerseits in eine reiche Tradition ein, gibt anderseits aber seinem Verhalten zugleich Vorbildcharakter, ehe noch konkrete Einzelheiten aus seinem Leben genannt sind. So zeigt sich schon in diesem ersten Teil, wie Venantius Fortunatus einerseits traditionelle Motive aufgreift und in christlichem Sinne weiterentwickelt und sich andererseits in eine literarische Tradition sowohl paganer wie christlicher Provenienz stellt. Damit wird aber auch sein Sujet, der heilige Medardus, ins Kontinuum der Tradition eingeordnet bzw. das spezifisch Christliche als Fortsetzung und Überhöhung antiker paganer Elemente aufgewiesen. Aretalogie I Wenn man im biographischen Schrifttum christlicher Prägung eine Entwicklung sieht37, die sich vor allem in drei Schritten als Märtyrervita (ab 150), als Mönchsvita (um 350) und als Bischofsvita (ab 395) vollzieht,38 so sind die Prosaviten des Venantius Fortunatus wie die des Gregor von Tours den letzten beiden Formen zuzuordnen. Venantius Fortunatus verwendet bei diesen Prosaviten ein spezifisches Schema, das je nach Anlass und Intention angepasst werden kann.39 Dort folgt auf einen ersten Teil allgemeiner Provenienz ein Hauptteil, der vor allem aus einer Reihung von Wundergeschichten 40 besteht, deren in erster Linie argumentativer Charakter die Heiligkeit des Protagonisten erweisen oder unterstreichen soll. 41 Am Ende oder in einer zweiten Schrift ist von Wundern die Rede, die sich nach dem Tode des oder der Heiligen am Grab ereignet haben. Anders als dort wird hier jedoch auf einen rein biographischen Vorspann zu Herkunft, Werdegang und eventueller Konversion verzichtet, statt dessen erfolgt eine allgemeine praedicatio, an deren Ende Venantius Fortunatus mit zwei Distichen zu den Wundergeschichten überlei37

38 39 40

41

F. LEO, Die griechisch-römische Biographie nach ihrer literarischen Form, Leipzig 1901, führte das pagane biographische Schrifttum auf zwei Grundformen zurück, die in der Schule des Peripatos entwickelt worden seien: Die eine Form beruhe auf einer empirischen Materialsammlung und sei vor allem inhaltlichen Kriterien verpflichtet. Diese Entwicklung finde ihren Höhepunkt in den Kaiserviten Suetons. Die zweite Form folge dem chronologischen Prinzip, stelle aber das Ethos einer Person exemplarisch in den Vordergrund und folge daher einer anderen Intention. Diese Form habe ihren Höhepunkt in den Parallelviten des Plutarch. Zu Einschränkungen des Konzepts siehe W. STEIDLE, Sueton und die antike Biographie, München 2 1963 und A. DIHLE, Studien zur griechischen Biographie, Göttingen 2 1970, insbesondere 7ff. Einen kurzen Überblick über die pagane und christliche biographische Tradition gibt jetzt M. VIELBERG, Der Mönchsbischof von Tours im ‚Martinellus’. Zur Form des hagiographischen Dossiers und seines spätantiken Leitbilds, Berlin / New York 2006, 1–15. Zur christlichen Biographie siehe ausführlich W. BERSCHIN, Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter, 4. Bd., Stuttgart 1986–2001. Vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel 3. 1. 2. dieser Arbeit. Für einen Überblick zur Verwendung von Wundergeschichten, ihrem Auftreten in paganer und christlicher Literatur siehe K. BERGER, Hellenistische Gattungen im Neuen Testament, ANRW II, 25 II (1984), 1031–1432, hier 1212–1218. Vgl. die entsprechenden Ausführungen in Kapitel 3. 1. 2 dieser Arbeit.

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3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

tet, wobei durch den Einsatz der Lichtmetaphorik bereits eine Verbindung zur ersten hergestellt wird: Quae prius incipiam sacri miracula facti 25 Mit welchen Wundern heiliger Tat soll ich cum, quicquid facias, omnia prima micent? beginnen, 25 da, was auch immer du tust, alles an erster Stelle erglänzt? Dum fuit ad superos humano in corpore uita, Während dein zum Himmel gewandtes Leben im Ex oculis fugiens lux tibi cordis erat. menschlichen Körper verweilte, drang aus deinen Augen das Licht des Herzens.42

Die Verwendung der Begriffe lux, das auch das Augenlicht bezeichnen kann,43 und oculi / Augen präfigurieren bereits das Wunder der Blindenheilung: Si caecus uenit, rapuit palpando salutem, in mediis tenebris fulsit aperta dies. 30

Wenn ein Blinder kam, raubte er ihm, indem er ihn berührte, die Krankheit und brachte Heilung, mitten in der Dunkelheit glänzte der offene 30 Tag. 44

Die Heilung eines Blinden geschieht nach dem Vorbild Christi,45 so dass die imitatio Christi durch Medardus gleich zu Anfang der Reihung der Wundergeschichten exponiert wird. Das Vorbild wird hier sogar noch übertroffen, denn während es sich bei den Wundergeschichten in den Evangelien jeweils um ein einzelnes, spezielles Wunder handelt, ist hier von einem wiederholten Vorgang die Rede, wenn Medardus einen Blinden traf, heilte er ihn.46 Diese superatio und ihre unmittelbare Wirkung wird auch mittels der elaborierten Diktion unterstrichen, wenn in einem Zeugma rapere / rauben und salus / Heil, Wohlergehen zusammengebracht werden und zwar in dem Sinne, dass Medardus die Krankheit raubte und das Heil, Wohlergehen schenkte. Der auch theologisch bedeutsame Begriff salus steht dabei betont am Ende des Verses, da er auch für die Erlösung47 durch Christus gebraucht wird und somit auf der Ebene der Diktion der Bezug zur imitatio Christi gegeben ist. Zugleich wird durch die Stellung dieses Distichons an den Anfang der Wundergeschichten ein wichtiges argumentatives Ziel verfolgt: Da die beiden folgenden Wundergeschichten, hier übrigens die einzigen, die sich zu Lebzeiten des Medardus ereignet haben, sich nicht in das neutestamentarische Schema von Heilungswundern und Exorzismen einordnen lassen, sondern eher anekdotischen Charakter haben und 42 43 44 45 46 47

Venantius Fortunatus, Carm., II, 16, 25–28, lateinischer Text nach REYDELLET, I, 74. Vgl. OLD s. v. Venantius Fortunatus, Carm., II, 16, 29f., lateinischer Text nach REYDELLET, I, 74. Vgl. Mc 8, 22–26; Io 9, 1–12. Vers 29. Vgl. OLD s. v.

3.2.4. Viten im Metrum

307

daher zur Exponierung der Heiligkeit des Medardus nur von eingeschränktem Nutzen sind, wird durch dieses einleitende Distichon ein entsprechendes Gegengewicht geschaffen, in dessen Licht alles, was folgt, zu rezipieren ist: Qui uoluit furti causa penetrare latenter te religante sedet, te reserante fugit.

Einer, der heimlich eindringen wollte, um einen Diebstahl zu begehen, sitzt, weil du ihn bindest, entkommt, weil du ihn befreist. Fur sine perfectu uoto deceptus inani Der Dieb wird in seinem törichten Wunsch omnia restituens crimina fraudis habet. getäuscht und erlangt keine Erfüllung, macht alles wieder gut und trägt den Vorwurf des Verbrechens davon. Nam semel ut molles carpserunt palmitis uuas, Denn als sie einmal die zarten Trauben des 35 Weinstocks gepflückt hatten, 35 non ualuere gradus inde referre foris vermochten sie die Schritte von dort nicht nach draußen zu führen, nec potuit raptor pedibus subducere praedam, und nicht konnte der Räuber auf seinen Füßen raptori abduxit sed sua praeda pedes. die Beute entführen, sondern die Beute entführte dem Räuber seine Füße. Ergo suis laqueis coepit miser esse ligatus: Also begann der Unglückliche von den eigenen uenerat ut caperet, captus at ipse fuit. 40 Stricken gebunden zu werden, gekommen war er, um (Beute) zu ergreifen, doch wurde er selbst ergriffen. 40 Nec tetigit mustum, sed iniqua mente rotatur, Und nicht kostete er den Wein, sondern wurde antea quam biberet, ebria turba iacet. durch seine ungerechte Gesinnung gequält, bevor sie trank, liegt die Schar betrunken da. Er begann eher Weintrauben zu bewachen als Incepit seruare magis quam ferre racemos et datus est custos qui cupit esse rapax, davonzutragen, und der, welcher rauben wollte, wurde zum Wächter, donec, sancte, tuis uerbis iussisses abire, 45 bis du ihm, Heiliger, mit deinen Worten befahlst, ut furtum inpleret, doctus ab hoste redit. wegzugehen, 45 und um den Diebstahl zu vollenden, kehrte er belehrt vom Feind zurück.48

Von den Ereignissen, auf die hier angespielt wird, berichtet auch die Prosafassung der Medardusvita:49 Ein Dieb (in der Versfassung ist nicht ganz klar, ob dort vielleicht mehrere gemeint sind, von denen nur einer zurückbleibt, oder ob ein poetischer 48 49

Venantius Fortunatus, Carm., II, 16, 31–46, lateinischer Text nach REYDELLET, I, 74. Vita sancti Medardi, IV (11–14), nach der Ausgabe von KRUSCH. Dass in der poetischen Fassung die Ereignisse so angedeutet werden, als ob sie beim Publikum als bekannt vorausgesetzt werden können, ist übrigens ein weiteres Argument dafür, dass auch die Prosafassung von Venantius Fortunatus stammt. Zur Echtheit dieser Prosafassung vgl. auch BERSCHIN, Biographie und Epochenstil, I, 278f.

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3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

Plural vorliegt) 50 versucht im Weinberg des Medardus, Weintrauben zu rauben, verfängt sich aber im Zaun und kann sich aus eigener Kraft nicht mehr befreien. Befreit wird er erst durch Medardus, der ihn nach einer entsprechenden Ermahnung die gestohlenen Trauben schenkt und ihm sogar erlaubt, zurückzukehren. Streng genommen handelt es sich gar nicht um ein Wunder, das Medardus wirkt, allenfalls kann man hier von einem Strafwunder Gottes sprechen, das die besondere Gnade kenntlich macht, unter der Medardus steht. Strafwunder sind allerdings im Neuen Testament eher selten.51 Und hier steht auch nicht die Strafe, sondern die pädagogische Funktion im Vordergrund, was Venantius Fortunatus in der Versfassung am Anfang 52 und am Ende 53 in einer Rahmung deutlich macht. Diese Distichen ziehen gleichsam die Lehre aus der ganzen Geschichte, deren Erfolg das Schlüsselwort doctus / belehrt54 herausstreicht. Das Mirakulöse wird dabei von Venantius Fortunatus vor allen in Paradoxien exponiert: Der Dieb muss alles zurückerstatten (omnia restituens) und trägt dennoch den Vorwurf eines Verbrechens davon (crimina fraudis habet).55 Der Räuber kann seine Beute nicht wegschaffen und wird stattdessen selbst von seiner Beute geraubt;56 er wird mit den eigenen Stricken gebunden (suis laqueis...ligatus) 57 bzw. ergriffen (captus), obwohl er gekommen war, um selbst (Beute) zu greifen (ut caperet).58 Schließlich treibt Venantius Fortunatus die Paradoxie auf die Spitze, indem der Räuber unfreiwillig selbst zum Wächter wird.59 Durch den Ort der Handlung erhalten die Geschehnisse eine spezifisch christliche Konnotation und eine tiefere Bedeutung. Mit Anspielung auf das Bild von Jesus als wahrem Weinstock und seinem Vater als Winzer60 steht der Weinberg für die christliche Gemeinde. Indem Medardus dem ertappten Dieb nach einer Mahnung den Zugang zum Weinberg eröffnet, eröffnet er ihm auch den zur Gemeinde. Damit verhält er sich nicht nur wie ein guter Winzer, sondern auch wie der Vater im Gleichnis vom verlorenen Sohn.61 Der Hauptakzent liegt also deutlich nicht beim Mirakulösen, vielmehr auf dem Verhalten des Medardus, der sich hier als Lehrer und wahrer Vater seiner Gemeinde erweist. Dem Wunder selbst kommt dabei lediglich eine unterstützende Funktion zu, zugleich zeigt es aber auch die göttliche Gnade, in der sich Medardus befindet. Ähnlich gelagert ist die zweite Wundergeschichte, die sich zu Lebzeiten des Medardus ereignete, wobei ihr anekdotischer Charakter durch besonders burleske 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61

Siehe dazu REYDELLET, I, 74, Anm. 112. Eine Ausnahme bildet die Verfluchung des Feigenbaums, Mt 21, 18–22, Mc, 11, 12–14 / 20–25. Venantius Fortunatus, Carm., II, 16, 31–34. Vers 43–46. Vers 46. Vers 34. Vers 37f. Vers 39. Vers 40. Vers 43f. Vgl. Io 15, 8. Vgl. Lc 15, 11–32.

3.2.4. Viten im Metrum

309

Züge unterstrichen wird. Die pietas animi / die Frömmigkeit seines Herzen, die auch als Überschrift über der ersten Wundergeschichte stehen könnte, wird hier ausdrücklich thematisiert: Quae manet haec animi pietas, sanctissime Was ist das für eine Frömmigkeit des Herzens, praesul, heiligster Bischof, laedentem auxilio qui facis ire tuo. dass du den, welcher dich schädigt, mit deiner Hilfe gehen lässt.62

Mit dieser Paradoxie folgt Medardus dem Gebot der Feindesliebe,63 was durch die folgende Wundergeschichte erneut belegt wird: Tintinnum alter rapit inops, magis inprobus ille, Ein anderer Armer, der noch verbrecherischer qui iumentorum colla tenere solet. 50 war, raubte eine Schelle, die man am Hals von Vieh zu befestigen pflegt, 50 absconditque sinu, feno praecludit hiatum und verbarg sie in seinem Gewand, verschloss et tenet ipse manu, ne manifestet opus. den Spalt mit Heu, und hielt sie mit der Hand fest, damit seine Tat nicht offenbar werde. Te ueniente, sacer, causas patefecit opertas Als du kamst, Heiliger, machte er die verstecktinnitu incipiens iam quasi furta loqui. ten Absichten seines Herzens offenbar. und durch die Schelle begann er gleichsam von seinem Diebstahl zu sprechen. Nil ualet abscondi, nil claudi nilue teneri, 55 Nichts nützte es, dass sie verborgen wurde, facundo strepitu prodidit omne malum. nichts, dass sie verschlossen, nichts, dass sie gehalten wurde. 55 durch den beredten Lärm verriet sie die ganze üble Tat. Pandebat propriam ueluti sub iudice causam, Sie deckte wie vor einem Richter ihren eigenen nil de fure timens liberiore sono. Fall auf, und fürchtete nichts vom Dieb, mit einem allzu freien Klang. Indicat, accusat, conuincit, damnat, acerbat, Sie zeigte und klagte an, überführte, verurteilte, te praesente tamen non licet esse reum. 60 verschlimmerte (den Vorwurf), doch war es nicht möglich, dass es in deiner Gegenwart einen Angeklagten gab. 60

62

63

Venantius Fortunatus, Carm., II, 16, 47f., lateinischer Text nach REYDELLET, I, 74. Zur Titulatur von Bischöfen allgemein siehe E. JERG, Vir venerabilis. Untersuchungen zur Titulatur der Bischöfe in den außerkirchlichen Texten der Spätantike als Beitrag zur Deutung ihrer öffentlichen Stellung (Wiener Beiträge zur Theologie 26), Wien 1970. Mt 5, 38–43; Lc 6, 27–36.

310

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

Absoluis furem solitae pietatis amore, addens et monitus, cautus ut intret iter,

praecipiens querulam secum portare rapinam, ne uacua tristis spe remearet inops.

Du sprachst den Dieb in deiner gewohnten Liebe zur Frömmigkeit frei, fügtest die Mahnung hinzu, dass er auf seinem Weg vorsichtig sei, trugst ihm auf, den klagenden Raub mit sich zu nehmen, damit er nicht betrübt durch eitle Hoffnung arm zurückkehre.64

Wie im Falle der ersten Wundergeschichte gibt es auch hierzu eine ausführlichere Parallelversion in der Prosafassung.65 Hier wie dort folgen beide Wundergeschichten unmittelbar aufeinander. Dabei wird in der Prosafassung deutlich, dass die gestohlene Viehschelle tatsächlich Eigentum des Medardus ist. Ansonsten verläuft die Erzählung fast parallel: Ein Mann, in der Prosafassung als viator / Wandersmann, in der Versfassung als Armer / inops bezeichnet, raubt (unbemerkt) eine Viehschelle und verbirgt sie unter dem Gewand.66 Durch ihr Läuten verrät die Schelle den Dieb, wobei sie in der Prosaversion von selbst beginnt, zu läuten,67 in der Versfassung erst durch die Ankunft des Heiligen.68 In beiden Fällen besteht die Reaktion des Medardus darin, dass er dem Dieb die gestohlene Schelle überlässt, nachdem sich die Sache von selbst aufgeklärt hat.69 Venantius Fortunatus legt bei der Schilderung sein Hauptaugenmerk auf die Aufdeckung der Tat, wobei in der Prosafassung die burlesken Aspekte noch stärker hervortreten, wenn der Lärm der gestohlenen Schelle zunächst einen Volksauflauf hervorruft, den Dieb veranlasst, zu Medardus zurückzukehren, und die Schelle schließlich wieder zum Vorschein kommt.70 In der Versversion wird die Aufdeckung durch die Ankunft des Heiligen bewirkt,71 eine Verkürzung, welche die Dramatik der Geschehnisse deutlich steigert. Doch dient diese Verkürzung nicht nur der Dramatisierung. Das Mirakulöse, das von der Geschichte selbst nur schwach oder gar nicht ausgeprägt ist, wird auf diese Weise exponiert: Die Schelle beginnt genau in dem Moment zu klingeln, in dem der Dieb dem Heiligen begegnet.72 Demselben Zweck dienen die beiden Distichen, die das Erscheinen des Heiligen rahmen: Zuerst ist in einem Trikolon von den Maßnahmen die Rede, die der Dieb ergreift, damit seine Tat unentdeckt bleibt73, also Schutzmaßnahmen sowohl gegen Blicke als auch gegen ein unbeabsichtigtes Klingeln der Schelle, indem sie nicht nur verborgen, sondern auch noch festgehalten wird. Das Distichon, das unmittelbar auf die Erscheinung des 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73

Venantius Fortunatus, Carm., II, 16, 49–64, lateinischer Text nach REYDELLET, I, 75. Vita sancti Medardi, VI (17–20) nach der Zählung von KRUSCH, MGH, AA, IV 2. Siehe dort Paragraph 17, I bzw. Venantius Fortunatus, Carm., II, 16, 49–52. Paragraph 17, II Vers 53–60. Paragraph 20 bzw. Vers 62–64. Paragraph 17, II–19. Vgl. Vers 53. Vers 53f. Vers 51f.

3.2.4. Viten im Metrum

311

Heiligen folgt, greift diese Schutzmaßnahmen auf und macht ebenfalls in einem Trikolon ihre Nichtigkeit deutlich74. Wie vor Gott kein Übeltäter verborgen bleiben kann,75 so bleibt auch vor Medardus trotz aller Schutzmaßnahmen kein Übeltäter verborgen. Das Kommen des Medardus wird gleichsam zur Epiphanie, die das Gerichtsverfahren von der Anklage bis zur Verurteilung in Gang setzt.76 War in der Wundergeschichte zuvor Medardus sowohl in der Rolle des guten Winzers wie in der Vaterrolle erschienen, so nimmt er hier die des Richters ein. In imitatio Christi erweist er sich aber als nachsichtiger Richter, er spricht den Dieb frei, wobei der terminus technicus für das Erlösungswerk Christi absoluere verwendet wird.77 Die in der Wundergeschichte zuvor schon exponierte Rolle des Lehrers wird hier variiert, indem Medardus den Dieb aufträgt, die Glocke zu behalten und ihn ermahnt, vorsichtig nach Hause zu gehen,78 wobei er sich zugleich als mildtätig gegenüber dem Armen / inops erweist. Auch wenn die von Medardus zu Lebzeiten vollbrachten Wunder nicht den Typen von Wundergeschichten im Neuen Testament entsprechen und daher die imitatio Christi nicht sofort offensichtlich ist, gleicht Venantius Fortunatus dieses Manko aus, indem er einerseits das Mirakulöse durch die Elemente der Komposition und Diktion stärker hervorhebt, dabei auch auf das alttestamentliche Strafwunder bzw. Wundergeschichten von Gefangenenbefreiungen rekurriert, wie er sie sonst auch in seinen Prosaviten verwendet,79 andererseits aber Medardus in den biblischen Rollen des Vaters, Lehrers, Richters und guten Winzers zeigt, und dadurch seine Heiligkeit schon zu Lebzeiten belegt. Durch das vorgeschaltete Distichon, in dem von nicht näher ausgeführten, zahlreichen Blindenheilungen die Rede ist,80 erhalten die beiden Wundergeschichten zudem episodischen Charakter, durch den die Tatsache überspielt wird, dass von keinen anderen Wundern zu Lebzeiten des Medardus berichtet wird.

74 75 76 77 78 79

80

Vers 55f. Vgl. Mt 10, 26. Venantius Fortunatus, Carm., II, 16, 57–60. Vers 61f. Vers 62f. Ein Musterbeispiel dafür ist Vitae sanctae Radegundis, XI (23–25) nach der Zählung von KRUSCH, MGH, AA, IV, 2: Dort hört Radegunde auf einem Spaziergang die Hilferufe von Angeklagten im Kerker, die bei ihrem Prozess unterlegen waren. Ihre damaligen Diener täuschen ihr vor, es handele sich nur um Bettler, die um eine Gabe bettelten. In der Nacht jedoch zerbrechen die Ketten der Gefangenen, und sie kommen auf diese Weise frei. Auch in der Prosafassung der Medardusvita wird von einer Gefangenenbefreiung nach dem Tod des Heiligen berichtet: XIV (33) nach der Zählung von KRUSCH, MGH, AA, IV, 2. Vers 29f.

312

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

Aretalogie II Der eigentliche Nachweis der Heiligkeit geschieht durch die Wunder, die sich nach seinem Tode ereignen,81 die aber durch die zuvor geschilderten Episoden vorbereitet sind. Dass auf ihnen der Hauptakzent liegt, zeigt schon ihr quantitatives Übergewicht, denn sie nehmen nach einer Überleitung fast den gesamten Rest des der letzten hundert Verse aus: Hinc tamen ut potero, cum raptus ab orbe Hier will ich doch, wie ich es vermag, von den fuisses, 65 ehrwürdigen Zeichen, 65 quae dederis populis signa uerenda loquar. sprechen, die du dem Volk gabst, als du von der Erde geraubt warst.82

Anders als die Wunder zu Lebzeiten des Medardus folgen sie den neutestamentarischen Typen von Heilungswundern und Dämonenaustreibungen. Den Blindenheilungen83 kommt dabei leitmotivischer Charakter zu. So eröffnet Venantius Fortunatus diesen Teil mit der Heilung eines Blinden, die sich bereits bei der Beerdigung des Medardus zutrug, 84 und schließt die Reihung konkreter Wundergeschichten ebenfalls mit der Heilung eines Blinden,85 zu der Venantius Fortunatus nur noch in einer Art Coda die Erwähnung seiner Heilungen von Stummen hinzufügt. 86 Im Mittelstück dieses Teils sind vier Wundergeschichten enthalten, nämlich die eines Gefangenen in eisernen Ketten,87 die eines zweiten Gefangenen in hölzernen Fesseln88 und die dreier gelähmter Frauen, bzw. einer alten Frau und zweier Mädchen,89 so dass insgesamt sieben Wunder berichtet werden. Wie schon in den beiden Wundergeschichten, die sich zu Lebzeiten des Heiligen ereigneten, unterstreicht Venantius Fortunatus das Mirakulöse durch die Verwendung von Paradoxien, während die Ausgangssituation nur kurz abgehandelt wird. Zugleich wird ein kunstreiches Spiel auf der Ebene der Metaphorik entfaltet. Das erste Wunder, das Medardus noch auf seiner Totenbahre wirkt, macht dies bereits deutlich:

81

82 83 84 85 86 87 88 89

Die Wunderberichte, die sich nach dem Tode eines Heiligen ereignen, nehmen nicht nur im Werk des Venantius Fortunatus, sondern auch in dem des Gregor von Tours einen breiten Raum ein, so sind in seinen De virtutibus sancti Martini 194 Wunderberichte versammelt. Vgl. dazu jetzt auch M. VIELBERG, Der Mönchsbischof von Tours im ‚Martinellus’, 140–162. Venantius Fortunatus, Carm., II, 16, 65f., lateinischer Text nach REYDELLET, I, 75. Vgl. Vers 29f. Vers 67–76, in der Prosafassung XII–XII (30) nach der Zählung von KRUSCH, MGH, AA, IV, 2 wird allerdings kein Blinder, sondern ein Stummer bei der derselben Gelegenheit geheilt. Venantius Fortunatus, Carm., II, 16, 139–156. Vers 157–166. Vers 77–92. Vers 93–104. Vers 105–122, 123–132, 133–138

3.2.4. Viten im Metrum

313

Cum pia composito ueherentur membra feretro, Als deine frommen Glieder auf der Totenbahre substratus meruit caecus habere diem. getragen wurden, verdiente ein Blinder, der sich darunter geworfen hatte, den Tag zu schauen. Anxius ille sacra lumen suscepit ab umbra Ängstlich nahm jener das Licht von heiligem et tua mors illi lucis origo fuit. 70 Schatten, und dein Tod war für jenen Ursprung des Lichts. 70 Dumque sepulchra darent, oculi rediere sepulti Und während man dich bestattete, kam das et sopor ille tuus hunc uigilare facit. bestattete Augenlicht wieder, und dein tiefer Schlaf ließ jenen erwachen. Cum fugis a mundo, datur illi lumine mundus, Als du von der Welt flohst, wurde jenem durch te linquente die hunc fugiunt tenebrae. das Augenlicht die Welt geschenkt, als der Tag dich verließ, floh diesen das Dunkel. Antiqui uultus lucem stupuere modernam 75 Man bestaunte das neue Licht des alten Gesichts et ueteri fabricae prima fenestra uenit. 75 und für das alte Gebäude kam das erste Fenster.90

Die Blindenheilung ist gegenüber dem neutestamentarischen Vorbild 91 deutlich variiert. Schon bei den Wundergeschichten, die sich zu Lebzeiten des Medardus ereigneten, hatte Venantius Fortunatus die dialogischen Elemente zurückgedrängt, indem er nur von der Mahnung des Heiligen sprach, ohne sie inhaltlich zu füllen,92 oder sie nur indirekt wiedergab. 93 Bei Heilungen während der Beerdigung oder später am Grabe des Heiligen fallen sie naturgemäß ganz fort. So beschränkt sich der Kern der Geschichte auf die Schilderung der Ausgangssituation und die Heilung, beides, verbunden mit einer intensiven Lichtmetaphorik, ereignet sich schon im ersten Distichon, wenn davon die Rede ist, dass sich ein Blinder beim Beerdigungszug unter die Bahre des Heiligen geworfen und es verdient habe, den Tag zu schauen (meruit habere diem).94

90 91

92 93 94

Venantius Fortunatus, Carm., II, 16, 66–76, lateinischer Text nach REYDELLET, I, 75f. BERGER, Hellenistische Gattungen im Neuen Testament, weist darauf hin, dass die Durchbrechung von Naturgesetzen in der Antike kein hinreichendes Kriterium zu Abgrenzung der Wundergeschichten von anderen Kleingattungen darstelle (1214–1216). Daher seien die meisten Wundergeschichten epideiktisch-enkomische Gattungen, wovon ein großer Teil dem Typus Anekdoten mit chrienhafter Struktur zuzuordnen sei (1216). Eine Blindenheilung wie Mt 9, 27–31 folge dem Schema einer aus dialogischen und handelnden Elementen gemischten Chrie (vgl. BERGER 1093), d. h. nach einer Schilderung der Ausgangssituation entspinne sich ein kurzer Dialog zwischen Jesus und den Kranken, dann würden die Kranken geheilt und die Geschichte ende schließlich mit einem Ausspruch Jesu. Vgl. Venantius Fortunatus, Carm., II, 16, Vers 46. Vgl. Vers 62 Vers 68.

314

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

Die Lichtmetaphorik, in Anlehnung an Jesu Selbstzeugnis als Licht der Welt,95 fügt sich organisch zur Heilung eines Blinden. Hinsichtlich der möglichen Metaphorik des Lichtes einerseits als Symbol für Erkenntnis, andererseits für das Leben selbst spielt Venantius Fortunatus mit der zweiten Möglichkeit und betont passend zum Anlass den Gegensatz zwischen Licht und Schatten als Gegensatz von Leben und Tod, was durch die Paradoxie, dass der Tod des Heiligen zum Leben des Kranken führt, deutlich unterstrichen wird.96 Das Mirakulöse wird nicht durch die Heilung an sich, sondern durch Antithesen und Paradoxien exponiert: Während der Bestattung kehrt das bestattete Augenlicht zurück,97 der Todesschlaf des Medardus lässt den Kranken erwachen,98 Medardus verlässt die Welt, dem Kranken wird sie geschenkt,99 den Heiligen verlässt das Tageslicht, den Blinden die Dunkelheit.100 Die einem Wunder angemessene Haltung des Staunens bezieht sich auf das Licht, das durch das Spiel mit dem Gegensatz von alt und neu den Charakter eines neuen Lebens erhält 101 und damit Züge einer christlichen conuersio trägt. Während es in den Wundergeschichten der Evangelien häufig als konstituierendes Element zum Erfolg des Wunders hervorgehoben wird,102 ist es hier das Licht der Erkenntnis, von Venantius Fortunatus im Bild vom alten Gebäude illustriert, das sein erstes Fenster erhält,103 das schließlich zum Licht des Lebens führt. So wird durch die komplexe Lichtmetaphorik auf der Bildebene einerseits das Mirakulöse exponiert, andererseits auch eine christlich theologische Interpretation transportiert. War es hier ein neues Leben, das sich für den Kranken aus der Heilung seiner Blindheit ergab, so legt Venantius Fortunatus in den folgenden beiden Wundergeschichten104 den Akzent auf die Befreiung von Gefangenen,105 die sich zum Grab des Heiligen flüchten, wobei bei dem ersten die eisernen, beim zweiten die hölzernen Fesseln zerspringen. Im ersten Fall stellt Venantius Fortunatus die Ausgangssituation dem Wunder und der Befreiung in der gleichen Anzahl von Distichen gegenüber (nämlich je vier),106 während er im zweiten deutlich den Akzent auf die Schilderung des Wunders verschiebt: 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105

106

Vgl. Io 8, 12 und den Prolog Io 1, 9. Venantius Fortunatus, Carm., II, 16, 69f.. Vers 71. Vers 72. Vers 73. Vers 74. Vers 75: Antiqui uultus lucem stupuere modernam / Man bestaunte das neue Licht des alten Gesichts.. Vgl. z. B. Mt 8, 5–13; Lc 7, 1–10; Mt 9, 18–26; Mc 5, 21–43; Lc 8, 40–56; Mt 9, 27–31; Mc 10, 46–52; Lc 18, 25–43. Venantius Fortunatus, Carm., II, 16, 76: et ueteri fabricae prima fenestra uenit / und für das alte Gebäude kam das erste Fenster. Vers 77–104. Zum Motiv der Gefangenenbefreiung in der merowingischen Hagiographie siehe F. GRAUS, Die Gewalt bei den Anfängen des Feudalismus und die „Gefangenenbefreiungen“ der merowingischen Hagiographie, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte I (1961), 61–156. Vers 77–84 & 85–92.

3.2.4. Viten im Metrum

315

Lignea uincla gerens alter confugit ad aulam, quae simili merito scissa repente cadunt.

Ein anderer, der hölzerne Fesseln trug, flüchtete sich zur Kirche, die durch eine ähnliche Wohltat plötzlich, zersprungen zur Boden fielen. Nec mora. Vix tetigit sacrati limina templi 95 Und es gab keine Verzögerung. Kaum berührte fit tonitrus caelis arma ferendo tibi. er die Schwelle des heiligen Tempels, 95 erhob sich ein Donner am Himmel, um dir Waffen zu bringen. Grandia diuisi ceciderunt pondera ligni Das große Gewicht des gespaltenen Holzes fiel et qui gessit onus conruit ipse simul. zu Boden, und der, welcher die Last trug, brach selbst sogleich zusammen. Expauit subito de libertate recepta Plötzlich schauderte er über die erlangte Freiatque magis timuit quando solutus erat. 100 heit, und fürchtete sich mehr, als er befreit war. 100 Quae ratio fuerit, cecidit cur pronus in aruis? Was war der Grund, warum er auf die Erde fiel? Gaudia magna quidem saepe timere solent. Oft pflegt man bei großen Freuden Furcht zu empfinden. Dum stupet unde salus laceris est reddita Während er staunte, woher das Heil den zerplantis, rissenen Fußsohlen zurückgegeben war, admirante animo membra soluta fluunt. und sein Geist sich noch wunderte, lösten sich die befreiten Glieder.107

Ausgangssituation und Wunder werden hier bereits im ersten Distichon gleichsam als Überschrift thematisiert. 108 In Variation zu den Wundergeschichten zuvor schildert Venantius Fortunatus diese nach Art einer Epiphanie. Bei Betreten des heiligen Ortes ertönt Donner als Zeichen des göttlichen Beistands für den Heiligen, das Wunder zu wirken.109 Dieser Donner bewirkt nicht nur das eigentliche Wunder, nämlich Spaltung und Herabfallen der hölzernen Fesseln, sondern lässt auch den Gefangenen niederstürzen,110 eine Proskynese vor der göttlichen Macht. Erschrecken und Furcht, die er dann zeigt,111 sind die angemessene Reaktion auf eine Epiphanie, sowohl in paganer Tradition wie auch in christlicher, was z. B. die Auferstehungsberichte der Evangelien zeigen.112 Den Abschluss bildet dann eine Gnome in Verbindung mit einer Paradoxie.113 Wendet sich die Gnome an den Teil des Publikums, dem der Epiphaniecharakter nicht sogleich deutlich ist und schiebt so eine Erklärung nach, wird im letzten Distichon der Wundercharakter durch die Ver-

107 108 109 110 111 112 113

Venantius Fortunatus, Carm., II, 16, 93–104, lateinischer Text nach REYDELLET, I, 77. Vers 93f. Vers 95f. Vers 97f. Vers 99f. Vgl. Mt 28, 1–8, Mc 16, 1–8, Lc 24, 1–12, Io 20, 1–13. Vers 101–104.

316

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

wendung von Begriffen wie stupere / stutzen, staunen114 und admirari / sich wundern115 unterstrichen. Der Kernbegriff salus / Heil oder auch Erlösung116 verbindet diese Wundergeschichte mit den vorangegangenen, wobei auch das Thema der Befreiung eine Verbindung herstellt, denn die Heilung des Blinden,117 kann auch als Befreiung aus einem dunklen Leben zu einem neuen im Licht interpretiert werden.118 Zugleich besteht auch eine motivische Verbindung zu der Gruppe von drei Heilungswundern an gelähmten Frauen bzw. Mädchen, denen der nächste Abschnitt gewidmet ist: Inde uetus mulier, pariter nascente periclo, 105 Damals hatte eine alte Frau, wobei die Gefahr uulnere naturae mortua membra tulit. zugleich wuchs, 105 durch eine Wunde der Natur tote Glieder. Inclusos digitos morbo numerante tenebat Weil die Krankheit sie in ihrer Gewalt hatte, nec poterat ducto pollice fila dare. hielt sie die Finger eingeschlossen, und nicht konnte sie mit aufliegendem Daumen die Fäden halten. Secum nata quidem, sed non sua dextra Die mit ihr zwar geborene, aber nicht ihr eigene pependit, Rechte hing herab, corpore iuncta suo res aliena fuit. 110 obwohl mit ihrem Körper verbunden, war sie etwas Fremdes. 110 Tempore sed tardo est, cum iam spes fracta Doch nach langer Zeit, als die Hoffnung schon iaceret, gebrochen am Boden lag, ante tuos tumulos uiuificata manus. wurde vor deinem Grab die Hand wieder belebt. Sic inopinatum commendat gratia uotum, So erfüllt die Gnade unverhofft den Wunsch, desperata salus dulcior esse solet. das Heil, an dem man schon zweifelte, pflegt süßer zu sein. Mobilis ergo uenit digitis torpentibus umor 115 Also kam in die starren Finger die bewegliche et dispensatus fluxit in ungue uigor. Flüssigkeit zurück 115 und sorgsam verteilt, floss im Finger die Stärke. Arida neruorum sese iunctura tetendit Die trockene Verbindung der Muskeln streckte Agnouitque suum uena soluta locum. sich, und die Vene erkannte ihren verlassenen Platz. Apta ministeriis incepit palma moueri, Für Dienste geeignet, begann sich die Hand zu seruitium discens libera dextra fuit. 120 bewegen, und indem sie die Knechtschaft erlernte, war die Rechte frei. 120

114 115 116 117 118

Vers 103. Vers 104. Vers 103, vgl. zu Bedeutung von salus OLD s. v. Vers 67–76. Vgl. die entsprechenden Ausführungen weiter oben.

3.2.4. Viten im Metrum

Nec tantum profugas pietas tua reddidit artus reddidit et uictum pensa trahente manu.

317

Und nicht nur gab deine pietas die entflohenen Glieder zurück, auch gab sie den Lebensunterhalt zurück, indem die Hand die Wolle spann.119

In Variation zu den vorangegangenen Wundergeschichten erhält das Wunder hier den Charakter einer Metamorphose. Ein Distichon gnomischen Charakters bildet dabei die Gelenkstelle 120 und unterstreicht nicht nur das Mirakluöse durch die Verwendung des Begriffes inopinatus / unverhofft, sondern gibt durch die Termini uotum / Gelübde, Wunsch und gratia / Gnade eine theologische Deutung des Geschehens: Der fromme Wunsch / uotum wird durch Gottes Gnade / gratia erfüllt, die unverhofft / inopinatum eintritt und gerade dann, wenn schon alle Hoffnung aufgegeben worden ist121 bzw. desperata salus / als man schon am Heil zweifelte.122 Den vier Distichen, in denen die Ausgangssituation geschildert wird,123 korrespondieren vier Distichen, welche die Verwandlung schildern.124 Dabei malt Venantius Fortunatus durch eine spezifische Diktion bereits in den einleitenden Distichen ein Bild von Alter, Krankheit und Tod. 125 Der diesem Wortfeld entgegenstehende Begriff nasci / geboren werden, entstehen ist durch die Junktur mit periculum / Gefahr126 zunächst noch negativ konnotiert. Durch die Verwendung von Paradoxien wird das Umschlagen ins Positive vorbereitet und das Mirakulöse unterstrichen: Die Hand ist zwar mit ihr geboren, aber durch ihre Lähmung gleichsam nicht ihre eigene, sondern ein fremdes Anhängsel.127 Die Wiederbelebung geschieht nach langer Zeit, als jegliche Hoffnung schon verloren ist, ausgerechnet vor einem Grab.128 Der Starrheit ist die Zirkulation des Blutes entgegengesetzt, und Venantius Fortunatus nutzt diese Antithese als zentrales Element zur Schilderung des Wunders. Dabei geht er deutlich über ovidianische Vorbilder hinaus:129 In zwei Distichen malt

119 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129

Venantius Fortunatus, Carm., II, 16, 105–122, lateinischer Text nach REYDELLET, I, 77f. Vers 113f. Vers 111: cum iam spes fracta iaceret / als die Hoffnung schon gebrochen am Boden lag. Vers 114. Vers 105–112. Vers 115–122. Vers 105–108. Vers 105. Vers 109f. Vers 111f. Die Zirkulation des Blutes bzw. das dadurch verursachte Pulsieren der Venen spielt bei Ovid in den Metamorphosen eine wichtige Rolle: Bei der Metamorphose der Statue, die unter Händen und Küssen Pygmalions zum Leben erwacht, wird nicht nur der Marmor weich wie Wachs (X, 283–286), sondern unter seiner Berührung pulsieren auch die Venen / saliunt temptatae pollice venae (289). In genauer Umkehrung ist bei der Versteinerung der Niobe davon die Rede, dass die Venen aufhörten pulsieren zu können / et venae desistunt posse moveri (VI, 307, lateinischer Text nach der Ausgabe von ANDERSON, Stuttgart 1993). Bei Venantius Fortunatus finden sich ohnehin zahlreiche wörtliche Anklänge an Ovid, siehe dazu: S. BLOMGREN, De locis Ovidii a Venantio Fortunato expressis, Eranos 79 (1981), 82–85.

318

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

er die Vivifikation der Venen aus.130 Die Flüssigkeit des Blutes wird als mobilis / beweglich bezeichnet und befindet sich daher in Antithese zu den erstarrten Fingern / digitis torpentibus.131 Zugleich hat das Blut uigor / Lebensstärke, die sich in den Fingern verteilt / dispensatus und fließt / fluxit.132 Und diese Lebensstärke im Blut dehnt die trockenen Muskeln und lässt die jetzt pulsierende Vene / uena soluta ihren angestammten Platz erkennen / agnouit ... suum locum.133 Anstelle der Lichtmetaphorik, wie sie sich in der Blindenheilung am Anfang der Wundergeschichten fand,134 und ihrer Symbolik als Zeichen des Lebens wird hier die Flüssigkeit des Blutes zum Lebenssymbol. Und wie dem Blinden durch seine Heilung ein neues Leben geschenkt wird, so wird derselbe Gedanke hier ganz praktisch ausgeführt, denn die wieder belebte Rechte kann der Frau künftig wiederum ihren Lebensunterhalt sichern, was von Venantius Fortunatus wiederum durch ein Paradoxon exponiert wird.135 Dienst / ministerium und seruitium / Knechtschaft führen – ganz im Sinne einer interpretatio christiana – zur wahren Freiheit und durch die Befreiung der Rechten / libera dextra 136 zum Lebensunterhalt / uictus. 137 Auch dies wird im christlichen Sinne durch die pietas / Frömmigkeit der alten Frau bewirkt.138 Damit schließt sich diese Wundergeschichte aber nicht nur an neutestamentarische Vorbilder an,139 sie ist auch mit den vorangegangen Wundergeschichten durch die Lebensthematik verbunden: Durch die Heilung am Grab des Medardus erhalten die Kranken ein neues Leben. Dass die Lebensthematik bzw. das Motiv des neuen Lebens ein zentrales Element bei den Wundergeschichten darstellt, verdeutlicht ein Blick auf die beiden folgenden Wundergeschichten, die mit der Heilung der alten Frau im Zusammenhang betrachtet werden müssen. Anders als in der vorangegangenen Wundergeschichte handelt es sich hier aber bei den Gelähmten aber um junge Mädchen: Eripuisti aliam simili de peste puellam membraque restituens plus animae tribuis.

Ein anderes Mädchen hast du einer ähnlichen Krankheit entrissen, indem du ihre Glieder wiederherstelltest, gibst du mehr ihrer Seele. Desponsata uiro mortali lege iacebat, 125 Verlobt mit einem Manne, lag sie nach dem nunc thalamis Christi uirgo dicata micat. Gesetz des Todes danieder, 125 nun erstrahlt sie, dem Brautgemach Christi geweiht.

130 131 132 133 134 135 136 137 138 139

Venantius Fortunatus, Carm., II, 16, 115–118 Vers 115. Vers 116. Vers 118. Vers 67–76, vgl. die entsprechenden Ausführungen weiter oben in diesem Kapitel. Vers 119f. Vers 120. Vers 122. Vers 121f. Vgl. Mt 9, 1–8; Mc 2, 1–12; Lc 5, 17–26 & Io 5, 1–18.

3.2.4. Viten im Metrum

319

Sponsa quidem radiat cum uirginitate modesta, Als Verlobte erglänzt sie durch züchtige Jungspe meliore fruens, nupta tenenda polis. fräulichkeit, und hat eine bessere Hoffnung, als Braut muss sie den Himmel bewohnen. Nec fructus uteri sterilis deperdit honesti, Nicht verlor sie, unfruchtbar, die Frucht eines flore pudicitiae mater habenda placet. 130 ehrbaren Leibes, Durch die Blüte der Keuschheit gefiel es ihr, als Mutter angesehen zu werden. 130 Adquirit cunctos natum quae non habet unum Alle gewann zu Kindern, welche selbst kein progeniemque sibi gignit amore Dei. einziges hatte, und sie gebar sich Nachwuchs durch die Liebe zu Gott.140

Die dritte Wundergeschichte behandelt die Heilung eines Mädchens, das schon von Geburt an gelähmt ist: Inde pari morbo deflenda infantia paruae in lucem ueniens membra necata trahit.

Da zog, durch die gleiche Krankheit beweinenswert, ein kleines Mädchen, als sie das Licht erblickte, tot ihre Glieder nach. Mors et origo simul misero processit ab aluo, Tod und Geburt kamen zugleich aus dem un135 glücklichen Mutterschoß, 135 extinctam generans mater anhela manum und keuchend gebar die Mutter eine tote Hand. Commendata tuo rediit medicata sepulchro, Deinem Grab anvertraut, kehrte es geheilt quod de matre perit, de tumulo recipit. zurück, und was es von der Mutter verlor, erhielt es von Deinem Grab.141

Vergleicht man die drei Wundergeschichten mit dem Thema der Lähmung, so fällt auf, das sie in absteigender Reihenfolge nach dem Alter der Kranken geordnet sind: eine alte Frau, ein Mädchen im heiratsfähigen Alter, ein neugeborenes Mädchen. Ebenso sind sie in absteigender Länge angeordnet, die letzten beiden Wundergeschichten sind zusammen nur annähernd so lange wie die erste. Die thematische Anbindung geschieht dabei jeweils im ersten Distichon mit Begriffen wie similis pestis / ähnliche Krankheit142 bzw. par morbus / gleiche Krankheit. 143 Dennoch zeigt sich, dass Venantius Fortunatus vom Aufbau her nach dem Variationsprinzip arbeitet: War die erste dieser drei Heilungen nach dem Prinzip der Metamorphose deutlich zweiteilig gestaltet, wobei jeweils am Ende der einzelnen Teile Platz für gnomische Bemerkungen gegeben war, überwiegt im zweiten Beispiel der gnomi140 141 142 143

Venantius Fortunatus, Carm., II, 16, 123–132, lateinischer Text nach REYDELLET, I, 78. Venantius Fortunatus, Carm., II, 16, 133–138, lateinischer Text nach REYDELLET, I, 78f. Vers 123. Vers 133.

320

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

sche Teil, während die Schilderung des Wunders bereits im ersten Distichon abgeschlossen ist.144 Und sogar hier endet der Pentameter gnomisch. Das Spiel mit Paradoxien, zuvor gebraucht, um den Unterschied zwischen der Situation vor und nach der Heilung besonders zu exponieren, bezieht sich hier ganz auf des Mädchens Entscheidung, nach der Heilung dem weltlichen Leben zu entsagen und ins Kloster zu gehen.145 Auf einer übergeordneten Sinnebene erscheint die Verlobung mit einem sterblichen Mann146 geradezu als Ursache des Todes, während die Verlobung mit Christus,147 also die Entscheidung für das Klosterleben, mit ewigem Leben gleichgesetzt wird, ein Gedanke, der gerade im nächsten Distichon deutlich ausgeführt wird.148 Dabei wird das Jungfräulichkeitsideal im Sinne einer uita sacra, die klösterlichen Regeln folgt, propagiert, wo die Jungfrau paradoxer Weise zur Mutter wird, und einen größeren (geistigen) Nachwuchs hat, als eine weltliche Mutter leiblichen. 149 Es handelt sich dabei um dasselbe Ideal, das Venantius Fortunatus im Zusammenhang mit der Einführung der Agnes als Äbtissin im Radegundis Kloster propagiert und das dort im Zusammenhang mit dem Selbstverständnis der klösterlichen Gemeinschaft zu sehen ist.150 Die von Venantius Fortunatus so häufig eingesetzten Paradoxien dienen hier also dazu, ein bestimmtes Lebensideal zu exponieren, das dadurch, dass es infolge einer Wunderheilung gewählt wurde, eine zusätzliche Legitimation erfährt. Das Prinzip der Variation liegt auch der dritten Heilung einer Gelähmten zugrunde. Die Paradoxien heben hier die Antithese zwischen Geburt / origo und Tod / mors151 in besonderer Weise hervor. Aus diesem Grund ist bereits das Kleinkindalter / infantia beweinenswert / deflenda, da bei der Geburt tote Glieder / membra necata das Licht der Welt erblicken.152 Erst im zweiten Distichon wird klar, dass das Mädchen nicht völlig gelähmt ist, sondern nur an einer Hand, wobei das Keuchen der Mutter bei der Geburt der toten Hand der Tochter als Paradoxon gegenübergestellt wird.153 Die Lichtmetaphorik für die Geburt154 wie das antithetische Paradoxon von Geburt / origo und Tod / mors155 erfahren ihre Klimax durch das abschließende 144 Vers 123f. 145 Vers 125f. 146 Der Begriff mortalis / sterblich steht hier als Apokoinou und bezieht sich sowohl auf den uir / Mann als auch auf lex / das Gesetz (der Sterblichkeit). 147 Allgemein zum Brautmotiv und seiner Verwendung in christlichem Zusammenhang vgl. E. HAAG, Hoheslied, in: LThK 31993–2001, Bd. 5 (1996), Sp. 224–226; E. OTTO, Hohes Lied, in: RGG 4 1998ff., Bd. 3 (2000), 1840 sowie J. SCHMID, Brautschaft, heilige, in RAC, Bd. 2 (1954), 528–564, insbesondere 558ff. 148 Vers 127f. 149 Vers 129–131 150 Siehe Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 3 (De virginitate). Vgl. dazu B. BRENNAN, Deathless marriage and spiritual fecundity in Venantius Fortunatus’ De virginitate, Traditio 51 (1996), 73–97. 151 Venantius Fortunatus, Carm., II, 16, 135. 152 Vers 133f. 153 Vers 135f. 154 Vgl. Vers 135 in lucem ueniens / als sie das Licht erblickte. 155 Vers 135.

3.2.4. Viten im Metrum

321

Distichon in einer Gnome,156 die als Motto über allen drei Wundergeschichten stehen könnte: Der alten Frau ist durch die Heilung der Hand die Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, zurückgegeben worden, 157 für die Neugeborene gilt wohl ganz dasselbe, auch wenn es erst im Erwachsenenalter eine Rolle spielen wird, während in der zweiten Wundergeschichte der geheilten Braut durch das klösterliche der Weg zum ewigen Leben eröffnet wird. Das Leben ist hier also als Zentralmotiv zu verstehen. Und als Zentralmotiv steht das Leben auch in der nächsten Wundergeschichte: Dum iacet alter inops, uisu caligine clauso, caecus nec misero lumine lumen erat. 140

Da lag ein anderer Armer danieder, nachdem sein Blick von Finsternis umschlossen war, war er blind und der Unglückliche hatte kein Licht im Augenlicht. 140 Longa nocte oculos quarto iam mense premebat In langer Nacht verschloss er seine Augen schon in lucem obscurus, uiuus imago necis. im vierten Monat, ohne Licht im Licht, lebend ein Abbild des Todes. Vocibus hunc medicis monuisti tempore somni Mit heilsamen Worten ermahntest du diesen in tenderet ut uelox ad tua templa gradum. der Zeit des Schlafs dass er rasch seine Schritte zu deinem Tempel lenke. Mox ueniente die sed non sibi fortice pressa Bald kam der Tag, aber nicht für ihn, und mit der 145 Schere geschoren, 145 enituit Christi uertice tonsus ouis. glänzte er am Schädel, wie ein Schaf Christi. Detrahit hic crines nitidos ut haberet ocellos Dieser nahm sich das Haar, um glänzende et mercante coma munera lucis emat. Augen zu haben, und als er es verkaufte, erwarb er das Geschenk des Lichts. Qui titubante gradu tractus peruenit ad aulam. Und dieser gelangte mit schwankendem Schritt Per biduum recubans ante sepulchra fuit. dahin gezogen in die Kirche. 150 Er legte sich nieder und war zwei Tage lang vor deinem Grab. 150 Tertia lux rediens nocturnas soluerat umbras Am dritten Tag kehrte das Licht zurück und hatte et caeco occurrit sic reuocata dies. die nächtlichen Schatten aufgelöst. und so kehrte dem Blinden erneuert der Tag zurück. Vndique limatae cecidere a fronte tenebrae. Allenthalben fiel das schlammige Dunkel von Sanguinis unda rigat, luminis atra lauat. seinem Gesicht. Das Wasser des Blutes benetzte es, wusch die Schwärze vom Auge.

156 Vers 137f. 157 Siehe Vers 121f.

322

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

Sicca lucerna nouo flagrante refulsit oliuo 155 obtinuitque suum lux peregrina locum.

Die trockene Lampe leuchtete wieder durch neues flackerndes Öl, 155 und das inzwischen fremde Licht nahm seinen angestammten Platz ein.158

Im Zentrum dieser Wundergeschichte steht hier das Licht, sein Bedeutungsspektrum und seine Metaphorik.159 Dabei wird gleich im ersten Distichon mit der doppelten Bedeutung des Begriffs lumen / Licht und Augenlicht gespielt. 160 Thematisch schließt sich ein Ring zur ersten Wundergeschichte, die sich nach dem Tode des Medardus ereignete,161 ebenso zu den Blindenheilungen, die er zu Lebzeiten sehr häufig vollbracht haben soll, ohne dass davon eine näher ausgeführt worden wäre, und die dort durch ihre Anfangsstellung innerhalb der Wunderschilderungen besonders exponiert sind.162 Auf der stofflichen Ebene haben diese Blindenheilungen also offenbar leitmotivischen Charakter, darüber hinaus eröffnet das Spiel mit der Lichtmetaphorik eine weitere Bedeutungsebene im Sinne einer interpretatio christiana. Das zweite Distichon sagt damit nicht nur in einer paradoxen Formulierung aus, dass das Augenleiden den Kranken schon seit vier Monaten bedrängt, sondern weist durch die Vierzahl der Monate auch auf die vier Jahrtausende, die nach biblischer Zeitrechnung bis zur Ankunft Christi vergangen sind und in der sich die

158 Venantius Fortunatus, Carm., II, 16, 139–156, lateinischer Text nach REYDELLET, I, 79. 159 Zur Lichtsymbolik seit der Antike vgl. W. BEIERWALTES, Lux intelligibilis: Untersuchungen zur Lichtmetaphysik der Griechen, München, Diss. phil. 1957; D. BREMER, Licht und Dunkel in der frühgriechischen Dichtung. Interpretationen zur Vorgeschichte der Lichtmetaphysik, Bonn 1976; C. COLPE, Von der Lichtdeutung im Alten Orient zur Lichtontologie im mittelalterlichen Europa, in: Agathe elpis. Studi storico-religiosi in onore di Ugo Bianchi, a cura di G. SFAMENI GASPARRO, Rom 1994: »L’ Erma« di Bretschneider. (Storia dell religioni. 11), 79–102; H. FAHRENHOLZ, Farbe, Licht und Dunkelheit im älteren griechischen Epos, Hamburg, Diss. phil. 1959; F. HEINEMANN, Die Spiegeltheorie der Materie als Korrelat der Logos-Licht-Theorie bei Plotin, Philologus 81 (1926), 1–17; J. G. KALOGERAKOS, Die Vorstellung vom Licht und Dunkel bei einigen frühgriechischen Denkern. Ansätze der Lichtmetaphysik?, Prometheus 22 (1996), 211–230; J. KOCH, Über die Lichtsymbolik, Studium Generale 13 (1960), 653–670; M. J. LOSSAU, Retter-Licht (phoos, phaos) bei Homer und den Tragikern. Eranos 92 (1994), 85–92; W. LUTHER, Wahrheit, Licht und Erkenntnis in der griechischen Philosophie bis Demokrit, Bonn 1966; H. H. MALMEDE, Die Lichtsymbolik im Neuen Testament, Bonn, Diss. phil. 1960; A. MEREDITH, Licht und Finsternis bei Origenes und Gregor von Nyssa, in: Platon in der abendländischen Geistesgeschichte. Neue Forschungen zum Platonismus, hrsg. v. T. KOBUSCH & B. MOJSISCH, Darmstadt 1997, 48–59; G. SANDERS, Licht en duisternis in de christelijke grafschriften. Bijdrage tot de studie der Latijnse metrische epigrafie van de vroegchristelijke tijd. Vol. 1: Aards leven en licht. Duisternis voor en na de dood. Vol. 2: Licht na de dood (1965); O. SCHWANKL, Licht und Finsternis. Ein metaphorisches Paradigma in den johanneischen Schriften, zgl.: Würzburg, Univ., Habil.-Schr., 1994, Freiburg u. a. 1995 (Herders biblische Studien; 5); H. THYEN, Ich bin das Licht der Welt. Das Ich- und Ich-Bin-Sagen Jesu im Johannesevangelium, JbAC 35 (1992), 19–46; H. WESTHOFF, Die Lichtvorstellung in der Philosophie der Vorsokratiker, Erlangen, Diss. phil. 1947. 160 Venantius Fortunatus, Carm., II, 16, 139f. 161 Siehe Vers 67–76. 162 Siehe Vers 29f., vgl. auch die entsprechenden Ausführungen weiter oben in diesem Kapitel.

3.2.4. Viten im Metrum

323

Menschheit in langer Nacht und Tod befunden hat.163 Die Heilsbotschaft wird dem Blinden im Traum zuteil, ein in paganer wie christlicher Literatur verbreitetes Motiv, das aus der antiken Medizin erwachsen ist.164 Anders aber als in den Träumen, die dem Kranken in antiker Tradition innerhalb des Heiligtums zuteil werden, fordert dieser Traum erst dazu auf, das Heiligtum zu besuchen: Vocibus hunc medicis monuisti tempore somni tenderet ut uelox ad tua templa gradum.

Mit heilsamen Worten ermahntest du diesen in der Zeit des Schlafs dass er rasch seine Schritte zu deinem Tempel lenke.165

So kann er auf einer übergeordneten Sinnebene auch als Aufforderung verstanden werden, sein Leben zu ändern. Und genau das geschieht, in dem sich der Kranke, das Haar schert.166 Die Begriffe uertice tonsus / am Schädel geschoren und ouis / Schaf sind Zeichen für eine monastische Lebensweise, d.h. dass die conuersio zur vita sacra im Kloster gemeint ist, der Kranke also für den Fall seiner Heilung den Eintritt in ein Kloster gelobt hat. Darin besteht der Handel, von dem im nächsten Distichon die Rede ist.167 Aber nicht nur im Element der conuersio ist die interpretatio christiana greifbar, sondern auch in der eigentlichen Heilung, die der Auferstehung Christi nachempfunden ist.168 Wie Jesus zwei Tage im Grab liegt und am dritten Tag 163 Vers 141f. 164 Zu Träumen und ihrer Bedeutung in Antike und Christentum vgl. A. B. BÜCHSENSCHÜTZ, Traum und Traumdeutung im Alterthume, Wiesbaden 1967; D. DEL CORNO, Dreams and their Interpretation in ancient Greece, BICS 29 (1982), 55–62; H. ENDERS, Schlaf und Traum bei Aristoteles, Würzburg, Diss. phil. 1924; M. FRENSCHKOWSKI, Traum und Traumdeutung im Matthäusevangelium. Einige Beobachtungen, Jahrbuch für Antike & Christentum 41 (1998), 5–47; J. S. HANSON, Dreams and Visions in the Graeco-Roman World and Early Christianity, ANRW II, 2, 1980, 1395–1427. Religion (Vorkonstantinisches Christentum: Verhältnis zu römischem Staat und heidnischer Religion [Forts.]); L. HERMES, Traum und Traumdeutung in der Antike, Zürich u. a. 1996; H. J. KAMPHAUSEN, Traum und Vision in der lateinischen Poesie der Karolingerzeit, Köln, Diss. phil. 1974; A. KRUG, Heilkunst und Heilkult. Medizin in der Antike, München 2 1993; J. LATACZ, Funktionen des Traums in der antiken Literatur, WJA N. F. 10 (1984), 23–39; ST. NIESSEN, Traum und Realität. Ihre neuzeitliche Trennung. Darmstadt, Techn. Hochschule, Diss., 1989; ST. M. OBERHELMAN, Galen, On Diagnosis from Dreams, JHM 38 (1983), 36–47, ST. M. OBERHELMAN, The Diagnostic Dream in Ancient Medical Theory and Practice, BHM 61 (1987), 47–60; S. PRICE, The future of dreams: from Freud to Artemidoros, in: Before sexuality. The construction of erotic experience in the ancient Greek world, ed. by D. M. HALPERIN, J. J.WINKLER, & F. I. ZEITLIN, Princeton, N J 1990, 365–387; R. STUHRMANN, Der Traum in der altindischen Literatur im Vergleich mit altiranischen hethitischen und griechischen Vorstellungen, Tübingen, Univ., Fak. für Kulturwiss., Diss. 1982. Vgl. zum Komplex der Wunderheilungen jetzt auch M. VIELBERG, Der Mönchsbischof von Tours im ‚Martinellus’, 140–154. 165 Venantius Fortunatus, Carm., II, 16, 143f. 166 Vers 145f. 167 Vers 147f. Vgl. dazu auch REYDELLET, I, 79, Anm. 132, wo auf den Zeichencharakter der Tonsur zum Zeugnis der Heilung hingewiesen wird. 168 Vers 149–151.

324

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

aufersteht,169 so liegt der Blinde zwei Tage vor dem Grab des Medardus, bis am dritten Tag seine Sehkraft zurückkehrt. Wird die Heilung somit als Auferstehung zu einem neuen Leben interpretiert, erübrigt sich eine abschließende Gnome und die Wundergeschichte endet im Gegensatz zu den vorangegangenen Beispielen mit der Schilderung des Wunders. Dabei spielen auf der begrifflichen Ebene die Antithesen von Licht / lux und Schatten / umbra bzw. von Tag / dies und Nacht / nox (hier im Wort nocturnus) eine wesentliche Rolle, um auf einer übergeordneten Sinnebene den Gegensatz zwischen Tod und Leben zu verdeutlichen. Exponiert wird dies zusätzlich durch das Bild vom Wasser des Blutes (und damit des Lebens) und das ungewöhnliche Paradoxon vom Dunkel des Augenlichts, das vom Blut gewaschen wird.170 Der an sich medizinische Vorgang, dass die Durchblutung des Auges wieder einsetzt und dadurch die Sehkraft wiederhergestellt wird, erhält durch die Verbindung mit unda / Wasser, rigare / benetzen und lauare / waschen auf einer übergeordneten Sinnebene einen Bezug zur Taufe, durch den Begriff sanguis / Blut einen zum Erlösungswerk Christi. Das abschließende Distichon verbleibt in der Lichtmetaphorik und verbindet es mit der Metapher der Lampe, wohl eine Anspielung auf das Gleichnis von den zehn Jungfrauen.171 Deutet man es in diesem Sinne, liegt hier wiederum ein Hinweis auf die klösterliche Lebensweise vor, zu der sich der Kranke im Falle seiner Heilung entschieden hat: Wie im Gleichnis nur die Laternen der klugen Jungfrauen, die Öl mitgenommen haben, brennen, so brennt das Augenlicht des Kranken nach seiner conuersio mit neuem Öl. Die conuersio stellt zudem eine Parallele zur Wundergeschichte der Heilung eines gelähmten Mädchens dar,172 die durch ihre Mittelstellung innerhalb der Heilungen von Gelähmten ebenso exponiert war, wie diese Blindenheilung durch Endstellung innerhalb der Wundergeschichten exponiert ist. precatio Damit ist die eigentliche Schilderung der Wundergeschichten abgeschlossen. In Form einer Praeteritio wird zum Schlussteil, der precatio, übergeleitet: Quid referam mutis qui uerbo uerba dedisti? Was soll ich von den Stummen berichten, denen Quod grauat eiciens, quod iuuat omne locas. du durch das Wort Worte gegeben hast? Der du vertreibst, was bedrückt, und, was Freude macht, bringst allenthalben. Cuncta nec enumero, tua me praeconia uincunt. Nicht aber zähle ich alles auf, dich zu verherrEtsi non potui, uelle fuisse uide. 160 lichen geht über meine Kräfte. Wenn ich es auch nicht vermochte, sieh’, dass ich es wenigstens wollte. 160

169 170 171 172

Vgl. Mt 27, 62–28, 8; Mc 16, 1–8, Lc 24, 1–12; Io 20, 1–13. Venantius Fortunatus, Carm., II, 16, 153f. Mt 25, 1–13. Venantius Fortunatus, Carm., II, 16, 155f. Vers 123–132.

3.2.4. Viten im Metrum

En tua templa colit nimio Sigiberthus amore, insistens operi promptus amore tui.

Culmina custodi qui templum in culmine duxit. protege pro meritis qui tibi tecta dedit.

Haec, pie, pauca ferens ego Fortunatus amore auxilium posco, da mihi uota, precor.

325

Deine Kirche ehrte Sigibert mit übergroßer Liebe, Bei deinem Werk war er eifrig und entschlossen aus Liebe zu dir. Bewahre den Fürst, der deine Kirche in einem First in die Höhe steigen ließ, Schütze nach seinem Verdienst den, der dir das Dach gegeben hat. Darum, Heiliger, bringe ich Fortunatus aus Liebe weniges dar 165 und erbitte deine Hilfe, erhöre mein Gebet, darum bitte ich.173

War die Reihung der Wundergeschichten mit einer pauschalen Formulierung über die Heilung von Blinden eröffnet worden, 174 endet sie hier mit einer pauschalen Formulierung über die Heilung von Stummen. 175 Bezog sich die leitmotivische Blindenheilung mit ihrer Lichtmetaphorik auf einer übergeordneten Sinnebene sowohl auf das Erlangen von Erkenntnis als auch in einer interpretatio christiana auf ein neues Leben, das der Geheilte nun erlangt, und bildete dieses neue Leben das zweite Leitmotiv der Wundergeschichten, so wird hier mit der Heilung von Stummen und dem Geben von Worten über die eigentliche Heilung hinaus auf den Autor selbst zurückverwiesen. Medardus schenkt Stummen nämlich Worte, Fortunatus reichen seine eigenen aber nicht aus, um alles, was Medardus vollbracht hat, gebührend zu schildern.176 Durch den Einsatz dieses Topos impliziert Venantius Fortunatus die Vorstellung, dass die Wunder, die Medardus vollbracht hat, bzw. die Wunder, die sich an seinem Grab zugetragen haben, über das, was ausgedrückt werden kann, weit hinausgehen. Zugleich wird mit dem Rekurs auf die Stummen eine Analogie zur angedeuteten Sprachlosigkeit des Dichters hergestellt. Auch wenn dies hier nicht explizit gesagt wird, ist es eigentlich allein der Heilige, der es vermag, diese Sprachlosigkeit aufzuheben, ein Motiv, das Venantius Fortunatus auch im Prolog seines Martinsepos an Agnes und Radegunde verwendet, wo beide die Stelle von Musen vertreten und Martin darum bitten sollen, dass er dem Dichter die nötigen Worte schenke.177 Der Begriff praeconium / Amt des Praeco, Ausruferamt178 gibt 173 174 175 176 177

Venantius Fortunatus, Carm., II, 16, 157–166, lateinischer Text nach REYDELLET, I, 80. Vers 27f. Vers 157f. Vers 159f. Siehe Venantius Fortunatus, Prologus ad Agnem et Radegundem de Vita sancti Martini, 27–42, lateinischer Text nach QUESNEL, 5: Sic ego de modicis minimus, uenerabilis Agnes, cum Radegunde sacra quas colo sorte pia. / tendere pollicitum quia cogor ad ardua gressum, / imperiis tantis, uiribus impar, agor. / (30) Fluctuat ingenium cui non natat unda Camenae, / sensus harenosus non rigat ore lacus. / Nam celsum meritis Martinum ad sidera notum, / cum sint uota mihi, non ualet arca loqui. / Poscendum est uobis, ne naufraga prora laboret, / (35) flatibus ille suis ut mea uela iuuet. / Credere tunc potero ad portum mea carbasa ferri, / adspirante fide, si sua flabra fauent. / Ferte precanter opem et de Verbo poscite uerba: / si fons ille rigat, riuulus iste meat. / (40) Vos date quod uobis cum fenore reddat alumnus, /

326

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

dem Gedicht enkomiastische Züge. Die Erwähnung des Sigibert, der für die Errichtung oder den Ausbau der Kirche verantwortlich zeichnet, verbindet sich mit der Selbstnennung des Fortunatus und entspricht der Nennung von Stifter / Auftraggeber und Verfasser des Gedichtes, wie er sich häufig auch in Epigrammen findet, die mit der abschließenden Bitte eine typische precatio bildet.179 c) Zusammenfassung Die Analyse und Interpretation von Carmen II, 16 hat gezeigt, dass Venantius Fortunatus in der Makrostruktur zwei Kompositionsschemata, die jeweils in verschiedenen literarischen Genera ihren Ursprung haben, kunstvoll verwoben hat. Er bedient sich einerseits des Hymnenschemas,180 das hier nicht auf die Dreieinigkeit und auch nicht, wie im Peristephanon des Prudentius auf Märtyrer Anwendung findet, sondern auf einen verstorbenen Bischof, dessen Heiligkeit illustriert und außer Frage gestellt wird. In Anbetracht der Tatsache, dass Medardus, Bischof von Noyon, erst um 560 gestorben, Clothar I. ihn in Soisson bestatten ließ und dessen Sohn Sigibert I. (gest. 575) für die Errichtung einer Basilika über dem Grab des Medardus verantwortlich zeichnete,181 kann Medardus (anders als z. B. Martin von Tours) zur Zeit der Abfassung des Gedichtes noch nicht als etablierter Heiliger angesehen werden. Wenn das Gedicht zur Einweihung der Basilika verfasst wurde, so bestand ein Zweck sicher auch darin, die Heiligkeit des Medardus für alle Zeiten zu legitimieren. Venantius Fortunatus löst diese Aufgabe in der Makrostruktur durch die Transgression von Gattungsgrenzen, in der Binnenstruktur durch die Parallelisierung mit Christus. Anders als im Marienhymnus, der ebenfalls im elegischen Distichon abgefasst ist und der dem Lob der Gottesmutter dient,182 verfüllt er hier

178 179

180 181 182

addam ut thesauris parua talenta suis. / So werde ich, der geringste von den Unbedeutenden, verehrungswürdige Agnes, / und heilige Radegunde, die ich in frommer Liebe verehre, / weil ich gezwungen werde, wie versprochen, den Schritt in schwieriges Gelände zu lenken, / hin und her gerissen durch einen so gewaltigen Auftrag, dem an Kräften / nicht gewachsen bin / (30) Umher treibt nämlich mein Ingenium, das nicht die Woge der Muse bespült, / und im Mund bewässert der versandete See nicht meine Sinne. / Denn über den durch seine Verdienste bis zu den Sternen bekannten Martin zu sprechen, / vermag, obwohl es mein Wunsch ist, das Schatzkästlein (meiner Fähigkeiten) nicht. / Damit es keinen Schiffbruch erleidet, muss von Euch erbeten werden, / (35) das jener mit seinem Wind meine Segel bläht. / Dann werde ich glauben können, dass meine Segel zum Hafen eilen, / während der Glaube mir hilft, wenn seine Winde günstig sind. / Bringt im Gebet Hilfe und erbittet Worte vom (lebendigen) Wort: / Wenn jene Quelle es bewässert, wird mein Bächlein fließen. / (40) Gebt, was Euch der gütige Gott mit Zinsen zurückgeben möge, / dass ich seinen Schätzen mickrige Talente hinzufüge. Vgl. auch die entsprechenden Ausführungen in Kapitel 3. 2. 1. dieser Arbeit. Venantius Fortunatus, Carm., II, 16, 159. Vers 161–166: Auch der abschließende Teil eines paganen Götterhymnus bestand in der Regel in einem Gebet bzw. einer precatio an die Gottheit, vgl. dazu BERGER, Hellenistische Gattungen im Neuen Testament, 1169–1171. Vgl. dazu auch KIRSCH, Laudes sanctorum, 364. Siehe dazu REYDELLET I, 192, Anm. 108. In seiner Echtheit erwiesen und ausführlich kommentiert von S. BLOMGREM, Studia Fortunatiana II, Upsala 1933.

3.2.4. Viten im Metrum

327

die klassischen Stellen für narrative und aretalogische Partien mit einem Konzeptionsschema, das er auch für seine Prosaviten, genauer seine Bischofsviten, verwendet, eine episodische Darstellung, getrennt nach Ereignissen und Wundern zu Lebzeiten und nach dem Tode des Heiligen. Wie in den Prosaviten auf diese Weise in der Regel die Heiligkeit des Bischofs erst erwiesen werden soll, so ermöglicht die Verwendung dieses Schemas Venantius Fortunatus auch im Falle des Medardus das Erweisen der Heiligkeit: Die Wunder am Grabe des Heiligen folgen neutestamentarischen Typen; auch wenn sich der Dichter nicht explizit dazu äußert, lässt die Siebenzahl eine symbolische Komponente vermuten, entweder im Rekurs auf die sieben Tage der Schöpfung oder als Zahl der Fülle, die andeuten soll, dass hier aus unzähligen Wundern sieben exponiert worden sind. Seine „Modernität“ zeigt sich eben im Aufbrechen und der Kombination von Gattungsschemata im Hinblick auf ein spezifisches Ziel; fast modern im Sinne von Gender-Erwägungen ist auch die Verteilung der Wunder auf die Geschlechter. Die ersten sechs Wunder geschehen je drei Männern und je drei Frauen. Lediglich durch das letzte Wunder erhalten die Männer ein Übergewicht. Das Motiv des Lebens wird dort in der Lichtmetaphorik (Heilung eines Blinden) gleichsam als Höhepunkt herausgestellt, nach dem es in den Wunderheilungen der drei Frauen und Mädchen zuvor bereits zentral exponiert worden war.

3.2.5. „Echte“ Gelegenheitsgedichte (Carmen VIII, 19–21; 9 & 10) Allgemeine Vorbemerkungen Im dichterischen Oeuvre des Venantius Fortunatus finden sich zahlreiche zum Teil kurze Gedichte, die auf einen unmittelbaren Anlass privater oder nur halboffizieller Natur reagieren und die hier daher unter dem Begriff „echte“ Gelegenheitsgedichte subsumiert werden sollen. Vor allem die insgesamt 54 erhaltenen Billets an Radegunde und Agnes,1 die in den späteren Büchern (Buch VIII, IX, und XI) überliefert sind, sind in unmittelbarer Verbindung mit einem derartigen Anlass entstanden. Auch eine Reihe von Gedichten an Gregor von Tours lässt sich in diese Kategorie einordnen. Gerade bei diesen Carmina kann man einen bemerkenswerten Unterschied in Stilhöhe und Ton zwischen den „offiziellen“ Gedichten, die der Repräsentation Gregors in der Öffentlichkeit dienen sollen, konstatieren und solchen, die nur halboffiziellen oder privaten Charakter haben. Dennoch ergeben sich auch hier interessante Beobachtungen zum Spiel mit der Gattung und der literarischen Tradition. Da diese Carmina immer einen speziellen Adressaten zu einem bestimmten Anlass aufweisen, stehen sie sich von vorne herein in einer gewissen Nähe zum poetischen Brief, dessen Tradition von Horaz über Ovid bis in die Spätantike bei Ausonius und Paulinus von Nola nachweisbar ist, dann aber scheinbar abbricht.2 Bei der Analyse der ausgewählten exempla wird also auch der Frage nachzugehen sein, ob und inwiefern über diese Nähe hinaus, die „echten Gelegenheitsgedichte“ auch unter der Gattung „poetischer Brief“ subsumiert werden können. Aus der Fülle dieser Gedichte seien hier nur einige als Exempel ausgewählt, alle aus dem achten Buch der Carmina des Venantius Fortunatus, drei an Gregor von Tours3 und zwei an Radegunde.4 Die Carmina an Gregor von Tours sollen hier, obwohl sie nach der Anordnung innerhalb des Buches (erst Gedichte an Agnes und Radegunde, dann einige an Gregor von Tours) an zweiter Stelle stehen müssten, zunächst analysiert werden, da sie hinsichtlich Komposition und Gestaltung als die konventionelleren anzusehen sind, andererseits aber exponiert ans Ende des Buches gesetzt sind. 1

2

3 4

Unter dem Aspekt der amicitia werden diese Gedichte behandelt von V. EPP, Männerfreundschaft und Frauendienst bei Venantius Fortunatus, in: T. KORNBICHLER & W. MAAZ (Hrsg.), Variationen der Liebe. Historische Psychologie der Geschlechterbeziehung, Tübingen 1995, 9–26, zu den Gedichten an Agnes und Radegunde 21–26. Allgemein zum poetischen Brief siehe H. GÖRGEMANNS, Epistolographie G. Poetische Briefe, in: Der neue Pauly, Bd. 3 (1998), Sp. 1168f. Ausführlicher zum Brief in der Spätantike siehe M. ZELZER, Die Briefliteratur, in: L. J. ENGELS & H. HOFFMANN, Spätantike. Mit einem Panorama der byzantinischen Literatur (Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, Bd. 4), Wiesbaden 1997, 321–351. Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 19. Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 9.

3.2.5. „Echte“ Gelegenheitsgedichte

329

3.2.5.1. Carmen VIII, 19, 20 & 21 a) Text und Übersetzung Sujet der ersten beiden Gedichte ist ein Landgut, das Gregor von Tours Venantius Fortunatus zur Nutzung überlassen hat. Carmen VIII, 19 Tramite munifico celebrauit pagina cursum, carmine dulcifluo quam tuus edit amor,

Auf dem Pfad der Freigebigkeit eilte feierlich mit süß fließendem Lied die Seite dahin, die deine Liebe hervorbrachte, in qua forte loci facta est conlatio doni, Darauf befindet sich gerade dein Geschenk qua Vigenna procax litore frangit aquas, eines Landguts, dort, wo keck die Vienne am Ufer die Wasser bricht; lapsibus et tumidis dum fertur nauta carinis, 5 während der Seemann auf dem Schiff im Fallen iugera culta uidet quando celeuma canit. und Steigen der Wellen umher getrieben wird, sieht er kultiviertes Land, wenn das Kommando für die Ruderer ertönt. Dank, sag’ ich , mein Lieber, dir, der du erfüllt Grates, care, gero, pietatis fruge repleto,5 qui facis unde decens multiplicetur apex. bist von der Frömmigkeit Frucht, der du bewirkst, dass sich deine höchste Würde noch vervielfacht. Et sine his mea sunt a te quaecumque tenentur: Auch ohne dies ist, alles, was von dir besessen grex habet omnis agris quod bone pastor wird, mein, habes. 10 die ganze Herde besitzt, was Du, guter Hirte, 10 hast.6

Das Carmen steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem folgenden und bildet zusammen mit Carmen VIII, 21 den Abschluss von Buch VIII der Carmina des Venantius Fortunatus. Daher seien diese beiden Gedichte hier angeschlossen:

5

6

Reydellet setzt das in den Handschriften G, B2, R, F überlieferte pietatis fruge repleto in den Text, während Leo die Konjektur replete vorschlägt. In diesem Fall würde die Form dem Vokativ care angeglichen, während Venantius in der Version, die Reydellet in den Text setzt, Gregor als gedachtes Dativobjekt anspricht, was vom Sinn aber keinen Unterschied macht. Die in A, C , M, D U, E, B1 überlieferte Form des Imperativ II repeto würde hingegen auf die berechtigte Forderung des Gregors nach Dankbarkeit verweisen. Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 19, lateinischer Text nach REYDELLET, II, 159.

330

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

Carmen, VIII, 20 Munifici reparans Martini gesta, Gregori, texit ut ille habitu nos alis ipse cibo.

Discipulus placidum sapiens imitando magistrum ille ubi dux residet miles habebis opem. Vt clamidem ille prius, sic tu partiris agellum, 5 ille tegendo potens tuque fouendo decens ille inopem antiquum releuans, tu, care, nouellum: fit diues merito paupere quisque suo. Quando reposcetur, uestris redit usibus aruum et domino proprio restituemus agrum. 10

Vnde amplas refero grates, dulcissime rector, et repeto pangens haec tua, pastor, ouis. Nec tantum reddo quantum tibi debeo, praesul: pro Fortunato sed, rogo, flecte Deum.

Du erneuerst, Gregor, die Taten des freigebigen Martin, wie jener mit Kleidung bedeckte, nährst du uns mit Speise. Weil du als weiser Schüler den gütigen Lehrer nachahmst, wirst du, der Soldat, dort, wo jener als Führer residiert, Unterstützung finden. Wie jener zuvor den Mantel, so teilst du das Landgütchen, 5 jener war mächtig, weil er bedeckte, du bist voll Feingefühl, weil du erquickst. Jener half einem alten Armen, du, mein Lieber, einem neuen: jeder wird zu Recht reich jeweils durch seinen Armen. Wenn es zurückgefordert wird, kehrt in euren Besitz das Land zurück, und wir werden dem eigentlichen Herrn den Ackerland zurückerstatten. 10 Daher sage dir reichlich Dank, gütigster Lenker, als dein Schaf dichte ich dies, mein Hirte. Zwar gebe ich dir nicht zurück, wie viel ich dir schulde, Bischof, (trotzdem) stimme aber, ich bitte dich, Gott für Fortunatus gnädig.7

Das dritte Gedicht hat ebenfalls eine Gabe Gregors an Venantius Fortunatus zum Sujet, diesmal ein Stück Fell, das Gregor ihm zusammen mit einem Brief übersandt hat: Carmen VIII, 21 Egregio conpacta situ, falerata rotatu atque Sophocleo pagina fulta sopho me arentem uestro madefecit opima rigatu, fecit et eloquio quod loquor esse tuo.

7

Verfasst in hervorragender Komposition, verziert mit glänzenden Wendungen, und voll von sophokleischer Sophia, ließ mich Dürstenden der Briefbogen reichlich von eurem Wasser trinken und bewirkte, dass ich in deinem Stil spreche.

Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 20, lateinischer Text nach REYDELLET, II, 160.

3.2.5. „Echte“ Gelegenheitsgedichte

331

Dulcis care decens facunde benigne Gregori 5 Trauter, lieber, guter, redegewandter, gütiger atque pater patriae, hinc sacer, inde cate, Gregor, 5 Vater des Vaterlandes, heilig und weise, muneribus, meritis, animis, et moribus aequis, der du durch deine Geschenke, Verdienste, Herz omnibus officiis unde colaris habens: und gerechten Charakter und durch alle Deine Leistungen verehrt werden musst: me Fortunatum tibi celso sterno pusillum, ich lege mich, den ganz geringen Fortunatus, dir commendo et uoto supplice rite tuum; 10 zu Füßen, und, wie es sich ziemt, empfehle mich mit frommen Gebet, ganz als der Deinige, 10 cui das unde sibi talaria missa ligentur der, dem du die Flügelschuhe schickst und pellibus et niueis sint sola tecta pedis. schnürst, und dem nun die Füße mit schneeweißem Pelz bedeckt sind. Pro quibus a Domino detur stola candida uobis: Für diese möge euch vom Herrn eine weiße Stola qui datis hoc minimis, unde feratis opes. geschenkt werden, der ihr mit sehr kleinen Geschenken erreicht, dass ihr (im Himmel) Schätze davontragt.8

b) Gliederung Carmen VIII, 19 Das Carmen weist eine dreiteilige Gliederungsstruktur auf: I. V. 1 – 2 II. V. 3 – 6 III. V. 7 – 10

Proöm: Der Lauf der pagina. Hauptteil: Das Landgut bei Vienne. Conclusio: Dank des Fortunatus und Lob Gregors. Carmen, VIII, 20

Dieses Carmen lässt sich in ein zwei- oder dreiteiliges Schema untergliedern: I. V. 1 – 10 [I. V. 1 [II. V. 2 – 10 II. [III.] V. 11 – 14

8

Themenstellung & Hauptteil: Vergleich Gregors mit Martin von Tours. Proöm: Themenstellung. Vergleich Gregors mit Martin von Tours.] Conclusio: Dank des Fortunatus und Bitte um Fürbitte.

Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 21, lateinischer Text nach REYDELLET, II, 161.

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

332

Carmen VIII, 21 Die Gliederungsstruktur dieses Gedichtes ist ebenfalls dreiteilig: I. V. 1 – 4 II. V. 5 – 12 V. 5 – 8 V. 9 – 12

III. V. 13 – 14

Proöm: Brief Gregors. Hauptteil: Gregor und Venantius. Lob Gregors. Geschenk des weißen Felles Bedeutung Gregors für Venantius als Mäzen. Conclusio: Wunsch, Gott möge Gregor seine Großzügigkeit mit einer weißen Stola vergelten. c) Interpretation und Vergleich

Carmen VIII, 19 & 20 bilden vom Sujet her eine Einheit. In beiden Fällen geht es um ein Landgut, das Gregor Venantius Fortunatus zur Nutzung überlassen hat. Auch auf inhaltlicher Ebene sind sie als Einheit konzipiert, wobei das zweite Gedicht das erste ergänzt. Während in Carmen VIII, 19 das Landgut selbst im Vordergrund steht, ist Carmen VIII, 20 dem Lob Gregors gewidmet. Beide Carmina sind bewusst vor das Abschlussgedicht des Buches gesetzt, da Carmen VIII, 21 nicht nur mit dem Anfang des Buches in Beziehung steht, sondern auch die Thematik der beiden vorangegangen Gedichte aufnimmt und in spezifischer Weise ergänzt. Daher ist es sinnvoll, diese drei Carmina im Zusammenhang zu betrachten. Das Kompositionsprinzip ist in allen drei Fällen identisch bzw. nur leicht variiert: Auf ein Proöm mit oder ohne Vorstellung des Themas, aber direkter oder indirekter Nennung des Adressaten folgt ein Hauptteil, an den sich eine Conclusio anschließt. Diese Dreiteilung entspricht dem grundsätzlichen Schema eines Briefes mit Anrede, Hauptteil und formelhafter Conclusio, die entweder aus einem schlichten vale besteht oder Wünsche für den Adressaten enthält, wie es sich auch in den Prosabriefen des lateinischen Mittelalters erhält.9 Beim zweiten Gedicht, Carmen VIII, 20, gehen Proömium und Hauptteil ineinander über, allerdings nicht ohne explizit in Vers 1 den Adressaten Gregor zu nennen, der bereits dort mit Martin von Tours parallelisiert wird. In zwei Fällen bezieht sich die das Proömium auf ein Schriftstück, als pagina / Blatt oder Briefbogen bezeichnet, nämlich in Carmen VIII, 19 & 21, im ersten Fall auf das Carmen, das Venantius Fortunatus verfasst, 10 im zweiten Fall auf einen Brief, den er von Gregor erhalten hat.11 In Carmen VIII, 19 ist der Hauptteil12 einer kurzen Ekphrasis 9 10 11

Zu diesem allgemeinen Briefschema vgl. auch J. GRUBER, Brief (Allgemein) & F.-J. SCHMALE, Brief (Lateinisches Mittelalter), in LexMA, Bd. 2, Sp. 648–650 & 652–659. Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 19, 1f. Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 21, 1–4.

3.2.5. „Echte“ Gelegenheitsgedichte

333

des Landgutes, also von Gregors Geschenk, gewidmet, in den beiden anderen Fällen13 Gregor bzw. dem Verhältnis des Venantius zu ihm. Die Conclusio enthält in den ersten beiden Carmina den ausdrücklichen Dank des Venantius Fortunatus an Gregor von Tours14 bzw. den Wunsch, Gott möge Gregor seine Wohltaten vergelten.15 Damit, wie auch mit dem Hinweis auf die pagina, werden die Carmina in die Nähe des poetischen Briefes gerückt. Die jeweils angesprochene Ausgangssituation macht ein Verschicken der Carmina anstelle eines Prosabriefes, in dem Venantius Gregor seinen Dank ausspricht, sogar wahrscheinlich. Denn in allen drei Fällen handelt es sich um Dankgedichte. Auch wenn die kurze Ekphrasis des Landgutes in literarischer Beziehung zu längeren Schilderungen von Villen steht, wie sie schon bei Statius begegnen16 und auch im Werk des Venantius Fortunatus erhalten sind17 , besteht doch vom Anlass der Dichtung her ein wesentlicher Unterschied. Geht es bei Statius und Venantius Fortunatus in den Gedichten auf die Landgüter des Leontius von Bordeaux vor allem um die Repräsentation des Besitzers durch die Beschreibung seines repräsentativen Landgutes und handelt es sich dabei wohl um Auftragsarbeiten, ist hier Venantius Fortunatus Empfänger einer Wohltat von seitens Gregors, so dass zunächst einmal der schuldige Dank thematisiert werden muss und sich dazu die Form eines kurzen poetischen Briefes anbietet. Auch thematisch ergibt sich eine Nähe zum Freundschaftsbrief, wenn Venantius in Carmen VIII, 19 gezielt Begriffe aus dem Bereich der amicitia / Freundschaft verwendet und von Gregors amor / Liebe18 die Rede ist oder Gregor als care / mein Lieber angeredet wird.19 Verbunden ist dies mit einem Lob Gregors, das ihn ganz im geistlichen Sinne als guten Hirten apostrophiert und dabei das Gedicht mit einem Rekurs auf das Johannesevangelium beschließt: Grates, care, gero, pietatis fruge repleto, qui facis unde decens multiplicetur apex.

Dank, sag’ ich , mein Lieber, dir, der du erfüllt bist von der Frömmigkeit Frucht, der du bewirkst, dass sich deine höchste Würde noch vervielfacht. Et sine his mea sunt a te quaecumque tenentur: Auch ohne dies ist, alles, was von dir besessen grex habet omnis agris quod bone pastor wird, mein, habes. 10 die ganze Herde besitzt, was du, guter Hirte, 10 hast.20

12 13 14 15 16 17 18 19 20

Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 19, 3–6. Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 20, 1 [2]–10 & VIII, 21, 5–12. Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 19, 7–10 & VIII, 20, 11–14. Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 21, 13f. Vgl. z. B. Statius, Silvae, I, 3 (Villa Tiburtina des Manilius Vopiscus). Vor allen in den Carmina des ersten Buches, siehe z. B. Venantius Fortunatus, Carm., I, 18–20 (drei Villen des Leontius, Bischof von Bordeaux). Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 19, 2. Vers 7. Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 19, 7–10, die letzten beiden Verse rekurrieren auf Io 16, 15: Omnia, quaecumque habet Pater, mea sunt / Alles, was mein Vater hat, gehört mir, vgl. dazu REYDELLET, II, 191, Anm. 104.

334

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

Die Apostrophierung Gregors als guter Hirt wird im Folgegedicht weiter ausgeführt und mit seinem Amt als Bischof von Tours in Verbindung gebracht: Die Aufgabe eines guten Hirten besteht darin, seine Schafe zu weiden. Daher fällt gleich im ersten Distichon von Carmen VIII, 20 der Begriff alis / du nährst, der mit der Mantelteilung des heiligen Martin von Tours, auf dessen Bischofsstuhl Gregor sitzt verglichen wird: Munifici reparans Martini gesta, Gregori, texit ut ille habitu nos alis ipse cibo.

Du erneuerst, Gregor, die Taten des freigebigen Martin, wie jener mit Kleidung bedeckte, nährst du uns mit Speise.21

Die laus Gregoris / das Lob Gregors steht im Vordergrund, was die Stilhöhe angeht, obwohl Gregor weiterhin als care, mein Lieber in Freundschaftsdiktion angesprochen wird22 und die offizielle Titulatur eher dem Schluss vorbehalten bleibt, wobei auch der zentrale Begriff pastor / Hirte23 fällt. Dadurch ergänzt Carmen VIII, 20 das persönlicher gehaltene Carmen VIII, 19 und schlägt zugleich einen eher offiziellen Ton an. Vier Distichen 24 sind dem Vergleich mit Martin gewidmet, als dessen Schüler bzw. in militärischer Metaphorik als dessen Soldat Gregor dargestellt wird.25 Wie jener bei einem alten Armen die Not durch die Gabe von Kleidung linderte, so tut Gregor dies bei einem neuen Armen durch das Stillen des Grundbedürfnisses nach Nahrung.26 Wenn man von vier Grundbedürfnissen des Menschen nach Nahrung, Wasser, Wohnung und Kleidung ausgeht, so stillte Martin das nach Kleidung, Gregor übertrifft ihn aber dadurch, dass er das Bedürfnis nach Nahrung stillt und impliziert (das Landgut) auch das nach Wohnung. Das nach Wasser und Kleidung hat Gregor nicht gestillt, doch genau darin liegt die Verbindung zum nächsten und letzten Gedicht aus dem achten Buch der Carmina des Venantius Fortunatus. In Carmen VIII, 21 ist gerade davon die Rede: Gregor stillt durch seine Redefähigkeit / sein eloquium den Durst des Venantius. Zugleich wird Gregors Stil mit 21 22 23

24 25

26

Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 20, 1f. Vers 8. Siehe Vers 11–14: Vnde amplas refero grates, dulcissime rector, / et repeto pangens haec tua, pastor, ouis. / Nec tantum reddo quantum tibi debeo, praesul: / pro Fortunato sed, rogo, flecte Deum. / Daher sage dir reichlich Dank, gütigster Lenker, als dein Schaf dichte ich dies, mein Hirte. Zwar gebe ich dir nicht zurück, wie viel ich dir schulde, Bischof, (trotzdem) stimme aber, ich bitte dich Gott für Fortunatus gnädig. Vers 1–8. Vers 3f.: Discipulus placidum sapiens imitando magistrum / ille ubi dux residet miles habebis opem. / Weil du als weiser Schüler den gütigen Lehrer nachahmst, wirst du, der Soldat, dort, wo jener als Führer residiert, Unterstützung finden. Vers 5–8: Vt clamidem ille prius, sic tu partiris agellum, / ille tegendo potens tuque fouendo decens / ille inopem antiquum releuans, tu, care, nouellum: / fit diues merito paupere quisque suo. / Wie jener zuvor den Mantel, so teilst du das Landgütchen, / jener war mächtig, weil er bedeckte, du bist voll Feingefühl, weil du erquickst. / Jener half einem alten Armen, du, mein Lieber, einem neuen: / jeder wird zu Recht reich jeweils durch seinen Armen.

3.2.5. „Echte“ Gelegenheitsgedichte

335

dem des Sophokles verglichen, was ihn in einem Wortspiel bereits als sophos / weise ausweist, eine Eigenschaft, die sehr zu einem literarisch tätigen Kirchenfürst passt (Vers 1–4): Egregio conpacta situ, falerata rotatu atque Sophocleo pagina fulta sopho me arentem uestro madefecit opima rigatu, fecit et eloquio quod loquor esse tuo.

Verfasst in hervorragender Komposition, verziert mit glänzenden Wendungen, und voll von sophokleiischer Sophia, ließ mich Dürstenden der Briefbogen reichlich von eurem Wasser trinken und bewirkte, dass ich in deinem Stil spreche.

Andererseits ist der Stil des Sophokles der hohe Stil der Tragödie, wovon Venantius Fortunatus sich und seine kleineren Dichtungen abgrenzen kann. So ist in der zweiten Hälfte des Hauptteils die Selbstapostrophierung des Dichters als pusillus / gering im Gegensatz zu Gregor, der als celsus / herausragend bezeichnet wird,27 wohl nicht nur auf Stand und Charakter zu beziehen, wie der unmittelbare Textzusammenhang nahe legt, sondern auch im literarischen Sinne auf den Anfang des Carmen bezogen. Freilich macht die Redefähigkeit Gregors nur einen Teil seiner Vorzüge aus, wie die Einordnung des Begriffes facundus / redegewandt in eine Reihe von moralischen Charakteristika zu Beginn der direkten Anrede durch Venantius Fortunatus verdeutlicht.28 Dass die literarische Ebene dabei dennoch eine eminente Rolle spielt, belegt der Schluss des Hauptteils mit der Evokation der Flügelschuhe des Merkur: cui das unde sibi talaria missa ligentur pellibus et niueis sint sola tecta pedis.

der, dem du die Flügelschuhe schickst und schnürst, und dem nun die Füße mit schneeweißem Pelz bedeckt sind.29

Erst hier wird der unmittelbare Anlass des Gedichtes deutlich: Offenbar hatte Gregor Venantius Fortunatus nicht nur einen Brief geschickt, sondern ein weißes Fell, aus dem er sich (warme) Schuhe fertigen lassen konnte. Damit befriedigt er das letzte Grundbedürfnis, nämlich das nach Kleidung, und von daher ergibt sich ein deutlicher Zusammenhang zu den beiden vorangegangenen Carmina: In Steigerung zu Martin von Tours versorgt Gregor von Tours den Dichter mit Wohnung, Essen, Trinken und Kleidung, stillt also alle Grundbedürfnisse und nicht nur das nach Kleidung. Das Bedürfnis nach Trank wird aber auf geistiger Ebene befriedigt: Die literarische Tätigkeit Gregors als Historiker wird mit dem hohen Genos der Tragödie verglichen. 27

28

29

Siehe Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 21, 9f.: me Fortunatum tibi celso sterno pusillum, / commendo et uoto supplice rite tuum; / ich lege mich, den ganz geringen Fortunatus, dir zu Füßen, und, wie es sich ziemt, empfehle mich mit frommen Gebet, ganz als der Deinige. Siehe Vers 5f.: Dulcis care decens facunde benigne Gregori / atque pater patriae, hinc sacer, inde cate / Trauter, lieber, guter, redegewandter, gütiger Gregor, / Vater des Vaterlandes, heilig und weise. Vers 11f.

336

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

Zugleich tritt er als Inspiration des Dichters30 und als Mäzen in Erscheinung.31 Am Ende des Buches nimmt er also die Rolle ein, die Venantius Fortunatus am Anfang Radegunde zuerkannt hatte.32 Bezieht man die anderen Gedichte des achten Buches, die an Gregor von Tours gerichtet sind, in die Betrachtungen mit ein, so ergibt sich ein ähnliches Bild: Bei den anderen „echten“ Gelegenheitsgedichten33 handelt es sich zumeist um kurze Grußadressen an Gregor (mit drei bis sechs Distichen Umfang)34 und ein Dankgedicht für Gregors Genesungswünsche, als Venantius Fortunatus an einer fiebrigen Krankheit litt,35 die sich formal durch das dreigliedrige Schema (Proöm, bisweilen enkomiastischer Hauptteil, Conclusio)36 ebenfalls unter dem Genos Brief subsumieren lassen und ursprünglich wohl auch als solche abgeschickt worden sind. In den Grußadressen erscheint die Apostrophierung Gregor als guter Hirte37 ebenso wie die offizielle Titulatur als antistes Domini38 und rector39 oder pater patriae für sein Bischofsamt.40 Mehrmals wird Gregor mit Rekurs auf eine Freundschaftsbeziehung als care / (mein) Lieber angesprochen,41 außerdem dessen Redetalent gerühmt;42 im Zusammenhang mit den Genesungswünschen an Venantius Fortunatus vergleicht der Dichter Gregors Stimme sogar mit der eines Arztes.43 Dabei ergibt sich gerade in den persönlicher gehaltenen Gedichten durch die Freundschaftsterminologie eine besondere Nähe zum Freundschaftsbrief.44 Thematisch wie formal weisen die Gedichte an Gregor von Tours also grundsätzlich ähnliche Spezifika auf; je nach Anlass werden allerdings bestimmte Motive mehr oder weniger in den Vordergrund gerückt. Die enkomiastischen Elemente treten ebenfalls dann stärker oder weniger stark hervor. In den letzten drei Gedichten an Gregor45 wird die persönliche Bedeutung Gregors für Venantius Fortunatus in besonderer Weise exponiert, wobei, 30 31 32 33

34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45

Vgl. Vers 3f. Vers 11f. Siehe Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 1 und die entsprechenden Ausführungen in Kapitel 3. 2. 1. dieser Arbeit. Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 12 & 12a wenden sich konkret im Auftrag Leuboveras, der Nachfolgerin von Agnes als Äbtissin des Klosters von Poitiers, im Zusammenhang mit dem Auszug einiger Nonnen aus dem Kloster an Gregor von Tours (vgl. die ausführliche Schilderung bei Gregor von Tours, Hist. Franc., IX 39–43). Bei Carmen VIII, 12a handelt es sich um einen Brief in Prosa, während Carmen 12 als poetischer Bittbrief aufgefasst werden kann. Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 13–18. Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 11. Vgl. z. B. Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 16, das aus nur drei Distichen besteht und in dem die drei Teile auf je ein Distichon verteilt sind. Vgl. Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 13, 1; 15, 7. Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 13, 1. Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 13, 7. Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 15, 1; 16, 3. Vgl. Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 15, 9; 16, 4; 17, 2. Vgl. Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 18. Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 11, 1. Vgl. Venantius Fortunatus, Carm., 17, 4, wo die Liebe / amor zu Gregor in topischer Bescheidenheit der Unfähigkeit des Venantius, sie auszudrücken, gegenübergestellt wird. Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 19–21.

3.2.5. „Echte“ Gelegenheitsgedichte

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wie die Interpretation gezeigt hat, durch die literarische Konzeption und die Stellung der Carmina innerhalb des Buches Gregor einerseits mit Martin von Tours, auf dessen Bischofsstuhl Gregor sitzt, in Beziehung gesetzt wird, andererseits die Grundbedürfnisse des Dichters gerade von Gregor gestillt werden und dabei die literarische Tätigkeit mit dem Grundbedürfnis, seinen Durst zu stillen, assoziiert wird. Dadurch erhalten diese Carmina unabhängig von ihrer ursprünglichen Funktion durch die Zusammenstellung eine spezifische Funktion innerhalb der Makrostruktur der Komposition des Buches. Ist die Thematik von Liebe und Freundschaft / amor und amicitia in diesen Carmina bereits greifbar, so wird sie in den Gedichten des Buches, die sich an Radegunde als Adressatin wenden, zentral. Daher sollen hier beiden letzten an Radegunde gerichteten Carmina innerhalb des achten Buches einer eingehenden Analyse unterzogen werden, wobei eine eventuelle Nähe zur Briefliteratur wiederum in die Betrachtungen miteinbezogen werden sollte.46

3.2.5.2. Carmen VIII, 9 & 10 a) Text und Übersetzung Carmen VIII, 9 Der unmittelbare Anlass zu Carmen VIII, 9 besteht darin, dass sich Radegunde während der Fastenzeit zu asketischen Übungen in ihre Zelle zurückgezogen hat: Mens fecunda Deo, Radegundis, uita sororum, Geist, voll von Gott, Radegunde, Leben der quae foueas animam membra domando Schwestern, cremas; die du die Seele erwärmst, indem du die Glieder bezwingst und verbrennst. annua uota colens hodie claudenda recurris: In Erfüllung eines alljährlichen Gelübdes eilst errabunt animi te repetendo mei. du heute, um dich einzuschließen: Mein Herz wird irren, dich zu suchen. Lumina quam citius nostris abscondis ocellis! Wie schnell entziehst du die Augen unseren 5 Blicken! 5 Nam sine te nimium nocte premente grauor. Denn ohne dich werde ich allzu sehr von drückender Nacht beschwert.

46

M. ZELZER, Die Briefliteratur, 325, weist darauf hin, dass die Unterscheidung zwischen „unliterarischen Privatbrief“ und „für die Öffentlichkeit geschriebenen literarischen Brief“ moderner Natur ist: „Sogar wenn die briefspezifischen Formeln auf das Mindestmaß der Anrede beschränkt waren, galt das betreffende Schriftstück als Brief. Viele Briefe des Augustin und anderer Kirchenväter unterscheiden sich von anderen Werken allein durch das formale Kriterium der Angabe von Absender und Adressaten.“ (ebenda). Ein poetischer Brief zeigt daneben natürlich einen deutlichen poetischen Gestaltungswillen.

338

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

Omnibus exclusis uno retineberis antro: nos magis includis quos facis esse foris.

Nach Ausschluss aller hältst du in einer Höhle zurück: mehr schließt du uns ein, die du uns zwingst, draußen zu bleiben. Et licet huc lateas breuibus fugitiua diebus, Magst du auch hier verborgen sein als Flüchtlongior hic mensis quam celer annus erit.10 ling nur kurze Tage, länger wird dieser Monat sein sogar als ein kurzes Jahr. 10 Tempora subducis, ceu non uidearis amanti, Die Zeiten entziehst du und erscheinst gleichsam cum uos dum cerno hoc mihi credo parum. nicht dem Geliebten, und wenn ich dich sehe, scheint es mir zu wenig zu sein. Sed tamen ex uoto tecum ueniemus in unum Aber dennoch werde ich aus dem Wunsch heraus et sequor huc animo quo uetat ire locus. mit dir zusammenkommen, und ich folge mit dem Herzen dorthin, wohin der Ort zu gehen verbietet. Hoc precor, incolumen referant te gaudia Darum bitte ich, unversehrt mögen dich die paschae, 15 österlichen Freuden zurückbringen, 15 et nobis pariter lux geminata redit. und zugleich kehrt uns ein doppeltes Licht zurück.47

Carmen VIII, 10 Dieses Carmen bildet mit dem vorangehenden Gedicht eine Einheit, zugleich beendet es innerhalb des achten Buches den Zyklus der Gedichte auf Agnes und Radegunde. Vnde mihi rediit radianti lumine uultus? quae nimis absentem te tenuere morae?

Woher strahlt mir im Glanz wieder das Gesicht? Welche Hindernisse ließen dich allzu lange abwesend sein? Abstuleras tecum, reuocas mea gaudia tecum, Mit dir hast du meine Freude mitgenommen, mit paschalemque facis bis celebrare diem. dir rufst du sie zurück, zweifach lässt Du den Ostertag feiern. Quamuis incipiant modo surgere semina sulcis, Mögen auch bald erst die Samen in den Furchen 5 zu keimen beginnen, 5 hic egomet hodie te reuidendo meto. hier halte ich heute schon meine Ernte, weil ich dich wieder sehe. Colligo iam fruges, placidos compono maniplos: Ich sammle schon Früchte, mache sanfte Bündel quod solet Augustus mensis Aprilis agit: (von Korn): Was sich sonst gewöhnlich im August ereignet, geschieht nun im Monat April.

47

Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 9, lateinischer Text nach REYDELLET, II, 152.

3.2.5. „Echte“ Gelegenheitsgedichte

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et licet in primis modo gemma et pampinus exit, Und mag auch gerade erst die Knospe und die iam meus autumnus uenit et uua simul. 10 Weinranke sprießen, kommt schon mein Herbst und zugleich die Reife der Traube. 10 Malus et alta pirus gratos modo fundit odores, Der Apfel und die hoch hängende Birne versed cum flore nouo iam mihi poma ferunt. breitet nun angenehme Düfte, aber schon mit der neuen Blüte tragen sie mir Früchte. Quamuis nudus ager nullis ornetur aristis, Mag auch das Feld noch kahl von keinen Ähren omnia plena tamen te redeunte nitent. geschmückt werden, alles steht voll in glänzendem Weiß, weil du zurückkehrst.48

b) Gliederung Carmen VIII, 9 Den acht Distichen dieses Gedichts liegt ein dreiteiliges Gliederungsschema zugrunde: I. V. 1 – 4 II. V. 5 – 12 III. V. 13 – 16

Proöm: Rückzug der Radegunde für die Fastenzeit in ihre Zelle. Hauptteil: Die Trennung vom Dichter. Conclusio: Antizipation des Wiedersehens am Osterfest. Carmen VIII, 10

Den sieben Distichen von Carmen VIII, 10 liegt ein zweiteiliges Gliederungsschema zugrunde, wobei allerdings dem zweiten Teil ein quantitatives Übergewicht zukommt: I. V. 1 – 4 Gemütszustand des Venantius Fortunatus und Nennung des Themas: Rückkehr der Radegunde. II. V. 5 – 14 Bedeutung der Rückkehr für Venantius: Schilderung in bukolischem Ambiente. V. 5 – 6 1. Quamuis-Distichon: Aussaat und Ernte fallen zusammen. V. 7 – 12 Explikation des Themas: Frühlingsund Erntezeit existieren zugleich. V. 13 – 14 2. Quamuis-Distichon: Rekapitulation des Themas: Der noch unbestellte Acker trägt reiche Frucht. 48

Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 10, lateinischer Text nach REYDELLET, II, 153.

340

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

c) Interpretation Von exzessiven Bußübungen der Radegunde zur vorösterlichen Fastenzeit berichtet Venantius Fortunatus auch in seiner Vita sanctae Radegundis.49 Die beiden Carmina haben eine derartige Bußübung zum Anlass, die offenbar darin bestand, dass Radegunde während der Fastenzeit ihre Zelle nicht verließ und den Kontakt mit Mitschwestern und Außenwelt völlig abbrach. Für den Dichter, der sonst wahrscheinlich als der für das Kloster zuständige presbyter50 nach der Regel des Caesarius von Arles als einziger Mann regelmäßigen Umgang mit Radegunde pflegte, bedeutet dies, dass er sie bis zum Osterfest nicht mehr zu Gesicht bekommt. Diese Situation und ihre Bedeutung für den Dichter bilden das Sujet der acht elegischen Distichen von Carmen VIII, 9. Die freudige Situation des Wiedersehens wird in Carmen VIII, 10 behandelt. Dabei spielt Venantius Fortunatus mit den literarischen Genera und gibt dem ersten Carmen ein elegisches, dem zweiten ein ländliches Ambiente. Schon im Proöm von Carmen VIII, 9 ist dieses Ambiente greifbar, während durch die namentliche Nennung Radegunde als Adressatin kenntlich gemacht wird. Mens fecunda Deo, Radegundis, uita sororum, Geist, voll von Gott, Radegunde, Leben der quae foueas animam membra domando Schwestern, cremas; die du die Seele erwärmst, indem du die Glieder bezwingst und verbrennst. annua uota colens hodie claudenda recurris: In Erfüllung eines alljährlichen Gelübdes eilst errabunt animi te repetendo mei. du heute, um dich einzuschließen: Mein Herz wird irren, dich zu suchen.51

Dem mens / dem Geist der Radegunde, der Gott ganz ergeben ist und durch asketische Übungen des Fleisches für das Seelenheil sorgt,52 korrespondiert der Geist des Venantius Fortunatus, hier im dichterischen Plural als animi mei bezeichnet.53 Dieser Geist wird irren / errabunt54, weil er auf der Suche nach Radegunde ist, die hier persönlich angesprochen wird.55 Die Strapazen, die der Liebende / amans auf sich nimmt, um zu seiner Geliebten zu gelangen, stellen ein typisches Motiv der Liebeselegie dar.56 Mit typischer Motivik aus der Liebeselegie beginnt auch der Hauptteil, wenn von lumina und occelli / den Augen die Rede ist und von der unruhigen Nacht,

49 50 51 52 53 54 55 56

Vgl. Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis, VI (16–17); XXII (52); XXV (60) bei KRUSCH, MGH, AA IV, 2, 40, 44 & 45. Vgl. dazu die entsprechenden Ausführungen in Kapitel 2. 2. dieser Arbeit. Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 9, 1–4. Vers 1f. Vers 3f. Vers 4. Siehe Vers 4: te repetendo / (wörtlich:) beim dich Wiedergewinnen, dabei, dich wieder zu gewinnen. Vgl. z. B. den locus classicus: Ovid, Amores, I, 9, 8–16.

3.2.5. „Echte“ Gelegenheitsgedichte

341

die der Dichter verbringt, weil Radegunde abwesend ist.57 Auch das Motiv der Zeit, die sich für den Liebenden unendlich ausdehnt, weil er von der Geliebten getrennt ist, gehört zum elegischen Repertoire.58 Ganz deutliche Anklänge finden sich zu den Heroides des Ovid, wo Leander in dem Brief an Hero beklagt, dass ihm die Woche der Trennung länger als ein ganzes Jahr vorkomme.59 Außerdem bezeichnet sich Venantius Fortunatus selbst als amans / Liebender,60 womit am Ende des Hauptteils der elegische Kontext noch einmal deutlich exponiert wird. Weist das Carmen aufgrund dieser Elemente deutliche Nähen zur Elegie in ihrer Ausprägung als Liebeselegie auf und bringt die Ausweisung der Adressaten eine weitere Nähe zur Briefelegie, so geschieht in der Conclusio eine Transgression auf eine andere inhaltliche Ebene, die zugleich wieder auf den Anfang des Gedichts Bezug nimmt: Sed tamen ex uoto tecum ueniemus in unum Et sequor huc animo quo uetat ire locus.

Aber dennoch werde ich aus dem Wunsch heraus mit dir zusammenkommen, und ich folge mit dem Herzen dorthin, wohin der Ort zu gehen verbietet. Hoc precor, incolumen referant te gaudia Darum bitte ich, unversehrt mögen dich die pachae, 15 österlichen Freuden zurückbringen, 15 Et nobis pariter lux geminata redit. und zugleich kehrt uns ein doppeltes Licht zurück.61

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60 61

Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 9, 5f.: Lumina quam citius nostris abscondis ocellis! / Nam sine te nimium nocte premente grauor / Nach Ausschluss aller hältst du dich in einer Höhle zurück: / mehr schließt du uns ein, die du zwingst draußen zu bleiben. Vgl. zum Motiv des Liebhabers, der keinen Schlaf finden kann Ovid, Amores, I, 2, 1–4 (lateinischer Text nach der Ausgabe von KENNEY, Oxford 1961): Esse quid hoc dicam, quod tam mihi dura uidentur / strata, neque in lecto pallia nostra sedent, / et uacuus somno noctem, quam longa, peregi, / lassaque uersati corporis ossa dolent? / Was soll ich sagen, was das ist, dass mir so hart mein Lager erscheint und unsere Decken nicht auf dem Bett bleiben, / und dass ich die Nacht, ach wie lange, frei von Schlaf verbracht habe und die Knochen, erschöpft vom Hin- und Herwälzen des Körpers schmerzen? Das Motiv wird auch im epithalamium für Sigibert und Brunichilde aufgenommen, siehe Venantius Fortunatus, Carm., VI, 1, 43f., vgl. die entsprechenden Ausführungen in Kapitel 3. 2. 2. dieser Arbeit. Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 9, 9–12: Et licet huc lateas breuibus fugitiua diebus, / longior hic mensis quam celer annus erit. / Tempora subducis, ceu non uidearis amanti, / cum uos dum cerno hoc mihi credo parum / Magst du auch hier verborgen sein als Flüchtling nur kurze Tage, / länger wird dieser Monat sein sogar als das kurzes Jahr. / Die Zeiten entziehst du und erscheinst gleichsam nicht dem Geliebten, / und wenn ich dich sehe, scheint es mir zu wenig zu sein. Ovid, Her., 18, 25f. (lateinischer Text nach der Ausgabe von SHOWERMAN, Cambridge, Mass. / London 1977): Septima nox agitur, spatium mihi longius anno / sollicitum raucis ut mare fervet aquis / (Schon) ist es die siebte Nacht, eine Zeit, für mich länger als ein (ganzes) Jahr, / dass unruhig das Meer vor rauen Wogen siedet. Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 9, 11. Dass sich der Begriff amans auf den Dichter beziehen muss und nicht etwa auf Gott, bemerkt schon REYDELLET, II, 152, Anm. 83. Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 9, 13–16.

342

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

Wie schon am Anfang des Gedichts wird hier auf die geistliche Ebene Bezug genommen: Das Wiedersehen wird am Ostertag stattfinden,62 dann wird es ein doppeltes Licht / lux geminata geben,63 nämlich das Wiedersehen des Venantius Fortunatus mit Radegunde und zugleich das Osterfest, also die Feier der Auferstehung Christi.64 Implizit erhält Radegunde damit einen Rang, der über den einer elegischen Geliebten weit hinausgeht: Sie wird mit Christus parallelisiert. Wie er verlässt sie am Ostertag die Grabgrotte / antrum,65 vollzieht also eine Auferstehung, die in diesem Carmen subjektiv aus den Augen des Liebenden / amans Venantius Fortunatus gesehen wird und diese Sicht zugleich überschreitet. Das passt zur Apostrophierung der Radegunde als uita sororum / Leben der (Mit)schwestern und ihrem Geist, der ganz Gott ergeben ist / [m]ens fecunda Deo.66 Die sowohl mit dem Osterfest als auch mit dem Motiv der Freude verbundene Lichtmetaphorik am Ende von Carmen VIII, 967 fungiert zugleich als Bindeglied zum folgenden Carmen, was dessen Anfang verdeutlicht: Vnde mihi rediit radianti lumine uultus? quae nimis absentem te tenuere morae? Abstuleras tecum, reuocas mea gaudia tecum, paschalemque facis bis celebrare diem.

Woher strahlt mir im Glanz wieder das Gesicht? Welche Hindernisse ließen dich allzu lange abwesend sein? Mit dir hast du meine Freude genommen, mit dir rufst du sie zurück, zweifach lässt du den Ostertag feiern.68

Die Lichtmetaphorik, mit der Carmen VIII, 9 ausklang, wird aufgenommen und auf die freudige Miene des Dichters übertragen,69 ebenso der Gedanke, dass das Osterfest zweifache Bedeutung erhält, nämlich als Fest der Auferstehung des Herrn und der Rückkehr der Radegunde.70 Dieses Licht auf der Miene des Dichters, ein Symbol der Freude, bildet das Sujet von Carmen VIII, 10 und wird in den letzten zehn, ringkompositorisch angelegten Versen als Paradoxon expliziert. Dabei bedient sich Venantius Fortunatus einer Naturmetaphorik, die ihren Ausgangspunkt zwar in der jahreszeitlichen Verortung von Ostern als Frühlingsfest nimmt, das Ganze aber in ein ländliches Ambiente verlegt. Die auf Theokrit fußende Verbindung von Hirtendichtung mit der Liebesthematik findet sich in der lateinischen Literatur seit Vergil;71 hier stehen allerdings für Venantius Fortunatus wohl eher die vergilianischen Ge-

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Vers 15. Vers 16. Siehe dazu auch REYDELLET, II, 152, Anm. 84. Siehe Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 9, 7. Vers 1. Vers 16. Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 10, 1–4. Vers 1. Vers 4. Vgl. z. B. Vergil, Ekloge 10.

3.2.5. „Echte“ Gelegenheitsgedichte

343

orgica im Hintergrund: Frühling und Sommer fallen zusammen und damit die Zeit der Aussaat und der Ernte: Quamuis incipiant modo surgere semina sulcis, Mögen auch bald erst die Samen in den Furchen 5 zu keimen beginnen, 5 hic egomet hodie te reuidendo meto. hier halte ich heute schon meine Ernte, weil ich dich wieder sehe.72

Die drei folgenden Distichen differenzieren die Früchte des Landes nach Feldfrüchten,73 Wein74 und Obst: Malus et alta pirus gratos modo fundit odores, sed cum flore nouo iam mihi poma ferunt.

Der Apfel und die hoch hängende Birne verbreitet nun angenehme Düfte, aber schon mit der neuen Blüte tragen sie mir Früchte.75

Mit dem letzten Distichon wird die literarische Reminiszenz an Vergil besonders deutlich, rekurriert es doch auf eine Stelle aus dem vierten Buch der Georgica: quotque in flore nouo pomis se fertilis arbos induerat, totidem autumno matura tenebat.

und was der fruchtbare Baum an Früchten bei Beginn der Blüte angelegt hatte, ebensoviel hatte er im Herbst als reife Frucht.76

Anders als bei Vergil, wo es nur darum geht, dass alle Blüten des Baumes im Herbst auch zur Frucht reifen, gibt es hier keinen zeitlichen Zwischenraum. Frühling und Herbst fallen zusammen, und insofern übertrifft das Bild des Venantius Fortunatus das des Vergil. Zudem wird durch die Wiederaufnahme der Lichtmetaphorik im letzten Distichon die Aussage auf eine noch höhere Stufe gehoben: Quamuis nudus ager nullis ornetur aristis, omnia plena tamen te redeunte nitent.

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Mag auch das Feld noch kahl von keinen Ähren geschmückt werden, alles steht voll in glänzendem Weiß, weil du zurückkehrst.77

Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 10, 5f. Vers 6f.: Colligo iam fruges, placidos compono maniplos: / quod solet Augustus mensis Aprilis agit: / Ich sammle schon Früchte, mache schöne Bündel (aus Korn): / Was sich sonst gewöhnlich im August ereignet, geschieht nun im Monat April. Vers 9f.: et licet in primis modo gemma et pampinus exit, / iam meus autumnus uenit et uua simul. / Und mag auch gerade erst die Knospe und die Weinranke sprießen, / schon kommt mein Herbst und zugleich die Reife der Traube. Vers 10f. Vergil, Georg., IV, 142f., lateinischer Text nach der Ausgabe von MYNORS, Oxford 1969. Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 10, 13f.

344

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

Die Miene des Dichters spiegelt wie die ganze Natur die Freude über die Rückkehr der Radegunde wider. Die Landbaumetaphorik symbolisiert Sehnsucht und Erfüllung und steht damit in engem Zusammenhang mit der Liebesthematik von Carmen VIII, 9. Zugleich wird Radegunde zumindest in der subjektiven Empfindung des Dichters der Rang einer Beherrscherin der Natur zugewiesen wie er in paganer Dichtung allenfalls der Göttin Ceres oder (wie bei Lukrez) der Venus78 zuerkannt wurde, was wieder gut zur Liebesthematik passt. Durch das zeitliche Junktim mit dem Osterfest,79 den Bildern80 von Säen und Ernten,81 Weinrebe und Traube82 sowie der Lichtmetaphorik83 entsteht auf der Bildebene aber auch ein christlicher Kontext, der die literarischen Reminiszenzen an die pagane Literatur neu interpretiert und damit überhöht. Zugleich bewegt er sich in der Nähe des poetischen Briefes, denn auch wenn im Carmen VIII, 10 die Adressatin nicht ausdrücklich genannt ist, ergibt sie sich durch den Zusammenhang, und es ist durchaus wahrscheinlich, das beide Carmina ursprünglich tatsächlich an Radegunde geschickt worden sind. Der Rekurs auf die amicitia Thematik in den Gedichten an Gregor von Tours sowie die deutlichen Verweise auf die Liebeselegie in denen an Radegunde stellen in den Gedichten des Venantius Fortunatus keine Singularität dar.84 In dieselbe Richtung weisen die drei unmittelbar vorangestellten Gedichte,85 wo es um die Übersendung von Blumen bzw. Blumenschmuck am Altar geht. Auch hier ist von amor / Liebe die Rede,86 auch hier bezeichnet der Dichter sich selbst als amans / Liebender.87 Der Duft von Agnes und Radegunde wird mit dem der Blumen verglichen, nur dass er von ewigen Blüten ausgeht.88 Gleichzeitig wird aber der christliche Kontext nicht verlassen, sondern verbleibt als konstituierendes Element.89 78 79 80 81 82 83 84

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Vgl. Lukrez, De rerum natura, 1, 1. Vers 4. Siehe Vers 7–12. Vgl. z. B. Mt 13, 1–9, Mc 4, 1–9. Lc 8, 4–8. Vgl. z. B. Io 15, 1–8. Vgl. z. B. Io 8, 12. Siehe dazu V. EPP, Männerfreundschaft und Frauendienst bei Venantius Fortunatus, in: T. KORNBILCHER & W. MAAZ (Hrsg.), Variationen der Liebe. Historische Psychologie der Geschlechterbeziehung, Tübingen 1995, 9–26; zu den Gedichten an Radegunde und Agnes 21–25. Zum Motiv des servitium amoris bei Venantius Fortunatus siehe dort speziell 25: „...Das servitium amoris der römischen Elegie ist in solchen Formulierungen gesteigert und mit spirituellem Gehalt versehen. Der Dienst an der geliebten Frau geschieht zu einem höheren Zweck, zur Vollendung in der Liebe zu Gott: ‚sic faciat cunctas Christus amore suas’ (App. 29). Venantius Fortunatus stellt die Frauen hoch über sich als Objekte einer zärtlichen, fürsorglichen Verehrung. Diese Rollenverteilung mag auf die Troubadourlyrik vorausweisen..., nicht jedoch die geistliche Prägung der Relation.“ Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 6–8. Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 6, 6. Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 8, 2. Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 7, 19f. Vgl. z. B. Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 8, 15f., (lateinischer Text nach REYDELLET, II, 151): Quamuis te expectet paradisi gratia florum, / isti uos cupiunt iam reuidere foris / Mag dich auch die Gunst paradisischer Blumen erwarten, diese da begehren dich wieder draußen zu sehen.

3.2.5. „Echte“ Gelegenheitsgedichte

345

Überblickt man die behandelten Beispiele, so ergibt sich, dass sie sich alle unter dem Begriff des poetischen Briefs subsumieren lassen, der damit auch im Werk des Venantius Fortunatus keine singuläre Erscheinung darstellt. 90 Zugleich verweist er zumindest in den an Radegunde gerichteten Carmina motivisch wie formal auf klassische Vorbilder91 und überschreitet ihren Rahmen in Hinblick auf einen spezifisch christlichen Sinngehalt. Bei einer Adressatin wie Radegunde konnte Venantius Fortunatus wohl damit rechnen, dass sie dieses Spiel mit literarischen Reminiszenzen und inhaltlicher Überhöhung zu würdigen wusste, wird doch im Einleitungsgedicht des achten Buches die literarische Bildung der Radegunde besonders exponiert.92 Und gerade in dieser Verbindung von literarischen Reminiszenzen mit originären Überhöhungen, die das Vorbild weit hinter sich lassen, zeigt sich auch bei diesen „echten“ Gelegenheitsgedichten des Venantius Fortunatus die Tendenz, als novus Orpheus durch eine innovative Kombinatorik formaler wie inhaltlicher Elemente neue Wege zu beschreiten.

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91 92

Eher als Ausnahmeerscheinung scheint ihn M. ZELZER, Die Briefliteratur, 336 aufzufassen, wenn es heißt: „Unter den Carmina des Venantius Fortunatus († 601) findet sich eine Reihe meistens echter Briefe in poetischer Form; sein Anschluß an klassische Vorbilder zeigt sich etwa darin, daß ein das Kernstück eines Gedichtes (8, 3) bildender ‚Liebesbrief’ einer Nonne an Christus in der Tradition der ovidianischen Heroinenbriefe steht.“ Die Carmina Appendix I und III sind auch formal eindeutig als Briefelegie gestaltet, vgl. dazu die entsprechenden Ausführungen in Kapitel 3. 2. 6 dieser Arbeit. Siehe Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 1, 53–70, vgl. auch die entsprechenden Ausführungen in Kapitel 3. 2. 1. dieser Arbeit.

3.2.6. Hymnen und Elegien (Carmen II, 1–3; 6, App. III) Allgemeine Vorbemerkungen Hymnus und Elegie stellen zwei Gattungen dar, die ein breites formales wie inhaltliches Spektrum abdecken können, so dass es immer wieder zu Überschneidungen mit anderen literarischen Genera kommt. Das gilt besonders für den Hymnus, der eine Entwicklung vom griechischen Hymnos kleitikos über Prosahymnen, die der Enkomiastik zuzuordnen sind, bis zu spezifisch christlichen Formen der Hymnodik aufzuweisen hat.1 Die Elegie ist zwar metrisch festgelegt, deckt aber von ihren Anfängen in der frühgriechischen Literatur über den hellenistischen und lateinischen Bereich ein weites Feld an Thematiken ab, von der Kampfparänese über die Liebeselegie bis zur Trauerelegie und weist zudem Überschneidungen zu der seit dem siebten vorchristlichen Jahrhundert meist ebenfalls im elegischen Distichon abgefassten Epigrammatik auf.2 Doch zunächst zur Hymnodik: 1

2

Über den Hymnus, die Schwierigkeiten seiner Definition und die historische Vielfalt der Formen geben einen kurzen Überblick A. KNITTEL & I. K. KORTING, Hymne, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 4, Tübingen 1998, Sp. 98–106. Vgl. auch K. BERGER, Hellenistische Gattungen im Neuen Testament, ANRW II, 25, 2, Berlin / New York 1984, 1031– 1432, speziell zum Hymnus und seinen Überschneidungen zum Gebet sowie zum Proömium 1149–1173 und T. FUHRER, Hymnos; Hymnus. III. Der christliche Hymnus. A. Begriffsbestimmung. B. Griechisch. C. Lateinisch. D. Mittelalter und Frühe Neuzeit, in: Der Neue Pauly 5 (1998), Sp. 794–797 bzw. W. D. FURLEY, Hymnos, Hymnus. I. Der griechische Hymnos. A. Kulthymnen. B. Literarische Hymnen. C. Isis-Aretalogien, in: Der Neue Pauly 5 (1998), Sp. 788–791, sowie K. THRAEDE, Hymnus, in RAC 16, Sp. 915–946. Ausführlich: M. HENGEL, Christuslied, in: Festschrift J. RATZINGER, St. Ottilien 1987, 357– 404; G. KENNEL, Frühchristliche Hymnen, Neukirchen 1995; J. KROLL, Hymnodik, Darmstadt 1968; M. LATTKE, Hymnus. Materialien zu einer Geschichte der antiken Hymnologie, Freiburg (Schweiz) 1991 (Novum testamentum et orbis antiquus 19); E. NORDEN, Antike Kunstprosa, Leipzig 1915, Ndr. 1995, 841–871; E. NORDEN, Agnostos Theos. Untersuchungen zur Formgeschichte religiöser Rede. Leipzig / Berlin 1913, Ndr. Darmstadt 1956; G. SCHILLE, Frühchristliche Hymnen, Berlin 1965. Zur Elegie allgemein siehe L. ALFONSI & W. SCHMID, Elegie, in: RAC 4 (1959), Sp. 1026– 1061; E. BOWIE, Elegie. I Griechisch. A. Definition. B. Archaische und Klassische Zeit. C. Hellenismus. D. Kaiserzeit. in: Der Neue Pauly 3 (1997), Sp. 969–973 und F. SPOTH, Elegie. II. Lateinische Elegie. A. Anfänge und Gattungscharakteristika. B. Kaiserzeitliche Entwicklung. C. Wirkungsgeschichte, in: Der Neue Pauly 3 (1997), Sp. 973–976 sowie B. FEICHTINGER, Elegie. A. Einleitung. B. Mittellateinische Elegie. C. Neulateinische Elegie (Italien). D. Französische Elegie. E. Englische Elegie. F. Deutsche Elegie, in: Der Neue Pauly 13 (1999), Sp. 943–946. Ausführlich A. DIETZLER, Die Akontios-Elegie des Kallimachos, Greifswald, Diss. phil. 1933; K. STEINMANN (Hrsg.), Venantius Fortunatus. Die Gelesuintha-Elegie. (Carm. VI 5). Text, Übersetzung, Interpretationen. Zürich 1975; W. HERZ, Vergänglichkeit und Tod in der römischen Elegie, Freiburg, Diss. phil. 1955; E. HOLZENTHAL, Das Krankheitsmotiv in der römischen Elegie, Köln, Diss. phil. 1968; G. LIEBERG, I motivi principali dell’ elegia augustea, Prometheus 22 (1996), 115–130; R.

3.2.6. Hymnen und Elegien

347

3.2.6.1. Hymnodik Für Venantius Fortunatus spielt in Tradition der Hymnodik neben den Ursprüngen vor allem die christliche Entwicklung seit Hilarius von Poitiers eine besondere Rolle, die wiederum zu Gattungsdefinitionen seitens christlicher Autoren führte: So definiert Augustin Hymnen als laudes ... Dei cum cantico / Lob Gottes mit Gesang.3 Diese Definition wird von Cassiodor, einem älteren Zeitgenossen des Venantius Fortunatus, erweitert: Hymnus est laus divinitatis, metri alicuius lege composita / Ein Hymnus ist ein Lob der Gottheit, das nach der Regel eines (beliebigen) Metrum abgefasst ist.4 Der Hymnus wird also einerseits vom Adressaten her bestimmt (Gott, was im christlichen Bereich Hymnen sowohl Gott Vater als auch Christus und den Heiligen Geist abdeckt), andererseits nach formalen Kriterien (Cassiodors Vielfalt der Metren, die den Hymnus als poetische Form ausweist) bzw. dem „Sitz im Leben“ oder differenzierter der sozialen Interaktion5 (Augustins Verbindung der Hymnodik mit Gesang verweist auf eine Funktion im liturgischen Kontext). Gerade in diesem Kontext ist die Gestalt des Mailänder Bischofs Ambrosius unter dem Aspekt der Weiterentwicklung der Gattung von eminenter Bedeutung: Ambrosius hatte nämlich in Weiterentwicklung der frühen lateinischen christlichen Hymnen des Hilarius von Poitiers den Hymnus als „Laiengesang“, bei dem die Strophen im Wechsel gesungen werden und der mit einem doxologischen Schluss endet, zum festen Bestandteil der Liturgie gemacht.6 Die Einführung dieser

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MERKELBACH, Die Unschuldserklärungen und Beichten im ägyptischen Totenbuch, in der römischen Elegie und im antiken Roman, Gießen 1987 (Kurzberichte aus den Gießener Papyrus-Sammlungen 43); E. MOSER, Entsprechung benachbarter Worte und Begriffe in der Sprache der römischen Elegiker. Ein Beitrag zum Stil der römischen Elegie, München, Diss. phil 1935; B. PETERSEN, Kommentar zu Tibull’s Todes-Elegie, Freiburg, Diss. phil. 1951; G. PFOHL (Hrsg.), Die griechische Elegie, (Wege der Forschung 129), Darmstadt 1972; A. RAU, Todesklage und Lebensbejahung in der antiken Elegie: Ein Beitrag zur Ursprungsfrage. Tübingen, Diss. phil. 1949; H. RENZ, Mythologische Beispiele in Ovids erotischer Elegie, Tübingen, Diss. phil. 1935; E. RÖMISCH, Studien zur älteren griechischen Elegie, Frankfurt, Diss. phil. 1933; H. WIELAND, Keplers Elegie In obitum Tychonis Brahe. München 1992. Vgl. jetzt auch É. DELBEY, „Stade éthique“, „stade religieux“ dans deux poèmes de Venance Fortunat: VI, 5 et VII, 12, REL 85 (2007), 256–266. Augustinus, Enarrationes in Psalmos, 72, 1, lateinischer Text nach DEKKERS & FRAIPONT CCSL 39, Turnhout 2 1990, 986. Cassiodorus, Expositio in Psalmos, 6, 1, lateinischer Text nach ADRIEN, CCSL 97, Turnhout 1958, 70. Vgl. die drei Kriterien zur Gattungsbestimmung nach F. CAIRNS, Generic Composition in Greek and Roman poetry, Edinburgh 1972, der sozialen Interaktion (social custom), der Spezifik der konstitutiven Elemente sowie der hinreichenden Anzahl deutlicher Exempla. Allgemein dazu G. BERNT, Ambrosius: ‚Hic est deus verus dei’, in: H. BECKER / R. KACZYNSKI (Hrsg.), Liturgie und Dichtung, St. Ottilien 1983, 509–546; M. M. BEYENKA, St. Augustine and the Hymns of St. Ambrose, ABenR 8 (1957), 121–132; J. FONTAINE (Hrsg.), Ambroise de Milan: Hymnes, Paris 1992; H. LEEB, Die Psalmodie bei Ambrosius, Wien 1967; H. J. AUF DER MAUR, Das Psalmenverständnis des Ambrosius, Leiden 1977; J. SCHMITZ, Gottesdienst im altchristlichen Mailand, Bonn 1975; A. STEIER, Untersuchungen

348

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

liturgischen wie formalen Neuerungen erfolgten im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen innerhalb der Mailänder Kirche, bei denen es Ambrosius darum ging, eine neunizäische Position gegenüber der arianisch-homöischen Mehrheit durchzusetzen.7 Die spezifisch ambrosianische Form eines christlichen Hymnus, bei der im augustinischen Sinne der gesungene Vortrag ein konstituierendes Element darstellt, wird von Prudentius aufgegriffen, der seinerseits für die Gattungsentwicklung unter christlichen Vorzeichen einen wichtigen Beitrag leistet, indem er den Hymnus aus dem unmittelbaren gottesdienstlichen Zusammenhang herauslöst.8 Zugleich erweitert er in formaler Hinsicht das ambrosianische Schema von acht vierzeiligen Strophen aus je zwei jambischen Dimetern durch eine Vielzahl anderer Metren und Strophenformen. Lässt sich auf diese Weise anhand der ambrosianischen und prudentinischen Exempla eine „moderne“ Form der Hymnodik mit spezifisch christlichen Inhalten herauskristallisieren, so existieren daneben traditionelle hymnische Formen weiter, deren konstituierende Elemente bis zu den homerischen Götterhymnen zurückverfolgt werden können. Diese stellten bereits literarische Ausprägungen im Sinne eines Proöm zu einem Rhapsodenvortrag9 von ursprünglichen (meist verlorenen) Kultliedern für eine Gottheit dar, deren dreigliedriges Schema für die gesamte Hymnodik charakteristisch werden sollte:10 1. Anrufung der Gottheit mit Namen, Beinamen, Genealogie, Kultstätten des Gottes (invocatio); 2. Anführung der Gründe des Bittstellers für die Anrufung der Gottheit und Prädikationen der Gottheit (praedicatio: partizipial oder in Relativsätzen, erweitert durch einen narrativen Teil in „Du“ oder „Er“ Stil, nach Eduard Norden in pars epica, aretalogia & sanctio unterteilt);11 3. Formulierung der Bitte (precatio). In Abgrenzung zu denen ursprünglich auch als Hymnen bezeichneten und nach ähnlichem Schema komponierten Epinikien deutet sich bereits bei Platon eine Einengung des Begriffes auf einen Gesang zu Ehren eines Gottes an: ..eu)xai\ pro\j qeou\j, o)/noma de\ u(/mnoi e)pekalou=ntai / ...Bitten an die Götter, mit

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über die Echtheit der Hymnen des Ambrosius, Leipzig 1903; A. S. WALPOLE, Notes on the Text of the Hymns of St. Ambrose, JThS 9 (1908), 428–436. Ausführlich zu diesem Konflikt und ihrem theolischem Hintergrund CH. MARKSCHIES, Ambrosius von Mailand und die Trinitätstheologie. Kirchen- und theologiegeschichtliche Studien zu Antiarianismus und Neunizäismus bei Ambrosius und im lateinischen Westen (364–381 n. Chr.), (Beiträge zur historischen Theologie 90), Tübingen 1995. So sind die Hymnen im Liber cathemerinon des Prudentius nach den Tageszeiten angeordnet und verweisen eher in den monastischen Kontext, Hymnen vor ante und post cibum (3 & 4) stehen nicht im gottesdienstlichen Zusammenhang, sondern in dem der gemeinsamen Mahlzeiten. Vgl. FURLEY, Hymnos, Sp. 790. Siehe dazu FURLEY, Hymnos, Sp. 789. E. NORDEN, Agnostos Theos, 143–176.

3.2.6. Hymnen und Elegien

349

Namen werden sie aber als Hymnen bezeichnet,12 obgleich er ihn auch noch als Bezeichnung für Enkomien auf hervorragende Menschen kennt.13 Während in der paganen lateinischen Literatur der Hymnos erstmals in Kultliedern wie dem Carmen Arvale und dem Carmen Saliare greifbar ist, werden literarische Hymnenformen aus griechischen Vorbildern von Catull14 wie Horaz15 übernommen und weiterentwickelt. Bei der christlichen Übernahme der Hymnodik, die sich zunächst im griechischen Bereich vollzieht, spielt die Psalmendichtung des Alten Testaments ebenso eine Rolle wie der Prosahymnus, der schon in den paulinischen Briefen nachweisbar ist.16 Hymnische Gesänge werden bereits im Lukasevangelium zitiert.17 Gegen Ende des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts schließt Clemens von Alexandria seinen Paidagwgo/j mit einem Christushymnus in lyrischen Anapästen ab, im vierten Jahrhundert verfasst Gregor von Nazianz Gedichte in hymnischer Form, bekanntestes Beispiel ist der philosophische Hymnos w)= pa/ntwn e)pe/keina18 Im lateinischen Bereich ist vor Ambrosius auch Hilarius von Poitiers zu nennen, der ein Liber hymnorum in klassischen Metren verfasste, außerdem Marius Victorinus, von dem drei Prosahymnen auf die Trinität erhalten sind, in denen er sich an der Form der Psalmen orientierte. Bei Ausonius findet sich zudem ein hexametrischer Hymnus,19 in dem pagane Form mit christlichem Inhalt verschmilzt, was ebenso auf den Christushymnus des Claudian20 zutrifft.21 Speziell als Neuerer innerhalb der christlichen Hymnodik muss außer dem bereits erwähnten Prudentius, der in seinem Peristephanon neben verschiedenen lyrischen Metra auch die Strophenform ambrosianischer Prägung für Carmina auf Märtyrer nutzte,22 Sedulius gelten. Obwohl von ihm nur zwei Hymnen erhalten sind, zeigen beide doch wesentliche Neuerungen: So wird im ersten das elegische Distichon für die Hymnodik nutzbar gemacht, während im zweiten die ambrosianische Strophenform in Kombination mit einem abecedarischen Akrostichon erscheint. Dieser kurze historische Überblick zeigt, dass sich die christliche Hymnodik vor Venantius Fortunatus im Wesentlichen in drei Hauptkategorien unterteilen lässt:

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Platon, Nomoi, 700b 1f. (Griechischer Text nach der Ausgabe von BURNET, Oxford 1907). Platon, Politeia, 10, 607a, vgl. FURLEY, SP. 788. Catull, Carmen 34 (in glykoneischen Strophen). Horaz, Oden, I, 10; 12; 21; 30; II, 19; III, 18; 25, die anders als das Carmen saeculare losgelöst von einem kultischen Anlass verfasst sind; die Form wird von Horaz mit Hymnen an die Lyra (I, 32) und einen Weinkrug (III, 21) erweitert und ironisiert. Vgl. dazu auch FUHRER, Hymnos, Sp. 792f. Phil 2, 6–11, Hbr 1, 3; Col 1, 15–20, vgl. FUHRER, Hymnos,, Sp. 794. Z. B. Lc 1, 46–55; 1, 68–79; 2, 29–32, vgl. FUHRER, Hymnos, Sp. 794. Gregor von Nazianz, Carm., I, 1, 29, vgl. FUHRER, Hymnos, Sp. 795. Ausonius, Ephem., 3. Claudian, Carm. min., 32. Vgl. dazu FUHRER, Hymnus, Sp. 796. Z. B. Prudentius, Peristephanon, 2 & 5.

350

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

1. Prosahymnen, wie sie bereits in den paulinischen Briefen begegnen; 2. Poetische Hymnen „traditioneller“ Art und in „traditioneller“ Metrik, die nicht unbedingt in den liturgischen Kontext eingebunden sein müssen; 3. „Moderne“ Hymnen, die als Gesang konzipiert, in den liturgischen Kon text eingebunden und an der ambrosianischen Strophenform orientiert sind. Darüber hinaus gibt es natürlich Mischformen, wie die Übertragung der „modernen Strophenform“ auf andere Bereiche bei Prudentius oder die Orientierung von Prosahymnen an den alttestamentlichen Psalmen, die in der Spätantike nicht als Prosa, sondern als Dichtung galten. Dieser Kontext ist zu berücksichtigen, wenn im folgenden Kapitel anhand der Analyse ausgewählter Beispiele der Hymnendichtung des Venantius Fortunatus etwas über die Spezifika seiner Hymnodik zwischen paganer und christlicher Tradition ausgesagt werden soll. Dabei scheidet, da es um das poetische Werk des Venantius Fortunatus geht, die erste Gruppe, die der Prosahymnen, aus.23 Es geht also um die Klassifizierung seiner Hymnendichtung unter den beiden letztgenannten Rubriken, die man plakativ auch als „Tradition“ und „Moderne“ apostrophieren könnte. Als Material für die Untersuchung der fortunatianischen Hymnodik bieten sich die ersten Gedichte des zweiten Buches an, die im Zusammenhang mit der Translation der Kreuzreliquie in das Radegunde-Kloster entstanden sind und die von ihrer Thematik her gleichsam als Zyklus betrachtet werden können.24 Neben der Klassifikation unter den oben genannten Kategorien ist hier auch die Frage nach hymnischen Elementen sowie nach einer möglichen Transgression gattungsspezifischer Elemente zu stellen. Im zweiten Teil des Kapitels soll es dann um die elegische Dichtung des Venantius Fortunatus gehen. Da sich aber vom Metrum her die meisten Carmina des Venantius Fortunatus unter dem Begriff der Elegie subsumieren lassen, wird hier die in römisch paganer Tradition verwurzelte Liebes- und Klageelegie im Vordergrund stehen. Als Beispiel dafür bietet sich ein Carmen an, das im Namen der Radegunde von Venantius Fortunatus verfasst worden ist25 und das wohl auch wie die Kreuzeshymnen im Zusammenhang mit der Translation der Kreuzreliquie steht. Doch zunächst zur Hymnodik und dem ersten Carmen des Kreuzzyklus.

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Elemente, die an einen Prosahymnus erinnern, finden sich allerdings in der Expositio symboli des Venantius Fortunatus, vgl. die entsprechenden Ausführungen in Kapitel 3. 1. 3 dieser Arbeit. Zum historischen Kontext und der Translation der Kreuzesreliquie als Maßnahme der Radegunde, die Position ihres Klosters in Poitiers zu stärken, vgl. die entsprechenden Ausführungen in Kapitel 1. 2. 2. dieser Arbeit. Venantius Fortunatus, Carm., App. III.

3.2.6. Hymnen und Elegien

351

3.2.6.1.1. Carmen II, 1 Der Zyklus der Kreuzgedichte besteht aus sechs Carmina, wenn man statt des unvollendeten Carmen II 5, das vollendete Kreuzgedicht II 5 a hinzurechnet. Davon sind vier Hymnen und zwei Figurengedichte. Die Hymnen26 sollen in diesem Kapitel behandelt werden, die Figurengedichte27 im nächsten. Den Anfang macht ein Gedicht im elegischen Distichon über das Kreuz des Herrn. Es besteht aus neun Distichen: a) Text und Übersetzung Crux benedicta nitet Dominus qua carne Das gesegnete Kreuz erstrahlt, an dem der pependit Herr im Fleische hing atque cruore suo uulnera nostra lauat. und mit seinem Blut unsere Wunden auswusch, Mitis amore pio pro nobis uictima factus und als sanftes Opfer für uns in gnädiger Liebe traxit ab ore lupi qua sacer agnus oues, dem Schlund des Wolfes seine Schafe das heilige Lamm entriss, transfixis palmis ubi mundum a clade redemit 5 wo es mit den daran fixierten Händen die Welt atque suo clausit funere mortis iter. vor dem Untergang erlöste 5 und durch seinen Tod den Weg des Todes verschloss. Hic manus illa fuit clauis confixa cruentis Hier war jene Hand mit blutigen Nägeln befesquae eripuit Paulum crimine, morte Petrum. tigt, welche Paulus vor dem Verbrechen bewahrte, Petrus vor dem Tod. Fertilitate potens, o dulce et nobile lignum, Mächtig bist du durch deine fruchtbare Kraft, o quando tuis ramis tam noua poma geris. 10 süßes und edles Holz, weil du auf deinen Zweigen neue Früchte trägst. 10 Cuius odore nouo defuncta cadauera surgunt, Durch deinen neuen Duft erheben sich verstoret redeunt uitae qui caruere diem. bene Körper, und es kehren zum Leben zurück, welche des Tages entbehrten. Nullum uret aestus sub frondibus arboris huius Niemanden verbrennt die Hitze unter dem Laub luna nec in noctem sol neque meridie. dieses Baumes weder der Mond in der Nacht noch die Sonne am Mittag. Tu plantata micas secus est ubi cursus aquarum Du glänzt, gepflanzt auf der Seite, wo der Lauf 15 der Wasser ist, 15 spargis et ornatas flore recente comas. und breitest dein Haar in frischer Blüte geschmückt aus. 26 27

Venantius Fortunatus, Carm., II, 1–3 & 6. Venantius Fortunatus, Carm., II, 4–5.

352

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

Appensa est uitis inter tua bracchia de qua dulcia sanguineo uina rubore fluunt.

Zwischen deinen Armen hat sich eine Weinranke angehängt, aus der süßer Wein von blutroter Farbe fließt.28

b) Gliederung Das Carmen lässt sich in zwei große Abschnitte gliedern:29 I. V. 1 – 8 Prädikation des Kreuzes durch Christus und sein Erlösungswerk am Kreuz: V. 1 – 2 Christus wäscht durch sein Blut unsere Wunden. V. 3 – 4 Christus als Opferlamm. V. 5 – 6 Erlösung vom Tod durch Christi Tod. V. 7 – 8 Christi erlösende Hand. II. V. 9 – 18 Direkte Prädikation des Kreuzes: V. 9 – 10 Invocatio des Kreuzes, Kreuz als Baum, der neue Früchte trägt. V. 11 – 12 Der Duft des Kreuzes (und seiner Früchte) weckt die Toten auf. V. 13 – 14 Kreuz als locus amoenus I (spendet stets Schatten). V. 15 – 16 Kreuz als locus amoenus II (liegt am Wasser). V. 17 – 18 (Christus als) Weinrebe am Kreuzstamm, aus der blutroter Wein strömt. c) Interpretation Wenn man von der augustinischen Definition ausgeht, die den Hymnus thematisch auf Gott beschränkt und im Gesang ein konstitutives Element sieht,30 ist zu konstatieren, dass dieses Carmen weder direkt an Gott gerichtet ist, noch notwendigerweise gesungen werden musste. Dennoch weist es traditionell hymnische Elemente31 auf, die ihm den Ruf eingebracht haben, dass es sich vielleicht sogar um den

28 29

30 31

Venantius Fortunatus, Carm., II, 1, lateinischer Text nach REYDELLET, I, 49f. Zu der grundsätzlichen Zweiteilung der Gliederung siehe auch J. SZÖVÉRFFY, Venantius Fortunatus and the Earliest Hymns to the Holy Cross, Classical folia 20 (1966), 107–122, hier 119. Hymni laudes sunt Dei cum cantico / Hymnen sind Lob Gottes mit Gesang, Augustinus, Enarrationes in Psalmos, 72, 1, lateinischer Text nach DEKKERS & FRAIPONT CCSL 39, 986. Zu den traditionell hymnischen Elementen vgl. NORDEN, Agnostos Theos, 202ff. Dass eine Abgrenzung zwischen „griechischen“ und „orientalischem“ Hymnenstil, wie Norden sie vornimmt, nicht so einfach möglich ist, darauf weist BERGER, Hellenistische Gattungen im Neuen Testament, 1163–1169 hin. Zum Aufbau des griechischen Hymnus auch BERGER 1151–1163. Eine der ältesten Hymnenformen stellt der sogenannte Hymnos kletikos dar.

3.2.6. Hymnen und Elegien

353

ältesten lateinischen Hymnus im elegischen Metrum handelt.32 Wenn die überlieferte Reihenfolge der Kreuzgedichte allerdings der Reihenfolge ihrer Entstehung entspräche, handelte es sich wohl um eines der ältesten, vielleicht das älteste Kreuzgedicht in lateinischer Sprache. Die Übertragung der Hymnenform auf einen Gegenstand geschieht hier nicht parodistischer Absicht wie beim Hymnus des Horaz auf einen Weinkrug,33 sondern organisch, da das Kreuz hier stellvertretend für Christus besungen wird, dessen Erlösungswerk nicht nur das Thema der ersten Gedichthälfte bildet,34 sondern auch die Ursache dafür darstellt, dass die direkten Prädikationen im zweiten Teil35 überhaupt erfolgen können. Diese Christusthematik wird im zweiten Teil zudem noch dadurch verdeutlicht, dass der Dichter im letzten Distichon36 mit dem Bild von der Weinranke und dem blutroten Wein metaphorisch auf Christus und sein Blut, das zur Erlösung unserer Sünden vergossen wurde, zurückkommt und damit auf das erste Distichon, wo genau das thematisiert wurde. 37 Der Anfang des ersten Verses (Crux benedicta nitet / Das gesegnete Kreuz erstrahlt) ersetzt dabei die klassische invocatio. Wie üblich folgt auch hier eine Reihe von relativischen Prädikationen, welche die ersten drei Distichen ausnehmen.38 Das MENANDER RHETOR, Diairesis ton epideiktikon, 333, definiert ihn so (griechischer Text nach RUSSELL / WILSON, Oxford 1981, 6): klhtikoiì

me\n

ouÅn

toiÍj aÃlloij melikoiÍj,

o(poiÍoi¿ ei¹sin

oi¸ polloiì tw½n te para\ tv=

klh=sin eÃxontej pollw½n qew½n. /

SapfoiÍ hÄ

¹Anakre/onti hÄ

Hymnoi kletikoi sind von der Art wie

die meisten Hymnen von Sappho, Anakreon oder den anderen Lyrikern, sie enthalten das Herbeirufen vieler Gottheiten. Und (334–335, griechischer Text nach RUSSELL / WILSON, 8–10): ...me/tron me/ntoi tw½n klhtikw½n uÀmnwn e)n me\n poih/sei e)pimhke/steron. a)namimnh/skein ga\r pollw½n to/pwn e)kei¿noij eÃcestin, w¨j para\ tv= SapfoiÍ kaiì t%½ ¹Alkma=ni pollaxou= eu(ri¿skomen. o( me\n ga\r ãArtemin e)k muri¿wn o)re/wn, muri¿wn de\ po/lewn, eÃti de\ potamw½n a)nakaleiÍ, h( de \ ¹Afrodi¿thn Ku/prou, Kni¿dou, Suri¿aj, pollaxo/qen a)llaxo/qen a)nakaleiÍ. ou) mo/non ge, a)lla\ kaiì tou\j to/pouj au)tou\j eÃcesti diagra/fein, oiâon ei¹ a)po\ potamw½n kaloi¿h, uÀdwr hÄ oÃxqaj kaiì tou\j u(popefuko/taj leimw½naj kaiì xorou\j e)piì toiÍj potamoiÍj ginome/nouj kaiì ta\ toiau=ta prosanagra/fousi. kaiì ei¹ a)po\ i¸erw½n, w¨sau/twj, / … Die Spannbreite der Hymnoi kletikoi ist in der Dichtung größer (als in Prosa). Für jene (Dichter) ist es nämlich möglich, viele Orte zu erwähnen, wie wir sie bei Sappho und Alkman allenthalben finden. Der ruft nämlich Artemis von unzähligen Bergen und unzähligen Städten herbei, diese Aphrodite Zypern, Knidos, Syrien und immer von irgendwo anders herbei. Aber nicht nur das: Es ist auch möglich die Orte selbst zu beschreiben, wenn z. B. die Gottheit von Flüssen herbeigerufen wird, fügen sie eine Beschreibung des Wassers oder der Hügel oder der Wiesen, die sich am Ufer erstrecken, und der Reigentänze, die dort stattfinden, und derartige Dinge hinzu. Und wenn sie von Heiligtümern herbeigerufen wird, verfahren sie ebenso, so dass ihre Hymnoi kletikoi notwendigerweise lang werden… So SZÖVÉRFFY, Earliest Hymns to the Holy Cross, 118. Bei dieser Deutung muss man allerdings Sedulius seine beiden Hymnen absprechen, denn sonst ist sein erster Hymnus, der ebenfalls im elegischen Distichon verfasst ist, natürlich älter. Horaz, Oden, III, 21. Vers 1–8. Vers 9–18. Vers 17f. Vers 1f. Vers 1–6: Crux benedicta nitet Dominus qua carne pependit / atque cruore suo uulnera nostra lauat. / mitis amore pio pro nobis uictima factus / traxit ab ore lupi qua sacer agnus oues, transfixis palmis ubi mundum a clade redemit / atque suo clausit funere mortis iter. /

wÐste a)na/gkh makrou\j au)tw½n

32

33 34 35 36 37 38

354

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

Lob des Kreuzes begründet sich darin, dass an ihm der inkarnierte Jesus hing und durch seinen Tod das Erlösungswerk vollbrachte.39 Zusammen mit dem vierten Distichon, das eine Prädikation im Aussagestil beinhaltet,40 evoziert es wichtige Stationen aus der Heilsgeschichte und erhält damit narrativen Charakter, so dass man gleichsam von einer Aretalogie in nuce sprechen könnte. Wie eine Überschrift des ganzen Teils wirkt das erste Distichon, das von Venantius Fortunatus durch das Paradoxon, dass Christus unsere Wunden / uulnera nostra durch sein Blut / cruore suo auswäscht / lauat,41 exponiert wird, wobei die Präsensform lauat deutlich macht, dass die Wirkung dieses Erlösungswerks bis in die Gegenwart anhält. Möglich wird dieses Erlösungswerk nur durch Christi Tod am Kreuz, der daher in den nächsten beiden Distichen im Vordergrund steht.42 Aufgrund der vorauszusetzenden Vertrautheit eines christlichen Publikums mit der Passionsgeschichte reicht es aus, das Geschehen hier nur anzudeuten und es mit Rekurs auf entsprechende Bibelstellen zugleich zu interpretieren: Christus wird zum Opfer(tier) / uictima und zwar für uns (pro nobis) aus seiner gnädigen Liebe / amore pio zu den Menschen.43 Er wird als heiliges Lamm / sacer agnus bezeichnet, das seine Schafe vor dem Mund des Wolfes / ab ore lupi rettet,44 eine paradoxe Formulierung, die das traditionell christliche Bild von Christus als wahres Paschalamm mit dem des guten Hirten45 verbindet und dadurch das Exzeptionelle des Vorgangs unterstreicht. Seine Hände sind am Kreuz fixiert,46 die Wirkung wird durch das Paradoxon, dass er durch seinen Tod / suo funere den mortis iter / Weg des Todes (der anderen) für immer verschlossen hat / clausit.47 Abgeschlossen wird dieser durch ein Distichon, das, obwohl es am deutlichsten narrativ gestaltet ist, ebenfalls nur Anspielungen enthält, nämlich auf die Wandlung des Saulus in Paulus48 und die Errettung des Petrus, als er versuchte, Jesus über das Wasser zu folgen.49

39 40

41 42 43 44 45 46 47 48 49

Das gesegnete Kreuz erstrahlt, an dem der Herr im Fleische hing / und mit seinem Blut unsere Wunden auswusch, / und als sanftes Opfer für uns in gnädiger Liebe / dem Schlund des Wolfes seine Schafe das heilige Lamm entriss, / wo er mit den daran fixierten Händen die Welt vor dem Untergang erlöste (5) und durch seinen Tod den Weg des Todes verschloss. Vers 1f. Vers 7f.: Hic manus illa fuit clauis confixa cruentis / quae eripuit Paulum crimine, morte Petrum / Hier war jene Hand mit blutigen Nägeln befestigt, / welche Paulus vor dem Verbrechen bewahrte, Petrus vor dem Tod. Vers 2. Vers 3–6. Vers 3. Vers 4. Für den prägnanten Gegensatz agnus – lupus siehe Io 10, 12 bzw. Mt 10, 16; Lc 10, 3, vgl. auch SZÖVÉRFFY, Earliest Hymns to the Holy Cross, 119, Anm. 4. Vgl. Io 10, 11–21. Venantius Fortunatus, Carm., II, 1, 5. Vers 6. Ac 9, 1–22. Mt 14, 22–33.

3.2.6. Hymnen und Elegien

355

Das folgende Distichon, das mit der unmittelbaren Anrede an das Kreuz den zweiten Hauptteil einleitet, beginnt mit einer klassischen invocatio, die durch adjektivische und relativische Prädikationen ergänzt wird: Fertilitate potens, o dulce et nobile lignum, quando tuis ramis tam noua poma geris. 10

Mächtig bist du durch deine fruchtbare Kraft, o süßes und edles Holz, weil du auf deinen Zweigen neue Früchte 10 trägst. 50

Durch die doppelte Metonymie des Begriffs lignum / Holz sowohl in Sinne von Baum51 als auch im Sinne von Kreuz52 kann von Fruchtbarkeit / fertilitas und neuen Früchten / noua poma gesprochen werden,53 so dass bereits auf der begrifflichen Ebene das Kreuz zum Symbol des Lebens wird. Mit Anspielung auf das Lob der Weisheit54 strömt das Kreuz wie ein Baum einen Duft aus, der (durch Christi Erlösungswerk) in der Lage ist, die Leichname der Verstorbenen aufzuwecken,55 wobei der Gegensatz zwischen dem Kreuz als Symbol des Lebens und dem Tod gerade im Paradoxon des Pentameters exponiert wird. Venantius Fortunatus verbindet das mit einer kombinierten Vorstellung von Paradiesgarten und klassischem locus amoenus, in dem die Hitze niemanden bedrückt und auch die Zeit aufgehoben ist.56 Die Kombination der Vorstellungen setzt sich im nächsten Distichon fort, wobei die für den locus amoenus obligatorische sprudelnde Quelle durch die Nähe des Baumes zu den Paradiesflüssen ersetzt wird:57 Wie der Baum des Lebens im Paradies steht auch das Holz, aus dem das Kreuz gemacht wurde, ursprünglich an 50 51

52 53 54

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56

57

Vers 9f. Vgl. OLD s. v. Diese Verwendung findet sich schon bei Vergil, Aen., XII, 767, dort sogar in der Verbindung mit dem Attribut venerabile / verehrungswürdig, das eine ähnliche Sinnrichtung hat wie dulce et nobile / süß und edel bei Venantius Fortunatus. So schon bei Augustin, serm. 2, 5. Bei Augustin findet sich auch schon die Verbindung mit dem Attribut fructiferus, ligna fructifera, Augustin, Confessiones, VII, 13. Ec 24, 19–21 quasi oliva speciosa in campis et quasi platanus exaltata sum iuxta aquam in plateis / sicut cinnamomum et balsamum aromatizans odorem dedi quasi murra electa dedi suavitatem odoris / et quasi storax et galbanus et ungula et gutta et quasi libanus non incisus vaporavi habitationem meam et quasi balsamum non mixtum odor meus (Vulgata) / wie eine prächtige Olive auf den Feldern und wie eine Platane stehe ich erhöht neben dem Wasser an den Gestaden / wie Zimt und Balsam strömte ich einen Duft aus wie erlesene Myrrhe gab ich süßen Duft von mir / und wie duftendes Storax- und Galbanharz und Myrrhen- und Duftöl und wie unbeschnittener Weihrauch hüllte ich mein Haus in Räucherdunst und wie unvermischter Balsam ist mein Duft. Venantius Fortunatus, Carm., II, 1, 11f.: Cuius odore nouo defuncta cadauera surgunt, / et redeunt uitae qui caruere diem / Durch deinen neuen Duft erheben sich verstorbene Körper / und es kehren zum Leben zurück, welche des Tages entbehrten. Vgl. Mt 27, 52 (Öffnung der Gräber beim Tode Jesu). Venantius Fortunatus, Carm., II, 1, 12f.: Nullum uret aestus sub frondibus arboris huius / luna nec in noctem sol neque meridie. / Niemanden verbrennt die Hitze unter dem Laub dieses Baumes / weder der Mond in der Nacht noch die Sonne am Mittag. Vgl. Gn 2, 9–14.

356

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

den Läufen von Wasser.58 Konsequent in der Bildebene verbleibend, verbindet Venantius Fortunatus die Vorstellung des paradiesischen Lebensbaums mit der neutestamentarischen von Jesus als wahrem Weinstock,59 der sich um den Lebensbaum rankt und dessen Trauben von blutroter Farbe sind und damit wiederum auf Jesu Blut anspielen,60 womit er ringkompositorisch Bezug auf den Anfang nimmt und das Bild der Erlösung (Jesu Blut, das unsere Wunden wäscht)61 in eins des Lebens überführt und damit interpretiert: Der Kreuzestod Jesu schenkt wie eine Weinrebe am Lebensbaum wahres Leben. Während also in den ersten vier Distichen das Erlösungswerk Christi im Vordergrund steht und narrative Elemente eingefügt sind, wird das Kreuz in den letzten fünf Distichen direkt angesprochen. Die Prädikationen bleiben dabei in der Bildebene des Kreuzes als Baum, verweisen aber zugleich auf alt- wie neutestamentarische Vorstellungen, wodurch der Opfertod Christi (das Thema der ersten vier Distichen) als Ursache und Beginn eines zukünftigen wahren Lebens interpretiert wird. Betrachtet man dieses Carmen unter den Aspekten von „Tradition“ und „Moderne“ innerhalb der Hymnodik, so weist es zahlreiche traditionelle Elemente im Bereich der Invokationen und Prädikationen auf. Andererseits bricht es die Tradition auf, nämlich durch die Verwendung des elegischen Distichons als Metrum (wofür zuvor wohl allein der erste Hymnus des Sedulius als Vorbild betrachtet werden kann) und macht statt Gott (oder auch eines Heiligen) einen Gegenstand zum Thema des Hymnus, durch den aber indirekt Christus gerühmt wird. 3.2.6.1.2. Carmen II, 2. Ganz den „modernen“ Hymnenformen in der Nachfolge eines Hilarius (Hymnus III) ist das zweite Carmen des Zyklus verpflichtet. Während das oben behandelte erste in elegischem Distichon abgefasst ist und man sich einen Vortrag bei Ankunft der Reliquie noch vor der Überführung ins Kloster der Radegunde vorstellen kann, ist dieses in trochäischen Septenaren, dem Rhythmus römischer Militärmärsche, verfasst, so dass die Vermutung nahe liegt, es sei während der Prozession zur Überführung der Kreuzesreliquie gesungen worden.62 Das Carmen wurde durch seine Aufnahme in das römische Brevier zum Gesang am Karfreitag neben dem Hymnus Vexilla regis zu Venantius Fortunatus’ bekanntestem Werk.

58

59 60

61 62

Venantius Fortunatus, Carm., II, 1, 15f.: Tu plantata micas secus est ubi cursus aquarum / spargis et ornatas flore recente comas / Du glänzt, gepflanzt auf der Seite, wo der Lauf der Wasser ist, / und breitest dein Haar in frischer Blüte geschmückt aus. Io 15, 1–8. Venantius Fortunatus, Carm., II, 1, 17f.: Appensa est uitis inter tua bracchia de qua / dulcia sanguineo uina rubore fluunt. / Zwischen Deinen Armen hat sich eine Weinranke angehängt, aus / der süßer Wein von blutroter Farbe fließt. Vers 2. Siehe dazu REYDELLET, I, 50 Anm. 7.

3.2.6. Hymnen und Elegien

357

a) Text und Übersetzung Pange lingua gloriosi proelium certaminis et super crucis tropeo dic triumphum nobilem, qualiter redemptor orbis immolatus uicerit.

Besinge, Zunge, das Schlachtgetümmel des glorreichen Kampfes und nenne darüber hinaus den glänzenden Triumph am Siegesmal des Kreuzes, wie nämlich der Erlöser der Welt, als er geopfert war, gesiegt hat.

De parentis protoplasti fraude factor condolens, quando pomi noxialis morte morsu corruit. 5 ipse lignum tunc notauit, damna ligni ut solueret.

Weil der Schöpfer Mitleid für die Sünde des erstgeschaffenen Vaters empfand, als er (der Vater) durch den Biss in die schädliche Frucht im Tode stürzte, 5 da bezeichnete er selbst den Baum, um von der Sünde des Baumes zu erlösen.

Hoc opus nostrae salutis ordo depoposcerat multiformis perditoris arte ut artem falleret et medellam ferret inde, hostis unde laeserat.

Dieses Werk für unsere Erlösung hatte die göttliche Ordnung gefordert, um die List des vielgestaltigen Verderbers mit List zu täuschen, und dort Medizin zu bringen, wo der Feind die Wunde geschlagen hatte.

Quando uenit ergo sacri plenitudo temporis 10 missus est ab arce patris natus orbis conditor. atque uentre uirginali carnefactus prodiit.

Als also die Vollendung der heiligen Zeit kam, 10 wurde von der Burg des Vaters der Sohn, der Schöpfer der Welt, geschickt, und ging, Fleisch geworden, aus einem jungfräulichen Schoß hervor.

Vagit infans inter arta conditus praesepia, Membra pannis inuoluta uirgo mater adligat et pedes manusque crura stricta pingit fascia 15

Als kleines Kind schreit er unter uns, geborgen in einer engen Krippe, die jungfräuliche Mutter wickelte seine Glieder in Windeln, und eine feste Binde zierte Füße, Hände und Schenkel. 15

358

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

Lustra sex qui iam peracta tempus inplens corporis se uolente natus ad hoc, passioni deditus, agnus in crucis leuatur immolandus stipite.

Als er schon sechs Lustren im Körper gelebt hat, unterwirft er sich aus freiem Willen, weil er dazu geboren ist, der Passion, und wird als Opferlamm am Stamm des Kreuzes emporgehoben.

Hic acetum fel harundo sputa claui lancea. Mite corpus perforatur, sanguis unda profluit, 20 terra pontus astra mundus quo lauatur flumine.

Hier sind Essig, Galle, Rute, Spucke, Nägel und Lanze. Der zahme Körper wird durchstoßen, Blut und Wasser strömt hervor, 20 mit dem Erde, Meer, die Sterne und die Welt gewaschen werden.

Crux fidelis, inter omnes arbor una nobilis, nulla talem silua profert flore fronde germine, dulce lignum dulce clauo dulce pondus sustinens,

Treues Kreuz, unter allen Bäumen als einziger edel, kein Wald bringt einen Baum von solcher Blüte, Laub und Frucht hervor, süßer, süßer Baum, der du mit dem Nagel ein süßes Gewicht hältst.

Flecte ramos, arbor alta, tensa laxa uiscera 25 et rigor lentescat ille quem dedit natiuitas, ut superni membra regis mite tendas stipite.

Neige deine Zweige, hoher Baum, löse dein ausgespanntes Fleisch, 25 und jene Starre, welche die Geburt dir gab, soll biegsam werden, dass du an Deinem Stamm sanft die Glieder des himmlischen Königs ausstreckst.

Sola digna tu fuisti ferre pretium saeculi atque portum praeparate nauta mundo naufrago quem sacer cruor perunxit fusus agni corpore. 30

Du allein warst würdig, das Lösegeld für die Welt zu tragen, und als Schiffer der schiffbrüchigen Welt einen Hafen zu bereiten, welche das heilige Blut, vergossen vom Körper 30 des Lammes, salbte. 63

b) Gliederung Der Hymnus weist ein dreigliedriges Schema auf,64 das sich grundsätzlich an der traditionellen Gliederung in invocatio, praedicatio und precatio orientiert. Überlagert wird es von einem zweigliedrigen Schema, einen Teil über die Heilsgeschichte und einem, der sich direkt an das Kreuz wendet:

63 64

Venantius Fortunatus, Carm., II, 2, lateinischer Text nach REYDELLET, I, 50–52. Vgl. dazu SZÖVÉRFFY, Earliest Hymns to the Holy Cross, 111.

3.2.6. Hymnen und Elegien

I. V. 1 – 9 (1. – 3. Strophe) V. 1 – 3 (1. Strophe)

V. 2 – 6 (2. Strophe) V. 7 – 9 (3. Strophe) II. V. 10 – 21 (4. – 7. Strophe) V. 10 – 14 (4. – 5. Strophe) V. 15 – 21 (6. – 7. Strophe) III. V. 22 – 30 (8. – 10. Strophe) V. 22 – 24 (8. Strophe) V. 25 – 27 (9. Strophe) V. 28 – 30 (10. Strophe)

359

Triumph des Kreuzes: Invokation der Zunge, die den Triumph des Kreuzes durch den Opfertod Christi besingen soll. Sündenfall und seine Folge: der Tod. Heilsnotwendigkeit: Erlösung durch das Kreuz. Christusaretalogie: Geburt Christi. Kreuzigung Christi. Prädikation und Prekation des Kreuzes: Invokation des Kreuzes & adjektivische Prädikationen. Prekation des Kreuzes, sich biegsam zu machen. Prädikation des Kreuzes als nauta, der die Welt in den Hafen steuert.

c) Interpretation Strophen- und Verszahl des Hymnus weisen eine zahlensymbolische Komponente auf: Er besteht aus zehn Strophen von je drei Versen, was den sechs (vollständigen) Lustren entspricht, die Jesus inkarniert auf der Erde verbracht hat. 65 Die artifizielle Struktur äußert sich schon in der Gliederung, wo sich ein dreigliedriges Schema66 mit einem zweigliedrigen überlagert; die gerade Anzahl der Strophen ermöglicht zudem einen Wechselgesang, welcher seinerseits diese beiden Grundschemata überlagert: Bei der Gliederung in zwei Hauptteile muss man zwischen einem heilsgeschichtlichen Part und dem direkten Kreuzeslob differenzieren, wobei nach einer Einleitung,67 die ähnlich wie im ersten Carmen des Zyklus68 gleichsam als Überschrift das Thema nennt, der erste längere Abschnitt die Vorgeschichte und das Leben Jesu bis zur Passion am Kreuz zum Thema hat,69 während der Schluss70 das Kreuz direkt anspricht: Anders als im vorangegangen Carmen enthält dieser Schlussteil eine Bitte an das Kreuz, die allerdings nicht im Interesse des Sprechers 65 66 67 68 69 70

Vers 16. Siehe oben unter Abschnitt b). Vers 1–3. Venantius Fortunatus, Carm., II, 1. Venantius Fortunatus, Carm., II, 2, 4–21. Vers 22–30.

360

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

formuliert ist.71 Es handelt sich zwar um das hymnische Element der precatio, das hier aber in eine literarische Spielform überführt wird. Der hymnischen Aretalogie, in der ein Stück des Mythos der Gottheit erzählt wird, entsprechen die Strophen über Jesus und sein Erlösungswerk,72 innerhalb der Zweiteilung erscheinen sie erweitert um die Vorgeschichte des Sündenfalls.73 Zur Transgression des üblichen Schemas nutzt Venantius Fortunatus den Marschliedrhythmus des trochäischen Septinars und lässt in der Einleitungsstrophe militärisches Vokabular dominieren:74 Pange lingua gloriosi proelium certaminis et super crucis tropeo dic triumphum nobilem, qualiter redemptor orbis immolatus uicerit.

Besinge, Zunge, das Schlachtgetümmel des glorreichen Kampfes und nenne darüber hinaus den glänzenden Triumph am Siegesmal des Kreuzes, wie nämlich der Erlöser der Welt, als er geopfert war, gesiegt hat.

Dabei steht der redemptor orbis immolatus / der Erlöser der Welt, als er geopfert war75 in einer paradoxen Antithese sowohl zum Inhalt als auch zum Rhythmus, wodurch das Erlösungswerk selbst exponiert wird. Auf inhaltlicher Ebene setzen sich diese Paradoxien fort, wenn – wie schon im Gedicht zuvor – mit dem Begriff lignum für das Kreuz gespielt wird, wobei es diesmal im Zusammenhang mit der Schilderung des Sündenfalls,76 für eine paradoxe Aussage in Anspielung auf die beiden Bäume des Lebens und der Erkenntnis im Paradies77 genutzt wird: Gott bezeichnet selbst den Baum, aus dem das Kreuz gemacht wird (und der die Funktion eines neuen Baums des Lebens hat), um von der Sünde, die durch das Kosten vom Baum der Erkenntnis ausgelöst wurde, zu erlösen. Die entscheidende Konsequenz des Sündenfalls, die Sterblichkeit des Menschen wird dabei durch das alliterierende morte morsu78 hervorgehoben, durch den Biss (in die schädliche Frucht) stürzt der Mensch im Tode. Die Aretalogie kann sich wie in Carmen II, 1 (da die Heilsgeschichte beim Rezipienten als bekannt vorausgesetzt werden darf) auf die Evokation bestimmter Elemente beschränken: In diesem (im Vergleich zum vorangegangen Carmen aus71

72 73 74 75 76

77 78

Vers 25–27: Flecte ramos, arbor alta, tensa laxa uiscera / et rigor lentescat ille quem dedit natiuitas, / ut superni membra regis mite tendas stipite / Neige deine Zweige, hoher Baum, löse dein ausgespanntes Fleisch, / und jene Starre, welche die Geburt dir gab, soll biegsam werden, / dass du an Deinem Stamm sanft die Glieder des himmlischen Königs ausstreckst. Vers 13–21. Vers 4–12. Vers 1–3. Vers 3. Vers 4–6: De parentis protoplasti fraude factor condolens, / quando pomi noxialis morte morsu corruit. / ipse lignum tunc notauit, damna ligni ut solueret / Weil der Schöpfer Mitleid für die Sünde des erstgeschaffenen Vaters empfand, / als er (der Vater) durch den Biss in die schädliche Frucht im Tode stürzte, / da bezeichnete er selbst den Baum, um von der Sünde des Baumes zu erlösen. Gn 2, 9. Venantius Fortunatus, Carm., II, 2, 5.

3.2.6. Hymnen und Elegien

361

führlicheren) narrativen Teil wird zudem ein größeres Gewicht auf die theologische Dimension der einzelnen Elemente gelegt, was sich insbesondere beim Sündenfall zeigt: Hoc opus nostrae salutis ordo depoposcerat multiformis perditoris arte ut artem falleret et medellam ferret inde, hostis unde laeserat.

Dieses Werk für unsere Erlösung hatte die göttliche Ordnung gefordert, um die List des vielgestaltigen Verderbers mit List zu täuschen, und dort Medizin zu bringen, wo der Feind die Wunde geschlagen hatte. 79

Durch die List des Verderbers / perditoris ars,80 der auch als Feind / hostis81 bezeichnet wird und multiformis / in vielen Gestalten82 auftritt, erfolgt eine Verletzung der göttlichen Ordnung / ordo,83 die wieder herzustellen ist. Diese List des Verderbers muss wiederum durch List / arte getäuscht werden.84 Dahinter steht wohl die später in der Descensus-Literatur breit ausgemalte Vorstellung, dass Jesus am Kreuz stirbt, damit in die Unterwelt kommt und so die Möglichkeit hat, die Seelen aus der Unterwelt zu befreien. Da der Feind kein Interesse daran haben kann, die Seelen der Verstorbenen freizugeben, ist Christi Tod für ihn kontraproduktiv, und obwohl er auf seine Verurteilung und Hinrichtung hingearbeitet hat, erweist sie sich letztlich als List, die Gottes Heilsplan zur Verwirklichung verhilft. Auf diese Erfüllung des göttlichen Heilsplans weist auch die nächste Strophe ausdrücklich hin:85 Zur rechten Zeit wird der Sohn vom Vater in die Welt geschickt, wobei durch das Paradoxon, dass der Schöpfer der Welt / orbis conditor in sie geschickt wurde / missus est86 die theologisch bedeutsame Einheit von Vater und Sohn (der Vater wurde zuvor auch als factor / Schöpfer bezeichnet)87 exponiert wird. Ebenso wird ein besonderes Gewicht auf die Jungfrauengeburt (betont durch das alliterierende uentre uirginali / aus jungfräulichen Schoß) und die tatsächliche Leibwerdung Christi (carnefactus / Fleisch geworden) gelegt,88 so dass hier orthodoxe Glaubensinhalte im Hymnus repetiert werden, was eine Hauptfunktion der ambrosianischen Hymnen darstellt.89 Aufgrund der theologischen Dimension haben diese drei Strophen, die der Inkarnation Christi zeitlich vorausgehen, nicht nur narrativen, sondern auch argumen-

79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89

Vers 7–9. Vers 8. Vers 9. Vers 8. Vers 7. Vers 8. Vers 10–12. Vers 11. Vers 4. Vers 12. Vgl. KNITTEL / KORDING, Hymne, Sp. 100f.

362

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

tativen Charakter und begründen die Heilsnotwendigkeit theologisch wie historisch. Aus der Heilsnotwendigkeit ergibt sich die eigentliche Heilsgeschichte, die den zweiten Teil des Hymnus (bzw. den zweiten Teil der narratio) ausmacht: Sie liefert eine Kurzbiographie des inkarnierten Christus. Auch hier dominiert die theologische Dimension, wenn sie sich auf Geburt90 und Kreuzigung91 beschränkt. So wird gegen häretische Ansätze die Gottmenschlichkeit Christi schon in der Krippenszene unterstrichen: Quando uenit ergo sacri plenitudo temporis 10 Als also die Vollendung der heiligen Zeit kam, missus est ab arce patris natus orbis conditor. 10 atque uentre uirginali carnefactus prodiit. wurde von der Burg des Vaters der Sohn, der Schöpfer der Welt, geschickt, und ging, Fleisch geworden, aus einem jungfräulichen Schoß hervor. Vagit infans inter arta conditus praesepia, Als kleines Kind schreit er unter uns, geborgen Membra pannis inuoluta uirgo mater adligat in einer engen Krippe, et pedes manusque crura stricta pingit fascia15 die jungfräuliche Mutter wickelte seine Glieder in Windeln, und eine feste Binde zierte Füße, Hände und 15 Schenkel. 92

Gerade die Verwendung des Begriffes uagire / schreien93 macht das Jesuskind menschlich und nimmt ihm sämtliche doketistischen Züge. Zugleich wird die Jungfräulichkeit seiner Mutter und damit seine göttliche Natur in der Wendung uirgo mater / junfräuliche Mutter94 noch einmal deutlich herausgestellt. Nachdem also durch Schilderung der Geburt die theologisch relevante Frage nach der Natur Christi als Gott und Mensch im orthodoxen Sinne beantwortet ist, springt die Kurzbiographie zum zweiten und entscheidenden Ereignis in der Inkarnation Christi, der Passion und dem Tod am Kreuz. Auch hier zeigt sich die Dominanz der theologischen Dimension: Lustra sex qui iam peracta tempus inplens corporis se uolente natus ad hoc, passioni deditus, agnus in crucis leuatur immolandus stipite.

90 91 92 93 94 95

Als er schon sechs Lustren im Körper gelebt hat, unterwirft er sich aus freiem Willen, weil er dazu geboren ist, der Passion, und wird als Opferlamm am Stamm des Kreuzes emporgehoben. 95

Venantius Fortunatus, Carm., II, 2, 10–15 (4.–5. Strophe). Vers 16–21 (6.–7. Strophe). Vers 10–15. Vers 13. Vers 14. Vers 16–18.

3.2.6. Hymnen und Elegien

363

Die von der göttlichen Ordnung / ordo96 vorgesehenen sechs Lustren im Körper hat er erfüllt / inplens,97 und unterwirft sich aus freiem Willen / se uolente98 der Passion, was durch das Paradoxon, dass er dazu geboren ist / natus ad hoc99 wie durch die Anfangsstellung wiederum deutlich exponiert wird. Ein Paradoxon liegt auch darin, dass das Opferlamm / agnus immolandus am Stamm des Kreuzes emporgehoben wird / crucis ... leuatur ... stipite.100 Die in Tradition des jüdischen Paschalamms erfolgte Opferung stellt also gleichsam eine Erhöhung dar; möglicherweise ist auch auf die Mittlerfunktion Christi am Kreuz angespielt, wie in der Expositio symboli des Venantius Fortunatus.101 Die Schilderung von Passion und Kreuzigung, die das Ende dieses Abschnittes darstellt, evoziert das Geschehen durch Rekurs auf die Arma Christi:102 Hic acetum fel harundo sputa claui lancea. Mite corpus perforatur, sanguis unda profluit, 20 terra pontus astra mundus quo lauatur flumine.

Hier sind Essig, Galle, Rute, Spucke, Nägel und Lanze. Der zahme Körper wird durchstoßen, Blut und Wasser strömt hervor, 20 mit er Erde, Meer, die Sterne und die Welt gewaschen werden. 103

Damit ist eine symbolisch metaphorische Ebene erreicht, wobei der Gedanke der Reinigung der Welt durch das Blut, das aus den Wunden Christi strömt,104 der sich bereits in Carmen II, 1 gleich zu Beginn105 findet, erweitert und bis zu den Sternen geographisch verortet wird (terra, pontus, astra, mundus / Erde, Meer, Sterne und die Welt).106 Die symbolisch metaphorische Ebene dominiert im letzten Teil, der precatio, in der das Kreuz direkt angesprochen wird. Wie schon in Carmen II, 1 wird hier der Begriff lignum in der doppelten Bedeutung von Baum und Kreuz verwendet,107 so dass das Kreuz Blüten, Blätter und Früchte tragen kann:108 Den 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108

Vgl. Vers 7. Vers 16. Vers 17. Vgl. dazu auch REYDELLET, I, 181, Anm. 13. Vers 17. Vers 18. Vgl. Venantius Fortunatus, Carm., XI, 1, (25), 256, Z. 9–15 bei LEO, MGH, AA, IV, 1 und die entsprechenden Ausführungen in Kapitel 3. 1. 3 dieser Arbeit. Ausführlich zu den Arma Christi und ihrer Rezeption bis ins Mittelalter siehe R. BERLINER, Arma Christi, MüJb 6 (1955), 33–152. Venantius Fortunatus, Carm., II, 2, 19–21. Vers 20f. Venantius Fortunatus, Carm., II, 1, 2. Venantius Fortunatus, Carm., II, 2, 21. Vgl. Venantius Fortunatus, Carm., II, 1, 9. Venantius Fortunatus, Carm., II, 2, 22–24: Crux fidelis, inter omnes arbor una nobilis, / nulla talem silua profert flore fronde germine, / dulce lignum dulce clauo dulce pondus sustinens / Treues Kreuz, unter allen Bäumen als einziger edel, / kein Wald bringt einen Baum von solcher Blüte, Laub und Frucht hervor, / süßer, süßer Baum, der du mit dem Nagel ein süßes Gewicht hältst.

364

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

Gekreuzigten setzt Venantius Fortunatus mit der Frucht des Baumes gleich, wenn nicht nur von germen / Frucht,109 sondern auch von dulce pondus / (dem) süßen Gewicht110 die Rede ist. Das dreifache dulcis passt dabei vor allem in das Bild der Frucht111 und wird dann auf den ganzen Baum übertragen. Zudem korrespondiert die Süße der Frucht mit der folgenden Bitte, dass Baum bzw. Kreuz ihre natürliche Starre aufgeben und die Zweige neigen soll.112 Denn es trägt die Glieder den himmlischen Königs / superni membra regis.113 Das Spiel auf der symbolisch metaphorischen Ebene erreicht seinen Höhepunkt im abschließenden Lobpreis durch die Kombination von drei Vorstellungen aus unterschiedlichen Bereichen, nämlich der des Lösegelds, der des Schiffbruchs und des Hafens und schließlich der vom Paschalamm:

109 Vers 23. 110 Vers 24. Die Verbindung des Attributes dulcis für die Frucht des Baumes findet sich schon im Hohelied (Cant 2, 3), die Übertragung auf Christus im Hoheliedkommentar des Apponius (wahrscheinlich nach 500 und damit zeitlich nahe an Venantius Fortunatus), lateinischer Text nach der Ausgabe von DE VREGILLE / NEYRAND, Turnhout 1986, CCSL 19, 12, 71ff.: Nam sicut Christus arbor uitae aeternae – cui diximus, ait Hieremias: In umbra tua uiuemus in gentibus; et Ecclesia retro dixit: In umbra eius, quam desideraueram, sedi, et fructus eius dulcis gutturi meo –, ita et diabolus, ut diximus, arbor mortis probatur, qui uere „malus“ et rebus et nomine euidenter docetur. / Sub cuius seruitutis umbra quisquis deuenerit, non est dubium, quasi conclusum strue lignorum circumdatum, igni gehennae pabulum praebiturum. / Denn so ist Christus der Baum des Lebens – sagt Jeremias, dem wir zustimmen: In deinem Schatten werden wir unter den Völkern leben; und die Kirche sagte zuvor: In Schatten dessen, den ich ersehnt hatte, saß ich, und seine süße Frucht war ich in meiner Kehle – so wird, wie wir sagten, auch der Verleumder als Baum des Todes bezeichnet, der wahrhaft „böse“ ist und deutlich durch Taten und Namen als solcher erwiesen. / Wer auch immer unter den Schatten seiner Knechtschaft kommt, wird zweifelsohne mit einem Holzhaufen umgeben und dem Feuer der Hölle als Nahrung dienen. 111 Die Verbindung von Christus mit dem Attribut dulcis ist zur Zeit des Venantius Fortunatus bereits traditionell, vgl. Ambrosius, Expositio Psalmi, 98, lateinischer Text nach der Ausgabe von PETSCHENIG, CSEL 62 (1913), 90, Z. 10ff.: Habes alias mansiones, ad quas ecclesia cum delectatione succedit. / istae mansiones sunt crucis Christi et sepulturae, in quibus uulnerata est ecclesia, sed uulnere caritatis; uulnus enim est quod Christus excepit, sed unguentum est quod effudit, pomum est quod pependit. / hoc pomum gustauit ecclesia et ait: et fructus eius dulcis in faucibus meis. / Du hast andere Häuser, in welche die Kirche mit Freude geht. Dies sind die Häuser des Kreuzes Christi und seiner Bestattung, in denen die Kirche verwundet wurde, aber mit der Wunde der Liebe; es ist nämlich die Wunde, die Christus empfing, aber es ist Balsam, was sie ausgoss, es ist eine Frucht, welche am Kreuz hing. / Diese Frucht kostete die Kirche und sagte: Und seine Frucht ist süß, in meiner Kehle. 112 Venantius Fortunatus, Carm., II, 2, 25–27: Flecte ramos, arbor alta, tensa laxa uiscera / et rigor lentescat ille quem dedit natiuitas, / ut superni membra regis mite tendas stipite. / Neige deine Zweige, hoher Baum, löse dein ausgespanntes Fleisch, / und jene Starre, welche die Geburt dir gab, soll biegsam werden, / dass du an Deinem Stamm sanft die Glieder des himmlischen Königs ausstreckst. 113 Vers 27.

3.2.6. Hymnen und Elegien

365

Sola digna tu fuisti ferre pretium saeculi Du allein warst würdig, das Lösegeld für die atque portum praeparate nauta mundo Welt zu tragen, naufrago und als Schiffer der schiffbrüchigen Welt einen Hafen zu bereiten, quem sacer cruor perunxit fusus agni corpore. welche das heilige Blut, vergossen vom Körper 30 30 des Lammes, salbte. 114

Dabei handelt es sich wiederum um drei theologisch relevante Ideen, die bei Venantius Fortunatus auch an anderer Stelle begegnen: So findet sich die Vorstellung des Kreuzestod als Lösegeld z. B. in seinem Figurengedicht an Syagrius, den Bischof von Autun, und wird dort breit entfaltet.115 Seefahrtsmetaphorik erscheint ohnehin häufig in seinem poetischen Oeuvre.116 Hier ist die Welt in Seenot geraten, und das Kreuz bereitet ihr als Seemann / nauta bzw. wohl eher als Steuermann einen Hafen117 (indem es Christus aufnimmt und so die Erlösung ermöglicht). Die Vorstellung vom heiligen Blut / sanguis sacer118 ist traditionell, wie schon ein Ambrosius zugeschriebener Hymnus belegt.119 Durch die Verwendung des Begriffs cruor / das dicke, vergossene Blut bei Venantius Fortunatus wird allerdings die Gewalttätigkeit betont und die Vorstellung des Schlachtopfers evoziert, was wiederum auf Christus als wahres Paschalamm hindeutet.120 Betrachtet man dieses Carmen also unter dem Aspekt des Umgangs mit literarischem Genos und Gattungstradition, zeigt die Analyse einige interessante Spezifika: Venantius Fortunatus rekurriert durch einen dreiteiligen Aufbau auf das Schema von invocatio, praedicatio und precatio und ordnet sich so in die Tradition ein. Durch die Überlagerung mit einem zweigliedrigen Schema, die Umformung der precatio zu einer uneigentlichen, nicht im Interesse des Sprechers gestellten Bitte sowie die Verwendung des Marschlied-Rhythmus erweist er sich als Erweiterer der Tradition und „moderner“ Dichter, der nicht nur den neueren gesungenen christlichen Hymnenformen verpflichtet ist, sondern auch der konkreten Situation im besonderen Maße Rechnung trägt (der Vorgang der Überführung der Kreuzreliquie wird durch einen Marschrhythmus unterlegt).

114 Vers 28–30. 115 Siehe Venantius Fortunatus, Carm., V, 6a, insbesondere Vers 26ff. (nach der Zählung von REYDELLET), sonst Vers 25ff. 116 Z. B. im Prolog an Agnes und Radegunde im Martinsepos, vgl. dazu VIELBERG, Extensa viatica?, 175f. 117 Venantius Fortunatus, Carm., II, 2, 29. 118 Vgl. Augustin, Contra adversarium legis et prophetarum, I, Z. 1172f. in der Ausgabe von DAUR, Turnhout 1985, CCSL 49. 119 Ambrosius (dubium), Hymni, 9, 3. 120 Die Handschrift F ergänzt den Hymnos um fünf Strophen, die den Descensus ad Inferos und die Auferstehung Christi behandeln und mit einer konventionellen Lobpreis der Dreieinigkeit enden, aber nicht von Venantius Fortunatus stammen, siehe dazu REYDELLET, I, 181, Anm. 14, dort auch Abdruck des Textes.

366

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

Auf der inhaltlichen Ebene finden sich ebenso einige bemerkenswerte Spezifika, die den Dichter als „modern“ erscheinen lassen: Wie in Carmen II, 1 liegt eine Kombination aus Christus- und Kreuzhymnus vor, wobei der heilsgeschichtliche Christusteil deutliche Züge einer Kursvita trägt. Die Exponierung theologisch relevanter Inhalte und ihre Darstellung im orthodoxen Sinn, die für alle Teile des Hymnus charakteristisch ist, verortet Venantius Fortunatus zudem in der christlichen ambrosianischen Hymnentradition, da bei Ambrosius der Hymnus für die Repetition und Festigung der orthodoxen Glaubensinhalte funktionalisiert wurde. 3.2.6.1.3. Carmen II, 3 a) Text und Übersetzung Das folgende dritte Gedicht des Kreuzzyklus, nach dem Gesetz der variatio wieder im Versmaß des elegischen Distichons verfasst, steht historisch nicht in direktem Zusammenhang mit der translatio der Kreuzreliquie nach Poitiers.121 Das Sujet bildet ein Oratorium des Bischofs von Tours, in dem eine (wohl mit Kreuzen bestickte) Decke aufbewahrt wurde, die in Konstantinopel zur Verhüllung der Reliquie des „wahren Kreuzes“ gedient hatte. Das Carmen besteht aus zwölf Distichen, denen programmatisch die Virtus celsa crucis / die erhabene Macht des Kreuzes vorangestellt wird:122 Virtus celsa crucis totum recte occupat orbem‚ haec quoniam mundi perdita cuncta refert

Die erhabene Macht des Kreuzes erfüllt zu Recht den Erdkreis, da sie alles zurückbringt, was auf der Welt verloren war, quodque ferus serpens infecit felle ueneni und was die grausame Schlange mit ihrem Gift Christi sanguis in hac dulce liquore lauat. infizierte, wäscht das süße Blut Christi mit dieser seiner Flüssigkeit aus. quaeque lupi fuerant raptoris praeda ferocis, 5 und alles, was Beute des wilden und räuberiin cruce restituit uirginis agnus ouis. schen Wolfes war, 5 stellte am Kreuz das Lamm eines jungfräulichen Schafs wieder her. Tensus in his ramis, cum plantis bracchia An diesen Zweigen ausgespannt, die Arme pandens, zugleich mit den Füßen ausbreitend, ecclesiam stabilit pendulus ipse cruce, macht es, während es selbst am Kreuz hängt, seine Kirche fest.

121 Vgl. dazu REYDELLET, I, 181f., Anm. 15. 122 Venantius Fortunatus, Carm., II, 3, 1.

3.2.6. Hymnen und Elegien

367

hoc pius in ligno reparans deperdita pridem, quod uetiti ligni poma tulere boni. 10

An diesem Kreuzesholz bringt es gnädig wieder, was einst war verloren, das brachten die Früchte des verbotenen Baumes an Gutem. 10 Addita quin etiam uirtutum palma coruscat Ja sogar glänzt dazu die Palme der Tugenden, dona quod obsequiis crux parat ipsa suis. weil seinem Gefolge das Kreuz diese Gaben selbst schenkt. Denique sancta cruci haec templa Gregorius Schließlich bietet Gregor diese heiligen Tempel offert. dem Kreuz, Dum pallas cuperet signa gerendo crucis, Weil er wollte, dass die Hüllen das Zeichen des Kreuzes tragen, dona repente dedit diuina potentia Christus, 15 Schenkte Christus, die göttliche Macht, mox fuit et uoti causa secuta pii. sogleich die Gaben 15 und bald war die Erfüllung des frommen Wunsches verwirklicht. Pallia nam meruit, sunt quae cruce textile Denn es verdiente Hüllen, die schön sind durch pulchra ein gewebtes Kreuz, obsequiisque suis crux habet alma cruces, und in seinem Gefolge hat das Segen spendende Kreuz selbst Kreuze, serica quae niueis sunt agnaua blattea telis, welche aus purpurfarbener Seide mit schneeet textis crucibus magnificatur opus. 20 weißen Fäden geschmückt sind, und großartig ist das Werk durch die eingewebten Kreuze. 20 Sic cito pontifici dedit haec deuota uoluntas So gab dies rasch sein demütiger Wunsch dem atque dicata cruci conscia uela placent. Bischof und die geweihte Hülle gefällt als Gefährte dem Kreuz. Vnde salutifero signo tibi, clare sacerdos, Daher vermag dir, erhabener Bischof, für das hoc cui conplacuit reddere magna ualet. Heil bringende Zeichen, der, der an diesem Werk Gefallen fand, große Wohltaten zu erweisen.123

b) Gliederung Das Carmen zeigt einen klaren zweiteiligen Aufbau: I. V. 1 – 12 Die uirtus des Kreuzes: V. 1 – 2 Das Kreuz bringt alles, was auf der Welt verloren war, zurück. V. 3 – 10 Sündenfall und Erlösungswerk Christi am Kreuz. V. 11 – 12 Kreuzeslob. II. V. 13 – 24 Das oratorium bei Tours: V. 13 – 14 Gregor als Stifter des Gebäudes 123 Venantius Fortunatus, Carm., II, 3, lateinischer Text nach REYDELLET, I, 52f.

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

368

zur Aufbewahrung des Tuchs. Ekphrasis des Tuchs und der aufgestickten Kreuze. Lohn Gregors für seine Stiftung.

V. 15 – 22 V. 23 – 24

c) Interpretation Formal liegt hier eines jener Carmina vor, die man unter der Rubrik Gedichte auf Gebäude subsumieren kann, und die daher einen natürlichen Zusammenhang zur Epigrammatik aufweisen.124 Verfasst wurde es für einen konkreten Anlass, der sich vielleicht folgendermaßen rekonstruieren lässt: Da die Überführung der Kreuzreliquie, die zunächst von Byzanz nach Tours und dann von Tours nach Poitiers gebracht worden war, noch unter Gregors Vorgänger Eufronius stattfand und hier eindeutig Gregor von Tours angesprochen wird, kann dieses Gedicht nicht in unmittelbaren Zusammenhang damit stehen. In diesem Carmen geht es jedoch gar nicht um die Kreuzreliquie, sondern um eine Hülle / palla oder pallium, die das heilige Kreuz in Jerusalem bedeckt haben soll.125 Für deren Aufbewahrung ließ Gregor ein Gebetshaus / oratorium errichten.126 Wahrscheinlich stellt also die Einweihung eben dieses Oratoriums den unmittelbaren Anlass für das Carmen dar. Auffällig ist die Unterteilung der zwölf Distichen in einen Teil über die uirtus des Kreuzes127 und einen über das oratorium, in dem seine Hülle / pallium aufbewahrt wird. Beide Hauptteile weisen eine dreigliedrige Binnenstruktur auf, die miteinander korrespondieren. Dabei stellt der erste Hauptteil so etwas wie einen Kreuzhymnus in nuce dar. Die uirtus des Kreuzes wird zwar nicht direkt angesprochen, steht aber trotzdem wie bei einer invocatio exponiert am Anfang: Virtus celsa crucis totum recte occupat orbem‚ haec quoniam mundi perdita cuncta refert

Die erhabene Macht des Kreuzes erfüllt zu Recht den Erdkreis, da sie alles zurückbringt, was auf der Welt verloren war. 128

Zudem erfüllt das erste Distichon mit der Nennung des Themas, der uirtus / der Macht des Kreuzes und ihrer Begründung, gleichsam die Funktion einer Überschrift. Die folgenden beiden Distichen stellen formal relative Prädikationen dar, die durch die Anspielung auf Sündenfall und Erlösungswerk Christi am Kreuz bereits 124 Vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel 3. 2. 1. dieser Arbeit. 125 Siehe Venantius Fortunatus, Carm., II, 3 12ff. Vgl. Gregor von Tours, Liber in gloriam martyrum, 5 (S. 41f. [491f.] in der Ausgabe von KRUSCH, MGH, SRM, 1, 2) und REYDELLET, I, 180f. Anm. 15. 126 Vgl. Vers 13 sancta cruci haec templa Gregorius offert / diese heilige Tempel bietet Gregor dem Kreuz dar. 127 Vers 1–12. 128 Vers 1f.

3.2.6. Hymnen und Elegien

369

einen Teil der Aretalogie bilden.129 Die Struktur des elegischen Distichon erlaubt dabei die direkte Gegenüberstellung des Feindes (im Hexameter) mit Christus (im Pentameter), wobei der Feind zunächst in Bezugnahme auf den Sündenfall130 als grausame Schlange / ferus serpens, die ihr Gift verspritzt, apostrophiert wird,131 dann als räuberischer Wolf, der die Schafherde bedroht.132 Die Erlösung durch Christus bleibt im jeweiligen Bild: Das Schlangengift wäscht Christus durch sein süßes Blut aus,133 dem räuberischen Wolf entreißt er seine Beute, indem er sich als Lamm am Kreuz selbst opfert, wobei die theologisch relevante Aussage, dass es sich um das Lamm eines jungfräulichen Mutterschafs / uirginis agnus ovis handelt, deutlich exponiert wird.134 Rein narrativ sind die beiden sich anschließenden Distichen und passen somit vollständig in die Struktur einer Aretalogie. In Variation zum ersten Teil kehrt Venantius Fortunatus hier das Verhältnis von Hexameter und Pentameter um, indem er im Hexameter vom Tod Christi am Kreuz spricht und im Pentameter von den Folgen des Erlösungswerkes.135 Anstelle einer precatio wird die uirtus-Thematik am Ende des Abschnitts im Sinne eines Kreuzeslob aufgenommen und ausgedehnt: Durch die Wirkkraft des Kreuzes überträgt sich auch sein obsequium / seine Begleitung, gleichsam als Geschenk des Kreuzes.136 Mit dem schillernden Begriff der uirtus, die sowohl die Tugend als auch die wundersame Wirkkraft / Macht des Kreuzes bezeichnet,137 wird inhaltlich eine Brücke zwischen den beiden Teilen des Carmen geschlagen: Die Tugenden des Kreuzes bestehen gerade in seiner Teilnahme am Erlösungswerk Christi, daraus erwächst seine wundersame Wirkkraft, und diese überträgt sich auch auf andere Gegenstände wie die palla, mit der das Heilige Kreuz einst umge-

129 Vers 3–6: quodque ferus serpens infecit felle ueneni / Christi sanguis in hac dulce liquore lauat. / quaeque lupi fuerant raptoris praeda ferocis, / in cruce restituit uirginis agnus ouis. / und was die grausame Schlange mit ihrem Gift infizierte / wäscht das süße Blut Christi mit dieser seiner Flüssigkeit aus. / und alles, was Beute des wilden und räuberischen Wolfes war, / stellte am Kreuz das Lamm eines jungfräulichen Schafs wieder her. 130 Vgl. Gn 3, 1–6. 131 Venantius Fortunatus, Carm., II, 3, 3. 132 Vers 5. 133 Vers 4. 134 Vers 6. 135 Vers 7–10: Tensus in his ramis, cum plantis bracchia pandens, / ecclesiam stabilit pendulus ipse cruce, / hoc pius in ligno reparans deperdita pridem, / quod uetiti ligni poma tulere boni. / An diesen Zweigen ausgespannt, die Arme zugleich mit den Füßen ausbreitend, / macht es, während es selbst am Kreuz hängt, seine Kirche fest. / An diesem Kreuzesholz bringt es gnädig wieder, was einst war verloren, / das brachten die Früchte des verbotenen Baumes an Gutem. 136 Vers 11f.: Addita quin etiam uirtutum palma coruscat / dona quod obsequiis crux parat ipsa suis / Ja sogar glänzt zu ihm hinzugefügt die Palme der Tugenden, / weil seinem Gefolge das Kreuz diese Gaben selbst schenkt. 137 Vgl. OLD s. v.

370

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

ben war. Sichtbares Zeichen dieser Übertragung ist ein Schmuck in Form von in die palla eingestickten Kreuzen, die Gregor von Tours in Auftrag gegeben hat 138: Denique sancta cruci haec templa Gregorius Schließlich bietet Gregor diese heilige Kirche offert. dem Kreuz, Dum pallas cuperet signa gerendo crucis, Weil er wollte, dass die Hüllen das Zeichen des Kreuzes tragen...

Wie im ersten Teil die uirtus crucis das Thema bildet, ist es hier die Stiftung der sancta templa / der heiligen Kirche für das Kreuz / cruci durch Gregor. Zugleich ist aber auch von der Hülle / palla die Rede. Der Zusammenhang legt nahe, dass die Macht des Kreuzes / uirtus crucis sich nicht nur auf diese Hülle überträgt, sondern auch auf das Gebäude, in dem sie aufbewahrt wird, und somit indirekt auch auf den Stifter Gregor. Der Aretalogie des ersten Teils entspricht hier eine Ekphrasis der Hülle / palla, wobei die häufige Nennung des Begriffs crux / Kreuz besonders auffällig ist. Ist er im ersten Distichon des zweiten Hauptteils bereits zweimal gefallen,139 erscheint er schon in den nächsten vier Distichen insgesamt sechsmal.140 Auch bei der zweiten Nennung von Gregor, dem Stifter, im Schlussdistichon spielt es als salutiferum signum / Heil bringendes Zeichen eine besondere Rolle: Vnde salutifero signo tibi, clare sacerdos, hoc cui conplacuit reddere magna ualet.

Daher vermag dir, erhabener Bischof, für das Heil bringende Zeichen, der, der an diesem Werk Gefallen fand, große Wohltaten zu erweisen. 141

An die Stelle der precatio tritt also die Ankündigung, dass Gott Gregor für die Stiftung große Wohltaten erweisen werde. Mit dieser topischen Wendung könnte 138 Venantius Fortunatus, Carm., II, 3, 13–16. Gregor von Tours, Liber in gloria martyrum, 5, (S. 42 [492] in der Ausgabe von KRUSCH, MGH, SRM, 1, 2) berichtet von Krankenheilungen (Blinde, Gelähmte, ein Stummer) nach Berührung dieser palla und begründet damit die Verehrung dieses Stoffes; eine sichtbare Verzierung mit Kreuzen entweder auf der palla selbst oder auf die pallia, die zur Ausschmückung des Gebetshauses dienen (so L. PIETRI, Opus laudandum, S. 500f., insbesondere Anm. 278 auf S. 501.), würde den unmittelbaren Ursprung der Wunderkraft auch visuell vor Augen stellen. 139 Venantius Fortunatus, Carm., II, 3, 13 & 14. 140 Vers 15–22: dona repente dedit diuina potentia Christus, / mox fuit et uoti causa secuta pii. / Pallia nam meruit, sunt quae cruce textile pulchra / obsequiisque suis crux habet alma cruces, / serica quae niueis sunt agnaua blattea telis, / et textis crucibus magnificatur opus. Sic cito pontifici dedit haec deuota uoluntas / atque dicata cruci conscia uela placent./ Schenkte Christus, die göttliche Macht, sogleich die Gaben / und bald war die Erfüllung des frommen Wunsches verwirklicht. / Denn es verdiente Hüllen, die schön sind durch ein gewebtes Kreuz, / und in seinem Gefolge hat das Segen spendende Kreuz selbst Kreuze, / welche aus purpurfarbener Seide mit schneeweißen Fäden geschmückt sind, und großartig ist das Werk durch die eingewebten Kreuze. / So gab dies rasch sein demütiger Wille dem Bischof / und die geweihte Hülle gefällt als Gefährte dem Kreuz. 141 Vers 21–24.

3.2.6. Hymnen und Elegien

371

der zweite Teil des Carmen als laus Gregoris / Lob Gregors unter der Rubrik „Gregor-Panegyrik“ subsumiert werden. Das Carmen soll wie das Oratorium selbst zur Erhöhung der Reputation sowie der Repräsentation Gregors dienen: Die uirtus des Kreuzes überträgt sich auf die palla / Hülle und wirkt von dort auf die Gläubigen, die zu ihrer Verehrung in das Oratorium kommen. Das durch die Stiftung des Oratoriums ermöglicht zu haben, ist das Verdienst Gregors, ein Verdienst, das Gott ihm vergelten wird. Insofern wirkt die uirtus des Kreuzes auch indirekt auf Gregor von Tours. Interessant ist im Zusammenhang mit der Hymnodik des Venantius Fortunatus die Kombination von Kreuzhymnus im ersten Teil mit einem formal korrespondierenden panegyrischen Teil auf Gregor. Interessant ist auch, dass in diesem zweiten Teil das Kreuz leitmotivische Funktion hat und die laus Gregoris / das Lob Gregors nur im Zusammenhang mit dem Kreuz erscheint. Hier findet also bei der personalen Panegyrik eines Stiftergedichts eine Transgression in Richtung auf einen Kreuzhymnus statt, wobei auch in dem Teil, der dem Stifter gewidmet ist, die Kreuzthematik dominiert und so das ganze Carmen zum Kreuzhymnus erweitert. Damit passt es vorzüglich in den Zyklus der Kreuzgedichte. 3.2.6.1.4. Carmen II, 6 a) Text und Übersetzung Den Abschluss des Zyklus bildet nach zwei Figurengedichten142 ein weiterer Hymnus, der zu den bekanntesten Carmina des Venantius Fortunatus gehört. Wie Pange lingua gloriosi proelium certaminis143 weist er eine Strophenform auf, Metrum ist diesmal ein jambischer Dimeter, von dem je vier eine Strophe bilden: Vexilla regis prodeunt fulgit crucis mysterium, quo carne carnis conditor suspensus est patibulo. Confixa clauis uiscera tendens manus, vestigia, redemptoris gratia, hic immolata est hostia.

Des Königs Standarten rücken voran, das Mysterium des Kreuzes erglänzt, wo im Fleisch der Schöpfer des Fleisches, aufgehängt am Kreuz war. 5 Das Fleisch mit Nägeln angeheftet, breitet er Hände und Füße aus, um der Erlösung willen wurde er hier als Opfertier geschlachtet.

5

142 Siehe zu diesen beiden Carmina die entsprechenden Ausführungen in Kapitel 3. 2. 7 dieser Arbeit. 143 Venantius Fortunatus, Carm., II, 2.

372

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

Quo uulneratus insuper mucrone diro lanceae, ut nos lauaret crimine, manauit unda et sanguine.

Und dort wurde er darüber hinaus verwundet 10 mit der furchtbaren Spitze der Lanze, 10 um uns von der Schuld rein zu waschen, troff er von Wasser und Blut.

Inpleta sunt quae concinit Dauid fidele carmine dicendo nationibus: regnauit a ligno Deus.

Erfüllt ist, was gesungen hat David in zuverlässigem Lied 15 und es den Völkern verkündete: „Gott hat vom Kreuz aus regiert.“

Arbor decora et fulgida, ornata regis purpura, electa digno stipite tam sancta membra tangere.

Baum voll Zierde und Glanz, geschmückt mit dem Purpur des Königs, erwählt mit würdigen Stamm, 20 so heilige Glieder zu berühren.

Beata cuius brachiis pretium pependit saeculi. Statera facta est corporis, praedam tulitque Tartari. [O crux aue, epes unica, hoc passionis tempore auge piis iustitiam reisque dona ueniam]

15

20

Glückselig, an wessen Armen das Lösegeld der Welt gehangen hat. Es wurde zur Waage des Leichnams, und trug die Beute des Tartarus. 25 [O Kreuz, sei gegrüßt, einzigartige Hoffnung,25 vermehre in dieser Zeit der Passion die Gerechtigkeit bei den Frommen und schenkte den Sündern Vergebung.]

Fundis aroma cortice, uincis sapore nectare iucunda fructu fertili plaudis triumpho nobili

[25] Von deiner Rinde verbreitest du Balsam, [25] 30 übertriffst an Geschmack den Nektar, 30 angenehm durch reiche Frucht, spendest du in edlem Triumph deinen Beifall.

Salue ara, salue uictima de passionis gloria, qua Vita mortem pertulit et morte uitam reddidit.

Sei gegrüßt Altar, sei gegrüßt Opfertier [30] vom Ruhm der Passion, 35 an dem das Leben den Tod erlitt, und vom Tod das Leben schenkte.144

[30] 35

b) Gliederung Zum originalen Textbestand gehören wohl nur acht der neun vierzeiligen Strophen, die siebte Strophe, die nur in einer Handschrift überliefert ist, und 1958 in einem Mosaik im Kloster Sainte-Croix im Poitiers gefunden worden ist, stammt wahrscheinlich auch von Venantius Fortunatus, gehörte aber wohl ursprünglich nicht zu 144 Venantius Fortunatus, Carm., II, 6, lateinischer Text nach REYDELLET, I, 57f.

3.2.6. Hymnen und Elegien

373

diesem Hymnus.145 Metrum und Strophenform orientieren sich an ambrosianischen Hymnus,146 ebenso die (originale) Anzahl von acht Strophen, die einen Vortrag im Wechselgesang ermöglichen. Das Carmen lässt sich in zwei große Hauptteile gliedern, wenn man die interpolierte Strophe außer Acht lässt:

I. V. 1 – 16 (1. – 4. Strophe) Das Heilsgeschehen am Kreuz: V. 1 – 2 (1. Strophe A) Kreuz als Standarte Christi. V. 3 – 12 (1. Strophe B – 3. Strophe) Die Kreuzigung Christi. V. 13 – 16 (4. Strophe) Christus als Herrscher vom Kreuz (Erfüllung der Prophezeiungen). II. V. 21 – 36 [32] (5. – 9 [8.] Strophe) Lob des Kreuzes: V. 21 – 22 (5. Strophe A) Kreuz im Königsgewand: V. 23 – 32 [28] (5. Strophe B Prädikationen des Kreuzes: - 8 [7.] Strophe) als Träger Christi, Waage Paradiesbaum. V. 32 – 36 [29 – 32] (9. [8.] Strophe) Gruß des Kreuzes. c) Interpretation Das Gliederungsschema zeigt wiederum zwei sich kunstvoll überlagernde Konzeptionen: ein zweigliedriges Schema, das sich in einen heilsgeschichtlichen Teil147 und einen, in dem das Kreuz direkt gerühmt wird148, unterteilt, und innerhalb dieses Schemas jeweils eine dreigliedrige Unterteilung, die sich am traditionellen Hymnenschema orientiert. Überlagert wird es zudem vom Schema der Strophen, die nach ambrosianischer Manier im Wechsel gesungen werden können. Der erste Hauptteil beginnt programmatisch mit militärischer Metaphorik: Am Anfang stehen die Standarten des Königs und leiten ein für Venantius Fortunatus so typisches Paradoxon ein: Vexilla regis prodeunt fulgit crucis mysterium,

Des Königs Standarten rücken voran, das Mysterium des Kreuzes erglänzt,149

hier wird wiederum die invocatio durch Nennung des Themas ersetzt und durch eine relative Prädikation ergänzt, die in den Teil der praedicatio überleitet und dabei einen überraschenden Gedanken formuliert: 145 Siehe dazu REYDELLET, I, Anm. 40. Überliefert ist diese Strophe nur in der Handschrift F; eingefügt ist sie genau dort, wo von der dritten Person zur zweiten gewechselt wird und das Kreuz direkt angesprochen wird. 146 Desselben Metrums bedient sich auch Prudentius, Peristephanon, 2 und Liber cathemerinon, 1, 2, 11 & 12, vgl. REYDELLET, I; 57 Anm. 34. 147 Venantius Fortunatus, Carm., II, 6, 1–16. 148 Vers 17–36 [32]. 149 Vers 1–2

374

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

quo carne carnis conditor suspensus est patibulo.

wo im Fleisch der Schöpfer des Fleisches, aufgehängt am Kreuz war. 150

Darin besteht eben die Paradoxie des Mysteriums des Kreuzes, dass der König und der Schöpfer des Fleisches im Fleisch am Kreuzesblock / patibulum, einem Strafund Hinrichtungswerkszeug für Sklaven und Verbrecher, hing.151 Wiederum bildet die Heilsgeschichte das Thema der praedicatio, das diesmal allerdings auf das Erlösungswerk Christi am Kreuz reduziert erscheint. Dieses Erlösungswerk wird im Wechselgesang der folgenden beiden Strophen als Bild Christi am Kreuz vor dem geistigen Auge des Rezipienten expliziert,152 wobei die Arma Christi in Form der Nägel153 und der Lanzenspitze154 eigens hervorgehoben sind.155 Wiederum werden die theologisch bedeutsamen Begriffe besonders exponiert: Christus ist als Opfertier / uictima156 um der Erlösung willen / redemptionis gratia157 geopfert worden / immolata est,158 und um diesen Gedanken noch zusätzlich zu betonen, bedient sich Venantius Fortunatus in dieser Strophe eines Endreims, der alle vier Versenden gleich ausklingen läßt (uiscera, uestigia, gratia, hostia). Das Durchstechen von Christi Seite mit der Lanzenspitze / mucrone...lanceae159 in Rekurs auf das Johannesevangelium160 wird ebenfalls in seiner theologischen Dimension gedeutet: Das Blut und Wasser / unda et sanguis161 fließt, um uns von der Schuld rein zu waschen / ut nos lauaret crimine162, ein zentraler Gedanke, den Venantius Fortunatus bereits im allerersten Carmen des Kreuzzyklus ausgesprochen hatte:

150 Vers 3–4. 151 Zum Begriff patibulum / Block, Halsblock und seiner Funktion siehe OLD s. v. 152 Zwar gibt es seit dem 5. Jahrhundert Darstellungen des gekreuzigten Jesus; da der Hymnus aber im Zusammenhang mit der Überführung der Kreuzreliquie nach Poitiers steht und auf dieses echte Stück des Kreuzes angespielt wird, darf man wohl nicht von einem realen Cruxifixus ausgehen, auf den das Carmen verweist. Vgl. dazu auch SZÖVÉRFFY, Earliest Hymns to the Holy Cross, 116f. 153 Venantius Fortunatus, Carm., II, 6, 5. 154 Vers 10. 155 Vers 5–12: Confixa clauis uiscera / tendens manus, vestigia, / redemptoris gratia, / hic immolata est hostia. / Quo uulneratus insuper / mucrone diro lanceae, / ut nos lauaret crimine, / manauit unda et sanguine. / Das Fleisch mit Nägeln angeheftet, / breitet er Hände und Füße aus, / um der Erlösung willen / wurde er hier als Opfertier geschlachtet. / Und dort wurde er darüber hinaus verwundet / mit der furchtbaren Spitze der Lanze, / um uns von der Schuld rein zu waschen, / troff er von Wasser und Blut. 156 Vers 8. 157 Vers 7. 158 Vers 8. 159 Vers 10. 160 Io 19, 34. 161 Vgl. Venantius Fortunatus, Carm., II, 6, 12. Vgl. auch Carm., II, 2, 20. 162 Venantius Fortunatus, Carm., II, 6, 11.

3.2.6. Hymnen und Elegien

375

Crux benedicta nitet Dominus qua carne Das gesegnete Kreuz erstrahlt, an dem der pependit Herr im Fleische hing atque cruore suo uulnera nostra lauat. und mit seinem Blut unsere Wunden auswusch. 163

Hier wird er in eine direkte Verbindung mit dem Lanzenstich gebracht, einem weiteren Detail aus der Kreuzigungsszene, die im Sinne einer Aretalogie vorgeführt wird. Mit dem expliziten Rekurs auf die entsprechenden Bibelstellen liegt eine deutliche Einordnung in den neutestamentarischen Kontext vor. Durch den Bezug auf das Alte Testament in der folgenden Strophe wird hingegen eine heilsgeschichtliche Deutung vorgenommen: Inpleta sunt quae concinit Dauid fidele carmine dicendo nationibus: regnauit a ligno Deus.

Erfüllt ist, was gesungen hat David in zuverlässigem Lied 15 und es den Völkern verkündete: Gott hat vom Kreuz regiert. 164

15

Wie der Anfang mit der Nennung des Themas uexilla regis / die Standarten des Königs die invocatio ersetzt und mit der Metapher Kreuz als Feldzeichen eine seit der frühen christlichen Literatur gängige Deutung aufgreift,165 ersetzt diese Strophe den Teil der precatio durch eine theologisch relevante Deutung: Regnavit a ligno deus / Gott hat vom Kreuz aus regiert.166 Parallel dazu ist der zweite Hauptteil konzipiert, der sich auf das Kreuz bezieht: Dabei wird es zweimal (lässt man die wohl nicht originale siebte Strophe beiseite) in der dritten Person apostrophiert167 und zweimal direkt angesprochen.168 Die Wichtigkeit dieses zweiten Teils wird dadurch hervorgehoben, dass die Strophen durchgehend ein Reimschema aufweisen, entweder als Paarreim (aabb)169 oder als Kreuzreim (abab),170 so dass die gesamte zweite Hälfte des Carmen ge163 Venantius Fortunatus, Carm., II, 1, 1f. 164 Venantius Fortunatus, Carm. II, 6, 13–16. Angespielt wird hier auf Psalm 95, 10, den Venantius Fortunatus aber offenbar nach der Editio Romana des Hieronymus zitiert, siehe dazu MEYER, Der Gelegenheitsdichter Venantius Fortunatus, 76, vgl. auch REYDELLET, I, 185 Anm. 38. 165 Der Begriff uexilla ersetzt hier wohl das tropeum, siehe SZÖVÉRFFY, Earliest Hymns to the Holy Cross, 116. 166 Venantius Fortunatus, Carm., II, 6, 16. 167 Vers 17–24. 168 Vers 29–36. 169 Vers 17–20; Vers 29–32 & Vers 33–36. 170 Vers 21–24. Dabei handelt es sich um ein ungewöhnliches Phänomen von Hymnen im jambischen Dimeter. Zwar gibt es bei Prudentius, Liber cathemerinon, 1, 45–48 eine Strophe, deren Verse alle auf i auslauten (wie bei Venantius Fortunatus, Carm, II, 6, 5–8 alle Verse auf a auslauten), außerdem in Prudentius, Peristephanon, 11, 101–104 einen Kreuzreim, doch stellen sie Einzelphänomene dar und erstrecken sich keineswegs über längere Passagen des Hymnus. Das gleiche gilt übrigens für die ambrosianischen und pseudoambrosianischen Hymnen.

376

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

reimt ist. Venantius Fortunatus experimentiert hier also am Ende des Zyklus der Kreuzgedichte mit dem Endreim, was das Lob des Heiligen Kreuzes in besonderem Maße exponiert und einprägsam macht. Hinzu tritt der Rhythmus, der die Verse ebenfalls leicht dem Gedächtnis einprägt und mit dessen Verwendung Venantius Fortunatus dem fortschreitenden Übergang von der quantitierenden zur akzentuierenden Metrik Rechnung trägt.171 Vorbereitet durch die Apostrophierung des Kreuzes als lignum / Holz in der vierten Strophe,172 wird hier in Anspielung auf die beiden Bäume im Paradies und dem damit verbundenen Sündenfall173 das Kreuz als arbor / Baum bezeichnet, der mit den Insignien königlicher Macht versehen ist: Arbor decora et fulgida, ornata regis purpura,

Baum voll Zierde und Glanz, geschmückt mit dem Purpur des Königs174

Dabei wird auch hier das Thema, der Baum im königlichen Purpur, zu Beginn genannt und diese invocatio mündet gleich in die praedicatio aus: electa digno stipite tam sancta membra tangere.

erwählt mit würdigen Stamm, 20 so heilige Glieder zu berühren. 175

20

Die in den beiden sich anschließenden Strophen folgende praedicatio bleibt ganz auf der metaphorischen Ebene und hebt dabei wiederum theologisch besonders relevante Inhalte hervor: So überträgt Venantius Fortunatus das Bild des Baumes und seiner Äste (hier des Querbalkens) auf die Vorstellung einer Waage / statera,176 die dazu dient, das Lösegeld / pretium,177 das hier in Christi Selbstopferung besteht, für die Erlösung der Menschheit abzuwiegen. 178 In der zweiten Strophe der praedicatio, wo von der indirekten Apostrophierung in der dritten in eine direkte Ansprache in der zweiten Person gewechselt wird, bleibt Venantius Fortunatus auf der metaphorischen Ebene und rekurriert auf das Bild des Baumes als Lebensbaum:

171 Allgemein siehe dazu G. BERNT, Rhythmen, in: LexMA 7, Sp. 800f., vgl. auch G. BERNT, Vers- und Strophenbau, I. Lateinische Dichtung, in: LexMA 8, Sp. 1370f. 172 Venantius Fortunatus, Carm., II, 16. 173 Gn 2, 9 & 3, 1–6. Vgl. auch REYDELLET, I, 185, Anm. 39. 174 Venantius Fortunatus, Carm., II, 6, 17–18. 175 Venantius Fortunatus, Carm., II, 6, 17–20. 176 Vers 23. 177 Vers 22. 178 Vers 21–24: Beata cuius brachiis / pretium pependit saeculi. / Statera facta est corporis, / praedam tulitque Tartari. / Glückselig, an wessen Armen / das Lösegeld der Welt gehangen hat. / Es wurde zur Waage des Leichnams, / und trug die Beute des Tartarus. Siehe dazu auch REYDELLET, I, 58, Anm. 40.

3.2.6. Hymnen und Elegien

Fundis aroma cortice, uincis sapore nectare iucunda fructu fertili plaudis triumpho nobili.

377

[25] Von deiner Rinde verbreitest du Balsam, [25] 30 übertriffst an Geschmack den Nektar, 30 angenehm durch reiche Frucht, spendest du in edlem Triumph deinen Beifall.179

Das ermöglicht auch den Vergleich mit kostbarem Balsamholz,180 dem Geschmack (des Saftes seiner Früchte), der wohlschmeckender ist als der von Nektar181 und schließlich den Hinweis auf die reiche Frucht des Baumes.182 Die precatio am Ende ersetzt eine salutatio, wenn Venantius Fortunatus sein Carmen mit einem Gruß an das Kreuz und Christus beschließt: Salue ara, salue uictima de passionis gloria, qua Vita mortem pertulit et morte uitam reddidit.

Sei gegrüßt Altar, sei gegrüßt Opfertier [30] vom Ruhm der Passion, 35 an dem das Leben den Tod erlitt, und vom Tod das Leben schenkte.183

[30] 35

Christus, der hier mit dem Leben gleichgesetzt wird,184 erleidet den Tod und schenkt durch seinen Tod das Leben.185 Am Ende steht also ein Paradoxon, unterstrichen durch einen lexikalisch semantischen Chiasmus, und damit endet das gesamte Carmen, wie es begonnen hat, mit einem Paradoxon. Das Verhältnis dieses fortunatischen Hymnus zu Tradition und Moderne kann am besten ein Vergleich mit einem ambrosianischen Hymnus demonstrieren. Ausgewählt ist hier der dritte Hymnus des Ambrosius. 3.2.6.1.5. Vergleich mit Ambrosius, Hymnus 3 a) Text und Übersetzung Iam surgit hora tertia qua Christus ascendit crucem; nil insolens mens cogitet, intendat affectum precis.

Schon beginnt die dritte Stunde in der Christus das Kreuz bestieg; nichts Überhebliches soll der Geist denken, einnehmen soll er die Haltung des Gebets.

179 Vers 29–32 [25–28]. Zur Identifikation des Kreuzes mit dem Lebensbaum im Paradies siehe auch SZÖVÉRFFY, Earliest Hymns to the Holy Cross, 117. 180 Vers 29. 181 Vers 30. 182 Vers 31. 183 Vers 33–36. 184 Vgl. Io, 5, 19–30. 185 Venantius Fortunatus, Carm., II, 6, 35f.

378

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

Qui corde Christum suscipit, innoxium sensum gerit, uotis que praestat sedulis sanctum mereri spiritum. Haec hora, quae finem dedit diri ueterno criminis, mortis que regnum diruit culpam que aeuo sustulit. Hinc iam beata tempora Christi coepere gratia: fide repleuit ueritas totum per orbem ecclesias. Celsus triumphi uertice matri loquebatur suae: “en filius, mater, tuus; apostole, en mater tua.” praetenta nuptae foedera alto docens mysterio, ne uirginis partus sacer matris pudorem laederet.

5

Wer Christus mit dem Herz aufnimmt, hat einen unschuldigen Sinn und erreicht mit eifrigen Gebeten, den heiligen Geist zu verdienen.

5

Dies ist die Stunde, die ein Ende machte 10 mit dem (Zeit-) Alter der unheilvollen Sünde,10 die des Todes Königsherrschaft zerstörte, und die Sünde aus der Welt schaffte.

15

20

Dadurch begannen nunmehr glückselige Zeiten durch Christi Gnade: Die Wahrheit erfüllte im Glauben 15 die Kirchen im gesamten Erdkreis. Emporgehoben am Gipfel seines Triumphes sprach er zu seiner Mutter: „Siehe, Mutter, dein Sohn; Apostel, siehe deine Mutter!“ 20 Er zeigt uns den Brautvertrag, der daran gezeigt wurde, in hohem Mysterium, dass nämlich die heilige Geburt von einer Jungfrau, keine Verletzung an der Scham der Mutter hervorrief.

Cui fidem caelestibus Iesus dedit miraculis; nec credidit plebs inpia. qui credidit saluus erit.

25 Und dies erwies Jesus glaubwürdig mit himmlischen Wundern; und doch glaubte das gottlose Volk nicht, wer aber glaubt, wird gerettet sein.

Nos credimus natum Deum partum que uirginis sacrae, peccata qui munid tulit, ad dexteram sedens patris.

Wir glauben, dass Gott geboren worden ist, 30 an die Geburt von einer heiligen Jungfrau 30 an den, der die Sünden der Welt tilgte und zur Rechten des Vaters sitzt.186

25

b) Gliederung Der Hymnus ist als Wechselgesang konzipiert und folgt zudem einem dreigliedrigen Schema: 186 Ambroise de Milan, Hymnes, 3, lateinischer Text nach der Ausgabe von J. FONTAINE, Paris 1992.

3.2.6. Hymnen und Elegien

379

I. V. 1 – 8 (1. – 2. Strophe) Prooimion: V. 1 – 2 (1. Strophe A) Stunde der Kreuzigung Christi. V. 3 – 8 (1. Strophe B – 2. Strophe) Rechte Geisteshaltung im Gebet. II. V. 9 – 24 (3. – 6. Strophe) Hauptteil: Heilsgeschehen am Kreuz: V. 9 – 12 (3. Strophe) Erlösung vom Tod. V. 13 – 16 (4. Strophe) Beginn eines neuen Zeitalters der Wahrheit. V. 17- 21 (5. Strophe) V. 22 – 24 (6. Strophe) III. V. 25 – 32 (7. – 8. Strophe) V. 25 – 28 (7. Strophe) V. 29 – 32 (8. Strophe)

Maria unter dem Kreuz. Jungfrauengeburt. Schluss: Macht des Glaubens: Wer glaubt, wird gerettet. Glaubensbekenntnis der Gemeinde.

c) Interpretation und Vergleich Dieser ambrosianische Hymnus ist wie die meisten Hymnen des Prudentius im Liber cathemerinon einer bestimmten Tageszeit zugeordnet, hier der dritten Stunde, der Stunde, in der Christus das Kreuz bestieg:187 Iam surgit hora tertia qua Christus ascendit crucem;

Schon beginnt die dritte Stunde in der Christus das Kreuz bestieg; 188

damit gibt es neben der metrischen Entsprechung (beide Hymnen bestehen aus Strophen mit je vier jambischen Dimetern) auch eine inhaltliche: Wie bei Venantius Fortunatus stehen Kreuzigung und Erlösung thematisch im Mittelpunkt des Hymnus. Und wie dort die ersten beiden Verse an Stelle der invocatio das Thema angeben, dienen auch bei Ambrosius unabhängig vom Sprecher die beiden Anfangsverse der thematischen Bestimmung. Anders als bei Venantius geht der ambrosianische Hymnus nicht gleich in den traditionellen Teil der praedicatio über, sondern führt das prooimion weiter, indem explizit die für ein Gebet notwendige Geisteshaltung gefordert und der Hymnus somit als Gebet aufgefasst wird.189 Die zweite Strophe, die ebenfalls noch zum prooimion zu rechnen ist, ergänzt diesen Gedanken, indem sie von der Wirkung von eifrigen Gebeten spricht.190 Den Teil der invocatio ersetzt hier also ein prooimion, das mit der zweiten Strophe und damit mit der Antwort der Gemeinde auch formal abschließt. Ebenso stimmen die Abgrenzungen des 187 Vgl. Mc 15, 25. 188 Ambrosius, Hymnus 3, 1f. 189 Vers 3f.: nil insolens mens cogitet, / intendat affectum precis. / nichts Überhebliches soll der Geist denken, / einnehmen soll er die Haltung des Gebets. 190 Vers 5–8: Qui corde Christum suscipit,/ innoxium sensum gerit, / uotis que praestat sedulis / sanctum mereri spiritum / Wer Christus mit dem Herz aufnimmt, / hat einen unschuldigen Sinn / und erreicht mit eifrigen Gebeten, / den heiligen Geist zu verdienen.

380

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

Hauptteils symmetrisch mit dem Schema von Strophe und Antistrophe überein; er umfasst zwei Strophen mit der jeweiligen Antistrophe: Zu Beginn dieses Hauptteils wird das Thema wieder aufgenommen: die dritte Stunde des Tages, die Stunde der Kreuzbesteigung Christi. Er hat den Charakter einer Aretalogie, in der auf zentrale Elemente der Heilsgeschichte rekurriert wird, zunächst auf die Kreuzigung selbst,191 dann auf Maria unter dem Kreuz.192 Während das Geschehen selbst aber nur angedeutet wird, liegt der Schwerpunkt auf seiner Wirkung, die hier theologisch gedeutet ist: Haec hora, quae finem dedit diri ueterno criminis, mortis que regnum diruit culpam que aeuo sustulit.

Diese Stunde, die ein Ende machte 10 mit dem (Zeit-) Alter der unheilvollen Sünde,10 die des Todes Königsherrschaft zerstörte, und die Sünde aus der Welt schaffte.193

Diese Wirkung ist auch das Thema der nächsten Strophe, die wie die zweite Strophe des prooimion als Antwort der Gemeinde im Wechselgesang angelegt ist. Dabei werden neben der Heilstat Christi die Prinzipien von Glaube, Wahrheit und Kirche betont: Hinc iam beata tempora Christi coepere gratia: fide repleuit ueritas totum per orbem ecclesias.

15

Dadurch begannen nunmehr glückselige Zeiten dank Christi, die Wahrheit erfüllte im Glauben 15 die Kirchen im gesamten Erdkreis.194

Der aretalogische Teil wird also speziell zur Repetition orthodoxer Glaubensinhalte verwandt, die durch die jeweiligen Antwortstrophen der Gemeinde verfestigt werden, ein Hinweis auf die Auseinandersetzungen mit den Arianern,195 in denen Ambrosius die Hymnen bewusst als Mittel zur Propagierung nizänischen Glaubensgutes einsetzt. Dabei werden Kernsätze hervorgehoben, wobei Ambrosius wie Venantius Fortunatus in der aretalogischen Tradition des hymnischen Hauptteils verhaftet bleibt. Das zeigt auch die fünfte Strophe deutlich, wo Ambrosius auf die Anempfehlungsszene aus dem Johannesevangelium rekurriert,196 was die Antistrophe im Zusammenhang mit der Geburt Christi interpretiert und dabei die Jungfräu-

191 192 193 194 195

Vers 9–16. Vers 17–24. Vers 9–12. Vers 13–16. Siehe zur Situation, die Ambrosius in Mailand vorfand, auch MARKSCHIES, Ambrosius von Mailand, 41–79. 196 Io 19, 25–27; Ambrosius, Hymnus 3, 17–20: Celsus triumphi uertice / matri loquebatur suae: / “en filius, mater, tuus; / apostole, en mater tua.” / Emporgehoben am Gipfel seines Triumphes / sprach er zu seiner Mutter: / „Siehe, Mutter, dein Sohn; / Apostel, siehe deine Mutter!“

3.2.6. Hymnen und Elegien

381

lichkeit der Mutter vor und nach Christi Geburt herausstreicht.197 Wie im zweiten Kreuzgedicht des Venantius Fortunatus198 geht es hier um biographische Kernpunkte, die auch theologisch relevant sind. Wenn man dort von einer Kurzbiographie sprechen kann, so liegt hier etwas Ähnliches vor, allerdings in der zeitlichen Reihenfolge umgekehrt: erst Kreuzestod, dann Jungfrauengeburt. Da aber die Jungfrauengeburt die Voraussetzung für die Göttlichkeit Christi darstellt, diese wiederum notwendig für das Erlösungswerk am Kreuz ist, stehen beide Strophen in einen Kausalverhältnis, das über die assoziative Anbindung durch die Erwähnung der mater / Mutter199 hinausweist. Die Exponierung von Kernpunkten des Glaubens führt im Schlussteil zu einer Betonung der Wirkung des Glaubens, die in ein Glaubensbekenntnis der Gemeinde ausmündet: Wer glaubt, wird im Gegensatz zur ungläubigen Volksmenge gerettet werden,200 worauf nur ein mit credimus / wir glauben eingeleitetes Glaubensbekenntnis in der Antistrophe die richtige Antwort bilden kann: Nos credimus natum Deum partum que uirginis sacrae, peccata qui munid tulit, ad dexteram sedens patris.

Wir glauben, dass Gott geboren worden ist, 30 an die Geburt von einer heiligen Jungfrau,30 an den, der die Sünden der Welt tilgte und zur Rechten des Vaters sitzt.201

d) Zusammenfassung Wenn man beim paganen antiken Hymnus (verstanden als Lobpreis der Götter),202 von einem grundsätzlichen dreiteiligen Aufbauschema in invocatio (die durch ein prooimion mit der Nennung des Themas ersetzt werden kann), praedicatio, die zumeist um einen aretalogischen bzw. epischen oder narrativen Mittelteil erwei-

197 Vers 21–24: praetenta nuptae foedera / alto docens mysterio, / ne uirginis partus sacer / matris pudorem laederet. / Er zeigt uns den Brautvertrag, der daran gezeigt wurde, / in hohem Mysterium, / dass nämlich die heilige Geburt von einer Jungfrau, / keine Verletzung an der Scham der Mutter hervorrief. 198 Vgl. Venantius Fortunatus, Carm., II, 2, 13–21. 199 Ambrosius, Hymnus 3, 19 & 20. 200 Vers 25–28: Cui fidem caelestibus / Iesus dedit miraculis; / nec credidit plebs inpia. / qui credidit saluus erit. / Und dies erwies Jesus glaubwürdig / mit himmlischen Wundern; / und doch glaubte das gottlose Volk nicht, / wer aber glaubt, wird gerettet sein. 201 Vers 29–32. Unter den Werken des Ambrosius ist eine Explanatio symboli überliefert, deren Echtheit allerdings umstritten ist. (Edition bei O. FALLER, CSEL 73, Turnhout 1955, 3–12). Die Expositio symboli des Rufin wird später von Venantius Fortunatus bearbeitet, vgl. die entsprechenden Ausführungen in Kapitel 3. 1. 3. dieser Arbeit. 202 Siehe BERGER, Hellenistische Gattungen im Neuen Testament, 1150 bezogen auf die Rhetorik und Prosahymnen: „Unter Hymnen verstehen die Rhetoren diejenige Art des Enkomions, die sich auf den Lobpreis der Götter bezieht. Das schloß freilich nicht aus, daß hymnische Elemente auch in die Enkomien über Menschen eingedrungen sind.“ Die thematische Bestimmung entspricht Augustins Definition des Hymnus als Lobpreis Gottes, vgl. Augustinus, Enarrationes in Psalmos, 72, 1.

382

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

tert wird, und der precatio, dem Schlussteil in Form eines Gebetes ausgeht,203 so lässt sich der Rekurs auf dieses Schema in allen der behandelten Kreuzgedichte des Venantius Fortunatus beobachten. Venantius Fortunatus übernimmt dieses Schema aber nicht einfach, sondern variiert und kombiniert es kunstvoll mit anderen Gliederungsschemata. Besondere Freiheit nimmt er sich im jeweiligen Schlussteil, dessen Gebetscharakter entweder literarisch umgestaltet oder ganz aufgegeben wird, was allerdings eine Parallele zum Schluss des alttestamentarischen Hymnus darstellt, der ebenfalls nicht zwangsläufig Gebetscharakter hat.204 Überlagert wird dieses traditionelle Schema bei Venantius Fortunatus in der Regel von einer grundsätzlichen Zweiteilung, in der zunächst das Heilsgeschehen am Kreuz thematisiert wird, wobei Christus der eigentliche Adressat ist, und einem zweiten Teil, in dem das Kreuz direkt angesprochen wird. Innerhalb dieser Konzeption wird die Tradition zudem dadurch erweitert, dass beide Hauptteile einen Hymnus in nuce darstellen können und somit zwei Hymnen zu einem kombiniert werden. Wenn Venantius Fortunatus auch metrisch neue Wege beschreitet, indem er das elegische Distichon als Versmaß für den Hymnus nutzbar macht und sich andererseits an die „modernen“ christlichen Hymnenformen eines Ambrosius oder Prudentius anlehnt, so findet sich innerhalb der Adaption dieser „modernen“ Form das Bestreben nach Transgression: Der Vergleich mit dem dritten Hymnus des Ambrosius hat dies in besonderer Weise verdeutlicht: Zwar verwendet er das ambrosianische Strophenmodell und folgt Ambrosius auch darin, dass theologische Kerngedanken besonders exponiert werden, doch ersetzt er das ambrosianische Gliederungsschema205 203 Vgl. dazu auch BERGER, Hellenistische Gattungen im Neuen Testament, 1150: „1. Der Redner rechtfertigt seinen Versuch, Gott zu loben. Der Hymnus als Opfer. Der Redner bittet um Beistand (sc. die Musen). Der Redner stellt die Größe seiner Aufgabe dar, der er kaum gewachsen ist (= Proimion oder Praeludium)...“ und 1151: „Aufzählung der Qualitäten und Werke des Gottes. Nacheinander sind fÚsij / morf», gšnoj und dÚnamij/ œrga darzustellen. Dieses macht den epischen Mittelteil des Hymnus aus. Wo Teil 1 fehlt, leitet oft eine Reihe von attributiven Nomina den Hymnus ein, die sog. Epiklesis (Anrufung: gehäufte Vokative, Partizipien oder Relativsätze) des Namens. Auch sagt der Sprecher von sich selbst, dass er ‚singt’ (Ankündigung der Gattung)...“ sowie 1169: „Da der letzte Teil des griechischen Hymnus regelmäßig ein Gebet ist, besteht eine enge Beziehung zwischen Hymnus und Gebet...“ 204 Zum Aufbau des alttestamentlichen Hymnus siehe BERGER, Hellenistische Gattungen im Neuen Testament, 1156, der dort das Schema von K. KOCH (3 1974, 199) aufführt: „A. Aufforderung zum Lobpreis (Imperative im Plural; der Personenkreis wird genannt, dem die Aufforderung gilt); B. Mit ‚denn’ eingeleitet: Darstellung der Preiswürdigkeit des Gottes; C. Hymnisches Hauptstück: Entfaltung des unter B. genannten thematischen Satzes durch Nennung des göttlichen Geschichtswirkens (oft Reihung von Partizipien); D. Schluß (sehr variabel): Wiederaufnahme der Aufforderung zum Lob Gottes oder auch thematischer Satz.“ 205 Auch Paulinus von Nola verwendet jambische Rhythmen in Carmen XXI auf den heiligen Felix von Nola. Während der Rahmen des Gedichtes wie die meisten anderen Gedichte des Paulinus im Hexameter oder lyrischen Maßen verfasst sind, stehen die Verse 105 bis 271 im jambischen Trimeter, auf die eine Passage im elegischen Distichon (Vers 272–343) folgt, ehe das Gedicht wieder im Hexameter schließt. Er arbeitet dort aber weder mit Reim noch

3.2.6. Hymnen und Elegien

383

durch einen komplexen Aufbau, in dem sich verschiedene Konzeptionen überlagern und dennoch miteinander harmonieren. Die Repetition und Verfestigung der theologisch relevanten Gedanken geschieht dabei nicht durch ein simples Glaubensbekenntnis wie bei Ambrosius, sondern vielmehr durch dichterische Mittel, sprachlich vor allem durch paradoxe Formulierungen, auf der Bildebene in der Verknüpfung des Kreuzes mit den Bäumen im Paradies. Diese Baummetaphorik wird in verschiedenen Varianten expliziert und über mehrere Strophen beibehalten, was auch einen wesentlichen Unterschied zu den gedanklich und thematisch variierenden Strophen des Ambrosius darstellt. In diesen Zusammenhang gehört auch das Experimentieren mit dem Endreim, der in Carmen II, 6 über die ganze zweite Hälfte des Hymnus durchgehalten wird.206 Dies zeigt Venantius Fortunatus tatsächlich als „Neuerer“, der die sonst gemiedene Assonanz am Ende des Verses als zusätzliches literarisches Mittel begreift, die inhaltliche Seite einprägsam zu exponieren. Im Hinblick auf die Gattungstradition bedeutet dies, dass Venantius Fortunatus in allen Gedichten des Kreuzzyklus und nicht nur in den beiden Hymnen, die sich an – von der Zeit des Venantius Fortunatus aus gesehenen – „modernen“ rhythmischen Formen orientieren, um Innovation und Weiterentwicklung der Tradition bemüht ist. Dieses Bestreben der Transgression von Tradition und Gattungsgrenzen erweist sich als durchgehender Zug in der Hymnodik des Venantius Fortunatus. Sedulius hatte seinen zweiten Hymnus als Abecedarius gestaltet. Zwar gibt es unter den Kreuzgedichten des Venantius Fortunatus keinen Abecedarius, dennoch ist dem Dichter diese Form nicht fremd, wie Carmen I, 16 beweist:207 Überschrieben ist das Gedicht in der handschriftlichen Tradition Versus uel hymnus de Leontio episcopo. Wie die ambrosianischen Hymnen besteht es aus vierzeiligen Strophen im jambischen Dimeter, und da es dem lateinischen Alphabet (unter Einbeziehung der Buchstaben K und Z) folgt, sind es dreiundzwanzig Strophen. Hier sollen anstelle einer ausführlichen Analyse von Carmen I, 16 einige Hinweise über seine Beziehung (in formaler Hinsicht) zu den Kreuzhymnen gegeben werden: Ausgangssituation ist ein Ereignis, das sich offensichtlich während einer schweren Krankheit des mit Strophenformen. Die ersten sechzehn Versen von Carmen Appendix I sind allerdings im jambischen Dimeter verfasst, und lassen sich in vier Strophen unterteilen. Paulinus experimentiert also auch schon mit dieser „modernen“ Form, es finden sich jedoch keine Endreime. 206 Unter den Gedichten, die LEO in seiner Ausgabe (MGH, AA, IV, 1) unter die Spuria (IV–X) als unecht einordnet, befinden sich sieben Hymnen, die von Paulus Diaconus (Hist. Lang., II, 13) als hymnos singularum festivitatum Venantius Fortunatus zugeschrieben werden und die zumeist dem ambrosiainischen Strophenschema folgen oder es leicht variieren. Auch dort finden sich in einzelnen Strophen Experimente mit dem Endreim, allerdings nicht durchgehend über die ganze Hälfte eines Carmen. Unter den Spuria bei LEO & KRUSCH gibt es einige Werke, die mit ziemlicher Sicherheit auf Venantius Fortunatus zurückgehen, was nicht nur für die Prosafassung der Medardus-Vita gilt, sondern insbesondere für einen Marienhymnus im elegischen Distichon (Spuria I) wie BLOMGREN, Studia Fortunatiana II, Upsala 1933 ausführlich nachgewiesen hat. 207 Für die Zuschreibung an Venantius Fortunatus spricht eindeutig der Manuskriptbefund, siehe dazu REYDELLET, I, Anm. 79 auf S. 177.

384

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

Bischofs Leontius II von Bordeaux zugetragen hat. Obwohl Leontius noch nicht verstorben ist, streut eine namentlich nicht genannte Person das Gerücht seines Todes aus und geriert sich als sein Nachfolger. Leontius aber erholt sich und der Usurpator des Bischofsitzes wird vertrieben. Die Wahl der Hymnenform bei einem Gedicht auf einen Lebenden stellt ebenso eine Erweiterung des Genos dar, wie die Wahl eines Gegenstandes als Sujet für einen Hymnus in den Kreuzgedichten. War sie bei den Kreuzgedichten durch die heilsgeschichtliche Bedeutung des Kreuzes zu rechtfertigen und diente sie indirekt zum Lob Christi (dem in den Kreuzhymnen stets ein eigener Abschnitt gewidmet war), so dient dieses Carmen weniger dem Lob des Leontius, sondern dem Lob Gottes, der durch die überraschende Genesung des Bischofs gewirkt und damit den Plänen des nicht genannten Usurpators ein Ende bereitet hat. Wie in den Kreuzhymnen wird auch hier das traditionelle dreiteilige Gliederungsschema mit einem zweiteiligen kombiniert.208 Dabei vertritt die Nennung des Themas wiederum die invocatio und bildet dafür ein Proöm, anstelle der Aretalogie tritt ein langer narrativer Teil, der auf die Geschehnisse vor und nach der Genesung des Leontius anspielt, während die letzten vier Strophen anstelle einer precatio das Volk direkt ansprechen, einen Hymnus zu singen und Leontius darzubringen. Gleichzeitig unterliegt das Carmen einer Zweiteilung (Usurpation und Rückkehr des Leontius), in der die zwölfte Strophe, die mit dem mittleren Buchstaben des Alphabets M eingeleitet wird, eine Scharnierstellung inne hat.

208 Das Carmen lässt sich folgendermaßen gliedern (lateinischer Text bei REYDELLET, I, 38– 42): I. V. 1 – 44 Die Usurpation des Bischofsitzes: (I) V. 1 – 4 (1. Strophe) Proöm: Leontius als wahrer Bischof von Bordeaux. (IIA ) V. 5 – 44 Narratio (I): V. 5 – 24 (2. – 6. Strophe) Ein bilinguis / Mann mit gespaltener Zunge behauptet, Leontius sei tot und setzt sich an seine Stelle. V. 25 – 44 (7 – 11. Strophe) Moralische Bewertung als ambitus: Man bemüht sich nicht um das Bischofsamt. Überleitung: V. 45 – 48 (12. Strophe) Auseinandersetzungen in Bordeaux. II. V. 49 – 93 Die Rückkehr des Leontius: (II B) V. 45 – 76 Narratio (II): V. 49 – 68 (13. – 17. Strophe) Leontius kehrt zurück. V. 69 – 76 (18 – 19. Strophe) Wertung des Geschehens als Geschenk des Himmels. (III) V. 77 – 93 (20 – 23. Strophe) Schluss: Aufforderung zum Lobpreis als Gabe für Leontius.

3.2.6. Hymnen und Elegien

385

Dass Venantius Fortunatus auch hier mit dem Endreim entweder über eine ganze Strophe oder zumindest in einem Verspaar an exponierten Stellen experimentiert, kann zum Abschluss ein Blick auf die erste, die zwanzigste (Beginn des dritten Teils) und die letzte Strophe verdeutlichen: Agnoscat omne saeculum antistitem Leontium, burdegalense praemium dono superno redditum (1. Strophe).209

Die ganze Welt möge den Bischof Leontius anerkennen, die Auszeichnung für die Stadt Bordeaux, die ihr durch göttliche Gabe zurückgegeben wurde.

Venite, ciues, plaudite et uota uotis addite. Quo facta sunt miracula seruent eum caelestia. (20. Strophe).210

Kommt, Bürger, spendet Beifall und fügt Gebeten Gebete hinzu. Wo Wunder geschehen sind, mögen ihn die himmlischen Mächte bewahren.

Zelante fido pectore tam uera dici non pudet. Haec parua nobillissimo papae damus Leontio. (23. Strophe).211

Wenn das gläubige Herz glüht, reut es nicht, so wahre Dinge auszusprechen. Diese Kleinigkeiten bringen wir dem höchst ehrwürdigen Bischof Leontius dar.

209 Lateinischer Text nach REYDELLET, I, 38. 210 Lateinischer Text nach REYDELLET, I, 42. 211 Lateinischer Text nach REYDELLET, I, 42.

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3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

3.2.6.2. Elegien Allgemeine Vorbemerkungen Der einflussreiche Kanon im zehnten Buch der Institutio oratoria Quintilians differenziert die für den künftigen Rhetor vorbildhaften Autoren nicht nur nach Griechen und Römern und nach Poesie und Prosa, sondern innerhalb dieser Abschnitte nach den literarischen Gattungen, in denen sich die einzelnen Autoren betätigt haben. Zugleich werden diese Gattungen unter der jeweiligen antiken Gattungsbezeichnung aufgeführt. Der Abschnitt zur elegia / Elegie nennt für die griechische Literatur nur zwei Vertreter: ...(58) Sed ad illos iam perfectis constitutisque uiribus reuertemur: quod in cenis grandibus saepe facimus, ut, cum optimis satiati sumus, uarietas tamen nobis ex uilioribus grata sit. Tunc et elegiam uacabit in manus sumere, cuius princeps habetur Callimachus, secundas confessione plurimorum Philetas occupauit.

...(58) Aber zu jenen werden wir, wenn unsere Kräfte vollkommen ausgebildet sind, zurückkehren: Nun soll das geschehen, was wir bei großen Gelagen häufig tun, dass uns nämlich, wenn wir von den besten Speisen genug haben, die Abwechslung aus den einfacheren dennoch willkommen ist. Dann wird auch Zeit sein, die Elegie in die Hand zu nehmen, deren vornehmster Vertreter – wie man glaubt – Kallimachos ist, und bei der – nach Auffassung der meisten – Philetas den zweiten Rang eingenommen hat.212

Bei den Römern nennt er hingegen vier: (93) Elegia quoque Graecos prouocamus, cuius mihi tersus atque elegans maxime uidetur auctor Tibullus. Sunt qui Propertium malint. Ouidius utroque lasciuior, sicut durior Gallus...

(93) Auch in der Elegie fordern wir die Griechen heraus: In ihr scheint mir Tibull der Autor zu sein, der am meisten rein und elegant ist. Manche mögen Properz lieber. Ovid ist lasziver als beide, so wie Gallus härter (im Ausdruck) ist...213

Die genannten Vertreter, sowohl im griechischen als auch im lateinischen Bereich, sind, obwohl eine Gattungsdefinition nicht gegeben wird und eine formale nach dem Metrum ein thematisch wesentlich breiteres Spektrum abdecken würde (man denke nur an die inhaltliche Vielfalt der frühgriechischen Elegie), als Exponenten der hellenistischen Liebeselegie bzw. der subjektiven römischen Liebeselegie anzu212 Quintilian, Inst. orat., X, 1, 58, lateinischer Text nach der Ausgabe von WINTERBOTTOM, OXFORD, 1970, 579. 213 Quintilian, Inst. orat., X, 1, 93 a, lateinischer Text nach der Ausgabe von WINTERBOTTOM, 586.

3.2.6. Hymnen und Elegien

387

sehen. Hier zeigt sich, dass sich für Quintilian offensichtlich die Gattung Elegie inhaltlich im thematischen Rahmen der elegischen Dichtungen eben jener genannten Exponenten bewegt, also vornehmlich als Liebeselegie und im Falle der Verbannungsdichtung Ovids vielleicht noch als Klageelegie definiert ist. Da nun der größte Teil der Carmina des Venantius Fortunatus, obgleich unterschiedlichen Gattungen angehörig, im elegischen Distichon verfasst ist,214 sollen hier im Sinne dieser Auffassung die wirklich elegischen Elegien des Venantius Fortunatus in den Blick genommen werden.215 Damit verbunden ist freilich auch die Frage nach seiner Stellung und Selbsteinordnung innerhalb der elegischen Tradition. Die beiden Ausprägungen der Elegie als Liebes- und Klageelegie entsprechen einerseits der literarischen Tradition, für welche die zitierten Stellen aus der Institutio oratoria des Quintilian (dessen Werk Venantius Fortunatus höchst wahrscheinlich kannte) einen deutlichen Beleg hinsichtlich der Liebeselegie liefern, andererseits der Volksetymologie,216 welche die Gattungsbezeichnung vom Klageruf Ÿ œ = aŠ aŠ lšgein ableitet; in der Klageelegie ist Ovid durch seine Verbannungsdichtung als exponiertester Vertreter des lateinischen Bereichs anzusehen. Während sich innerhalb der Liebeselegie subjektiver römischer Prägung217 nach typischen Situationen Untergattungen wie das Paraklausithyron (die Klage vor der verschlossenen Tür der Liebenden), der Abschied am Morgen (woraus sich das mittelalterliche Tagelied entwickelt), das Propemptikon (ein Geleitgedicht, wenn einer der Liebenden zu einer Reise aufbricht), sowie Liebeslehren, Liebesbriefe, aber auch Glückwünsche oder Totenklagen ausdifferenzieren lassen,218 so finden sich darüber hinaus typisch elegische Motive wie die fides / Treue zur puella / dem Mädchen, das auch als domina / Herrin apostrophiert wird, welcher der Liebhaber im servitium amoris / Sklaven214 Während das elegische Distichon als Metrum seiner Epitaphien (vgl. dazu die entsprechenden Ausführungen in Kapitel 3. 2. 3. dieser Arbeit) aus der Gattungstradition erklärt werden kann und bei den Gedichten auf Gebäude (vgl. Kapitel 3. 2. 2. dieser Arbeit) das traditionelle bevorzugte Metrum des Epigramms im Hintergrund stehen mag, weitet Venantius Fortunatus die Anwendung des elegischen Distichons ebenso auf die personale Panegyrik (vgl. Kapitel 3. 2. 2. dieser Arbeit) aus. Seine Versfassung der Medardusvita (vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel in 3. 2. 4. dieser Arbeit) steht im elegischen Distichon; bei den Kreuzgedichten finden sich Hymnen im elegischen Distichon, so dass man auch hier von einer Ausweitung des Metrums auf die Hymnodik sprechen kann (Siehe dazu auch J. SZÖVÉRFFY; Venantius Fortunatus and the Earliest Hymns to the Holy Cross, 118). Neben dieser Ausweitung des Metrum auf andere Genera existieren dennoch einige Carmina von Venantius Fortunatus, die neben der Metrik aber auch deutliche inhaltliche Bezüge zur römischen Elegie in ihrer Ausprägung als Klage- und Liebeselegie aufweisen. 215 Ein klassisches Beispiel innerhalb der lateinischen Literatur für eine Klageelegie bildet Ovid, Amores, III, 9 auf den Tod Tibulls. Als Klageelegie ist zudem seine Verbannungsdichtung in den Tristien und den Epistulae ex Ponto konzipiert, während seine Amores in der Tradition von Gallus, Tibull und Properz Exempla für die klassische römische Liebeselegie stehen. 216 Vgl. zur römischen Liebeselegie und Ovid jetzt auch M. VON ALBRECHT, Ovid. Eine Einführung, Stuttgart 2003, insbesondere 35–37. 217 Eine gute Einführung in die römische Liebeselegie bildet nach wie vor: N. HOLZBERG, Die römische Liebeselegie, Darmstadt 1990. 218 Siehe V. ALBRECHT, Ovid, 37.

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3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

dienst der Liebe verpflichtet und verfallen ist. Der Dienst an der Geliebten wird oftmals dem Kriegsdienst gleichgesetzt, so dass von einer militia amoris / einem Kriegsdienst der Liebe die Rede ist. Bei Venantius Fortunatus haben unter diesen Aspekten insbesondere die so genannte Gelesuintha-Elegie219 und die im Namen der Radegunde verfassten Gedichten der Appendix die Aufmerksamkeit der Forschung gefunden.220 Eine ausführliche Untersuchung zur Gelesuintha-Elegie legte Kurt Steinmann bereits in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts vor,221 so dass diese hier nicht weiter behandelt werden muss. Bezüglich der Gattungsfrage kommt Steinmann zu folgendem Ergebnis: „Der Gattung nach ist carm. VI 5 als ‚balladeske Elegie’ zu bezeichnen: als Elegie, weil es im elegischen Distichon geschrieben ist, aber auch, weil die Totenklage, nach der Überlieferung der ursprüngliche Bereich der Elegie (A. Lesky, Geschichte der griechischen Literatur, 3 1971, p. 143), wesentlicher Bestandteil des Gedichtes ist; als Ballade insofern, als carm. VI 5 ‚auf einen dramatischen Höhepunkt hinzielt’, ein ‚emotionell geladenes Sprechen’ vorherrscht und die Handlung in eine intensive Beziehung zu einer undurchsichtigen, bedrohlich-dämonischen Macht gebracht wird (Fischer Literatur Lexikon, 1965, Band 2/1; p. 216).“222 Außerdem streicht Steinmann heraus, dass nicht nur die elegische Tradition für Venantius Fortunatus im Hintergrund steht, sondern auch die epische, insbesondere Vergil. Dabei fungiere das vierte Buch der Aeneis von seinem Aufbau her geradezu als Prätext zur Gelesuintha Elegie.223 Aus Steinmanns Ergebnissen lässt sich also eine ähnliche Vorgehensweise des Venantius Fortunatus hinsichtlich der Klageelegie ablesen, wie sie sich zuletzt im Bereich der Hymnodik gezeigt hat,224 nämlich das Bestreben, sich sowohl innerhalb der literarischen Tradition zu verorten, als auch durch Kombinatorik und Transgression die Gattungsgrenzen innovativ zu erweitern. Als Beispiel der Elegie in ihrer Ausprägung als Liebeselegie bietet sich bei Venantius Fortunatus vor allem das im Namen der Radegunde verfasste Carmen an Amalafred an, das traditionell unter dem Titel De excidio Thoringiae bekannt ist. Schon der Umstand, dass es sich um einen poetischen Brief im elegischen Distichon handelt, der im Namen einer Frau an einen in der Fremde weilenden Mann geschrieben ist, verbindet das Gedicht mit den Heroides des Ovid, in denen mythische Frauengestalten eine Briefelegie an ihren Geliebten in der Ferne schicken. 219 Venantius Fortunatus, Carm., VI, 5. 220 Venantius Fortunatus, Carm., Appendix I–III, insbesondere Appendix I, De excidio Thoringiae. 221 K. STEINMANN, Die Gelesuintha-Elegie des Venantius Fortunatus (Carm. VI 5). Text, Übersetzung, Interpretationen. Abhandlung zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultät I der Universität Zürich, Zürich 1975. Vgl. auch M. PISACANE, Il De Gelesuintha di Venantio Fortunato, Vichiana s. IV. 1 (1999), 82–105. 222 STEINMANN, Die Gelesuintha-Elegie des Venantius Fortunatus, 16. 223 Siehe STEINMANN, Die Gelesuintha-Elegie des Venantius Fortunatus, 17: „Meiner Ansicht nach – noch niemand hat darauf hingewiesen – ist aber das gesamte Buch IV der Aeneis Vorbild zu carm. VI 5, nicht so sehr in einzelnen sprachlichen Entsprechungen, als vielmehr in Motiven und dem ganzen Ton der Erzählung.“ 224 Vgl. Kapitel 3. 2. 6. 1. dieser Arbeit.

3.2.6. Hymnen und Elegien

389

Obwohl auf dieses Carmen immer wieder rekurriert wird, gibt es nur wenige ausführliche Interpretationen. Eine solche liefern zuerst Bulst225 und zuletzt Walz, wo eine noch wesentlich intensivere Auseinandersetzung mit Aufbau und Komposition von Carmen, Appendix I erfolgt.226 Nun steht dieses Carmen nicht isoliert, wie noch die PL-Ausgabe deutlich macht: Denn während Leo in seiner Edition den Titel De excidio Thoringiae nur auf das erste Carmen der Appendix bezieht,227 fasst die ältere der Patrologia Latina die ersten drei Gedichte der Appendix unter dem Titel De Excidio Thuringiae.228 Auch wenn dieser Titel in der einzigen Handschrift, die Carmina der Appendix überliefert229, nicht bezeugt und inhaltlich nicht ganz treffend ist,230 da er sich im Grunde nur auf den Anfang von Carmen, Appendix I bezieht, verweist dennoch der gemeinsame Titel in der PL-Edition zu Recht auf einen inhaltlichen Zusammenhang der drei Gedichte, deren Anlass seit Meyer meist in Verbindung mit der Translation der Kreuzreliquie von Konstantinopel nach Poitiers gesehen wird.231 Für dieses Projekt habe sich Radegunde Unterstützung bei ihrem Vetter Amalafred erhofft und daher zumindest das erste Carmen

225 W. BULST, Radegundis an Amalafred, in: Bibliotheca docet (Festschrift Carl Wehmer), Amsterdam 1963, 369–380, Ndr. in: DERS., Lateinisches Mittelalter. Gesammelte Beiträge, hrsg. von W. BERSCHIN, Heidelberg 1984, 44–56. Mehr diskursiv angelegt ist M. PISACANE, Il De excidio Thoringiae di Venantio Fortunato, GIF 49 (1997), 177–208. 226 D. WALZ, Tu mihi solus eras. Venantius Fortunatus, Appendix carminum I, in: Mentis amore ligati. Lateinische Freundschaftsdichtung und Dichterfreundschaft in Mittelalter und Neuzeit. Festgabe für Reinhard Düchting zum 65. Geburtstag, hrsg. von B. KÖRKEL, T. LICHT & J. WIENDLOCHA, Heidelberg 2001, 521–540. 227 Ediert bei LEO, MGH, AA, IV, 1, 271–275. 228 Ediert in PL 88, Sp. 427 A–436 B. 229 Cod. Parisinus lat. 13048 aus dem 9. Jh. 230 Siehe dazu BULST, 46 (zitiert nach dem Nachdruck): „Das Schreiben an Amalafred ist in seinem codex unicus bezeichnet mit incipit opvs fortvnati presbiteri; der Titel ‚De excidio Thoringiae’, unter dem es in der Edition von Friedrich Leo [...] steht und in der Literatur stereotyp aufgeführt wird, ist sowohl ohne handschriftliche Gewähr wie unzutreffend, abgesehen davon, daß ein Titel des originalen Schreibens überhaupt nicht vorzustellen ist.“ 231 Siehe MEYER, Der Gelegenhetisdichter Venantius Fortunatus, 134: „Die reliquiensüchtige Radegunde machte den Versuch bei Justin und Sofia, dem Kaiserpaar in Konstantinopel, ein Stückchen des h. Kreuzes zu erlangen [...] Der König Sigibert – also begann das Unternehmen 568 oder später – schrieb selbst nach Konstantinopel, Radegunde aber bestellte den Abgesandten Reovales und bestritt die Kosten. Nachdem Justin und Sofia die Bitte erfüllt hatten, schickte Radegunde zum zweiten Mal den Abgesandten nach Konstantinopel mit einem bescheidenen Gegengeschenk und mit dem Dankgedichte (Appendix no. 2). Wenn je eine günstige Gelegenheit war, mit ihrem Vetter, dem General in kaiserlichen Diensten, wieder in Verbindung zu kommen, so war es diese, wo der Frankenkönig und Radegunde in direkte Verhandlungen mit dem griechischen Hofe traten...“ Allerdings steht in der Radegundisvita der Baudonivia (Kapitel 16) nur, dass Radegunde Sigibert um Erlaubnis bat, vom byzantinischen Kaiser ein Stück des heiligen Kreuzes zu erbitten. Das musste sie tun, da sie gegen den Willen des Frankenkönigs keine diplomatischen Kontakte mit Byzanz pflegen konnte. Es ist also keineswegs sicher, dass König Sigibert im eigenen Namen nach Byzanz geschrieben hat.

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3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

der Appendix bei Venantius Fortunatus in Auftrag gegeben 232 (Carmen, Appendix II stellt ein Dankgedicht an das Kaiserpaar dar, nachdem dieses Radegundes Wunsch entsprochen hat). Neuerdings hat allerdings Walz auf die Probleme hingewiesen, die sich ergeben, wenn man Carmen, Appendix I. so versteht, dass es sich um eine Aufforderung an Amalfred handelt, sich für Radegundes Sache beim Kaiserpaar einzusetzen, da vor allem der Anfang des Schlussteils im überlieferten Text von dem Wunsch nach einer Empfehlung an die Frankenkönige spricht.233 Die Lösung sieht sie insbesondere aufgrund der „enge[n] Anlehnung an die literarischen Vorbilder Ovids und Catulls und die Stilisierung Radegundes und Amalafreds zu mythischen Heroen“ darin, „das Werk als reine Literatur für Radegunde aufzufassen.“234 Handelt es sich bei diesem berühmten Carmen also um reine Literatur, oder ist es doch zu einem ganz konkreten Anlass mit einer ganz konkreten Absicht in Auftrag gegeben und verfasst worden? Diese Frage lässt sich vielleicht am besten über einen Umweg beantworten, wenn man nämlich das eher selten behandelte Carmen, Appendix III mit in die Überlegungen einbezieht. Auch in Bezug auf die Frage nach Venantius Fortunatus als Elegiker ist eine Analyse dieses Gedichtes äußerst lohnend, da, nachdem sie für Carmen Appendix I durch die ausführlichen Arbeiten von Bulst und Walz bereits geleistet ist, es als Referenz- und Vergleichstext herangezogen werden kann. 3.2.6.2.1. Carmen, Appendix III a) Text und Übersetzung Gerichtet ist das Carmen, das nur aus 42 Versen besteht, an Artachis, den Sohn des Amalafred. Wie in Carmen, Appendix I spricht Venantius Fortunatus im Namen der Radegunde:

232 Zu Amalafred vgl. BULST, Ndr. 45. Amalalfred war Radegundes Cousin, der Sohn ihres Onkels Hermenefred, der nach Gregor von Tours, Hist. Franc., III, 4, Radegundes Vater im Machtkampf um Thüringen getötet hatte. Radegunde wächst eine Zeit lang zusammen mit Amalafred im Hause ihres Onkels auf, ehe dieser von den Franken bezwungen wurde und Radegunde als Kriegsbeute in Frankenreich gelangte. Hermenfreds Frau, der Königin Amalaberga, gelingt jedoch die Flucht mit ihrem Sohn Amalafred und den übrigen Kindern ins Ostgotenreich nach Ravenna (531). Nach der Eroberung Ravennas durch die Byzantiner unter Justinian (550) gelangt Amalafred als Kriegsgefangener nach Byzanz, was von Prokop, Gothica, I, 13 bezeugt wird, und steigt später sogar zum Archonten unter Justinian auf (Prokop, Gothica, IV, 25). Man muss also von einem gewissen Einfluss ausgehen, den er am Hof von Byzanz gewonnen hatte und der ihn als Fürsprecher in einer diplomatischen Angelegenheit wie der Translation eines Spitters des wahren Kreuzes Christi prädestinierte. 233 Vers 165f., siehe dazu WALZ, Tu mihi solus eras, 531f. 234 WALZ, Tu mihi solus eras, 537.

3.2.6. Hymnen und Elegien

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Post patriae cineres et culmina lapsa parentum Nachdem das Vaterland in Asche liegt und die quod hostili acie terra Thuringa tulit, Häuser der Eltern gestürzt sind, was das thüringische Land durch feindliche Armee ertragen hat, si loquar infausto certamine bella peracta, wenn ich über die Kriege spreche, die in unquae prius ad lacrimas femina rapta trahar? glücklicher Schlacht vergangen sind, zu welchen Tränen werde ich, eine geraubte Frau, hingerissen? Quid mihi flere uacet? pressam hanc funere Was bleibt mir zu beweinen übrig? Das Volk, gentem 5 das von diesem Verderben bedrängt wurde, 5 an uariis uicibus dulce ruisse genus? oder dass mein teueres Geschlecht in verschiedenen Schicksalsfällen zugrunde gegangen ist? Nam pater ante cadens et auunculus inde Denn zuvor fiel der Vater und der Onkel ist ihm secutus gefolgt, triste mihi uulnus fixit uterque parens. und beide Väter haben bei mir eine Wunde hinterlassen. Restiterat germanus apex, sed sorte nefanda Übrig war nur der Bruder, doch in ruchlosem me pariter tumulo pressit harena suo. 10 Todesgeschick drückte der Sand auf seinem Grab zugleich auch auf mich. 10 Omnibus extinctis heu uiscera dura dolentis! Nachdem alle ausgelöscht waren (ach hart ist qui super unus eras, Hamalafrede iaces. das Herz der Leidenden!) liegst auch Du, der Du als einziger übrig warst, Amalafred, im Grab. Sic Radegundis enim post tempora longa So erhalte ich denn nach langer Zeit Nachricht. requiror. Euer Brief ertrug es dies der Traurigen zu Pertulit haec tristi pagina uestra loqui. sagen. Tale uenire diu expectaui munus amantis 15 So lange habe ich gewartet, dass ein solches militiaeque tuae hanc mihi mittis opem. Geschenk vom Geliebten kam, 15 und Du schickst mir diese Hilfe Deines Kriegsdienstes (in der Liebe). Dirigis ista meo nunc serica vellera penso, Du schickst mir nun diese Seidenfäden für ut, dum fila traho, soler amore soror. meine Wollarbeit dass ich, während ich die Fäden ziehe, als Schwester in Liebe getröstet werde. Siccine consuluit ualido tua cura dolori? War so Deine Anteilnahme für den heftigen primus et extremus nuntius ista daret. 20 Schmerz? Dies schenkte Deine erste und letzte Botschaft. 20 Nos aliter lacrimis per vota cucurrimus amplis, Wir sind durch reichliche Tränen anders zum non erat optanti dulcia amara dari. Ziel unserer Wünsche gelangt, nicht war es recht, der, die Süßes erwartete, Bitteres zu schenken.

392

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

Anxia sollicito torquebar pectora sensu: tanta animi febris his recreatur aquis.

Cernere non merui uiuum nec adesse sepulcro, 25 perferor exequiis altera damna tuis. Cur tamen haec memorem, tibi, care Artachis alumne, fletibus atque meis addere flenda tuis? Debueram potius solamina ferre parenti, sed dolor extincti cogit amara loqui.

30

Non fuit ex longa consaguinitate propinquus, sed de fratre patris proximus ille parens.

Nam mihi Bertharius pater, Hermenefredus: germanis geniti nec sumus orbe pari.

ille

Vel tu care nepos, placidum mihi redde propinquum 35 et sis amore meus quod fuit ille prius, meque monasterio missis rogo saepe requiras ac uestro auxilio stet locus iste Deo,

ut cum matre pia vobis haec cura perennis possit in astrigero reddere digna throno.40

Nunc Dominus tribuat uobis felicibus ut sit praesens larga salus, illa futura decus.

Mit dem Gefühl der Unruhe im Sinn wurde mein ängstliches Herz gequält: das so starke Fieber des Gemütes soll mit diesem Wasser gelindert werden. Nicht verdiente ich es, ihn lebend zu sehen noch an seinem Grab zu sein, 25 durch Deinen Tod erleide ich einen weiteren Untergang. Warum aber soll ich Dir diese in Erinnerung bringen, lieber Pflegesohn Artachis, und meinen und Deinen Tränen Beweinenswertes hinzufügen? Eher hätte ich Dir für den Vater Trost bringen müssen, aber der Schmerz über den Verstorbenen zwingt dazu, Bitteres zu sagen. 30 Nicht war er mir nahe aus direkter Blutsverwandtschaft, sondern vom Bruder meines Vaters war jener der nächste Vater / Verwandte. Denn mein Vater war Bertharius, seiner Hermenefred: Obwohl wir von Brüdern gezeugt worden sind, befinden wir uns doch nicht auf dem gleichen Teil der Erde. aber Du, lieber (Groß-)neffe, gib mir den sanften Verwandten zurück, 35 und sei durch meine Liebe, was jener zuvor war, und ich bitte, dass Du Dich oft mit Boten nach mir und dem Kloster erkundigst, und durch Eure Hilfe dieser Ort für Gott Bestand hat, dass für Euch ewiglich diese Sorge zusammen mit der frommen Mutter auf dem Stern tragenden Thron Würdiges zurückgeben kann. 40 Nun soll der Herr schenken, dass Euch, während Ihr glücklich seid, gegenwärtig das Heil reichlich vorhanden ist, und künftig der Lohn.235

235 Venantius Fortunatus, Carm., App. III, 1–42, lateinischer Text nach REYDELLET, III, 144– 146.

3.2.6. Hymnen und Elegien

393

b) Gliederung Dem Carmen liegt eine Dreiteilung zugrunde, die als quantitativ aufsteigende Klimax gestaltet ist. Der erste Teil besteht aus sechs Distichen, die das gemeinsame Schicksal von Radegunde und Amalafred beklagen und mit dem Tod des Alamafred enden. Der zweite Teil, in dem es um Radegunde und ihre Trauer über den Tod des Amalafred geht, ist genau ein Distichon länger; es folgt der Schlussteil, der acht Distichen umfasst, und in dem die Verwandtschaft zwischen Radegunde und ihrem (Groß-)neffen Artachis beschworen wird, und der mit Wünschen für Radegunde und Artachis236 endet. Also: I.

V. 1 – 12

II.

V. 13 – 26

III.

V. 27 – 42

Exposition: Das Schicksal der Radegunde: Untergang Thüringens, Verlust von Vaters und Oheim. Hauptteil: Radegunde und Amalafred: Todesnachricht und Trauer. Schluss: Radegunde und Artarchis: Trauer des Artarchis und Wünsche der Radegunde.

c) Interpretation und Vergleich mit Carmen, Appendix I Schon die Exposition signalisiert den Tenor des gesamten Gedichtes: Es handelt sich um eine Klage über das Schicksal, das im Untergang Thüringens seinen Ausgang nimmt: Post patriae cineres et culmina lapsa parentum Nachdem das Vaterland in Asche liegt und die quod hostili acie terra Thuringa tulit, Häuser der Eltern gestürzt sind, was das thüringische Land durch feindliche Armee ertragen hat, si loquar infausto certamine bella peracta, wenn ich über die Kriege spreche, die in unquae prius ad lacrimas femina rapta trahar? glücklicher Schlacht vergangen sind, zu welchen Tränen werde ich, eine geraubte Frau, hingerissen?237

Wie in Carmen, Appendix 1 beginnt Venantius Fortunatus also auch hier mit dem Fall Thüringens im Krieg gegen die Franken (531). Gibt es aber dort eine ausführliche Schilderung und wird der Untergang Thüringens mit dem Trojas verglichen,238 236 Vers 35–42. 237 Venantius Fortunatus, Carm., App. III, 1–4. 238 Der erste Abschnitt von Carmen App. I, geht bis Vers 32, wobei nach einer allgemeinen Sentenz (1f.) das Kriegsleiden erst allgemein (3–18), dann personal geschildert wird, indem

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

394

was nicht allein als literarische Reminiszenz gedacht ist, sondern auch auf die Herkunft der Thüringer anspielt, da diese wie viele andere Völker ihre Herkunft von den Trojanern ableiteten,239 wird hier im ersten Distichon nur knapp in Form einer praeteritio darauf eingegangen. Das Schicksal von Einzelpersonen, genauer, von Personen die in naher verwandtschaftlicher Beziehung zu Radegunde stehen, ist das Sujet dieses Abschnitts. In Carmen, Appendix I steht ebenfalls das Geschick von Einzelpersonen im Mittelpunkt des ersten Abschnitts.240 Was dort allgemein formuliert war, wird hier im zweiten Distichon mit dem Begriff femina rapta / eine geraubte Frau241 aufgenommen und direkt auf Radegunde bezogen, welche in Carmen, Appendix I erst im letzten Distichon des ersten Abschnittes konkret fassdie Schicksale einer Frau, eines Gefangenen und eines Knaben, der seiner Mutter entrissen und getötet wird, geschildert werden (19–32). In ihrer Analyse des Gedichtes arbeitet WALZ, Tu mihi solus eras, (siehe insbesondere 524f.) überzeugend die ringkompositorische Gestaltung des Gedichtes heraus und weist nach, dass Venantius Fortunatus sich hier an der Briefelegie an Allius (Catull, Carmen 68) orientiert. Ihr Gliederungsschema sei deshalb hier wiedergegeben (nach WALZ, Tu mihi solus eras, 538): „Struktur von carm. I der Appendix carminum (R.: Radegunde; A.: Amalafred) I (1 – 32): a (1 – 19): b (19 – 32):

Kollektive Vergangenheit Tod in Troja Tod in Thüringen

II (33 – 122): a (33 – 36): b (37 – 44): c (45 – 46): d (47 – 64): d’ (65 – 70): c’ (71 – 72): b’ (73 – 80): a’ (81 – 92): b’’ (93 – 104): d’’ (105 – 122): Trost durch A.s Weinen

Weinen um A. R.s Lebenssinn: Weinen für ihr totes Volk Trauer um die Lebenden, darunter A. Vorwurf an A., R. nicht mehr zu lieben Vergangenheit mit A.: Engste Nähe Gegenwart: Maximale räumliche Trennung von A. Milderung des Trennungsschmerzes Überwindung der Distanz durch Brief und Porträt A.s Nicht einmal das Weinen bringt Trost Weitere Pein durch die geographische Ungewißheit Überwindung der Trennung im Tod;

III (123 – 154): a (123 – 148): b (149 – 154):

Familiäre Vergangenheit Tod des Bruders Tod der Eltern und Verwandten

IV (155 – 164):

Zusammenfassung von I – III

V (165 – 172): Explicit des Dichters a (165 – 168): Bitte an R. um Empfehlung b (169 – 172): Anrufung Christi“ 239 Siehe WALZ, Tu mihi solus eras, 524. 240 Venantius Fortunatus, Carm., App. I, 19–32, siehe dazu auch WALZ, Tu mihi solus eras, 525. 241 Venantius Fortunatus, Carm., App. III, 3f.

3.2.6. Hymnen und Elegien

395

bar wird und dann in der Ich-Form spricht.242 Diese Bezüge zeigen, dass Carmen, Appendix III offensichtlich auf Carmen, Appendix I anspielt und demnach beim Rezipienten die Kenntnis des ersten Gedichtes voraussetzt. Besonders deutlich wird dies im dritten Distichon, Quid mihi flere uacet? pressam hanc funere Was bleibt mir zu beweinen übrig? Das Volk, gentem 5 das von diesem Verderben bedrängt wurde, 5 an uariis vicibus dulce ruisse genus. oder dass mein teueres Geschlecht in verschiedenen Schicksalsfällen zugrunde gegangen ist.243

das zusammenfassend einen Gedanken aus Carmen, Appendix I aufgreift: Quisque suos habuit fletus, ego sola sed omnes: Ein jeder hatte seine Tränen, ich allein aber est mihi priuatus publicus ille dolor. die Tränen aller, jener öffentliche Schmerz ist für mich ein privater. Consulit fortuna uiris quos perculit hostes: Das Schicksal sorgte dafür, dass ich alle Mänut flerem cunctis una superstes agor. ner, die der Feind getötet hatte, beweinen musste, weil ich als einzige überlebend umher getrieben werde.244

In einem für Venantius Fortunatus typischen Paradoxon wird hier literarisch mit Kollektiv- und Einzelschicksal gespielt und darauf abgehoben, dass Radegunde einerseits persönlich den Verlust ihrer Familie zu beklagen hat, andererseits in ihrer Eigenschaft als Prinzessin der Thüringer aber auch den Verlust der Mitglieder aller thüringischen Familien.245 Drückt sich hier nicht nur ihre Sonderstellung, sondern durch den Begriff sola / allein246 und una superstes / als einzige übrig247 ihre Einsamkeit und Verlassenheit aus, die in Carmen, Appendix I ein zentrales Motiv im zweiten Teil248 darstellt. Da ihr nur die Liebe zu ihrem Cousin Amalafred geblieben ist, ist in Carmen, Appendix III die Situation noch hoffnungsloser, da Amalafred tot ist und sie so neben dem Schicksal ihres Volkes den Tod ihrer gesamten Ver242 243 244 245

Venantius Fortunatus, Carm., App. I, 31f., siehe dazu auch WALZ, Tu mihi solus eras, 525. Venantius Fortunatus, Carm., App. III, 5f. Venantius Fortunatus, Carm., App. I., 33–35, lateinischer Text nach REYDELLET, III, 134. Vgl. WALZ, Tu mihi solus eras, 525f.: „Der allgemeinen Aussage ‚jeder hatte zu weinen‘ wird sogleich Radegundes subjektive Empfindung gegenübergestellt: ego sola sed omnes ‚ich allein aber habe die Tränen aller’ (33). Radegunde vereint sogar das Leid ihres ganzen Volke in sich, ,jener öffentliche Schmerz war für mich ein persönlicher’ (34). Eine entsprechende Gegenüberstellung enthalten die Verse 35f.: Das Schicksal sämtlicher Männer, die der Feind tötete, war es zu sterben; Radegundes Einzelschicksal aber ist es, für alle zu weinen.“ 246 Venantius Fortunatus, Carm., App. I, 33. 247 Vers 35. 248 Vers 33–122.

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3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

wandtschaft zu beweinen hat.249 Das Motiv des Untergangs wird von Venantius Fortunatus in den nächsten drei Distichen weiter ausgeführt, wobei das erste dem Tod von Vater und Onkel, die beide als Elternteil / parens betitelt werden, gewidmet ist.250 Darauf folgt ein Distichon zum Tod des Bruders,251 an das sich das über den Tod Amalafreds direkt anschließt.252 Wie in Carmen, Appendix I253 wird dabei der Gedanke exponiert, dass Amalafred als einziger Verwandter übrig geblieben ist, ein Gedanke, der dort mit deutlichem Bezug auf den Brief der Briseis an Achill in Ovids Heroides ausgeführt ist.254 In einem durchgehenden Argumentationsgang wird hier also die Situation ihrer Einsamkeit und Verlassenheit expliziert, die thematisch unter dem Motto Quid mihi flere uacet? Was bleibt mir übrig zu beweinen? gefasst werden kann.255 Der Tenor der Totenklage in Kombination mit dem Metrum des elegischen Distichons charakterisiert das Carmen als Klageelegie; das Motiv der Verlassenheit verbindet es mit den Heroinenbriefen Ovids, besonders zu denen, in denen die Geliebte nicht von einem treulosen Liebhaber verlassen worden ist, sondern das Schicksal (d.h. der Zug der Griechen gegen Troja) für die Trennung verantwortlich ist.256 Ist bei Ovid im Falle des Briefs von Laodamia an Protesilaus das Todesmotiv lediglich in Form von Traumerscheinungen und Vorahnungen gegenwärtig,257 so hat Radegunde Gewissheit. Die Klage über den Tod des Amalafred bildet das Sujet des Hauptteils, in wiederum deutlich auch Carmen, Appendix I Bezug genommen wird. Dabei wird das Motiv der Verlassenheit gleich zu Beginn mit dem Namen der Radegunde in Verbindung gebracht: 249 Venantius Fortunatus, Carm., App. III, 5f. 250 Vers 7f.: Nam pater ante cadens et auunculus inde secutus / triste mihi uulnus fixit uterque parens / Denn zuvor fiel der Vater und der Onkel ist ihm gefolgt, und beide Väter haben bei mir eine Wunde hinterlassen. 251 Vers 9f.: Restiterat germanus apex, sed sorte nefanda / me pariter tumulo pressit harena suo / Übrig war nur der Bruder, doch in ruchlosem Todesgeschick / drückte der Sand auf seinem Grab zugleich auch auf mich. 252 Vers 11f.: Omnibus extinctis heu uiscera dura dolentis! / qui super unus eras, Hamalafrede iaces / Nachdem alle ausgelöscht waren (ach hart ist das Herz der Leidenden!) / liegst auch Du, der Du als einziger übrig warst, Amalafred, im Grab. 253 Vers 51f.: Quod pater extinctus poterat, quod mater haberi, / quod soror aut frater, tu mihi solus eras. / Was für den verstorbenen Vater, was für die Mutter gehalten werden konnte, was für Bruder oder Schwester, das warst Du mir allein. 254 Ovid, Heroides, III, 51f.: tot tamen amissis te compensavimus unum, / tu dominus, tu vir, tu mihi frater eras. / Nach dem Verlust so vieler (Verwandten) hatte ich Dich als einzigen Ersatz, / Du warst mir Herr, Mann und Bruder. Siehe dazu WALZ, Tu mihi solus eras, 535. Venantius Fortunatus lehnt sich hier nicht nur an den ovidianischen Text an, sondern verwendet ihn auch exakt an derselben Stelle (Vers 51f.). 255 Vers 5. Auch in Venantius Fortunatus, Carm., App. I spielt der Tod von Bruder und Verwandten als elegisches Motiv eine große Rolle. Ihm ist dort ein eigener Teil (Vers 123–154) gewidmet, der ringkompositorisch mit der eingangs geschilderten Zerstörung von Thüringen korrespondiert, siehe WALZ, Tu mihi solus eras, 529–531 und das Schema 538. 256 Vgl. z. B. Ovid, Heroides, I (Penelope an Ulixes), III (Briseis an Achill) bzw. XIII (Laodamia an Protesilaus). 257 Siehe Ovid, Heroides, XIII, 109ff.

3.2.6. Hymnen und Elegien

Sic Radegundis enim post tempora longa requiror. Pertulit haec tristi pagina uestra loqui. Tale uenire diu expectaui munus amantis 15 militiaeque tuae hanc mihi mittis opem.

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So erhalte ich denn nach langer Zeit Nachricht. Euer Brief ertrug es dies der Traurigen zu sagen. So lange habe ich gewartet, dass ein solches Geschenk vom Geliebten kam, 15 und schickst Du mir diese Hilfe Deines Kriegsdienstes (in der Liebe).258

Hier geht es um den Schmerz der Radegunde, den sie nach Erhalt der Todesnachricht empfindet. Sie selbst wird als tristis / traurig259 apostrophiert, was sich logisch auf ihren Zustand vor Erhalt des Briefes uestra pagina260 beziehen muss: Radegunde war also schon vorher traurig, weil sie von Amalafred nichts gehört hatte, und diese Trauer wird durch die Nachricht vom Tode geradezu ins Unermessliche gesteigert. Die Terminologie aus dem Repertoire der Liebeselegie im nächsten Distichon, wo vom Geliebten / amans, seinem Geschenk munus und der militia / dem Kriegsdienst (der Liebe) die Rede ist261 nimmt eindeutig Bezug auf den zweiten Teil von Carmen, Appendix I,262 was voraussetzt, dass der Rezipient (also Artachis) dieses Carmen kannte. Auch in der näheren Explikation des Gedankens in den folgenden Distichen verwendet Venantius Fortunatus Motive aus Trauer- und Liebeselegie: Radegunde hat zwar ein Geschenk erhalten, sogar ein sehr kostbares, nämlich Seidenfäden,263 doch können sie keinen Trost für die verlorene Liebe darstellen: Dirigis ista meo nunc serica vellera penso, ut, dum fila traho, soler amore soror.

Du schickst du mir nun diese Seidenfäden für meine Wollarbeit dass ich, während ich die Fäden ziehe, als Schwester in Liebe getröstet werde.264

Mit dem Motiv der Geliebten, die zu Hause bei der Wollarbeit sitzt und das auf den Betrug der Penelope an den Freiern durch ihre Webarbeit Bezug nimmt,265 spielt bereits Ovid in den Heroides, wo Penelopes List in Umkehrung erscheint.266 Eben258 259 260 261 262 263

Venantius Fortunatus, Carm., App. III, 13–16. Vers 14. Vers 14. Vers 15f. Venantius Fortunatus, Carm., App. I, Vers 33–122. Seit Mitte des 6. Jh. gab es in Byzanz eine einheimische Seidenproduktion, siehe D. JACOBY, Seide. B. Byzantinisches Reich, in LexMa 7, Sp. 1707–1709. 264 Venantius Fortunatus, Carm., App. III, 15f. 265 Penelope täuscht die Freier dadurch, dass sie vorgibt, ein Leichentuch für ihren Schwiegervater Laertes zu weben, dass sie nachts aber wieder auftrennt. 266 Ovid, Heroides, I, 77f: (Brief der Penelope an Odysseus, lateinischer Text nach der Ausgabe von SHOWERMAN, Cambridge, Mass. / London 1977): forsitan et narres, quam sit tibi rustica coniunx, / quae tantum lanas non sinat esse rudes / vielleicht erzählst Du (Odysseus) auch, wie bäurisch Deine Gattin ist, die nicht aufhört, die Wolle unbearbeitet zu lassen.

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3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

falls bei Ovid, nämlich in den Metamorphosen, beklagt Hekabe nach der Opferung der Polyxena, dass sie selbst zum Geschenk der Penelope geworden sei: Dort erscheint das Motiv der Spinnens im Zusammenhang mit einer Klage.267 Venantius Fortunatus hebt hingegen vor allem auf die elegischen Motive des munus / Geschenkes (die Seide) und Liebe / amor ab, die hier allerdings als eine geschwisterliche charakterisiert wird268 und wiederum einen zentralen Gedanken von Carmen, Appendix I aufnimmt und auch in der Exposition von Carmen, Appendix III bereits angedeutet war:269 Quod pater extinctus poterat, quod mater Was für den verstorbenen Vater, was für die haberi Mutter gehalten werden konnte, quod soror aut frater, tu mihi solus eras. was für Schwester oder Bruder, das warst Du mir allein.270

Auch die nächsten drei Distichen stehen in engem Bezug zur Motivik im Carmen, Appendix I: Siccine consuluit ualido tua cura dolori? primus et extremus nuntius ista daret. 20

War so Deine Anteilnahme für den heftigen Schmerz? Dies schenkte Deine erste und letzte Botschaft. 20 Nos aliter lacrimis per uota cucurrimus amplis, Wir sind durch reichliche Tränen anders zum non erat optanti dulcia amara dari. Ziel unserer Wünsche gelangt, nicht war es recht, der, die Süßes erwartete, Bitteres zu schenken. Anxia sollicito torquebar pectora sensu: Mit dem Gefühl der Unruhe Sinn wurde mein tanta animi febris his recreatur aquis. ängstliches Herz gequält: das so starke Fieber des Gemütes soll mit diesem Wasser gelindert werden.

267 Vgl. Ovid, Metamorphosen, XIII, 509–515 (lateinischer Text nach der Ausgabe von ANDERSON, Stuttgart / Leipzig 1993): ...modo maxima rerum, / tot generis natisque potens nuribusque viroque / nunc trahor exul, inops, tumulis avulsa meorum, / Penelopes munus, quae me data pensa trahentem / ostendens Ithacis ‘haec Hectoris illa est / clara parens, haec est’ dicet ‘Priameia coniunx’, / postque tot amissos tu nunc, quae sola levabas / maternos luctus, hostilia busta piasti / ...eben noch sehr groß, / mächtig durch so viele Schwiegersöhne, Söhne, Schwiegertöchter und den Mann / nun ein Geschenk für Penelope, die mich, die ich die aufgetragene Wollarbeit verrichte, / den Müttern Ithakas zeigen und sagen wird: ‚jene ist Hektors / berühmte Mutter, die Gattin des Priamos’, und nach den so zahlreichen verlorenen Angehörigen bist du (Polyxena), die du als einzige die Trauer der Mutter lindertest, / nun auf dem Scheiterhaufen eines Feindes als Sühneopfer dargebracht worden. 268 Venantius Fortunatus, Carm., App. III, 18. 269 Siehe Venantius Fortunatus, Carm., App. III. 270 Venantius Fortunatus, Carm., App. I, 51f. Dieses Zitat nimmt Ovid, Heroides, III, 51f. auf (Briseis an Achill) und parallelisiert damit das Schicksal der kriegsgefangenen Radegunde mit dem der homerischen Briseis; darauf weist WALZ, Tu mihi solus eras, 534f. hin.

3.2.6. Hymnen und Elegien

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Cernere non merui uiuum nec adesse sepulcro, Nicht verdiente ich es, ihn lebend zu sehen 25 noch an seinem Grab zu sein, 25 perferor exequiis altera damna tuis durch Deinen Tod erleide ich einen weiteren Untergang.271

Sowohl das Motiv der Botschaft als auch die Unruhe der Geliebten werden dort breit ausgestaltet: Vix erat in spatium, quo te minus hora referret; Kaum war eine Zeit, in der Dich nicht weniger 55 als eine Stunde zurückbrachte, 55 saecula nunc fugiunt, nec tua uerba fero. nun entflieht die Zeit, und nicht höre ich Worte von Dir. Voluebam rabidas inliso pectore curas, Reißende Sorgen wälzte ich in meiner wunden ceu revocareris, quando uel unde, parens. Brust hin und her ob Du zurückgerufen würdest, und wann und woher, Vater, Si pater aut genetrix aut regia cura tenebat, Wenn Dein Vater oder die Mutter oder eine cum festinabas iam mihi tardus eras. 60 königliche Aufgabe Dich in Beschlag nahmen, warst Du mir, auch wenn Du eiltest, zu langsam. 60 Sors erat indicium, quia te cito, care, carerem; Das Schicksal war ein Zeichen, dass ich Dich, importunus amor nescit habere diu. Liebster, rasch entbehren sollte; Liebe zur ungünstigen Zeit, versteht es nicht, lange zu währen. Anxia uexabar, si non domus una tegebat, Ängstlich wurde ich gequält, wenn uns nicht ein egregiente foris rebar abisse [procul]. und dasselbe Dach beherbergte, wenn Du vor die Türe gingst, glaubte ich, dass Du weit weg gegangen seiest.272

Das Motiv des Grabes, das sie nicht besuchen kann, erscheint ebenfalls in Carmen, Appendix I, dort allerdings in Zusammenhang mit Radegundes ermordetem Bruder: Percutitur iuvenis tenera lanugine barbae, absens nec uidi funera dira soror.

Er wurde als Jüngling im Alter des zarten ersten Bartwuchses ermordet, und weil ich abwesend war, sah ich, die Schwester, nie sein grausiges Grab.

271 Venantius Fortunatus, Carm., App. III, 19–26. 272 Venantius Fortunatus, Carm., App. I, 55–64, lateinischer Text nach REYDELLET, III, 135. Die Konjektur procul (Vers 64) nach LEO, MGH, AA, IV, 1, 272. Die Verbindung der Sorge in der Brust um einen Geliebten ist sowohl bei Catull, Carmen 64, 72 als auch bei Vergil, Aeneis, IV, 530–532 vorgegeben. Zur ausführlichen Interpretation dieser Stelle siehe WALZ, Tu mihi solus eras, 526f.

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3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

Non solum amisi, sed nec pia lumina clausi135 Nicht habe ich ihn allein verloren, sondern ihm nec super incumbens ultima uerba dedi, auch nicht fromm die Augen geschlossen, 135 noch mich über ihn gebeugt und dabei letzte Worte zu ihm gesprochen, frigida non calido tepefeci uiscera fletu, nicht habe ich den kalten Körper mit heißem oscula nec caro de moriente tuli, Tränenstrom erwärmt, noch habe ich von den lieben Sterbenden Küsse davontragen können, amplexu in misero neque collo flebilis haesi noch habe ich weinend am Hals des Unglückliaut foui infausto corpus anhela sinu. 140 chen gehangen oder stöhnend den Leichnam am unglückli140 chen Busen gewärmt. 273

Während hier die Einzelheiten der Bestattung weit ausgeführt werden und Venantius Fortunatus wiederum auf einen ovidianischen Prätext aus den Heroides zurückgreift,274 erscheint derselbe Gedanke in Carmen, Appendix III auf Amalafred bezogen, allerdings verkürzt, der Gedanke nämlich, dass Radegunde Amalafred weder lebend noch einmal zu sehen gestattet war, noch bei seiner Bestattung zugegen zu sein.275 Ganz offensichtlich wird kursorisch auf das angespielt, was in Carmen, Appendix I ausführlich behandelt war, woraus wiederum gefolgert werden muss, dass dem Rezipienten, also Artachis, das erste Carmen bekannt war. Somit wird auch Carmen, Appendix I zu einem Prätext von Carmen, Appendix III und damit wird der Tod des Amalafred auf dieselbe Stufe gestellt wie der des Bruders der Radegunde. Auch auf diese Weise exponiert Venantius Fortunatus das geschwisterliche Verhältnis zwischen Radegunde und Amalafred.

273 Venantius Fortunatus, Carm., App. I, 133–140, lateinischer Text nach REYDELLET, III, 138f. 274 Siehe dazu WALZ, Tu mihi solus eras, 536: „Ein weiteres Vorbild für den Konflikt um Bruder und Geliebten fand Venantius Fortunatus in dem Brief der Kanake an Makareus (XI). Dort handelt es sich um die Inzestliebe zwischen den Geschwistern Kanake und Makareus. Als Äolus, der Vater der beiden, von der Blutschande erfuhr, tötete er das aus der Verbindung geborene Kind und zwang Kanake zum Selbstmord. In ihrem Abschiedsbrief an Makareus klagt Kanake, dass sie ihr Kind nicht bestatten und beweinen konnte, dass sie sich nicht einmal über es beugen und Küsse von den kalten Lippen rauben konnte: non superincubui, non oscula frigida carpsi, diripiunt avidae viscera nostra ferae. (XI, 117f.) Die Totenehrung, die Kanake nicht mehr ausrichten konnte, soll Makareus sowohl an ihrem gemeinsamen Kind als auch an ihr selbst vollziehen. Auch Radegunde liebt Amalafred wie einen Bruder (vgl. V. 52), eine Inzestliebe wäre jedoch in ihrem Weltbild undenkbar. So nimmt den Platz des Kindes der leibliche Bruder ein, der bei seinem Tod fast noch ein Kind war (133). Auch Radegunde war es nicht vergönnt, sich über ihn zu beugen, seinen kalten Leib mit heißen Tränen zu wärmen und Küsse von dem geliebten Sterbenden davonzutragen [...]“ 275 Venantius Fortunatus, Carm., App. III, 25f.: Cernere non merui uiuum nec adesse sepulcro, / perferor exequiis altera damna tuis. / Nicht verdiente ich es, ihn lebend zu sehen noch an seinem Grab zu sein, / durch Deinen Tod erleide ich einen weiteren Untergang.

3.2.6. Hymnen und Elegien

401

Das Motiv der Klage bestimmt ebenso den Schlussteil des Carmen. Ist in den ersten beiden Abschnitten von Radegundes Schicksal276 bzw. ihrer Trauer um Amalafred die Rede gewesen,277 so geht es im letzten Abschnitt um die Trauer, die dessen Sohn Artachis empfinden muss. Nach dem Prinzip der wachsenden Glieder ist dieser Teil wiederum um ein Distichon länger als der vorhergegangene. Wie zu Beginn des zweiten Teils die Protagonistin Radegunde namentlich genannt wurde,278 wird auch Artachis gleich im ersten Vers mit Namen angesprochen: Cur tamen haec memorem, tibi, care Artachis Warum aber soll ich Dir diese in Erinnerung alumne, bringen, lieber Pflegesohn Artachis, fletibus atque meis addere flenda tuis? und meinen und Deinen Tränen Beweinenswertes hinzufügen? Debueram potius solamina ferre parenti, Eher hätte ich Dir für den Vater Trost bringen sed dolor extincti cogit amara loqui. müssen, 30 30 aber der Schmerz über den Verstorbenen 30 zwingt dazu, Bitteres zu sagen. 279

Dieser Schlussteil zeigt neben dem Element der Klage und den topischen Wünschen für Artachis und seine Mutter, dass sie auf Erden glücklich leben sollen und künftig im Himmel ihren Lohn erhalten sollen,280 deutliche Hinweise auf eine konkrete Hilfe, die Artachis Radegunde und ihrem Kloster angedeihen lassen hat oder angedeihen lassen wird.281 In Hinsicht auf diese konkrete Hilfe ist auch die Hervorhebung des Artachis als letzten lebenden Verwandten der Radegunde zu verstehen, nachdem Amalafred gestorben ist. Da Amalafred in Carmen, Appendix I, auf das Carmen, Appendix III immer wieder anspielt, als Geliebter stilisiert worden ist, kann Artachis hier gleichsam als Radegundes Pflegesohn / alumnus282 angesprochen werden. Der Hinweis darauf, dass die Aufzählung von Radegundes Kummer den von Artachis noch vergrößern könnte,283 nachdem es zuletzt um Amalafred 276 277 278 279 280 281

Vers 1–12. Vers 14–26. Vers 13. Venantius Fortunatus, Carm., App. III, 27–30. Vers 39–42. Vers 37f.: meque monasterio missis rogo saepe requiras / ac uestro auxilio stet locus iste deo, / Und ich bitte, dass Du Dich oft mit Boten nach mir und dem Kloster erkundigst, / und durch Eure Hilfe dieser Ort für Gott Bestand hat. 282 Vers 27. Gegen MEYER, Der Gelegenheitsdichter Venantius Fortunatus, 137, der in Artachis den Sohn des ermordeten Bruders von Radegunde sieht, wendet sich zu Recht GEORGE, Venantius Fortunatus, 166, Anm. 67: „Meyer, 136–7, suggests that Artachis was the son of Radegund’s brother, killed in Gaul about 550 (Gregory, HF, 3. 7), that he lived with his mother (line 39), and supported the community (lines 37–8). But these lines represent hopes, not facts; and the close parallel in content, style, and tone with Appendix 1 make ist more likely that this poem too was adressed to Byzantium, and that Artachis possibly was Amalfrid’s son.“ 283 Venantius Fortunatus, Carm., App. III, 27f.: Cur tamen haec memorem, tibi, care Artachis alumne, / fletibus atque meis addere flenda tuis? / Warum aber soll ich Dir diese in Erinne-

402

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

gegangen ist, zeigt unmissverständlich, dass Amalafred auch von Artachis betrauert wurde, also wohl dessen Vater gewesen ist. Amalafred bzw. Radegundes Trauer um ihn ist der komplette zweite Abschnitt gewidmet284 und offenbar ist die Todesnachricht gerade erst an Radegunde gelangt.285 Dieses Carmen erscheint somit als unmittelbare Reaktion auf die Nachricht von seinem Tod. So ist es völlig unvorstellbar, dass es sich bei Artachis nicht um einen nahen Verwandten bzw. den Sohn des Amalafred handelt, denn die Todesnachricht geht ja von ihm aus (pagina uestra).286 Damit wird aber wiederum ein Zusammenhang zu Carmen, Appendix I hergestellt, der sich am einfachsten so erklären lässt: Die erste Briefelegie richtet sich an Amalafred, beschwört die enge Beziehung zwischen ihm und Radegunde. Diese Elegie erreicht aber ihren Adressaten nicht, sondern nur dessen Sohn, der daraufhin die Nachricht vom Tod des Vaters an Radegunde und als Geschenk kostbare Seide aus Konstantinopel übersendet, worauf diese ein zweites Carmen sendet, das in ihrem Namen von Venantius Fortunatus verfasst ist und sich direkt an Artachis wendet. In diesem zweiten Carmen wird, wie die Analyse der ersten beiden Teile gezeigt hat, auf das erste angespielt, d.h. dessen Inhalt bei Artachis als bekannt vorausgesetzt. Auch der dritte Teil deutet in diese Richtung: Nachdem zunächst das allgemeine Schicksal und der Verlust der Verwandtschaft der Radegunde im ersten Teil beklagt worden sind,287 im zweiten288 Amalafreds Tod unter Anspielung auf ihr besonderes Verhältnis, wird im dritten Teil dieses Verhältnis durch die Charakterisierung der Verwandtschaft 289 erklärt. Zugleich wird Artachis als einzigem verbliebenen Verwandten eine besondere Rolle zuerkannt, auf die das Carmen gleichsam zuläuft:

284 285

286

287 288 289

rung bringen, lieber Pflegesohn Artachis, / und meinen und Deinen Tränen Beweinenswertes hinzufügen? Vers 13–26. Vers 13f.: Sic Radegundis enim post tempora longa requiror. / Pertulit haec tristi pagina uestra loqui. / So erhalte ich denn nach langer Zeit Nachricht. / Euer Brief ertrug es dies der Traurigen zu sagen. Vers 14. Der Deutung von MEYER, Der Gelegenheitsdichter Venantius Fortunatus, 136, dass dieser Ausdruck in dem Sinne aufzufassen sei, Radegunde erhalte die Todesbotschaft anstelle eines Briefes von Amalafred, stehen sowohl metrische Gründe (pagina uestra muss Nominativ und Subjekt sein) als auch das uestra entgegen, dass entweder Amalafred im Pluralis Majestatis anredet oder seine Mutter (siehe Vers 39) mit einbezieht, dann wäre der Brief mit der Todesnachricht von beiden ausgegangen. Venantius Fortunatus, Carm., App. III, 1–12. Vers 13–26. Vers 32–34: Non fuit ex longa consaguinitate propinquus, / sed de fratre patris proximus ille parens. / Nam mihi Bertharius pater, ille Hermenefredus: / germanis geniti nec sumus orbe pari / Nicht war er mir nahe aus direkter Blutsverwandtschaft, / sondern vom Bruder meines Vaters war jener der nächste Vater / Verwandte, / denn mein Vater war Bertharius, seiner Hermenefred: / obwohl wir von Brüdern gezeugt worden sind, befinden wir uns doch nicht auf dem gleichen Teil der Erde.

3.2.6. Hymnen und Elegien

403

Vel tu care nepos, placidum mihi redde aber Du, lieber (Groß-)neffe, gib mir den sanfpropinquum 35 ten Verwandten zurück, 35 et sis amore meus quod fuit ille prius. und sei durch meine Liebe, was jener zuvor war.290

Die beobachteten Phänomene der Literarizität und der Intertextualität werden hier offensichtlich im Hinblick auf einen bestimmten Anlass funktionalisiert. Daher ist es sinnvoll, zunächst nach diesem konkreten Anlass für die Abfassung des Carmen zu fragen und diesen Aspekt bei der Schlussbetrachtung einzubeziehen. Schon Meyer hatte Carmen, Appendix I in Zusammenhang mit der Translation der Kreuzreliquie von Konstantinopel nach Poitiers gestellt:291 Radegunde wollte vom byzantinischen Kaiserpaar einen Splitter des Heiligen Kreuzes erhalten, das nach der Entdeckung durch Konstantins Mutter Helena im heiligen Land in Konstantinopel verwahrt wurde, und hatte mit ihrem Unterfangen Erfolg. Im Vorfeld dazu wurde eine von ihr finanzierte Gesandtschaft nach Konstantinopel geschickt,292 für die ein Fürsprecher in Gestalt des einflussreichen Amalafred sicher hilfreich sein konnte. Allerdings enthält das Carmen in der überlieferten Fassung keine derartige Aufforderung an Amalafred, sondern im letzten Teil (Vers 165ff.) Wünsche um Empfehlung an die Frankenkönige, die sich eigentlich nur auf Venantius Fortunatus selbst beziehen können, wie Walz in ihrer Analyse herausgearbeitet hat.293 Das legt den Schluss nahe, dass der Dichter diesen Teil im eigenen

290 Vers 35f. 291 Siehe MEYER, Der Gelegenheitsdichter Venantius Fortunatus, 131–134. 292 Vgl. Baudonivia, Vita sanctae Radegundis, II, 16 (nach der Ausgabe von KRUSCH, MGH, SRM, II, S. 387f.) 293 Siehe WALZ, Tu mihi solus eras: 531f.: „Der V. Teil (165–172) beginnt mit einem Distichon (165f.), über dessen Sinn schon viel gerätselt wurde: Ut me commendes Francorum regibus, oro, qui me materna sic pietate colunt. (165f.) Kaum kann hier, wie in den vorausgehenden Versen Amalafred angesprochen sein; es wäre ein seltsamer Wunsch, dass ausgerechnet er, der von den fränkischen Königen aus seiner Heimat Thüringen vertrieben wurde, aus dem fernen byzantinischen Reich Radegunde denselben Königen empfehlen soll. Vielmehr findet hier ein Subjektswechsel statt: Das sprechende Ich ist nun der Dichter selbst, der nach vollendetem Werk als Explicit in der Art der Schreiberverse seine Bitte, ihn den fränkischen Königen zu empfehlen, gegenüber der Adressatin seines Gedichtes aufgrund ihrer Stellung und ihres Einflusses äußert. Qui[...] te materna pietate sic colunt: Nur auf Radegunde bezogen gibt materna pietate einen Sinn. Außerdem wünscht der Dichter seiner Gönnerin ein langes Leben, auf daß ihr Ansehen seinem Heil zugute komme (167f.). Abschließend (169–172) ruft Venantius Fortunatus, weiterhin als Explicit, zur Bestärkung des Gesagten Christus an, daß der Brief die amantes (169; siehe unten) erreiche und eine rasche Antwort zu Radegundes Aufrichtung erfolge. Durch den nahtlosen und kaum wahrnehmbaren Subjektswechsel bezieht der Dichter sich selbst in den Inhalt, das innere Drama der Elegie ein. Auch wer die amantes sind, die der Brief erreichen möge, ist bewußt zweideutig gehalten: Es sind sowohl die Verwandten im fernen Byzanz (Amalafred und seine Schwestern) als auch Radegunde selbst, der Venantius Fortunatus die Briefelegie schickt, um die verehrte Freundin zu trösten und an ihrem Leid

404

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

Namen angefügt hat. Möglicherweise war das im Original auch durch einen entsprechenden Absatz kenntlich gemacht. Wenn dieser letzte Absatz aber von Venantius Fortunatus im eigenen Namen, gleichsam als Anhang, der mit dem eigentlichen Text nichts zu tun hat, verfasst worden ist, bedeutet dies aber auch, dass Carmen, Appendix I keinen konkreten Bezug nimmt auf die Translation der Kreuzreliquie bzw. auf die diplomatische Mission, die dies erreichen soll. Es bedeutet allerdings nicht, dass kein Zusammenhang zur Translation der Kreuzreliquie nach Poitiers besteht. Denn, wenn die Briefelegie von einem Boten an Amalafred überbracht worden ist, wird die eigentliche Botschaft, besonders wenn es sich um eine diplomatisch heikle Angelegenheit handelte, nicht im selben Schriftstück, sondern getrennt davon oder mündlich überbracht worden sein. Das Carmen wäre demnach als Gastgeschenk aufzufassen, so wie Carmen, Appendix II, das Gedicht an Justin und seine Gattin Sophia, ebenfalls als Dankgeschenk für Erfüllung der Bitte in einer zweiten diplomatischen Mission überbracht wurde.294 Der Zweck von Carmen, Appendix I hätte dann in Zusammenhang mit der eigentlichen Botschaft darin bestanden, Amalafred geneigter zu machen, sich beim Kaiserpaar für die Sache der Radegunde einzusetzen. Das Carmen erreicht seinen Adressaten jedoch nicht, da Amalafred, als Carmen und Bote in Konstantinopel eintreffen, bereits tot ist. Stattdessen geht es an seinen Sohn Artachis, was die offenkundigen Bezüge in Carmen, Appendix III nahelegen. Wenn es tatsächlich nur zwei Gesandtschaften nach Konstantinopel gegeben hat, ist Carmen, Appendix III dann aber nicht als eine Aufforderung an Artachis zu verstehen, sich anstelle seines Vaters dafür einzusetzen, dass Radegunde einen Splitter des heiligen Kreuzes erhält, sondern als Begleitbrief und Dank dafür, dass er eben das bereits getan hat: Artachis hat wohl das Carmen an seinen Vater gelesen, zugleich von dem Boten die entsprechende Botschaft erhalten und sich selbst oder zusammen mit seiner Mutter (pia mater)295 im Interesse der Radegunde bei Hofe eingesetzt, was Radegunde dazu veranlasste, für die Reliquie bei Venantius Fortunatus nicht nur ein Dankgedicht an das Kaiserpaar, sondern auch ein Gedicht an Artachis in Auftrag zu geben. Beides dürfte mit der zweiten Gesandtschaft nach Konstantinopel gebracht worden sein.

Anteil zu nehmen. Die Elegie ist somit ein doppeltes Freundschaftsgedicht über die Liebe und aus Liebe, einmal an Amalafred gerichtet und einmal an Radegunde.“ 294 Zu diesen zwei Gesandtschaften siehe Baudonivia, Vita sanctae Radegundis, II, 16 (nach der Ausgabe von KRUSCH, MGH, SRM, II, S. 387f.). Zu Venantius Fortunatus, Carm., App. II (an Justin und Sophia) vgl. jetzt auch M. PISACENE, Il Carme Ad Iustinum et Sophiam Augustos di Venantio Fortunato, Vetera christianorum 39, 2 (2002), 303–342. 295 Vgl. VENANTIUS FORTUNATUS, Carm., App. III, 39.

3.2.6. Hymnen und Elegien

405

3.2.6.2.2. Zusammenfassung Die Analyse von Carmen, Appendix III im Vergleich mit Carmen, Appendix I und ihre Situierung im historischen Kontext hat einige Spezifika über Venantius Fortunatus als Elegiker zutage gefördert: Sowohl Carmen, Appendix III als auch Carmen, Appendix I sind als Briefelegie konzipiert, die sich – im fremden Namen abgefasst – an einen in der Ferne weilenden Adressaten richtet. Als Muster dafür sind die Heroides Ovids anzusehen, in denen der Adressat ein in der Ferne weilender Geliebter ist. Im Unterschied dazu firmiert hier mit Radegunde aber keine mythische, sondern eine reale Person als Verfasserin. Während Carmen, Appendix I konkret auf verschiedene ovidianische Heroinenbriefe wie der von Briseis an Achill,296 Medea an Jason,297 Kanake an Makareus298 oder Penelope an Odysseus299 anspielt und die Zitate dabei, wie Walz nachgewiesen hat,300 funktional im Hinblick auf die Aussage des Briefes eingesetzt sind, fungiert bei Carmen, Appendix III kein spezieller Heroinenbrief als Prätext, sondern das komplette Carmen, Appendix I. Die artifizielle ringkompositorische Struktur von Carmen, Appendix I, die sich eng an Catulls Allius-Elegie anlehnt,301 ist in Carmen, Appendix III zugunsten einer strengen Dreiteilung mit wachsenden Gliedern aufgegeben. Dabei erhält die Trauermotivik im Vergleich zu Carmen, Appendix I ein stärkeres Gewicht: Ist dort der gesamte zweite Teil der Thematik von Liebe und Trennung vom Geliebten gewidmet,302 wird die Motivik der Liebeselegie in Carmen, Appendix III nur in zwei Distichen303 evoziert. In beiden Fällen spielt die Trauer um einen speziellen Toten eine zentrale Rolle, im Carmen, Appendix I die um den toten Bruder,304 in Carmen, Appendix III die um Amalafred.305 Von daher lassen sich beide Gedichte auch in die Gattung der Trauer bzw. Klageelegie einordnen. Venantius Fortunatus bedient sich also klassischer Schemata, bei deren Anwendung er zugleich auf Prätexte aus der literarischen Tradition rekurriert. Besonders in Carmen, Appendix I stellt er sich in die Tradition der Liebeselegie, die er allerdings schon durch den bloßen Umstand erweitert, dass er im Namen einer realen und nicht einer mythischen Person schreibt. Die Tradition erweitert er dabei durch die Kombination von Elementen der Liebeselegie mit denen der Klageelegie, wobei sich in Carmen, Appendix I einzelne Abschnitte diesen Subgattungen zuord296 297 298 299 300 301 302

Ovid, Heroides, III. Ovid, Heroides, XII. Ovid, Heroides, XI. Ovid, Heroides, I. Siehe WALZ, Tu mihi solus eras, 534–537. Catull, Carm., 68, siehe WALZ, Tu mihi solus eras, 532–534. Venantius Fortunatus, Carm., App. I, 33–122, vgl. WALZ, Tu mihi solus eras, 525–529 und das Schema auf S. 538. 303 Venantius Fortunatus, Carm., App. III, 15–18. 304 Venantius Fortunatus, Carm., App. I, 123–148, vgl. dazu WALZ, Tu mihi solus eras, 529f. und das Schema auf S. 538. 305 Venantius Fortunatus, Carm., App. III, 13–26.

406

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

nen lassen (z. B. Vers 33–122, die Trennung von Amalafred, zur Liebeselegie und Vers 123–148, der Tod des Bruders, zur Klageelegie). Im Prinzip, wenn auch nicht in derselben artifiziellen Ausgestaltung, gilt das ebenfalls für Carmen, Appendix III. Innovativ zeigt er sich dabei nicht nur in dieser Kombinatorik von Liebes- und Klageelegie, sondern vor allem dadurch, dass er sie in Bezug auf einen konkreten Anlass und eine konkrete Intention funktionalisiert. Damit verlässt er intentional die rein literarische Ebene und macht sie für eine spezifische Absicht nutzbar. So tritt an die Stelle einer mythischen Heroine Radegunde, und die Elegie hat ihren konkreten Sitz im Leben als Geschenk und Motivation dafür, dass sich Amalafred für Radegunde verwendet, bzw. als Dankgeschenk für dessen Sohn Artachis, weil er sich anstelle seines verstorbenen Vaters für Radegunde bei Justin und Sophia eingesetzt hat. In diesem Zusammenhang sei abschließend noch darauf hingewiesen, dass Venantius Fortunatus auch in anderen, größeren Gedichten, die zu einem konkreten situativen Anlass entstanden sind, mit der elegischen Tradition spielt. Berühmtestes Beispiel ist dafür das Carmen, das er zur Einführung von Radegundes Pflegetochter Agnes als Äbtissin im Kloster von Poitiers verfasste,306 und das unter dem Namen De virginitate307 bekannt geworden ist. Hier greift Venantius Fortunatus ebenfalls auf einen Brief aus Ovids Heroides als Prätext zurück und gestaltet das Carmen als Briefelegie der Agnes an Christus, ihren Bräutigam im Himmel.308 Hier wie dort findet also ein literarisches Spiel mit der gattungsspezifischen Tradition der Elegie statt und es zeigt sich das deutliche Bestreben, diese Tradition zu erweitern, um Aussage und Intention zu verdeutlichen und ihnen die Entfaltung ihrer vollen Wirkung zu ermöglichen.

306 So sieht es schon MEYER, Der Gelegenheitsdichter Venantius Fortunatus, 112. 307 Venantius Fortunatus, Carm., VIII, 3. 308 Darauf weist auch WALZ, Tu mihi solus eras, 537 hin: „Im Kern enthält das sehr erotisch gehaltene Gedicht einen sehnsuchtsvollen Brief einer virgo, in der Agnes zu erblicken ist, an ihren himmlischen Bräutigam.“

3.2.7. Carmina figurata (Carmen II, 4–5, V, 6–6a) Allgemeine Vorbemerkungen Die ungewöhnlichste und höchst avantgardistische poetische Form, der sich Venantius Fortunatus bediente, stellt die visuelle Poesie dar, in der nicht nur Gattungsgrenzen überschritten werden, sondern auch eine Transgression der Poesie zur Malerei stattfindet. So bildet von den Kreuzgedichten im zweiten Buch der Carmina des Venantius Fortunatus das vierte Carmen eine Besonderheit, weil es in Form eines Gittergedichts oder carmen cancellatum komponiert und figuriert ist. Es folgt damit einer Form des Figurengedichtes, die Publilius Optatianus Porfyrius entwickelt hat und die neben den schon seit hellenistischer Zeit bekannten Umrissgedichten eine zweite zentrale Gattung figurierter Dichtung darstellt.1 Im Gegensatz zu den hellenistischen Umrissgedichten, die durch metrisch kürzer bzw. länger werdende Verse ein Flügelpaar, Ei oder eine Doppelaxt (Simias von Rhodos), eine Syrinx (Theokrit) oder einen Altar (Dosiadas von Kreta) auch optisch nachbilden, eine Form, die Publilius Optatianus Porfyrius nur in einigen wenigen Gedichten verwendet,2 entwickelt er eine Art figurativer Dichtung, in der in einem Basistext, der aus einer festen Anzahl von Versen besteht, welche in den späteren Gedichten auch eine feste, jeweils gleiche Anzahl von Buchstaben aufweisen, einige Buchstaben rubriziert oder in einer anderen Farbe hervorgehoben sind. Diese zeigen auf der visuellen Ebene ein Muster; liest man nur die hervorgehobenen Buchstaben, ergeben sich als Intexte wiederum metrisch korrekte Verse. Ein großer Teil der erhaltenen Gedichte des Optatian Porfyrius sind im Zusammenhang mit den Vicennalien, dem zwanzigjährigem Thronjubiläum Konstantins des Großen, entstanden, andere aber auch schon vorher. Die Intexte dieser Gedichte sind zum Teil in geometri1

2

Eine ausführliche Darstellung der Geschichte figurierter Dichtung gibt U. ERNST, Carmen figuratum. Geschichte des Figurengedichts von den antiken Ursprüngen bis zum Ausgang des Mittelalters, (Pictura et Poesis 1), Köln / Weimar / Wien 1991. Zur Genese der visuellen Poesie im Abendland siehe dort 12–53, zu den Umrissgedichten des Simias von Rhodos, Theokrit und Dosiadas von Kreta 54–94. Zu den hellenistischen Umrissgedichten vgl. auch G. WOJACZEK, Bukolische Weihegaben. Die Figurengedichte von Simias, Theokrit und Dosiadas, in: P. NEUKAM (Hrsg.), Motiv und Motivation, München 1993, 125–176, zum Fortleben in der byzantinischen Dichtung vgl. W. HÖRANDER, Visuelle Poesie in Byzanz. Versuch einer Bestandsaufnahme, in: Jahrbuch der österreichischen Byzantinistik 40 (1990), 1–42. Einen Überblick gibt jetzt auch R. SCANZO, Leggere l’immagine, vedere la poesia: „carmina figurata“ dall’ antichità a Optaziano e Rabano Mauro, al „New Dada” e oltre, Maia 58, 2 (2006), 249–294; zur visuellen Poesie im 17. Jahrhundert ausführlich S. PLOTKE, Gereimte Bilder. Visuelle Poesie im 17. Jahrhundert, München 2009. Carmen XX (nach der Zählung der Ausgabe von POLARA, Turin 1973) hat die Gestalt einer Wasserorgel und Carmen XXVI die eines Altars. Zur Entwicklung des Figurengedichtes bei den Römern und speziell zu Publilius Optatianus Porfyrius siehe ERNST, Carmen figuratum, 95–142.

408

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

schen Formen angeordnet,3 zum Teil in Form von Buchstaben,4 zum Teil sind sie auch gegenstandsmimetisch.5 Bei den literalen carmina cancellata experimentiert Publilius Optatianus Porfyrius bereits mit dem XP, dem Chrismos, als Zeichen für Christus und gestaltet in einigen Gedichten die Intexte nach diesem Muster.6 Venantius Fortunatus verwendet allerdings erstmals Intexte in Kreuzform, während er für die Gestalt eines carmen cancellatum auf das porfyrianische Vorbild zurückgreift.7 Neben Carmen II, 4 sind in Zusammenhang mit dem Zyklus der Kreuzgedichte des Venantius Fortunatus noch zwei weitere Figurengedichte überliefert, nämlich ein unvollendetes Gittergedicht 8 und ein Labyrinthgedicht in Form eines Kreuzes, das Brower in der Editio Princeps dem Kreuzzyklus zuordnet, Leo in seiner MGH-Ausgabe als unecht unter die Spuria einordnet und Reydellet in seiner Ausgabe wieder an der ursprünglichen Stelle abdruckt, ohne sich allerdings in der Frage der Echtheit festzulegen.9 Ein viertes Figurengedicht außerhalb dieses Zyklus ist an Syagrius, den Bischof von Autun, gerichtet und mit einem Begleitbrief versehen, in dem Venantius Fortunatus auch auf dichterische Prinzipien eingeht.10 Eine Bestimmung der Stellung des Venantius Fortunatus innerhalb der visuellen Poesie muss also von diesen exempla ausgehen. Dabei ist zu beachten, dass drei von diesen Figurengedichten der Gattung des carmen cancellatum bzw. Gittergedichts zuzurechnen sind11 und eines eine Mischform von Kreuzwortlabyrinth und Umrissgedicht darstellt.12 Im letzten Fall müssen zudem Überlegungen zur Echtheit angestellt werden, da sie von Leo und in seiner Nachfolge bestritten worden ist. Da die drei anderen Carmina derselben Gattung figurativer Dichtung zuzurechnen sind, kann sich die ausführliche Analyse auf ein Beispiel beschränken, zu dem die anderen lediglich als Referenztexte hinzugezogen werden. Für die Analyse bietet sich hier Carmen II, 4 in besonderer Weise an, da im letzten Kapitel die Kreuzeshymnen des Venantius Fortunatus als exempla für seine Hymnendichtung gewählt worden sind13 und dieses Carmen innerhalb des Zyklus der Kreuzhymnen überlie-

3 4 5 6 7

8 9

10 11 12 13

Siehe dazu ERNST, Carmen figuratum, 108–117. Siehe dazu ERNST, Carmen figuratum, 118–127. Siehe dazu ERNST, Carmen figuratum, 127–131. Carmen VIII, XIV und XIX, wobei im letzten Fall das XP als Mast und Segel des Staatsschiffs dient. Einen Überblick über die Rezeption der pofyrianischen Carmina in Spätantike und Frühmittelalter gibt G. POLARA, La parole nella pagina: grafica e contenuti nei carmi figurati latini, Vetera Christianorum, 28 (1991), 291–336. Venantius Fortunatus, Carm., II, 5. Venantius Fortunatus, Carm., II, 5a (bei REYDELLET, Abdruck da Seite 56, siehe auch Anm. 33 auf Seite 56.). Zumindest die figurierte Form wird neuerdings von H. FELS, Studien zu Venantius Fortunatus, Diss. phil. Heidelberg 2006, 69–87, wieder Venantius Fortunatus zugesprochen. Venantius Fortunatus, Carm., V, 6–6a. Venantius Fortunatus, Carm., II, 4 & 5, V, 6a. Venantius Fortunatus, Carm., II, 5a (REYDELLET) bzw. II, 6 (BROWER). Vgl. die entsprechenden Ausführungen in Kapitel 3. 2. 6. dieser Arbeit.

3.2.7. Carmina figurata

409

fert ist. Carmen V, 6a und der Begleitbrief an Syagrius14 bilden insofern wichtige Referenztexte, als sich deutliche Parallelen im Basistext wie in der Figurierung der Intexte beider Carmina zeigen. Der Begleitbrief stellt zudem ein besonderes Zeugnis theoretischer Auseinandersetzung mit dieser Form von Dichtung dar. 3.2.7.1. Carmen II, 4

Venantius Fortunatus, Carmen II, 4, Abbildung nach Reydellet, I, 54.

14

Venantius Fortunatus, Carm., V, 6.

410

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

3.2.7.1.1. Aufbau und Konzeption a) Kompositionsschema und Intexte Zunächst also zu Carmen II, 4, welches das einzig vollendete carmen cancellatum des Kreuzzyklus darstellt. Das von Publilius Optatianus Porfyrius übernommene Prinzip der Buchstabenzählung ist hier konsequent durchgeführt: Der Basistext besteht aus 35 Hexametern mit je 35 Buchstaben, so dass sich – anders als in den modernen Ausgaben, wo Zeilenabstand nicht gleich Buchstabenabstand ist – kein Rechteck, sondern ein Quadrat ergibt. Nicht nur der erste und letzte Vers bilden eine in sich geschlossene Sinneinheit, sondern auch die Anfangs- und Endbuchstaben eines jeden Verses, so dass aus dem ersten und letzten Vers des Basistextes und den Akrostichon und Telestichon ein Rahmen entsteht: Dius apex carne effigians genetalia limi (Vers 1). In cruce mors Christi curavit mortua mundi (Telestichon). Dulce decus signi uia caeli uita redempti (Akrostichon). In cruce rex fixus iudex cum praeerit orbi (Vers 35).

Göttliche Allmacht, welche die Zeugungsorgane im Fleisch der Erde bildete. Am Kreuz heilte Christi Tod das Tote der Welt. Süße Zierde des Zeichens, Weg zum Himmel, Leben des Erlösten. Wenn der ans Kreuz geschlagene König als Richter dem Erdkreis vorstehen wird.

Die Intexte innerhalb dieses Rahmens sind in Form eines Tatzenkreuzes gestaltet15 und ergeben vier Hexameter, die der Form des Kreuzes folgend vertikal bzw. horizontal gelesen werden müssen: Crux pia deuotas Agnen tege cum Radegunde. Gnädiges Kreuz beschütze die demütige Agnes Tu Fortunatum fragilem crux sancta tuere mit Radegunde. (vertikaler Kreuzbalken). Du, Heiliges Kreuz, behüte den schwachen Fortunatus. Vera spes nobis ligno, agni sanguine, clauo. Wahre Hoffnung für uns durch das Kreuz, Arbor suauis agri, tecum noua uita paratur durch das Blut des Lammes, den Nagel. (horizontaler Kreuzbalken). Süßer Baum auf dem Feld, mit dir wird neues Leben bereitet.

Während die Intexte vertikal also eine Sphragis mit dem Namen des Dichters und den Auftraggeberinnen Radegunde und ihrer Pflegetochter Agnes enthalten und horizontal das Erlösungswerk Christi und seine Folge, das neue Leben, exponieren, bilden Ober- und Unterkante einen Rahmen von Christus als Weltenschöpfer16 und 15

16

Zu den verschieden Kreuzformen in der Ikonographie und ihrer Entwicklung siehe E. DINKLER / V. SCHUBERT, Kreuz, in: LCI Bd. 2 (1970), Sp. 562–590, zur Form des Tatzenkreuzes dort Sp. 569. Venantius Fortunatus, Carm., II, 4, 1.

3.2.7. Carmina figurata

411

Weltenrichter, 17 der von der Apostrophierung des Kreuzes als (Sieges-)zeichen, Weg und ewiges Leben18 und der Schilderung des Heilshandlung19 flankiert wird. Diese Aspekte bilden auch den Rahmen, in dem sich der Basistext inhaltlich bewegt: b) Basistext Dius apex carne effigians genetalia limi,

Göttliche Allmacht, welche die Zeugungsorgane im Fleisch der Erde bildete uitali terrae conpingit sanguine gluten. und mit lebendigem Blut den Leim der Erde zusammenfügt. Luciferax auras animantes affluit illic. Licht bringend lässt sie belebenden Lufthauch heranströmen. Conditur enixans Adam factoris ad instar, Geschaffen wird schließlich nach dem Abbild des Schöpfers Adam, exiluit protoplasma solo, res nobilis usu 5 der als erstes Geschöpf dem Boden entsprang, ein Wesen, geadelt durch seine Entstehung, 5 diues in arbitrio radianti lumine. Dehinc Reich an freiem Willen unter dem strahlenden Licht. Dann ex membris Adae uas fit tum uirginis Euuae. wird aus Adams Gliedern das Gefäß der Jungfrau Eva geschaffen. Carne creata uiri dehinc copulatur eidem. Aus dem Fleisch des Mannes geschaffen, wird sie mit ihm dann verbunden, ut paradyssiaco bene laetaretur in horto. um sich im Paradiesgarten wohl zu erfreuen. Sed de sede pia pepulit temerabile guttur 10 Aber vom glückseligen Sitz vertrieb sie blinde Gier, 10 serpentis suasa pomi suco atra propinquans. die ihnen mit dem Saft der Frucht, die sie auf Rat Schlange nahmen, rasch das Verderben herbeiführte. Insaciatrici morti fames accidit illinc. Da kam (dieser) Hunger und führte zum unersättlichen Tod. Gauisurus ob hoc caeli fluis arce locator. Deswegen entschwindest du, Vermieter des Himmels, um wieder Freude zu bringen, von der Himmelsburg, Nasci pro nobis miseraris et ulcere claui und wirst aus Mitleid für uns geboren und lässt dich mit der Schwäre des Nagels in cruce configi. Tali malagmate iniunctis 15 ans Kreuz schlagen. Für uns, die wir in einen solchen Verband gewickelt waren, 15 una salus nobis ligno agni sanguine uenit. kam das einzige Heil vom Blut des Lammes am Kreuz. Iucunda species: in te pia bracchia Cristi Ein Anblick, der Freude bringt: Auf dir standen fest die gnädigen Arme Christi,

17 18 19

Vers 35. Akrostichon. Telestichon.

412

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

affixa steterunt et palma beabilis in hac Cara caro poenas inmites sustulit haustu.

und seine Segen spendende Hand, auf diesem ertrug das liebe Fleisch grausame Qualen beim Trinken. Arbor suauis agri, tecum noua uita paratur. 20 Lieblicher Baum auf dem Feld, mit dir wird neues Leben bereitet. 20 Electa ut uisu, sic e crucis ordine pulchra Wie du auserwählt bist im Anblick, so schön bist du aus der Form des Kreuzes lumen spes scutum gereris liuoris ab ictu. und wirst als Licht, Hoffnung und Schild getragen vom Stich des Neides. Inmortale decus nece iusti laeta parasti. Unsterbliche Zier hast du dir durch den Tod des Gerechten bereitet. Vna omnem uitam sic, crux, tua causa rigauit. So bist allein du, Kreuz, der Grund, der das ganze Leben tränkte, imbre cruenta pio. Velis das nauita portum, 25 dabei blutig vom Regen der Gnade. Den Segeln gibst du als Schiffer den Hafen, 25 tristia summerso mundasti uulnera clauo. traurige Wunden hast du mit dem in dir versenkten Nagel geheilt. Arbor dulcis agri, rorans e cortice nectar, Süßer Baum des Feldes, von dessen Rinde du Nektar tauen lässt; ramis de cuius uitalia crismate fragant, von dessen Zweigen Lebendiges in Chrisam duftet, excellens cultu, diua ortu, fulgida fructu, hervorragend bist du von der Kultivierung, göttlich vom Ursprung, glänzend durch deine Frucht, deliciosa cibo et per poma suavis in umbra. 30 köstlich durch deine Speise und lieblich durch die Früchte im Schatten. 30 En regis magni gemmantem et nobile signum Siehe das von Knospen / Gemmen geschmückte edle Banner des großen Königs! murus et arma uiris, uirtus, lux ara precatu. eine Mauer und Waffen für die Männer, Tugend, Licht und Altar im Gebet. Pande benigna uiam, uiuax et fertile lumen. Breite gütig den Weg aus, lebendiges und fruchtbares Licht! Tum memor adfer opem nobis e germine Dauid Dann bringe, indem du an uns denkst, Hilfe aus dem Spross Davids, in cruce rex fixus iudex cum praeerit orbi. 35 wenn der ans Kreuz geschlagene König als 35 Richter dem Erdkreis vorstehen wird. 20

20

Venantius Fortunatus, Carm., II, 4 (Basistext), lateinischer Text nach REYDELLET, I, 182f.

3.2.7. Carmina figurata

413

c) Gliederung des Basistextes Der höchst artifizielle Aufbau des Carmen tritt noch deutlicher zutage, wenn man die Gliederung des Basistextes aufschlüsselt und zur Kreuzfigur der Intexte in Beziehung setzt. Seine fünfunddreißig Verse weisen nämlich eine komplexe Gliederungsstruktur auf, die mit der Gestalt des Intextkreuzes eng verflochten ist. Zugleich liegt eine Zweiteilung vor, wie sie auch in den nicht figurierten Kreuzhymnen des Venantius Fortunatus begegnet, nämlich dass ein narrativer Teil am Anfang steht, in dem es um die Vorgeschichte und das Heilsgeschehen am Kreuz geht, und ein zweiter Teil folgt, in dem das Kreuz direkt angesprochen wird: I. Vers 1 – 16 Vers 1 – 7 Vers 1 – 3 Vers 4 – 7 Vers 8 – 16 Vers 8 – 9 Vers 10 – 12 Vers 13 – 16 Überleitung: Vers 17 – 19 II. Vers 20 – 35 Vers 20 – 26 Vers 27 – 32 Vers 33 – 35

Vorgeschichte und Heilsgeschehen: Schöpfung: Einleitung: Schöpfung der Welt. Schöpfung von Adam und Eva. Sündenfall und Erlösungswerk Christi am Kreuz: Leben im Paradies. Sündenfall. Erlösungswerk Christi am Kreuz. Christus am Kreuz, dabei wird das Kreuz direkt in der zweiten Person angesprochen. Kreuzeslob: Arbor suauis agri: Prädikationen des Kreuzes I. Arbor dulcis agri: Prädikationen des Kreuzes II. Abschließende Bitten an das Kreuz.

Welche Bedeutung hat dabei die Figur des Tatzenkreuzes, das von den Intexten gebildet wird, für die Gliederung des Basistextes? Es zeigt sich deutlich, dass Abschnittsgrenzen mit Grenzen auf der figuralen Ebene korrespondieren. Die Verse, die durch die obere Tatze hindurch laufen,21 haben die Schöpfung bis zur Erschaffung Evas zum Inhalt. Dort, wo der vertikale Kreuzbalken ansetzt,22 geht es um die eheliche Verbindung von Adam und Eva; der nächste Vers23 beinhaltet zwar ihr Leben im Paradies, verläuft aber bereits über die Spitzen der seitlichen Tatzen, so dass diese beiden Verse aufgrund ihrer Stellung eine Mittel- oder Überleitungsposition zwischen der Schöpfung und dem Sündenfall einnehmen. Die kurze Schilderung des Sündenfalls und der dadurch notwendigen Geburt und Kreuzigung Christi mündet mit den seitlichen Tatzen im Querbal21 22 23

Vers 1–7. Vers 8. Vers 9.

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

414

ken des Kreuzes aus.24 Als Überleitung zwischen dem narrativen ersten Teil und dem Kreuzeslob des zweiten Teils dienen drei Verse, in denen das Kreuz zwar schon direkt in der zweiten Person angesprochen wird, deren Inhalt aber Christus am Kreuz bildet. Diese drei Verse25 bilden den Querbalken des Tatzenkreuzes, ehe er sich zu den unteren Spitzen der seitlichen Tatzen verzweigt. Die Verse, die über die unteren Teile der seitlichen Tatzen verlaufen, eingeleitet mit Arbor suauis agri / Lieblicher Baum auf dem Feld26 enthalten Prädikationen des Kreuzes, 27 die sich außerhalb der Tatzen fortsetzen. Dabei kommt den ersten beiden Versen des zweiten Prädikationsteils28 wiederum Überleitungscharakter zu, da ihr Einleitungsvers29 noch über die Spitzen der seitlichen Tatzen verläuft und durch seinen Anfang Arbor dulcis agri / Süßer Baum auf dem Feld an den Anfang des vorigen Teiles Arbor suauis agri / Lieblicher Baum auf dem Feld30 anknüpft und so zugleich die seitlichen Tatzen schließt, während der folgende Vers31 die Einmündung des vertikalen Kreuzbalken zur unteren Tatze markiert. Über die untere Tatze des Kreuzes münden die Prädikationen gleichsam organisch in abschließende Bitten an das Kreuz aus.32 Die Figur des Tatzenkreuzes nimmt somit starken Einfluss auf die Gliederung des Basistextes. Visuelle und textuelle Ebene bedingen und ergänzen sich einander; gerade dort, wo der gekreuzigte Christus seine Arme ausbreitet, nämlich am Querbalken des Kreuzes, berichtet auch der Basistext davon.33 Der Basistext weist zudem starke hymnische Elemente auf, die ihn in Beziehung zu den Kreuzhymnen setzen, unter die das Gedicht innerhalb des zweiten Buches der Carmina des Venantius Fortunatus eingeordnet ist. Inhaltlich wird bei den Intexten hingegen auf dem vertikalen Kreuzbalken zum Gebet für Agnes, Radegunde und den Verfasser Fortunatus aufgefordert, während der obere Intextvers des Querbalkens von der Hoffnung für uns Menschen spricht, durch das Erlösungswerk am Kreuz selbst das ewige Leben zu erlangen, und der untere Intextvers das Kreuz als Bereiter eines neuen Lebens apostrophiert.

24 25 26 27 28 29 30 31 32 33

Vers 10–16. Vers 17–19. Vers 20. Vers 20–26. Vers 27–28. Vers 27. Vers 20. Vers 28. Vers 30–33. Vers 17–19.

3.2.7. Carmina figurata

415

3.2.7.1.2. Analyse des Basistextes Bisher ist lediglich die Makrostruktur des Carmen und ihr Zusammenspiel mit der Ebene der Intexte und der Kreuzfigur Gegenstand der Untersuchung gewesen. Ehe nun eine Einordnung des Carmen in den Traditionszusammenhang erfolgt, soll der Basistext einer genaueren Analyse unterzogen werden, da auch auf der inhaltlichen Ebene eine Auseinandersetzung mit Traditionslinien sichtbar wird. Die spezifisch christliche Thematik wird nicht nur unter poetischen, sondern im besonderen Maße unter theologisch relevanten Kerngedanken entfaltet. So steht exponiert am Beginn des ersten Verses, der zugleich die Oberkante des Rahmens bildet, die göttliche Allmacht / dius apex (wörtlich: der göttliche höchste Gipfel). Zunächst ist von deren Schöpfungswerk allgemein die Rede ist, gleichsam als Überschrift für den folgenden Abschnitt: Dius apex carne effigians genetalia limi, uitali terrae conpingit sanguine gluten Luciferax auras animantes affluit illic.

Göttliche Allmacht, welche die Zeugungsorgane im Fleisch der Erde bildete und mit lebendigem Blut den Leim der Erde zusammenfügt. Licht bringend lässt sie belebenden Lufthauch heranströmen. 34

Der Schöpfungsakt bezieht sich dabei zunächst auf die Erde / terra, 35 die aber durch die Verwendung von Begriffen wie Fleisch / caro36 und sanguis / Blut37 als Lebewesen apostrophiert wird, was durch das Attribut uitalis / lebendig zu sanguis / Blut38 noch unterstrichen wird. Wenn von Zeugungsorganen der Erde bzw. wörtlich des Schlammes / genetalia limi gesprochen wird, wird der Erde ebenfalls beinahe menschliche Gestalt verliehen und zugleich auf eine Fortsetzung des Schöpfungsaktes in Form von Zeugung verwiesen. Mit der Erwähnung von Fleisch / caro39 und lebendigem Blut / uitalis sanguis40 wird zugleich protreptisch auf das Erlösungswerk Christi am Kreuz angespielt, das auf diese Weise als ein zweiter Schöpfungsakt interpretiert wird. Da Blut flüssig ist, verweist der Basistext hier neben der Erde auf das zweite der vier Elemente, nämlich das Wasser, eine Anspielung, die im folgenden Vers im Verbum affluere / heranströmen lassen / heran fließen41 aufgegriffen wird. Auch auf die beiden übrigen Elemente Feuer und Luft wird verwiesen, wenn die göttliche Allmacht / dius apex42 Licht verbreitend /

34 35 36 37 38 39 40 41 42

Vers 1–3. Vers 2. Vers 1. Vers 2. Vers 2. Vers 1. Vers 2. Vers 3. Vers 1.

416

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

luciferax 43 in die Lüfte / auras hineinfließt, die selbst wieder Leben spendende Wirkung / animantes44 haben. Venantius Fortunatus nimmt also beim Schöpfungsakt Gottes explizit auf die vier Elemente Bezug und verbindet so die biblische Schöpfungslehre mit einer philosophischen Tradition, die bis in die pagane Antike zurückreicht.45 Dabei tritt das Element des Feuers nur in Gestalt des Lichtes (luciferax / Licht bringend)46 auf und wird auch in den folgenden vier Versen, welche die Schöpfung des Menschen behandeln, neben dem Element Erde besonders hervorgehoben.47 Die Erde spielt insofern eine Rolle, als Adam, nach dem Bild des Schöpfers geformt 48 dem Erdboden / solo exiluit / entsprang.49 Dabei ist er das einzige Geschöpf, das dem Bild Gottes entspricht, worauf sowohl die Wendung res nobilis usu / eine Sache (ein Geschöpf), geadelt durch seine Entstehung als auch der Begriff protoplasma / erstes Geschöpf verweist.50 Das Element des Feuers in Gestalt des Lichtes erscheint in der Wendung diues in arbitrio radianti lumine / reich an freiem Willen unter dem strahlenden Licht,51 womit sowohl die Entscheidungsfreiheit des Menschen, welche die Voraussetzung für den Sündenfall bildet, exponiert als wohl auch mit der Lichtmetaphorik auf das Licht der Erkenntnis angespielt wird, da der Sündenfall gerade darin bestand, dass Adam und Eva vom verbotenen Baum der Erkenntnis aßen. Der Gedanke von Schöpfung und ehelicher Verbindung wird alliterierend in den folgenden beiden Versen exponiert, die als Gelenkstelle zwischen Schöpfung und Sündenfall das Leben von Adam und Eva im Paradies zum Thema haben.52 Auch bei Schilderung des Sündenfalls setzt Venantius Fortunatus die Alliteration am Versanfang ein, um herauszustreichen, dass Adam und Eva aus diesem Wohn43 44 45

46 47

48 49 50 51 52

Vers 3. Vers 3. Zur Begriffs- und Bedeutungsgeschichte von stoice‹on im Sinne von Element ausführlich: W. SCHWABE, „Mischung“ und „Element“ im Griechischen bis Platon: Wort- und begriffsgeschichtliche Untersuchungen, insbes. zur Bedeutungsentwicklung von stoicheion. Diss. phil. Tübingen, 1975, erschienen: Bonn 1980. Allgemein zur Elementenlehre: F. KRAFFT, Elementenlehre, in: Der Neue Pauly 3 (1997), Sp. 978–980. Speziell zu Aristoteles siehe: G. A. SEECK, Über die Elemente in der Kosmologie des Aristoteles. Untersuchungen zu „De Generatione et Corruptione“ und „De Caelo“, München 1965. Venantius Fortunatus, Carm., II, 4, 3. Vers 4–7: Conditur enixans Adam factoris ad instar, / exiluit protoplasma solo, res nobilis usu / diues in arbitrio radianti lumine. Dehinc / ex membris Adae uas fit tum uirginis Euuae. / Geschaffen wird schließlich nach dem Abbild des Schöpfers Adam, / der als erstes Geschöpf dem Boden entsprang, ein Wesen, geadelt durch seine Entstehung,/ reich an freiem Willen unter dem strahlenden Licht. Dann / wird aus Adams Gliedern das Gefäß der Jungfrau Eva geschaffen. Vers 4. Vers 5. Vers 5. Vgl. zum Gebrauch des Begriffes usus und protoplasma auch REYDELLET, I, 183, Anm. 23. Venantius Fortunatus, Carm., II, 4, 6. Vers 8f.: Carne creata uiri dehinc copulatur eidem. / ut paradyssiaco bene laetaretur in horto. / Aus dem Fleisch des Mannes geschaffen, wird sie mit ihm verbunden, / um sich im Paradiesgarten wohl zu erfreuen.

3.2.7. Carmina figurata

417

sitz vertrieben worden sind, weil sie aber / [s]ed de sede53 auf Überredung der Schlange / serpentis suasi54 vom Saft der (verbotenen) Frucht / pomi suco getrunken haben.55 Ursächlich für den Sündenfall ist hier guttur / die Kehle,56 die für die ansonsten als gula bezeichnete Hauptsünde der Gier steht.57 Dieses princeps uitium, diese Ursprungssünde wird mit dem Begriff fames / Hunger58 wieder aufgenommen und mit dem Versanfang seine Folge betont: Der Tod entwickelt einen Hunger auf die Menschen, und Adam und Eva fallen so dem unersättlichen Tod / insaciatrici morti59 zu. Damit wird das theologisch bedeutsame Faktum, dass die Folge der Ursprungssünde der Tod für die Menschen ist, deutlich herausgestrichen; allerdings wird hier nicht superbia / Hochmut als Ursache des Sündenfalls genannt, sondern die konkrete Sünde des guttur / gula, die inhaltlich genau zum Akt der Sünde, dem Verzehr der verboten Frucht passt. Infolge dessen ist ein Zustand des Leidens und Todes erreicht, der es nötig macht, den alten Zustand der Freude wiederherzustellen, worauf das erste Wort des nächsten Verses gauisurus / um (wieder Freude) zu bringen60 anspielt: Das Erlösungswerk Christi am Kreuz ist notwendig und wird in den folgenden vier Versen von Abstieg aus dem Himmel über die Geburt und Kreuzigung geschildert.61 Dabei wird Gott als locator / Vermieter62 des Paradieses bezeichnet, so dass ein Paradoxon entsteht, dass nämlich der Vermieter von seiner Wohnung, der Himmelsburg / arce63 hinabsteigt, um den Mieter, der sich doch selbst vertrieben hat, zurückzuholen. Die ungewöhnliche Wendung 53 54 55

56 57

58 59 60 61

62 63

Vers 10. Vers 11. Vers 10–12: Sed de sede pia pepulit temerabile guttur / serpentis suasa pomi suco atra propinquans. / Insaciatrici morti fames accidit illinc. / Aber vom glückseligen Sitz vertrieb sie blinde Gier, / die ihnen mit dem Saft der Frucht, die sie auf Rat Schlange nahmen, / das Verderben zu trinken gab. / Da kam (dieser) Hunger und führte zum unersättlichen Tod. Vers 10. Einen kurzen Überblick über Tugenden und Laster bzw. Tugend- und Lasterkataloge geben R. NEWHAUSER & D. BRIESEMEISTER, Tugenden und Laster, Tugend- und Lasterkataloge, in: LexMA 8, Sp. 1085–1089. Die von Evagrius Ponticus stammende und von Johannes Cassian ins Lateinische übertragende Achtzahl gula, fornicatio / luxuria, auaritia, ira, tristitia, acedia, inanis gloria, superbia wird von Martin von Braga, mit dem auch Venantius Fortunatus korrespondiert hat, im Westen populär gemacht. Gregor der Große kommt später zu einer Siebenzahl, indem er inanis gloria, inuidia, ira, tristitia, auaritia, gula, luxuria der superbia unterordnet. Die einzelnen Tugenden und Laster – christlich gewendet – behandelt in klassischer Form Prudentius in seiner Psychomachia. Vers 12. Vers 12. Vers 13. Vers 13–16: Gauisurus ob hoc caeli fluis arce locator. / Nasci pro nobis miseraris et ulcere claui / in cruce configi. Tali malagmate iniunctis / una salus nobis ligno agni sanguine uenit / Deswegen entschwindest du, Vermieter des Himmels, um wieder Freude zu bringen, von der Himmelsburg, / und wirst aus Mitleid für uns geboren und lässt dich mit der Schwäre des Nagels / ans Kreuz schlagen. Uns, die wir in einen solchen Verband gewickelt waren, / kam das einzige Heil vom Blut des Lammes am Kreuz. Vers 13. Vers 13.

418

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

fluis / du fließt fort, entschwindest64 direkt hinter dem Begriff caelum / Himmel65 stellt wohl wiederum eine Anspielung auf zwei der vier Elemente dar. Die eigentliche Heilsgeschichte wird allerdings nur mit einigen Stichworten angedeutet und vor allem durch das Stilmittel der Alliteration hervorgehoben: Die Geburt, die für uns geschieht (nasci pro nobis),66 die Wunde, die der Nagel am Kreuz schlägt (ulcere claui in cruce configi),67 wobei nur eine der arma Christi / Leidenswerkzeuge Christi metonymisch für die gesamte Kreuzigung steht. Das theologisch wichtige miseraris / aus Mitleid wird durch seine Stellung im Zentrum des Verses exponiert.68 Theologisch bedeutsam ist auch, dass Venantius Fortunatus das Kreuzigungsgeschehen in seine heilsgeschichtliche Bedeutung ausmünden lässt und dieser Kernsatz (una salus nobis agni sanguine uenit / uns kam das einzige Heil vom Blut des Lammes am Kreuz) die obere Kante des Querbalkens am Kreuz markiert und dadurch besonders herausgehoben wird.69 Die Überleitung, die identisch ist mit dem Mittelteil des Querbalkens im Intextkreuz, nimmt in besonderer Weise auf die Kombination von visueller und textueller Ebene Bezug: Iucunda species: in te pia bracchia Cristi affixa steterunt et palma beabilis in hac Cara caro poenas inmites sustulit haustu.

Ein Anblick, der Freude bringt: Auf dir standen fest die gnädigen Arme Christi und seine Segen spendende Hand, auf diesem. Ertrug das liebe Fleisch grausame Qualen beim Trinken.70

Auf den visuellen Eindruck beim Rezipienten wird gleich zu Anfang explizit mit der Wendung iucunda species / ein Anblick, der Freude bringt71 verwiesen, ebenso wird auf die Arme und Hände des Gekreuzigten, die sich am Querbalken befinden rekurriert, wobei das theologisch bedeutsame Attribut pius / gnädig den Armen / bracchia72 zugeordnet und die Hand / palma als beabilis / Segen spendend73 apostrophiert wird. Das Wortspiel cara caro / das liebe Fleisch74 steht in Antithese zu den poenas inmites / grausamen Strafen / Qualen,75 während der Begriff haustu / beim Trinken76 wohl auch auf eine der arma Christi / Leidenswerkzeuge Christi,

64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76

Vers 13. Vers 13. Vers 14. Vers 15f. Vers 14. Vers 16. Vgl. die entsprechenden Ausführungen weiter oben. Venantius Fortunatus, Carm., II, 4, 17–19. Vers 17. Vers 17. Vers 18. Vers 19. Vers 19. Vers 19.

3.2.7. Carmina figurata

419

nämlich den in Essig getauchten Schwamm verweist und hier metaphorisch im Sinne von bis zur Neige aufgefasst werden kann.77 Betrachtet man den Basistext nur bis zu dieser Stelle, wird bereits deutlich, dass der spezifisch christliche Inhalt mehr ist als ein Sujet, das dem Dichter von seinen Auftraggeberinnen oktroyiert worden ist. Das wird besonders durch die Exponierung der theologisch relevanten Inhalte deutlich, die trotz der Zwänge, welche sich durch die Komposition eines Figurengedichtes auf verschiedenen Ebenen (Ebene des Basistextes / Ebene der Intexte / Ebene der Figur) ergeben, durch eine artifizielle Verwendung rhetorischer Mittel zu exponiert werden. Bestätigt wird dieser Befund auch durch den zweiten Teil des Basistextes, der deutlich hymnischen Charakter hat: Wie der erste Teil in einen theologischen Kernsatz ausmündete, 78 so beginnt auch das Kreuzeslob des zweiten Teils mit einer theologischen Kernaussage: Arbor suauis agri, tecum noua uita paratur.

Lieblicher Baum auf dem Feld, mit Dir wird neues Leben bereitet.79

Die Bezeichnung des Kreuzes mit dem Begriff arbor / Baum, die auch sonst in den Kreuzeshymnen des Venantius Fortunatus Verwendung findet80 und in Anlehnung an die Schilderung des Paradieses in der Genesis den Baum des Kreuzes mit dem Baum des Lebens in der Mitte des Paradieses gleichsetzt,81 wird in der zweiten Hälfte des Verses durch den Begriff noua uita expliziert. Die Relevanz dieser Aussage für jeden Christen wird von Venantius Fortunatus dadurch noch weiter exponiert, dass dieser Vers zweifach vorkommt, einmal als Vers im Basistext, mit dem der Querbalken des Kreuzes nach unten hin abgeschlossen wird, und einmal als Intextvers, der von der unteren Spitze der linken Tatze über die untere Grenze des Querbalkens in die untere Spitze der rechten Tatze ausläuft. Diesen theologisch eminenten Kerngedanken führen die weiteren Prädikationen des Kreuzes auf der metaphorischen Ebene in verschiedene Richtungen aus: Electa ut uisu, sic e crucis ordine pulchra, lumen spes scutum gereris liuoris ab ictu. Inmortale decus nece iusti laeta parasti. Vna omnem uitam sic, crux, tua causa rigauit.

77 78 79 80 81

Wie du auserwählt bist im Anblick, so schön bist du aus der Form des Kreuzes und wirst als Licht, Hoffnung und Schild getragen vom Stich des Neides. Unsterbliche Zier hast du dir durch den Tod des Gerechten bereitet. So bist allein du , Kreuz, der Grund, der das ganzen Leben tränkte,

In diesem Sinne auch die französische Übersetzung von REYDELLET, I, 53. Venantius Fortunatus, Carm., II, 4, 16. Vers 20. Vgl. Venantius Fortunatus, Carm., II, 1, 13; II, 2, 22; II, 6, 17. Vgl. Gn 2, 9.

420

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

imbre cruenta pio. Velis das nauita portum, tristia summerso mundasti uulnera clauo.

dabei blutig vom Regen der Gnade. Den Segeln gibst du als Schiffer den Hafen, 25 schlimme Wunden hast du mit dem in dir versenkten Nagel geheilt.82

Neben dem visuellen Eindruck der Schönheit, welcher aus der äußeren Form resultiert83 und der Verbindung von Licht und Militärmetaphorik (lumen / Licht... scutum / Schild)84 wird der Gedanke der Unsterblichkeit durch ein Paradoxon herausgestrichen: Das Kreuz erlangt seine unsterbliche Zier durch den (gewaltsamen) Tod des Gerechten / nece iusti.85 Dass dieser Tod und das dabei vergossene Blut (imbre crunta pio / blutig durch gnädigen Regen) 86 die Ursache für das Leben schlechthin darstellt, wird durch die Metaphorik der Bewässerung allen Lebens (omnem uitam...rigauit)87 untermalt, womit einerseits wiederum auf das Element des Wassers verwiesen, andererseits die Apostrophierung des Kreuzes als Arbor suauis agri / Lieblicher Baum auf dem Feld88 und die darin enthaltene Natur- bzw. Landwirtschaftsmotivik aufgegriffen wird. Zum Element des Wassers passt auch die Schifffahrtsmetaphorik, der sich Venantius Fortunatus auch sonst gerne bedient,89 indem hier das Kreuz mit dem nauita / Schiffer identifiziert wird, der den richtigen Kurs in den Hafen setzt.90 Die Funktion des Reinigens von Wunden, die beim Wasser ebenfalls gegeben ist, wird im nächsten Vers in der Form mundasti / du hast gereinigt91 aufgegriffen und in einem für Venantius Fortunatus typischen Paradoxon exponiert: Erst, nachdem der Nagel (durch die Hand ins Kreuz) versenkt ist / summerso clauo werden die traurigen Wunden / tristia uulnera gereinigt.92 Ganz auf der Bildebene von Baum und Frucht bleibt Venantius Fortunatus zu Beginn des zweiten Teils der Prädikationen: Indem die Baummetaphorik in Variation aufgenommen wird (Arbor dulcis agri / Süßer Baum auf dem Feld), 93 erscheint wiederum der Bezug zum Paradies, diesmal explizit, wenn ausgesagt wird, dass von der Rinde des Baumes der Göttertrank / nectar taue.94 Der paradiesische

82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94

Venantius Fortunatus, Carm., II, 4, 21–26. Vers 21. Vers 22. Vers 23. Vers 25. Vers 24. Vers 20. Z. B. im Prolog zum Martinsepos, siehe Venantius Fortunatus, Vita sancti Martini, Prol. ad Agnem et Radegundem, 1–26. Venantius Fortunatus, Carm., II, 4, 25. Vers 26. Vers 26. Vers 27. Vers 27: Arbor dulcis agri, rorans e cortice nectar / Süßer Baum des Feldes, von deiner Rinde lässt Du Nektar tauen.

3.2.7. Carmina figurata

421

Duft wird dabei mit dem Leben in Verbindung gebracht.95 Der Begriff c(h)risma / Salbung96 verweist hier wohl zugleich auf das Sakrament der Taufe. In antithetischem Bezug stehen die Früchte des Kreuzbaums zu dem verbotenen Baum der Erkenntnis, von dessen Frucht im ersten Teil des Basistextes die Rede war: 97 Brachte dort das princeps uitium der Gier / guttur98 durch den Saft der auf Überredung der Schlange genossenen Frucht / serpentis suasi pomi suco99 das Verderben / atra,100 ist dieser Baum des Kreuzes gerade durch seine Frucht hervorragend und köstlich.101 Der Baum erhält das Attribut suauis / süß,102 mit dem er zu Beginn des zweiten Teils schon einmal belegt worden war. 103 Der Verweis auf seinen Schatten impliziert zudem die traditionelle Vorstellung vom locus amoenus. Den Abschluss der Prädikationen bilden zwei Verse, die mit en / siehe eingeleitet werden und damit auf die visuelle Ebene des Gedichtes rekurrieren. Dazu passt auch gut die Verbindung mit der Lichtmetaphorik, die allerdings wiederum mit Bildern aus dem militärischen Bereich in Kombination erscheint, woran sich zum Ende des Basistextes direkte Bitten an das Kreuz anschließen: En regis magni gemmantem et nobile signum

Siehe das von Knospen / Gemmen geschmückte edle Banner des großen Königs! murus et arma uiris, uirtus, lux ara precatu. Eine Mauer und Waffen für die Männer, Tugend, Licht und Altar im Gebet! 104 Pande benigna uiam, uiuax et fertile lumen. Breite gütig den Weg aus, lebendiges und fruchtbares Licht! Tum memor adfer opem nobis e germine Dauid Dann bringe, indem du an uns denkst, Hilfe aus dem Spross Davids, in cruce rex fixus iudex cum praeerit orbi. 35 wenn der ans Kreuz geschlagene König als 35 Richter dem Erdkreis vorstehen wird.105

95 96 97 98 99 100 101

102 103 104 105

Vers 28: ramis de cuius uitalia crismate fragant / von dessen Zweigen Lebendiges in Chrisam duftet. Vers 28. Vers 11. Vers 10. Vers 11. Vers 11. Vers 29f.: excellens cultu, diua ortu, fulgida fructu, / deliciosa cibo et per poma suavis in umbra. / hervorragend bist du von der Kultivierung, göttlich vom Ursprung, glänzend durch deine Frucht, / köstlich durch die Speise und lieblich durch die Früchte im Schatten. Vers 30. Vers 20. Vers 31f. Vers 33–35.

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

422

3.2.7.1.3. Gattungsspezifische Einordnung a) Verbindung zu den Kreuzhymnen Gerade diese letzten Verse des Basistextes stehen durch die Exponierung des königlichen Charakter des Kreuzes, nämlich als Feld und Siegeszeichen des Christkönigs, in einem deutlichen Bezug zu den Kreuzhymnen des Venantius Fortunatus, in die dieses Figurengedicht eingereiht ist. So ist im Hymnus Pange lingua gloriosi vom tropeum / dem Siegeszeichen gleich in der ersten Strophe die Rede, 106 der den Zyklus abschließende Hymnus beginnt mit der Apostrophierung des Kreuzes als Königsbanner: Vexilla regis prodeunt / die Banner des Königs ziehen voran.107 In beiden Hymnen findet sich ebenso wie in diesem Figurengedicht eine grundsätzliche Zweiteilung in einen narrativen und einen Teil, in der die Prädikationen in direkter Ansprache an das Kreuz gerichtet sind.108 Auch bei der Metaphorik der Prädikationen zeigen sich deutliche Parallelen: So wird in Pange lingua gloriosi das Kreuz als arbor una nobilis bezeichnet,109 wobei kein Wald einen Ähnlichen an Blüte, Laub und Frucht / flore, fronde, germine hervorgebracht habe.110 Zugleich findet die Schifffahrtsmetaphorik Verwendung: atque portum praeparare nauta mundo und als Seemann der schiffbrüchigen Welt naufrago, einen Hafen zu bereiten, quem sacer cruor perunxit fusus agni corpore. den das heilige Blut, das vom Körper des Lammes vergossen worden war, gesalbt hat.111

Im Hymnus Vexilla regis ist die Royalmetaphorik ebenso ausgeprägt wie der Gedanke, dass von der Rinde des Kreuzesbaums Aroma duftet und Nektar fließt: Arbor decora et fulgida ornata regis purpura, electa digno stipite tam sancta membra tangere

Prächtiger und glänzender Baum, geschmückt mit königlichem Purpur; erwählt durch würdigen Spross, so heilige Glieder zu berühren.112

Oder: Fundis aroma cortice, uincis sapore nectare, 106 107 108 109 110 111 112

Du ergießt von der Rinde duftendes Gewürz, du besiegst den Nektar im Geschmack,

Venantius Fortunatus, Carm., II, 2, 2. Venantius Fortunatus, Carm., II, 6, 1. Vgl. dazu die entsprechenden Ausführungen in Kapitel 3. 2. 6. dieser Arbeit. Venantius Fortunatus, Carm., II, 2, 22. Vgl. dazu auch ERNST, Carmen figuratum, 151. Venantius Fortunatus, Carm., II, 2, 23. Vers 29f. Venantius Fortunatus, Carm., II, 6, 17–20.

3.2.7. Carmina figurata

iucunda fructu fertili plaudis triumpho nobili.

423

angenehm durch reichliche Frucht, spendest du beim edlen Triumph Beifall.113

Auch die abschließenden direkten Bitten an das Kreuz im Basistext von Carmen II, 4114 zeigen Parallelen zu den Kreuzhymnen des Venantius Fortunatus: Während der Hymnus Vexilla regis bereits König David als Prophet für die Kreuzigung erwähnt,115 dann aber mit einem bloßen Gruß an Kreuz und Christus die letzte Strophe eröffnet (Salue ara, salue uictima / Sei gegrüßt Altar, sei gegrüßt du Opfer),116 wird in Pange lingua gloriosi der Kreuzesbaum aufgefordert, seine Äste zu beugen, damit Christi Glieder sanfter an ihm hängen.117 Die Bitte im Basistextes des Figurengedichtes geht insofern über die Kreuzhymnen hinaus, als hier das Kreuz direkt angesprochen wird, um Hilfe zu bringen und nicht um die Stellung Christi am Kreuze zu erleichtern. Das korrespondiert mit der Bitte der vertikalen Intexte, die im Interesse des Fortunatus und der Agnes und Radegunde das Kreuz um Schutz bitten. Finden sich hier also hymnische Elemente und zeigt sich, dass Venantius Fortunatus bei der Konzeption des Basistextes geradezu auf ein hymnisches Schema zurückgegriffen hat, sind für die gattungstheoretische Einordnung zwei weitere Fragen von besonderer Bedeutung: 1) Steht Carmen II, 4 unter den carmina cancellata des Dichters singulär da oder sind die herausgearbeiteten Elemente charakteristisch für die Gittergedichte des Venantius Fortunatus? 2) In welchem Verhältnis stehen dieses Gedicht und die übrigen carmina cancellata zu den porfyrianischen Vorbildern? Die erste Frage lässt sich durch Hinzuziehung der beiden übrigen carmina cancellata als Referenztext beantworten, die zweite durch den Vergleich mit Carmen VIII des Publilius Optatianus Porfyrius, da es von den wenigen porfyrianischen Gittergedichten mit christlicher Intextsymbolik den Kreuzgedichten des Venantius Fortunatus am nächsten kommt. b) Vergleich mit Carmen, V, 6a des Venantius Fortunatus Zunächst also zu Carmen V, 6a, das für den Bischof Syagrius von Autun verfasst wurde. Dabei wird der Schwerpunkt auf der Herausstellung einiger Charakteristika und Parallelen in der Konzeption liegen, über die sich Venantius Fortunatus zum

113 Vers 29–32. 114 Venantius Fortunatus, Carm., II, 4, 33–35: Pande benigna uiam, uiuax et fertile lumen. / Tum memor adfer opem nobis e germine Dauid / in cruce rex fixus iudex cum praeerit orbi. / Breite gütig den Weg aus, lebendiges und fruchtbares Licht! / Dann bringe, indem du an uns denkst, Hilfe aus dem Spross Davids, / wenn der ans Kreuz geschlagene König als Richter dem Erdkreis vorstehen wird. 115 Siehe Venantius Fortunatus, Carm., II, 6, 13–16. 116 Vers 33. 117 Venantius Fortunatus, Carm., II, 2, 25.

424

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

Teil auch in seinem Begleitschreiben an Syagrius selbst äußert.118 Auch dieses Gedicht hat wieder eine feste Anzahl von Buchstaben und Versen, so dass sich im Basistext eine Quadratform ergibt, diesmal sind es dreiunddreißig Hexameter mit je dreiunddreißig Buchstaben, in dem die Intexte wohl die Form eines doppelten Kreuzes als Kombination von Andreas– und eines rechtwinkligen Kreuzes bildeten.119 Ziel des Briefes und des beigelegten Figurengedichtes, war es, Syagrius für die Freilassung eines Kriegsgefangenen zu gewinnen. Deshalb sind sowohl Begleitbrief als auch das Figurengedicht so abgefasst, dass sie es Syagrius gleichsam unmöglich machen, seine Hilfe in der Angelegenheit zu verweigern: Carmen V, 6a

Abbildung nach der Ausgabe von Brower, Mainz 1617. (Intexte im Original rubriziert) 118 Venantius Fortunatus, Carm., V, 6. Zu den beiden Texten vgl. auch ERNST, Carmen figuratum, 152–155. Vgl. zu diesem Figurengedicht M. GRAVER, Quaelibet audendi. Fortunatus and the Acrostic, Transactions of the American Philological Association 123 (1993), 219– 245, und jetzt auch D. WALZ, Text im Text. Das Figurengedicht V, 6 des Venantius Fortunatus, in: E. C. LUTZ, W. HAUBRICHS & K. RIDDER (Hrsg.), Wolfram Studien XIX: Text und Text in lateinischer und volkssprachiger Überlieferung des Mittelalters. Freiburger Kolloquium 2004 (Berlin 2006), 59–93. 119 So noch in der Editio princeps bei BROWER (1617), vgl. die Ausführungen weiter unten in diesem Kapitel.

3.2.7. Carmina figurata

425

Basistext Dius apex Adam ut fecit, dat somnia, donec auulsa costa plasmata est Eua nec inpar felices pariter, dyploide lucis operti, ore coruscantes inter pia rura iugales; ripae iocundae nari grata aura redibat,

5

turis deliciae saturabant ubere flatu, una fouens ambos florosa sede uoluptas, nota bonis regio pascebat Tempe beatos. At cum tam magno pollerent maius honore, tota hominum mire parebat terra duorum,

10

occultus mendax mox exerit arma ueneni: serpens elatus, zelator, larueus hostis, atrox innocuos euincens felle nocenti conlisit suasu quos gratia diua bearat. Et homo de terra tum denuo decidit illuc

15

reptantis dolo Eos is excluditur ortu. Hac nati morimur damnati lege parentum. At Deus excellens aie et de lumine lumen e caeli solio dum munera prouidet ultro, castae carne rudi uiuax introiit agnus Prodiit inde salus matutiniue lucerna

20

Als die göttliche Macht ihn geschaffen, gab Adam sie Träume, bis aus der Rippe heraus nicht ungleich gebildet war Eva: glücklich beide zugleich, mit dem Umwurf des Lichtes bekleidet, strahlend im Angesicht sind in frommen Gefilden die Gatten; und der Nase genehm, drang vom lieblichen Ufer die Luft her, 5 satt macht’ im fruchtbaren Weh’n die köstliche Würze des Weihrauchs, eine einzige Lust wärmte beide im Wohnsitz voll Blüten, die Glückseligen dort nährte Tempe, bekannt ja den Guten. Als in so großer Ehre sie standen und mehr noch vermochten, wundersam die Erde gehorchte ganz nur zwei Menschen, 10 Zeigt’ der verborgene Lügner bald die Waffen des Giftes: Die erhobene Schlange, der Eiferer, Feind mit der Maske, gräulich bezwang die Unschuldigen er mit schädlichem Gifte. Durch Überredung entzweit’ er, wen Gottes Gnade beglückte. Und der Mensch, aus Erde gebildet, fiel wieder in Erde, 15 durch der Schlange Betrug bleibt fern er vom Ursprung im Osten. Wir sind geboren und sterben, durch’ s Gesetz für die Eltern verurteilt. Während doch Gott in der Höhe und Licht vom ewigen Lichte, fern auf dem Himmelsthron (für die Menschen) vorsieht Geschenke, kam das lebendige Lamm im rohen Fleisch einer Jungfrau. 20 Daraus hervor ging das Heil oder (besser) der Lichtstern des Morgens;

426

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

intactae partu lux eruit excita mundum:

aus unberührter Geburt brach so das Licht für die Welt an: a patre iure Deus, homo dehinc carneus aluo, Gott vom Vater mit Recht er, ein Mensch im Fleische vom Schoß her, ut nos eriperet, uili se detrahit auctor. uns zu erretten, macht niedrig sich selbst unser göttlicher Schöpfer. O regis uenale caput, quod de cruce fixit 25 Oh, Haupt des Königs, geboten zum Kaufe hingest am Kreuze, 25 telo uoce manu malfactus uerbere felle, dass du mit Spieß, Wort und Hand warst misshandelt mit Schlag und mit Galle, ac tu hac soluis captiuos sorte creator: und durch dieses Geschick die Gefang’nen löst aus du, mein Schöpfer, sero uera data est uitalis emptio morte; spät, durch wahrhaftigen Tod geschenkt wurd’ lebendige Lösung, ymnos unde Deo loquor albsoluente reatu. Hymnen sing’ Gott ich daher, der befreit hat (uns) von der Sünde. At uos, aeternae suffulti laude coronae, 30 Ihr jedoch, gestützt auf das Lob der ewigen Krone, 30 Gallorum radii uobis quo fulgeat et nox, Sonne des gallischen Volks, dass die Nacht durch euch auch erglänzet, rumpite lora iugis et sumitis arma diei: brecht die Riemen im Joch und nehmt auf die Waffen des Tages: ipsaue libertas uos liberat atque beabit. und die Freiheit selbst befreit euch und wird euch beglücken.120

Gliederung des Basitextes Dieser Basistext beginnt nicht nur mit der gleichen Formulierung wie das zuvor behandelte carmen cancellatum, 121 nämlich mit Dius apex / göttliche (höchste) Macht, sondern weist auch im Inhalt deutliche Gemeinsamkeiten auf, die schon bei der Gliederung des Basistextes deutlich zu Tage treten: I. Vers 1 – 16 Vers 1 – 8 Vers 1 – 2 Vers 3 – 8 Vers 9 – 16 Vers 9 – 10 Vers 11 – 14

Schöpfung und Paradies: Vor dem Sündenfall: Erschaffung von Adam und Eva. Adam und Eva im Paradies: Der Sündenfall: Ehrenstellung der ersten Menschen als Herrscher über die gesamte Erde. Auftreten der Schlange:

120 Venantius Fortunatus, Carm., V, 6a, lateinischer Text nach REYDELLET, II, 171f., Verszählung nach Versen des Basistextes. 121 Venantius Fortunatus, Carm., II, 4.

3.2.7. Carmina figurata

Vers 15 – 16 Überleitung und Scharnier: Vers 17 II. 18 – 33 Vers 18 – 24 Vers 18 – 19 Vers 20 – 23 Vers 24 – 25 Vers 25 – 28 Vers 25 - 26 Vers 27 – 28 Überleitung: Vers 29 Vers 30 – 33 Vers 30 – 31 Vers 32 - 33

427

Sie überredet die ersten Menschen (zur Übertretung von Gottes Gebot). Vertreibung aus dem Paradies Der Tod als Folge des Sündenfalls für die Menschen Erlösung und Befreiung: Gott kommt in die Welt: Gott im Himmel. Charakteristik Gottes und seine Geburt in der Welt. Christus ist Gott und Mensch zugleich, damit er uns retten kann. Erlösungswerk Christi am Kreuz: Anrede des Hauptes Christi als wahres Lösegeld und Leiden am Kreuz durch die arma Christi. Gefangenenbefreiung durch den Tod Christi. Erlösungswerk als Grund für Hymnen. Aufforderung an Syagrius zur Gefangenenbefreiung: Lob des Syagrius. Gefangenenbefreiung durch Syagrius.

Vergleich von Basistext und Konzeption der Intexte mit Carmen II, 4 Bis auf die letzten vier Verse schildert der Basistext das, was in Carmen II, 4 den ersten Teil des Basistextes ausmachte, nämlich Schöpfung, Sündenfall und Erlösung, allerdings in größerer Ausführlichkeit als dort. Die letzten vier Verse sprechen Syagrius in der zweiten Person direkt an, zugleich sind sie durch Bezüge und Komposition eng mit dem Erlösungswerk Christi am Kreuz verbunden, so dass man sie ohne weiteres dem zweiten Hauptteil zuordnen kann. Damit liegt aber wiederum eine grundsätzliche Zweitteilung des Basistextes vor, in der dem Vers in der Mitte eine Scharnierstellung zukommt: Hac nati morimur damnati lege parentum

Wir sind geboren und sterben, durch’ s Gesetz für die Eltern verurteilt.122

Der Tod ist die Folge des Sündenfalls auch für die nachfolgenden Generationen. Er macht das Erlösungswerk Christi notwendig, das von Venantius Fortunatus unter Exponierung theologischer Kernaussagen mit Lichtmetaphorik geschildert wird.123 122 Venantius Fortunatus, Carm., V, 6a, 17 (18 bei REYDELLET, II, 171). 123 Vers 18–24: At Deus excellens aie et de lumine lumen / e caeli solio dum munera prouidet ultro, / castae carne rudi uiuax introiit agnus / Prodiit inde salus matutiniue lucerna / intactae partu lux eruit excita mundum: / a patre iure Deus, homo dehinc carneus aluo, / ut nos eriperet, uili se detrahit auctor./ Während doch Gott in der Höhe und Licht vom ewigen

428

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

Wie schon in Carmen II, 4 werden hier theologische Kernaussagen exponiert, in diesem Fall die Jungfrauengeburt Christi124 und die Zweinaturenlehre, dass Christus in Gegensatz zur arianischen Auffassung ganz Gott und ganz Mensch war.125 Bei der Kreuzigung und Erlösungswerk Christi am Kreuz wird der Thematik entsprechend 126 der Akzent auf den Loskauf / emptio gerichtet. 127 Christi Haupt wird als uenale / zum Kauf angeboten 128 apostrophiert, es bildet gleichsam das Lösegeld, mit denen er die Gefangenen auslöst, 129 es ist lebendige Auslösung / uitalis emptio130, da dieser Loskauf vom Tod geschieht, der die Folge des Sündenfalls darstellt.131 Während in Carmen II, 4 der Aspekt des Lebens im Vordergrund stand, ist es hier, auf den Zweck von Brief und Figurengedicht abgestimmt, die Freiheit / libertas für deren Geschenk ebenso wie für das Geschenk der Befreiung (von der Erbsünde) durch das Erlösungswerk Christi am Kreuz132 dem Verursacher Lob gebührt, das auf ihn zurückstrahlen wird.133

124 125 126

127

128 129 130 131 132 133

Lichte, / fern auf dem Himmelsthron (für die Menschen) vorsieht Geschenke, / kam das lebendige Lamm im rohen Fleisch einer Jungfrau. / Daraus hervor ging das Heil oder (besser) der Lichtstern des Morgens, / und aus unberührter Geburt brach Licht für die Welt an: / Gott vom Vater mit Recht er, ein Mensch im Fleische vom Schoß her, / uns zu erretten, macht niedrig sich selbst unser göttlicher Schöpfer. Vers 20. Vers 23. Die genaue Situation lässt sich aus dem Begleitbrief an Bischof Syagrius von Autun (Venantius Fortunatus, Carm., V, 6) nicht völlig rekonstruieren. In einer rhetorischen Stilisierung, die in Kunstfertigkeit und Ausfeilung dem Brief an Martin von Braga gleichkommt (Carm., V 1, vgl. die entsprechenden Ausführungen in Kapitel 3. 1. 1. dieser Arbeit), spricht Venantius Fortunatus davon, wie zu ihm in einer dichterischen Schaffenskrise ein Landsmann gekommen sei, der zunächst vor Tränen kein Wort herausgebracht habe (§1–4). Der Vater kommt im Interesse seines Sohnes und möchte, dass sich Venantius Fortunatus an Syagrius wendet, damit dieser sich für die Freilassung seines Sohnes einsetze (§ 5). Dabei ist von redemptio / Loskauf die Rede, der (wohl weder vom Vater noch) von Venantius Fortunatus aus eigenen Mitteln bestritten werden kann (§ 6). Als Entschädigung für seine Bemühung oder seine finanziellen Aufwendungen kann Venantius Fortunatus nur ein Figurengedicht anbieten (§ 7), dessen Konzeption er in der Folge erläutert (§ 8–16). Den Abschluss bildet die Empfehlung, das Figurengedicht auf eine Wand der Eingangshalle im Sitz des Bischofs in Autun aufbringen zu lassen (§ 17). Vgl. zur möglichen Situation WALZ, Text im Text, 62–64. Venantius Fortunatus, Carm., V, 6a, 25–28: O regis uenale caput, quod de cruce fixit / telo uoce manu malfactus uerbere felle, / ac tu hac soluis captiuos sorte creator: / sero uera data est uitalis emptio morte; / Oh Haupt des Königs, geboten zum Kaufe hingest am Kreuze, / dass du mit Spieß Wort und Hand warst misshandelt mit Schlag und mit Galle, / und durch dieses Geschick die Gefangenen löst aus Du, mein Schöpfer, / spät, durch wahrhaftigen Tod geschenkt wurd’ lebendige Lösung. Vers 25. Vers 28. Vers 28. Vers 17. Vers 29: ymnos unde Deo loquor albsoluente reatu. / Hymnen sing’ Gott ich daher, der befreit hat (uns) von der Sünde. Vers 30–33: At uos, aeternae suffulti laude coronae, / Gallorum radii uobis quo fulgeat et nox, / rumpite lora iugis et sumitis arma diei: / ipsaue libertas uos liberat atque beabit. / Ihr

3.2.7. Carmina figurata

429

Im Gegensatz zu Carmen II, 4 besteht der Basistext aber nicht aus fünfunddreißig Versen mit je fünfunddreißig Buchstaben, sondern aus genau dreiunddreißig Versen mit je dreiunddreißig Buchstaben. Der Zahl kommt hier symbolische Bedeutung zu: Venantius Fortunatus wählt sie, weil sie der Anzahl der Jahre entspricht, in denen Christus im Fleisch inkarniert war.134 Ebenso legt er den Buchstaben fest, der in der Mitte des gesamten Gedichtes stehen soll, und entscheidet sich für das M, das die Mitte des lateinischen Alphabets ausmacht.135 Neben dieser zahlen- und buchstabensymbolischen Kombinatorik verwendet Venantius Fortunatus wie in Carmen II, 4 eine Rahmung, der er in Form eines Daches noch einen Vers voranstellt: Augustidunensis opus tibi soluo Syagri

Ich löse, Syagrius aus Autun, dir ein dieses Werk hier.

Der Rahmen besteht neben der Hervorhebung des ersten Dius apex Adam ut fecit, dat somnia, donec

Als die göttliche Macht ihn geschaffen, gab Adam sie Träume,136

und letzten Vers im Basistext ipsaue libertas uos liberat atque beabit.

und die Freiheit selbst befreit euch und wird euch beglücken.137

nach dem Muster von Carmen II, 4 in einem Akrostichon und einem Telestichon: Da Fortunato, sacer, haec pia uota, Syagri. Cristus se misit cum nos a morte reuexit.

Fortunatus erfüll’, Syagrius die frommen Wünsche! (Akrostichon) Christus schickte sich selbst, als uns er vom Tode erlöste. (Telestichon)138

Anders als in Carmen II, 4 (wo es die Form des Tatzenkreuzes verhinderte), wird dieser Rahmen durch ein Mesostichon ergänzt: Captiuos laxans, domini meditatio fies.

134 135 136 137 138

Löst die Gefangenen du, wirst ahmen du uns’ren Herrn nach.139

jedoch, gestützt auf das Lob der ewigen Krone, / Sonne des gallischen Volks, dass die Nacht durch Euch auch erglänzet, / brecht die Riemen im Joch und nehmt auf die Waffen des Tages: / und die Freiheit selbst befreit euch und wird euch beglücken. Venantius Fortunatus, Carm., V, 6, Paragraph 8. Siehe Paragraph 8 & 15. Venantius Fortunatus, Carm, V, 6a, 1. Vers 33. Venantius Fortunatus, Carm., V, 6a (Akrostichon & Telestichon, lateinischer Text nach REYDELLET, II, 172).

430

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

Zusätzlich bilden die Diagonalen Intexte in Form eines Andreaskreuzes: Dulce Dei munus quo merx te, care, coronet. Cara Deo pietas animam dat de nece solui.

Süß ist Gottes Geschenk, dessen Lohn dich krönet, mein Bester. (Diagonale 1) Frömmigkeit, welche Gott lieb ist, die Seele befreiet vom Tode. (Diagonale 2)140

Auf die Intexte in den Diagonalen des Andreaskreuzes sowie bei Akrostichon, Mesostichon und Telestichon weist Venantius Fortunatus in seinem Brief an Syagrius selbst hin, um damit die Vielfalt der metrischen Zwänge zu unterstreichen, denen er sich bei der Abfassung dieses carmen cancellatum ausgesetzt sah, und seine dichterische „Gefangenschaft“ mit der tatsächlichen desjenigen, für den er sich einsetzt, zu parallelisieren.141 Die Rahmung des gesamten Gedichts entspricht genau der Kompositionstechnik, die auch bei Carmen II, 4 Anwendung fand. Und genau wie dort in den vertikalen Intexten auch eine Sphragis mit Nennung des Dichters und seiner Auftraggeberinnen erfolgt, so dienen auch hier die Intexte, die vertikal oder diagonal zu lesen sind, der Sphragis mit Nennung des Dichters und des Syagrius oder formulieren die zentralen allgemeingültigen Aussagen des Figurengedichts. Auf diese Weise kreuzen sich die Aufforderungen an Syagrius im Andreaskreuz mit der narratio der Heilsgeschichte, die im Vergleich zu Carmen II, 4 allerdings ausführlicher ist und nicht in direkten Aufforderungen an das Kreuz, sondern dem konkreten Anlass von Brief und Figurengedicht folgend an Syagrius ausmündet. Auch Akrostichon, Mesostichon und Telestichon kreuzen sich bzw. rahmen den Basistext. Dabei stellt sich die Frage, ob der Gelenkvers 17 ursprünglich, wie noch in der Editio princeps von Brower, ebenfalls rubriziert und so optisch hervorgehoben war. Inhaltlich spricht dafür, dass sich so das an Syagrius gerichtete Mesostichon Captiuos laxans, domini meditatio fies.

Löst die Gefangenen du, wirst ahmen du uns’ren Herrn nach.

mit der Zentralaussage über die Folge des Sündenfalls für die nachfolgenden Generationen kreuzte: Hac nati morimur damnati lege parentum.

Wir sind geboren und sterben, durch’ s Gesetz für die Eltern verurteilt.

139 Venantius Fortunatus, Carm., V, 6a (Mesostichon, lateinischer Text nach REYDELLET, II, 172). 140 Venantius Fortunatus, Carm., V, 6a (Diagonale 1 & 2, jeweils von oben nach unten zu lesen, lateinischer Text nach REYDELLET, II, 172). 141 Siehe Venantius Fortunatus, Carm., V, 6, Paragraph 14. Venantius Fortunatus gibt dabei auch Hinweise auf die Leserichtung der Diagonalen: Sie müssen in absteigender Richtung gelesen werden (von links oben nach rechts unten und von rechts oben nach links unten).

3.2.7. Carmina figurata

431

Die Gefangenenbefreiung durch Syagrius würde damit auch auf der visuellen Ebene mit dem Erlösungswerk Christi am Kreuz, nämlich der Erlösung vom Tod, in Beziehung gesetzt. Handschriftlich ist diese Rubrizierung allerdings nur in einem Codex, allerdings einem sehr alten aus dem 9. Jahrhundert überliefert.142 Zu beachten ist freilich, dass die Figurengedichte des Venantius Fortunatus ohnehin nur in wenigen Handschriften tradiert sind, wobei zum Teil keine farbliche Hervorhebung der Intexte erfolgt, so dass das Gedicht auf den Basistext reduziert ist. 143 Zu beachten ist weiterhin, dass Browers Editio princeps zwar die erwähnte Handschrift G benutzt, sich hauptsächlich aber auf eine inzwischen verlorene Trierer Handschrift stützt, die wohl auch die Figurengedichte umfasste und als einzige Handschrift überhaupt neben den elf Büchern der Carmina auch die Carmina Appendix I-III komplett wiedergab, welche ansonsten nur in einer Sammelhandschrift überliefert sind, die eine Auswahl von Gedichten des Venantius Fortunatus neben denen anderer Autoren enthält.144 Das bedeutet aber, dass die Rubrizierung von Vers 17, welche von den erhaltenen Handschriften allein G wiedergibt, durchaus der ursprünglichen Konzeption des Venantius Fortunatus entsprochen haben kann, zumal inhaltliche Aspekte deutlich dafür sprechen. So scheint es, dass Venantius Fortunatus auch in diesem carmen cancellatum mit der Kreuzesform experimentiert hat, und während es sich in Carmen II, 4 um ein Tatzenkreuz handelte, handelt es sich hier um ein Andreaskreuz, wahrscheinlich in Kombination mit einem Kreuz aus zwei gleich langen Balken, die sich in der Mitte, im Buchstaben M, im rechten Winkel kreuzen.

142 Codex S. Galli 196 (G in den Editionen von LEO & REYDELLET). 143 So zum Beispiel in der Handschrift D, Codex Parisinus latinus 9347, vgl. dazu auch ERNST, Carmen figuratum, 154 mit Abbildung von Venantius Fortunatus, Carm., V, 6a aus dieser Handschrift. 144 Handschrift S, Codex Parisinus latinus 13, 048. Der Teil, der Gedichte von Venantius Fortunatus, einschließlich der Carmina der Appendix I–III enthält, stammt aus dem 9. Jahrhundert. Zum verlorenen Trierer Venantius Codex siehe LEO, XIV: „codicem Treverensem, quo Broweri editio nititur, repperisse magis iuvaret, ut qui app. 1–3 praeter S solus continuerit[...]. quamquam novi nihil ex illo disci potuisse eadem Broweri editio testis est. atque Haubenus, humanissimus bibliothecae municipalis Treverensis praefectus, litteris a me rogatus adfirmavit neque in publica neque in ecclesiae primariae biblitheca codicem nunc extare.“

432

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

c) Vergleich mit Carmen II, 5 Carmen II, 5

Abbildung nach Reydellet, I, 55.

3.2.7. Carmina figurata

433

Konzeption und Ausführung Auch das dritte carmen cancellatum des Venantius Fortunatus experimentiert mit der Kreuzesform. Allerdings ist es nicht vollendet.145 Da Venantius Fortunatus die Arbeit an diesem Gedicht wohl abgebrochen hat, zeigt das Vorhandene etwas über die Entstehungsweise eines carmen cancellatum: 146 Ausgeführt sind nämlich die Rahmenverse (Vers 1 und 35 des Basistextes), der Mittelvers des Basistextes, Akrostichon, Mesostichon und Telestichon, außerdem die übrigen Intextverse, was darauf schließen lässt, dass zunächst Rahmen und Intexte verfasst wurden und anschließend der Basistext. Von ihm sind jedoch außer dem ersten und dem letzten Vers nur fünf weitere ausgeführt. 147 Mesostichon und Mittelvers des Basistextes ergeben dabei ein Kreuz, dessen Balken durch die übrigen Intextverse mit Diagonalen im Winkel von 45° verbunden und somit gleichsam mit einem Kranz umgeben werden. Das Kreuz enthält folgende beiden Hexameter als Intexte: Ditans templa Dei crux et uelamen adornas.

Ex fidei merito magnum, pie, reddis, Abraham.

Kreuz du bereicherst und schmückst die Tempel und den Vorhang des Herrn. (Mesostichon) Durch das Verdienst des Glaubens, Gnädiger, gibst du Abraham zurück. (Mittelvers des Basistextes)

145 Venantius Fortunatus, Carm., II, 5. 146 Siehe dazu ERNST, Carmen figuratum, 152. In der karolinigischen Epoche wird diese Intextfigur von Alkuin in einem Gittergedicht aufgegriffen und vollendet, die einen Zyklus von Figurengedichten auf Karl den Großen einleitet, einen Zyklus, der wohl als Anhang einer Karl dedizierten Ausgabe der Gedichte des Publilius Optatianus Porfyrius gedacht war und an dem sich neben Alkuin auch Johannes Scottus und Theodulf von Orleans beteiligten, siehe dazu ERNST, Carmen figuratum, 169–198, speziell zu Alkuin, 169–178, zu Theodulf, der dieselbe Figur in einen Gedicht (Carmen XXIII) außerhalb des Zyklus verwendet, 188– 198. Neuerdings entwickelt H. FELS, Studien zu Venantius Fortunatus, Diss. phil. Heidelberg 2006, 87–98, die These, Carmen II, 4 und Carmen II, 5 seien als die in Carmen II, 6, 1 genannten uexilla regis / Standarten bzw. Banner des Königs auf Tuch gestickt bei der Translation der Kreuzreliquie in das Kloster von Poitiers voran getragen worden. Die Aufgabe, Carmen II, 5 zu übertragen, sei der neunjährigen Eusebia übertragen worden, die aber darüber verstorben sei, (Carmen IV, 28 ist ein Epitaphium auf Eusebia). Aus Pietätsgründen sei das Banner nie vollendet worden und auch die unvollständige Fassung (nicht der vollständige Entwurf) in die Sammlung der Gedichte des Venantius Fortunatus aufgenommen worden. Da das Epitaph auf Eusebia (Carmen IV, 28) das Mädchen mit paganen Gottheiten vergleicht, während der christliche Aspekt erst letzten Distichon anklingt, ist wohl davon auszugehen, dass Eusebia aus einer reichen Familie stammte, die die klassisch pagane Tradition hochhielt, und es daher eher unwahrscheinlich, dass sie, deren Verlobung mit einem gewissen Eusebius ausdrücklich erwähnt wird, in so jungen Jahren für das Kloster der Radegunde Stickarbeiten ausgeführt hatte. Ansonsten wäre wohl auch im Epitaph eine stärkere Betonung ihrer christianitas zu erwarten gewesen. 147 Venantius Fortunatus, Carm., II, 5, 2–6.

434

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

Der Intextkranz enthält folgende beiden Hexameter, jeweils vom ersten Buchstaben des Mesostichons aus descendierend zu lesen: Dulce mihi lignum, pie, maius odore rosetis. Dumosi colles lignum generastis honoris.

Gnädiger, das mir süße Kreuz, das an Duft Rosengärten übertrifft. (linke Seite) Hügel voller Dornengestrüpp, ihr habt das Holz (Kreuz) der Ehre geboren. (rechte Seite)

Den Rahmen bildet der Einleitungsvers des Basistextes: Extorquet hoc sorte Dei ueniabile signum.

Durch dieses Los zwingt unter Folter das Vergebung bringende Zeichen Gottes.

Zusammen mit dem der letzten Vers des Basistextes: Sic pater et genitus, sic s(an)ct(u)s spiritus So der Vater und der Sohn, so der heilige Geist unus. als ein einziger (Gott).

Hinzukommt das Akrostichon: Eripe credentes, fidei decus, arma salutis.

Entreiße die Gläubigen, du Zierde des Glaubens, du Waffe des Heils.

Und das Telestichon: Munere, Criste, tuo remouetur causa reatus.

Durch dein Geschenk, Christus, wird der Anklagezustand aufgehoben.

Vom Basistext sind folgende sechs Hexameter ausgeführt: Extorquet hoc sorte Dei ueniabile signum

Mit diesem Los zwingt unter Folter das Vergebung bringende Zeichen Gottes, rusticulas laudes uiuenti reddere flatu, bäurisches Lob mit lebendigen Blasen (der Flöte) abzustatten, in me qui regit ire lutum plasmabile numen, schöpferische Gottheit, die Lehm dazu brachte zu mir zu werden (mich zu bilden). portio uiuentum, curatio fausta medellae. Teil (alles) Lebendigen, gesegnetes Mittel der Heilung, exclusor culpae, trinitas effusa, creator. 5 Ausschließer der Schuld, ausgeströmte Dreieinigkeit, Schöpfer, 5 cuius honor lumen ius gloria regna coaeue. dessen Ehre, Licht, Recht, Ruhm und Herrschaft gleichen Alters sind.148

148 Venantius Fortunatus, Carm., II, 5. Lateinischer Text der Rahmen und Intexte sowie des Basistextes nach REYDELLET, I, 184f.

3.2.7. Carmina figurata

435

Der Überblick zeigt, dass das ganze Gedicht ebenso wie die anderen Figurengedichte des Venantius Fortunatus als Kreuzgedicht konzipiert war. Diesmal experimentierte der Dichter mit einem Intextkreuz, das von einem Intextkranz umgeben wird. Dabei geht es um das Lob des Kreuzes und Christi, die beide direkt angesprochen werden, wobei das Erlösungswerk Christi am Kreuz im Hintergrund steht (Telestichon) und daher auch die Aufforderung an das Kreuz ergehen kann, die Gläubigen zu erretten (Akrostichon). Der Basistext, soweit er ausgestaltet ist, richtet sich an die Dreieinigkeit, deren Lob besungen werden soll. Die ersten beiden Verse spielen in poetologischer Selbstreflexion auf die Schwierigkeiten an, die mit einem Lob der Trinität in Form eines carmen cancellatum verbunden sind. Die Begriffe extorquere / unter Folter zwingen149 und rusticas laudes bäurisches Lob nehmen dabei eine Schlüsselstellung ein. Sie bezeichnen sowohl die Zwänge, denen der Dichter bei der Abfassung unterliegt, als auch die mindere Qualität der Verse, die sich aus diesen Zwängen ergibt. In diesem Fall waren die Zwänge offenbar so groß, dass das Gedicht von Venantius Fortunatus gar nicht mehr vollendet wurde. Ob für die übrigen Verse des Basistextes ein hymnischer Lobpreis für jede der göttlicher Personen geplant war, entzieht sich unserer Kenntnis, bezeichnend ist aber, dass in den Prädikationen der ausgeführten Versen die Themen der Schöpfung 150 und der Erlösung angerissen werden. 151 Der Mittelvers des Basistextes scheint sich auf Christus, der durch das Erlösungswerk am Kreuz zum zweiten Abraham wird zu beziehen, so dass auch hier enge inhaltliche Bezüge zu den anderen Gittergedichten des Venantius Fortunatus vorliegen. Offenbar reserviert der Dichter Form des carmen cancellatum für bestimmte Inhalte, die mit den theologischen Kernfragen von Schöpfung, Sündenfall, Inkarnation Christi und Erlösung in Verbindung stehen. d) Vergleich mit Carmen VIII des Publilius Optatianus Porfyrius Archeget der Form des carmen cancellatum ist Publius Optatianus Porfyrius zur Zeit Konstantins des Großen. Wenn auch die meisten seiner Intexte in geometrischen Mustern angelegt sind, so finden sich auch litterale carmina cancellata,152 unter denen einige christliche Symbolik aufweisen. In zwei seiner carmina cancellata sind die Intexte in Form des Christusmonogramms XP gestaltet,153 in einem

149 150 151 152 153

Vers 1. Vers 3. Vers 4f. Vgl. dazu U. ERNST, Carmen figuratum, 118–127. Publilius Optatianus Porfyrius, Carmen VIII & XIV nach der Zählung von POLARA. Das dritte mit einem XP in den Intexten, Carmen XXIV, stammt mit ziemlicher Sicherheit nicht von Publius Optatianus Porfyrius (siehe POLARA, I, XXXI–XXXI & II, 153–158, insbesondere 157f.). Das Gedicht nimmt Bezug auf den Traktat De trinitate, der Ambrosius zugeschrieben wird, wohl aber aus der zweiten Hälfte des sechsten Jahrhunderts stammt (also wohl noch jünger ist als die Kreuzgedichte des Venantius Fortunatus). Möglicherweise ist Carmen XXIV erst in karolingischer Zeit entstanden.

436

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

weiteren dient das XP als Segel eines Intextschiffes.154 Dabei kommt Carmen VIII von der Konzeption den Kreuzgedichten des Venantius Fortunatus am nächsten und soll hier daher exemplarisch untersucht werden: Publilius Optatianus Porfyrius, Carmen VIII

Abbildung nach Polara (1973), I, 32

154 Publilius Optatianus Porfyrius, Carmen XIX nach der Zählung von POLARA.

3.2.7. Carmina figurata

437

Basistext Der Basistext des Gedichtes besteht wie in Carmen II, 4 des Venantius Fortunatus aus fünfunddreißig Hexametern mit je fünfunddreißig Buchstaben, so dass sich eine quadratische Form ergibt: Accipe picta novis elegis, lux aurea mundi,

Nimm an, was in neuen Elegien gemalt ist, goldenes Licht der Welt, clementis pia signa dei votumque perenne. die frommen Zeichen und den ewigen Wunsch des milden Gottes. Summe, fave. te tota rogat plebs gaudia rite, Höchster, sei gewogen! Dich bittet das ganze Volk mit Recht um Freuden et meritam credit, cum servat iussa timore und glaubt, dass es sie verdient hat, weil es deinen Befehlen gehorcht in Ehrfurcht Augusto et fidei, Christi sub lege probata. 5 vor dem Kaiser und dem Glauben, da diese nach Christi Gesetz erlassen worden sind. 5 Gloria iam saeclo processit candida miti, Im nunmehr friedlicher Zeit erschien glänzender Ruhm, adcumulans coetus et tota ornata serenis brachte die Mengen zusammen und schenkte deinen Söhnen muneribus praestans natis, ut laurea vota, mit den Gaben (des Friedens) geschmückt, dass mit Lorbeer umkränzte (erfüllte) Wünsche virtutum titulos, primis iam debeat annis, und Ehrentitel für ihre tapferen Taten, ihnen schon in frühen Jahren schuldet progenie tali genuit quos nobile saeclum. 10 das Zeitalter, das sie gebar und durch solchen Spross geadelt ist. 10 His decus a proavo, et verae conscia prolis Diese Zier haben sie vom Urahn, und das Segen spendende Rom, eingedenk seines wahren Sprosses Roma cluit, princeps invicti militis, alma, wird Hauptstadt des unbesiegten Soldaten otia pacis amans. Haec sunt mitissima dona, genannt, und liebt die Muße des Friedens. Dies sind die mildesten Gaben, hoc atavi meritum. Votis post editus orbis dies das Verdienst des Vorfahren. Nach den Wünschen Erdkreises wurde dann sein Nachkomme geboren erumpens docuit ne norint frangere fidei 15 und lehrte, indem er gegen sie vorging, die anderen seines Standes, nicht die besten Rechte der Treue zu brechen. 15 optima iura pares; curis sub Martis iniqui Unter der Sorge des (für seine Gegner) ungünstigen Mars, nullis laesa fides. Hinc iugi stamine fata wurde von keinem die Treue gebrochen. Von da an wählen die Fäden vobis fila legunt placida pietate secuta, ohne Unterbrechung ein Schicksal für euch aus, das in sanfter Frömmigkeit folgt,

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3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

et res Constanti nunc exerit inclita Fama,

und die berühmte Fama erhebt nun Constantius’ Haus zu den Sternen, aucta stirpe pia, voto accumulata perenni; 20 gemehrt durch den frommen Spross, erhöht durch ewigen Wunsch 20 sancta suas sedes ad mentis gaudia migrat und heilig geht sie zu ihren Sitzen zur Freude des Geistes aetherio residens felix in cardine mundi. und sitzt glücklich auf dem Pol der Welt im Äther. Iam patriae virtutis opus belline labore Ist es nun nötig, die Mühen der Tapferkeit für die Heimat oder an iusti meritis dicam mentisque serenae? die Verdienste einer gerechten Seele oder des erlauchten Geistes zu nennen? Et pia dona canam fecundaque pectora noto25 Und soll ich die frommen Gaben und das Herz, dass nach Erkenntnis Gottes zu Recht 25 rite deo, sic mente vigent cui gaudia casta? fruchtbar ist, besingen, in dem durch die keusche Gesinnung Freuden sich regen? Claudius invictus bellis insignia magna Claudius hat wohl, unbesiegt im Krieg, große Zeichen von (militärischer) virtutum tulerit Gothico de milite parta, Tapferkeit, hervorgebracht von seinem gotischen Heer, gezeigt, et pietate potens Constantius omnia pace und mächtig durch seine Frömmigkeit hat wohl Constantius die gesamte Welt, ac iustis auctus complerit saecula donis: 30 als er seine Stellung erreicht hatte, im Frieden mit gerechten Gaben erfüllt: 30 haec potiore fide, meritis maioribus orta Dies, was durch die Verdienste der Vorfahren hervorgebracht worden ist, orbi dona tuo praestas, superasque priora, bringst du in mächtigeren Glauben als Gaben deiner Welt, und übertriffst das perque tuos natos vincis praeconia magna. Vorangegangene und besiegst durch deine Söhne dieses große Lob. Ac tibi lege dei iussisque perennia fient Und nach Gottes Befehl und Gesetz wird ewig die Zeit der frommen Herrschaft saecla pii sceptri te, Constantine, sereno. 35 währen unter dir, erlauchter Konstantin.155 35

155 Publilius Optatianus Porfyrius, Carmen VIII, lateinischer Text nach POLARA, I, 35f., ausführlicher Kommentar in POLARA, II, 60–65.

3.2.7. Carmina figurata

439

Konzeption und Interpretation von Optatian Porfyrius, Carmen VIII Ein Unterschied zu den Kreuzgedichten des Venantius Fortunatus fällt sofort ins Auge und wird noch deutlicher, wenn man die Gliederung des Basistextes betrachtet: Adressat ist Konstantin und der Basistext erweist sich als Panegyrikos auf den Kaiser, der mit Lob der Herkunft wie der Tugenden des Kaisers den Regeln des basiliko\j lo/goj folgt 156 und spätestens zu den Quinquennalien Konstantins, seinem fünfzehnjährigen Jubiläum als Caesar 321, verfasst ist.157 Er lässt sich grob in vier Teile untergliedern:158 I. Vers 1 – 2

II. Vers 3 – 10 III. Vers 11 – 30 IV. Vers 31 – 35

Einleitung: Übergabe des Figurengedichtes mit Erklärung der figürlichen Darstellung. Die glückliche Zeit unter Konstantin. Ruhm Konstantins, seiner Vorfahren und Kinder. Konstantin überragt diese alle so sehr, dass seine Herrschaft ewig dauern möge.

Publilius Optatianus Porfyrius lässt den Basistext mit der Anrede Konstantins159 beginnen und enden, wobei im letzten Vers zum ersten Mal die namentliche Erwähnung erfolgt.160 Neben seinen Söhnen finden im Mittelteil der Stammvater Claudius aus gotischem Geschlecht Erwähnung161 sowie Konstantins Vater Konstantius. 162 Außer dem militärischen Ruhm und dem dynastischen Element, das 156 Vgl. dazu Menander Rhetor, Peri epideiktikon, 368–377 auf den Seiten 76–95 in der Ausgabe von RUSSELL / WILSON, Oxford 1981, wo Menander ausführlich die Topoi für den basiliko(j lo/goj darlegt. 157 Siehe dazu POLARA, II, 60. Im Jahre 317 erhebt Konstantin in Absprache mit Licinius seinen ältesten Sohn Crispus, der zu diesem Zeitpunkt zwölf Jahre alt ist, seinen jüngsten zweijährigen Sohn Constantius II. sowie den jüngsten Sohn von Licinius und Konstantins Schwester Konstantia, der auch erst zwei Jahre alt ist, zu Caesares. Vgl. dazu A. DEMANDT, Konstantin der Große in seiner Zeit, in: A. DEMANDT & J. EGGEMANN, Imperator Caesar Flavius Constantinus. Konstantin der Große. Ausstellungskatalog zur Konstantin Ausstellung in Trier 2007, 74–84, hier 79. Vgl. auch K. PIEPENBRINK, Konstantin der Große und seine Zeit, Darmstadt 2002, 47f. Dabei setzt er fest, dass jeder der neuen Caesares in den folgenden Jahren zusammen mit seinem Vater das Konsulat bekleiden soll (2 x Konstantin mit Sohn, 1 x Licinius mit Sohn). Crispus macht für das Jahr 318 den Anfang. Da Konstantin – aus dynastischen Gründen – etwa seit 318 eine verwandtschaftliche Verbindung zu Claudius Gothicus konstruiert, die auch hier in Carmen VIII des Publilius Optatianus Porfyrius (Vers 29f.) exponiert wird, böte sich eine Datierung auf 318 an (erstes Konsulat des Crispus mit seinem Vater). 158 Zur Gliederung vgl. POLARA, II, 60f. 159 In der Wendung lux aurea mundi / goldenes Licht der Welt, Publilius Optatianus Porfyrius, Carmen VIII, 1. 160 Vers 35. 161 Namentlich erwähnt ist er in Vers 27, angespielt wird auf ihn aber seit Vers 14, siehe POLARA, II, 62. 162 Namentlich erwähnt ist er in Vers 19 und 29, siehe dazu auch POLARA, II, 63f.

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3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

hier exponiert wird, spielen die Begriffe fides / Glaube, Treue 163 und pius / pflichtbewusst, fromm bzw. pietas / Pflichtgefühl, Frömmigkeit164 eine besondere Rolle. Bezogen auf Konstantin verweisen sie165 auf eine fides Christiana, in Bezug auf seine Vorfahren bereiten sie diese zumindest vor. Das spezifisch Christliche klingt also in der Herrscherpanegyrik des Basistextes an und charakterisiert Konstantin als christlichen Herrscher, am stärksten wird es aber durch die Intexte exponiert. Dabei gibt es zwei Ebenen:166 einmal die Figur des XP und der darum gruppierten Großbuchstaben, die das Wort IESVS ergeben, zum zweiten Intextverse innerhalb von Großbuchstaben und XP. Das X verläuft durch die Diagonalen des Basistextes in Form eines Andreaskreuzes und enthält zwei Intextverse, von denen der erste in absteigender Leserichtung vom ersten Buchstaben des ersten Verses bis zum letzten des letzten Verses gelesen werden muss und einen Hexameter ergibt: Alme, salutari nunc haec tibi pagina signo.

Gütiger, dir, der du Heil bringst, zeichne ich nun diese Seite.

Der zweite Intextvers über die Diagonale ist vom ersten Buchstaben des letzten Verses bis zum letzten Buchstaben des ersten Verses zu lesen und ergibt einen Pentameter: Scripta micat, resonans nominibus domini.

Wider glänzet die Schrift durch die Namen des Herrn.

Damit bilden die Intextverse des X die Verse im elegischen Maß, von denen in Vers 1 des Basistextes die Rede war. Von Vers 8 des Basistextes bis zu Vers 28 ist der griechische Buchstabe P vertikal durch den Schnittpunkt der beiden Diagonalen geführt. Das P enthält einen Intext, der zunächst vertikal deszendierend zu lesen und durch den Bogen des P zu ergänzen ist: Sit Victoria comes Aug. et natis eius.

Der Sieg sei der Begleiter des Augustus und seiner Söhne.

Die Großbuchstaben IESVS sind in Kreuzform in das XP eingelegt. Sie grenzen je an eine Außenkante des Basistextes und verlaufen jeweils über sieben Verse. Dabei entsprechen die Abmessungen der beiden Buchstaben I E im nördlichen Viertel des X genau denen des V im südlichen Viertel. Zu lesen sind sie gegen die Uhrzeigerrichtung und enthalten als Intext noch einen weiteres Distichon:

163 Vers 5, 15, 17, 31. 164 Vers 2, 18, 20, 25, 29, 35. 165 In Vers 5 ist nach dem Begriff fides, von den Befehlen Konstantins die Rede, die Christi sub lege probata / nach Christi Gesetz recht sind. 166 Zu diesem Gedicht und besonders zur Komposition der Intexte vgl. auch ERNST, Carmen figuratum, 122–124.

3.2.7. Carmina figurata

Nate Deo, solus salvator, sancte bonorum. Tu Deus es iusti, gratia tu fidei.

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Gottes Sohn, alleiniger Erlöser, Heiliger, zum Guten. Du bist Gott des Gerechten, du die Gnade des Glaubens.

Vergleich mit den Gittergedichten des Venantius Fortunatus Bei Optatian Porfyrius steht allein auf der Intextebene Jesus Christus im Vordergrund, welcher im Intext des P mit dem Wunsch, dass Konstantin und seine Söhne immer siegen mögen, und damit mit dem Herrscher und seiner Familie in Zusammenhang gebracht wird. Das Christogramm als Siegeszeichen wird in Zusammenhang mit dem Sieg Konstantins gegen seinen Rivalen Maxentius an der Milvischen Brücke 312 von Laktanz und Eusebius gebracht. 167 Laut Eusebius habe Konstantin vor der Schlacht eine Vision gehabt, in der ihm das Kreuzzeichen erschienen sei mit einer Lichtschrift Durch dieses siege. In einem anschließenden Traum habe Christus die Vision gedeutet und ihm befohlen, auf die Schilde seiner Soldaten dieses Zeichen aufbringen zu lassen. Bei Laktanz ist das Zeichen das Christogramm XP, was zugleich die älteste christliche Gebrauchsform des Kreuzes darstellt,168 und das sich spätestens nach 324 (dem Jahr des Sieges über Licinius) im labarum Konstantins wieder findet. In diesem Figurengedicht, das vor 324 (entweder 318 oder spätestens 321) entstanden ist und in dem sich Konstantin bewusst als spezifisch christlicher Herrscher zumindest in der unmittelbaren Umgebung seines Hofes (das Figurengedicht wurde wohl als Einzelseite, pagina, oder in einem Codex mit anderen Figurengedichten dem Herrscher überreicht) feiern lässt, wird das Christogramm bereits verwendet und interessanter Weise mit dem Namen IESVS in Kreuzform verbunden, so dass ähnlich wie in Carmen V, 6a des Venantius Fortunatus eine doppelte Kreuzform vorliegt. Von der Konzeption der Intexte konnte Venantius Fortunatus in diesem Fall also auf ein porfyrianisches Vorbild rekurrieren. Das unvollendete Carmen II, 5 kann durchaus als Variation dieses Typus aufgefasst werden, indem das Gitter des Basistextes wiederum zunächst durch Mesostichon und Mittelvers in vier kleinere Quadrate untergliedert wird, anstelle der durchgehenden Diagonalen innerhalb dieser kleineren Quadrate die Diagonalen in Gegenrichtung hervorhoben werden und dadurch das Kreuz durch einen Kranz bzw. ein auf dem unteren Winkel stehender Rhombus umgeben. Für das Tatzenkreuz in Carmen II, 4 gibt es jedoch kein Vorbild. Deutlich sind auch die Unterschiede zu Venantius Fortunatus: Das porfyrianische Gedicht (und das gilt auch für die übrigen porfyrianischen Gedichte mit Christogramm) dient der Herrscherpanegyrik und die christliche Symbolik der zusätzlichen Charakteristik des Herrschers und seiner Familie als christlicher 167 Siehe Laktanz, De mortibus persecutorum, 44, 5 & Eusebius, Vita Constantini, 1, 30. Zur Interpretation der Vision Konstantins durch christliche Autoren vgl. E. HERRMANN-OTTO, Konstantin der Große, Darmstadt 2007, 48–57, insbesondere 54–57. Zur Forschungskontroverse über den Zeitpunkt der conversio Konstantins zum Christentum siehe dort 42–48. 168 Vgl. dazu E. DINKLER / V. SCHUBERT, Kreuz, in: Lexikon der christlichen Ikoniographie, Sp. 562–590, hier 564 und 574f,

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3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

Herrscher und christliche Herrscherfamilie. Allenfalls kann man eine indirekte Einordnung der Herrschaft Konstantins in die christliche Heilsgeschichte vermuten, was sich durch den Hinweis auf das Erlösungswerk Christi im Intext der Großbuchstaben IESVS stützen ließe. Weder das Kreuz noch die Christogramme bilden also das eigentliche Sujet des Gedichtes, sondern der Kontext der Herrscherpanegyrik. Venantius Fortunatus hingegen experimentiert mit der Kreuzesform, die in engem thematischen Zusammenhang mit dem Inhalt des Basistextes steht, selbst der Teil, welcher im Basistext von Carmen V, 6a Syagrius gewidmet ist,169 dient nicht in erster Linie der Panegyrik des Syagrius, sondern seiner Einordnung in die Heilsgeschichte, die es dem Bischof unmöglich machen soll, seine Unterstützung bei der Befreiung des Gefangenen zu versagen. Auch die zusätzliche Rahmung durch Anfangs- und Endvers des Basistextes sowie Akrostichon und Telestichon findet sich in den porfyrianischen Gedichten mit Christogramm nicht, ebenso wenig markieren die Intexte Abschnitte auf der Ebene des Basistextes. Venantius Fortunatus ist offenbar bemüht, sowohl inhaltlich als auch formal neue Wege zu beschreiten. 3.2.7.2. Carmen II, 5a Neue Wege werden auch in einem etwas rätselhaften Gedicht beschritten, das zum ersten Mal unter den Kreuzgedichten des Venantius Fortunatus überliefert ist, dessen Echtheit aber seit der Edition von Leo bestritten wird.170 Es besteht nur aus einem elegischen Distichon: CRVX mihi certa salus, CRVX est quam semper Kreuz, mein sicheres Heil, das Kreuz, das ich adoro immer anbete, CRVX Domini mecum, CRVX mihi refugium. Kreuz meines Herrn mit mir, Kreuz du bist Zuflucht für mich.171

Dieses Distichon lautet in linearer Schreibweise in Hexameter und Pentameter mit dem Wort crux an, im Hexameter erfolgt die Zäsur bei der Penthemimeres, hinter welcher der Rest des Verses wiederum mit dem Wort crux beginnt; ebenso beginnt der zweite Teil des Pentameters mit dem Wort crux, so dass es insgesamt viermal vorkommt und zwar zu Beginn eines jeden Versstückes nach der Zäsur. Drei der insgesamt vier Verstücke bilden einen Hemiepes (bis zur Penthemimeres) und sind somit untereinander metrisch, und da sie jeweils einen abgeschlossen Sinn ergeben, auch inhaltlich austauschbar. Überliefert ist das Gedicht allerdings in der figurierten Form eines Kreuzkubus: Dabei bildet der Buchstabe C des Wortes CRVX den Mittelpunkt eines Kreuzes, an den sich vertikal wie horizontal die restlichen Buchstaben des Wortes anschließen: 169 Venantius Fortunatus, Carm., V, 6a, 30–33 (31–34 bei REYDELLET). 170 Venantius Fortunatus, Carm., II, 5a (bei REYDELLET), II, 6 (bei BROWER). 171 Venantius Fortunatus, Carm., II, 5a, lateinischer Text nach REYDELLET, I, 56.

3.2.7. Carmina figurata

Carmen II, 5a

Abbildung nach Reydellet, I, 56.

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444

3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

In einer Breite von jeweils fünf Buchstaben sind die jeweiligen Versstücke angeschlossen, so dass sich nach oben in beliebiger Leserichtung der Teil: CRVX mihi certa salus, nach unten (ebenfalls in beliebiger Leserichtung): CRVX est quam semper adoro, nach links CRVX mihi refugium und nach rechts CRVX domini mecum ergibt und der ganze Kubus die Gestalt eines Tatzenkreuzes annimmt, was ein reiches literarisches Nachleben haben sollte.172 Erstmals ist dieses Gedicht in figurierter Form unter den Kreuzgedichten des Venantius Fortunatus überliefert. Seit der Karolingerzeit erfreut es sich einer immer größeren Beliebtheit.173 Legendarisch wird es später mit dem Leben des heiligen Thomas von Aquin verbunden: Dieser habe das Gedicht in figurierter Form nach einem Gewitter, bei dem er fast vom Blitz getroffen worden wäre, in apotropäischer Funktion an die Wand seiner Zelle im Dominikanerkloster S. Giacomo bei Anagni geschrieben (daher wird es auch als Thomaskreuz bezeichnet).174 Der Wortlaut verändert sich dabei mit dem Sprachgebrauch. Da im Lateinischen statt mihi die Form michi üblich wird, damit aber die Symmetrie des Kubus auf dem Querbalken gestört ist, findet sich dieser Kreuzkubus später auch in folgender Form überliefert: CRVX michi certa salus, CRVX est, quam semper adoro, CRVX domini mecum, CRVX pia refugium.175 Die Frage nach der Verfasserschaft ist kompliziert und wird sich wohl nicht mit letzter Gewissheit beantworten lassen. Leo stellt sie in seiner Ausgabe in Frage und ordnet das Gedicht unter der Rubrik Spuria ein. Allerdings finden sich unter den Spuria bei Leo (und das gilt zum Teil auch für die von Krusch herausgegebenen Prosaschriften des Venantius Fortunatus) durchaus Gedichte, die eindeutig vom Dichter stammen. Berühmtestes Beispiel ist ein umfangreicher Marienhym-

172 Siehe Abbildung. Zur Gattung des Kreuzwortlabyrinth in Antike und Mittelalter siehe ERNST, Carmen figuratum, 389–429, speziell zu diesem Kreuzkubus 421–428, wo darauf hingewiesen wird, dass sich diese Art des Kreuzkubus und seine Verwendung durch vielfältige Spezifika auszeichne (Zitat 427): „1. durch eine Kombination von innerer Labyrinthform und äußerer Kreuzgestalt, 2. durch ein komplexes Textsubstrat, das gleichsam vier einzelne Cuben vereint, 3. durch Nähe zur apotropäischen Magie des christlichen Segens, die dem für diesen Typus charakteristischen Prinzip der multiplen Rekapitulation von Aussagen eine neue Funktion im Sinne der Beschwörungsrhetorik verleiht, 4. durch buchkünstlerisch und gattungspoetologisch aufschlußreiche Überlieferungszusammenhänge (Verwendung als Frontispiz; komputistische Tabellen [...] und andere carmina figurata im Kontext) und 5. durch den kontinuierlichen handschriftlichen Tradierungsprozeß, der diese Textur zu einem singulären Dokument für die Konstanz der visuellen Poesie zwischen Mittelalter und Neuzeit macht.“ 173 Siehe dazu ERNST, Carmen figuratum, 421–427, außerdem ausführlich B. BISCHOF, Ursprung und Geschichte eines Kreuzsegens, in: (DERS.): Mittelalterliche Studien II, Stuttgart 1967, 275–284. Siehe jetzt auch FELS, Studien zu Venantius Fortunatus, 69–87, wo die handschriftliche Überlieferung ausführlich dargestellt wird, Abbildungen dort 139–151. 174 Siehe ERNST, Carmen figuratum, 424. 175 Vgl. BISCHOFF, Ursprung und Geschichte eines Kreuzsegens, 278.

3.2.7. Carmina figurata

445

nus im elegischen Distichon, dessen Echtheit seit der Arbeit von Blomgren als erwiesen zu gelten hat.176 Überliefert ist das Carmen in einer der beiden ältesten vollständigen Venantius Handschriften, dem Sankt Gallener Codex, 177 womit sich als terminus ante quem für die figurierte Form das neunte Jahrhundert bestimmen lässt. Die doppelte Verwendung der klassischen Form mihi statt des späteren michi und die Tatsache, dass Alkuin in seinem ersten carmen cancellatum auf das heilige Kreuz den Anfang des Distichons Crux mihi certa salus im Akrostichon als Crux pia vera salus178 Bezug nimmt,179 bestätigen diese Datierung. Noch deutlicher ist der Bezug im vierten visuellen carmen cancellatum des Josephus Scottus,180 das wie das Gedicht des Alkuin ebenfalls in einen Zyklus von Figurengedichten an Karl den Großen gehört, die wohl als Anhang einer Ausgabe der Werke des Publilius Optatianus Porfyrius konzipiert waren. Die Intexte bilden dort ein Dach, unter dem sich das heilige Kreuz mit den beiden Schächerkreuzen befindet. Sie lauten: Crux mihi certa salus Christi sacrata cruore. Crux decus aeternum toto venerabile saeclo.

Crux vita salus credentis. Crux mors poena negantis. Sancta cruci semper salvet inscriptio corda.

Das Kreuz ist mein sicheres Heil, durch Christi Blut geheiligt. Das Kreuz ist eine ewige Zierde, die in der ganzen Welt verehrt werden muss. (Dachkonstruktion) Das Kreuz ist Leben und Heil für den, der glaubt. (Schächerkreuz rechts von Christus) Das Kreuz ist Tod und Strafe für den, der leugnet. (Schächerkreuz links von Christus) Die heilige Inschrift auf dem Kreuz erlöst das Herz (für) immer. (Zentrales Kreuz Christi)

In beiden Fällen erscheint also der Anfang des Distichons in reiner oder variierter Form als Intext in einem carmen figuratum. Das legt die Vermutung nahe, dass sowohl Alkuin als auch Josephus Scottus um 800 n. Chr. bereits auf eine figurierte Form des Distichons rekurrieren und diese innerhalb eines Gittergedichtes variieren. Als Hauptargument gegen eine Verfasserschaft des Venantius Fortunatus kann man eine nicht figurierte Form des Distichons anführen, die innerhalb eines sehr kurzen Kreuzhymnus (er besteht nur aus vier Distichen) im Codex Parisinus Latinus 10318 überliefert ist. In dieser Sammelhandschrift aus dem 8. oder 9. nachchristlichen Jahrhundert, die Riese in seiner Anthologia Latina komplett 176 Siehe S. BLOMGREN, Studia Fortunatiana, II. De carmine in laudem sanctae Mariae composito Venantio Fortunato recte attribuendo, Uppsala 1934. 177 Cod. Sangall. 196, 40. 178 Zu Alkuin und diesem carmen cancellatum siehe ausführlich ERNST, Carmen figuratum, 168–178, speziell zu diesem Gedicht 170–174. 179 Siehe BISCHOFF, Ursprung und Geschichte eines Kreuzsegens, 277. 180 Vgl. dazu ERNST (1991), 186f.

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3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

ediert hat, befinden sich diese Verse am Ende des Codex, zusammen mit den anderen wenigen Zeugnissen christlicher Provenienz, so dass keineswegs sicher ist, dass sie tatsächlich zum ursprünglichen Textbestand der Sammlung gehören, deren Entstehung Riese in die Zeit der Vandalenherrschaft in Nordafrika datiert.181 Sie stehen hinter einem Gedicht, das sich offensichtlich auf eine Inschrift eines Baptisteriums bezieht, und in der Handschrift nach der Sphragis in Vers 12 einem Calbulus zugeschrieben wird, der weiter lediglich als grammaticus apostrophiert wird.182 Einen Hinweis auf diesen Calbulus, der möglicherweise auch der Stifter des Baptisteriums und nicht der Verfasser der Inschrift ist, gibt es im Kreuzhymnus, der sich auch noch direkt vor einer Lücke der Handschrift befindet, nicht. Es kann sich dabei also sehr wohl um eine spätere Ergänzung handeln, die vor oder zur Zeit der Abfassung der Handschrift getätigt wurde. Der Text des Kreuzhymnus lautet: Hinc crux sancta potens caelo successit et Von hier stieg das heilige mächtige Kreuz zu astris: Himmel und Sternen auf. Dum retinet corpus misit in astra deum. Während es den Körper zurückhielt, schickte es Gott zu den Sternen. Qui fugis insidias mundi, crucis utere signis: Der du vor den Nachstellungen der Welt fliehst, Hac armata fides protegit omne malum. benutze das Zeichen des Kreuzes, Mit diesem bewaffnet schützt der Glaube vor allem Übel. Crux domini mecum, crux est quam semper Das Kreuz des Herrn sei mit mir, das Kreuz ist adoro, 5 es, das ich immer anbete, 5 Crux mihi refugium, crux mihi certa salus. Das Kreuz ist meine Zuflucht, das Kreuz ist mein sicheres Heil. Virtutum genetrix, fons vitae, ianua caeli, Mutter der Tugenden, Quelle des Lebens, Tür Crux Christi totum, destruit hostis opus. zum Himmel, Das Kreuz Christi hat das Werk des Feindes zerstört.

181 Zu Entstehungszeit und Ort siehe RIESE, Anthologia Latina, Praefatio, XXI–XXVII. 182 Anthologia Latina, 378, (S. 290f. bei RIESE I, I). Diese Zuschreibung beruht aber allein auf der Abfolge in der Handschrift, wo diese Verse ohne Angabe eines Verfassers hinter einer Inschrift für ein Baptisterium überliefert sind, wo tatsächlich der Name Calbulus auftaucht: Marmoris oblati speciem, nova munera, supplex / Calbulus exhibuit. fontis memor, unde renatus, / Per formam cervi gremium perduxit aquarum. / Die Gestalt des dargeboten Marmors, neue Geschenke, leistete / der demütige Calbulus. Eingedenk der Quelle, woher er wiedergeboren war, / führte er den Schoß der Wasser durch die Form eines Hirsches. (Vers 11–13, lateinischer Text nach der Ausgabe von RIESE, 291). Diese Sphragis muss dabei noch nicht einmal den Dichter der Verse bezeichnen, sie kann auch den Mosaikkünstler oder Stifter meinen, der wahrscheinlich nicht mit dem Verfasser der Verse identisch ist. Auch die Beachtung des Reimschemas deutet auf eine Abfassungszeit nach Venantius Fortunatus hin, der, wie in der Analyse seiner Kreuzhymnen sichtbar, mit dem Reimschema erst experimentierte (Siehe dazu die entsprechenden Ausführungen in Kapitel 3. 2. 6. dieser Arbeit).

3.2.7. Carmina figurata

Pax Domini tecum, puro quam pectore quaeris.

447

Der Friede des Herrn sei mit dir, den du aus reinem Herzen suchst.183

Dieses Kreuzgedicht ist nicht figuriert, aber das dritte Distichon stellt eine variierte Form des Distichons: CRVX mihi certa salus, CRVX est quam semper adoro CRVX domini mecum, CRVX mihi refugium dar. Geht man von der Priorität dieser Fassung aus, muss man (wie Bischoff) zu folgendem Schluss kommen: „Irgendein Leser des Gedichts aus vor- oder frühkarolingischer Zeit, dem die vierfache Wiederholung auffiel, kam auf den Gedanken, das Distichon in Kreuzesform umzuschreiben, wobei das C von ‚crux’ die Mitte einnahm und die Halbverse die Arme des Kreuzes bildeten; diese wurden verbreitert, indem der Wortlaut, von innen nach außen gerade oder im rechten Winkel fortschreitend, fünfmal nebeneinander herlief, bis er in den Spitzen der Kreuzesarme endete. Dabei kam es zustatten, daß die ersten Hälften beider Verse nahezu gleich lang waren und sich so für den waagerechten Balken eigneten.“184 Nach dieser Deutung läge dann ein ursprünglich nicht figurierter Kreuzhymnus vor, von dem das dritte Distichon später von einem unbekannten Autor in eine figurierte Form gebracht worden wäre. Allerdings ergibt sich das Problem, dass es für die figurierte Form das Distichon bestimmte Voraussetzungen erfüllen muss, die es im übrigen auch deutlich von den anderen drei Distichen unterscheiden: Zunächst wird hier das Wort crux genau viermal, entsprechend der Arme des Kreuzes genannt, außerdem sind drei der vier Halbverse, dadurch dass sie Halbverse ein Hexameterstück bis zur Penthemimeres darstellen, untereinander austauschbar, was sich als geradezu ideal für ein Labyrinthgedicht, in dem die Leserichtung nicht vorgegeben ist, erweist, da der Leser in der Abfolge der Rezeption der Kreuzbalken frei ist: Egal ob er zunächst das obere Kreuzviertel liest oder erst das linke oder erst das rechte, zusammen mit dem unteren Kreuzviertel ergibt sich immer ein korrekter Hexameter, während die Kombination der oberen drei Viertel in jedem Fall einen Pentameter ergeben. Das aber deutet eher auf ein Primat der figurierten Form hin. Dann hätte der Dichter dieses Kreuzhymnus das figurierte Distichon gekannt, in sein Gedicht aufgenommen und in der Form adaptiert, die für seinen Hymnus am brauchbars183 Lateinischer Text nach der Ausgabe der Anthologia Latina (Nr. 379) von RIESE, (Leipzig 1894), I, I, 291. 184 BISCHOFF, Ursprung und Geschichte eines Kreuzsegens, 276. Für FELS, Studien zu Venantius Fortunatus, 69ff. ist dieser Leser Venantius Fortunatus. Dabei weist er darauf hin, dass nicht nur die Form auf die Intextfigur von Carmen II, 4 Bezug nimmt (in beiden Fällen Tatzenkreuze) sondern führt auch ein Gedicht an, dass Venantius Fortunatus an Agnes, die Äbtissin des Radegunde-Klosters in Poitiers, richtet (Carmen, Appendix XXVII). Dort ist davon die Rede, dass Venantius seiner „Schwester“ ein Kreuz übersendet, womit sehr wohl die figurierte Form des Distichons gemeint sein kann. Carmen, Appendix XXVII stellte dann eine Art Begleitschreiben für das Figurengedicht dar. Allerdings hält Fels Venantius Fortunatus nicht für den Verfasser des Distichons.

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3.2. Das poetische Werk des Venantius Fortunatus

ten erschien. Ein Indiz, dass genau dieser umgekehrte Weg beschritten wurde, könnte das nahezu durchgängige Reimschema des Hymnus sein: Das Distichon erscheint hier nämlich so, dass sich die Worte salus185 und opus186 am Versende reimen und nur das adoro stört, das in jedem Fall bei einer Einfügung am Ende des Hexameters stehen musste. (Für eine Einfügung spricht übrigens auch, dass nur dieses Distichon einen persönlichen Akzent setzt [Ansprache in Ich-Form], während die anderen das Kreuz unpersönlich in der dritten Person apostrophieren). In diesem Falle bleibt die Tatsache, dass das älteste Zeugnis der figurierten Form dieses Gedicht Venantius Fortunatus zuschreibt. Wenn dieses Carmen tatsächlich von ihm stammt, so hätte er die bereits in Antike und Spätantike verbreitete Form des Kreuzwortlabyrinthes187 mit dem von ihm favorisierten Metrum des elegischen Distichons kombiniert, ferner die bereits im Intextkreuz von Carmen II, 4 realisierte Gestalt des Tatzenkreuzes wieder aufgenommen. Und wenn diese Deutung zutrifft, kann man wohl mit einigem Recht auch darüber spekulieren, ob er den Plan für das unvollendete Gittergedicht Carmen II, 5 nicht zugunsten dieser neuartigen innovativen Form aufgeben hat. Geht man davon aus, dass das unvollendete Carmen II, 5 aus dem Nachlass den anderen figurierten Kreuzgedichten zugeordnet wurde, dann ist anzunehmen, dass Venantius Fortunatus dieses vielleicht ursprünglich an Agnes gerichtete Figurengedicht als fünftes carmen in den Zyklus seiner Kreuzhymnen zu Beginn des zweiten Buches seiner Carmina aufgenommen hat. Damit ergäben sich aber sechs Kreuzhymnen, zwei im elegischen Distichon (II, 1 & 3), zwei figurierte (II, 4 & 5[a]) und zwei in den modernen Maßen des Trochäus bzw. Jambus (II, 2 & 6). Zugleich spiegelte sich in dem Zyklus der Kreuzhymnen der erste numerus perfectus, nämlich die Zahl sechs, womit auf den Zyklus der ebenfalls in einem numerus perfectus verfassten, nämlich der achtundzwanzig der Kreuzgedichte des Hrabanus Maurus zu Beginn des neunten Jahrhunderts, vorausgedeutet würde.

185 Vers 6. 186 Vers 8. Die letzten Wörter der Pentameter sind gereimt, ebenso die der ersten beiden Hexameter (Vers 1 & 3). Das einzige Versstück, das im dritten Distichon seine Stellung nicht verändert kann ist crux est, quam semper adoro. Dass adoro nicht mit caeli gereimt ist, könnte auch ein Hinweis darauf sein, dass der Dichter Vers 5 und 6 übernommen hat. 187 Vgl. dazu ERNST, Carmen figuratum, 389–403.

4. ZUSAMMENFASSUNG Die spätantike Auseinandersetzung mit den traditionellen Formen der römischen Dichtung hat mannigfaltige Brechungen in der Gattungsgeschichte der lateinischen Literatur hervorgerufen. Auf die alte Poesie waren die Dichterauslegung und die poetische Praxis der Schule, war das kulturelle Selbstverständnis überhaupt gerichtet. Die Poesie stand denn auch am Ende des 3. Jh. keineswegs vor einem Ende […]. Allerdings ist der poetischen Werkgeneration von Nemesian bis Ausonius trotz manieristischer Traditionen und Experimente bereits der spätantike Charakter eines schulmäßigen Klassizismus eigen […]. Diesen Charakter tragen aber seit ihrem frühen Beginn in konstantinischer Zeit auch die christianisierenden Formen des Lactanz, Juvencus und der Proba. Sie folgen mit ihrer ersten Eroberung einem stilistischtheologischem Programm […], geben dabei jedoch erbaulichen Ausdruckstendenzen Raum, die eine direkte Rezeption der alten Gattungen ermöglichen. – Dieses Ergebnis wird um 390 erreicht; es läßt sich am Werk des Paulin von Nola beobachten, der unter Anleitung des Ausonius mit Schulparaphrasen begann, nach seiner Bekehrung zur Askese sich an das paraphrastische Bibelepos des Juvencus anschloß, es dann aber unternahm, christliche Kontrafakturen antiker Genera zu schaffen (Epithalamium, Propempticum, Natalicum, Epicedium). […] Hierbei werden die alten poetischen Traditionen gebrochen; es entstehen Produkte, die Gattungen integrieren und kumulieren (so bereits die Elegie und Satire in den Natalica Paulins) und nach einer christlichen Funktionsbestimmung verlangen. Bei Paulin ist das die poetische Hagiographie; sein Zeitgenosse Prudenz vollendet diesen Weg in genialer Weise, indem er die antiken Gattunen indirekt usurpiert: er überträgt sie auf ein ganzes Spektrum genuin 1 christlicher Formen.

Was hier für das dritte und vierte nachchristliche Jahrhundert skizziert wird, behält auch für die Zeit des Venantius Fortunatus seine Gültigkeit, nur mit dem Unterschied, dass eine „Auseinandersetzung“ nicht nur „mit den traditionellen Formen der römischen Dichtung“ stattfindet, sondern auch mit den „christliche[n] Kontrafakturen“, die im vierten und Anfang des fünften nachchristlichen Jahrhunderts entwickelt wurden und den Rang einer zweiten christlichen nach der ersten paganen Klassik einnehmen. Daher sollte man nicht vorschnell und verallgemeinernd die lateinische Literatur ab Mitte des fünften Jahrhunderts unter den Begriff der „Epigonalität“ stellen.2 Dass die Bestimmung der eigenen Position innerhalb der literarischen Tradition auch später noch zumindest von einigen Autoren nicht im Sinne der „Epigonalität“, sondern als bewusste Auseinandersetzung begriffen wurde, zeigt das Oeuvre des Venantius Fortunatus. Wie bei den Autoren des dritten und vierten Jahrhunderts spielt für diese Positionsbestimmung die Gattungsfrage eine wichtige Rolle. Geht es dabei aber in erster Linie um die Usurpation paganer Gattungen für christliche Inhalte, die es ermöglicht, der paganen Literatur „christliche Kontrafakturen“ entgegenzustellen, ist dieser Prozess zur Zeit des Venantius Fortunatus längst abgeschlossen. Für Venantius Fortunatus muss sich diese Positionsbestimmung also wie schon für die nachklassischen paganen Autoren im Sinne einer aemulatio vollziehen, der nicht allein dadurch Genüge getan ist, 1

2

R. HERZOG (Hrsg.): Restauration und Erneuerung. Die lateinische Literatur von 284 bis 374 n. Chr. (Handbuch der lateinischen Literatur der Antike, Bd. 5), § 500 Einführung in die lateinische Literatur der Spätantike, 1–43, Zitat 28f. Von „‚epigonalen’ Züge[n]“ spricht HERZOG, Einführung in die lateinische Literatur der Spätantike, 31.

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4. Zusammenfassung

dass konsequent christliche Inhalte thematisiert werden, wie es für einen Autor des dritten oder vierten Jahrhunderts wohl noch ausreichend gewesen wäre. Zu den durch das Christentum geprägten Inhalten tritt demnach notwendigerweise auch in formaler Hinsicht etwas hinzu. Das kann auf zwei Ebenen geschehen, entweder auf der Ebene der Stilistik oder der der literarischen Gattung. Auf der Ebene der Stilistik lässt sich dies, abhängig natürlich vom jeweiligen Adressaten, durch eine manieristisch-rhetorische Textgestaltung bewerkstelligen, die die elegante Sprachbeherrschung des Autors zur Schau stellt, selbst wenn er in christlicher humilitas eben diese Fähigkeit bestreitet. Auf der Ebene der literarischen Gattung lässt sich dies erreichen, indem bewusst die Grenzen der jeweiligen Gattung transgrediert werden. Da die einflussreiche Poetik des Aristoteles nur Epos und Tragödie behandelt,3 manifestieren sich diese Grenzen bei den übrigen Genera und Subgenera für einen Autor wie Venantius Fortunatus einerseits in den Werken der als kanonisch angesehenen Autoren, die sich innerhalb dieser Gattung betätigt haben, andererseits (gerade bei Subgenera der epideiktischen Rede) in spätantiken rhetorischen Handbüchern (wie den beiden Abhandlungen des Menander Rhetor), deren Definitionen und Kompositionsanleitungen nicht nur für Prosatexte, sondern oft auch für poetische Werke verwendbar sind. Zudem liefern sie neben der Bezeichnung von Genus, Subgenus bzw. Typus Konstitutions- und Differenzkriterien für die jeweiligen literarischen Genera sowie zum Teil auch die Namen kanonischer Autoren, die für exemplarische Muster der Gattung stehen (wie z. B. in Quintilians zehntem Buch der Institutio oratoria). Aufgrund der entsprechenden Hinweise in seinem Oeuvre ist davon auszugehen, dass Venantius Fortunatus seit seinem Studium in Ravenna auch mit der griechischen Seite der rhetorischen Theorie zumindest in Grundzügen vertraut war. Anspielungen wie die explizite Nennung paganer-antiker und christlich-spätantiker Autoren zeugen zudem von einer nicht nur oberflächlichen Kenntnis der literarischen Tradition. Die vorliegende Untersuchung ist der Frage nach der jeweiligen Selbstpositionierung des Venantius Fortunatus innerhalb der einzelnen literarischen Genera, in denen er sich betätigt hat, nachgegangen. Anhand der genaueren Analyse und Interpretation signifikanter Beispiele ließ sich dabei eine deutliche Tendenz zur rhetorischen und generischen Transgression bei Venantius Fortunatus aufweisen. Zunächst war dazu nach Prosa und poetischen Werken differenziert worden. Innerhalb der Prosaschriften des Venantius Fortunatus ließ sich eine weitere Differenzierung nach den Gattungen der (1) Epistel, (2) Vita und (3) Expositio (theologischer Kommentar) vornehmen. (1) Hinsichtlich der Prosaepisteln des Venantius Fortunatus ist zu konstatieren, dass er sich innerhalb des literarisches Genos Brief im Bereich der Prosa in 3

Auch in der Ars poetica werden von Horaz seine Überlegungen zur Poesie und der daraus resultierenden Normen vornehmlich an Epos und Drama exemplifiziert. Venantius Fortunatus rekurriert bisweilen auf die Ars poetica des Horaz, die aber keine systematische Darstellung geben will und die meisten Genera und Subgenera der Poesie, in der sich Venantius Fortunatus betätigt, unerwähnt lässt.

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verschiedenen Subgenera bzw. Typen betätigt. Neben Widmungsbriefen mit proömialen Charakter finden sich Prosaenkomien in Briefform, die aufgrund ihrer späteren Stellung im poetischen Korpus des Venantius Fortunatus die Funktion von Binnenpraefationes einnehmen können. Der exemplarisch behandelte Brief an Martin von Braga (V, 1) hat zudem den Charakter eines Begleitschreibens zum folgenden Gedicht bzw. bildet mit diesem Gedicht ein Diptychon. Transgrediert der Brief an Martin von Braga durch die Diptychonfunktion die Grenzen zwischen Prosaenkomion und Begleitbrief, liegt im Brief an Bischof Syagrius von Autun (V, 6) tatsächlich ein Multifunktionsbrief vor. Einerseits handelt es sich um ein Begleitschreiben zu einem mit einem Autorkommentar verbundenen Gedicht, andererseits sind Brief und das dazugehörige Figurengedicht einem konkreten Anlass bzw. einer konkreten Zielsetzung geschuldet, nämlich die Freilassung eines Gefangenen zu erwirken, und machen es dem Adressaten Syagrius faktisch unmöglich, sich nicht dafür zu verwenden. Dichtungstheoretisch werden „moderne“, experimentelle Formen mit einem würdigen Inhalt verbunden, nämlich der Heilsgeschichte, deren kursorischer Abriss in Kombination mit einer Panegyrik des Adressaten im Hinblick auf eine konkrete Zielsetzung instrumentalisiert wird, da der Lobpreis sich nur verwirklicht, wenn der Adressat den geäußerten Bitten nachkommt. Dabei ist die Tendenz des Venantius Fortunatus evident, einerseits innerhalb des Genos Brief durch eine manieristisch-rhetorische Durchdringung auf der Stilebene Vorgängertexte zu übertreffen, andererseits durch die Kombinatorik verschiedener Elemente Gattungsgrenzen zu transgredieren. (2) Hinsichtlich der Prosaviten des Venantius Fortunatus kristallisiert sich heraus, dass das Prinzip einer genauen Abstimmung auf Auftraggeber, Adressatenkreis und / oder spezifischen Anlass eine dominierende Rolle spielt. Während die Funktion der jeweiligen Vita theoretisch unterschiedlich begründet werden kann, fußt sie doch auf denselben Grundelementen, die von Heiligen zu Heiligen in verschiedener Weise akzentuiert werden. Obwohl sich diese Grundelemente auch anderswo finden, ergibt sich eine wichtige Neuerung dadurch, dass mit Venantius Fortunatus erstmals die persönliche Beziehung des Verfassers zum Gegenstand seiner Vita zu einem „formale[n], rein literarische[n] Verhältnis“4 wird. Dieses literarische Verhältnis wird in der Gestaltung der Viten evident: Zwar senkt Venantius Fortunatus (im Vergleich zu seinen Briefen) die Stilhöhe und verzichtet auf elaborierte Metaphern, doch fehlt es weder, was die Komposition der Makrostruktur noch der Mikrostruktur des Textes angeht, an artifiziellen Techniken. In seinen Reihungen von charakteristischen Episoden und Wunderberichten folgt er dem Prinzip der Bildung von kleineren Einheiten, die entweder durch Zusammenhörigkeit oder Variation der Thematik bestimmt sind. In der Vita sanctae Radegundis haben diese Reihungen argumentativen Charakter, den Wunderberichten kommt die Funktion von Beweismitteln zu, und sie können sogar den 4

W. BERSCHIN, Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter. I Von der Passio Perpetuae zu den Dialogi Gregors des Großen, Stuttgart 1986, 280.

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Abschnitt De virtutibus / der Berichte über Wunder an ihrem Grab ersetzen, der gewöhnlich den zweiten Teil des Vita ausmacht. Innerhalb der Mikrostruktur verbindet zudem – trotz der unterschiedlichen Stilhöhe – Venantius’ Vorliebe für antithetische Verwendung von Paradoxien seine Viten- mit seiner Briefliteratur. So beschreitet er je nach Auftraggeber, Adressat, Anlass und Zielsetzung eigene Wege. Dabei kommt Wunderberichten und in sich abgeschlossenen Episoden mitunter eine zusätzliche Funktion zu, die aus der genauen Abstimmung mit der allgemeine Zielsetzung der Vita resultiert, nämlich entweder einen bereits bestehenden Heiligenkult zu stabilisieren oder einen neuen zu etablieren. (3) Hinsichtlich des theologischen Kommentars, der hier anhand der auf rufinischer Vorlage fußenden expositio symboli (XI, 1) exemplifiziert wurde, gilt, dass Venantius Fortunatus als theologischer Schriftsteller in ganz spezifischer Weise mit seinen Vorlagen umgeht: Dabei folgt er seiner Vorlage inhaltlich und übernimmt in erster Linie philologische Worterklärungen und Schriftzitate, während er weitschweifige theologische Erörterungen entweder auslässt oder auf Kernsätze reduziert. Damit nimmt er eine Präzisierung vor. In stilistischer Hinsicht hingegen beschreitet er sowohl in der Konzeption und Komposition der Makro- als auch der Mikrostruktur eigene Wege: Dies betrifft einerseits die Reduzierung der Schriftzitate auf einen leicht memorierbaren Kern, andererseits ihre Zusammenfassung zu Dreiergruppen. Das passt in diesem Text zur Trinität Gottes, die sich im dreigeteilten Grundschema der Makrostruktur spiegelt. (Auch die allegorischen Deutungen von Kreuz und Geschehen am Kreuz erscheinen in der Dreizahl). Ferner exponiert Venantius Fortunatus sowohl durch Ausführlichkeit der Behandlung als auch durch rhetorische Gestaltung bestimmte Stellen des Glaubensbekenntnisses und setzt so – im Vergleich zur rufinischen Vorlage – eigene Akzente. Die Proömien stehen zwischen Prosa und poetischem Werk. Einerseits finden sich Widmungsbriefe in Prosa wie der Brief an Gregor von Tours, der der Gedichtsammlung des Venantius Fortunatus vorangestellt ist, andererseits Carmina, die ihrerseits proömialen Charakter haben (VIII, 1). Proömien bieten traditionell Raum für literaturtheoretische Äußerungen. Im Gesamtproöm erscheinen diese in eine argumentatio eingewoben. Der Argumentationsgang soll die Frage beantworten, warum Venantius Fortunatus seine Gedichte erst jetzt und auf Drängen des Gregor von Tours in einer Sammlung zusammengestellt hat und zugleich jeder möglichen Kritik die Grundlage entziehen. In diesem Rahmen gibt es Anspielungen auf ein kleines, handverlesenes Publikum, was in der Regel ein Indiz für eine literarische „Avantgarde“ darstellt. Verklausuliert zeigen sich dabei Elemente programmatischer Art: Neben der auffälligen Unterordnung des Poetischen unter das Rhetorische flicht Venantius Fortunatus – in gekonnt selbstironischer Verkehrung – Kernbegriffe einer „avantgardistischen Literatur“ ein; das gilt für das kleine, handverlesene Publikum ebenso wie für den Begriff des novus Orpheus lyricus.

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Innerhalb des poetischen Werkes ist differenziert worden zwischen (1) panegyrischen Gedichten auf Personen und Gebäude (VI, 1; II, 10), (2) Epitaphien (IV, 9, 21, 22, 28), (3) Viten im Metrum (II, 16), (4) „echten“ Gelegenheitsgedichten (VIII, 19–21; 9 & 10), (5) Hymnen und Elegien (II, 1–3; 6, App. 3) und (6) Carmina figurata (II, 4–5, V, 6–6a). (1) Die panegyrischen Carmina des Venantius Fortunatus müssen nach antiken und spätantiken Maßstäben dem genus demonstrativum zugeordnet werden, das mit seinen verschiedenen Subgenera bzw. Typen in der rhetorischen Theorie der Spätantike einen zentralen Platz einnimmt. Die hier aufgestellten Normen finden ihre Anwendung sowohl in der Prosa als auch in der Poesie. Epithalamium wie der basiliko(j lo/goj stellen solche Subgenera dar, deren ausführliche Behandlung für uns noch in den Traktaten des Menander Rhetor greifbar ist. Da diese zur Zeit des Venantius Fortunatus ihrerseits bereits eine lange literarische Tradition aufweisen, kann eine Bestimmung der eigenen Position auch auf der Ebene der Intertextualität erfolgen, je nachdem, ob eine Anlehnung an „ältere“ oder „modernere“ Vorgängertexte erfolgt. „Modernere“ Vorgänger sind im Falle des Venantius Fortunatus Vertreter jener zweiten „spätantiken Klassik“. Seine eigene Positionsbestimmung lässt sich gut am epithalamium zur Hochzeit von Sigibert und Brunichilde explizieren. Der Vergleich mit anderen Epithalamien (insbesondere dem des Claudian auf die Hochzeit des Kaisers Honorius, des Sidonius Apollinaris auf Ruricius und Iberia sowie dem des Ennodius auf Maximus) zeigt, wie sich Venantius Fortunatus in diesem frühen Werk in die Tradition der allgemeinen Rhetorik und der Gattung stellt und sich eben dort positioniert, indem er sich einerseits an diese „moderneren“ Vorgänger anlehnt und sich damit selbst „moderner“ geriert, andererseits rhetorische Präskripte, wie sie für uns noch im Werk des Menander Rhetor greifbar sind, sowohl beachtet, als auch variiert. So übernimmt er z. B. das Ordnungsprinzip nach den Kardinaltugenden für das Lob der Brautleute aus dem basiliko\j lo/goj, gibt ihm aber durch die Kombination mit spezifisch christlichen Tugenden ein anderes Gepräge, das mit einer bestimmten Intention verbunden ist: Indem bei Sigibert spezifisch christliche Tugenden in den Vordergrund gestellt werden, zugleich die concordia des Paares betont und die Friedensthematik mit dem dynastischen Element in einem Atemzug genannt wird, lässt sich eine politische Programmatik exponieren, die es Sigibert und Brunichilde ermöglicht, sich als ein Paar zu präsentieren, das die alte Feindschaft zwischen Franken und Goten überwindet und den Grundstein zu einer nahezu kaiserlichen Dynastie im Westen legt. So ordnet sich Venantius Fortunatus auf der formalen Ebene den „moderneren“ Vertretern der Gattung zu, transgrediert aber zugleich auf der inhaltlichen Grenzen, wobei wiederum ein virtuoses Spiel mit den formalen Möglichkeiten erfolgt, die eine optimale Anpassung in Hinblick auf Gelegenheit und Intention erfahren. „Gedichte auf Gebäude“ weisen in Antike und Spätantike häufig eine Nähe zu Stiftungsepigrammen auf oder dienen wie in den Silvae des Statius impliziert der Repräsentation des Eigentümers. Die hier untersuchten Beispiele sind dem

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ersten Typ zuzuordnen, in dem die Person des Stifters oder des Bauherrn im Vordergrund steht. So ist aus dem Gedicht über die Basilika des D. Dionysios (I, 11) evident, dass diese Person ein eben so großes oder noch größeres Gewicht erhalten kann als der Heilige, dem der Sakralbau gewidmet ist. Verwendet man eine neuzeitliche Terminologie, um das Phänomen zu fassen, kann man von einer Verbindung von Panegyrik und „Archtitekturgedicht“ sprechen, da die Panegyrik und die damit verbundene Steigerung der Reputation des Stifters bzw. Restaurators zentral bleiben. Innerhalb dieses „panegyrischen Architekturgedichtes“ setzt Venantius Fortunatus allerdings eigene Akzente, wie schon bei den Enkomien auf Personen: Dies gilt sowohl für die spezifisch christlichen Elemente, die mit traditionellem Herrscherlob verwoben werden, als auch für die ausgiebige Verwendung der Lichtmetaphorik in den ekphrastischen Passagen. Gerade in Hinblick auf die Sakralbauten wird diese Metaphorik im Sinne einer spezifischen interpretatio christiana verwendet, womit sich der Dichter nicht nur formal, sondern auch inhaltlich als poeta doctus Christianus präsentiert. (2) Trotz der lediglich literarischen Überlieferung der Epitaphien des Venantius Fortunatus, zeigen – wie bereits Favreau herausgearbeitet hat5 – mittelalterliche Zitationen fortunatischer Verse und Versstücke in Epigrammen den generischen Bezug zur Epigraphie. Die Literarizität bezieht sich daher auch nicht auf die Personen, denen das Epitaph gewidmet ist; bei den Toten handelt es sich um reale Persönlichkeiten, deren Tod allerdings, wie im Falle des Leontius I., schon länger zurückliegen kann. Der Personenkreis unterscheidet sich fundamental von den für die christliche Epitaphik grundlegenden Epitaphien des Damasus dadurch, dass es sich nicht um Märtyrer handelt. Rein formal wird das Metrum des von Damasus bevorzugten daktylischen Hexameters konsequent durch das elegische Distichon ersetzt und somit einerseits ein literarischer Verweis auf das bevorzugte Metrum paganer Epitaphik evoziert, der auch in der häufigen Verwendung des viatorMotivs evident ist, andererseits ein deutlicher Bezug zur Elegie in ihrer subgenerischen Ausprägung als Trauer- oder Klageelegie sichtbar, was sich in besonderem Maße bei der Darstellung der Trauer äußert. Dabei bedient sich Venantius Fortunatus einer Fülle von Variationsmöglichkeiten im Ausdruck, die er sowohl im Rekurs auf die pagane Epigraphik als auch in der Usurpation christlicher Motivik exponiert, eine Verfahrensweise, die Delbey als poétique de la copia bezeichnet.6 Der Personenkreis wird gemäß dem numerus perfectus auf achtundzwanzig beschränkt, so dass durch den ordo nach Klerikern, männlichen und weiblichen Laien ein dezidiert literarischer Zusammenhang konstituiert wird, der durch eine Auswahl aus wohl ursprünglich für einen konkreten Anlass verfassten Epitaphien und ihrer Überarbeitung entstanden ist. Eine eindeutige Positionierung in der christlichen und damit „moderneren“ Epitaphik geschieht durch die Exponierung 5

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Siehe R. FAVREAU, Fortunat et l’épigraphie, in: Venanzio Fortunato tra Italia e Francia. Atti del convegno internazionale di studi Fortunatiani, Valdobbiadene 17 maggio 1990–Treviso 18–19 maggio 1990, Treviso 1993, 161–173, insbesondere 169f. Vgl. zu diesem Punkt É. DELBEY, La poétique de la „copia“ chez Venance Fortunat: le livre iv des épitaphes dans les carmina, REL 80 (2002), 206–222, insbesondere 207–209.

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einer spezifisch christlichen Heilsgewissheit, welche, liegen die entsprechenden merita vor, wurde also auf Erden ein gleichsam heiligmäßiges Leben geführt, das ewige Leben mit sich bringen:7 „An die Stelle der diesseitigen Memoria tritt vielmehr die Überzeugung vom ewigen Leben nach dem Tod, woraus der Trost der Hinterbliebenen resultiert. Die biographischen Angaben sind daher allein auf die Verdienste und den Lohn im Jenseits ausgerichtet und ganz dem Trost untergeordnet.“8 Die notwendige Konsequenz aus diesem Faktum besteht darin, dass Venantius Fortunatus seine Epitaphien als consolationes / Trostreden konzipiert, auch wenn er nicht starr am Schema laudatio - lamentatio - consolatio festhält, sondern häufig, wie nach der Analyse der ausgewählten Exempel evident ist, die lamentatio vorzieht, sie mit dem exordium verbindet und die consolatio mit der conclusio verschmilzt oder sie bei Toten aus klerikalem Stand, wo sie sich aufgrund ihrer merita nahezu von selbst ergibt, in die laudatio einfließen lässt. Ist diese Variationsbreite wohl nicht zuletzt durch Anpassungen zu erklären, die sich aus den Erfordernissen des ursprünglichen Anlasses im Hinblick auf den jeweiligen Adressaten ergeben haben, 9 so bleibt doch der formale Gestaltungswille evident sowie die leitmotivische Exponierung des Gedankens der Hoffnung bzw. der Gewissheit eines jenseitigen Weiterlebens. Während in den wenigen erhaltenen Epitaphien des Sidonius Apollinaris dieser spezifisch christliche Gedanke meist erst am Ende des Gedichtes aufgegriffen wird, durchzieht er bei Venantius Fortunatus in der Regel das komplette Epitaph. Durch die makroästhetische Konzeption des vierten Buches als Zentrum innerhalb der ersten, sieben Bücher umfassenden Ausgabe der Carmina wird die Bedeutung dieser Heilsgewissheit angesichts des Todes herausgestrichen, die grundsätzlich für alle, Kleriker wie Laien, gilt. Zudem wird nicht nur mittels der Auswahl der Verstorbenen, sondern auch durch die Anzahl der Carmina im numerus perfectus ein vollständiger Querschnitt der Gesellschaft suggeriert. Diese Einbeziehung der Zahlentektonik auf der Makroebene zur Unterstreichung einer spezifisch christlichen Aussageintention stellt wohl die wichtigste Neuerung des Venantius Fortunatus im Hinblick auf seine Epitaphiendichtung dar.

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J. DRESKEN-WEILAND, Sarkophagbestattungen des 4.–6. Jahrhunderts im Westen des römischen Reiches, Freiburg im Breisgau 2003, 19 mit Anm. 8, weist darauf hin, dass sich unter dem von ihr behandelten Material auch Sarkophage mit neutralem Inschriftenformular befanden, d.h. dass sie aufgrund ihrer Inschrift nicht als pagan oder christlich identifiziert werden konnten und daher nur aufgrund des Kontextes (Fund in Zusammenhang mit anderen christlichen Gräbern) Christen zugeordnet werden konnten. Das zeigt natürlich eine Konvergenz zwischen christlichen und heidnischen Epitaphien, oder anders ausgedrückt, dass die christliche Grabepigraphik auf der paganen fußte und nicht immer ausdrücklich christliche Akzente setzte. D. WALZ, Das Epitaphium Vilithutae (Carmen IV, 26). Überlegungen zum Epitaphienbegriff des Venantius Fortunatus, in: W. BERSCHIN, J. GÓMEZ PALLARÈS & J. MARTINEZ GÁZQUEZ (Hrsg.): Mittellateinische Biographie und Epigraphik. Heidelberg 2005, 55–68, hier 63. Vgl. dazu auch J. W. GEORGE, Variations on themes of consolation in the poetry of Venantius Fortunatus, Eranos 86, (1988), 53–66, hier 54 und 65f.

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(3) Die in dieser Untersuchung aus Gründen des Umfangs nicht ausführlich behandelte Martinsvita des Venantius Fortunatus verbindet die Heiligenvita mit dem Epos und ist daher im traditionellen Maß des epischen Hexameters verfasst. Die makroästhetische Anlage auf die den Evangelien entsprechende Vierzahl der Bücher ist dabei nicht nur bei Venantius Fortunatus greifbar, sondern auch in den als Ergänzung konzipierten Prosabüchern des Gregor von Tours De virtutibus, die ebenfalls die Vierzahl ausfüllen, obwohl dies vom (geringen) Umfang der einzelnen Bücher her eigentlich nicht nahe lag. Über diese Verbindung von Epos und Heiligenvita geht die Vita des Medardus (II, 16) noch hinaus: Einerseits ist sie durch Prosa- und Versfassung als Diptychon angelegt. Andererseits verwebt Venantius Fortunatus in der Binnenstruktur kunstvoll zwei Kompositionsschemata, die jeweils verschiedenen literarischen Genera entstammen, nämlich das Hymnenschema mit dem einer Vita, das er auch für seine Prosaviten, genauer seine Bischofsviten, verwendet. Dabei handelt es sich um eine episodische Darstellung, getrennt nach Ereignissen und Wundern zu Lebzeiten und nach dem Tode des Heiligen. Dient dies in den Prosaviten in der Regel dem Erweis der Heiligkeit des Protagonisten, so lässt sich durch die Verwendung dieses Schemas auch im Falle des Medardus die Evidenz seiner Heiligkeit unmissverständlich herausstreichen. Dieser Funktion sind auch die Wunder am Grabe des Heiligen verpflichtet, die jeweils neutestamentarischen Typen folgen. Ihre zahlentektonische Konzeption als Siebenergruppe zeigt eine symbolische Komponente entweder im Rekurs auf die sieben Tage der Schöpfung oder auf die Zahl der Fülle, womit verdeutlicht wird, dass hier aus unzähligen Wundern sieben exemplarisch herausgestellt sind. (4) Die Carmina, die in hier unter dem Typus der „echten“ Gelegenheitsgedichte subsumiert worden sind, d.h. dass sie zu einem konkreten, aber persönlichem Anlass entstanden und nicht als Auftragskomposition zu werten sind, weisen oft eine generische Nähe zum poetischen Brief auf. Zugleich ist zumindest in den an Radegunde gerichteten Carmina motivisch wie formal auf klassische Vorbilder verwiesen und deren Rahmen in Hinblick auf einen spezifisch christlichen Sinngehalt transgrediert, indem mit der Tradition des Freundschaftsbriefes gespielt wird und sich Elemente der subjektiven römischen Liebeselegie eingewoben finden. (5) Führt man den Hymnus (verstanden als Lobpreis der Götter) beginnend bei der paganen Tradition auf ein grundsätzliches dreiteiliges Aufbauschema mit invocatio, die durch ein prooimion mit der Nennung des Themas ersetzt werden kann, praedicatio, die zumeist um einen aretalogischen bzw. epischen oder narrativen Mittelteil erweitert wird, und precatio, dem Schlußteil in Form eines Gebetes, zurück, so ist zu konstatieren, dass Venantius Fortunatus in allen Kreuzgedichten im zweiten Buch auf eben dieses Schema rekurriert. Es erscheint bei Venantius Fortunatus aber nicht in einfacher Übernahme, sondern in Variation und artifizieller Kombination mit anderen Gliederungsschemata. Diese Verfahrensweise ist besonders im jeweiligen Schlussteil evident, wenn der Gebetscharakter

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entweder literarisch umgestaltet oder sogar aufgegeben wird. Überlagert ist das traditionelle Schema von einer grundsätzlichen Zweiteilung, in der zunächst das Heilsgeschehen am Kreuz thematisiert wird mit Christus als eigentlichen Adressaten, und einem zweiten Teil mit direkter Ansprache an das Kreuz. Zugleich erweitert Venantius Fortunatus die traditionellen generischen Vorgaben dadurch, dass auch beide Hauptteile einen Hymnus in nuce darstellen können. Metrisch werden von ihm neue Wege beschritten, indem das elegische Distichon als Versmaß für den Hymnus nutzbar gemacht wird und andererseits eine Anlehnung an die „modernen“ christlichen Hymnenformen eines Ambrosius oder Prudentius geschieht. Das Bestreben nach Transgression auch dieser „modernen“ Formen zeigt sich unter anderem im Experimentieren mit dem Endreim, wie Carmen II, 6 deutlich macht. Damit erweist sich Venantius Fortunatus tatsächlich als „Neuerer“, der die ansonsten gemiedene Assonanz am Ende des Verses als zusätzliche literarische Möglichkeit zur einprägsamen Exponierung des Inhalts begreift. So strebt Venantius Fortunatus ganz offensichtlich in allen Gedichten des Kreuzzyklus und nicht nur in den beiden Hymnen, die sich an – von der Zeit des Venantius Fortunatus aus gesehenen – „modernen“ rhythmischen Formen orientieren, nach Innovation und Weiterentwicklung der generischen Tradition. Die Analyse von Carmen, Appendix III im Vergleich mit Carmen, Appendix I und ihre jeweilige Situierung im historischen Kontext offenbart wichtige Spezifika der elegischen Dichtung des Venantius Fortunatus in ihrer Ausprägung als Liebes- und Klageelegie: Sowohl Carmen, Appendix III, als auch Carmen, Appendix I sind als Briefelegie konzipiert, die sich – im fremden Namen abgefasst – an einen in der Ferne weilenden Adressaten richten. Als Muster dafür sind die Heroides Ovids anzusehen, in denen der Adressat als Geliebter, der in der Ferne weilt, vorgestellt ist. Im Unterschied dazu firmiert hier mit Radegunde aber keine mythische, sondern eine reale Person als Verfasserin, und ebenso handelt es sich bei den Adressaten um reale Personen. In beiden Fällen spielt die Trauer um einen bestimmten Toten eine zentrale Rolle, im Carmen, Appendix I die um den toten Bruder, in Carmen, Appendix III die um Amalafred. Von daher lassen sich beide Gedichte auch in das Subgenus der Trauer bzw. Klageelegie einordnen. Venantius Fortunatus bedient sich klassischer Schemata, bei deren Anwendung er zugleich auf Prätexte aus der literarischen Tradition rekurriert. Besonders in Carmen, Appendix I stellt er sich in die Tradition der Liebeselegie, die allerdings schon durch den Umstand transgrediert wird, dass er nicht im eigenen, sondern in fremden Namen, allerdings nicht wie Ovid in dem einer mythischen, sondern dem einer realen Person schreibt. Zudem werden Elemente der Liebeselegie mit denen der Klageelegie artifiziell kombiniert. Dies gilt, wenn auch nicht mit derselben literarischen Artistik, ebenfalls für Carmen, Appendix III. Innovativ zeigt sich Venantius Fortunatus dabei nicht nur in dieser Kombinatorik, sondern vor allem dadurch, dass er sie in Bezug auf einen konkreten Anlass und eine konkrete Intention funktionalisiert. So erscheint die rein literarische Ebene verlassen und für eine spezifische Absicht nutzbar gemacht. An die Stelle

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einer mythischen Heroine tritt Radegunde, und die Elegie erhält einen konkreten Sitz im Leben als motivierendes Geschenk dafür, dass sich Amalafred für Radegunde verwendet, bzw. als Dankgeschenk für dessen Sohn Artachis, der sich offensichtlich zuvor anstelle seines verstorbenen Vaters im Interesse der Radegunde bei Justin und Sophia für den Erwerb der Kreuzreliquie eingesetzt hat. (6) Bei den unter dem Namen des Venantius Fortunatus überlieferten Carmina figurata handelt es um carmina cancellata in der Nachfolge des Publilius Optatianus Porfyrius sowie um ein Labyrinthgedicht in Kreuzform. Hier experimentiert Venantius Fortunatus mit der Kreuzesform, die jeweils in engem thematischen Zusammenhang mit dem Inhalt des Basistextes steht. Carmen II, 4 verbindet die figurierte Form im Basistext mit dem Hymnus, in Carmen V, 6a wird durch die Reduzierung der Buchstaben von fünfunddreißig auf dreiunddreißig eine zahlensymbolische Komponente eingebracht, während die Intextfigur wohl die Kreuzform in Kombination mit dem Andreaskreuz zum Doppelkreuz erweitert. Vergleicht man die beiden Figurengedichte Carmen II, 4 des Venantius Fortunatus mit Carmen VIII des Publilius Optatianus Porfyrius, so zeigt sich trotz der gemeinsamen Grundkonzeption (35 Hexameter mit jeweils 35 Buchstaben im Basistext, als Intextfigur ein christliches Symbol) eine Entwicklung, in der die visuelle Poesie nicht nur gezielt für eine spezifisch christliche Dichtung nutzbar gemacht wird, sondern mit ihr auch eine Weiterentwicklung und Transgression nicht visueller literarischer Genera angestrebt wird. Transgrediert Publilius Optatianus Porfyrius den basilikòß lo/goj durch die visuelle Ebene und akzentuiert den gefeierten Monarchen durch ein wohl noch nicht feststehendes und daher um den Vornamen des Erlösers erweitertes Christogramm als spezifisch christlichen Herrscher, so transgrediert Venantius Fortunatus den Hymnus und macht anstelle Gottes oder eines Heiligen das Kreuz zum Adressaten, der hier sogar auf der visuellen Ebene in Erscheinung tritt. Durch die intextuelle Hervorhebung des Rahmens ordnet er das zentrale Symbol christlichen Glaubens optisch wie inhaltlich ins Zentrum der Heilsgeschichte. Wenn auch Carmen II, 5a von Venantius Fortunatus stammt, kombiniert er hier die bereits in Antike und Spätantike verbreitete Form des Kreuzwortlabyrinthes mit dem von ihm bevorzugten Metrum des elegischen Distichons. Ferner wird die bereits im Intextkreuz von Carmen II, 4 realisierte Gestalt des Tatzenkreuzes wieder aufgenommen. Trifft diese Deutung zu, ist wohl die Annahme berechtigt, dass er den Plan für das unvollendete Gittergedicht Carmen II, 5 zugunsten dieses neuartigen und innovativen Typus aufgegeben und das vielleicht ursprünglich an Agnes gerichtete Figurengedicht als fünftes carmen in den Zyklus der Kreuzhymnen zu Beginn des zweiten Buches seiner Carmina aufgenommen hat. Damit ergeben sich aber sechs Kreuzhymnen, zwei im elegischen Distichon (II, 1 & 3), zwei figurierte (II, 4 & 5[a]) und zwei in den modernen Maßen des Trochäus bzw. Jambus (II, 2 & 6). Zugleich spiegelt sich in dem Zyklus der Kreuzhymnen der erste numerus perfectus, nämlich die Zahl sechs, was bereits auf den Zyklus der ebenfalls in einem numerus perfectus, nämlich der Achtundzwanzig, konzipierten

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Kreuzgedichte des Hrabanus Maurus zu Beginn des neunten Jahrhunderts vorausdeutet. Der Überblick über die verschiedenen literarischen Genera und Subgenera, in denen sich Venantius Fortunatus bestätigt hat, zeigt die Transgression generischer Grenzen nicht als vereinzeltes Phänomen innerhalb seines Oeuvres, sondern als konstantes Charakteristikum. Daher ist wohl von einer Programmatik hinsichtlich seiner Selbstpositionierung innerhalb der literarischen Tradition auszugehen: Wie schon seine paganen Kollegen befindet er sich zu seinen Vorgängern in einem Verhältnis der aemulatio, dem er in formaler Hinsicht entweder durch eine manieristisch ausgefeilte Rhetorik oder durch gezielte Transgressionen der Gattungsgrenzen begegnet. Inhaltlich ist er allerdings in der christlichen Tradition bereits verwurzelt, wodurch er sich in die Gruppe der „moderneren“, christlichen Dichter einordnet und die von ihnen entwickelten Formen zum Teil aufgreift und weiterentwickelt. Als christlichem Dichter, der später dem klerikalen Stand angehört und der die Erstedition seiner poetischen Werke dem Bischof Gregor von Tours widmet, ist ihm eine gewisse humilitas geboten, die dazu führt, dass das aemulatorische Element bisweilen unterhalb der Oberfläche angesiedelt wird oder die poetische Programmatik selbstironisch mit dem Bild des novus Orpheus lyricus unter trunkenen Barbaren gemildert wird.

ABKÜRZUNGS- UND LITERATURVERZEICHNIS Zeitschriftenartikel folgen, soweit abgekürzt, dem Abkürzungsverzeichnis des l’ année philologique, Paris 1928ff. Zudem sind Reihenwerke bzw. Lexika folgendermaßen abgekürzt: ANRW

Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Berlin / New York 1972ff. CCCM Corpus Christianorum, Continuatio Mediaevalis, Turnhout. CCSA Corpus Christianorum, Series Apocryphorum, Turnhout. CCSL Corpus Christianorum, Series Latina, Turnhout. CSEL Corpus scriptorum ecclesiasticorum Latinorum, Wien. Der neue Pauly Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Stuttgart / Weimar 1996ff. LACL Lexikon der antiken christlichen Literatur, Freiburg i. B. 1998. LAW Lexikon der Alten Welt, Zürich 1965, Ndr. Augsburg 1994. LCI Lexikon der christlichen Ikonographie, Freiburg i. B. 1968ff. LexMa Lexikon des Mittelalters, München 1980 ff. LThK Lexikon für Theologie und Kirche, Freiburg i. B. 31993–2001. MGH Monumenta Germaniae historica. Berlin / Hannover. Niermeyer J. P. Niermeyer, Lexicon Mediae Latinitatis minus, Darmstadt 2 2002. OLD Oxford Latin Dictionary, ed. by P. G. W. Glare, Oxford 1968– 1982. PL Patrologiae cursus completus, ed. J.-P. Migne, Paris. RAC Reallexikon für Antike und Christentum, Stuttgart 1950ff. RGG Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Tübingen 31957– 1965. SC Sources chrétiennes, Paris. TRE Theologische Realenzyklopädie, Berlin / New York 1976ff.

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STELLENREGISTER Anthologia Latina 378 (Calbulus) 446

Ps 92, 2: 170 Ps 109, 1: 170 Ps 109, 3: 164 NT

Anthologia Latina 379 (Ps.-Calbulus) 446–448 Ambrosius Expositio Psalmi 98: 364 Hymnus 3: 377–381 Hymnus 9 (dubium): 365 Aristoteles Poetik, 1447 a: 48 Auctor ad Herennium 6, 10: 207 Augustinus Enarrationes in Psalmos 72,1: 352; 381 Epistulae 225 / 226: 65 Confessiones, VII, 13: 355 Sermones 2,5: 355 Sermones 335: 294 Ausonius Carmen XXV, I, 7: 100 Baudonivia Vita sanctae Radegundis: 19; 146; 404 Biblica und Apocrypha AT Bar 3, 36: 164 Cant 2, 3: 364 Cant 5, 1: 70 Gn 2, 9: 355; 360 Gn 3, 1-6: 369 Gn 3, 8: 72 Dan 7, 13: 171 Dan 12, 2: 174 Ec 24, 19–21: 355 Hb 2, 4: 159 Hb 11, 6: 159 Is 7, 9: 152; 159 Is 26, 19: 174 Is 53, 8: 161 Mal 3, 1: 171 Ps 23, 8: 170 Ps 67, 19: 170 Ps 87, 4: 169

Ac 9, 1–22: 354 Apc 20, 11ff.: 294 Col 1, 15–20: 349 I Cor 13, 13: 246 I Cor 15, 36: 174 II Cor 4, 13: 159 Eph 3, 1: 166 Eph 4, 8: 170 Hbr 1, 3: 349 Io 1, 5: 261 Io 1, 9: 314 Io, 3, 14: 168 Io 5, 1–18: 318 Io 6, 35: 75 Io 8, 12: 314 Io 9, 1–12: 306 Io 10, 12: 354 Io 10, 11–21: 354 Io 11, 17–44: 210 Io 11, 33: 211 Io 13, 1–11: 126 Io 13, 1–20: 149 Io 15, 1: 131 Io 15, 8: 308 Io 15, 1–8: 356 Io 17, 22–27: 210 Io 18, 11: 209 Io 19, 25–27: 380 Io 19, 34: 374 Io 20, 1–13: 315; 324 Lc 1, 46–55: 349 Lc 1, 68–79: 349 Lc 2, 29–32: 349 Lc 4, 16–30: 152 Lc 5, 12–16: 149 Lc 5, 17–26: 318 Lc 5, 27–32: 149 Lc 6, 27–36: 309 Lc 7, 1–10: 314 Lc 8, 43–48: 82; 130; 136 Lc 8, 40–56: 136; 314 Lc 8, 4–8: 344 Lc 10, 3: 354 Lc 10, 3–35: 81 Lc 15, 11–32: 308 Lc 17, 3b–4: 245 Lc 18, 18–30: 246

476

Stellenregister

Lc 18, 25–43: 314 Lc 23, 45: 259 Lc 24, 1–12: 315; 324 Lc 39–43: 294 Mc 1, 40–45: 149 Mc 2, 1–12: 318 Mc 2, 13–17: 149 Mc 4, 1–9: 344 Mc 5, 21–43: 136; 314 Mc 5, 25–29: 130; 136 Mc 8, 22–26: 306 Mc 10, 17–31: 246 Mc 10, 46–52: 314 Mc 11, 12–14 / 20–25: 308 Mc 15, 25: 379 Mc 16, 1–8: 315; 324 Mt 5, 38–43: 309 Mt 8, 2–4: 149 Mt 8, 5–13: 314 Mt 9, 1–8: 318 Mt 9, 9–13: 149 Mt 9, 18–26: 136; 314 Mt 9, 20–22: 130; 136 Mt 9, 27–31: 314 Mt 10, 16: 354 Mt 10, 26: 311 Mt 11, 3: 169 Mt 13, 1–9: 344 Mt 14, 22–33: 354 Mt 18, 21: 245 Mt 18, 21f.: 308 Mt 19, 16–30: 246 Mt 22, 31f.: 174 Mt 25, 1–13: 324 Mt 26, 64: 170 Mt 27, 52: 355 Mt 27, 62–28, 8: 324 Mt 28, 1–8: 315 Phil 2, 6–11: 349 Rm 1, 17: 159 Rm 10, 10: 159 Apocrypha Acta Pilati: 211 Arabisches Kindheitsevangelium: 130f. Protevangelium Jacobi: 130 Pseudo-Matthäus-Evangelium: 121–124 Catull Carmen 1: 185 Carmen 34: 349 Carmen 64: 234 Carmen 68: 394; 405

Chariton Kallirhoe: 249f. Claudian Carmina minora 9 & 10 (Epith. Honorii): 230f., 234; 241 Carmina minora 25 (Epith. Paladii): 221 De raptu Proserpinae II, 12–28: 199f. Damasus (Anthologia Latina 304–308): 270 Ennodius Carmen I (Epith. Maximi): 234–236; 241 Carmen II: 270 Eusebius von Caesarea Vita Constantini 1, 30: 441 Gregor von Tours Liber in gloriam martyrum: 24; 133; 368 Liber vitae patrum: 25, 144 Historia Francorum I, 38: 79 II, 15: 93f. III, 4: 19 III, 7: 19 III, 7–9: 13 IV, 26: 278 IV, 27: 239f. IV 28: 16 IV, 51: 244 V, 2: 26 V, 8: 28; 33 V, 18: 26 IX, 2: 23 IX, 27: 193 IX, 39–40: 35 IX, 39–43: 336 IX, 40: 22; 32 IX, 42: 22 X, 22: 193 X, 27: 193 De sancto Gregorio episcopo 4: 144 De virtutibus sancti Martini: 25f.; 134; 192 I, 11: 83 I, 15: 29 I, 32–36: 25 Hesiod Erga 167–173: 69 Theogonie 1–115: 187 33: 217

Stellenregister

Hieronymus Commentarii in Evangelium Matthaei: 161 De viris inlustribus: 119 Vita Antonii: 108

477 Carmen XIV: 435 Carmen XIX: 436 Carmen XXIV: 435

Laktanz De mortibus persecutorum 44, 5: 441

Ovid Amores I, 2: 250; 341 I, 9: 250; 340 III, 3: 249 III, 9: 279; 387 Epic. Drusi 373: 288 Fasti III, 238: 228 Heroides I: 396f.; 405 III, 51f.: 396; 398; 405 XI: 405 XII: 405 XIII, 109f.: 396 XVIII: 341 Metamorphosen IV, 167–189: 70 VI, 304: 139 VI, 1–145: 249 X, 283ff.: 317f. XI, 1–66: 199 XIII, 509–515: 398 XV, 871–879: 189f. Tristia I, 1: 228

Liber pontificalis 109

Patricius Carmen XVIII (Epithalamium): 229f.

Livius I, 16, 5–8: 143

Paulus Diaconus Historia Langobardorum II, 4: 10; 30 II, 13: 30; 36; 383

Homer Odyssee IV, 561–569: 69 Horaz Ars poetica: 53; 79; 99; 188 Oden I, 10 / 12 / 21 / 30: 349 II, 19: 349 III, 18 / 25: 349 III, 21: 349 III, 30: 191 IV, 61: 204 ILCV 739 & ILCV 4341: 288 Josephus Scottus Carmen IV: 445 Kallimachos Apollohymnus 105–113: 204

Lukrez I, 1: 344 I, 1–42: 228 III, 966: 294 Menander Rhetor Dihairesis 331–333: 55–57; 352f. Peri epideiktikon 368–377: 439 399–404: 222–226; 230; 235; 243; 248; 255 370: 243 373: 240f. 408: 229; 235 Optatianus Porfyrius Carmen VIII: 435; 436–442

Paulinus von Nola Epist. 45: 65 Carmen XXI: 382 Plautus Bacchides 816f.: 290 Platon Nomoi 700b: 349 Politeia 10, 607: 349 Plinius minor Epist. I, 6 / X, 1: 63

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Prokop Gothica I, 13 / IV, 25: 390 Properz IV, 8: 287f. Prudentius Carminum Praefatio: 191f. Peristephanon 2 / 5: 349; 372 Liber cathemerinon 1, 2, 11, 12: 372 1: 375 Quintilian Institutio oratoria X, 1, 45 / 51 / 55: 54 X, 1, 58: 54f.; 386 X, 1, 93: 386 X, 1, 114: 113, 178 X, 1, 20–131: 179 X, 1, 27–30: 184 Rufinus Expositio symboli: 156–158; 162–167; 170–174 Sallust Coniuratio Catilinae 1, 1–14: 111 Sidonius Apollinaris Epist. II, 8: 270 III, 12: 270 IV, 11: 270 IV, 18: 259 V, 13–16: 259 VII, 1: 83; 87; 88–90; 92–94 VII, 17: 270 Carmina 10 / 11: 221; 226; 233; 234; 241; 255 Statius Silvae Proömien: 64; 186 I, 2: 221 II, 2: 258 Sulpicius Severus Vita sancti Martini: 111; 137–139 Epistula 2: 143 Theodulf von Orleans Carmen XXIII: 433

Venantius Fortunatus Carminum Praefatio: 9; 41; 181–196 Carmina I, 1: 189 I, 6: 263 I, 8–13: 263 I, 9–15: 271 I, 10: 263 I, 11: 264; 265 I, 15: 265 I, 18–20: 258 II, 1–6: 189; 351; 448 II, 1: 351–356; 359; 363; 374 II, 2: 169; 356–366; 371; 422f. II, 3: 366–371 II, 4: 193; 288; 408; 409–421 II, 5: 288; 408; 432–435 II, 5a: 408; 442–448 II, 6: 288; 371–377; 422f. II, 4–6: 288 II, 9: 31; 259; 262 II, 10: 31; 257–265 II, 11 / 12: 31 II, 15: 299 II, 16: 299–327; 375 III, 1: 180 III, 1–3: 32 III, 11 / 12 / 14: 31 IV, 1: 276–278; 297 IV, 2: 25 IV, 5: 87 IV, 9: 271–279; 281; 290 IV, 10: 265; 271 IV, 21: 279–285 IV, 22: 279–285; 290 IV, 26: 291–295; 296f. IV, 28: 285–291; 293; 297 V, 1: 63; 66–87; 180 V, 2: 68 V, 3: 87 V, 6: 63; 95–100; 101–103; 287; 409 V, 6a: 63; 100f.; 101–103; 169; 365; 408; 424–431; 442 VI, 1: 31; 197; 226–256; 288 VI, 1a: 31; 197; 276 VI, 2: 31 VI, 5: 16; 388 VII, 1: 196–201 VII, 2: 63 VII, 9: 29 VIII, 1: 30; 63; 87; 201–219; 345 VIII, 3: 406 VIII, 6–8: 344 VIII, 7: 344

Stellenregister VIII, 8: 344 VIII, 9: 62; 328; 337–345 VIII, 10: 337–345 VIII, 11: 336 VIII, 12: 218 VIII, 13–18: 336 VIII, 12a: 64; 218 VIII, 19: 258; 328; 329–337 VIII, 20: 329–337 VIII, 21: 329–337 IX 1: 35 IX, 9: 31 X, 1: 87; 151; 175 X, 2–4: 151 X, 6: 257 X, 9: 36 XI, 1: 151–177; 350; 363 XI, 4: 33 XI, 6: 29 Appendix I: 19f.; 34; 388–390; 393–404 Appendix II: 34; 388–390 Appendix III: 34; 388–406 Appendix XXVII: 447 Marienhymnus: 326 Vita sancti Albini: 109–119 Vita sancti Hilarii: 109 Vita sancti Marcelli: 116 Vita sancti Martini: 192 Prolog: 29; 215–219 I, 29–31: 29 I, 44: 30 I, 159–178: 137–140 IV, 558–560: 28 IV, 668ff.: 29 Vita sancti Medardi: 127; 310f. Vita sancti Paterni: 119 Vita sanctae Radegundis: 19f.; 23; 105– 108; 120–150; 195; 211; 311; 340 Vergil Aeneis I, 13: 253 IV, 66: 240 IV, 101: 240 IV, 530–532: 399 VI, 390: 240 VIII, 412f.: 239 XII, 767: 355 Eklogen 1, 1–5: 187 10: 342 Georgica III, 271: 240 IV, 142f.: 343

479 IV, 197–199: 228 IV, 507–522: 199

Xenophon Memorabilien II, 1, 21–34: 304 II, 1, 31: 304

A L TE R T U M S W I S S E N S C H A F T L I C H E S KO L L O QU I U M Interdisziplinäre Studien zur Antike und zu ihrem Nachleben In Verbindung mit Walter Ameling, Michael Erler, Angelika Geyer, Jürgen Hammerstaedt, Gerlinde Huber-Rebenich, Elisabeth Koch, Christoph Markschies, Norbert Nebes, Tilman Seidensticker, Dietrich Simon und Helmut G. Walther herausgegeben von Jürgen Dummer und Meinolf Vielberg.

Franz Steiner Verlag

7.

ISSN 1438–0552

Günther Schörner Votive im römischen Griechenland Untersuchungen zur späthellenistischen und kaiserzeitlichen Kunst und Religionsgeschichte 2003. XVIII, 638 S. und 100 Taf., geb. ISBN 978-3-515-07688-3 8. Jürgen Dummer / Meinolf Vielberg (Hg.) Leitbild Wissenschaft? 2003. 216 S. mit 6 Abb., kt. ISBN 978-3-515-08348-5 9. Oliver Ehlen Leitbilder und romanhafte Züge in apokryphen Evangelientexten Untersuchungen zur Motivik und Erzählstruktur (anhand des Protevangelium Jacobi und der Acta Pilati Graec. B) 2004. 312 S., kt. ISBN 978-3-515-08470-3 10. Stefano Conti Die Inschriften Kaiser Julians 2004. 224 S. und 13 Taf., kt. ISBN 978-3-515-08443-7 11. Sabine Anselm Struktur und Transparenz Eine literaturwissenschaftliche Analyse der Feldherrnviten des Cornelius Nepos 2004. 204 S. mit 25 Tab., kt. ISBN 978-3-515-08478-9 12. Jürgen Dummer / Meinolf Vielberg Der Fremde – Freund oder Feind? Überlegungen zu dem Bild des Fremden als Leitbild 2004. 168 S., kt. ISBN 978-3-515-08577-9 13. Jürgen Dummer / Meinolf Vielberg (Hg.) Zwischen Historiographie und Hagiographie Ausgewählte Beiträge zur Erforschung der Spätantike 2005. 107 S. und 2 Taf., kt. ISBN 978-3-515-08661-5 14. Judith Steiniger

P. Papinius Statius, Thebais Kommentar zu Buch 4, 1–344 2005. 181 S., kt. ISBN 978-3-515-08683-7 15. Sabine Hübner Der Klerus in der Gesellschaft des spätantiken Kleinasiens 2005. 318 S. mit 3 Ktn., kt. ISBN 978-3-515-08727-8 16. Jürgen Dummer Philologia sacra et profana Ausgewählte Beiträge zur Antike und zu ihrer Wirkungsgeschichte. In Verb. mit Roderich Kirchner und Claudia Sode hg. von Meinolf Vielberg 2006. 408 S. mit 5 Abb., geb. ISBN 978-3-515-08663-9 17. Johannes Hahn / Meinolf Vielberg (Hg.) Formen und Funktionen von Leitbildern 2007. 321 S. mit 1 Abb., kt. ISBN 978-3-515-08998-2 18. Dagmar Hofmann Suizid in der Spätantike Seine Bewertung in der lateinischen Literatur 2007. 250 S., kt. ISBN 978-3-515-09139-8 19. Jürgen Dummer / Meinolf Vielberg (Hg.) Leitbilder im Spannungsfeld von Orthodoxie und Heterodoxie 2008. 178 S., kt. ISBN 978-3-515-09241-8 20. Stefan Freund / Meinolf Vielberg (Hg.) Vergil und das antike Epos Festschrift für Hans Jürgen Tschiedel. Hg. in Verbindung mit Volker Michael Strocka und Raban von Haehling 2008. XV, 565 S. mit 18 Abb., 4 Diagr., 5 Tab. und 1 farb. Falttaf., geb. ISBN 978-3-515-09160-2 21. in Vorbereitung