Die Nachricht, ein Medium: Generische Medialität, städtische Architektonik 9783990436301, 9783990436295

Mediality as an element of possibility With her inversion of McLuhan’s famous dictum that the medium be the message, t

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German Pages 288 Year 2014

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Précis
Einleitung
I. Virtualität und Medialität
I.I. Zur genealogie des Medialen
Medien als archimedischer punkt unserer Weltverhältnisse ?
Virtualität und die Frage nach dem Konstitutivum von Medien
I.II. Informatisierung als kulturgeschichtliche Wendezone
Zur Notwendigkeit einer Radikalisierung des kritischen Programms
Das Problem der Rahmung eines erweiterten Prinzips der Verfügbarkeit
Grenzen einer phänomenologischen Ontologie
I.III. Aufs Neue : die Frage nach der Referenzialität von Zeichen
Die Begründbarkeit von Information im Element des Symbolischen
Die theoretische Neugierde
Räumliches Denken – C odieren eines Aussen nach Übereinkunft
Zusammenfassung
II Formen und Strukturen von Integrabilität
II.I. VIRTUALITÄT UND KONSTRUKTIONSFOrM 
II.II. ZUM TOPOS DER BEGRENZUNG
EIN PLANET NAMENS » TERRA« ODER DER MYTHOS DES FIRMAMENTS IM MOMENT DER VERMEERUNG 
LEGERE IN LIBRO NATURAE« ODER VON DER SCHEIDUNG DER WELT IN EINE WELT DER WERTE UND EINE WELT DER FAKTEN 
RELATIONENONTOLOGIE« ODER DIE NEUZEITLICHE INTEGRATION VON BEWEGUNG IN DIE ART UND WEISE, VERHÄLTNISSE ZU BESTIMMEN 
DIE RELATIVIERUNG VON STETIGKEIT ALS VORAUSSETZUNG ODER VOM DETERRITORIALISIERTEN DENKEN BIS ZUR REKOMBINAnTEN SYNTHESE 
II.III. FUNKTION, SINN UND FORM 
FUNKTION« – GESCHICHTE UND VERWENDUNG ALS THEORIE UND TECHNIK 
I MAGINATION UND METHODE ODER DAS ENDE DER REPRÄSENTATION DURCH DIE VORSTELLUNG 
Die Frage nach dem Sinn oder das Problem des Anfangs
DIE IDEE ALS » DI FFERENTIAL« DES DENKENS ODER ZUM VERHÄLTNIS VON STRUKTUR UND GENESE IM SPRACHSPIEL DES VIRTUELLEN 
DAS » IN FORMELLE« ODER ZUM KONZEPT DER ÄHNLICHKEIT ALS MEDIUM
Zusammenfassung
III Virtualisierung von Dialektik : Zum Verhältnis zwischen Theorie und Synthese
III.I. Die synthetische Analyse im Paradigma der Netze
Die Medialität und die Unbestimmtheitsdimensionen des Technischen
Zur Geschichte und Metaphorik des Begriffs der Spur
III.II. Das Modell und die Simulation : das kontingente Konkrete
Die Simulation : Ersatzoffenbarung oder epistemisches Werkzeug ?
Modelle : Mathematical fictions ?
Simulacrum, Abbild, und das Herkommen von Templates in fantastischantizipierbaren Genealogien
III.III. System, Element, Serie. Inversion mimetischer Traditionslinien
Die Integrität und Existenzweise technischer Objekte
Der Individuationsprozess technischer Entitäten
» konvergenz« – Grenzen des Konzepts im Sprachspiel des linguistischen Strukturalismus
Coda : Ein generischer Begriff von Medialität
Bibliografie
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Die Nachricht, ein Medium: Generische Medialität, städtische Architektonik
 9783990436301, 9783990436295

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Die Nachricht, ein Medium — generische Medialität, städtische Architektonik Vera Bühlmann

3

Dr. phil. Vera Bühlmann Vera Bühlmann ist Sprach- und Literaturwissenschaftlerin der Universität Zürich, und seit 2009 promovierte Medientheoretikerin der Universität Basel. Sie lehrt und forscht als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für CAAD, Departement Architektur der ETH Zürich, wo sie 2010 das Theorie-Laboratorium für angewandte Virtualität gegründet hat welches sie seither leitet. Zusammen mit Ludger Hovestadt ist sie Herausgeberin der applied virtuality Buchreihe bei ambra.

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2014 AMBRA | V AMBRA | V ist ein Unternehmen der Medecco Holding GmbH, Wien Printed in Germany Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Buch berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Eine Haftung der Autoren oder des Verlages aus dem Inhalt dieses Werkes ist ausgeschlossen. Verlag und Herausgeber bitten um Verständnis dafür, dass in Einzelfällen ihre Bemühungen um die Abklärung der Urheberrechte und Textzitate ohne Erfolg geblieben sind.

Layout und Umschlaggestaltung: onlab, Thibaud Tissot, Pepita Köhler Lektorat: Kirsten Rachowiak, D-München Korrektorat: Edigna Hackeslberger, D-München Druck: Strauss GmbH, D-Mörlenbach Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier – TCF Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISSN 2196-3118 ISBN 978-3-99043-629-5 AMBRA | V

Printed Physics — Metalithikum I

Inhaltsverzeichnis Précis

7

Einleitung 11 I Virtualität und Medialität

29

II Formen und Strukturen von Integrabilität

97

I.I. Zur genealogie des Medialen 30 · Medien als archimedischer punkt unserer Weltverhältnisse ? 32 · Virtualität und die Frage nach dem Konstitutivum von Medien 43  —  I.II. Informatisierung als kulturgeschichtliche Wendezone 57 · Zur Notwendigkeit einer Radikalisierung des kritischen Programms 57 · Das Problem der Rahmung eines erweiterten Prinzips der Verfügbarkeit 58 · Grenzen einer phänomenologischen Ontologie 66  —  I.III. Aufs Neue : die Frage nach der Referenzialität von Zeichen 72 · Die Begründbarkeit von Information im Element des Symbolischen 72 · Die theoretische Neugierde 79 · Räumliches Denken – Codieren eines Aussen nach Übereinkunft 86  —  Zusammenfassung 93

II.I. VIRTUALITÄT UND KONSTRUKTIONSFOrM 98 — II.II. ZUM TOPOS DER BEGRENZUNG 111 · EIN PLANET NAMENS » TERRA « ODER DER MYTHOS DES FIRMAMENTS IM MOMENT DER VERMEERUNG 113 · » LEGERE IN LIBRO NATURAE « ODER VON DER SCHEIDUNG DER WELT IN EINE WELT DER WERTE UND EINE WELT DER FAKTEN 115 · » RELATIONENONTOLOGIE « ODER DIE NEUZEITLICHE INTEGRATION VON BEWEGUNG IN DIE ART UND WEISE, VERHÄLTNISSE ZU BESTIMMEN 123 · DIE RELATIVIERUNG VON STETIGKEIT ALS VORAUSSETZUNG ODER VOM DETERRITORIALISIERTEN DENKEN BIS ZUR REKOMBINAnTEN SYNTHESE 132 — II.III. FUNKTION, SINN UND FORM 136 · » FUNKTION « – GESCHICHTE UND VERWENDUNG ALS THEORIE UND TECHNIK 136 · IMAGINATION UND METHODE ODER DAS ENDE DER REPRÄSENTATION DURCH DIE VORSTELLUNG 154 · Die Frage nach dem Sinn oder das Problem des Anfangs 164 · DIE IDEE ALS » DIFFERENTIAL « DES DENKENs ODER ZUM VERHÄLTNIS VON STRUKTUR UND GENESE IM SPRACHSPIEL DES VIRTUELLEN 180 · DAS » INFORMELLE « ODER ZUM KONZEPT DER ÄHNLICHKEIT ALS MEDIUM 192  —  Zusammenfassung 203

iii Virtualisierung von Dialektik : Zum Verhältnis zwischen Theorie und Synthese

209

Coda : Ein generischer Begriff von Medialität

266

Bibliografie

273

III.I. Die synthetische Analyse im Paradigma der Netze 210 · Die Medialität und die Unbestimmtheitsdimensionen des Technischen 214 · Zur Geschichte und Metaphorik des Begriffs der Spur 222 — III.II. Das Modell und die Simulation : das kontingente Konkrete 230 · Die Simulation : Ersatzoffenbarung oder epistemisches Werkzeug ? 230 · Modelle : Mathematical fictions ? 233 · Simulacrum, Abbild, und das Herkommen von Templates in fantastischantizipierbaren Genealogien 235  —  III.III. System, Element, Serie. Inversion mimetischer Traditionslinien 241 · Die Integrität und Existenzweise technischer Objekte 247 · Der Individuationsprozess technischer Entitäten 252 · » konvergenz « – Grenzen des Konzepts im Sprachspiel des linguistischen Strukturalismus 257

Précis Robert Musil beginnt seinen Roman Der Mann ohne Eigenschaften mit der Überschrift : »  Eine Art Einleitung. Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht. «1 Das Folgende handelt in eindrücklichster Weise von einer Welt, in der sämtliche Eigenschaften generisch sind : eine Welt allgemeiner Natur, in der jedes Ausgezeichnete nur ausgezeichnete Regelmäßigkeit ist, die auf zahlreiche Arten in logistisch ausbalancierten und global-uniformen Verhältnissen variiert : »  Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Rußland lagernden Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweichen. Die Isothermen und Isotheren taten ihre Schuldigkeit. Die Lufttemperatur stand in einem ordnungsgemäßen Verhältnis zur mittleren Jahrestemperatur, zur Temperatur des kältesten wie des wärmsten Monats und zur aperiodischen monatlichen Temperaturschwankung. «2 Und so geht es weiter, über mehr als zweitausend Seiten. Das Fantastische an Musils Werk ist nun aber, dass eine solche Schilderung der Dinge in ihrer prinzipiellen Gleichwertigkeit ein absurdes Projekt darstellt, welches den Erzähler in die eigenartige Situation drängt, nicht primär Episoden aneinanderzureihen und ineinander zu verschachteln, sondern Dinge in ihrer generischen Struktur mit Merkmalen von Regelmäßigkeiten auszustatten, sodass jedes im Gesamtgeschehen des Romans interessant aufgeladen, angereichert und von Aktualität durchströmt wird. Doch alles, was geschieht, geschieht nicht über das Anstoßen von Veränderungen in Situationen, über welche eines zum Nächsten führt und jegliches, was ausgezeichnet ist, voller Implikationen wäre. Stattdessen geschieht alles in Musils Roman unmotiviert oder zumindest ohne zwingenden Grund, sondern einzig durch die Qualifizierung der Aktualität eines Geschehens. Von diesem Geschehen sprechen wir vielleicht am treffendsten als einem, welches vom Erzähler der Vorstellung eines Großen im Ganzen überantwortet worden ist und von dem dieser, in sachlichem Tonfall, lediglich Nachricht erstattet. Wir möchten diese Gedanken als einleitendes Bild verwenden, um damit einen bestimmten Vorstellungsraum zum Nachdenken über Kommunikation und Medialität zu evozieren. Wir wollen Information als natürliches Element begreifen und jenem musilschen Qualifizieren von Aktualität, welches darin zum Ausdruck kommt, eine technische Entsprechung zuweisen : das Codieren von elektrischem Strom zur Übermittlung von Signalen. In einer solchen Natur der Allgemeinheit, so die Behauptung, 1 2

PRÉCIS

Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Band 1, Berlin 1930, S. 8f. Ebenda, S. 9.

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hängt alles – Musils »  Großes im Ganzen « – von der Art und Weise ab, wie erzählt wird. Und so wollen wir, von seiner Erzählhaltung ausgehend, die Dinge in ihrer Generik auszustatten und die energetischen Stromkreise zu modulieren, welche sie durchströmen, eine Alternative zum vorherrschenden kybernetischen Bild des Kommunizierenden als Steuermann in den stürmischen Ozeanen der Informationsflut sehen. Während der kybernetische Steuermann sich jegliche Kommunikation im Hinblick auf die Generalität in der Form der abbildbaren Inhalte hin anschaut, so sieht der Erzähler darin eine symbolisch-stoffliche Lösung allgemeiner Intelligibilität und Sensibilität, die er – ähnlich wie ein Chemiker – weiter aufzulösen, anzureichern und zu sättigen sucht. Begreifen wir die Natur des Allgemeinen auf diese Weise als reziprok bestimmbares Verhältnis – zwischen erstens der Vorstellung von einem Großen im Ganzen und zweitens dem Erzählen-Können von allgemeinen Dingen im Horizont dieser Vorstellung des Großen im Ganzen –, so ist klar, dass jene Natur des Allgemeinen zwar jedem Erzählenden und jeder Vorstellung zukommt, aber nicht in gleicher Weise. Anders formuliert : Diese Natur des Allgemeinen ist, trotz ihrer reinen Generik, nicht dem Universellen äquivalent. Bezüglich der Vorstellung von Universalität muss vielmehr gelten, dass jegliches generisch Artikulierte, mag es mit noch so viel Erzählvermögen ausgedrückt sein, das Universelle nie erschöpfend zum Ausdruck zu bringen vermag. In diesen Symmetriekonstellationen wird es möglich, den Charakter dieses Allgemeinen zwar als generisch – also ohne Rückgriff auf eine Klassifikation von Natur – zu bestimmen, aber ohne ihn zirkulär und tautologisch begründen zu müssen : Wir können uns das Generische als Inseln unterschiedlich verteilter und unterschiedlich gesättigter Dichten von Allgemeinheit im ozeanischen Element des darin anklingenden Universellen vorstellen. Mit einem technisch formulierten Bildvergleich können wir präziser fassen, worum es bei einer solchen Natur des Allgemeinen geht : Eine Formulierung, die nichts außer generisch ist, ist eine Gleichung. Doch müssen wir diese nicht notwendigerweise in ihrer Immanenz als Abbildverhältnis fassen, wenn wir das Allgemeine, das darin zum Ausdruck kommt, nicht mit dem Universellen, für das eine Gleichung steht, als deckungsgleich erachten. Halten wir diesen Unterschied zwischen dem Allgemeinen und dem Universellen offen, so können wir vielmehr von einem Sättigungsverhältnis des allgemein Formulierten an Universalitätsgehalt sprechen, anstatt von einem Entsprechungsverhältnis des allgemein Formulierten mit universeller Form. Das Interesse dieses Buches besteht darin, den generischen Charakter einer so gedachten Allgemeinheit zu erwägen. Um diesen Charakter in aller Offenheit in den Blick zu bekommen, wollen wir die beiden reziprok bestimmbaren Pole anschaulicher fassen, um sie besser handhaben zu können : Wir wollen die Vorstellung von einem »  Großen im Ganzen « als das Städtische erachten und jenes »  Erzählen-Können von

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Die Nachricht, ein Medium.

Dingen in ihrer Allgemeinheit « als das Mediale. Für beides suchen wir einen generischen Begriff zu formulieren, das heißt einen Begriff von möglichst vermögender Allgemeinheit. Damit diese Suche gleichzeitig in einer offenen Weise gelingen kann, versuchen wir, bei dieser reziproken Bestimmung der beiden Pole vom Standpunkt der Prinzipien ihrer jeweiligen Genese auszugehen. Damit schlagen wir also vor, Medien nahezu gänzlich aus ihrem epis­ temologischen Spannungsfeld zu befreien, dessen Schlüssigkeit von einem sich gegenseitig ausschließenden Verhältnis zwischen Natur und Kultur abhängt. Es ist klar, dass wir uns mit dem, was wir darlegen möchten, nicht in einem Element hinreichenden Grundes und notwendiger Schussfolgerungen bewegen können. Vielmehr finden wir uns in einer an Gründen überreichen und üppigen Gegend wieder, welche alle städtischen Dramaturgien jeglicher kosmologischer Ordnungsvorstellungen auf ebenso diskrete wie disparse Weise versammelt. Eine solche Gegend ist nicht nur großzügig, sondern auch gebieterisch in einer eigenartigen Weise, deren besseres Verständnis von einem adäquaten Begriff von Medialität – im Sinne von Marshall McLuhan dasjenige, was Maßgabe modulierbar macht – abzuhängen scheint. Um einen solchen Begriff von Medialität kreist unser Interesse im Folgenden. Die Teile eins bis drei des vorliegenden Buches sind der Kern meiner Promotion, die 2009 unter dem Titel Inhabiting Media. Annäherungen an Herkünfte und Topoi medialer Architektonik am Medienwissenschaftlichen Institut der Universität Basel, Schweiz, vorgelegt wurde. Ich möchte an dieser Stelle Georg Christoph Tholen als Hauptbegutachter und Ludger Hovestadt als Zweitbegutachter sehr herzlich für ihre Unterstützung danken wie auch für ihr kritisches Wohlwollen, mit dem sie meine Arbeit begleitet haben. Diese Teile wurden für die vorliegende Publikation nur stilistisch etwas überarbeitet. Sie wurden jedoch mit der Einleitung und der Coda aus rückblickender Perspektive, fünf Jahre später, neu gerahmt. Gewidmet sei dieses Buch Klaus Wassermann. Zürich, März 2014

PRÉCIS

9

Einleitung »  Die Idee der Ordnung durch Fluktuation ist nicht nur eine neue Idee, sie ist die Neuigkeit selbst, ihre Definition. « 3 Als Sinnbild sowohl für die Vorstellung eines Großen im Ganzen wie auch als Brutstätte von Erzählvermögen in all seinen Ausgestaltungen gilt seit jeher das Städtische. Technik und Kommunikation spielen für die Entstehung des Städtischen eine konstitutive Rolle – insbesondere im Hinblick darauf, dass das Städtische, aus der Perspektive von Kulturtheorie und Geistesgeschichte wie auch aus jener der Naturwissenschaft, gemeinhin als singuläres Phänomen gilt : Seine Herkunft lässt sich weder auf biologische noch auf physikalische Gesetzmäßigkeiten zurückführen, sondern höchstens auf kosmologische oder anthropologische. Und das heißt immer auch auf eine symbolisierende und aus dem Unendlichen des Universums heraus zu entziffernde »  Gesetzmäßigkeit «. Genau mit diesem singulären Status ist eine »  Natur « des Städtischen ebenfalls mit einer »  Natur « von Technik, Kunst und Sprache verwandt, Natur im Sinn von »  Prinzip der Genese «. Angesichts der Schwierigkeiten – nämlich der Unvergleichlichkeit dieser Phänomene – war ein Nachdenken über das Städtische (wie jenes über Technik, Kunst und Sprache) wohl immer schon mit einer spirituellen Dimension und ihrer Symbolisierung verbunden : Galten die gebauten und eingerichteten Ordnungen des Städtischen, um eine gegenseitige soziale Abhängigkeit am besten zu gliedern, doch seit jeher als hiesiges Abbild einer jenseitigen »  Richtigkeit « : etwa im Persischen Reich als Metropolis und Sitz des Kaisers, Mutterstadt der imperialen Kolonien, die Stadt als Stätte des Gesetzes und Wohnort der Götter und ihrer Kinder bei Platon, die kosmische Stadt als Abbild des Universums bei den Stoikern, als Stadt Gottes bei Augustinus, um nur einige wenige Varianten zu nennen, wie die Singularität des Städtischen thematisiert worden ist. Nun scheint im zunehmend säkularisierten Set-up moderner Nati­ onalstaaten die Tradition, das Städtische in seiner Singularität begreifen zu wollen, gebrochen zu werden. In unserer jüngeren politischen Geschichte, zumindest in der westlichen Welt, gilt die Generalisierung des Städtischen hin zu einer allgemeinen Urbanität – nun im spirituellen Sinn als »  unspezifisch « und in dieser Hinsicht als das Generische des Städtischen zu verstehen – gleichermaßen als Legitimationsgrund wie auch als anzustrebendes Ziel dafür, wie ökonomische und politische 3

Michel Serres, »  Anfänge «, in : ders. und Ilya Prigogine, Isabelle Stengers, Serge Pahaut, Anfänge, Berlin 1991, S. 18.

Einleitung

11

Ordnungen anhand rein formaler Institutionierung von Macht und Verantwortung verfasst werden sollen. Rein objektiv, also ohne Privilegien, die irgendwie zu rechtfertigen wären über das, was eine Situation der Überlieferung nach als eine singuläre auszeichnet, sondern generell und buchstäblich » apparatartig « formuliert (Rechtsstaat und Bürokratie, Staatsapparat und dessen ausführende Organe) gelten diese Ordnungen nun gerade wegen ihrer reinen Äußerlichkeit und Formalität als gleichzeitig » normal «, » universell « und » natürlich «. Halten wir also fest, dass das Städtische seinen Ausgang nahm als singuläres Phänomen, durch welches sich der Homo sapiens aus der unmittelbaren Abhängigkeit einer übermächtigen und allzu oft als ungastlich erlebten Naturgewalt emanzipieren konnte. Demgegenüber strebt seit der Gründung von Nationalstaaten die relativ junge Tendenz zur Generalisierung des Städtischen gerade entgegengesetzt dazu, das Städtische in seiner Generik als technisch kontrollierbare » Naturgesetzmäßigkeit « zu fassen. In all diesen Variationen geht es um das Verhältnis des Städtischen zum Gesetzmäßigen. Was aber hat dieser Hintergrund nun mit Medien zu tun oder, noch enger gefasst, mit einem Verständnis von Nachrichten als Medien ? In aller vorwegnehmenden Kürze behauptet die These, welche die vorliegende Arbeit zu erörtern und zu verfolgen sucht, dass dieses Generische des Städtischen mit einem Generischen des Medialen ergänzt werden sollte. Damit ließe sich eine symbolisch-formale Kritisierbarkeit ermöglichen, die einen drohenden Kurzschluss von Technik und Natur, Möglichkeit und Notwendigkeit vielleicht aufzubrechen vermag, ohne damit spezifische semantisch-inhaltliche Bestimmungen zu infundieren. Das Merkmal des Städtischen, haben wir gesagt, sei seine Singularität : insofern, als dass seine Genese unvergleichlich mit einem anderen Phänomen scheint und aus keiner unmittelbaren Gesetzmäßigkeit hergeleitet werden kann, ohne dass diese Gesetzmäßigkeit theologisch aufgeladen werden müsste, um als Erklärung zu dienen. Nun, dieses Merkmal lässt sich ebenso sehr der Genese des Medialen anhaften. Tun wir das, sind beide – nicht trotz, sondern in ihrer Singularität – nicht mehr unvergleichlich. Aber ist, um einen Vergleich zu ziehen, nicht ein drittes oder sogar noch ein viertes Ingredienz erforderlich ? Brauchen wir nicht zumindest ein positives Maß, wenn nicht eine elementare Proportionalität ? Inwiefern sich diese Frage verneinen lässt, darum geht es bei einem philosophischen Begriff des Differentials, um den sich ein Großteil des folgenden Textes dreht. Die Vorstellung, die wir zu entwickeln suchen, besteht in folgenden Postulaten : 1. Es gibt eine Objektivität von Nachrichten. 2. Dieser Objektivität kommt ein Sein zu, das in den Artefakten insistiert und jedem, der es in seiner Objektivität zu adressieren sucht, nicht nur etwas gibt, sondern auch etwas von ihm will. Was diese Objektivität von uns will, darüber können wir nur rätseln. 3. Die Objektivität von Nachrichten

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Die Nachricht, ein Medium.

waltet in den Artefakten als das Sein von Neuigkeit, und sie lässt sich, so wollen wir vorschlagen, in Analogie zur Objektivität von Energie formulieren, die in der Elektrizität waltet. Es lässt sich genauso wenig ein repräsentatives Bild von ihr zeichnen, wie dies hinsichtlich von Energie möglich ist : Man kann die Objektivität von Nachrichten weder über das Postulat einer Treue zu der darin verfassten Botschaft erwägen, noch kann man sie über die formale Integrität ihrer Vermittlung ermessen. Aber man kann sie erhalten, so wie sich Energie erhalten lässt : in Sätzen, welche ein universelles Entsprechen ausdrücken. Aber müsste die eigentlich (medien-)philosophische Frage nicht darauf gerichtet sein, was diese Objektivität von Nachrichten will ? Davon wollen wir ausgehen und zugleich nahelegen, das Prinzip zur Entzifferung von diesem Etwas uns als das Prinzip der fortlaufenden Genese des Städtischen gelten kann. Zugegeben : Der Sprung, der nötig ist, um die Singularität des Medialen auf die Singularität des Städtischen zu beziehen und umgekehrt, ist ein riskanter. Aber es scheint ein lohnender Sprung zu sein, verspricht er doch das reziproke Bestimmungsverhältnis als ein prinzipiell offenes, und nicht nur, als ein im kombinatorischen Zahlenreichtum » faktisch Unendliches « zu denken. Allegorisch gesprochen bedeutet dies, dass Modernität nicht nur ist, sondern nur ist, indem sie lernt, sich selbst zu sein. Wenn dieser Sprung gelingen könnte, so erlaubt er beiden Begriffen, jenem eines Generisch-Städtischen und jenem eines Generisch-Medialen, differentialphilosophisch als unbestimmt jedoch bestimmbar gefasst zu werden, um so die jeweilige Singularität, die sie verkörpern, aneinander zu entwickeln. Lassen Sie uns in aller Kürze darlegen, vor welchen Hintergrundüberlegungen dieser Sprung hier gewagt wird. Seit McLuhans berühmtem Votum, dass Medien nicht lediglich als neutraler Mittler von Botschaften zu begreifen seien, sondern vielmehr jeweils selbst die Botschaft sind, wird Medialität in den Kulturwissenschaften und in der Medientheorie im Zusammenhang mit Maßstäblichkeit thematisiert. Wie McLuhan sich ausdrückte : » Die Botschaft jedes Mediums oder jeder Technik ist die Veränderung des Maßstabes, Tempus oder Schemas, die es der Situation des Menschen bringt. «4 Kommunikation, so legte er nahe, bringe also » der Situation des Menschen « etwas hinzu. Nun treten mit dieser von ihm postulierten Eigentlichkeit der Medien diese aber in einen gewissen Widerspruch zu dem Städtischen in seiner generischen, als Regelkreis und Apparat gedachten dynamischen Form. Das Nachspüren dieses Widerspruchs wie auch der Möglichkeiten, wie die aktuellen medientheoretischen Positionen diesen aufzulösen oder zu überwinden versuchen, hat – in aller kritischen Offenheit – das Vorhaben in dieser Arbeit angeregt. 4

Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle, Düsseldorf 1992, S. 18.

Einleitung

13

Wie also ließe sich dieser Widerspruch in eine mögliche Formulierung bringen ? Dafür muss zuerst etwas ausgeholt werden. Eine moderne, im Sinne einer »  apparatartigen « Ordnung schöpft ihre eigene Veränderbarkeit auf immanente Weise aus der Dynamik ihrer eigenen Glieder und Organe. Sie begreift die Einrichtung einer generischen Urbanität (als Vorstellung eines spirituell unspezifischen Städtischen) gleichermaßen als Begründungs- und Referenzebene wie auch, im Bestreben nach säkularisierender Expansion, als ihr eigentliches Verwirklichungsziel. Nun kann in einer solchen, sich immanent speisenden, dynamischen Ordnung im eigentlichen Sinn nichts hinzukommen, sondern es kann nur umverteilt und in neue Konstellationen gebracht werden. Um diese Geschlossenheit aufzubrechen, argumentiert Serres : » Die Idee der Ordnung durch Fluktuation ist nicht nur eine neue Idee, sie ist die Neuigkeit selbst, ihre Definition. «5 Der Erläuterung, wie dies möglich scheint, dient diese Einleitung. Wir werden mehrfach und aus verschiedenen Richtungen auf Serres’ Formulierung zurückkommen. Nun ist das Sprachspiel um Neuigkeit bekanntermaßen in eschatologischen Diskursen verortet und lebt dort davon, dass die Chiffre » Neuigkeit « sich genau nicht definieren lässt. In der Idee einer Ordnung durch Fluktuation sieht Serres denn auch nicht eine inhaltliche Charakterisierung oder Bezeichnung von Neuigkeit, sondern ihr eigentliches » Sein « als körperlich gewordene » Chiffre «. Eine moderne Ordnung als eine, die per definitionem immer nur gerade jetzt, also buchstäblich immer »  modern « ist, und in gleicher Form nie Bestand haben soll, gilt Serres als säkularisiert-symbolische Fassung von » Neuigkeit «, sofern sie buchstäblich nichts repräsentiert außer sich selbst – und dies nicht in referenzieller Weise, sondern in einer nur der abstrakten Symbolizität der Chiffre eigenen, weil sich selbst erzeugenden » Unmittelbarkeit « : nämlich operativ im Sinn von indefinit und maßgebend. In einer solchermaßen modernen Ordnung, als säkularisierte Form des Städtischen, darf kein ständisches Sein mehr eine Rolle spielen, sondern alle Gliederungen müssen im Fluss sein und sich in und durch die Fluktuationen ihrer Gerinnungen selbstständig an die erfolgten Veränderungen anpassen. So scheint in aller Konsequenz das Politische – als so etwas wie der formale Zustand von Neuigkeit (oder besser : seine formale Zuständigkeit) – von jeglicher Semantik eines Heilsversprechens befreit, und zwar genau aufgrund des Anspruchs, die Form dieses Versprechens in generischer Unverfälschtheit zu sein. Die Ordnung des Politischen muss sich nirgendwo anders als im formalen Körper dieses Politischen selbst, in dessen Kapazität und Können, verantworten und autorisieren. » Neuigkeit « wird damit zu einem öffentlichen politisch-ökonomischen Gut und stellt sich jedem theologischen Missbrauch zum Handel um das individuelle Seelenheil entgegen. Anders formuliert : Nur indem 5

14

Michel Serres, »  Anfänge «, S. 18.

Die Nachricht, ein Medium.

» Neuigkeiten « ihre Referenz auf ein individuelles Seelenheil im Jenseits verlieren, lässt sich mit ihnen das Versprechen auf eine allgemeine Erlösung im Diesseits gewinnen. Worin besteht aber nun der Widerspruch von McLuhans Medienbegriff zu solchen Vorstellungen ? Er ergibt sich (oder er ergibt sich nicht), je nachdem, wie man diesen Status einer Ordnung begreift, die nichts anderes repräsentiert als sich selbst. Wir haben vorgeschlagen, sie in dieser Eigenart als Chiffre zu sehen : Die Chiffre gilt als symbolischer Nullpunkt und Leere, das heißt, sie bietet einen neutralen Platz für jegliche Bestimmung. Aber was bedeutet das ? Heißt das zum Beispiel, dass erstens diese Neutralität ohne jegliche symbolische Determination ist, weil rein formal, oder dass sie zweitens auf jegliche Weise symbolisch determinierbar ist, weil (noch) nicht formal ? Bedenken wir, dass eine Form schlichtweg als Inbegriff von Regelmäßigkeit gelten muss, so lässt sich dieser Status einer Chiffre entweder als das unverfälscht Regelmäßige bestimmen (und zwar approximativpositiv oder differenztheoretisch via negativa) oder, prinzipiell mit gleichem Recht, als das schlichtweg Disparse (Ausbleiben von jeglicher Regelmäßigkeit). Vor diesem Hintergrund nun zurück zu McLuhan und seiner Auffassung, dass die Botschaften, die über Medien in der Zirkulation gehalten werden, in den Formaten bestehen, welche die Medien verkörpern und nicht in den Inhalten zu suchen seien, die sie gemäß unterschiedlicher Notationssysteme verschlüsseln und in verschlüsselter Form in Umlauf halten. Genau Letzteres aber wäre ihre legitime Rolle in einer politischen Ordnung, die sich allein aus ihren immanenten Fluktuationen ergibt : Medien müssten darin transparent, neutral und rein formal sein. Selbstverständlich sieht McLuhan, dass Medien tatsächlich »  Botschaften « in jenem Sinn von Transport und Transkription von Sinngehalt überbringen. Doch um sie kann es für die Perspektive einer Theorie von Medien in ihrer Allgemeinheit ihm zufolge nicht gehen. Vielmehr gelte es, darauf zu achten, dass Medien ihre eigentlichen Botschaften verkörpern und sich somit direkt als »  Veränderungen des Maßstabes, Tempus oder Schemas « in die Ordnungen einbringen, in denen sie die Zirkulation von immanent-erzeugten Inhalten gewährleisten.6 Medien fügen in der in ihnen eigentlich enthaltenen Botschaft » der menschlichen Situation « etwas hinzu, und zwar das Modulieren im Umgang mit Maßgabe. Zugespitzt formuliert heißt das : Medien verkörpern formatierbar gewordene Maßstäblichkeit. So wird McLuhan allgemein von den Medienwissenschaftlern das Verdienst zugesprochen, eine Wissenschaft der Medien von » äußerlichen Zuschreibung inhaltlicher oder instrumenteller Aspekte befreit zu haben, um so nämlich erst die historisch singuläre Zäsur der technischen 6

Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle, S. 18.

Einleitung

15

Medien angeben zu können, dank derer diese die ›Form des gesellschaftlichen Lebens‹ steuern «.7 Von dieser Zuschreibung wird die als autochthon postulierte Genese einer modernen politischen Ordnung nicht selbst infrage gestellt. Es wird lediglich den Medien eine steuernde Rolle der Lebensformen in einer solchen Ordnung zugestanden und überantwortet. Daher ist diese Entscheidung hinsichtlich des Status einer Chiffre, respektive einer Neutralität, für die sie steht, entscheidend. Gilt eine Chiffre als reine Regelmäßigkeit, als reine Formalität ohne Symbolisierungsgehalt, so loten Medien, indem sie Maßstäblichkeit nicht abstrakt-formal, sondern konkret-unmittelbar verkörpern, so etwas wie die »  Unbestimmtheitsdimensionen « beim Entziffern der Chiffre aus. Dabei kann diese reine Regelmäßigkeit gemäß der Chiffrendeutung sowohl positiv als auch negativ konzipiert sein – als reine Regelmäßigkeit, die nur partiell, im Negativen, gegeben ist (etwa bei Jacques Derrida). Oder sie ist als eine gegeben, die sich fortschreitend und zunehmend entziffern und in ihrer Unverfälschtheit offenlegen lässt (etwa bei Rudolf Carnap). Letzterem entsprechend operieren Medien dann für bewusstseinsstiftende Kommunikation als öffentliche Reflexionsorgane. In schematischen Grundzügen ist damit wohl in etwa jene Vorstellung artikuliert, wie sie sich aufgeklärte Menschen von gewöhnlichen Medien machen : Der Konflikt mit der autochthonen Verfassung moderner Ordnungslogik ist hier kein systemischer, er stellt sich höchstens über individuelle Eigeninteressen (Missbrauch) ein. Doch McLuhans Kriterium zur Bestimmung von Medien im Allgemeinen fällt bei diesem Verständnis von Medien unter den Tisch : Die Modulierbarkeit von Maßgabe, welche Medien nach McLuhan verkörpern und der Situation der Menschen hinzubringen, ist hier nichts den Medien eigentliches, sondern lediglich äußerliche Zuschreibung inhaltlicher oder instrumenteller Aspekte. Wie verhält es sich mit der Deutung von Chiffren als reine und formale Regelmäßigkeit, die nur spurenhaft und negativ gegeben sein soll ? Hier ergibt sich ein systemischer Konflikt insofern, als dass die Eigentlichkeit der Medien, Maßstab zu verkörpern, mit der Eigentlichkeit des Objektiven, maßgeblich zu sein, in ein kompetitives Verhältnis gerät : Dem, was als objektiv gilt, kommt eine Art kollektiv-legitimierter Subjektivität zu. Genau mit diesem subjektiven Charakter aber fordern Medien nun den rein formalen Status einer modernen Ordnung, die ihre Gestalt immer nur im 7

16

Hier sei stellvertretend genannt : Georg Christoph Tholen, »  Platzverweis. Unmögliche Zwischenspiele von Mensch und Maschine «, in : Norbert Bolz, Friedrich Kittler und Georg Christoph Tholen (Hrsg.), Computer als Medium, München 1994, S. 110–135, hier S. 114; vlg. zur allgemeinen Bedeutung, die McLuhan heute zugesprochen wird auch Derrick de Kerckhove, Martina Leeker und Kerstin Schmidt (Hrsg.), McLuhan neu lesen. Kritische Analysen zu Medien und Kultur im 21. Jahrhundert, Bielefeld 2008.

Die Nachricht, ein Medium.

Jetzt finden und in der es nichts Beständiges geben soll, unweigerlich heraus : Wenn die moderne Ordnung als rein formaler Zustand von Neuigkeit begriffen wird, wenn sie beansprucht, die Form des heilbringenden Versprechens in dessen generischer Unverfälschtheit zu sein, so impliziert dies, dass Neuigkeiten nur erscheinen mögen, ohne dass ihnen selbst ein Sein zugesprochen werden dürfte : Etwas Neues darf es nur scheinbar geben, wenn die Form von Neuigkeit selbst unverfälscht bleiben soll : Das ganze Spannungsfeld zwischen Phänomen und Ding, Fiktion und Realität, Illusion und Ideologie ergibt sich daraus und kann gewissermaßen als Motor von moderner Ordnung selbst begriffen werden – als das, was sie in ihrer »  apparatartigen « Form fortwährend antreibt und in Bewegung hält. Jedoch muss die Frage, wie eine solche »  Formatierung « überhaupt entsteht, aus dieser Perspektive ausgeklammert bleiben. In ihrer die Lebensformen steuernden Rolle fordern Medien also entweder den Glauben an das moderne Selbstverständnis heraus, falls die Konflikte auf missbräuchliche Eigeninteressen der Menschen zurückgeführt werden. Oder aber sie fordern die Logik dieses Selbstverständnisses heraus, indem die Bedingtheit einer modernen Ordnung (also die Formatierbarkeit, welche Medien verkörpern) nicht selbst befragt werden kann. In dieser Herausforderung der Logik solcher Ordnungsvorstellung kann man einen animierenden Motor von Modernität sehen. McLuhans Thematisieren der Formatierung von Lebensformen durch »  Maßstab, Tempus oder Schema « betrifft dann die Logik des Diskurses über Regelmäßigkeit und Ordnung (Kosmos), nicht die Logik von Regelmäßigkeit und Ordnung selbst. Dieses Thema nun aber lediglich reflexiv zu wenden, in Gestalt eines nie zur Rast kommenden diskursiven Korrektivs, kann die Mechanismen dieses Korrektivs (die medial artikulierten »  Maße « in Gestalt von »  Formaten «) nicht selbst zum Objekt kritischer Betrachtung machen, weil sich diese Reflexivität der gleichen Mechanismen bedienen muss, um sich auszudrücken. Erich Hörl hat in seiner Studie Die heiligen Kanäle. Über die archaische Illusion der Kommunikation (2005) das Thema der Symbole, welche in der Reflexivität und Entschlüsselbarkeit von Medienformaten tatsächlich am Werk sind, erneut in seiner zentralen Bedeutung für die Medientheorie offengelegt. Im autochthonen Selbstverständnis diskursiver Ordnungen entlarvt er eine heute noch weitgehend unbedachte, jedoch breit wirksame Tendenz, in welcher die ehemals als magisch apostrophierten Kanäle der Kommunikation (von denen noch McLuhan spricht8) über die Nichtthematisierung dieses Magieaspekts deswegen noch lange nicht ihren Status als heilige Kanäle abgelegt hätten. Dies sei erst der Fall, so Hörl, wenn wir uns selbst nicht mehr als Teil einer »  alphabetischen Kultur « 8

Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle.

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begreifen, sondern als den einer »  elektro-magnetischen Kultur «.9 Die Hauptachsen seines Arguments zeichnen die symbolische Verfassung der eigentlichen Technik der Kommunikationsmedien nach und halten daran fest, dass diese Symbole, welche Elektrizität und Informationstechnik ermöglichen, weder alphabetischer noch nomenklatorischer, sondern mathematischer und physikalischer Natur sind. Während aber die Physik für die objektive (säkulare) Wissenschaft als transzendente Referenz für das Mathematische galt, so hat sich dieses Verhältnis für die Physik des Elektromagnetismus verkehrt : Für die Quantenphysik ist das Mathematische transzendente Referenz geworden. Vor diesem Hintergrund gerät durch die neue Unmittelbarkeit zwischen Mathematik und Physik das Thema der Spiritualität erneut ins Innere einer als autochthon apostrophierten, selbst bewegten und selbst erzeugenden Ordnungslogik – wenn auch nun explizit wissenschaftlich gewendet als Intellektualität. Denn von solchem Charakter, selbst bewegt eine Logik zu erzeugen, welche die mit dieser Logik erzeugte Ordnung immer wieder zu rahmen vermag, kann nur dasjenige sein, was mit dem Unend­lichen verbunden ist : das Göttliche und das Mathematische. Wenn sich ein diskursives Korrektiv jedoch mit einem der beiden auf privilegierte Weise verbunden glaubt, kommt in das Zwischenspiel zwischen Maßgabe (der Chiffre) und dynamischer Modulierung von Maßstab (der Medien) der Aspekt der Anmaßung. Ein diskursives Korrektiv versteht sich selbst neutral und lediglich als animierender Motor für eine Ordnung, die rein aus dynamischer und dieser Ordnung immanenter Fluktuation hervorgeht; doch gerade in diesem Selbstverständnis gerät es über den in seiner postulierten Neutralität anmaßenden Charakter der von ihm vertretenen Intellektualität in einen korrumpierenden Widerspruch zu Modernität als Ordnung, die immer nur sich selbst ist. Anders formuliert : Eine Ordnung durch Fluktuation ist nur insofern zu kontrollieren, als dass die Autorität hinter dieser Kontrolle einen bestimmten aktuellen Status quo des Mathematischen zur transzendenten, symbolischen Ordnung erhöht und diese als »  neutral « deklariert. Damit jedoch kannibalisiert eine solche symbolische Ordnung notwendigerweise die Generik der politischen Ordnung : Im Sein der Neuigkeit wird nichts Neues mehr zugelassen. Damit sind wir bei der zweiten Weise, wie sich der Status einer Chiffre, in der Neutralität des Nullpunkts und der Leere, die sie markiert, begreifen lässt : nicht als reine Form (Regelmäßigkeit) ohne Symbolgehalt, sondern als jeglicher Symbolgehalt ohne Form. Die operativen Symbole der Algebra zeigen diesen Charakter, sie können für jeglichen Gehalt stehen und werden in ihrer Form erst mit dem Ausarbeiten der 9

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Erich Hörl, Die heiligen Kanäle. Über die archaische Illusion der Kommunikation, Zürich und Berlin 2005, hier zitiert vom Klappentext.

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Lösbarkeit einer Gleichung (oder eines Gleichungssystems) bestimmt. Solche »  Form « jedoch kann nie wie eine geometrische Form als elementar und unmittelbar gelten, sondern ist immer symbolisch verfasst. Während es bei der Perspektive der reinen Form Neuigkeit nicht geben darf, um den Erscheinungen der reinen – buchstäblich also unendlich mächtigen – Regelmäßigkeit in differierender Weise Ausdruck geben zu können, so verhält es sich bei der Perspektive, die davon ausgeht, dass dem Symbolischen in seiner Diskretheit jede Form fehlt, gerade umgekehrt : Neuigkeit erscheint nicht, sondern ist, und zwar, weil nur die formlose Diskretheit des Symbolischen eine »  Definition « von Neuigkeit ausdrücken kann, die ihren Gehalt nicht inhaltlich determinieren würde. So wollen wir die Formulierung von Serres verstehen : »  Die Idee der Ordnung durch Fluktuation ist nicht nur eine neue Idee, sie ist die Neuigkeit selbst, ihre Definition. «10 Auch diese Perspektive hält am Attribut » unendlich mächtig « fest, ansonsten könnte einer Ordnung, die immer nur sich selbst ist, weder die Möglichkeit zu lernen noch eine Entwicklung des Wissensmöglichen eingeräumt werden. Aber dieses Attribut wird nicht einer ideellen Regelmäßigkeit zugeschrieben, sondern den Weisen, wie sich aus der Diskretheit des Symbolischen regelmäßige Kontinuitäten (also objektive Formen) identifizieren lassen. Form wird hier zu einer Verträglichkeit in einer Art verteilter Elementarität, die wir das Disparse nennen : Jeglicher symbolisch markierbare Punkt, der in einer Form mit anderen Punkten verbunden werden, also in eine Linie gebracht und als Kontinuität herausgestellt werden soll, ließe sich im Prinzip mit jeglichem anderen symbolisch markierbaren Punkt verbinden. Die Vorstellung, welche die vorliegende Arbeit zu erörtern und zu verfolgen sucht, begreift mit Serres die Moderne als Sein von Neuigkeit und mit McLuhan die Medien als diejenigen Elemente, welche die Lebensformen in einer Ordnung, die immer nur sich selbst ist, zu steuern vermögen. Damit drängen sich erneut die inhaltlichen und instrumentellen Aspekte von den Botschaften der Medien in den Vordergrund. McLuhans Botschaften, als verkörpertes Modul zum Artikulieren von Maßgabe, so mein Vorschlag, wären besser als Nachrichten zu begreifen – als jene Nachrichten nämlich, welche in der Lage sind, das Sein von Neuigkeit (die moderne Gestalt des Städtischen) skandierend gleichermaßen nach-zu-richten wie vor-zu-prägen. McLuhans mediales Wirken der Botschaft – es führt zu Änderungen im Maßstab – artikuliert sich nämlich in den instrumentellen und inhaltlichen Aspekten von Medien, und zwar symbolisch : in einem Sinn, den wir vom Umgang mit Symbolen in der Mathematik kennen. Ein Gefühl für diese Mathematizität des Symbolischen können wir aus Michel Foucaults Formulierungen gewinnen : »  Wir sind «, so schreibt er, » in einem Moment, wo sich die Welt weniger als ein großes sich durch 10

Michel Serres, »  Anfänge «, S. 18.

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die Zeit entwickelndes Leben erfährt, sondern eher als ein Netz, das seine Punkte verknüpft und sein Gewirr durchkreuzt. «11 Damit seien wir » in der Epoche des Simultanen «, wir seien » in der Epoche der Juxtaposition, in der Epoche des Nahen und des Fernen, des Nebenei­ nander, des Auseinander «.12 Wenn wir die moderne, generisch-allgemeine Gestalt des Städtischen in ihrer mathematischen Disparsität begreifen, stellen diese Charakterisierungen weder eine Absurdität noch eine Illusion dar. Die Realität der verschiedenen technischen Infrastrukturen zur Zirkulation von Jeglichem, welche Foucault hier beschreibt, verdanken ihre manifeste Form allesamt der Mathematik, speziell der algebraisch-logistischen Verfasstheit der topologischen Struktur jener logistischen Netze. Anstatt eine Absurdität im Thema einer realen Simultanität herauszustellen, käme somit eine Absurdität in den Blick, welche die Vorstellung von einem Regelkreis selbst betrifft. Genauer formuliert bedeutet das : die Vorstellung, den Kreis – als Symbol für das Unendliche und Allumfängliche – über eine als generisch spezifizierte und ihm attestierte ideelle Regelmäßigkeit zu begreifen. Das Rationalisieren des Kreisumfangs (seine Quadrierung) hat eine ebenso lange Tradition wie das Vermessen seiner Fläche als Inhalt (seine Triangulierung), in welcher die Irrationalität des Messens offen zugestanden wird. Gleichwohl ist klar, dass die Genese der Mathematik in ihrer stets zunehmenden Mächtigkeit dank Abstraktion sich und ihre Fortschritte seit jeher dem Verfolgen genau dieser beiden Unmöglichkeiten verdankt. Das Postulat also, in einem Regelkreis wären Rationalität wie Irrationalität, Rechnen wie Messen gleichermaßen aufgehoben und zur Ruhe gekommen, heißt nichts weniger, als dass jene beiden für das Lernen doch so unendlich produktiven Unmöglichkeiten (Quadrierung des Kreisumfangs und Triangulierung der Kreisfläche) nicht mehr weiterverfolgt werden sollen. Damit wird das Lernbarmögliche zugunsten eines Status quo auf arbiträre Weise beschränkt. So betrachtet wird verständlich, warum wir, gerade um realistisch zu bleiben, die mathematischen Symbole auf eine kritische Distanz halten sollten. Kommen wir also auf die einleitenden Gedanken zur Geschichte der Genese des Städtischen zurück und wenden unseren Blick – trotz der enormen Herausforderung – nicht sogleich ab vom autochthonen Selbstbegründungsanspruch moderner politischer Ordnungen, sondern setzen hypothetisch und dem dargelegten Gedankengang folgend die Mathematizität als das symbolische Sein von Modernität. Folgen wir ferner Serres darin, Modernität über ihren Anspruch an Ordnung durch Michel Foucault, » Andere Räume «, in : Karlheinz Barck u.a. (Hrsg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder die Perspektive einer anderen Ästhetik, Leipzig 1990, S. 34–46, S. 5. 12 Ebenda. 11

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Fluktuation als Sein von Neuigkeit zu charakterisieren, indem die Medien die Fluktuation moderieren, einrahmen und maßregeln. Was bei McLuhan ein Wirken der Botschaft war, wird somit zu einem Wirken der Medien, welches sich im Sein von Neuigkeit entfaltet und dieses in dessen Ausdruck als Nachrichten skandierend erdenkt und formuliert. So betrachtet haben Nachrichten in generisch-selbstbezüglicher Weise am Sein von Neuigkeit teil und können als Schema und Ausdrucksform des stetigen Sich-selbst-Werdens moderner Ordnung gelten. Die Vorstellung also, von der diese Arbeit geleitet ist, betrifft die Möglichkeit einer Experimentalwissenschaft im Abstrakten. Sie folgt damit bis zu einem gewissen Grad den Vorstellungen einer materialistisch, respektive archäologisch ausgerichteten Medientheorie. Jedoch ist die Haltung der Autorin bestrebt, die in solcher Materialität oder Monumentalität gegebene Positivität nicht auf eine generelle Natur von diskursiver Geschichtlichkeit zu beziehen, die es in Archivarbeit als Bestand zu dokumentieren und zu sichern gilt, sondern auf eine Natur von Intellektualität, die es als städtische Architektonik zu charakterisieren gilt. Die Charakterisierung einer solchen Architektonik gäbe uns die symbolisch-algebraische Alphabetizität, in der sich das Städtische in seiner Allgemeinheit artikulieren lässt – generisch und in diesem Sinn modern, und dennoch an der Singularität ihrer Natur festhaltend. Im Zentrum einer solchen Architektonik stünde eine Theorie des Virtuellen, die jedoch bisher noch kaum anders denn als allgemeines Desiderat hat Gestalt annehmen können. Die Herausforderung einer solchen Theorie besteht darin, das Verhältnis zwischen den Kulturtechniken der Formalisierung und der Interpretation – oder anders gesagt : zwischen Rechnen und Schreiben – neu zu fassen. Ihr Erfolg hängt davon ab, einen Weg zu finden, die Universalität der algebraischen Symbole weder in der infiniten Mechanik des Arithmetischen aufzulösen, noch sie den Kategorien einer geometrisch oder begrifflich vermessenen Kosmologie unterzuordnen. Im Konzept des Virtuellen trifft, pointiert und in aller Kürze formuliert, das spirituelle oder theologische Problem der Unendlichkeit auf das Problem der zeichentheoretischen Referenz. Weit davon entfernt, die Perspektive einer medialen Architektonik irgendwie schlüssig, zwingend oder nur konsistent genug formulieren zu wollen, war es lediglich das Ziel der vorliegenden Arbeit, bestehende abstrakte Einstellungen zusammenzutragen, welche sich anbieten, als Herkunftslinien und Topoi einer medialen Architektonik charakterisiert und aufgegriffen sowie gegeneinander oder miteinander profiliert zu werden. Insgesamt vermögen diese gebündelten Linien, so die Hoffnung, das Risiko des eingangs erwähnten Sprungs – nämlich die Medienrealität im 21. Jahrhundert nicht primär auf epistemologische, rein historische und ästhetische oder direkt praktisch-politische Referenzebenen hin in den Blick zu nehmen, sondern sie in der Genese des Städtischen selbst zu ergründen – etwas zu entmystifizieren. Damit soll

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die tragende Rolle des Vorstellungsvermögens und der Wendigkeit im exakten Denken für eine städtische Architektonik plausibilisiert werden, um damit ihrer weiteren Entwicklung den nötigen Zuspruch wie auch die ebenso nötige ernsthafte Kritik zu sichern. Nachdem damit der allgemein thematische Horizont der vorliegenden Arbeit aufgespannt ist, sollen zwei Positionen aktueller Theoriebildung herausgestellt werden, welche für dieses Buch in besonderem Maße relevant sind : Foucaults archäologische Methode zu einer analytischen Geschichtswissenschaft unter dem Primat von unsteten und immer impliziten Machtdispositiven, aus denen heraus sich Dokumente in ihrem historischen Gehalt erschließen müssen, und Deleuze’ Bestreben, das Erbe der Philosophiegeschichte, welches Alfred North Whitehead provokanterweise als »  Sammlung von Fußnoten zu Platon «13 charakterisiert hatte, um einen Atomismus der Einbildungskraft zu bereichern. Als Ausgangspunkt gilt Foucault, so formuliert er in seiner Einleitung zu Archäologie des Wissens, dass sich die Vorstellung einer linearen Abfolge von Geschehnissen heute in ein »  Spiel von in die Tiefe gehenden Loshakungen «14 aufgelöst habe. Die Ebenen der Analyse hätten sich vervielfacht, »  jede hat ihre spezifischen Brüche, jede umfaßt einen nur ihr gehörigen Ausschnitt «.15 Foucault zufolge handelt es sich bei den »  Gegenständen « einer solchen Analytik, unter der Annahme eines ins Viele verteilten historischen Apriori, um »  architektonische Einheiten «,16 die nicht über eine Beschreibung objektivierbarer Einflüsse, der Traditionen, der kulturellen Kontinuitäten auszumachen seien. Historikern stünden mittlerweile neue Instrumente für ihre Analysen zur Verfügung, die ihnen Anschlüsse an das Paradigma empirischer Statistik ermöglichten : » Modelle wirtschaftlichen Wachstums, Mengenanalysen des Warenflusses, Kurven über die Zunahmen und den Rückgang der Bevölkerungsziffer, Untersuchungen des Klimas und seiner Schwankungen, Ermittlungen soziologischer Konstanten, Beschreibungen technischer Anpassungen, ihrer Verbreitung und ihrer Beständigkeit. «17 Nach Foucaults Methodik hat man es nicht mehr mit » Dokumenten « zu tun, die etwas Geschehenes » belegen «, sondern mit » Monumenten «, die etwas Geschehenes als Geschehendes konstituieren. Die Begriffe Wachstum, Fluss, Zunahme und Schwankung verweisen direkt auf die Änderung in der Zeit. Der hauptsächliche Unterschied dieser sprachlichen Neuerung (Dokumente als Monumente zu begreifen) besteht darin, dass sich die foucaultschen Monumente immer nur aus einer diesen Denkgebäuden immanenten Perspektive beschreiben lassen. » Man könnte, wenn man etwas mit den Worten 13 Alfred North Whitehead, Process and Reality, New York 1992 [1929], S. 39. 14 Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 1981 [1969], S. 9. 15 Ebenda. 16 Ebenda, S. 12. 17 Ebenda, S. 9.

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spielte, sagen, daß die Geschichte heutzutage zur Archäologie tendiert – zur immanenten Beschreibung von Monumenten. «18 Eben diese nicht hintergehbare Innenperspektive der historischen Analyse ließ ihn seine Methodik am Modell des mathematisch-naturwissenschaftlichen Differenzierens und Integrierens entwickeln. Ausschlaggebend für die Adäquatheit einer Beschreibung ist somit, dem Vorgehen wissenschaftlicher Experimente analog, die Stabilität der empirisch entdeckten »  internen Kohärenzen, die sich aus den postulierten Axiomen, den daraus ableitbaren deduktiven Ketten «19, und den so erschließbaren Kompatibilitäten der » messbaren « Partikularien ergibt. Diese Partikularien gelten Foucault als » architektonische Einheiten «, und er nennt sie architektonisch, weil für ihre Analyse, wie er sagt, weder objektive Referenz noch subjektiv » das Gefühl oder die Sensibilität einer Epoche, nicht die ›Gruppen‹, ›Schulen‹, ›Generationen‹, oder ›Bewegungen‹, nicht die Gestalt des Autors im Spiel des Austausches, das sein Leben und seine ›Schöpfung‹ verknüpft hat, sondern die einem Werk, einem Buch, einem Text eigene Struktur als Einheit nimmt «.20 Das Problem betreffe nicht mehr die Tradition und Spur, so fährt er fort, sondern den Ausschnitt und die Grenze : » Es ist nicht mehr das Problem der sich perpetuierenden Grundlage, sondern das der Transformationen, die als Fundierung und Erneuerung der Fundierungen gelten. «21 Foucault beginnt damit, Historizität in der Form moderner Ordnung, die wir als Sein von Neuigkeit charakterisiert haben, zu erörtern. Deshalb möchten wir vorschlagen, in seinen architektonischen Einheiten das Wirken der Medien aufzuspüren, indem wir diesen Einheiten den Status von Nachrichten zuschreiben. Das ist bei Foucault so nicht explizit angelegt, aber es scheint trotzdem seinem eigenen Verständnis recht nahezuliegen – charakterisiert er doch das Feld von Fragen, welches es durch seine archäologische Analyse architektonischer Einheiten eröffnet, in deutlich formatorientierter, medientheoretischer Sprache : » Wie soll man die verschiedenen Begriffe spezifizieren, die das Denken der Diskontinuität gestatten (Schwelle, Bruch, Einschnitt, Wechsel, Transformation) ? Nach welchen Kriterien soll man die Einheiten isolieren, mit denen man es zu tun hat : Was ist eine Wissenschaft ? Was ist ein Werk ? Was ist eine Theorie ? Was ist ein Begriff ? Was ist ein Text ? Wie soll man Abwechslung in die Niveaus bringen, auf die man sich stellen kann und von denen jedes seine Skansionen und seine Form der Analyse besitzt : Welches ist das angemessene Niveau der Formalisierung ? Welches das der Interpretation ? Welches das der strukturalen Analyse ? Welches das der Kausalitätsbestimmung ? «22 Foucault selbst hat die Stimme, der 18 Ebenda, S. 15. 19 Ebenda, S. 12. 20 Ebenda. 21 Ebenda. 22 Ebenda.

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in solcher Analytik zugehört wird, als die unpersönliche Stimme eines » Murmelns der Diskurse «23 bestimmt. Wir wollen vorschlagen, in dieser Stimme nicht den kontinuierlichen Hintergrund eines anonymen Murmelns zu vernehmen, sondern das beständige und überbordende Nachrichten einer Vielzahl von singulären Stimmen, welche alle zusammen in ihren je diskreten Weisen den Quantenstatus einer generischen Stimme ausdrücken, in der sich die moderne Allgemeinheit von Ordnung als das Sein von Neuigkeit fortlaufend selbst autorisiert. Diese generische Stimme drückt sich in mathematischen Ordnungen aus, in denen sich das Sein von Neuigkeit in Nachrichten vermittelt : in der Technizität der Kommunikationskanäle und in medialen Formaten ebenso wie in den Gestaltungen jeglicher Artefakte. Damit kommen wir zur einleitenden Darstellung der zweiten theoretischen Position, welche für die vorliegende Arbeit als wegweisend gelten muss : jene von Gilles Deleuze. Dieser hat mit seinem Atomismus der Einbildungskraft auf einen philosophischen Idealismus von Problemen hingearbeitet, welcher es erlaubt, wie hier ausgeführt werden soll, Historizität als Virtualisierung von Dialektik zu begreifen. Darin sehen wir erste Hinweise, wie sich die Modalität dieses Seins, des Seins von Neuigkeit, begreifen ließe. Deleuze postuliert ein Element des Ideellen, welches er das »  Problematische « oder auch das » Informelle « nennt. Um dieses Element zu denken, so schlägt er vor, gelte es, die Figur des Widerspruchs mit jener des mathematischen Differentials zu prozeduralisieren.24 Deleuze verabschiedet sich damit von der Vorstellung, dass sich eine Realität des Historischen unmittelbar erschließen ließe; für ihn lässt sich diese Realität in ihrer Objektivität nur auf einer Bühne des abstrakten Denkens begreifen. Deleuze bindet seinen Begriff von Realität damit an einen eminent praktischen Begriff davon, was es heißt, denkend zu sein : Es geht bei der Vorstellung von Realität nicht darum, ob sie richtig oder falsch, adäquat oder inadäquat repräsentiert sei, sondern wie reduziert oder reichhaltig an Differenziertheit sie sind. Dabei geht es nicht darum, Realität subjektiv als immer schon relativ zu begreifen, sondern als unterschiedlich gesättigt an generischer Objektivität. In der Konsequenz eines solchen praktischen Begriffs von Denken schlägt Deleuze eine Neubesetzung der Rollen in der Dramaturgie von Historizität vor : Differenz soll nicht in erster Linie das epistemologische Primat von logischer Identität brechen. Vielmehr soll sie die das 23 24

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Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt am Main 1991, S. 32. » Wir stellen Nicht-A dx gegenüber, und entsprechend dem Symbol des Widerspruchs das der Differenz […] – und ebenso der Negativität die Differenz an sich selbst. Freilich sucht der Widerspruch die Idee seitens der größten Differenz, während das Differential Gefahr läuft, in den Abgrund des unendlich Kleinen zu stürzen. Das Problem ist damit aber nicht richtig gestellt : Es ist falsch, den Wert des Symbols dx mit der Existenz der Infinitesimalen zu verbinden; aber es ist ebenso falsch, im Namen ihrer Ablehnung jenem Symbol jeglichen ontologischen oder gnoseologischen Wert zu verweigern. « Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, München 1992 [1968], S. 220.

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Denken bannende Vorstellung einer Realität des Negativen, welche jedes Vorhaben beherrscht, mit dem Primat logischer Identität zu brechen, entmachten. Differenz soll dem logischen Denken eine Virtualität des Reellen erschließen, die in ihrer symbolisch-mathematischen Natur als gleichermaßen unbestimmt wie bestimmbar zu gelten hat. Konkret schlägt Deleuze vor, wie später genauer ausgeführt werden wird, das nicht-A zu ersetzen durch die algebraische Formulierung des dx als symbolische Form eines Verhältnisses, welches von den Termen, in denen es sich konkret instanziiert, herausgelöst betrachtet werden kann. Das Anliegen von Deleuze’ Philosophie ist deutlich verwandt mit jenem Foucaults, nämlich die Genese von Struktur verstehen zu lernen. Dafür, so legen beide nahe, muss das Verhältnis von Formalisierung und Interpretation reziprok gedacht werden, in der das eine das andere immer wieder zu neuer Mächtigkeit erhebt. Deleuze hat als vermittelndes Element in dieser Dynamik einen Atomismus der Einbildungskraft angenommen : Das Atom gilt ihm nicht als kleinster gemeinsamer Nenner, in dessen Element sich alles universell und völlig ohne Angleichung oder sonstiges Zutun entsprechen würde. Vielmehr sei das Atom » dasjenige, was nur gedacht werden kann «.25 Das Atom als Referenz für Ähnlichkeit lässt sich in seiner Struktur nicht bloßlegen, sondern muss im Denken selbst erzeugt werden. Darin aber ist es nicht weniger reell : Für Deleuze gibt es eine Natur des Denkens, die ebenso schöpferisch ist wie die physikalische Natur und die ebenso wie diese Gegenstand von mathematischer Analyse und Synthese sein kann. So entwickelt er seine Philosophie denn auch als einen »  fantastischen Mathematismus «26, mit welchem, wie wir nahelegen möchten, Serres’ Modell von Ordnung, als das Sein von Neuigkeit-im-Allgemeinen, eine mediale Architektonik auszurichten imstande wäre. Wissenschaftliches Verstehen, Erforschen und Gestalten in diesem Sinne würde sich nicht unmittelbar als Natur-, ­Technik-, Kultur- oder Geisteswissenschaft begreifen lassen, sondern müsste sich primär als Wissenschaft des Städtischen verstehen und sich aus einer Natur von Intellektualität im Allgemeinen verpflichten. Die vorliegende Arbeit gliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil Virtualität und Medialität erfolgt weniger eine Argumentation für eine bestimmte Perspektive als eine einführende Darstellung der größeren Problematik, innerhalb derer Medien als Medien überhaupt ein eigenständiges Thema geworden sind. Das erste Kapitel widmet sich der Genealogie des Konzeptes von Medialität, welches im medienwissenschaftlichen Diskurs eng mit demjenigen der Virtualität verknüpft ist. Im zweiten Kapitel wird der Prozess der technischen Informatisierung als kulturgeschichtliche Wendezone beschrieben, welche den cartesi­anischen Dualismus von ausgedehnten Dingen (Res Extensa) und Dingen, die nur denkbar sind 25 Ebenda. 26 Ebenda.

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(Res Cogitans), in eine Krise drängt. Und im dritten Kapitel wird das Problem des Verhältnisses von Information und Zeichen aufgegriffen und anhand der Frage nach der Referenzialtät von Zeichen diskutiert. Insgesamt werden so unterschiedliche Verzweigungen innerhalb der aktuellen medienwissenschaftlichen Literatur skizziert und einführend erläutert. Im zweiten Teil Formen und Strukturen von Integrabilität wird das heute apostrophierte mediale Apriori in den kulturgeschichtlich umfassenderen Zusammenhang einer ganzen Genealogie von konkurrierenden Apriori gestellt. Im Kapiel Virtualität und Konstruktionsform erfolgt der Vorschlag, die mit diesen Apriori jeweils assoziierten Denkformen vor dem Horizont eines philosophischen Verständnisses von Virtualität als so etwas wie » Konstruktionsformen « zu begreifen, welche genuin theoretische Anschaulichkeit ermöglichen und so Medienwissenschaft als eine praktische Komparatistik orientieren könnten. Im Kapitel Zum Topos der Begrenzung greifen wir die Grundannahme von Foucault auf, dass es in der Auseinandersetzung mit Historizität heute, mehr als um alles andere, um Ausschnitte und Grenzen gehen muss. Dieses Kapitel widmet sich mit perspektivierendem Gestus und einem analytisch-archäologischen Blick einigen Formen und Strukturen von Integrabilität und den damit assoziierten Topoi von Begrenzung. Im Kapitel Funktion, Sinn und Form wird das von Deleuze philosophisch gefasste Differential in seiner mathematikgeschichtlichen Herkunft eingeführt und in seiner Eingliederung in den philosophischen Horizont kontextualisiert. Abschließend erfolgt eine Diskussion, inwiefern der für Deleuze’ Differentialphilosophie konstitutive Begriff des Virtuellen eine Orientierung verspricht hinsichtlich jener Selbstbezüglichkeit und scheinbarer Unbegründbarkeit, wie sie mit dem Aufkommen moderner Ordnungsvorstellungen und ihrer jüngeren Instanziierung in den diversen logistischen Netzwerken einhergehen. Im dritten und letzten Teil werden die beiden Perspektiven des ersten und zweiten Teils hinsichtlich des scheinbar unauflösbaren wie auch in absoluter Weise unbegründbaren Verhältnisses von Theorie und Synthese zusammengeführt und vor dem fantastisch-spekulativen Horizont einer Virtualisierung von Dialektik erörtert. Hier erfolgt die medientheoretische Diskussion von Themen rund um das Paradigma von logistischen Netzwerken, probabilistischen Analysen und Modellierungen, kalkulierbaren Simulationen und bildgebenden Rendering-Verfahren. Das Buch schließt mit einem Vorschlag, wie sich ein generischer Begriff von Medialität fassen ließe : als abstraktes Differential von Zeichensituationen-im-Allgemeinen – das heißt Zeichensituationen in einen unendlich reichen Zusammenhang gebracht, dessen Charakterisierungen sich experimentell analysieren und formal explizieren lassen. Hier werden die eben dargelegten Gedanken zur Genese des Städtischen und insbesondere zu deren gegenwärtiger Form als generische

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Die Nachricht, ein Medium.

Urbanität (das Städtischen im Allgemeinen) noch einmal aufgegriffen. Ein generischer Begriff von Medialität müsste, so soll nahegelegt werden, mit der generischen Form des Städtischen nicht länger in einem konsumtiven Widerspruch stehen. Beide könnten sich reziprok in einer Entwicklung bedingen, die singulär, unbestimmt und offen ist, ohne bedingungslos zu sein – das heißt in einer Entwicklung, die zugänglich wäre für Kritik. Wir hatten insistiert, dass auch die generische Form des Städtischen die Singularität des Städtischen nicht preisgeben sollte, und vorgeschlagen, das Reale dieser Singularität in einer Chiffre verkörpert zu sehen. Die Möglichkeit einer unbestimmten und offenen Entwicklung, die dennoch nicht bedingungslos wäre, hängt davon ab, das Reale, welches diese Chiffre verkörpert, weder unmittelbar noch unkritisch und fantasielos-schematisch zu erörtern, charakterisieren und bestimmen zu suchen. Stattdessen gilt es, das Reale (symbolisch gefasst als Chiffre) auf der Bühne eines Denkens zu thematisieren, das sich seiner notwendigen Abstraktheit (besser wäre : » Abstraktivität «) kritisch bewusst ist und weiß, dass Ideenreichtum und Realitätsgehalt sich für eine gegenseitige Entsprechung in Form bringen müssen, bevor sie etwas miteinander zu tun haben können.

Einleitung

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I Virtualität und Medialität

I.I. Zur genealogie des Medialen 30 · Medien als archimedischer punkt unserer Weltverhältnisse ? 32 · Virtualität und die Frage nach dem Konstitutivem von Medien 43  —  I.II. Informatisierung als kulturgeschichtliche Wendezone 57 · Zur Notwendigkeit einer Radikalisierung des kritischen Programms 57 · Das Problem der Rahmung eines erweiterten Prinzips der Verfügbarkeit 58 · Grenzen einer phänomenologischen Ontologie 66  —  I.III. Aufs Neue : die Frage nach der Referenzialität von Zeichen 72 · Die Begründbarkeit von Information im Element des Symbolischen 72 · Die theoretische Neugierde 79 · Räumliches Denken – Codieren eines Aussen nach Übereinkunft 86  —  Zusammenfassung 93

I  Virtualität und medialität

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I.I.

zur genealogie des medialen »  Obwohl das Klima des Zögerns und Zweifelns intellektuell ehrlicher ist als das Engagement und der Fanatismus, sind beide in Wirklichkeit Attitüden einer Verzweiflung. Sie bezeugen beide den Verlust des Glaubens an den Intellekt, ohne die nihilistische Stimmung positiv zu überholen zu versuchen. Das ist die Situ­ation der heutigen Philosophie. «27

Seit den Anfängen der Philosophie folgt die Notwendigkeit, theoretisch etwas zu begründen, den gelebten technischen Vollzügen und projizierten Potenzialen. Davon sind die gegenwärtigen Bemühungen um Erkenntnisse aus medientheoretischer, medienwissenschaftlicher oder medienphilosophischer Perspektive nicht ausgenommen. Seit jeher erscheinen deshalb im Raum der Theorie immer wieder ähnliche, wenn nicht sogar die immer gleichen Fragen, die an die in ihren Potenzialen allerdings technisch geänderte und in gewisser Weise immer auch neu erfundene Welt gerichtet und beantwortet werden wollen.28 Offensichtlich leben wir heute in einer Welt, die sich auf eine andere Weise medialisiert oder mediatisiert zeigt, als dies für frühere Lebenswelten der Kulturgeschichte der Fall war. Doch wie genau ? Und was ist an der medialen Verfasstheit, in der sich die Welt uns heute zeigt, neu oder strukturell verändert ? Es besteht zweifellos ein breiter Konsens darüber, dass der Einsatz des Computers als Modellierungs- und Simulationsmaschine im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einer neuen epistemischen, logischen und ontologischen Konstellation geführt, die den Übergang von einer Wissenskultur der Repräsentation zu einer neuen Wissenskultur befördert, deren Konturen sich gerade erst abzuzeichnen beginnen. Dies bedeutet nichts weniger als den Auszug aus der relativ lang andauernden, mit dem Abendländischen koextensiven, platonischen Verfassung hinsichtlich dessen, was wir wissen können : Für diese galt die Rolle des Technischen selbst, im Prozess der Wissensgewinnung, als neutral und transparent. Im heute entstehenden Bewusstsein der medialen Verfasstheit von Erkenntnisgewinn und Wissen werden wir in gewisser Weise auf die sophistische, platonische Gründungsszene zurückgeworfen, welche eine genuin a-technische épistéme als Hauptschauplatz des philosophisch-wissenschaftlichen Programms 27 28

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Vilém Flusser, Vom Zweifel, Berlin 2006, S. 13. Wie Borges jedoch bereits am Beispiel von Franz Kafka für die Literatur formuliert, muss man sich beim Zurückblicken aus den neu eroberten Aussichtsplattformen davor hüten, allenthalben Vorläufer zu entdecken. Vgl. Jorge Luis Borges, »  Kafka und seine Vorläufer «, in : ders., Gesammelte Werke, Band 5/2 : Essays 1952–1979, München 1981, S. 114–117.

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hervorgebracht hatte.29 Diese war im Kern eine Bewegung gegen das rhetorische Verfügen über den Logos durch reine Kunstfertigkeit, die Platon den von ihm so benannten Sophisten vorwarf. Entsprechend bringt Isabelle Stengers die heutige Situation zutreffend auf den Punkt, indem sie davon spricht, dass »  die Macht des Computers als Simulationsinstrument […] unter den Wissenschaftlern eine neue Spezies [hervorbringt], die man ›neue Sophisten‹ nennen könnte, Forscher, deren Engagement sich nicht mehr auf eine Wahrheit bezieht, welche die Fiktion zum Schweigen bringt, sondern auf die Möglichkeit, die mathematische Fiktion zu konstruieren, durch die jedes beliebige Phänomen reproduziert werden kann «.30 Vor diesem Hintergrund steht erneut zur Debatte, welche Begriffe, Konzepte und Denkformen bereitstehen oder zu entwickeln sind, um sich orientieren zu können. Durch welche medialen Bedingungen ist unsere Möglichkeit zu wissen geprägt ? Wie spricht man angemessen über Medialität als dem » eigentlichen Ort der Uneigentlichkeit « ?31 Das Mittel der Wahl zur Erkundung solcher Fragen scheint zunächst sinnvollerweise in Foucaults archäologischem Geschichts- bzw. geschichtlichem Strukturverständnis zu liegen. Denn dieses versucht in beispielhafter Weise zu respektieren, dass Umbrüche im Bereich des Medialen kulturgeschichtlich nichts Neues sind, und dass man sich genau deswegen bei einer Betrachtung der historischen Entwicklung davor hüten muss, nach so etwas wie stammesgeschichtlichen oder erbrechtlichen Vorläufern des Heute zu suchen. Postulierte man eine solche Kontinuität, würde man notwendigerweise eine gewisse Teleologie implizieren, und das hieße, mit Foucault gesprochen, sich auf ein » verspätetes Spielchen von Historikern in kurzen Hosen « einzulassen, denen es darum gehe, » in der großen Anhäufung des bereits Gesagten den Text herauszusuchen, der ›im vorhinein‹ einem späteren Text ähnelt, herumzustöbern, um in der Geschichte das Spiel der Vorwegnahmen oder der Echos wiederzufinden, bis auf die ersten Keime zurückzugehen oder bis zu den letzten Spuren hinabzusteigen […]. «32 In der Folge von Gaston Bachelard, George Canguilhem und Michel Serres entwirft Foucault eine Methode, die » mehrere Vergangenheiten, mehrere Verkettungsformen, mehrere Hierarchien der Gewichtung, mehrere Determinationsraster, mehrere Teleologien für ein und dieselbe Wissenschaft entsprechend den Veränderungen ihrer Gegenwart erscheinen lassen «.33 Ein Mittel um der Falle zu entgehen, Geschichte als fortschreitende Verfeinerung und 29 30 31 32 33

Vgl. Hans Blumenberg, »  Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie «, in : ders., Wirklichkeiten, in denen wir leben, Stuttgart 1996, S. 7–54. Isabelle Stengers, Die Erfindung der modernen Wissenschaft, Frankfurt am Main 1997, S. 209. Georg Christoph Tholen, Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen, Frankfurt am Main 2002. Michel Foucault, Archäologie des Wissens, S. 205. Ebenda, S. 11.

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als ständig wachsende Rationalität zu begreifen, liegt darin, das Element mathematischer Analytik, das Differential, für den geistesgeschichtlichen Kontext zu übersetzen. Mit dem Konzept des » Referentials « für die Interpretation kulturgeschichtlicher Tektonik – als Theorem welches nicht bestimmte Annahmen repräsentieren soll, sondern in der Analyse als Mathem zur Anwendung gebracht werden soll – hat Foucault in besagter Methode der archäologischen Analytik diesen Ansatz nutzbar gemacht. Denn von einem medialen Apriori aus gedacht formiert sich kulturgeschichtliche Tektonik über Deduktion ebenso wie über Konstruktion, über Logik wie über Fantasie, über Interpretation wie über Formalisierung. Foucault zufolge handelt es sich bei den » Gegenständen « einer solchen Analytik um » architektonische Einheiten «, für die nicht eine Beschreibung der Einflüsse, der Traditionen, der kulturellen Kontinuitäten zutreffend sind, sondern die internen Kohärenzen der Axiome, der deduktiven Ketten, der Kompatibilitäten.34 Deshalb liegt ein Hauptinteresse der vorliegenden Arbeit genau darin, die spezifischen Vorzüge jenes strukturellen Referenzrahmens des Differentials, respektive des Referentials als missing link einer Theorie des Virtuellen zu plausibilisieren. Eine solche Theorie will der platonischen Tradition, und der damit einhergehenden transparent-Setzung der Rolle des Technischen, entgegenhalten, dass dieser immer eine mediale Verfasstheit zugrunde liegt, die es in den theoretischen Raum der Philosophie selbst hineinzufalten gilt. Wie Foucault vertraut auch Gilles Deleuze mit seinem Begriff der Virtualität auf eben jenes Potenzial einer mathematischen Analytik. Ein Großteil der folgenden Untersuchungen wird demnach darauf zielen, einen Begriff von Virtualität in der Folge von Deleuze als konstitutiv für den Bereich des Theoretischen zu postulieren. Damit soll eine Ausgangslage erkundet werden, mit der die gegenwärtige Philosophie sich vis-à-vis der besagten Herausforderungen, die mit einer Absage an die Wissenskultur der Repräsentation einhergehen, unter medialen Vorzeichen neu bestimmen könnte. Medien als archimedischer Punkt unserer Weltverhältnisse ? Schon Friedrich Nietzsche war die Beziehung des alteuropä­ ischen Schauplatzes des Wissens zu seinen eigenen Bedingungen auf besondere Weise ein wichtiges Anliegen. Indem er einen »  umgedrehten Platonismus «35 postulierte, kritisierte er die antike Tradition mit dem Vorwurf, dass diese ihren eigenen Status als Bild noch nicht zu denken vermocht hätte.36 Die Umwendung des Platonismus, von der in 34 35 36

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Ebenda, S. 12ff. Friedrich Nietzsche, Kleinoktav Gesamtausgabe I–XVI, Leipzig 1898ff., Band 9, S. 190. Georg Christoph Tholen, »  Der Verlust (in) der Wahrnehmung – Zur Topologie des Imaginären «, in : Texte. Psychoanalyse. Ästhetik. Kulturkritik, Heft 3, Wien 1995, S. 46–75, hier S. 46.

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der Folge von Nietzsche über Martin Heidegger bis zu Deleuze die Rede ist, postuliert diese als Aufgabe der Philosophie im Sinne des Anfangs eines »  neuen « Denkens, einer noch fremden »  Rationalität «. Ob das philosophische Denken heute – trotz der diversen, jüngst diagnostizierten, Cultural Turns37 – in dieser Frage weitergekommen ist, scheint zumindest noch ungewiss. Auf jeden Fall aber dreht es sich sehr viel häufiger um Bilder und andere Möglichkeiten zum Zwecke der Vermittlung, um mediale Darstellungs- wie Aufschreibsysteme wie auch deren interne Prinzipien und Logiken generell. Alle Welt sei medial geworden, schreibt Hugo Ball während des Ersten Weltkriegs. In aller Konsequenz dessen, was dieses frühe Votum von Ball impliziert, scheint denn die Kulturgeschichte insgesamt als Mediengeschichte neu gefasst werden zu müssen.38 Folgt man dem Stellenwert der damit ebenfalls herbeigerufenen Begriffe wie Information, Kommunikation, Vermittlung et cetera, erscheinen Medien zum archimedischen Punkt unserer Weltverhältnisse erklärt.39 Diese Zuschreibung allerdings bringt Medien in eine Genealogie von Konkurrenzbegriffen ein, die zumindest seit der neuzeitlichen Philosophie der Aufklärung eben diese Rolle als Ankerpunkt des Menschen im Unendlichen zu spielen beanspruchen : Technik, Rationalität, Vernunft etwa sind andere Begriffe, von denen man einst dasselbe gefordert hatte.40 Doch die Medien haben noch andere Vorgänger, die weiter zurückreichen als bis zur Aufklärung : In all ihren Bemühungen um eine konsistente Erzählung über stabile Weltverhältnisse, kurz gesagt, um eine erträgliche Metaphysik angesichts der menschlichen Endlichkeit, haben unsere Vorgänger ätherische Wesen wie Engel, Götterboten und Musen, mythische Figuren als Gesandte der einen oder anderen transzendenten Ordnung für alle Arten von Inspirationen und Eingebungen aus der Unendlichkeit eines Außen zur Sphäre menschlichen Wollens, Vgl. Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns : Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Berlin 2006. 38 So lautet zumindest eines der strukturellen Argumente von Peter Sloterdijks groß angelegter Sphärentheorie : Peter Sloterdijk, Sphären I–III, Frankfurt am Main 1998–2004. 39 In diesem Sinne argumentiert auch Hartmut Winkler in seinem Aufsatz »  Die magischen Kanäle, ihre Magie und ihr Magier « (2008) : »  Wenn von einem ›medialen Apriori‹ die Rede ist, von dem alles abhängt, was als gesellschaftliche Realität vorzufinden ist, so wird, auch wenn es sich hierbei um ein ›historisches Apriori‹ handelt, der Stier bei seinen metaphysischen Hörnern gepackt. Medientheorie hat den archimedischen Punkt gefunden, von dem aus zumindest ›das Wissen‹ re- und dekonstruiert werden kann, und dies gerade dann, wenn die Argumentation, was die Oberfläche angeht, ganz und vollständig im Materiellen verbleibt. « Zitiert aus : ders., »  Die magischen Kanäle, ihre Magie und ihr Magier «, in : Derrick de Kerckhove, Martina Leeker und Kerstin Schmidt (Hrsg.), McLuhan neu lesen. Kritische Analysen zu Medien und Kultur im 21. Jahrhundert, Bielefeld 2008, S. 158–169, hier S. 161. 40 Edmund Husserls Kritik hat bereits für die rationalistisch-objektivistische Logik nachgewiesen, dass diese ohne eine Transzendierung des Subjektes in einer Verendlichung resultiert. Helmuth Vetter (Hrsg.), Krise der Wissenschaften – Wissenschaft der Krisis ? Wiener Tagungen zur Phänomenologie. Im Gedenken an Husserls KrisisAbhandlung (1935/36–1995), Reihe der Österreichischen Gesellschaft für Phänomenologie, Band 1, Stuttgart 1998. 37

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Denkens, und Tuns verantwortlich gemacht.41 Im Gegensatz zu diesen frühen Vorgängern allerdings fixiert ein archimedischer Punkt diese Möglichkeit auf weltliche Weise. Das heißt, solche Eingriffe werden nicht ihrem Sinn gemäß interpretiert und erklärt, sondern in ihrem Geschehen möglichst kultivierbar gemacht, vielleicht im Gestus nicht unähnlich einer Urbarmachung unfruchtbaren Gebietes in der Landwirtschaft. Der Sage nach hat der griechische Naturforscher Archimedes 212 vor Christus seine Heimatstadt gegen die Römer zu verteidigen gewusst, indem er mit der Kraft der Sonnenstrahlen deren Schiffe vom Ufer aus in Brand gesetzt hat. Archimedes gilt ferner als Entdecker der Hebelgesetze, dem der Ausspruch zugeschrieben wird : »  Gib mir einen festen Punkt, dann hebe ich die Welt aus den Angeln ! « Einen solchen Punkt allerdings scheint es als einen prinzipiellen nicht zu geben, zumindest nicht in einem absoluten Sinn. Und trotzdem ließe sich wahrscheinlich, ohne große Strapazen auszulösen, sagen, dass die zivilisatorische Kultur von Anbeginn an auf der Suche nach genau diesem festen Punkt sei. Bemerkenswert ist dazu eine Äußerung von Hans-Dieter Bahr über das Ärgernis, welches die Geschichten des Barons von Münchhausen für das Selbstverständnis der Aufklärung darstellt : » Aber ist es nicht merkwürdig, dass genau derjenige jeden Anschluss verpassen soll, der da im Namen der Aufklärung und Autonomie sich ›rein aus eigener Kraft‹ aus der Misere hilft ? Wird da nicht ›Münchhausen‹ zum Pseudonym gut verdrängter ›Gegenwunschbilder‹, nämlich der Angst, den Rockzipfel der Mutter Natur zu verlieren ? «42 Ausgehend von den aus der Mechanik verallgemeinerten Erkenntnissen des Archimedes zu einem unterschiedlich zuschreibbaren »  symbolischen Ort « bietet sich eine Interpretation jenes nun den Medien zugeschriebenen Status an : Der kulturgeschichtliche Zusammenhang, in dem die gegenwärtige Aufmerksamkeit für Medien zu verorten ist, hat mit den Elementarverhältnissen von dem zu tun, was wir Welt nennen. Will man sich also den programmatischen Fragen, die sich aus der Zuschreibung dieses symbolischen Ortes an die Medien ergeben, in prinzipieller Hinsicht zuwenden, erscheinen diese als außerordentlich schwierig : 41

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Genau daran will die deutsche Philosophin Sybille Krämer in ihrem jüngsten Buch anknüpfen : Medium, Bote, Übertragung. Eine kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt am Main 2008. Sie distanziert sich damit von einer Grundüberzeugungen aktueller Medienforschung, nach der das Medium selbst, wie McLuhan formulierte, die Botschaft sei. Demgegenüber plädiert Krämer in neoplatonischer Tradition für eine Auffassung des Mediums als transparent : Das Medium trete hinter die Botschaft, die es übermittelt, zurück und belasse diese unbefangen. Vgl. für den älteren Vorschlag einer » Angelologie als Lehre von den Engeln und dem Austausch von Botschaften « von Michel Serres, La légende des anges, Paris 1993. Anders als Krämer versucht Serres nicht, in eine Transparenz des Technischen zurückzuführen, sondern er sieht das Wertvolle einer Lehre von den Engeln, um über Medialität nachzudenken, gerade in deren Status als Legenden. Hans Dieter Bahr, » Über den Humor der Metaphysik. Oder : Die Kunst eines gewissen Freiherrn von Münchhausen «, in : ders., Der babylonische Logos. Medien, Zeiten, ­Utopien, Wien 2005, S. 175–185, hier S. 179.

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Denn es gälte dafür, einen handhabbaren Begriff jener Symbolizität zu erlangen, welche den archimedischen Punkt außerhalb der empirischen Ordnung von Raum und Zeit konstituieren soll. Geht man allerdings mit Foucaults Methode einer Analytik architektonischer Einheiten vor, von denen wir annehmen, dass sie quasi-archäologisch, und auf diskontinuierliche Weise in diskursiven Formationen zum Ausdruck kommen, so können wir ohne einen solchen, unserer Analyse vorgängigen, Begriff von Symbolizität auskommen. Wir können dann mit Theoremen, die wir als Mathem fassen, in dieser als Chiffre gefassten Symbolizität operieren, um der diskontinuierlichen Genealogie unseres Phänomens – die Rolle von Medien in der Kommunikation, und die Rolle der medialen Verfasstheit von Kommunikation im Wissensprozess – nachzuspüren, indem bestimmte Zusammenhänge sichtbar gemacht werden können. Allerdings geht Sichtbarmachen nach dieser Methode mit der Preisgabe der Erwartung einher, dass mit dem Herausstellen von möglichen Zusammenhängen auch gleich deren Richtigkeit in notwendiger oder deren Erklärung in eindeutiger Weise festgelegt wäre. Denn wenn wir unsere Theoreme nicht mit Foucault als Matheme zum Einsatz bringen wollten, sondern in ihnen Annahmen repräsentiert sähen, deren Gültigkeit wir mit der historischen Analyse zu erweisen suchten, wäre genau eine solche erklärende Festlegung sowohl die Erwartung wie auch das Ziel unserer Analyse. Das Ziel einer archäologischen Analyse ist in dieser Hinsicht bescheidener. Es besteht darin, mehr darüber zu lernen, wie unser Phänomen – die postulierte Medialisierung unserer Weltverhältnisse – in seiner Bedeutung ermessen werden könnte. Trotzdem brauchen wir auch für eine solche Analyse den Horizont einer formulierten Frage. Als solchen wollen wir ganz einfach die Beobachtung setzen, dass heute dermaßen viel von Medien und Medialisierung die Rede ist. Warum also reden wir gerade heute so viel von Medien, und nicht schon vor 80 oder vor 200 Jahren ? Beim Begriff der » Medien «, wie er heute verwendet wird, scheint es sich um einen unscharfen Sammelbegriff zu handeln, in dem sich die Nachwehen und Nachwellen des Aufgebens metaphysischer Sinnkonstrukte abzeichnen, die mit einer primär algebraisch vorgehenden, experimentellen Wissenschaft, und der dafür zentralen Rolle des rein formal Berechenbaren einhergeht. Die Vorstellung einer Medialisierung von vormals als festgesetzt empfundenen Zusammenhängen, deren Kontrolle sich unserer Einwirkung entzieht, ist von der Rolle des mathematischen Operierens mit sinn-entleerten Symbolen nicht loszulösen. Was ehemals ohne Rückgriff auf einen » höheren Sinn « nicht zu akzeptieren war, erscheint nun auf beunruhigende Weise als kontingent und doch notwendig. Daher beginnt etwa Bahrs besagter Aufsatz wie folgt : » Es gibt Leute, die ziemlich bedeutsam vom Ende und Tod der Bedeutung und des Sinns reden. Manche berufen sich in der Grabrede auf die Kontingenz alles Gegebenen, zumal auch seines Verständnisses

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oder der Verständigung darüber. Andere, die auf Nietzsche vielleicht eher schielen als blicken, beschwören nochmals eher gelangweilt den großen Werteverlust. «43 Aus irgendeinem Grund scheinen diese von Bahr erwähnten Menschen überzeugt davon zu sein, das Fragen nach Sinn und Bedeutung sei ein Hindernis auf dem Weg, sowohl Metaphysik wie Nihilismus zu überwinden. Doch wozu, fragt Bahr, sollten diese überhaupt überwunden werden, wenn nicht wegen der Erfüllung eines noch fehlenden Sinns ? Schon Umberto Eco hat in seiner wegweisenden » kritischen Kritik der Massenkultur « mit dem bezeichnenden Titel Apokalyptiker und Integrierte darauf hingewiesen, dass jedwede Kritik am intensivierten Kommunikationsgeschehen, welche entlarvend und anklagend die rein formale Kontingenz dessen, worüber so eifrig und in sinnstiftender Bestrebung durch die Massen hinweg in den Medien kommuniziert wird, in den Vordergrund hebt, als ein vorgreifendes Bekenntnis zur Unbeholfenheit gedeutet werden muss angesichts der beispiellosen Situation, die wir seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zumindest in der westlichen Welt erleben. Diese besteht, so Eco, nüchtern und rein quantitativ betrachtet im simplen Sachverhalt einer heute so sehr verdichteten semantischen Aktivität der Menschen. Denn man kann nicht nur von einer Explosion der Wortschätze im 20. Jahrhundert sprechen – zumindest wenn man die Fachtermini der wissenschaftlichen Disziplinen mitzählt. Auch die Anzahl von Menschen, die selbst lesen, schreiben und rechnen können, ist so hoch wie niemals zuvor. Von diesen Menschen wird nicht nur gefordert, dass sie sich politisch engagieren, sondern sie finden auch nie gehabte Möglichkeiten vor, sich wirtschaftlich zu entfalten, zu reisen, Sprachen und Kulturen kennenzulernen, und so fort. Zudem haben sich mit der Informations- und Kommunikationstechnologie gesellschaftliche Infrastrukturen etabliert, die eine solche Verdichtung semantischer Aktivität nicht nur begünstigen, sondern auch befördern. Neue Medien, welche diese technologischen Infrastrukturen bespielen, führen zu einer weiteren Vernetzung und Verdichtung der kommunikativen Bande; das Gleiche gilt freilich auch für ältere » neue « Medien : Alphabetische Schrift und Buchdruck haben sich zweifellos ebenfalls genau darüber etablieren und sich gegen die mit den jeweils älteren Medien verbundenen Autoritätsstrukturen durchsetzen können. Das Lamentieren heute, wonach die Rede ist von einem »  Überschuss an Zeichen «, die »  auf keinen realen Gegenstand mehr verweisen, sondern nur noch auf sich selbst «44, verliert ihren Erstmaligkeit beanspruchenden, katastrophischen Charakter mit dieser Relativierung. Mit dem staatlichen Zusprechen von politischen Rechten und Pflichten eines jeden Einzelnen sowie mit der Einführung von Schulpflicht für alle Bürger gehört 43 44

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Bahr, »  Über den Humor der Metaphysik «, S. 175. Jean Baudrillard, Die Agonie des Realen, Berlin 1978.

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demnach zu den Früchten der Aufklärung und der Moderne auch, dass viele Menschen viele Phänomene nun selbst interpretieren, ihnen eine Bedeutung zuschreiben, diese Bedeutung zu legitimieren oder zu autorisieren suchen, und sich dementsprechend verhalten. Sie argumentieren für ihre eigenen Sichtweisen, überlegen sich Alternativen zu dem, was ihnen als verbindlich erklärt wird, schließen sich untereinander zu Interessensgruppen zusammen et cetera. Nur unschwer lässt sich im Lamentieren einer scheinbar von jeglicher Referenz entkoppelten Kommunikation, und der etwa von Baudrillard darin erblickten Feindseligkeit des Realen selbst,45 eine zwar nachvollziehbare Haltung erkennen. Diese Haltung ist aber dennoch mit Bahr als die Haltung einer vorgreifend postulierten möglichen Erfüllung eines neuen Sinns zu begreifen, oder mit Eco als die Haltung eines Eingeständnisses an die eigene Unbeholfenheit hinsichtlich von veränderten Umständen.46 Nüchterner betrachtet erscheint diese Unbeholfenheit im Umgang mit der intensivierten semantischen Aktivität ganz einfach als Phänomen von gesellschaftlichem Wandel. Wir können aus den nachgezeichneten Serien zweifellos schließen, dass jeweils neue Medien eine jeweils wichtige Rolle für die Struktur von Veränderungsprozessen spielen. Sie ziehen ihre Neuheit aus der Art und Weise, wie sie sich in bestehende Strukturen einfügen und diesen, durch die von ihnen bereitgestellte Multifunktionalität und der damit einhergehenden Umkodierbarkeit von Gewohnheiten, neue Weisen des in Verbindung Bringens und Zusammenhängens entlocken. Dafür gibt es gerade aus jüngster Zeit überzeugende empirische Indizien : Weder das Radio noch die Zeitung, das Fernsehen, das Buch oder das Video haben sich bisher gegenseitig ersetzt oder wurden durch das neue » Supermedium « Internet bzw. Computer ersetzt. Wohl aber verändern sich diese Medien alle in ihrem sich ständig um noch neuere Kommunikationsarchitekturen erweiternden Zusammenspiel. In dieser Beobachtung kann nun durchaus eine gegenseitige und aktive Abhängigkeit der verschiedenen Medien voneinander gesehen werden, wobei die Hauptschwierigkeit wohl darin besteht, wie genau die logische Struktur einer solchen Abhängigkeit zu denken wäre. Denn die mit einer Abhängigkeit gewöhnlich verbundene Linearität scheint in diesem Zusammenspiel in viele auf kontingente Weise bildbare Serien aufgelöst, in denen den Aktivitätspolen gar keine eindeutigen Passivitätspole mehr entsprechen müssen. Die von einer Abhängigkeit traditionellerweise erwartete Linearität löst sich damit in ein Kommunikationsgeschehen auf, das sich weder auf Ursache-Wirkung noch auf 45 Ebenda. 46 Jahrzehnte vor Baudrillard hat schon Günther Anders in seiner Medienkritik beklagt, dass die Wirklichkeit nur eine Reproduktion ihrer Reproduktionen sei. Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen – über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 1992 [1956]. Hier zitiert nach Goedart Palm, CyberMedienWirklichkeit. Virtuelle Welterschließungen, Hannover 2004, S. 27.

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Sender-Empfänger-Strukturen reduzieren lässt. Das Zusammenspiel wird von keiner dem Gesamten übergeordneten Richtung mehr orchestriert – zumindest dann nicht, wenn wir, anders als Baudrillard mit der von ihm postulierten Agonie des Realen, die sich im Kommunikationsgeschehen zeige, kein solches Telos an unsere Beobachtung herantragen wollen. Denn alternativ zum Rückgriff auf ein solches Telos lässt sich nach der Logik einer solchen Abhängigkeitsstruktur auch fragen, indem man nach einem Träger des beobachtbaren Zusammenspiels fragt. So betrachtet lässt sich die heute so sehr gesteigerte semantische Aktivität und die daraus folgende Ausbildung von Netzwerken – so diskontinuierlich wir diese auch begreifen müssen – als volatile Infrastruktur für neue Interaktionsformen erachten. Sucht man nach einem positivierbaren Substrat der sich entfaltenden Medialität, ist man so unweigerlich auf die Materialität von Informationstechnologie – verallgemeinert als Speicher-, Übertragungs- und Aufschreibesysteme gefasst – verwiesen.47 Ein wichtiger Teil der vor allem an den wegweisenden Schriften Friedrich Kittlers orientierten Medienwissenschaften widmet sich den neuen Interaktionsformen von einer medienmaterialistischen Perspektive aus und beruft sich dabei maßgeblich auf die archäologische Methode Foucaults. So wird nach einer genealogischen Differenzierung für diverse Medientechniken wie » Kerbhölzer und Fackelalphabete, von Tintenstrichen bis zu Schreibmaschinen, von Bildröhren bis zu beweglichen Lettern und Bewegungsschreibern, von Fotopapieren, Wachswalzen, Grammophonen, Tonbandgeräten und Synthesizern bis hin zu Digitalcomputern «48 gesucht. Die Herausforderung bei archäologischen Analysen, welche dieses Substrat von Medialität in seiner Materialität zu bestimmen versucht, besteht darin, dass Medien nicht lediglich als Träger von zu ihnen wesensfremden Aussagen verstanden werden können, sondern dass sie die Diskursbedingungen, in denen sich jeweils nachträglich eine »  Bestimmung « herauskristallisiert, selbst mitkonstituieren. Diese konstitutive Uneigentlichkeit versteht Georg Christoph Tholen als Wesensbestimmung von Medien und stellt zur Erforschung einer allzu materialistisch-deterministisch gefassten »  Archäologie «49 den Entwurf einer spezifischen »  Metaphorologie « der Medien entgegen.50 Damit betont er eine poietische Produktivität, die von besagter Eigentlichkeit des Uneigentlichen, welche den Medien anhaftet, angetrieben wird. 47 48 49 50

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Vgl. dazu Friedrich Kittler, Aufschreibesysteme 1800/1900, München 1985, sowie ders., Grammophon, Film, Typewriter, Berlin 1986. Michael Harenberg, Virtuelle Instrumente im akustischen Cyberspace. Ästhetische Dimensionen einer Poietik musikalischer Medialität, Dissertation, Universität Basel, Basel 2008, S. 10. Dieser Vorwurf scheint sich weniger auf Foucaults Methode selbst zu beziehen, sondern auf spezifische Interpretationen und Anwendungen derselben in der besagten medienwissenschaftlichen Forschung. Georg Christoph Tholen, Die Zäsur der Medien.

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Als Netzwerke volatiler Infrastrukturen für Diskursivität ermöglichen Medien die Entfaltung einer neuen Art von Erzählungen. Diese Infrastrukturen für Narrativität stellen »  Sprachspielstrukturen « bereit51, die sich allerdings für den Transport von Wahrheiten im Sinne eindeutiger Dekodierbarkeit nicht mehr eignen, weil ihre Strukturen fluktuieren und weder eine eindeutige Lokalität noch Position jemals auszumachen wäre.52 Ins Verhältnis zwischen dem Zeichen und seinem Referenten hat sich schon in der Vormoderne unwiderruflich die Kontingenz der algebraischen Symbole geschoben. Ist eine Perspektive auf unterschiedliche Praktiken im Umgang mit Zeichen, sowie auf unterschiedliche Techniken als konstituierend für Kultur allerdings einmal gewonnen, so zeigt sich auch, dass die Macht der Symbole nicht allein auf den atemberaubenden Simulationen der jüngsten digitalen Technologien beruht. Auch früher waren Begriffe nicht einfach nur Begriffe, die etwas Tatsächliches benennen, und zwar genauso wenig wie ihre formalisierten, also mathematischen Konstruktionen als neutrale Platzhalter für mit ihrer Hilfe bestimmbare Stellenwerte innerhalb einer symbolischen Ordnung gelten könnten. So fremd neue Symbolisierungsangebote für das jeweils intuitiv vertraute Denken auch klingen mögen53, und zwar heute wie früher, sie ordnen jeweils im Erfolgsfall den Gesamtzusammenhang der Verhältnisse, die wir als Ganzes » Welt « nennen. » Erfolg « bezieht sich hier dabei lediglich auf das pragmatische Kriterium der Möglichkeit zur nachhaltigen Etablierung dieser Symbolisierungsangebote. Und dieser Gesamtzusammenhang der Verhältnisse, den wir Welt nennen, verändert sich bekanntlich 51

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Vgl. zur Rolle des wittgensteinschen Sprachspiels hinsichtlich Lyotards theoretischen Disposition in seinem Bericht über das postmoderne Wissen : Jean-François Lyotard, Das Postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien 1994. In gewisser Weise ergeben sich diese auch dank der zahlreichen Analysen vom Ende der großen Erzählungen. ­Sloterdijk fragt zu Recht, ob sie nicht selbst schon zu einer bequemen Meta-Großerzählung geronnen sei, wenn er bemerkt, ob denn dieser neue intellektuelle Mythos nicht unverkennbar im Bündnis mit einer bissigen Trägheit, die im Umfangreichen nur das Lästige und im Großen nur das Manieverdächtige sehen will, stehe. Seiner Meinung nach ist auf die postdialektischen und poststrukturalistischen Skeptiken während der letzten Jahrzehnten eine partielle Lähmung des Denkens gefolgt. Vgl. ­Peter ­Sloterdijk, » Von großen Erzählungen «, in : ders., Im Weltinnenraum des Kapitals, Frankfurt am Main 2005, S. 11–29. Die verbreitete Lust an der ideenfeindlichen Spezialisierung auf Detailgeschichten scheint Sloterdijks Vorwurf allemal zu bezeugen. Andererseits ist aber auch just jene Aufmerksamkeit auf Partikularbeobachtungen immer dann ein vielversprechendes Verhalten, wenn tatsächlich die Grundgerüste unserer geistigen Sinn- und Sortiersysteme sich in tief greifender Weise neu orientieren. Vgl. hinsichtlich einer neu konzeptualisierten Rolle der » Metanarratives  « in einer » semiosischen Architektonik « das jüngste Buch der Anthropologin und Peirce-Spezialistin Edwina Taborsky, The Architectonics of Semiosis, Basingstoke 1998, insbesondere S. 137–181. Vgl. dazu insbesondere Georg Christoph Tholen, » Der Verlust (in) der Wahrnehmung «, ebenfalls : ders., » Platzverweis. Unmögliche Zwischenspiele von Mensch und Maschine «, in : Norbert Bolz und Friedrich Kittler, Georg Christoph Tholen (Hrsg.), Computer als Medium, S. 111–138. Vgl. dazu den Katalog zur Ausstellung in der Serpentine Gallery, London 2007 : Hans Ulrich Obrist (Hrsg.), Formulas for Now, London 2008.

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im Laufe der Zeit – was übrigens selbst ein Gedanke ist, dessen Symbolik sich erst im frühen 18. Jahrhundert entfalten konnte, als man in den systematischen Dimensionen der Evolution und der Historizität von Ordnungsstrukturen zu denken begann. So betrachtet verfolgt die europäische Kultur seit Beginn der Neuzeit das Projekt einer eigenartigen Genesis, die an sich selbst gerichtet zu sein scheint. Und diese » Genesis « erfolgt mittels Symbolisierungen : Die Menschen haben für intuitiv schwer vorstellbare Grenzkonzepte symbolisch-operable Fassungsweisen erfunden, beispielsweise jene der Wahrscheinlichkeit für das Unvorhersagbare, der Ziffer Null für das Nichts oder dem mathematischen Differential für die Veränderungen des Gleichen über die Zeit. Aus diesen positiv nicht bestimmbaren, aber symbolisch-operablen Fassungsweisen entwickelten sich später theoretische Systeme wie die Thermodynamik, die Informationswissenschaft oder eben auch die Medialität. Sie alle vermochten ein je eigenes mathematisches Verweisspiel zu etablieren, dessen rätselnde Integration ins zeichendeutende Geflecht von Kultur sich anhaltend und tief greifend etabliert hat. Auch der Begriff der » Welt « selbst ließe hier einreihen, hat sich dieser doch erst im Zuge des neuzeitlichen Prozesses der Säkularisierung als » Verweltlichung « entwickeln können.54 Zwei Zitate mögen das für eine Genealogie von Medialität gleichermaßen fundamentale wie übergeordnete Thema der Macht der Symbole veranschaulichen. Das eine stammt von Heinrich Heine aus dem Jahr 1843, als er anlässlich der Eröffnung einer neuen Eisenbahnlinie schreibt : » Welche Veränderungen müssen jetzt eintreten in unserer Anschauungsweise und in unseren Vorstellungen  ! Sogar die Elementarbegriffe von Raum und Zeit sind schwankend geworden. Durch die Eisenbahn wird der Raum getötet, und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig. «55 Ist es nicht beachtlich, wie und dass überhaupt der Eindruck entstehen konnte, Raum und Zeit seien etwas, das sich von uns ins Schwanken bringen und sogar töten ließe ?56 Heine meinte mit » Anschauungsweise « keine einzelne, bestimmte Erscheinung, sondern allgemein die Art und Weise, wie wir etwas in der Welt wahrnehmen können. Nach Immanuel Kants Vernunftstheorie gelten Raum und Zeit als unveränderlich und allgemeingültig. Sie bestimmen unsere gesamte Wahrnehmung und setzen einen Gemeinsinn ins Recht, nach dem wir intuitiv und zugleich vernünftig über das, was wir erleben, urteilen können. Heine fürchtete um den Verlust einer dieser beiden Anschauungsformen, weil für ihn mit dem Aufkommen der neuen Verkehrsstrukturen das Fundament des Denkens im Kern betroffen gewesen sein muss. Für ihn als politischen 54 55 56

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Vgl. dazu Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt am Main 1996 [1966], insbesondere das Kapitel » Die Rhetorik der Verweltlichungen «, S. 114–138. Heinrich Heine, Sämtliche Schriften in zwölf Bänden, hrsg. von Klaus Briegleb, Band  9 : Schriften 1831–1855, hrsg. von Karl Heinz Stahl, Berlin 1981, S. 449. Vgl. dazu Götz Großklaus, Medien-Zeit, Medien-Raum, Frankfurt am Main 1997.

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Literaten im Exil stellt sich am Sinnbild der Eisenbahn die Frage nach der Möglichkeit zur Verständigung mit anderen als radikal existenzielle Frage.57 Das andere Zitat stammt aus Robert Musils 1930 erschienenem Roman Der Mann ohne Eigenschaften : » Der Zug der Zeit ist ein Zug, der seine Schienen vor sich herrollt, der Fluß der Zeit ist ein Fluß, der seine Ufer mitführt. Der Mitreisende bewegt sich zwischen festen Wänden und festem Boden, aber Boden und Wände werden von den Bewegungen der Reisenden unmerklich auf das Lebhafteste mitbewegt. «58 Wir können in diesem Zitat von Musil eine inzwischen » ein-vertraute « Diagnose zum gleichen Kulturgeschehen sehen. Während Heine noch um den Verlust einer Ganzheitlichkeit unserer Anschauung fürchtete,59 hat Musil in seinem Roman knapp 100 Jahre später die auch von Heine erahnte Möglichkeit zur Inversion von Hintergrund und Vordergrund bereits zum analytischen Werkzeug gemacht, mit dem er eine fremdartige Welt literarisch erkundet. Dieses Grundgefühl der Bewegtheit, dem Musil hier Ausdruck gibt – des In-Bewegung-Geratens der Referenzsysteme – scheint sich seither nicht wieder eingerenkt oder eben » arretiert « zu haben. Die große Beliebtheit der sogenannten Kippbilder im frühen 20. Jahrhundert – Kaleidoskope und bewegte Bilder haben wohl die gleiche Heimat –, mag demnach als ein Symptom dieser Zeit gelesen werden. Denn sie können als Veranschaulichung dafür gelten, wie sich die Ordnung zwischen Hintergrund und Vordergrund verkehren lässt so dass sie als ein beständiges Fließen zwischen Wahrnehmungszuständen erscheinen kann.60 Die beiden Zitate, völlig unterschiedlicher Art, aber mit dem gleichen Thema, offenbaren nichts weniger als eine neue Kultur. Für die Antwort auf die Frage, was in der Zeitspanne zwischen Heine und Musil an Kulturveränderndem denn überhaupt geschehen sei, sollte eine Liste mit Stichworten genügen, um ein entsprechendes Assoziationsfeld hervorzurufen : die Zähmung der Elektrizität; die Erfindung technischer Kälte, das heißt des Kühlschranks als Grundelement der endgültigen Abtrennung agrarischer Produktion von städtischer Konsumption; die Entwicklung des Elektromagnetismus; die Erfindung der Braunschen Röhre (des Fernsehgerätes); die Nutzung von Radiowellen; die Entwicklung 57 58 59

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Vgl. für eine Darstellung der kulturgeschichtlichen Bedeutung der Eisenbahn : ­Wolfgang Shivelbush, The Railway Journey, Berkeley 1977. Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Berlin 1978 [1930/1933 und 1943], S. 445. Anlässlich der Eröffnung einer neuen Eisenbahnlinie im Jahr 1843 hatte Heinrich Heine voller Unbehagen ausgerufen : » Welche Veränderungen müssen jetzt eintreten in unserer Anschauungsweise und in unseren Vorstellungen  ! « Ferner befürchtete er : » […] durch die Eisenbahn wird der Raum getötet. « Und weiter : » Welche Veränderungen müssen jetzt eintreten in unserer Anschauungsweise und in unseren Vorstellungen ! Sogar die Elementarbegriffe von Raum und Zeit sind schwankend geworden. Durch die Eisenbahn wird der Raum getötet, und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig. « Heinrich Heine, Sämtliche Schriften in zwölf Bänden, S. 449. » Die Inversion ist Zeichen eines Wandels der Anschauung, und vermag die Anschaulichkeit selbst aber zu wahren «, beschreibt Oliver Simons die Denkfigur im Zusammenhang mit der Gestalttheorie. Oliver Simons, Raumgeschichten. Topographien der Moderne in Philosophie, Wissenschaft und Literatur, München 2007, S. 21ff.

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des Periodensystems der Elemente und die damit einhergehende Industrialisierung der Chemie; die Entdeckung der Röntgenstrahlen; die Erfindung von Verbrennungsmotoren und des Automobils; die Entwicklung der Relativitätstheorie und der Quantenmechanik; die Formulierung des Drei-Körper-Problems in der Physik; die Entdeckung des deterministischen Chaos; die Gründung des Unternehmens IBM; der Verlauf des Ersten Weltkriegs und die Schließung des Versailler Vertrags; und neben der vorläufigen Absage an absolutistische monarchische Strukturen nicht zuletzt der tief greifende Verlust einer unproblematischen Natürlichkeit von Zahlen, und die Such nach absoluter Sicherheit in Logik zur Grundlegung der Mathematik. Die Abhängigkeit unserer fundamentalen Anschauungsweise der Welt von symbolisch konzipierten und technisch implementierten Gegebenheiten darf im Kern einer Genealogie zeitgenössischer Medialität vermutet werden. Von dieser Perspektive aus bietet sich die Interpretation an, dass das gegenwärtige Sprechen von » Information « eine in dieser Weise grundlegend neue Symbolik in unser Denken eingeführt hat. Vielleicht kann überhaupt erst das Eingewöhnen dieser neuen Symbolik es erlauben, zu lernen, mit der Volatilität zurechtzukommen, die im heutigen Begriff der Virtualität figuriert.61 Das, was wir gewöhnlich » Technik « nennen, hilft uns einerseits, zunehmend mehr Elemente der Welt aus ihren natürlichen Weisen des Gegebenseins zu entkoppeln und zu symbolisieren, was uns eine » Bevorratung « von Mitteln ermöglicht » zur Sicherheit, Wiederholbarkeit, Berechenbarkeit planmäßigen Handelns «.62 Andererseits jedoch verändert die Technik die in der Wahrnehmung verankerte und jeder konkreten Erfahrungsweise vorausgehende Raum-Zeit-Struktur. Musil zieht aus der Beobachtung dieser Veränderbarkeit die mutige Lehre, dass erstens die lebensweltliche Erfahrung der Stabilität zwar eine Illusion sei, aber nichtsdestotrotz als real zu gelten habe, und zweitens, dass wir uns diese » Illusion « für uns selbst erzeugen, und zwar mithilfe von Technologien. Unsere zeitgenössische Erfahrung einer intensivierten oder überhaupt erst als solche auftretenden » Medialität «, 61 62

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Foucaults Abhandlung zum Thema Wahnsinn und Gesellschaft zeichnet diese Linien historisch nach. Vgl. Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt am Main 2007 [1961]. Hubig formuliert zusammenfassend, mit Anklang auf Heidegger : » Technik war immer schon Gestell, wenngleich sie anfangs anders konzeptualisiert wurde; gelingendes und nicht-gelingendes Handeln wurde immer im Horizont konzeptualisierter Bestimmbarkeit beurteilt, Erfolgreichsein oder Scheitern hingegen waren niemals abkoppelbar vom realen Bereich des Unbestimmten zusätzlicher Bedingungen und Einflussfaktoren, mithin auch nicht vorab eindeutig dem Gelingen oder Nicht-Gelingen zuordenbar. « Christoph Hubig, » ›Wirkliche Virtualität‹ «, in : Gerhard Gamm und Andreas Hetzel, Unbestimmtheitssignaturen der Technik. Eine neue Deutung der technisierten Welt, Bielefeld 2005, S. 39–62, hier S. 48. Vgl. ebenfalls Christoph ­Hubig, » Techné und Gestell – Aristoteles und Heideggers Nachdenken über Technik «, in : Festschrift für Günther Bien. Online : www.uni-stuttgart.de/philo/uploads/media/Techne_u_Gestell-Bien_Vortrag.pdf (10.04.2009).

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zumindest in ihrer Dimension als technisches Phänomen, ist hiervon nicht ausgenommen. An dieser Stelle ist es interessant, eine Prognose zu erwägen, die Peter Sloterdijk formuliert hat, und der gemäß für die nächsten Jahre eine ähnlich dramatische Verschiebung von Begriffen und Anschauungsformen vorausgesagt wird wie jene, die zwischen Heine und Musil liegt : » Wir leben in einer logischen Dämmerung, irgendwo zwischen spätaristotelisch und frühkomplex, aber das neue Denken hat bislang weder Autorität noch Konjunktur, weswegen wir bei allen unseren theoretischen Unternehmungen zum Unbehagen verurteilt sind, weil offenliegt, wie sehr wir mit jedem Gedanken in antithetische Primitivismen verstrickt bleiben. Noch lässt eine Logik des Komplexen auf sich warten. Man darf sich sicher sein, dass eine künftige Ideengeschichte, die unsere Epoche eines Tages resümiert, uns ganz museumswissenschaftlich aufarbeiten wird. Geistreiche Kuratoren im späten 21. Jahrhundert werden eine Großausstellung unter dem Titel Binär konzipieren, die in Paris, Tokyo, Chicago, Bonn und Sydney gastiert; der größte Teil dessen, was bis eben unsere Köpfe füllt, wird dort als halb-archaische Konfliktfolklore präsentiert werden. An Schaubildern dessen, was wir heute denken, werden Schulklassen vorbeiziehen und kichern, das waren die, die an den Gegensatz von Tatsachen und Möglichkeiten geglaubt haben und an die Kluft zwischen dem Positiven und dem Phantastischen. Die Mädchen werden aus dem Museum des zweiwertigen Denkens beschwingt herauskommen, leicht angeekelt vielleicht, aber fasziniert, und sich in den Tagträumen fragen, wie sie wohl war, die Liebe in der Antithesenzeit. «63 Vielleicht befinden wir uns ja schon inmitten solcher Umwälzungen, und das Reden über Virtualisierung, welches derart zur Folie unseres kulturellen Imaginären avancieren konnte, ist lediglich ein Ausdruck der Art und Weise, wie sich unser neustes Regime der Einbildungskraft gegenwärtig organisiert. Virtualität und die Frage nach dem Konstitutivum von Medien » Fragwürdig ist also der sensus communis darüber, was der sensus communicationis eigentlich sei. «64 Virtualität wurde bislang in theoretisierenden Diskursen in erster Linie in Zusammenhang mit Illusionstechniken thematisiert, dabei 63 64

Peter Sloterdijk, Tau von den Bermudas. Über einige Regimes der Einbildungskraft, ­Frankfurt am Main 2003, S. 10/11. Georg Christoph Tholen, » Überschneidungen. Konturen einer Theorie der Medialität «, in : Sigrid Schade und ders. (Hrsg.), Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, München 1999, S. 15–35, hier S. 23.

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vor allem mit jenen, die auf einer informationstechnologischen Instrumentierung aufbauen.65 Ungefähr seit Beginn der 1990er-Jahre hat sich weithin ein Sprachspiel etabliert, das Virtualisierung mit Cyberspace verbindet und damit auch mit dem Postulat eines eigentümlichen » Ortes «, der » in Wirklichkeit « gar kein Ort sein kann.66 Die Faszination, die sich an diesem Virtuellen noch immer entzündet, gründet vor allem in der Möglichkeit, in einem vollkommen abstrakten, das heißt in einem » reinen « Datenraum sinnlich erlebbare Umgebungen einzurichten.67 Zunächst ist diese Faszination stark mit der Medientechnik verknüpft; entsprechend der damit importierten Rolle der Rationalität bewegen sich die Diskurse vorwiegend um die ideologisch aufgeladenen Pole entweder eines kulturgeschichtlichen Untergangsszenarios (exemplarisch dazu die früheren Schriften von Jean Baudrillard und Paul Virilio aus den 1980er-Jahren) oder eines fortschrittsgläubigen, technikgetriebenen Utopismus (wie er sich vorwiegend in den Cyberculture-Diskursen Ende der 1990er-Jahre entfaltete). Als paradigmatisch kann hier die von Max Bense seit den 1950er-Jahren artikulierte, heute höchst eigenartig wirkende Hoffnung auf eine Rationalisierung von Ästhetik gelten, die mit dem Cyberspace und seinen Versprechungen deutlich greifbarer geworden schien. Die Diskussionen um Virtualität haben sich seither auch tatsächlich vorwiegend im Umfeld der Künste entfaltet 68, wo das ästhetische Potenzial ausgelotet wird, um eine hypothetische Dimension des Als-ob auf » sinnliche « Weise erfahrbar zu machen. Stefan Münker etwa fasst zusammen : » Richtig 65

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Vgl. dazu : Jens Schröter, Das Netz und die Virtuelle Realität. Zur Selbstprogrammierung der Gesellschaft durch die universelle Maschine, Bielefeld 2004. Vgl. ebenfalls : ders., 3D. Zur Geschichte, Theorie, Funktion und Ästhetik des technisch-transplanen Bildes im 19. und 20. Jahrhundert, München 2009. So formuliert Michael Benedikt etwa : » Cyberspace : The tablet become a page become a screen become a world, a virtual world. Everywhere and nowhere, a place where nothing is forgotten and yet everything changes. « Aus : ders., Cyberspace : First Steps, Cambridge 1991, S. 1. Die oft zitierte Formulierung zum Cyberspace aus William Gibsons Roman Neuromancer (1984), bevor sie von den Theoretikern einer Cyberkultur aus ihrem originären Punkmilieu heraus transferiert und zur Quelle neuer Utopien deklariert wurde, war eine eher dystopische Vorstellung und lautet wie folgt : » Cyberspace. A consensual hallucination experienced daily by millions of legitimate operators. […] A graphic representation of data abstracted from the banks of every computer in the human system. Unthinkable complexity. Lines of light ranged in the nonspace of the mind, clusters and constellations of data. Like city lights, receding. « Hier zitiert nach : David Bell, Cyberculture Theorists, London 2007, S. 2. Vgl. dazu exemplarisch die Textsammlung Micheal Benedikt (Hrsg.), Cyberspace : First Steps, Cambridge 1991. Das Buch versammelt die Präsentationen der » First Conference on Cyberspace « (1990) sowie eine Reihe von Aufsätzen, die sich für den Diskurs um Cyberkultur als wegweisend herausstellen sollten, zum Beispiel David Thomas’ » Old Rituals for New Space «, Michael Heims » The Erotic Ontology of Cyberspace « oder Alluquére Rosanne Stones » Will the Real Body Please Stand Up «. Für einen historischen Überblick siehe exemplarisch : Frank Popper, From Technological to Virtual Art, Cambridge 2007. Einen aktuellen Überblick hinsichtlich der Embodiment-Diskurse bietet : Anna Munster, Materializing new media. Embodiment in information aesthetics, Hannover 2006, insbesondere das Kapitel » Digitality. An Ethico-Aesthetic Paradigm for Information «, S. 150–177.

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verstanden und eingesetzt, eröffnet die virtuelle Realität – spielerisch, als ein Modell – denjenigen Möglichkeitsraum, den der Möglichkeitssinn als selbstregulierende Strategie evolutionärer Entwicklung benötigt; einen Raum zur experimentellen Evaluierung von möglichen, im Sinne von : realisierbaren, zukünftigen Welten. «69 Aus solch sekundärer Erfahrbarkeit von primär reinen Abstrakta in einem Datenraum ergibt sich jedoch eine Problematik, welche ein epistemologisches Problem verschärft hervortreten lässt, dessen Ausläufer sich weit über einen allzu einfach gefassten pädagogischen Testbereich hinaus erstrecken. Solche ästhetische Erfahrbarkeit gerät in eine strukturelle Ähnlichkeit zu anthropologischen Phänomenen wie Ritualen, Mythen oder anderen Gemeinschaftlichkeit stiftenden Kodizes – mit dem Unterschied freilich, dass sie technisch induzierbar und willkürlich gestaltbar geworden ist.70 Das Erkunden von Möglichkeitsräumen als aisthetische Erfahrung mag zwar im Virtuellen » lediglich « in den Strukturen des Imaginären, und somit Unwirklichen, stattfinden. Nichtsdestotrotz orientiere sich dieses Erkunden aber ­zwangsläufig auch, so Münker, an der experimentellen Evaluierung realisierbarer Welten und stehe damit im Zusammenhang von objektiver Wirklichkeit, Rationalität, vernünftiger Einschätzung, Problemlösung oder kurz : von Wissen. Zweifellos in einem ähnlichen Bewusstsein beobachtet Anna Munster das Inkrafttreten eines » aesthetico-ethical paradigm « für Kunst im digitalen Zeitalter.71 So auch Erich Hörl, der diagnostiziert, dass die Wissenschaften im Begriff seien, in die nächste Nähe zu den Künsten zu rücken : » Die alte Spannung zwischen épistéme und téchne verliert in Gestalt der Technowissenschaften ihre Kraft. «72 Michael Harenberg hat diese Situation jüngst zum Thema einer medienwissenschaftlichen Untersuchung im Bereich der Musik gemacht : » In der Musik können wir […] eine Entwicklung skizzieren, die vom architektonischen Klang-Ort über den symbolischen Raum formaler und struktureller Projektionen zum imaginären musikimmanenten Raum kompositorischer Phantasie verläuft. Von da an kann zum einen der reale Raum musikalisch 69 70

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Stefan Münker, » Was heißt eigentlich ›virtuelle Realität‹  ? «, in : Stefan Münker und Alexander Rösler (Hrsg.), Mythos Internet, Frankfurt am Main 1997, S. 108–129. Iser formuliert Perspektiven für eine literarische Anthropologie : » Vielleicht muss die Literatur in dem historischen Augenblick zu einem Spiegel für die Plastizität des Menschen werden, in dem viele ihrer Leistungen von ehedem auf andere Medien übergegangen sind – ein Vorgang überdies, den Anthropologen wie André LeroiGourhan und Paul Alsberg im Blick auf die Anthropogenese zu bestätigen scheinen, die vom Erwerb des aufrechten Ganges über die frei werdende Hand bis hin zur Kunst als ständiges Ausfächern von Spezialisierungen verläuft. « Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt am Main 1991, hier S. 11. Anna Munster, » Digitality «. Erich Hörl, » Wissen im Zeitalter der Simulation. Metatechnische Reflexionen «, in : Andrea Gleiniger und Georg Vrachliotis (Hrsg.), Simulation. Präsentationstechnik und Erkenntnisinstrument, Basel 2008, S. 93–106, hier S. 95.

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funktionalisiert, und zum anderen mittels technischer Räume aufgebrochen, überlagert und erweitert werden. Diese ermöglichen als digitale Simulationen die universelle Manipulation und referenzlose Skalierung in alle Dimensionen. So entstehen zum einen Räume ästhetischer Virtualität, die als kompositorisch-ästhetisch gestaltbare musikalische Parameter interpretiert und genutzt, gleichzeitig aber auch als Mikro-Räume zur Klangsynthese in virtuellen Instrumenten dienen können. «73 Harenberg hat nun bei den künstlerischen Praktiken eine seltsam anmutende Verhaftung im Traditionellen beobachtet : » Es scheint, als ob wir in einer technisch-medialen wie ästhetischen Umbruchsituation bereits mit den Mitteln ausgerüstet wären, für die wir die Inhalte noch finden müssen. «74 Darin kommt zum Ausdruck, dass im Zuge der Virtualisierung eine Phänomenalität geschaffen wird, ohne dass schon Anschauungsformen zu deren wertschätzender Rezeption wie auch einer kreativen Exploration und neuartigen Komposition bereitstünden. Es scheint, als ob mithilfe von ästhetisch-technischen Mitteln ein neues » Sensorium « entstehen würde, dessen Potenzial für unsere Erfahrung wir gerade erst beginnen, auf nachhaltige Weise kennenzulernen und auszuloten, sprich  : zu symbolisieren. Harenbergs Diagnose steht im Einklang mit der Beobachtung von Jürgen Mittelstrass, der » ästhetischen « Darstellung in den neuen technischen Plattformen und Apparaten wohne eine » apophantische « Dimension inne, in welcher » Behauptungen formuliert werden, die sich als Problemlösungsvorschläge auffassen lassen, und Argumente bzw. Begründungen für diese Behauptungen angeführt werden, die deren Geltungsansprüche sichern sollen «.75 Diese epistemische Kluft zu bedenken, die sich mit der neuen, ästhetisch-technisch generierten Empirie eröffnet, ist alles andere als unbedeutend, weil Simulationen und verschiedenste Bildgebungsverfahren inzwischen zu einer eigentlichen Methode in den exakten Wissenschaften avanciert sind. Diese mit dem Diskurs über die virtuelle Realität und Cyberspace verbundene Problematik ist damit nicht nur eine epistemologische, sondern auch eine, die für jede Epistemologie als konstitutiv gelten muss. Genauer lässt sich die Problematik der Virtualität nun als diejenige eines nicht neutralen Verhältnisses von Theorie76 hinsichtlich ihres Gegenstandes fassen, und zwar überall dort, wo Theoriebildung 73 74 75 76

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Michael Harenberg, Virtuelle Instrumente, S. 208ff. Ebenda, S. 209. Jürgen Mittelstrass, » Was heißt  : sich im Denken orientieren  ? «, in : ders., Wissenschaft als Lebensform. Reden über philosophische Orientierung in Wissenschaft und Universität, Frankfurt am Main 1982, S. 162–184, hier S. 172. Gemeint ist hier ein in groben Umrissen gefasster Begriff von Theorie als Anschauung, die Antizipation ermöglicht.

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zur Beschreibung ihres Gegenstandes explizit auf einer Vorstellung und damit auf einer Imagination beruht. Das Verunsichernde an den virtuellen Welten der Gegenwart besteht vor allem darin, dass solches Imaginieren nicht mehr auf eine subjektive Anschauung beschränkt bleibt wie etwa bei einem Traum oder der persönlichen Fantasie, sondern sich auf eine » intersubjektive « und bisweilen gar » objektive « bis » objektivistische « Weise manifestiert. Solches Imaginieren, das nicht mehr nur als subjektiv und persönlich gelten kann, geschieht in dem Sinn, wie Münker ihn erläutert : Der imaginäre, abstrakte Gegenstand bleibt über die Zeit hinweg bestehen und entfaltet eine quasi physische, das heißt eine sinnlich erlebbare » Permanenz «.77 Spätestens jetzt zeigt sich das Problem des kategorialen Status dieser immateriellen » Permanenzen « in verschärfter Weise. Georg Christoph Tholen fasst das Problem denn auch als dasjenige des kategorialen Ortes des digitalen Mediums auf und weist darauf hin, dass die Konturen des bisher erreichten Forschungsstandes in dieser Dimension medienphilosophischer Fragestellungen bisher » ihre Unschärfe nicht verloren « haben.78 Sein eigener Vorschlag, wie in dieser Unschärfe Präzisierung zu gewinnen sei, lautet, das Apriori einer jeden Wahrnehmung als ein mediales anzunehmen.79 Er bestimmt eine so gefasste apriorische » Medialität « in der Folge von Walter ­Benjamin, ­Jacques Derrida und Jacques Lacan als » konstitutive Differenz zwischen und innerhalb der Welt der Zeichen «.80 Versucht man das Problem also philosophisch näher zu bestimmen, so stellt es sich als ein konstitutives, nicht lediglich als ein epistemologisches dar. Es scheint damit über das spezifisch neuzeitliche Sprachspiel einer Erkenntnistheorie hinauszuweisen, sofern man diese mit der Emanzipation des Denkens von einem theologisch-gefassten Substanzbegriff hin zu einem experimentell-wissenschaftlichen beginnen lässt. In eben jener neuzeitlichen Tradition postuliert auch Tholen die Medialität als ein epistemisches Feld und bestimmt es, in gewisser Abgrenzung zu dieser Herkunftslinie allerdings, als eines » ontologiefreier Verkörperung von Differenz «81, die » bereits der Medialität der Sprachzeichen 77 78

Stefan Münker, » Was heißt eigentlich ›virtuelle Realität‹ ? «. Tholen fasst das Problem als dasjenige des kategorialen Ortes des digitalen Mediums innerhalb der sich herausbildenden und sogenannten interaktiven Netzwerkgesellschaft, respektive als Geltung von Differenz und Übergang zwischen analogen und digitalen Medien. Vgl. Georg Christoph Tholen, » Medium, Medien «, in : Alexander ­Roesler und Bernard Stiegler (Hrsg.), Grundbegriffe der Medientheorie, Stuttgart 2005, S. 150–172, hier S. 164. 79 » Es gibt keine Wahrnehmung, die durch ihre natürliche Gegebenheit hinreichend bestimmt wäre. Deshalb ist das Medium auch nichts, was zu einer natürlichen Bestimmung der Wahrnehmung hinzutreten könnte, um sie zu erweitern oder gar zu verfälschen. Wahrnehmung ist stets eine des Mediums. « Vgl. Georg Christoph Tholen, » Überschneidungen «, S. 13. 80 Ebenda, S. 9. 81 Ebenda.

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in nuce eingeschrieben « sei.82 Damit greift er jedweder theoretischen Verkürzung vor, die innerhalb des Sprachspiels Fiktion und Realität, respektive Schein und Sein, deren Gegensätzlichkeit nicht auf ein Drittes hin, nämlich derer beider mediales apriori, zu überwinden versuchte. Die Frage, wie das kategorische Dritte zu bestimmen sei, ließe allerdings auch andere Modelle zu – etwa Jean-Luc Nancys Denken in Richtung eines kategorischen » Mit « und Michel Serres’ Denken eines kategorischen » Milieus « respektive » Gemischtheit «. In der Bestimmung dieses Dritten weiterzukommen gilt, wie Tholen betont, als eines der wichtigsten Desiderate einer philosophischen Medientheorie.83 Mit ähnlicher Absicht merkt auch Bernhard Waldenfels an, dass jede Konzeption von Wirklichkeit experimentellen Charakter besitze, und nicht etwa nur diejenige, die durch digitale Techniken vermittelt sei.84 Wolfgang Welsch weist für die Diskussionen um die Virtualität auf die Notwendigkeit hin, aus der Beschränkung des ­Cyberspace auszubrechen,85 und Erich Hörl bemerkt, dass zwar wohl die technisch-mediale Frage unabweisbar vor aller Augen liege, ihre Virulenz allerdings noch bei Weitem unterschätzt werde. 86 Was wir ihm zufolge gegenwärtig erleben, ist dass » der überlieferte triviale Sinn des Technischen – und mit ihm […] unser Welt- und Selbstverhältnis insgesamt – unter hochtechnologischen Bedingungen dabei ist, sich zu verschieben «.87 Vor diesem Hintergrund stellen sich zwei Fragen. Nähme man den kant­ schen Gestus der sogenannten starken These der Medienwissenschaft88 82 83

Ebenda, S. 16. Dieser Auffassung ist auch Hartmut Winkler, wenn er schreibt : » Der Begriff des technischen Apriori hat, wie Ebeling gezeigt hat, nur aufgrund vielfältiger Verschiebungen seine scheinbare Evidenz erlangt; sein epistemologischer Status ist auch 20 Jahre nach Entstehen immer noch nachhaltig ungeklärt. « Hartmut Winkler, » Die magischen Kanäle, ihre Magie und ihr Magier «, S. 161; vgl. dazu Knut Ebeling, » Das technische Apriori «, in : Lorenz Engell, Bernhard Siegert und Joseph Vogl (Hrsg.), Archiv für Mediengeschichte. Kulturgeschichte als Mediengeschichte, Band 6, Weimar 2006, S. 11–22, insbesondere S. 18ff. 84 Bernhard Waldenfels, » Experimente mit der Wirklichkeit «, in : Sybille Krämer (Hrsg.), Medien, Computer, Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und neue Medien, Frankfurt am Main 1998, S. 213–243. 85 Wolfgang Welsch, » ›Wirklich‹ «. Bedeutungsvarianten, Modelle, Wirklichkeit und Virtualität «, in : Sybille Krämer (Hrsg.), Medien, Computer, Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und neue Medien, Frankfurt am Main 1998, S. 169–212. 86 Erich Hörl, Bochumer Kolloquium Medienwissenschaft, Ausschreibungen online : www.kolloquium-medienwissenschaft.de (04.11.08). 87 Ebenda. 88 » Die Frage ›Vermitteln oder erzeugen Medien Sinn ?‹ wurde als Gretchenfrage einer Medientheorie eingeführt. Es wird jetzt deutlich, welche Perspektive sich in einer kulturanthropologischen Perspektive abzeichnet. Die Skylla des bloßen ›Medien-sindsekundär-Ansatzes‹ und die Charybdis des ›Medien-sind-primär-Ansatzes‹ kann […] dadurch vermieden werden, dass gezeigt wird, wie Medien im Akt der Übertragung dasjenige, was sie übertragen, zugleich mitbedingen und prägen. « Zitiert aus : Sybille Krämer, » Erfüllen Medien eine Konstitutionsleistung ? Thesen über die Rolle medientheoretischer Erwägungen beim Philosophieren «, in : Stefan Münker, Alexander Roesler und Mike Sandbothe (Hrsg.), Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs, Frankfurt am Main 2003, S. 78–90, hier S. 85.

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in voller Konsequenz ernst, so wäre auch der nächste Schritt notwendig, von der Annahme eines medialen Apriori unserer sinnlichen Wahrnehmung ausgehend über die erkenntnistheoretischen Konsequenzen jeder spezifischen Ausgestaltung respektive Bestimmung dieser Annahme nachzudenken.89 Damit ist allerdings ein größeres Problem in einer wechselseitigen Beziehung verbunden : Einer jeden Annäherung an die Absehbarkeit dieser Konsequenzen wohnen – ob explizit thematisierte oder uneingestanden implizite – Annahmen über jene kategoriale Bestimmung der Medialität inne. Eine solche freilich impliziert immer auch eine kategoriale Bestimmung von Geschichtlichkeit, respektive des Verhältnisses von Vernunft und Geschichte. Eine solche Bestimmung allerdings ist nicht einfach in die bestehenden Modelle kategorialer Ordnungen integrierbar, muss sie doch als Ertrag der Aufklärung einer jeden Ontologie vorgelagert bleiben. Daraus ergibt sich, dass jede Bestimmung von Historizität sich über das Postulat ihrer Bestimmbarkeit auch gleichzeitig die Annahme einer geschlossenen Teleologie einhandelt – ob in der Figur des Fortschrittes, des absoluten Geistes oder einer evolutionistisch gefassten » Naturkraft «. Die Paradoxität eines solchen Vorhabens der kategorialen Bestimmung » des Herausbringens «, des » Noch-nicht « ist im Klappentext zu Ernst Blochs Schrift » Experimentum Mundi « treffend formuliert : » Das Experimentum Mundi als Kategorienlehre eines offenen Systems heißt : Die Welt muss zwar als Einheit, als strukturiertes Ganzes – philosophisch als System – begriffen werden, aber zugleich als prozesshaftes Inswerksetzen des Noch-Nicht, ihrer unabgegoltenen utopischen Qualitäten. «90 Es lässt sich also ein erstes Fazit betreffend der Frage nach der Möglichkeit einer Genealogie von Medialität formulieren. Im Zentrum des Diskurses einer philosophischen Medienwissenschaft steht der Versuch, ein Konstitutivum für Medien systematisch zu bestimmen, ohne die eigentliche Qualität der Medialität als Offenheit preiszugeben. Dafür gibt es verschiedene Vorschläge : Bloch etwa gilt die » Utopie « als solches, Tholen gilt ein kategorisches, ontologiefreies » Dazwischen « als solches, Jean-Luc Nancy ein kategorisches » Mit « und Serres ein ebensolches » Milieu « oder eine » Mischung «. Alle diese Vorschläge sind jedoch keine formalen Vorschläge, sondern semantische. Daher sind sie auf eine spezifische Ethik ausgerichtet, in der unterschiedliche Wertvorstellungen zum Ausdruck kommen. Diese müssen sich nicht etwa gegenseitig ausschließen, aber sie gewichten unterschiedlich, was genau an Relationalität als 89

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So widmet etwa Krämer in ihrer Aufsatzsammlung » Spur « ein ganzes Kapitel der Frage nach der erkenntnistheoretischen Rolle dieses Konzeptes, jedoch ohne über das Herausstellen von Anschlusspunkten (etwa Lorraine Daston, Hans-Jörg Rheinberger, Uwe Wirth, Helmut Pape etc.) im aktuellen wissenschaftstheoretischen Diskurs hinauszudenken. Vgl. dazu Sybille Krämer, Gernot Grube und Werner Kogge (Hrsg.), Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, Frankfurt am Main 2007. Ernst Bloch, Experimentum mundi. Frage, Kategorien des Herausbringens, Praxis, Frankfurt am Main 1975.

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Konstitutivum von Medien am wertvollsten ist : etwa die gemeinsame Vorstellung einer wünschbaren Zukunft im Falle der Utopie (Bloch), die Vorsicht gegenüber der fatalen Struktur von Heilsversprechen in der Absage der Möglichkeit einer Ontologie (Tholen), eine Preisung des Füreinanders und damit der irreduziblen Singularität des Einzelnen in einem kategorial gesetzten » Mit « (Nancy) oder die Verpflichtung auf eine Perspektive der Immanenz bei gleichzeitigem Festhalten an der Möglichkeit für und der Kraft von Rationalität (Serres). Eine sinnvolle Genealogie des Medialen hätte eine Komparatistik der verschiedenen Vorschläge zu leisten. Daraus ergibt sich die Frage nach dem Kriterium, nach welchem ein solcher Vergleich vollzogen werden könnte. Das Dilemma scheint darin zu bestehen, dass die Wahl eines solchen Kriteriums selbst schon eine entsprechende Wertsetzung impliziert. Dies ist nun der entscheidende Punkt, in dem sich der Vorschlag von Deleuze gegenüber den anderen erwähnten Vorschlägen unterscheidet und einen Ausweg anbietet. Sein Vorschlag zur Bestimmung der Konstitutivität des Medialen ist kein ­semantischer, sondern ein formaler.91 Er entwickelt einen als Mathem gefassten Begriff des philosophischen Differentials. Formuliert als operationaler Begriff wird » Ähnlichkeit « damit selbst als Medium verstanden. Damit steht in Deleuze’ Virtualitätsphilosophie das Artikulieren von Beziehungen vor der Interpretation derselben.92 Damit ist das mediale Apriori auf eine gewissermaßen atomistisch verteilte Weise gedacht und kommt in jeder Erwägung eines Beziehungsgeflechts auf situative Weise zur Entfaltung. Aber damit greifen wir der Argumentation vor. Festhalten lässt sich zunächst, dass die Frage nach einer Theorie der Virtualität im medienwissenschaftlichen Diskurs in enger Verbindung mit diesen Anliegen – nämlich einer Komparatistik hinsichtlich der Bestimmungsweisen des medialen Apriori – steht. Schließlich versuchen die unterschiedlichen Modelle mit ihren Vorschlägen für eine kategorische Bestimmung von Medialität die Bedrohung, dass Erkenntnis über die für sie konstitutive Leistung des Medialen sich auf abwegige Illusionen verlassen könnte, abzuwehren. Damit scheint angesichts einer medial gedachten Wirklichkeit die epistemologische Rolle der Imagination nach einer neuen Bestimmung zu verlangen.93 Bereits José Ortega y Gasset sah sich etwa 91

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Genau dies wird ihm auch aus einer moralistisch-idealistisch verstandenen Ethik heraus formuliert vorgeworfen. Vgl. dazu Alain Badiou, Deleuze. The Clamor of Being, Minneapolis 1999; Slavoj Žižek, Körperlose Organe. Bausteine für eine Begegnung zwischen Deleuze und Lacan, Frankfurt am Main 2005; Peter Hallward, Out of this World. Deleuze and the Philosophy of Creation, London 2006. Dies wird im Kapitel » Das ›Informelle‹ oder Zum Konzept der Ähnlichkeit als Medium « ausführlicher dargestellt, siehe S. 192ff. Das Kapitel » Virtualität und die Frage nach dem Konstitutivum von Medien « widmet sich schließlich der Darstellung einiger unterschiedlichen Perspektiven auf die » Medialität «, siehe S. 43ff. Darauf hat insbesondere Georg Christoph Tholen wiederholt hingewiesen. Vgl. dazu insbesondere ders., » Der Verlust (in) der Wahrnehmung «.

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dazu veranlasst, das menschliche Leben selbst für » ein Werk der Einbildungskraft « zu halten.94 So weit muss man nicht unbedingt gehen, aber feststeht auf jeden Fall, dass medientechnische Geräte uns heute aisthetische Erlebnisse » präsentieren «, die an keine kulturell gewachsenen Muster, Schemen oder Typologien mehr anknüpfen und die dennoch verbindliche Interaktionen ermöglichen.95 Wenn also, wie diese starke These der Medienwissenschaft behauptet, noch » vor allen rein technisch konstruierten Virtualitäten « vielmehr » das Bewusstsein und die Einbildungskraft die virtuellen Apparate « sind,96 so gälte es vielleicht, der kritischen Wende der Philosophie in der Folge Kants weiterhin ins Vertikale zu folgen und in der Reflexion über mediatisierte Anschauungsformen nach einem Vorgehen zur » Begründung « oder » Legitimation « derselben zu suchen. Freilich würden die Anschauungsformen damit ihren allgemeinverbindlichen Status verlieren. Sie müssten als Ausprägungen in unterschiedlicher Medialität, oder, mit Deleuze gesprochen, als Aktualisierungen eines wie auch immer zu bestimmenden Virtuellen begriffen werden. Es wäre über die Möglichkeit einer Genealogie von Anschauungsformen nachzudenken, deren Herkunft mit der kantschen Instanz eines » allgemeinen Gemeinsinns « nur unzureichend zu erklären ist. Denn wären Kants transzendentale Schemen der Einbildungskraft selbst konstruierte, so wäre diesen in seiner Architektonik eine weitere Dimension voranzustellen. Es gälte dann, die subjekt- wie objektphilosophischen Bestimmungen Kants auf eine wie auch immer zu begreifende höhere Allgemeinheit hin zu beziehen. Foucault rekurriert in seiner Methode einer Analytik der Geistesgeschichte dafür auf eine – erst einmal befremdliche – Ebene des » Konkreten « statistischer Betrachtungsweisen, das heißt auf die Ebene abstrakt gefasster » Populationen « von » Instanzen «. Damit geht ein neues Set an Fragen für jede Genealogie einher : » Die alten Fragen der traditionellen Analyse (welche Verbindungen zwischen disparaten Ereignissen soll man feststellen ? Wie soll man eine notwendige Folge zwischen ihnen feststellen ? Welche Kontinuität durchdringt sie oder welche Gesamtbedeutung nehmen sie schließlich an ? Kann man eine Totalität definieren oder muss man sich auf die Rekonstruktion von Verkettungen beschränken ?) werden künftig durch Fragestellungen anderen Typs ersetzt : welche Schichten muss man voneinander isolieren, welche Serientypen einführen ? Welche Periodisierungskriterien für jede von ihnen anwenden ? Welches Beziehungssystem (Hierarchie, Dominanz, Abstufung, 94 95 96

José Ortega y Gasset, » Betrachtungen über die Technik «, in : ders., Signale unserer Zeit, Stuttgart und Salzburg, S. 445ff., hier S. 467. Vgl. dazu etwa Michael Harenberg, Virtuelle Instrumente. Beispiele für dasselbe Phänomen lassen sich heute allerdings in völlig verschiedenen Gebieten ausmachen. So Goedart Palm, CyberMedienWirklichkeit.

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eindeutige Determination, kreisförmige Kausalität) kann man von einer zur anderen beschreiben ? Welche Serien von Serien kann man feststellen ? Und in welcher Tabelle kann man langfristig distinkte Folgen von Ereignissen bestimmen ? «97 Mit diesem neuen Set an Fragen für eine Genealogie verändert sich unweigerlich auch der Begriff von » Konstruktion «, und mit diesem derjenige von » Technik « als Inbegriff von » Funktionalität «. Alle diese Fragen sind mit dem Problem eines philosophischen Begriffs der Virtualität, für dessen nähere Bestimmung eine Genealogie des Medialen von zentraler Bedeutung ist, verbunden. Doch welche Form könnte eine solche Genealogie selbst erhalten ? Würde sie als Geschichte verstanden, die sich anhand von » Dokumenten « ablesen ließe, so bliebe sie in einem repräsentationalen Denken verhaftet, dessen identitätslogische Voraussetzungen sie mit dem methodischen Wechsel auf die neue Bezugsebene von statistischen Häufigkeitsverteilungen und Regelmäßigkeiten doch gerade zu überwinden versucht. Foucault begegnet diesem Dilemma, indem er sein Vorgehen als eine Inversion der strukturellen Perspektive hin zu einer immanenten Beschreibung der Zusammenhänge begreift : » Man könnte, wenn man etwas mit den Worten spielte, sagen, dass die Geschichte heutzutage zur Archäologie tendiert – zur immanenten Beschreibung von Monumenten. «98 Die Einheiten von Wissensordnungen, die er so zu untersuchen vorschlägt, nennt er konsequenterweise denn auch » architektonische « Einheiten.99 Die Analytik, die er so zu charakterisieren sucht, legt dem historischen Genealogen nahe, sich, bildlich gesprochen, in denjenigen Gebäuden aufzuhalten, über die er gerade einen Überblick zu gewinnen versucht. Foucaults Analytik ist eine in medias res und erscheint so betrachtet als Methode, die den Weg in Richtung einer philosophischen Architektonik unter mediatisierten Vorzeichen weist. Im Folgenden werden nun zwei Akzente gesetzt, um die hier diagnostizierte Notwendigkeit einer Genealogie des Medialen zu plausibilisieren. Zum einen soll eine anschauliche Darlegung erfolgen, inwiefern sich die breit installierte Informatisierung von Kunst, Wissenschaft, Wirtschaft und Alltag als kulturgeschichtliche Wendezone begreifen lässt, die über das Desiderat einer adäquaten Ethik eine im 20. Jahrhundert weitgehend uneingestandene symbolistische Ontologie bloßlegt. Zum anderen soll eine Herleitung erfolgen, inwiefern die Problematik des » virtuellen Raums « sich als Spannungsfeld darstellt, in dessen Zentrum das schwierige Verhältnis zwischen Interpretation und Formalisierung steht, oder anders formuliert : zwischen Zahl und 97 98 99

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Michel Foucault, Archäologie des Wissens, S. 10. Ebenda, S. 15. Ebenda, S. 12.

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Begriff, oder mit Georg Wilhelm Friedrich Hegel gesprochen : zwischen Rechnen und Denken. Abschließend sollen die jeweiligen Fäden wieder zusammengeführt werden. I.II.

informatisierung als kulturgeschichtliche wendezone

Zur Notwendigkeit einer Radikalisierung des ­kritischen Programms » Philosophisch interessant ist das Informationsproblem indessen nicht zuletzt deswegen, weil wir unter ›Information‹ etwas verstehen, was den neuzeitlichen Dualismus in der einen oder anderen Weise aushebelt : Gehört Information zu Descartes’ ›res cogitans‹ oder zu seiner ›res extensa‹ ? Ist sie materiell oder ideell ? «100 Das Konzept der Virtualität verweist auf eine offensichtlich notwendig gewordene Neuformulierung eines Problems, welches in gewisser Weise die Anfänge der Philosophie überhaupt markierte : » Was unterscheidet […] Realität und Einbildung voneinander, wenn doch ein böser Dämon uns die Wirklichkeit nur vorgaukeln könnte ? «101 Platon schuf zur Abwehr dieser Bedrohung das Gebäude einer transzendenten Ordnung, mit dessen Hilfe sich Sein von Schein unterscheiden ließ. René Descartes ersetzte im 17. Jahrhundert die Gewissheit, wie eine Ideenschau alias theoria sie in Aussicht stellte, durch seinen methodischen Zweifel und eröffnete damit die Möglichkeit für systematisches Experimentieren wie auch für Kritik. Bei ihm saßen die Sinne, die Wahrnehmung und die Einbildungskraft auf der Anklagebank, und er wusste zur Linderung des umfassenden Zweifels gegenüber ihrer mangelnden Vertrauenswürdigkeit just jene Vorschläge zu formulieren, die heute mehr denn je problematisch geworden sind : » Ortlosigkeit «, » Immaterialität «, » Transzendenz des Ich « sind Stichworte, die gegenwärtig gewissermaßen das Lager gewechselt haben. Anders als zu Descartes’ Zeiten stellen sie nicht mehr länger die notwendigen Instanzen dar, um eine Theorie vernünftigen Denkens über die Welt, ohne Rekurrenz auf ein göttliches Jenseits, zu gewährleisten. Stattdessen leiten sie die Vorstellung einer technisch getriebenen Virtualität an, und zwar geradezu in Hinsicht auf ein scheinbar nun in positiver Weise in oder aus der Welt selbst greifbar werdenden Jenseits. Aus dieser Strukturähnlichkeit der heutigen gegenüber der vergangenen Situation spricht ein Dilemma, welches in der Forderung einer Kritik an der erkenntnistheoretischen Dichotomie von » Sein « und 100 Carl Friedrich von Weizsäcker, » Geist und Natur «, in : Hans-Peter Dürr und Walter C. Zimmerli (Hrsg.), Geist und Natur. Über den Widerspruch zwischen mehr wissenschaftlicher Erkenntnis und philosophischer Welterfahrung, Bern 1991, S. 17. 101 Goedart Palm, CyberMedienWirklichkeit, S. 23.

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» Reflexion « zum Ausdruck kommt : Es gibt nur das mit sich selbst identische Sein als Thema der Reflexion, die sich damit begnügen muss, allein das, was » ist «, nachzuzeichnen.102 Für eine Reflexion im kategorialen Raum, in dem Medialität oder Virtualität zu bestimmen wären, ergibt sich die Ausweglosigkeit einer reflexionslogischen Kritik. Denn als Reflexion muss sie jene logischen Prämissen immer schon voraussetzen, deren Begründung sie eigentlich reflektieren möchte. In einer dualistischen Erkenntnistheorie allerdings wird diese der Reflexionslogik eigene Operationalität » weggekürzt «. Genau diesen transparent gesetzten Status der Maßgabe, die in der Reflexion selbst am Werk ist, versucht Hegel in seiner Wissenschaft der Logik einzufangen, indem dem Negativen (als Reflexion) eine höhere logische Mächtigkeit zugesprochen wird als dem Positiven (den objektiven Daten). Die gesamte Philosophie des Idealismus kreist um dieses Problem. An diesem Punkt sind sich die beiden prominentesten Positionen, diejenige einer spekulativen Dialektik (Hegel) und diejenige einer naturphilosophischen Semiotik (Charles Sanders Peirce), so nahe wie nur möglich, wenngleich auch in vielleicht radikalster Weise unterschiedlich voneinander. Der entscheidende Punkt dieser Nähe, bei gleichzeitiger Unterschiedlichkeit, scheint mir, mit Vilém Flusser gesprochen, im Kern ein ethischer zu sein. In seiner Schrift » Vom Zweifel « schreibt dieser : » Obwohl das Klima des Zögerns und Zweifelns intellektuell ehrlicher ist als das Engagement und der Fanatismus, sind beide in Wirklichkeit Attitüden einer Verzweiflung. Sie bezeugen beide den Verlust des Glaubens an den Intellekt, ohne die nihilistische Stimmung positiv zu überholen zu versuchen. Das ist die Situation der heutigen Philosophie. «103 Bemerkenswert an dieser Aussage ist die Akzentuierung, mit der Flusser » intellektuelle Ehrlichkeit « auf eine Ebene stellt mit » Engagement und Fanatismus « : Als Attitüden einer Verzweiflung nehmen sowohl Engagement wie Fanatismus bei bester Absicht für alle (alias das Innen, die Gemeinschaft, das Soziale oder Ähnliches) für sich selbst jedoch eine Position » im Außen « ein und bezeugen damit den nihilistischen Verlust, an die Intellektualität zu glauben. Die ethische Entscheidung hinter einer spekulativen Dialektik und einer naturphilosophischen Semiotik betrifft eine Theorie der Bedeutung, respektive eine Theorie zu deren Bewertung. Es scheint in der Tat wenige Entscheidungen zu geben, deren Konsequenzen noch tiefer greifen als jene, die das Verhältnis zwischen Zeichen und Symbolen, zwischen sprachlichem und formalem Ausdruck, betreffen. 102 Ort hat in ihrer Studie zur operativen Reflexionslogik Gotthard Günthers und semiotischen Logik Charles Sanders Peirce mögliche Auswege aus diesem Dilemma erkundet. Vgl. dazu Nina Ort, Reflexionslogische Semiotik. Zu einer nicht-klassischen und reflexionslogisch erweiterten Semiotik im Ausgang von Gotthard Günther und Charles S. Peirce, Weilerswist 2007. Vgl. dazu auch Anm. 200. 103 Vilém Flusser, Vom Zweifel, S. 13.

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Eine Erörterung dieser Fragen implizierte eine Behandlung auch des Skeptizismus und kann in der vorliegenden Arbeit deshalb kein Thema sein.104 Der Anspruch hier beschränkt sich darauf, die sich stellenden Fragen als Bausteine kenntlich zu machen, um zwischen einer gegenwärtig sich stark reflexiv entwickelnden Theorie der Medien und deren Möglichkeiten wie Grenzen zur Orientierungshilfe hinsichtlich einer vernünftigen Praxis in anwendungsbezogenen Kontexten Brücken zu bauen. Denn in eben jenen Bereichen, die in der Ethik angesichts der rasanten technischen Fortschritte verhandelt werden müssen, lässt sich hinsichtlich der Bedeutung von » Medialität « und ­» ­Informatisierung « eine nachhaltige Unsicherheit feststellen. Friedemann Mattern schreibt dazu : » Wenn informationstechnisch das 21. Jahrhundert wirklich charakterisiert werden sollte durch eine Verlängerung des Internets in die Realwelt hinein, durch smarte Brillen, intelligente persönliche Assistenten, Ambient Intelligence sowie schlaue Alltagsdinge, die Medien ihrer selbst sind, dann steht uns jedenfalls einiges bevor : Der historische Streit um Freiheit, Grundrechte, staatliche Gemeinwohlverpflichtung, Ressourcen, Monopole, Macht und korrekte Weltinterpretation könnte sich dann an ganz anderen Objekten entzünden und Strukturen festmachen, als wir es bisher gewohnt sind ! «105 Wie heißen in einer weitgehend informatisierten Welt die entscheidenden Machtfaktoren ? Wird dann vielleicht, statt um Arbeit und Kapital wie im Industriezeitalter, heftig um Wissensmonopole und den Zugang zu Realweltdaten sowie um die damit verbundene Interpretationshoheit gestritten ? Jüngste Änderungen im Patentrecht und im Copyright, Streit um Gendatenbanken, Zensurvorwürfe an die Betreiber von Suchmaschinen, Diskussionen bei den Digitalisierungsprojekten ganzer Bibliotheken oder bei den Rechten auf das Saatgut genmanipulierter Pflanzen könnten möglicherweise die ersten Vorboten dafür sein, so fährt Mattern fort. 106 Grundlegende Klassifikationen werden zunehmend als kontingent erkannt und scheinen nahezu arbiträr verfügbar zu sein. Die lange Zeit nicht hinterfragte praktizierte Orientierung an traditionellen Ordnungsstrukturen, typologischen oder gar archetypischen, wird in diversen Bereichen der Künste des 20. Jahrhunderts und mittlerweile etwa auch in der Materialwissenschaft und den Biowissenschaften problematisch. Einerseits 104 Vossenkuhl hat versucht, eben jenes Dilemma zu transzendieren, indem er die Paradoxalität zur konstitutiven Grundlage seiner Konzeption des Guten und damit zur Grundlage seines Entwurfs einer genuin politischen Ethik erklärt. Vgl. Wilhelm Vossenkuhl, Die Möglichkeit des Guten. Ethik im 21. Jahrhundert, München 2006. 105 Friedemann Mattern, » Hundert Jahre Zukunft – Visionen zum Computer- und Informationszeitalter «, in : ders. (Hrsg) : Die Informatisierung des Alltags – Leben in smarten Umgebungen, Berlin 2007, S. 351–419, hier S. 407. 106 Ebenda, S. 407.

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kommt den neu konstruierten, sogenannten informierten oder smarten Materialien eine » Eigenaktivität « zu, sodass die traditionelle philosophische Bestimmung von » Materie « als » inert « sich als unzureichend erweist.107 Jean-François Lyotard hatte zusammen mit Thierry Chaput zu diesem Thema bereits 1985 die inzwischen legendäre Ausstellung Les immatériaux108 im ­Centre Pompidou in Paris konzipiert. Deren Fragen an die Wissenschaft im Allgemeinen sowie an die Philosophie und die Medienwissenschaft im Speziellen haben seither an Brisanz gewonnen. Lyotard hatte seinerzeit das Konstrukt der » Immaterialien « gebildet, um Materie als Zusammenhang nicht greifbarer Elemente darzustellen, die nur durch Strukturen begrenzter Gültigkeit bestimmbar sind. Bruno Schindler dazu : » Sie [die Immaterialien] bezeichnen eine Struktur, in der der herkömmliche Gegensatz zwischen Geist und Materie keinen Platz mehr hat […]. Bei den Immaterialien erscheint die Zuweisung (von Geist und Materie) an einen Pol der Struktur als Fehler. ›Ein und dieselbe‹ (Sache) kann verschiedene Pole der Struktur besetzen. «109 In solcherlei » medialer « Materialität kommt eine gleichsam als überpersönlich wahrgenommene » Wirkmacht « zur Geltung, als deren Motor oder Anima oft » der Kapitalismus « stigmatisiert wird. So stellt etwa Tholen die Frage : » Was bedeutet es, dass im Vergleich zu früheren technisch-industriellen Umbrüchen die neuen Technologien der Information und Kommunikation die conditio humana mit einer bis anhin unvorstellbaren Geschwindigkeit verbreiten, weltweit ? «110 Betrachtet man diese Entwicklungen nicht von den Informationstechnologien her kommend, sondern von dem, was neu als » Material « verfügbar geworden ist und auch als ebensolches » gehandelt « wird, so scheint es tatsächlich einen Anlass für dieses Unbehagen zu geben. Es wird nämlich mittlerweile » lebendiges Material «, also » Fleisch « oder auch Blut, Stammzellen oder DNA, als » Ressource « genutzt, gerade so wie seit jeher materielle Rohstoffe gesammelt, verwaltet und verbraucht werden.111 Die sogenannte Bioart stilisiert wie kritisiert die Potenziale 107 Vgl. dazu Nathan Brown, » The Inorganic Open : Nanotechnology and Physical Being «, in : Radical Philosophy, Nr. 144, Juli  /August 2007, S. 33–44; ders., » Needle on the Real. Technoscience and Poetry at the Limits of Fabrication «, in : Katherine Hayles (Hrsg.), Nanoculture. Implications of the New Technoscience, Bristol 2004, S. 173–190. 108 Die Ausstellung Les immatériaux im Centre Georges Pompidou wurde von JeanFrançois Lyotard und Thierry Chaput kuratiert und war vom 28.03. bis 15.07.1985 zu sehen. Vgl. dazu Antonia Wunderlich, Der Philosoph im Museum. Die Ausstellung » Les Immatériaux « von Jean François Lyotard, Bielefeld 2008. 109 Bruno Schindler, » Zeichnen und Maßwerk, Rechner und Apfelmännchen «, in : arch+, Nr. 83, Raum-Zeit und CAD-Architektur, Dezember 1985. 110 Georg Christoph Tholen, »  Jean-François Lyotard (1924–1998)  «, in  : Stefan ­Majetschak (Hrsg.), Klassiker der Kunstphilosophie. Von Platon bis Lyotard, München 2005, S. 307–328. 111 Vgl. dazu beispielsweise Bianka Dörr, » Once Given – Forever in a Biobank ? Legal Considerations on the Protection of Donors and the Handling of Human Body Materials in Biobanks from a Swiss Perspective «, in : Peter Darbrock, Jens Ried und Jochen Taupitz (Hrsg.), Trust in Biobanking. Dealing with Ethical, Legal, and Social Issues in an Emerging Field of Biotechnology, Berlin 2010.

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dieser Umwälzungen in ihren ethisch provokativen » Schöpfungen «.112 Diese kategoriale Unschärfe bewirkt einige Verwirrung hinsichtlich eines ethisch vertretbaren Umgangs mit den neuen digitalisierten Technologien im Konkreten, etwa dort, wo die Schwelle zwischen Maschine und Organismus verschwimmt (Nanobots beispielsweise) oder wo sich rechtliche Fragen nach dem Eigentumstatus unserer biologischen » Informationen « im sogenannten physiologischen Abfall (wie etwa der Plazenta bei Geburten) ergeben.113 Trotzdem bleibt bei besagter Analyse des » epochalen Einschnitts der Immaterialien «114 die Struktur des von Lyotard aufgeworfenen Problems hinter dem alerten politischen Blick etwas im Dunkeln, nämlich die Befragung des » herkömmlichen Gegensatz[es] von Geist und Materie «115. Sobald dieser infrage gestellt wird, stellt sich besagte weltweite Verbreitung einer bestimmten conditio humana als sekundär dar : Zweifellos geht es bei einer Veränderung des Verhältnisses Geist–Materie–Energie auch um eine tief greifende Veränderung eben dieser conditio humana. Die befürchteten egalisierenden Konsequenzen einer weltweiten Verbreitung – » Werden Kulturen und Gesellschaften homogenisiert oder bewahren sie eine Differenz, die kein Rückschritt wäre ? «116 – könnten dabei ohne eine vorlaufende oder wenigstens kontemporär begleitende philosophische Auseinandersetzung mit jener sich verändernden conditio humana durchaus in die Dynamik einer tragischen Erfüllung ihrer warnenden Prophezeiungen geraten.117 Das Problem der Rahmung eines erweiterten Prinzips der Verfügbarkeit Ein implizites Bewusstsein für die Notwendigkeit einer Radikalisierung des kritischen Programms zeigt sich beispielsweise auch in den (fehlenden) Strategien zum Umgang mit der komplexen Rückbezüglichkeit der » technisierten « Welt : » Unter dem […] rechnenden und sichernden Vorstellen perpetuieren wir die Regulationsleistungen unserer Systeme immer höherstufig, was zu einer Flexibilisierung der Systeme 112 113

114 115 116 117

Vgl. für eine Übersicht etwa den Sammelband von Eduardo Kac (Hrsg.), Signs of Life. Bio Art and Beyond, Cambridge 2007; siehe auch Eugene Thacker, The Global Genome. Biotechnology, Politics, and Culture, Cambridge 2005; ders., Biomedia, Minneapolis 2004. Vgl. Bianka Dörr, » Von Embryonen und Stammzellen – Einige Gedanken zur Debatte und Patentierbarkeit von humanen embryonalen Stammzellen aus rechtsvergleichender Perspektive «, Vorbereitung zur Veröffentlichung, online : http : //rwiweb.uzh.ch/ oberassistenz_doerr (05.01.2009). Georg Christoph Tholen, » Jean-François Lyotard (1924–1998) «. Jean-François Lyotard, » Philosophie in der Diaspora «, in : ders. u.a., Immaterialität und Postmoderne, Berlin 1985, S. 23; hier zitiert nach : ebenda. Georg Christoph Tholen, » Jean-François Lyotard (1924–1998) «. Beunruhigenderweise bietet das Strukturmodell des dialektischen Idealismus (sich selbst verwirklichender Weltgeist) ohne seine eigene Virtualisierung eine durchaus noch bestehende Möglichkeit, sich auch als Philosoph und/oder Theoretiker mit dieser Tragik zu arrangieren. Vgl. zum Thema Virtualisierung von Dialektik den dritten Teil dieser Arbeit » Virtualisierung von Dialektik : Zum Verhältnis zwischen Theorie und Synthese «, siehe S. 209ff.

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führt. Das heißt, die Regulationsleistungen werden ihrerseits zunehmend von komplexeren Systemen erbracht «118, wie Christoph Hubig ausführt. Die heutigen Regulationssysteme verhalten sich zunehmend reflexiv zu ihren jeweils objektstufigen Systemen, und diese Reflexivität technisch-konstruierter Zusammenhänge erzeugt bei einem ins Größere gerichteten Wechsel der Skala, sei sie zeitlicher oder räumlicher Art, langfristig ein Systemverhalten, welches man gemeinhin als » emergent « oder » komplex « bezeichnet. Emergent bedeutet hier, dass das » Funktionieren « dieser Reflexivität nicht mit den Zusammenhängen und Termen des niederstufigen Systems beschreibbar ist. Das heißt, es bleiben uns lediglich heuristische Annäherungen an ein besseres Verständnis des regulierenden Systems, keine prinzipiellen. Walther Ch. Zimmerli hat diesbezüglich eine » falsifikatorische Asymmetrie « diagnostiziert119, andere wie Gerhard Gamm und Andreas Hetzel sprechen von einer » Unbestimmtheitsdimension « als Phänomen moderner Technik.120 Hubig unterscheidet drei Strategien zum Umgang mit diesen : die Maximen einer radikalen Moderne, welche die Bemächtigung ihrer Umwelt immer weiter vorantreibt; die Maximen einer reflexiven Moderne, deren Protagonisten sich ihres eigenen Nichtwissens zu vergewissern suchen; und schließlich diejenigen einer Postmoderne, die durch Dekonstruktion an ein wie immer Vorkonstruktives heranzukommen suchen.121 Vorläufig lässt sich auf jeden Fall konstatieren, dass es gegenwärtig ein zunehmendes Unbehagen gibt gegenüber dem Umgang mit Informationstechnologien und Medien. Im Namen der Virtualität konnte eine Idee der Derealisierung am Ende des 20. Jahrhunderts augenscheinlich zu einer etablierten Folie des kulturellen Imaginären avancieren. Dies verweist auf eine tief gehende Verunsicherung, die nicht zuletzt das Ergebnis eines monumentalen Projekts der Abschaffung ontologisch (und auch kosmologisch) geschlossener Weltbilder darstellt. In seinem Ausmaß scheint damit durchaus ein historischer Wendepunkt markiert zu sein, auf den man sich gemeinhin mit den Begriffen einer umfassenden Informatisierung bezieht.122 118 Christoph Hubig, » ›Wirkliche Virtualität‹ «, S. 47. 119 Zitiert nach Hubig, ebenda, S. 47, der schreibt : » Mit der erbrachten höherstufigen Regulationsleistung geht also per se einher, dass diese relativ zu der Determination des niederstufigen Systems unbestimmt ist. Ihre ›Signatur‹ kann dann nur eine zweifache sein : entweder der Erhalt des niederstufigen Systems oder dessen Zerstörung mangels Regulationsleistung des höherstufigen Systems. Das ist die ›falsifikatorische Asymmetrie‹ (Walther Ch. Zimmerli) – ein Aspekt der Problematik der langfristigen Technikfolgen. « 120 Zum Beispiel : Gerhard Gamm und Andreas Hetzel (Hrsg.), Unbestimmtheitssignaturen der Technik. Eine neue Deutung der technisierten Welt, Bielefeld 2005. 121 Vgl. dazu Christoph Hubig, » ›Wirkliche Virtualität‹ «, S. 47ff. 122 Vgl. dazu den Beitrag von Zimmerli, der » Information « als verbindendes Element der von Charles Percy Snow in seiner einflussreichen Rede von 1959 unterschiedenen Kulturen in den Wissenschaften begreift : Walter Ch. Zimmerli, » Information und Kultur. Information als verbindendes Element der Kulturen «, in : Eduard J. M. Kroker und Bruno Dechamps (Hrsg.), Information – die dritte Wirklichkeitsart neben Materie und Geist, Frankfurt am Main 1995, S. 39–52. Vgl. dazu auch Charles Percy Snow, The Two Cultures and the Scientific Revolution, London 1960.

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Verfolgt man die jeweiligen Diskurslinien, so verdichtet sich die Hypothese einer Steuerungsgesellschaft123, für die alles, was ist, ein Steuerungs- und Regulierungsproblem darstellt und die derzeit in eine Kontrollgesellschaft umzuschlagen droht. Zugleich wird mit der beginnenden Historisierung der Anfänge der Informationswissenschaft als Kybernetik124 die in diesem frühen Denken innewohnende, von der Technik- oder Medientheorie bislang jedoch seltsam totgeschwiegene » symbolistische Ontologie « deutlich.125 Nun sind die Konsequenzen dieser unausgesprochenen Voraussetzung augenfällig, auf deren Annahme das Operieren mit » Information « in Form referenzloser Symbole beruht, deren Transformationsprozesse als Regelkreise organisiert sind. Was bislang als Modell von etwas verstanden worden ist, wird zunehmend und in diversen Bereichen als Simulation für etwas gehandhabt, dessen technisches Operationalisieren sich zunehmend löst von einem notwendigerweise vorgängigen, für diese synthetische Verfügbarkeit konstitutiven Verstehen.126 Damit gerät ein Außen in unseren technischen Verfügbarkeitsbereich,127 das sich durch ein rein reflexives theoretisches Denken nicht mehr einholen lässt. Der damit jedoch ebenfalls einbrechende, in der Struktur der Simulation beheimatete technizistische Reduktionismus induziert – wie schon seine Vorläufer 123 Vgl. Gilles Deleuze, » Post-scriptum sur les societiés de contrôle «. Dieser Aufsatz ist zuerst erschienen in : L’Autre journal, Nr. 1, Mai 1990, und wurde dann in die folgende Textsammlung aufgenommen : Gilles Deleuze, Pourparlers : 1972–1990, Paris 1990, S. 240–246. 124 Exemplarisch dazu : Erich Hörl und Michael Hagner (Hrsg.), Die Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik, Frankfurt am Main 2008. Vgl. dazu auch die gesammelten Protokolle der MacyKonferenzen : Claus Pias (Hrsg.), Cybernetics-Kybernetik, Band 1 und 2 : The Macy-Conferences 1946–1953, Zürich und Berlin 2003. Für eine zeitgeschichtliche Einordnung der Kybernetik siehe beispielsweise : N. Katherine Hayles, How We Became Posthuman. Virtual Bodies in Cybernetics, Literature, and Informatics, Chicago 1999; hier insbesondere ihre Besprechung der Macy-Konferenzen, siehe S. 50ff. 125 Zum Kurzschluss der kybernetischen Epistemologie in ihrer Konzeption des Digitalen siehe insbesondere den Aufsatz von Claus Pias, » Elektronenhirn und verbotene Zone. Zur Kybernetischen Ökonomie des Digitalen «, in : Jens Schröter und Alexander Böhnke (Hrsg.), Analog/Digital – Opposition oder Kontinuum ? Zur Theorie und Geschichte einer Unterscheidung, Bielefeld 2004, S. 295–310. Mit der grundlegenden Gegenüberstellung von digital und analog hätte die Kybernetik die Unterdrückung eines notwendigen Dritten, etwa einer Passage, einer Materialität oder wie auch immer man es nennen möchte, zum eigentlichen Motor » eines Funktionierens, das Beobachtung heißt « gemacht (S. 307f.). Siehe dazu auch Claus Pias, » Die kybernetische Illusion «, in : Claudia Liebrand und Irmela Schneider (Hrsg.), Medien in Medien, Köln 2002, S. 51–66. 126 Vgl. beispielsweise exemplarisch : Johannes Lenhard, Günter Küppers und Terry Shin (Hrsg.), Simulation. Pragmatic construction of reality, New York 2006. 127 Siehe dazu beispielsweise : Elisabeth List, Grenzen der Verfügbarkeit. Die Technik, das Subjekt und das Lebendige, Wien 2001, oder auch das etwas polemische Manifest von Norbert Bolz : bang design. Ein Design Manifest für das 21. Jahrhundert, Hamburg 2006. Ebenfalls dazu : Vera Bühlmann und Martin Wiedmer (Hrsg.), Pre-specifics. Komparatistische Beiträge zur Forschung in Design und Kunst, Zürich 2008.

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in den Anfängen und zur Blütezeit der Kybernetik 128 – einiges an Konfliktpotenzial. Augenfällig werden die Missstände im Feld einer philosophisch orientierten Theorie im Umgang mit der Medialität heutiger Informationstechnik – und das heißt konkret vor allem : einer ethisch begründeten Theorie. Auf diese Situation hat beispielsweise Klaus M. Bernsau prägnant in seiner Kritik an der Leichtfertigkeit des Begriffs der » Informationsgesellschaft « hingewiesen : » Die Doppelgesichtigkeit von Information in der Informationsgesellschaft ist, dass sie sich zum einen als eine objektive, wahre Entität darstellt, zum anderen aber auch als immateriell, wertfrei, und somit in Summe oft als das Gute schlechthin angesehen wird. «129 Seine Kritik betrifft das mit diesem Begriff strukturell verbundene Versprechen der Möglichkeit, in einem wertfreien Raum130 sozial handeln und gemeinsam leben zu können. Dieses Versprechen entlarvt er als ein leichtsinniges, weil gerade durch seine Verführungskraft tendenziell ein ganzer Zweig des kulturellen Wissens über den Umgang mit Störungen, Andersheiten und Irritationen verloren zu gehen droht : » Andersdenken ist im simplifizierenden Kommunikationsmodell der Informationstheorie nicht 128 Herbert A. Simon, The Sciences of the Artificial, Cambridge 1996 [1969]. Simon hat dieses Buch vor dem Hintergrund der damaligen Kybernetik geschrieben, die sich als Repräsentant einer epistemischen Epochenschwelle verstand und in allen möglichen und heterogen geglaubten Wissensbereichen die gleichen Gesetze von Information, Feedback und boolscher Logik ausmachen zu können glaubte. Die Kybernetik beanspruchte Geltung als neue Universalwissenschaft des damals gerade angebrochenen Informationszeitalters, als Wissenschaft für Lebewesen ebenso wie für Maschinen, für ökonomische Prozesse ebenso wie für psychische, für soziologische Phänomene ebenso wie für ästhetische. Simons Buch entstand fast zeitgleich zu seiner Arbeit an dem Forschungsprojekt » The General Problem Solver «, in dem er gemeinsam mit Allen Newell eine Software für das Simulieren menschlicher Vernunft entwickeln wollte. Das Projekt gilt inzwischen als gescheitert. Siehe Newell und Herbert A. Simon, » GPS, a program that simulates human thought « (1961), in : Eduard ­Feigenbaum und Julian Feldmann (Hrsg.), Computers and Thought, Cambridge, 1995 [1963]. 129 Klaus M. Bernsau, » Das Missverständnis der Informationsgesellschaft. Semiotische Kritik eines leichtfertigen Begriffs «, in : Trans. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaft, Ausgabe : Zeichen, Texte, Kulturen. Konvivialität aus semiotischer Perspektive, hrsg. von Jeff Bernard, Nr. 4, Juni 2004, online : http ://www.inst.at/trans/15Nr/01_2/ bernsau15.htm (06.01.2009.). Ohne Seitenangaben. 130 Wertfrei deshalb, weil dieser » Raum « durch eine von jeder Semantik abstrahierten Formalisierung des Konzeptes » Information « im rein Symbolischen konstituiert wird. Es sind genuin » medial « konstituierte Räume zur Interaktion, wobei jedoch jede tatsächliche Interaktion die Instantiierung in eine spezifische Semantik verlangt. Genau dies wird mit jedem kybernetischen Kommunikationsmodell schlichtweg negiert. Eben dies ist auch die Kritik einer alternativen Rezeptionsbewegung des Potenzials der elektrischen Informationstechniken, der sogenannten Mécanologistes, in deren Tradition der prominente französische Philosoph und Informationswissenschaftler Gilbert Simondon geschrieben hat. Vgl. ausführlicher zu diesem nur selten beachteten historischen Parallelgeschehen zur Anfangszeit der Kybernetik die Ausführungen im dritten Teil dieser Arbeit im Kapitel » System, Element, Serie. Inversion mimetischer Traditionslinien « (siehe S. 241ff.). Zu nennen ist in diesem Kontext außerdem der deutsche Philosoph Gotthard Günther, der wie Simondon zur Lösung des Wertepro­ blems einen eigenen Seinsstatus für technische Objekte annahm, um darauf aufbauend eine » operative Reflexionslogik « zu entwickeln. Vgl. dazu auch Anm. 102.

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vorgesehen. Allzu leicht wird es daher statt als natürlich als Widerstand oder schlicht als böse gewertet. «131 Verfolgt man die vielfältigen Metaphern, die zur Umschreibung der auf die Medientechnologien zurückzuführenden Umwälzungen derzeit in Gebrauch sind, so stößt man überall auf Rhetoriken, die sich des Elements » des Flüssigen « als wichtigem Begriff bedienen. Seine Verwendung entspringt der Konsequenz, Raum im Informationszeitalter nicht mehr als Behälter für Objekte zu verstehen, sondern als noch genauer zu bestimmendes Milieu, in dem sich Relationen ausbilden können. Im » Space of Flows «132 prägen sich die Beziehungen ständig neu aus, festigen sich, können sich laufend wiederum verteilen oder auflösen. Anstelle des räumlichen Distanzbegriffs setzte sich zunehmend der strukturgebende Begriff der » Erreichbarkeit « durch : » An die Stelle des Distanz-, Trennungs- und Platzierungsraums, den man die Natur nannte, tritt der Sammlungs-, Verknüpfungs- und Verdichtungsraum, der uns als Technikumwelt umgibt. «133 Die Macht, mit Symbolen rein formal zu operieren, haben ein Strukturdenken mobilisiert das unter der Vorherrschaft eines mechanistischen Denkens als Zeitloses und Festkörperliches gedacht und mit Wissenschaftlichkeit gemeinhin assoziiert worden war. Die festkörperliche Physis scheint aufgelöst in einem Fluidum aus Datenströmen und Informationswerten. Mit dem Postulat von Norbert Wiener zum Auftakt der Informationstheorie 1948134 schien ein Programm in Gang gesetzt worden zu sein, in dessen weiterem Verlauf des 20. Jahrhunderts der Begriff der » Information « zu einem operativen Elementarbegriff der Wissenschaften wurde. Es war im Wesentlichen für diese Verflüssigungseffekte verantwortlich : » Information is information, not matter or energy. No materialism which does not admit this can survive at the present day. «135 Wiener lässt hier seinen Anspruch erkennen, mit dem Informationsbegriff 131 Klaus M. Bernsau, » Das Missverständnis der Informationsgesellschaft «. Um nur die beiden vielleicht populärsten der Autoren zu nennen, die zwar aus unterschiedlichen Positionen, aber dennoch alle in Richtung dieser semiotischen Kritik argumentieren : Jeremy Rifkin, Access. Das Verschwinden des Eigentums, Frankfurt am Main 2000; Manuel Castells, Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, Teil 1 der Trilogie Das Informationszeitalter, Opladen 2001. 132 Castells, Ebenda. Zu seiner Theorie des » Space of Flows « siehe auch Manuel Castells, » Space of flows – Raum der Ströme «, in : Peter Noller (Hrsg.), Stadt-Welt. Über die Globalisierung sozialer Milieus, Frankfurt am Main und New York 1994, S. 120–134. 133 Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals, Frankfurt am Main 2005, S. 394. 134 Norbert Wiener, hier zitiert nach : Peter Janich, Kultur und Methode, Frankfurt am Main 2006, S. 216. Wiener und Shannon sprechen sich gegenseitig die Lorbeeren zu für ihren Beitrag am Anfang dieser einflussreichen Bewegung und haben ihre Texte beide 1948 veröffentlicht : Norbert Wiener, Cybernetics, or Control and Communication in the Animal and the Machine, Cambridge 1965 [1948]; Claude Shannon, The Mathematical Theory of Communication (1949 von Warren Weaver erweitert),Urbana 1949. Vgl. für eine historische Darstellung der Anfänge dieser Bewegung : Peter Janich, Kultur und Methode, S. 213–255. 135 Norbert Wiener, Cybernetics, or Control and Communication in the Animal and the Machine, S. 155.

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naturwissenschaftlich-materialistische Erklärungen zu leisten, die ohne ihn nicht möglich wären. Er stellt ihn damit gleichberechtigt neben andere naturwissenschaftliche Begriffe wie den der » Energie « oder der » Materie «. Peter Janich weist folgerichtig darauf hin, dass diese Sprechweise Wieners allzu sorglos und im Überschwang der neu entdeckten technischen Machbarkeiten gewählt worden sein müsse. 136 Sie unterschlage den wissenschaftstheoretisch äußerst bedeutsamen Sachverhalt, dass » Energie « in den Naturwissenschaften ein Operationsbegriff sei, das heißt ein im Konkreten rein quantitativ bestimmbarer Begriff. 137 Anders verhält es sich mit der » Materie «. Dieser Begriff ist nicht aufgrund von Messverfahren operational definiert und tritt deswegen – im Gegensatz zur » Energie « – auch nicht als objektsprachlicher Terminus auf, sondern als Reflexionsterminus. Damit gehört er zur Ebene der Metasprache und dient zur Einteilung oder Abgrenzung von objektsprachlich formulierten Sachverhalten. Janich geht davon aus, dass Wieners sprachliche Sorglosigkeit dazu geführt habe, » dass diese feine Unterscheidung der Zugehörigkeit eines Begriffs zur einen oder anderen Sprachebene ein zuverlässiges Indiz dafür ist, ob Information ein Gegenstand der Naturwissenschaft wird oder nur eine Metapher im Bereich der Modellbildung – und damit fundamental verschiedene Ansprüche auf die Reichweite naturwissenschaftlicher Erklärungen trägt «.138 Wissenschaftshistoriker und -theoretiker versuchen seither, unter verschiedenen Aspekten die » Weisen des synthetisch-Werdens des Naturzustands «139 zu beschreiben, respektive einen » kybernetischen Naturbegriff «140 zu fassen. » Die neue Welt von Phänomenen ist nicht mehr die der Makrowelt der schweren Körper, sondern die der inneren Strukturen, von der die sichtbaren Eigenschaften der Dinge abhingen «, so beschreibt Elisabeth List das Weltbild einer » neuen scientific community «, das sie vor allem – mit den Fortschritten in der Elektronik und in der (synthetischen) Chemie – seit Ende des 19. Jahrhunderts im Entstehen begriffen sieht.141 » Die wissenschaftliche Fähigkeit zur Erfindung neuer natürlicher Kategorien (Elemente, Materialien, die ihre Existenz dem Labor verdanken) ist nicht mehr nur eine Form der Reproduktion «, präzisiert List und fährt mit einem Zitat von Serge Moscovici fort : » Sie [die wissenschaftliche Fähigkeit, Anm. d. Verf.] wird vielmehr zu einem Peter Janich, Kultur und Methode, S. 216. Ebenda, S. 217. Ebenda, S. 218. Elisabeth List, Vom Darstellen zum Herstellen. Eine Kulturgeschichte der Naturwissenschaften, Weilerswist 2007, S. 199. Vgl. hinsichtlich dieses Anliegens auch als eine der prominentesten Protagonistinnen des Synthetischen : Donna J. Haraway, Modest Witness@Second Millenium. FemaleMan Meets OncoMouse : Feminism and Techno­ science, London 1997; ebenfalls dies., Simians, Cyborgs, and Women : The Reinvention of Nature, London 1991. 140 Serge Moscovici, Versuch über die menschliche Geschichte der Natur, Frankfurt am Main 1982. 141 Elisabeth List, Vom Darstellen zum Herstellen, S. 204.

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distinkten eigengewichtigen methodischen Naturprozess. «142 In dieser Hinsicht scheint Wieners überheblich-überschwengliche sprachliche Sorglosigkeit tatsächlich den Ton auch noch der heutigen Zeit getroffen zu haben : Formale Referenzebenen sind inzwischen ebenso verhandelbar und konstruierbar geworden wie materielle Rohstoffe selbst. Darin entfaltet sich faktisch ein neuartiges Prinzip der Verfügbarkeit. Dass es mittels der elektronischen Informationstechnologien ein neues sei, dies ist zunächst erst einmal ein Postulat, das einhergeht mit der vielfach geäußerten Forderung, einen neu gefassten Naturbegriff zu finden.143 Ob sich die Dramatik dieses Übergangs zu einem neu zu fassenden Naturbegriff gegenwärtig, wie Hörl meint144, auf zwei Schauplätzen entfaltet – der reinen Mathematik und der symbolischen Logik einerseits und der Feldphysik andererseits –, sei dahingestellt. Jedenfalls trifft es auf beide Bereiche zu, dass eine Ausarbeitung reiner Symbolismen erfolgte, die sowohl » die grundlegenden Operationsweisen des Geistes anschreiben sollten « als auch » die Notationssysteme der wesentlichen Undarstellbarkeit elektromagnetischer Kommunikation bereitstellten «.145 Aus ihnen erwächst erneut jene Frage nach dem Verhältnis von Symbol und Physis, in deren Spannungsfeld die von Marshall McLuhan noch als » magisch « bezeichneten Kanäle elektronischer Medien- und Kommunikationstechnologien inzwischen als » heilige Kanäle « entlarvt werden konnten.146 Hörl spricht denn auch von einer » uneingestandenen symbolistischen Ontologie «, die er gleichermaßen als Voraussetzung wie auch als Produkt jener vorausgesetzten, eigentümlichen Unmittelbarkeit im Symbolischen getragenen » Illusion der Kommunikation « beschreibt, deren » archaische « Wurzeln er in seiner Studie freilegt.147 Medien sind Kanäle, die ehemals entweder als » magisch « oder als » heilig « bezeichnet wurden, weil es für jede Situation der Fall gewesen zu sein schien, dass sie bereits vor jeder partikulären Botschaft vorhanden sein müssen. Dem lässt sich mit Blick auf unsere heutige Medienökologie zwar widersprechen, bezieht diese doch zweifellos auch Mode, Design, Artefakte im Allgemeinen mit ein, und lässt uns auf der Basis der vorherrschenden Codes das situative Entstehen und Vergehen von medialen Kanälen beobachten. Aber dennoch bleibt uns pragmatisch gesehen nichts anderes übrig, als Signale zu interpretieren, und deshalb können wir gleichzeitig auch nie vollständig sicher sein, ob ein Medium die » ursprüngliche « Botschaft 142 Ebenda, S. 205. Hier zitiert nach : Moscovici, Versuch über die menschliche Geschichte der Natur, S. 430. 143 Im Wesentlichen dreht sich die ganze Diskussion um die sogenannte Technoscience. Vgl. für eine Darstellung und Besprechung dieser Begriffsgeschichte Gilbert Hottois, » La technoscience : entre technophobie et technophilie «, in : Yves Michaud, Qu’estce-que la vie ?, Paris 2000. 144 Erich Hörl, Die heiligen Kanäle, S. 18. 145 Ebenda, S. 18. 146 Ebenda, S. 2. 147 Ebenda.

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nicht doch in Eigenregie verändert oder zumindest geprägt hat. McLuhan hat daher bereits in seinem 1964 erschienenen Buch Understanding Media. The Extensions of Man die Konsequenzen gezogen : » Die Botschaft jedes Mediums oder jeder Technik ist die Veränderung des Maßstabes, Tempus oder Schemas, die es der Situation des Menschen bringt. «148 Die damit evozierte Schichtung von der zeichenbasierten Botschaft und der medienbasierten Botschaft zur Rhythmisierung der Ersteren macht es verlockend, John Austins T ­ heorie höherer Sprechakte149 und medienbasierte Botschaften aufeinander zu beziehen, um damit vielleicht einen Hinweis auf die situative Genese von Medialität zu erlangen. Neben der eigentlichen Einsicht McLuhans in das genuine Vermögen von Medien zur Transformation der immer notwendigen Interpretation ist es ferner bemerkenswert, dass er Medien und Technik quasi gleichsetzt. Mit seiner Formel der Modulierbarkeit von Maßgabe, respektive der Maßstäblichkeit, welche die Medien verkörpern, ist im medienwissenschaftlichen Diskurs die Diskussion um den starken Begriff des » Mediums « eröffnet worden. McLuhans provokant verkürzte These lautet denn 1967 auch : The medium is the message.150 Seit wir die Art des Mediums zur Übermittlung von Botschaften wählen können, erhält genau diese Wahl selbst den Status einer Botschaft. Analoge Strukturen hierzu finden sich schon früh in der überlieferten Geschichte in Form einer Kultur der damals noch meist an Personen gebundenen Gesandtschaften. Wenn Medien selbst also inzwischen zum Forschungsgegenstand geworden sind, so ist dies Ausdruck der verlorenen Selbstverständlichkeit einer auf ein transzendentes Zentrum hin ausgerichteten perspektivischen Wahrnehmung, wie sie für den wissenschaftlichen Geist der Neuzeit charakteristisch war.151 In der Konsequenz besagt dies nichts weniger, als dass sich die Maßstäbe zum » rechten Gebrauch « unseres sinnlichen und kognitiven Vermögens vervielfacht haben.152 Tholen etwa gilt es als zentrales Anliegen, die Dimension der Medialität differenzphilosophisch als diejenige einer 148 Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle, S. 18. 149 John Langshaw Austin, How to do things with words, Cambridge 1962. 150 Marshall McLuhan, Understanding Media : The Extensions of Man, New York 1964, die zentrale Passage lautet : » The medium is the message. This is merely to say that the personal and social consequences of any medium – that is of any extension of ourselves – result from the new scale that is introduced into our affairs by each extension of ourselves, or by any new technology «, S. 7. 151 Vgl. dazu den Aufsatz von Angelica Horn, » Das Experiment der Zentralperspektive. Filippo Brunelleschi und René Descartes «, in : Wilhelm Friedrich Niebel, Angelica Horn und Herbert Schnädelbach (Hrsg.), Descartes im Diskurs der Neuzeit, Frankfurt am Main 2000, S. 9–32. 152 Vgl. für eine Besprechung der Beziehungen zwischen typografischer Wissensproduktion, perspektivischer Wahrnehmung und deren Grenzen hinsichtlich der heutigen medientechnischen Verhältnisse : Michael Giesecke, Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft, Frankfurt am Main 2002. Insbesondere die Kapitel » Von der mono- zur multiperspektivischen Erkenntnistheorie «, S. 301ff., sowie » Auf dem Weg zu einem synästhetischen und multimedialen Kommunikationskonzept «, S. 317ff.

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» uneigentlichen Uneigentlichkeit « zu bestimmen.153 In Anlehnung an Hans Blumenberg und dessen Theorie einer Metaphorologie als historisch-heuristischer Methode hinsichtlich der Erklärungsleistung von Begriffen (ohne Anspruch auf deren Begründung oder Erklärung)154 schlägt er eine » Metaphorologie der Medien « vor.­155 Mit Rückgriff auf die Differenzphilosophie von Derrida156 erklärt Tholen allerdings diese für Blumenberg noch zentrale Unterscheidung zwischen methodischer Heuristik und erklärender Begründung als problematisch.157 Er erachtet vielmehr die frei gewähren lassende Metaphorizität des » Als-ob « zum Ort der Medien in ihrer digitalen Gestalt und bestimmt so mit dem medialen auch den kategorialen Status des Digitalen.158 Ausgehend von seiner Annahme, dass es eine Strukturähnlichkeit zwischen dem Medi­alen und dem Symbolischen gebe, ist dies nur folgerichtig. Damit wird, was über die Philosophiegeschichte hinweg als Verlegenheit einer jeden Metapherntheorie gilt – nämlich der Versuch, unmetaphorisch die Metapher zu bestimmen –, zum » uneigentlichen « Positivum, über das sich Medien konstituieren : » Der unabschließbare, indefinite Selbstentzug der Metapher unterläuft gleichsam, wie noch zu präzisieren sein wird, ihren eigenen Begriff. Sie widersteht – als uneigentliche – der begrifflichen Opposition von Eigentlichkeit (Begriff) und Uneigentlichkeit (Metapher). Diese ›uneigentliche Uneigentlichkeit‹ des Metaphorischen ähnelt […] derjenigen des Mediums in seiner digitalen Gestalt. Denn dieses besitzt keine einfache Identität, kein ontologisch fixierbares Sein. «159 Tholen will damit ungenügende instrumentelle 153 Vgl. zum dekonstruktivistischen Begriff einer » unzeitigen Vorstelligkeit « und » Vorgängigkeit « als kategoriale Bestimmung von Medialität auch den Aufsatz von Werner Hamacher, » Des contrées des temps «, in : Georg Christoph Tholen und Michael O. Scholl (Hrsg.), Zeit-Zeichen. Acta humaniora, Weinheim 1990, S. 29–36. Ebenfalls : Georg Christoph Tholen, » Eine Metaphorologie der Medien «, in : ders., Die Zäsur der Medien, S. 19–60. 154 » Aber ich habe der metaphorischen Verwendung gar keine ursprüngliche und begründende Bedeutung beigemessen, sondern nur eine methodisch-heuristische im Hinblick auf eine Erklärungsleistung des Begriffs, die eben faktisch in Anspruch genommen wird, wenn man etwas von der Art behauptet wie dies, dass ein bestimmtes Phänomen der Nachfolger eines anderen sein solle, bedingt durch dessen Vorhergehen und nur verstehbar durch dieses. « Vgl. dazu beispielsweise das Kapitel » Eine Dimension verborgenen Sinnes ? « in : Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, insbesondere S. 28ff.; siehe auch : ders., Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt am Main 2005 [1969]. 155 Georg Christoph Tholen, » Eine Metaphorologie der Medien «, in : ders., Die Zäsur der Medien, S. 19–60. 156 In Hinsicht auf seinen Entwurf einer Metaphorologie der Medien bezieht sich Tholen vor allem auf die beiden für seine medientheoretische Fragestellungen grundlegenden Abhandlungen Derridas über die Metaphorik des Begriffs der Metapher : Jacques Derrida, » Der Entzug der Metapher «, in : Volker Bohn (Hrsg.), Romantik. Literatur und Philosophie, Frankfurt am Main 1987, S. 317–355; Jacques Derrida, » Die weiße Mythologie. Die Metapher im philosophischen Text «, in : ders., Randgänge der Philosophie, Wien 1988, S. 205–258. 157 Ebenda, S. 8ff. 158 Ebenda, S. 22ff. 159 Ebenda, S. 44.

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Bestimmungen von digitalen Medien überwinden, deren Definition über eine als konstitutiv gedachte Zweckorientierung er als anthropozentrische Verkürzung begreift.160 Unter einer » Metaphorologie der Medien « versteht er eine grundlegende Bestimmung der historisch verschiebbaren, stets medial eingerahmten Formen der Wahrnehmung. Er sieht darin eine Möglichkeit, dem zu entkommen, was im Absatz zuvor als » uneingestandene symbolistische Ontologie « beschrieben wurde – und zwar durch die prinzipielle Negation der Möglichkeit einer » Bestimmbarkeit « der » spezifischen « Seinsweise des Symbolischen. Folgt man dieser Entscheidung für die philosophische Richtung der Dekonstruktion – so scheint es zumindest –, vermeidet man die Falle der Reformulierung einer vorneuzeitlichen Präsenz- oder Offenbarungsmetaphysik und die mit ihr verbundene Auffassung von einer Neutralität der Medien. Man geht dann mit Heideggers Aussage einig, Ontologie sei – wie alle Fundamentalfragen der Philosophie – nur als Phänomenologie durchzuführen.161 Besagte jüngere Entwicklungen im Zuge des sogenannten pervasive computing oder ubiquitous computing, das sich treffend auch als » Informatisierung der Sachen « umschreiben ließe, scheinen die grundlegenden Kriterien einer phänomenologischen Ontologie an die Grenzen ihrer Leistungskraft zu bringen. Diese Ansicht jedenfalls hatte bereits Lyotard mit seiner erwähnten Ausstellung Les immatériaux nahegelegt,162 und dafür argumentiert jüngst beispielsweise auch Nathan Brown in seiner Untersuchung über Materialien und ihre Fabrizierbarkeit163. Im folgenden Kapitel sollen in exemplarischer Veranschaulichung die Mächtigkeit gegenwärtiger wie auch sich für die nahe Zukunft bereits deutlich abzeichnender Technologien nachvollzogen werden. Grenzen einer phänomenologischen Ontologie Es ist offensichtlich, dass die transformativen Strukturänderungen im symbolischen Reich » infomaterieller « Operationsweisen sowie dem damit einhergehenden Anschwellen der semiotischen Ströme massive Auswirkungen auf das subjektive Selbstverständnis 160 Vgl. dazu auch den Vortrag von Tholen auf der Konferenz » Re-Reading McLuhan «, Universität Bayreuth vom 14.–18.02.2007 mit dem Titel » Die Medialität der Medien im Spiegel der Negativen Anthropologie «, online : http : //mcluhan.uni-bayreuth.de/ program_en.php (05.01.2009). Publiziert als : ders., » Mit und nach McLuhan. Bemerkungen zur Theorie der Medien jenseits des anthropologischen und instrumentellen Diskurses «, in : Derrick de Kerckhove, Martina Leeker und Kerstin Schmidt (Hrsg.), McLuhan neu lesen. Kritische Analysen zu Medien und Kultur im 21. Jahrhundert, ­Bielefeld 2008, S. 127–139. 161 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1993 [1926], S. 27ff. 162 Vgl. dazu Anm. 108. 163 Nathan Brown, The Materials – Technoscience and Poetry at the Limits of Fabrication, Dissertation bei N. Katherine Hayles an der UCLA Los Angeles, 2008. Wird im Frühling 2014 in überarbeiteter Fassung erscheinen als : The Limits of Fabrication : Materials Science and Materialist Poetics, Evanston 2014. Die nachfolgenden Seitenangaben beziehen sich auf die Manuskriptversion von 2008.

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wie auf das objektive Weltverständnis haben können – und in der gegenwärtigen Medienverdichtung auch haben. Selbst wenn die provokante Formel Arthur C. Clarkes, jede hinreichend ausgearbeitete Technologie könne nicht als von Magie unterscheidbar gelten164, in ihrer Radikalität übers Ziel hinausschießen mag, so steht auf jeden Fall fest, dass ein solches transformatives Vermögen sich nicht auf immaterielle Strukturen alleine beschränkt. Es liegt auf der Hand, dass insbesondere die Medientechnologie schnell einmal in magischimmersive Affektionen umschlägt; die Genealogie der Elektrizität legt beredtes Zeugnis davon ab.165 In einer durch vorgeblich positivistisch praktizierte Naturwissenschaften geprägten Welt tritt ein solcher Magieeffekt immer dann auf, wenn empirisch gut begründet geglaubte Grenzen von Skalen und Begriffen im Zuge einer alles erfassenden Elementarisierungswelle durchbrochen werden. Die Rede ist von Nano- und Biotechnologie. Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern jüngste Entwicklungen in der Forschung und Anwendung von Nano- und Biotechnologie eine philosophische Herausforderung bedeuten und Anlass geben, die Grundkategorien zur Gliederung verschiedener Seinsmodalitäten neu zu überdenken respektive überhaupt ins Auge zu fassen. Welche Gliederungen lassen sich sinnvollerweise im Ordnungsfeld zwischen organischer und anorganischer Materie vornehmen ? Wie hängen die Modalitäten des In-der-Welt-Seins mit verschiedenen Formen der materiellen Exis­ eideggers phänometenz zusammen ? In diesem Zusammenhang ist H nologische Ontologie166 in der jüngeren Philosophie, insbesondere im Kontext der Biopolitik, erneut von zentraler Bedeutung geworden, so beispielsweise für Giorgio Agamben167 oder Jean-Luc ­Nancy168. Obwohl die eigentliche medientheoretische Brisanz dieses Themas in diesem Kontext liegt, sollen in den folgenden Ausführungen besagte Phänomene in erster Linie beschreibend vorgestellt werden, weitgehend ohne direkten Bezug auf diesen reflektierenden Diskurs. 164 » Any sufficiently advanced technology is indistinguishable from magic. « Arthur C. Clarke, » Hazards of Prophecy : The Failure of Imagination «, in : ders., Profiles of the Future : An Enquiry into the Limits of the Possible, New York 1973, S. 21. 165 Vgl. zum Thema des Spiritualismus als epistemologisches Problem insbesondere die medienwissenschaftlichen Beiträge von Wolfgang Hagen, insbesondere : ders., Technische Medien und Experimente der Physik. Skizzen Zur medialen Genealogie der Elektrizität, Frankfurt am Main, 1999; vgl. ebenfalls seinen Vortrag » Trancemedien und Medientrancen. Über den Spiritismus als epistemologisches Problem «, gehalten an der Universität Siegen im Jahr 2008 oder den Vortrag » Medienäther – Äthermedien. Eine epistemologische Halluzination über die kosmologische ›Quintessenz‹ «, gehalten am Graduiertenkolleg Mediale Historiographien /Media of History – History of Media an der Universität Weimar im Jahr 2006; beide Vorträge online : http : //www. whagen.de /main.php#Veroeffentlichungen (06.01.2009). 166 Martin Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt. Endlichkeit. Einsamkeit, Frankfurt am Main 1983. 167 Giorgio Agamben, Das Offene, Frankfurt am Main 2000. 168 Jean-Luc Nancy, Corpus, Berlin 2003.

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Die durch Nano- und Biotechnologien eröffneten Möglichkeiten, organische wie anorganische Materie zum Gegenstand von Forschung und Herstellung zu machen – einschließlich der technischen Möglichkeit, den Selbstorganisierungsprozess von Materie auf molekularer und submolekularer Ebene zu visualisieren, zu manipulieren und zu kontrollieren –, bedeuten in verschiedener Hinsicht eine Herausforderung für ontologische Kategorien.169 Hybride, anorganische Entitäten, wie sie von der Forschung aktuell in Aussicht gestellt und operativ gemacht werden, erschweren es zunehmend, lebendige Wesen von nur physisch existierender Materie zu unterscheiden.170 Solche hybride Entitäten sind beispielsweise sogenannte molekulare Motoren, die von Nanobiologen durch das Herauslösen von Selbstorganisationskapazitäten der DNA aus der biologischen Umfassung der Zelle geschaffen werden.171 Oder es ist die Fabrikation von DNA-umhüllten Carbon Nanotubes,172 welche als Sensoren innerhalb lebendiger Zellen operieren. Oder es sind die in Aussicht gestellten Versprechungen, künstliche Zellen aus leblosen organischen wie anorganischen Materialien genuin herzustellen173. So gehen Geoffrey A. Ozin und André C. Arsenault davon aus, dass » simple, elegant and robust attributes of selfassembly are now being combined with powerful methods of inorganic and solid-state chemistry to create materials with unprecedented structures, compositions and morphologies «.174 Die technologische Möglichkeit, Materie unterhalb der Skalengrenze charakterisieren und manipulieren zu können, die materielle Eigenschaften über ihre molare Komposition 169 Daston und Galison haben vor dem Hintergrund dieser Fragestellung jüngst eine Genealogie des Begriffs der Objektivität geschrieben : Objektivität, Frankfurt am Main 2007, vgl. insbesondere das Kapitel » Von der Repräsentation zur Präsentation «, S. 385–442. 170 Für eine spekulative Aussicht auf die » already-unfolding «-Zukunft einer Nanorhetorik vgl. Colin Milburn, Nanovision. Engineering the Future, Durham 2008. 171 Nadrian C. Seeman, » Nanotechnology and the Double Helix «, in : Scientific American, Nr. 6, 2004, S. 65–75. Vgl. auch Bernard Yurke u. a, » A DNA-Fuelled Molecular Machine Made of DNA «, in : Nature, Band 406, August 2000, S. 605–608, sowie Andrew Turberfield, » DNA as Engineering Material «, in : Physics World, 16.3.2003, S. 43–46. Diese Hinweise sind zitiert nach Nathan Brown, The Materials, S. 46 : » Seeman explains that the use of DNA strands as rudimentary propulsion systems is based upon triggering morphological shifts between the molecule’s B and Z states. Documenting the several initial successes of his research team at triggering such transitions and controlling the resultant molecular movement, Seeman notes that ›the crucial goal for nanotechnology based on DNA is to extend [these] successes in two dimensions to three dimensions‹, and that the incorporation of DNA devices into three dimensional frameworks ›would be the first step toward nanorobotics involving complex motions and a diversity of structural states, which would enable us to build chemical assembly lines‹ and ›new polymers with specific properties and topologies‹. « 172 Brown präzisiert diesen Begriff wie folgt : » Carbon nanotubes are cyclindrical tubes of hexagonally organized carbon atoms more than ten thousand times smaller than the diameter of a human hair. They can be ›grown‹ through induced self-organization in a laboratory. « Zitiert nach Nathan Brown, The Materials, S. 57. 173 Stephen Rasmussen u.a., » Transitions from Nonliving to Living Matter «, in : Science, Band 303, Nr. 5660, 2004, S. 936, zitiert nach Nathan Brown, The Materials, S. 46ff. 174 Geoffrey A. Ozin und André C. Arsenault, Nanochemistry : A Chemical Approach to Nanomaterials, Cambridge 2005, S. 32, zitiert nach Nathan Brown, The Materials, S. 46ff.

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determiniert, ist für sie entscheidend dafür, dass » organic, inorganic and polymeric chemical components with well-defined functions « organisiert und verbunden werden können » into integrated electronic, photonic, mechanical, analytical and chemical systems «.175 Es steht außer Frage, dass die Nanotechnologie bereits materielle Strukturen mit zuvor nie gekannten physikochemischen Konstituti­onen und genuin neuen Eigenschaften hervorgebracht hat. Bisher bleibt jedoch eher unreflektiert, in welche problematischen Verknüpfungslinien mit philosophischen und naturwissenschaftlichen Kategorien die angewandten Taxonomien verstrickt sind. Eine dieser Linien soll im Folgenden exemplarisch aufgegriffen werden – die Kategorie der phänomenologischen » Zugänglichkeit « von Welt als Konstitutivum für lebendige Wesen (und in Abgrenzung zu nicht lebendigen Entitäten), wie sie Heidegger in seinen Vorlesungen zu den Grundbegriffen der Metaphysik ausführt.176 Nathan Brown erprobt Heideggers drei Thesen über die jeweils eigentümlichen Weisen der Zugänglichkeit von Welt für Stein, Tier und Mensch in Hinsicht auf zeitgenössische Entitäten wie sogenannte smart materials oder semi-living organisms.177 Die Kernargumente wollen wir hier kurz aufgrund der Aktualität von Heideggers phänomenologischer Ontologie im aktuellen Diskurs im Umfeld der Biopolitik-Debatten vorstellen.178 Die von Heidegger postulierten drei Thesen über die grundlegenden Seinsmodalitäten resultieren aus einer vergleichenden Betrachtung und besagen : » […] der Stein ist weltlos, das Tier ist weltarm, der Mensch ist weltbildend. «179 Darin verwendet er den » Stein « exemplarisch für » materielle Dinge «180, als Einfachstes und Urtümlichstes aller nicht lebendigen Objekte. Für uns interessant ist hier seine ungewöhnliche Argumentation : Es ist für ihn keine physikalische Beschaffenheit oder Gesetzmäßigkeit, die leblose Objekte von lebenden Wesen unterscheidet. Vielmehr bewegt sich Heidegger mit seinem Fragen auf der Ebene der Bedingungen der Möglichkeiten dafür, dass » materielle Natur « überhaupt einer ontologischen Ordnung zugehören kann, die von physikalischen Gesetzen geregelt wird. Bedingung dafür ist nach Heidegger die phänomenologische Kategorie des sinnlichen Zugangs zu etwas, und dies bedingt eine Eigenaktivität – wie auch immer diese näher zu bestimmen ist. Insgesamt sind Heideggers Erörterungen zur Weltlosigkeit der materiellen Dinge eher kurz gehalten, wohingegen seine Unterscheidung der animalischen von der menschlichen Weise von Weltbezogenheit viel umfassender ausfällt. Das Tier, anders als 175 Ebenda. 176 Martin Heidegger, Grundbegriffe der Metaphysik, insbesondere ab S. 261ff. 177 Nathan Brown, The Materials, S. 42–71. 178 Während allerdings in den zeitgenössischen Heidegger-Interpretationen das Unterscheiden des Animalischen vom Menschlichen im Fokuspunkt liegt, gehen die Erörterungen bei Brown (The Materials) auf die klassifikatorische Abgrenzung zwischen Leben und Nichtleben ein und stellen deren Problematiken unter heutigem Gesichtspunkt heraus. 179 Martin Heidegger, Grundbegriffe der Metaphysik, S. 273. 180 Ebenda, S. 265.

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der Stein, sei fähig, sich in Bezug zu seiner Umwelt zu verhalten.181 Dieses Verhalten jedoch sei nicht wie beim Menschen als Tun und Handeln zu charakterisieren, sondern eher als eine » triebhafte Fähigkeit des hingenommenen Benommenseins «.182 Während zur Welt des Menschen » Offenbarkeit von Seiendem als solchem «183 gehört, sei das Tier nach Heidegger, inspiriert von Jakob Johann von Uexküll (1864–1944), auf seine Umwelt bezogen, » triebhaft offen «184. Zwar sei es das Kriterium der Offenheit, welches das Tier mit dem Menschen auf der Seite des Lebendigen vom nicht Lebendigen abhebe. Doch während der Bezug des Menschen zum Offenen nie ein unmittelbarer sei, bleibe das Tier aufgrund seiner maschinenhaften Triebhaftigkeit direkt und unmittelbar auf seine Umwelt bezogen » offen «. Heidegger zufolge ist es die Struktur der Offenbarung im Modus des » Als-ob «, die Darstellung des Seienden in bestimmten Manifestationen des Seins, was für das dem Menschen eigentümliche » Bilden von Welt « konstitutiv ist und die » Weltarmheit « von Tieren begründet. Es ist Heideggers These von der Weltarmheit des Tieres, welche wohl am meisten philosophische Neugierde – und auch Kritik – hervorgerufen hat. Um einige neuere Beispiele zu nennen : Akira Lippits Buch Electrical Animal185, Jacques Derridas Seminar » The Beast and the Sovereign «186 und Giorgio Agambens Essay » Das Offene «187. Während diese Aufmerksamkeit für das Verhältnis zwischen Zoe und Bios – so sehr sie auch eine wichtige, kritische Auseinandersetzung mit der aristotelischen Kategorienschrift bedeutet – oftmals auf Kosten kritischer Reflexionen über den ontologischen Status des Nichtlebendigen ging, ist es heute gerade wiederum die Weltlosigkeit der Objekte, die besonders interessiert : » […] what about the gene which migrates from that giant moth to the potato ? «188, so fragt George Myerson in seinen einleitenden Reflexionen zu Donna J. Haraways Buch Modest_Witness@Second_Millennium.189 Zwar würde das Gemüse dadurch nicht genau in ein Tier verwandelt, so Myerson, aber es komme mit dem migrierenden Gen eine neue Referenzebene ins Spiel, ein Zusatz an Fremdartigkeit, welcher herkömmliche Einteilungen unterlaufe. Das Fazit von Myerson lautet denn auch : » We have to rethink what we mean when we classify things and beings«190 und » now, at the second millennium, we are witnessing the birth of the hybrid categories. The divisions will never again seem fixed. «191 181 Ebenda, S. 391. 182 Ebenda. 183 Ebenda, S. 392. 184 Ebenda, S. 391. 185 Akira Lippit, Electric Animal : Toward a Rhetoric of Wildlife, Minneapolis 2000. 186 Jacques Derrida, The Beast and the Sovereign, Chicago 2009. 187 Giorgio Agamben, Das Offene. 188 George Myerson, Donna Haraway and GM Foods, London 2000, S. 65. 189 Donna J. Haraway, Modest Witness. 190 George Myerson, Donna Haraway and GM Foods, S. 65. 191 Ebenda, S. 64.

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Solche Hybridität fasst Haraway als » Alienness «. Sie entstehe jedoch nicht nur im Bereich der transgenetischen Organismen, sondern eine ähnliche Grenze sei schon mit der Erfindung transuranischer Elemente erreicht worden.192 Die Erfindung von Plutonium und seiner höheren Ordnungszahl als Uranium (94 versus 92 Protonen im Atomkern) Mitte der 1940er-Jahre habe eine natürliche Grenze in Hinsicht auf die chemischen Elemente überwunden : » Uranium is where the evolution of the elements that make up the solar system stopped. In that sense, uranium represents a kind of ›natural limit‹ to the family of terran elements as well. «193 Haraway weist auf eine eigentümliche Zwiespältigkeit hinsichtlich dieser Entdeckung hin : » First, they are ordinary, natural offspring of the experimental way of life, whose place in the periodic table was ready for them. They fit right in. «194 Während die Entdeckung transuranischer Elemente also gewissermaßen selbstverständlich und einem natürlichen Entwicklungsprozess in der Chemie zu folgen scheint, so erachtet Haraway ihre Entdeckung dennoch auch als technowissenschaftliche Fabrikation von etwas genuin Unnatürlichem : » Second, they are earthshaking artificial productions of technoscience whose status as aliens on earth, and indeed in the entire solar system, has changed who we are fundamentally and permanently. «195 Mit der Entdeckung von Plutonium wie auch der neuartigen transgenetischen Organismen in jüngster Zeit habe sich nichts und zugleich alles verändert – beiden schreibt Haraway den Status als » Aliens on earth « zu.196 Für unsere weitere Argumentationslinie, die dem Verhältnis von Virtualität und Konstruktionsform folgt, ist es bemerkenswert, dass sich ausgerechnet bei den Kernphysikern hartnäckig das Gerücht hält, weit jenseits der transuranischen Elemente gebe es bei erheblich höheren Atomgewichten eine tatsächlich so bezeichnete » Insel der Stabilität «.197 Angesichts einer zu Haraways Argumentation parallel verlaufenden Bewegung lässt sich auch für die Medienphilosophie die Frage nach dem kategorischen Status der Uneigentlichkeit als Differenz zwischen dem Realen und dem Symbolischen stellen. Diese Frage ist besonders evident, seitdem die zeitgenössische Medienverdichtung auf der ultimativen Elementarisierung kommunikativer Prozesse in Gestalt des auf dem Binärcode basierenden Digitalcomputers beruht und sich die Technologie in diesem Sinne nahtlos an Nano- bzw. Biotechnologie anschmiegt. Anschaulich gesprochen : Wo kommen diese Aliens her, von denen Haraway und andere sprechen ? Eine Beantwortung dieser Frage scheint mir eine Voraussetzung zu sein, 192 Donna J. Haraway, Modest Witness, S. 54. 193 Ebenda, S. 54. 194 Ebenda. 195 Ebenda. 196 Ebenda, S. 55. 197 Vgl. dazu die Rhetorik des CERN die LHC-Experimente betreffend, die zwischen Sommer 2008 und Sommer 2009 begannen, online : www.cern.com (06.04.2009).

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um eine kritische Wende in der Medienphilosophie vollziehen zu können. Wichtig diesbezüglich ist das Verhältnis zwischen dem Informationsbegriff und einer Konzeption des Symbolischen, mit der versucht wird, jenseits einer subjektiv-psychologischen und einer objektiv-dinglich manifesten Wirklichkeit eine dritte Wirklichkeitsdimension, als jener von Information anzunehmen. Zur Konzeption des Symbolischen erfolgt in der Medientheorie die Entwicklung von Modellen hinsichtlich dessen, wie man dem Ungeheuerlichen dieser Frage nach dem Ursprung der Aliens, der technowissenschaftlichen Artefakte, um die es letztlich bei einer Philosophie des Virtuellen geht, begegnen könnte. II. aufs neue : die frage nach der referentialität von zeichen Die Begründbarkeit von Information im Element des Symbolischen Das Problematische an dem zuvor erläuterten Fragenkomplex besteht also genau darin, eine kategoriale Differenz zwischen Symbolischem und Realem aufrechtzuerhalten.198 Denn es ist offensichtlich der Bereich des Wirklichen, der bei heutigen Simulationsexperimenten ins Spiel kommt, obwohl diese im abstrakten Raum algebraischer Symbole aufgesetzt sind und ausgewertet werden; Hubig spricht daher von » wirklicher Virtualität «.199 Doch auch diese Wendung scheint uns keine tragende zu sein. Es bedurfte ausgedehnter Diskussionen über Simulationen des Klimawandels, um zu verdeutlichen, dass die simulierende Probehandlung nur als beispielgebende Instanziierung von rein Symbolischem Realität erlangt. Nimmt man symbolische Modelle zur Orientierung für unser Handeln in der Welt – instanziiert man sie also in der Wirklichkeit –, so stellt sich das solchermaßen 198 So schlägt Krämer etwa im Anschluss an Elena Esposito und Philippe Quéau vor, das Konzept der Virtualisierung beziehe sich auf » die Möglichkeit zur direkten Interaktion und Wechselwirkung mit symbolischen Strukturen «. Sybille Krämer, » Was haben die Medien, der Computer und die Realität miteinander zu tun ? «, in : dies. (Hrsg.), Medien, Computer, Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und neue Medien, Frankfurt am Main 1998, S. 9–26, hier S. 13. Obwohl Krämer scheinbar die kategoriale Differenz zwischen Symbolischem und Realem affirmiert, läuft ihr Argument eigenartigerweise dennoch auf das Gegenteil hinaus : Wie sollte die dann wohl faktisch realisierbare Möglichkeit, mithin die Faktizität einer direkten, das heißt unvermittelten, amedialen Interaktion mit als symbolisch bezeichneten Strukturen denn konkret aussehen ? Diese reflexionslogische Schwierigkeit spitzt sich zu, sofern man diese Problematik nicht nur als eine der Reflexion, sondern auch als eine der Konstruktion begreift. 199 » Soweit jedoch im Zuge der Kulturalisierung als zunehmender Virtualisierung die neuen technischen Systeme die Welt nicht mehr (regulativ) überformen mit der Chance eines Scheiterns, sondern Handlungswelten selbst konstituieren und adaptiv fortschreiben, verlieren als abweichend empfundene Resultate den Charakter als ›Spuren von …‹ : Die Zuordnung ihrer Eigenschaften zum Wirken der Systeme, der Subjekte oder ihren Interaktionspartnern wird verunmöglicht, mithin eine Reflexion von Medialität. Virtuelle Wirklichkeit wird zu wirklicher Virtualität – die ›smarte Welt‹ kommunizierender ›quasi-autonomer‹ Dinge ist Wirklichkeit und nichts anderes. « Christoph Hubig, » ›Wirkliche Virtualität‹ «, S. 61f.

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Erprobte nicht länger als Repräsentation eines bereits vorgängig und wie auch immer gegebenen, von der beispielsgebenden Probehandlung unabhängigen Sachverhalts dar, sondern entfaltet seine Wirksamkeit im Realen als experimentelle Konstruktion. Hubig bringt die Grundstimmung in einer ­(trans-)­technisierten200 Lebenswelt auf den Punkt : » Die hochartifizialisierte Selbstverständlichkeit der neuen Lebenswelt schlägt um in eine Nicht-mehrVerständlichkeit, weil die Selbstverständlichkeiten untereinander konkurrieren. «201 Somit geht die Anschauung der Theoria weder dem Bezeichnen oder Beschreiben noch dem Verstehen oder seinem Diskurs voraus. Die spannende Perspektive, die sich aus Hubigs Reflexionen ergibt, besteht in der von ihm postulierten Loslösung des Materiell-Technischen von dem Symbolisch-Medialen. Hubig verweist auf Strukturen im Symbolischen, von denen er glaubt, dass sie den materiellen Strukturen des Technischen zugrunde liegen. Tholen weist im Weiteren vonseiten der Medientheorie darauf hin, dass » die Ineinssetzung von Mittel, Mitte und Milieu «202 eine Zirkularität in der Definition der Medien- und Computermetaphorik ergibt. Für ihn bietet das Postulieren einer unserem Denken direkt nicht zugänglichen – und in diesem Sinne vorherigen – Ordnung des Symbolischen die Möglichkeit, die überlieferte Gegenüberstellung von Kultur und Technik, von Mensch und Maschine zu überwinden und stattdessen beide Bereiche auf eine dritte Richtung hin neu nachzurichten : » Das Tertium datur also lautet : Mensch wie Technik sind verwiesen auf die Sprache, genauer : die Ordnung des Symbolischen. Diese wiederum, und mit ihr die Diskursanalysen technischer Medien, verabschiedet sich vom dualen Schema. «203 200 Hubig formuliert dies im Anschluss an Max Bense, der sich damit auf die Unterscheidung von klassischen und transklassischen Maschinen des Kybernetikers Gotthard Günthers berief, der auf dieser Unterscheidung aufbauend an der Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik arbeitet. Er fasst Information prozessierende Maschinen im Gegensatz zu Material prozessierender Maschinen als transklassisch und reklamiert für diese ein spezifisches Weltverhältnis, welches er als ontologisch verschieden darstellt von demjenigen klassischer Maschinen. Vgl. dazu Gotthard Günther, Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, Hamburg 1980. Vgl. auch die Kontextualisierung von Günthers Schreiben zur Techniktheorie Heideggers : Cai Werntgen, Kehren : Martin Heidegger und Gotthard Günther. Europäisches Denken zwischen Orient und Okzident, München 2006 : vgl. ferner zur Semiotik von Charles Sanders Peirce : Nina Ort, Reflexionslogische Semiotik : Zu einer nicht-klassischen und reflexionslogisch erweiterten Semiotik im Ausgang von Gotthard Günther und Charles S. Peirce, Weilerswist 2007. 201 Christoph Hubig, » ›Wirkliche Virtualität‹ «, S. 55. Hubig präzisiert etwas später und wird konkreter in seiner Darstellung : » Chancen und Risikoabschätzung, wie sie in der klassischen Technik noch möglich waren, entfällt, weil zum einen eine Basis für entsprechende Wahrscheinlichkeitsannahmen nicht mehr gegeben ist aufgrund des Abbaus von Stereotypen und der Adaptivität von Systemen, einer nicht mehr überschaubaren Systemdynamik (Emergenz) sowie aufgrund der zunehmend nur noch in den Systemen selbst fundierten Möglichkeit des Auffälligwerdens von Ereignissen. Zum anderen wird im Zuge der ›wirklichen Virtualität‹ die Qualifizierung von Nutzen und Schaden trügerisch, weil die Intuition nicht mehr in einem Verhältnis zu den Systemen, sondern unter den Präformationen der Systeme selbst stehen. « Hier S. 60. 202 Georg Christoph Tholen, Zäsur der Medien, S. 178. 203 Georg Christoph Tholen, » Platzverweis «, S. 112ff.

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Das Grundlose des Symbolischen – die pure Arbitrarität der Signifikanten – ist es, was Tholen als nennenswerten Unterschied zum modernen Begriff der Information herausstellt : Ohne diese Unmotiviertheit würde sich der moderne Informationsbegriff von den ihm vorausgegangenen Begriffen der Materie oder der Energie – so Tholen in Anlehnung an O ­ swald Wieners Bestimmung204 – nicht wesentlich unterscheiden : » Denn die ursprungslose und ontologisch nicht fixierbare Abständigkeit des Symbolischen artikuliert eine in sich stets verschiebbare Topik differentieller Verhältnisse, die ihrerseits den je besonderen Bezug der Symbolmaschinen wie der Sprechwesen zu ihr selbst indefinit – das heißt in der Schwebe – halten. «205 Ohne diese Dazwischenkunft der Information stellten die elektronischen Medien, so Tholen, auch keine » epochale Zäsur in der Geschichte der Episteme « dar, als die sie thematisiert würden.206 Selbst wenn man generell vorsichtig sein muss mit der Zuweisung » epochaler Differenz «207, sie scheint uns hier durchaus zutreffend zu sein. Die persuasive Verbreitung jener Medien, die aufgrund elektronischer Geräte existieren, halten uns tagtäglich unseren Verdacht vor Augen, dass die epistemischen Konstruktionen Information auf der einen und Kausalität auf der anderen Seite nicht miteinander vereinbar sein können. Nichtsdestotrotz ist es nach Tholen jedoch » die Dazwischenkunft der Information «, womit er » ihre zeit- und zeichentheoretisch zu präzisierende Medialität « meint, die eine philosophiegeschichtliche Neuinterpretation des Technischen ermögliche.208 Von Information als » dritter Wirklichkeit « zu sprechen, bleibt allerdings, so Zimmerli, » eine Formulierung, die uns leicht von den Lippen geht, aber schwer zu denken ist «.209 Ihm zufolge ergibt sich über das In-Bezug-Setzen zu den Entwicklungen in der Bewusstseinsphilosophie, das, was wir seit Descartes als Geist und Materie unterscheiden. Es seien nur andere Formen, über ein Drittes zu sprechen, nämlich über Information.210 In diesem Georg Christoph Tholen, Zäsur der Medien, S. 44. Georg Christoph Tholen, » Platzverweis «, S. 112ff. Vgl. Georg Christoph Tholen, Zäsur der Medien. Vgl. dazu Hans Blumenberg, » Die Epochen des Epochenbegriffs «, in : ders., Aspekte der Epochenschwelle : Cusaner und Nolaner, Frankfurt am Main 1976, S. 1–33. 208 Georg Christoph Tholen, » Platzverweis «, S. 112ff. 209 Walther Ch. Zimmerli, » Information und Kultur «, S. 40. 210 Ebenda. Auch andere Stimmen kommentieren diese Entwicklungen aus einer ähnlichen Perspektive : » Science is undergoing a structural transition from two broad methodologies to three – namely from experimental and theoretical science to include the additional category of computational and information science. A comparable example of such change occurred with the development of systematic experimental science at the time of Galileo. « Physics today, Nr. 37, Mai 1984, S. 61, hier zitiert nach Paul Humphreys, Expanding ourselves. Computational Science, empiricism and scientific method, Oxford und New York 2004, S. 51. Vgl. ferner die Äußerung von Kaufmann und Smarr : » For nearly four centuries, science has been progressing primarily through the application of two distinct methodologies : experiment and theory […]. The development of digital computers has transformed the pursuit of science because it has given rise to a third methodology : the computational mode. « William J. Kaufmann und Larry L. Smarr, Supercomputing and the Transformation of Science, New York 1993, S. 4, hier zitiert nach Humphreys, ebenda, S. 51. 204 205 206 207

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Begriff verankert sieht er die semantische Reziprozität der beiden anderen Begriffe. Diese Reziprozität werde denn auch in den grundlegenden metaphysischen Theorien und Theoremen der Neuzeit widergespiegelt : » So sprechen wir von ›Materialismus‹ und ›Naturalismus‹, aber auch von ›Spiritualismus‹ oder ›Idealismus‹. Und die ursprünglichen Begriffsoppositionen ›materia‹ und ›spiritus‹ auf der einen, und ›natura‹ und ›idea‹ auf der anderen Seite werden, was die philosophischen Richtungen betrifft, über Kreuz gekoppelt : dem Materialismus steht der Idealismus, dem Naturalismus der Spiritualismus gegenüber. «211 Dabei handele es sich aber, darauf weist Zimmerli dezidiert hin, noch nicht um Problemanzeigen selbst, sondern um metaphysische Richtungen, wie Probleme angezeigt werden könnten, genauer : » […] um klassifikatorische Bezeichnungen für solche «.212 Wenn Zimmerli nun von der » Information als dritter Wirklichkeit « spricht, so fasst er unter diesem Begriff zunächst allgemein den » durch die Differenz von mentalistischen und physikalistischen Prädikaten angesprochene[n] Unterschied «.213 Diese Definition vermag vier verschiedene Verwendungsweisen des Begriffs zu umfassen. Erstens gehe es um die operative Bit-Definition der Informationstheorie und der Computerwissenschaften, die Zimmerli wie folgt ausführt : » Information ist der Unterschied zwischen 0 und 1, oder in Hardware-Terminologie : zwischen einem offenen und einem geschlossenen Schalter bzw. zwischen dem Fließen und dem Nichtfließen elektrischen Stroms. «214 Zweitens gehe es um die umgangssprachliche Verwendung des Begriffs, in der wir den Unterschied als Signal oder Zeichen interpretieren und mit dem sich eine bestimmte Bedeutung verbinden lässt. In dieser Richtung müsse die Definition allerdings, so Zimmerli, ferner zwischen » Daten « und » Informationen « unterscheiden; nur Letztere erforderten in einem engeren Sinne eine Bedeutung.215 Drittens berühre das Reden mit Information unterschiedliche Bedeutungsebenen, die sich nicht zuletzt aus der biowissenschaftlichen Verwendung des Begriffs ergeben. Und viertens schließlich komme der Information auch eine Verwendung auf metasprachlicher Ebene zu : » Wir sprechen zum Beispiel nicht nur von der Information, die im Genom gespeichert ist, sondern auch von der Information über diese genetische Information. «216 Zimmerli formuliert ferner die Frage, die sich nun stellt : » Wie kommt es von der Information nach der Bit-Bestimmung bis zu jener Meta-Information, die wir ›Wissen‹ nennen ? «217 211 Walther Ch. Zimmerli, » Information und Kultur «, S. 40. 212 Ebenda. 213 Ebenda, S. 41. 214 Ebenda. 215 Ebenda. 216 Ebenda, S. 42. 217 Ebenda.

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Information muss also im Zusammenhang mit Kommunikation gesehen werden : » Der ›kleine Unterschied‹ der Bit-Information wird zum Unterschied mit Bedeutung, wenn er als Signal, das heißt als Träger einer Botschaft eines Senders an einen Empfänger verstanden wird, was […] aufgrund unterschiedlicher Funktionen auch unterschiedliche Effekte beim Empfänger auszulösen erlaubt. «218 Auf die Beschränktheit eines rein formal gefassten Sender-EmpfängerModells für Kommunikation wurde im medientheoretischen Diskurs vielfach hingewiesen.219 Um Gregory Batesons Votum in Erinnerung zu rufen : Information ist ein kommunizierter Unterschied, das heißt ein Unterschied mit Bedeutung, der auch beim Empfänger einen Unterschied mit Bedeutung auslöst.220 Zimmerli ruft zu Recht in Erinnerung, dass das, was wir heute Information nennen, im Mittelalter jener eingeprägten Form entsprach, die als » materia signata « bezeichnet wurde und lediglich ein anderer Ausdruck für » das Konkrete « war. 221 Seither habe sich im Umgang mit dem scholastischen Zeichenbegriff eine Aufspaltung in zwei Richtungen vollzogen : Die verabsolutierende Abstraktion des materia-Aspektes habe zum physischen Begriff der Materie geführt, während die verabsolutierende Abstraktion des signum-Teils eine Verselbstständigung im Begriff des Geistes erfahren habe.222 Die breit angelegte Informatisierung in kultur- wie wissenschaftsgeschichtlicher Hinsicht steht also insofern wiederum im Zusammenhang mit der Problematik rund um Zeichen. Denn im Begriff der Information scheinen, wie Zimmerli zusammenfassend darstellt, wieder beide Teile der scholastischen Herkunft dieses Begriffs zusammenzufallen. Ein Blick auf die Geschichte der Sprachphilosophie in der Tradition der abendländischen Metaphysik zeigt, dass vor allem der (griechische) Anfang der Bezugnahme sprachlicher Zeichen als Referenzialität das Hauptproblem war : » Beziehen sich sprachliche Ausdrücke auf dingliche oder ideale Gegenstände ? Sind sie Repräsentanten oder Abbilder einer auch unabhängig von ihnen existierenden Wirklichkeit ? Sind die Substanzen Träger von Eigenschaften oder nur Gegenstände von Prädikationen ? Von Aristoteles bis ­Wittgenstein wogten die Debatten über genau diese 218 Ebenda. 219 Vgl. für einen Überblick beispielsweise Klaus M. Bernsau, » Das Missverständnis der Informationsgesellschaft « (ohne Seitenangaben). 220 Ebenda. 221 » What we mean by information – the elementary unit of information – is a difference which makes a difference, and it is able to make a difference because the neural pathways along which it travels and is continually transformed are themselves provided with energy. The pathways are ready to be triggered. We may even say that the question is already implicit in them. « Gregory Bateson, Steps to an Ecology of Mind, Chicago 1972, S. 459. 222 Walther Ch. Zimmerli, » Information und Kultur «, S. 43.

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Frage, die man seither als ›Kategorienproblem‹ bezeichnet. «223 Dieses » Kategorienproblem « formuliert somit in medientheoretischer Hinsicht zuspitzend, inwiefern sich sprachliche Zeichen nicht bloß eindimensional als Repräsentanten oder Abbilder verstehen lassen. Ausgerechnet ein Modellplatoniker wie Gottlob Frege hat diese Tür mit seiner Unterscheidung von Sinn und Bedeutung vollends aufgestoßen, obwohl erst Wittgenstein diese Problematik im Begriff der operablen Dialektik gefasst hat : Die Bedeutung der Zeichen liegt ihm zufolge in ihrem situativen Gebrauch im Rahmen dessen, was er Sprachspiel nennt. Daraus ergibt sich, dass sich die Brisanz unseres Themas nicht etwa nur im Kontext der Sprachpragmatik entfaltet, welche sich mit der Beziehung zwischen Zeichen und Nutzern befasst, sondern auch überall dort, wo beim Umgang mit Computern oder anderen datenverarbeitenden Geräten die pragmatische Situationssemantik der Nutzer in Kraft tritt. Eben dies haben wir zuvor als Moment der unhintergehbaren Instanziierung abstrakter Modelle ins Gewebe des Konkreten umschrieben. Weder die rein syntaktischen Operationen des technischen Gerätes noch die durch diese lediglich in die Formalsprache eines Codes gefassten semantischen Bestimmungen, etwa von in sogenannten semantischen Ontologien programmierten Verweisstrukturen, machen den Vollbegriff der » Information « aus, wie Zimmerli überzeugend darlegt. 224 Für ihn zeichnen sich vor diesem Hintergrund eine Gliederung in fünf zusammenspielende Paradigmen ab : 1. Zimmerli schlägt den Begriff des Textparadigmas vor, welcher sich seiner Darlegung nach in unterschiedlichen Disziplinen der Biowissenschaften, und über die Informatik auch darüber hina­us, etabliert hat, und dies nicht nur in einem metaphorischen Sinn : » Nichts steht ganz für sich allein, alles ist in anderes eingewoben und hängt so, mehr oder minder vermittelt, mit allem zusammen. «225 Die Textmetapher ersetze schon seit Längerem die » bereits etwas ausgemagerte Metapher der Information «.226 2. Ähnlich verhalte es sich auch mit dem Systemparadigma, welches sich von der Ethik bis zur Wissenschaftstheorie erstrecke und gegenwärtig allerdings im Begriff sei, sich in ein Selbstorganisationsparadigma zu verwandeln. 3. Vor dem Hintergrund der Konvergenz von Wissen und Tun und der Komplexität, die sich aus den beiden ersten Paradigmen ergibt, würden nun verschiedene Disziplinen die Strukturen 223 Ebenda, S. 43. 224 Vgl. dazu ausführlicher ebenda, S. 49ff. 225 Ebenda. 226 Ebenda.

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eines Konstruktionsparadigmas zu erkennen geben. Realität werde zunehmend als Konstrukt erfahren. 4. Des Weiteren schlägt Zimmerli vor, die integrative Querschnittskonzeption des Konstruktionsparadigmas in Richtung eines von ihm so benannten Virtualitätsparadigmas weiterzuentwickeln. Es geht ihm dabei um eine Neubestimmung der Rolle von Antizipation, die er wie folgt motiviert sieht : » Die Konstruktion von Wirklichkeit unter den Bedingungen mächtiger informationsverarbeitender Konstruktionstechnologien lässt den antizipierenden Entwurfscharakter von Konstruktion erst Wirklichkeit werden. «227 5. Als fünfte Rahmenvorstellung spricht Zimmerli denn auch von einem Orientierungsparadima, welches etwa als Wissenschafts­ ethik, Wissenschaftsforschung sowie Technikfolgenforschung und -abschätzung die normativen Zielvorstellungen mit der Erforschung und Abschätzung möglicher intendierter wie auch nicht intendierter Folgen verknüpfe. 228 Zimmerli stellt das schon vertraute und bis in die Zeit der großen Enzy­klopädisten und der Ideen einer Ars combinatoria zurückreichende Textparadigma in eine Serie von weiteren Paradigmen, aus deren Zusammenspiel sich just jene Schwierigkeiten ergeben, die etwa Hans Blumenberg in seiner Kritik des Grundbegriffs der Säkularisierung analysiert hat.229 Es geht im Umgang mit diesen Schwierigkeiten um eine Analytik der offenen und heimlichen Voraussetzungen eines Selbstverständnisses, das wohl schon länger in die Krise geraten sein mag – aber nichtsdestotrotz noch immer als verbindlich begriffen wird. Ob als Triumph der Aufklärung begriffen oder als Ursache für die Krise aller Autorität und den Verfall einstiger Transzendenzfähigkeit verrufen – der Aufschlusswert des Prozesses der Verweltlichung, der sich im Namen der Säkularisierung seit Beginn der Neuzeit entfaltet, hängt von Voraussetzungen ab, die ihrerseits bisher für eine Theorie dieser Zwischenräumlichkeit nicht verfügbar waren. Blumenberg selbst schließt die Einleitung zu Die Legitimität der Neuzeit mit dem Hinweis, dass sein Buch nach der Möglichkeit der Wissenschaftsimmanenz von » Säkularisierung « fragt.230 Für Heidegger, andererseits, konnte eine solche Möglichkeit nicht als offene Frage gelten. Für ihn war es vielmehr so, dass gerade eine wissenschaftliche Haltung im Umgang mit der Frage, wie man sich im Denken orientieren könne, ihm prinzipiell als fatale Haltung erschienen war. 227 Ebenda. 228 Vgl. zu meinen indirekten Zitate ausführlicher ebenda, S. 49ff. 229 Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit. 230 Ebenda, S. 19.

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Die theoretische Neugierde » Geht es um eine Geschichte der Formalisierung, die mit Leibniz’ Characteristica Universalis begonnen hätte, mit Hilbert an den Toren des Cantorschen Paradieses angekommen wäre und sich dann in der Universalen Diskreten Maschine materialisiert hätte ? «231 Der neuzeitliche Prozess der säkularisierenden Verweltlichung hat maßgeblich den Prozess dessen befördert, was Blumenberg » theoretische Neugierde « nennt.232 Diese gilt ihm als Grundstein für die humane Selbstbehauptung, mit der sich die Menschen vom mittelalterlichen theologischen Absolutismus schließlich abwenden konnten. Vor dieser geschichtlich aufgespannten Perspektive verliert die Frage, wie sich unser Wirklichkeitsbezug unter dem Einfluss allgegenwärtiger Medien und computergesteuerter Prozesse verändert, zwar nicht an Dringlichkeit, wohl aber etwas an Dramatik. Es scheint nun vielmehr naheliegend, in einer strukturellen Perspektive über eine nähere Bestimmung der Rolle der Imagination und der Anschauung in Erkenntnisprozessen nachzudenken.233 Wir wollen vorerst einfach einmal festhalten, dass die Frage nach dem » digitalen Schein «234 in einen umfassenderen wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhang gestellt werden sollte, als dies gemeinhin geschieht.235 Wurde die epistemologische Dimension in der Theoriebildung um die Informationswissenschaften und -technologien spätestens seit Wittgenstein und der sprachanalytischen Wende der Philosophie vor allem unter einem mentalistischen Paradigma 231 Bernhard Siegert, Passage des Digitalen. Zeichenpraktiken der neuzeitlichen Wissenschaften 1500–1900, Berlin 2003, S. 333. 232 Hans Blumenberg, Der Prozess der theoretischen Neugierde, Frankfurt am Main 1980. 233 Während das philosophische Reflektieren über Anschauung und Weltbild, vielleicht das Krisenthema in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts überhaupt, besonders auch in der Folge Heideggers, in jüngerer Zeit eigenartig still bleibt, stellt gerade eine Neuerwägung der Rolle der Imagination ein jüngst wiederum öfters formuliertes Desiderat gegenwärtiger Philosophie dar. Um nur einige exemplarisch zu nennen : Georg Christoph Tholen, » Der Ort des Raumes. Zur Heterotopie der Einbildungskraft im ›digitalen‹ Zeitalter «, in : Stefan Günzel (Hrsg.), Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld 2007, S. 99–114; Dietmar Kamper, Zur Geschichte der Einbildungskraft, München 1981; Bernhard H. F. Taureck, Metaphern und Gleichnisse in der Philosophie, Frankfurt am Main 2004; „Peter Sloterdjik, Tau von den Bermudas;“ Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt am Main 1991; K. Ludwig Pfeiffer, Das Mediale und das Imaginäre. Dimensionen kulturanthropologischer Medientheorie, Frankfurt am Main 1999; Hans Julius Schneider, Phantasie und Kalkül. Über die Polarität von Handlung und Struktur in der Sprache, Frankfurt am Main 1999. 234 Florian Rötzer (Hrsg.), Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien, ­Frankfurt am Main 1991. 235 Dabei folgen wir etwa auch Flussers Vorschlag, für ein besseres Verständnis des gegenwärtigen Phänomens des » digitalen Scheins « besonders in den Anfängen der Neuzeit Ausschau zu halten. Vilém Flusser, » Digitaler Schein «, in : Florian Rötzer, Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien, Frankfurt am Main 1991, S. 147–159, hier S. 148.

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erörtert,236 und wurde die metaphysische Dimension dabei weitgehend außer Acht gelassen, so drängt sie sich heute wieder ins Zentrum medien- und techniktheoretischer Fragestellungen.237 Überblickend lässt sich festhalten, dass sich die Frage nach der Mächtigkeit von Kulturtechniken und der Möglichkeit eines Außen, eines Bereichs der nicht in die Verfügbarkeit durch Medialität, Technizität, respektive Künstlichkeit fallen kann, sich derzeit erneut und zunehmend dringlich stellt. Gerade aus dieser Perspektive wird besonders deutlich, dass es zumindest bis auf Weiteres sinnvoll erscheint, daran festzuhalten, dass ein Modell ein Modell bleibt, und dass jede Aussage über oder anhand des Modells sich auf dieses und nicht etwa auf die Welt des Physischen bezieht.238 Aus dieser Differenz erhält die theoretische Neugierde als Geste humaner Selbstbehauptung letztendlich ihre Legitimation. Daraus entspringt zudem auch die mit den neuen Medien weithin auflodernde Diskussion um Virtualität.239 An dieser Wegmarke macht die Philosophie von Gilles Deleuze einen ernstzunehmenden Vorschlag. Pierre Lévy umschreibt das Konzept der Virtualität, ausgehend von Deleuze, als einen kreativen Umgang mit dem Referenzrahmen, hinsichtlich dessen ein Etwas seine Bedeutung gewinnt : » The virtualization of a given entity consists in determining the general question to which it responds, in mutating the entity in the direction of this question and redefining the initial actuality as the response to a specific question […]. «240 Es handelt sich bei dem deleuzianischen Denkbild des Virtuellen um eine spezielle Ausprägung des Idealismus, in dessen Zentrum jedoch keine ewig-statischen 236 Vgl. für eine gegenwärtige Darstellung des Disputs innerhalb der analytischen Philosophie in der Folge Carnaps und Quines um das Verhältnis zwischen synthetischen Sätzen und analytischen Sätzen, und der Möglichkeit von wahren Aussagen wie deren Nähe zur Tautologie : Gillian Russell, Truth in Virtue of Meaning. A defence of the analytic /synthetic distinction, Oxford 2008. 237 Es wird in den neueren Beiträgen zu diesen Diskursen über verschiedene epistemologische Positionen verhandelt, nach denen man eine kategoriale Bestimmung vornehmen könnte. So skizziert etwa Nancy erste Ansätze einer pluralistischen Ontologie. Jean-Luc Nancy, singulär plural sein, Berlin 2004 [1996]. Stiegler relativiert die absolute Vorgängigkeit dessen, was Derrida als Urschrift konzipiert hat, und will damit die Position eines technikphilosophisch begründeten idealistischen Materialismus verfügbar machen. Bernard Stiegler, Technics and Time, The Fault of Epimetheus, London 1998 [1994]. Alain Badiou versucht, die epistemologische Position eines radikalen Rationalismus mit der Ereignisphilosophie in der Tradition von Heidegger, Derrida und Deleuze zu vereinen : Badiou, L’être et l’événement, Paris 1988. 238 Vgl. für eine dieser Argumentation entgegengesetzten Haltung etwa die frühe Schrift von Alain Badiou, The Concept of Model : An Introduction to the Materialist Epistemology of Mathematics, Melbourne 2007 [1968]. 239 Vgl. exemplarisch zur weitreichenden Bedeutung von Kulturtechniken und deren historischen Gründung in allgemeinen Zeichenpraktiken : Bernard Siegert, Passage des Digitalen. Zum Verhältnis der Technik zu einem Außen vgl. exemplarisch Christoph Hubig, Die Kunst des Möglichen I : Technikphilosophie als Reflexion der Medialität, Bielefeld 2006; und ders. Die Kunst des Möglichen II : Ethik der Technik als provisorische Moral, Bielefeld 2007. 240 Pierre Lévy, Becoming Virtual. Reality in Digital Age, New York 1998, S. 26.

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Ideen als Inbegriff von Regelmäßigkeit stehen, sondern eine so implizite wie generische Existenzweise von Ideen jenseits einer strikten Trennung von Ideell-Repräsentativem und M ­ ateriell-­Wirksamem.241 Die Methodik eines solchen Virtualitätsdenkens stellt sich bei Deleuze deshalb nur scheinbar paradoxerweise als ein radikaler Empirismus dar und nicht, wie zu vermuten wäre, als eine deduktiv-nomologische Form von Rationalität. An die Stelle der philosophiegeschichtlich bedeutsamen axiomatischen Methode des Formalisierens stellt Deleuze eine problematisierende Methode, wie Daniel W. Smith feststellt : » The fundamental difference between these two modes of formalisation can be seen in their differing methods of deduction : in axiomatics, a deduction moves from axioms to the theorems that are derived from it, whereas in problematics a deduction moves from the problem to the ideal accidents and events that condition the problem and form the cases that resolve it. «242 Mit diesem methodischen Übertrag von der Mathematik in die Philosophie skizziert Deleuze einen Begriff des Problems, dem die entsprechenden Lösungen immer schon immanent sind. Ein Problem geht den Lösungen logischerweise also nicht voraus. Wenn ein Problem adäquat formuliert ist, so ist es nach seiner Auffassung zugleich gelöst. Deleuze spricht von seiner Philosophie als einem » transzendentalen Empirismus «.243 Es geht ihm bei seinem philosophischen Denkbild des Virtuellen darum, auch über die Bedingungen der Genese einer formalen Struktur, die wiederum unsere empirische Erfahrung bedingt, auf kohärente Weise sprechen zu können.244 Geschichtlich geht der Begriff der Virtualität auf das mittellateinische virtualis zurück, das sich selbst von dem Wort virtus ableitet für Kraft, Potenzial, Vermögen und seit der scholastischen Philosophie das bezeichnet, was zwar dem Vermögen nach, nicht jedoch in aktualisierter Form existiert. Damit steht die Virtualität in enger Nachbarschaft zu Konzeptionen 241 Dies scheint uns ein gemeinsames Interesse von Deleuze mit dem Mathematiker und Philosophen Charles Sanders Peirce zu sein, dem Begründer der Semiotik und Mitbegründer des amerikanischen Pragmatismus. Peirce hat im Rahmen seines nicht deterministischen Modells dafür, wie Ideen auf die Zukunft einwirken, eine spezielle Seinsweise für abstrakte » Entitäten « wie » Gesetze « mit einem kategorischen Status des Esse in Futuro versehen. Für eine Diskussion des Ansatzes von Peirce hinsichtlich der Frage, wie Neues in die Welt kommt, vgl. Edwina Taborsky, Architectonics of Semiosis, New York 1998, oder Helmut Pape (Hrsg.), Kreativität und Logik. Charles S. Peirce und das philosophische Problem des Neuen, Frankfurt am Main 1994. Oder vgl. auch die eigenen Schriften von Peirce, zu seiner Kategorienlehre insbesondere : Vorlesungen über Pragmatismus, Hamburg 1991, hier das Kapitel » Die universalen Kategorien «, S. 22ff.; oder ders., Naturordnung und Zeichenprozess, Frankfurt am Main 1988, insbesondere das Kapitel » Das Gesetz des Geistes «, S. 179ff. 242 Vgl. dazu beispielsweise Daniel W. Smith, » Axiomatics and problematics as two modes of formalisation : Deleuze’s epistemology of mathematics «, in : Simon Duffy (Hrsg.), Virtual Mathematics. The logic of difference, London 2006, S. 145–168, hier S. 145. 243 Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 186–187. 244 In dieser Funktion steht das Konzept des Virtuellen bei Deleuze. Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung. Vgl. dazu insbesondere auch Marc Rölli, Gilles Deleuze. Philosophie des transzendentalen Empirismus, Wien 2003.

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des Möglichen und bleibt dennoch deutlich abgesetzt von ihnen. Denn eines der Kernprobleme besteht genau darin, mit dem Begriff Virtualität das Mögliche als indeterminiert und offen zu denken.245 In diesem Sinn geht es Deleuze mit seinem Vorschlag eines transzendentalen Empirismus um eine Neufassung des Verhältnisses zwischen Abstraktem und Konkretem.246 Für ihn sind Phänomene seinslogisch und nicht bewusstseinstheoretisch gegründet. Damit skizziert er eine nachmetaphysische Phänomenologie, wobei ein solcherart gefasstes Sein des Phänomens nicht mit dem Phänomen als Seiendes gleichzusetzen ist.247 Entlang diesem Denken lässt sich das Außen der Abstraktion nicht in einer Abbildlogik fassen. Und genau das macht seinen Ansatz so vielversprechend. Denn im Mittelpunkt des gegenwärtigen Zeitalters des Digitalen steht, zeichentheoretisch betrachtet, nicht der verfügbar gewordene Code etwa zur Archivierung, Übermittlung, Verdoppelung oder sonstigen Manipulation eines berechneten, analysierten Originals in Serien von Kopien oder, kybernetisch gesprochen, in Karten, anhand derer sich in allen unbekannten Gewässern navigieren ließe.248 Im Mittelpunkt des Digitalen als Dispositiv steht ganz andersartig ein eigentlicher Riss in der Logik der Repräsentation. Dieser Riss markiert laut ­Bernhard Siegert den Anfang der Nutzung elektronischer Medien, aus dem sich bereits Mitte des 18. Jahrhunderts eine Passage des Digitalen eröffnete.249 Dieser Passage entspringen die Transformationskräfte der neuen Art von Verfügbarkeit, die sich aus denjenigen mathematischen Neuerungen ergibt, mit welchen Elektrizität damals beherrschbar geworden war. Sowohl für die zeichentheoretischen Funktionsprinzipien elektronischer Medien (Information) wie auch für die ihnen zugrunde liegenden 245 Vgl. dazu beispielsweise Daniel W. Smith, » The Conditions of the New «, in : Ian Buchanan (Hrsg.), Deleuze Studies, London 2007, Nr. 1, S. 1–21. 246 Siehe dazu Anm. 244 und ebenfalls : John Rajchman, Constructions, ­Cambridge 1998, hier insbesondere das Kapitel » What is abstract ? «, S. 55–75, das er mit der beachtlichen Aussage beginnt : » It is, as though the world of abstraction had been reopened. «, hier S. 55 [kursiv im Original]. 247 Vgl. die Ausführungen von Rölli zu diesen hier nur grob skizzierten Gedankengängen : Marc Rölli, » Begriffe für das Ereignis : Aktualität und Virtualität. Oder wie der radikale Empirist Gilles Deleuze Heidegger verabschiedet «, in : ders. (Hrsg.), Ereignis auf Französisch. Von Bergson bis Deleuze, München 2004, S. 337–359, hier S. 343ff. 248 Zu einer medien- und kulturgeschichtlichen Darstellung der bisweilen auch verhängnisvollen dualen Unterscheidung von digital und analog siehe die Beitragssammlung von Jens Schröter und Alexander Böhnke (Hrsg.), Analog /Digital – Opposition oder Kontinuum ? Zur Theorie und Geschichte einer Unterscheidung, Bielefeld 2004. Zum Kurzschluss der kybernetischen Epistemologie in ihrer Konzeption des Digitalen siehe hier insbesondere den Aufsatz von Claus Pias, » Elektronenhirn und verbotene Zone. Zur Kybernetischen Ökonomie des Digitalen «, S. 295–310. Mit der grundlegenden Gegenüberstellung von digital und analog hätte die Kybernetik die Unterdrückung eines notwendigen Dritten, etwa einer Passage, einer Materialität, oder wie auch immer man es nennen möchte, zum eigentlichen Motor » eines Funktionierens, das Beobachtung heißt «, gemacht, S. 307f. Siehe dazu auch Claus Pias, » Die kybernetische Illusion «. 249 Wir beziehen uns mit diesen Ausführungen auf die Untersuchungen von Bernhard Siegert, Passage des Digitalen.

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­ athematischen Neuerungen (symbolische Algebra) ist es kennzeichm nend, dass mit Zeichen operiert wird, die bedeutsam sind, ohne auf eine so bezeichnete real-physische und damit externe Referenz zu verweisen. Die imaginären Zahlen250, eine von Leonhard Euler (1707–1783) allgemein etablierte Klasse mathematischer Zahlzeichen, hätten um die Mitte des 18. Jahrhunderts, so Siegert, den Raum für das Entstehen der elektronischen Medien in einem deterritorialisierten Analytischen eröffnet : » Es ist der Riss einer im Denken der Repräsentation verwurzelten Ordnung der Schrift, der die Passage des Digitalen freisetzt und den Raum der technischen Medien eröffnet. Die elektrischen Medien basieren auf dem, was ein Vertreter der klassischen Leibniz-Wolffschen Analysis das ›Nichtanalytische‹ genannt hätte, das Nichtberechenbare, Nichtdarstellbare, die Grenzen des Kalküls Überschreitende. Das moderne Analytische, das heißt die Analysis seit Euler, ist ein deterritorialisiertes Analytisches. «251 » Deterritorialisiert « meint hier vorsymbolisch, präsignifikant, bisher ohne Bedeutsamkeit und buchstäblich nicht auszudenken – die nacheulersche Analysis ermöglicht Berechnungen im Nichtvorstellbaren. Das heißt in der Konsequenz und etwas paradox anmutend : Ein deterritorialisiertes Analytisches ist ein offenes Feld für die poetische Mathematik oder für analytische Selbstbegründungen als generische Kalkulationen.252 Darin gründet der enge Bezug zwischen den Prinzipien des Digitalen und dem, was im Kontext der Medienwissenschaft gerade unter dem Label der Virtualisierung theoretische Konturen gewinnt, wie Manfred Fassler zusammenfasst : » Diese Leistung des Gehirns, eine Art dauerhafte Selbstreferenz zu erzeugen, ›Kopfgeburten‹ zu zeugen und sie aufwachsen zu lassen, nenne ich Virtualisierungsfähigkeit. «253 Der digitale Code erlaubt eine weitreichende Standardisierung des operativen Umgangs mit Kalkülen operabler Elemente, die auf keine Repräsentationen außerhalb ihrer selbst verweisen. Ebenso verhält es sich mit Fasslers » Kopfgeburten «. Diese sind nicht empirisch motiviert, sondern bilden sich aus einem Riss der inneren Systematik heraus, durch die Verletzung einer Regel, das Relativieren eines Axioms – allerdings mit dem entscheidenden Zusatz, dass sie es vermögen, den hartnäckigen Versuchen der Denkgewohnheiten auch langfristig zu widerstehen. Virtualisierte Sachverhalte beginnen ein Eigenleben und lassen sich nicht subsumieren von der Ordnung, der sie entspringen. Mit dem Erscheinen des Dispositivs 250 » An imaginary number is a complex number that has zero real part. An imaginary number can therefore be written as a real number multiplied by the ›imaginary unit‹ i (equal to the square root √-1). « Eric W. Weisstein, » Imaginary Number «. From MathWorld – A Wolfram Web Resource, online : http : //mathworld.wolfram. com  /­ImaginaryNumber.html (06.01.2009). 251 Bernhard Siegert, Passage des Digitalen, S. 16. 252 Vgl. dazu auch Simon Duffy (Hrsg.), Virtual Mathematics. 253 Manfred Fassler, Erdachte Welten. Die mediale Evolution globaler Kulturen, Wien 2005, S. 227.

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des Digitalen vor gut 150 Jahren254 wurde eine eigentliche Verkehrung der bisher gültigen zeichentheoretischen Prämissen in Gang gesetzt. Die Bedeutsamkeit von Zeichen beruhte nicht länger abbildtheoretisch auf einer externen Referenz, sondern sie wird gewissermaßen aus einer Immanenz von Symbolen erzeugt. Für formale Operationen jeglicher Art bedeutete das, dass mit postulierten Funktionszusammenhängen gerechnet werden konnte, ohne dass diese vorstellbar sein mussten. Damit eröffnete sich für die Mathematik die Möglichkeit, nicht nur in der Empirie Anwendung zu finden, sondern im eigentlichen Sinne auch als Experimentalwissenschaft im Abstrakten betrieben zu werden. Die Analysis, die sich nicht mehr auf einen externen Gegenstand beziehen musste, schaffte sich den eigenen Bedeutsamkeitsboden aufgrund eines generativen Selbstbezugs, wie Siegert ausführt : » Darstellbarkeit ist nun nicht mehr eine transzendentale, unbefragbare Voraussetzung der Analyse, sondern etwas, dessen Existenz die Analyse allererst und bevor ihr eigentliches Geschäft beginnt beweisen muss. «255 Diese mathematischen Grundlagen zum operativen Umgang mit dem Präspezifischen finden in allen möglichen wissenschaftlichen Disziplinen schon seit längerer Zeit Anwendung. Was analytisch gefolgert und bewiesen wird, wird nicht länger repräsentiert oder gefunden, sondern errechnet. Die Kultur- und Medienphilosophin Sybille Krämer beispielsweise spricht von einer » Kalkülisierung des Erkenntnisverfahrens «256, und das, ohne dabei etwa konstruktivistische Aspekte auszuklammern. Die radikalen und über die Mathematik hinausweisenden Implikationen dieser Zeichenpraktiken wurden um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert als außerordentlich beunruhigend empfunden, wie sich etwa in Gottlob Freges Die Grundlagen der Arithmetik, eine logisch-mathematische Untersuchung über den Begriff der Zahl (1884) sowie in Edmund Husserls H ­ abilitationsschrift Über den Begriff der Zahl, psychologische Analysen (1887), zeigt. Diese Implikationen stehen im Zentrum eines jeden Fragens nach dem kategorialen Status des Symbolischen, und sind heute noch immer beinahe unerforscht. Sie beginnen jedoch 254 Siegert markiert das Aufscheinen des Risses im Denken der Repräsentation, in dem und aus dem sich ein Dispositiv des Digitalen erst entwickeln und installieren kann, epistemologisch gesehen mit der mathematischen Analyse nach Leonhard Euler (1707–1783), Joseph Fourier (1768–1830) und Augustin Louis Cauchy (1789–1857). Die ersten elektrotechnischen Medien tauchen etwa zwischen 1820 und 1850 auf, wie beispielsweise die Erfindung eines elektromagnetischen Schreibtelegrafen, mitsamt dem dazugehörigen Morsealphabet. Morses und Vails erster Telegraf wurde ab 1844 eingesetzt. Carl Friedrich Gauss und Wilhelm Weber bauten und benutzten einen elektromagnetischen Telegrafen ab 1833 in Göttingen. Das erste kommerziell erfolgreiche transatlantische Telegrafenkabel wurde am 25.08.1858 in Betrieb genommen. Das » Dispositiv « entfaltet sich oder » erscheint « meiner Meinung erst dann, wenn sich die epistemologischen Prämissen als Infrastruktur zu verbreiten beginnen. 255 Bernhard Siegert, Passage des Digitalen, S. 16. 256 Sybille Krämer, » Kalküle als Repräsentation. Zur Genese des operativen Symbolismus in der Neuzeit «, in : Hans-Jörg Rheinberger, Michael Hagner und Bettina ­Wahrig-Schmidt (Hrsg.), Räume des Wissens. Repräsentation. Codierung, Berlin 1997, S. 111–122.

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gegenwärtig erneut, viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Beispielsweise spricht Erich Hörl im Bereich der Wissenschaftsforschung von einer » Krise der Euklidschen Mentalität «257, während im Bereich der Kulturwissenschaften Oliver Simons von einer » Krise der Anschauung «258 ausgeht oder Manfred Fassler von der Forderung nach einer Logik für eine » polymorphe Sichtbarkeit «259. Aufgrund der elektronischen Medien steht das Analytische dem Synthetischen nicht länger in klarer Abgrenzung gegenüber. Digitale Verfahren ermöglichen synthetisierende Analysen, die neue » Originale « gleichzeitig analysieren wie auch hervorbringen respektive sie aus dem Prozess des Analysierens selbst hervorbringen.260 Wie diese » Kopfgeburten « oder » abstrakten Gebilde « jedoch in die manifesten Ordnungen der Welt passen können, das stand bislang nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit.261 Wer mit den Analysen heute etwas anfangen will, begegnet den schier unendlichen Möglichkeiten, die sich bei ihrer Anwendung im digital vermittelten Konkreten anbieten. Und diese Offenheit in den Möglichkeiten kann als das Resultat der Grundlagenkrise in den formalen Wissenschaften gelten, wie sie sich zur Wende zum 20. Jahrhundert vollzogen hat und in deren Zuge auch die aktuelle Krise der Anschauung ihren Ausgang nimmt. Denn mit den euklidschen Grundbegriffen der Anschauung als deren in absoluter Weise verbindlichen Formen gingen ebenfalls die Kriterien verlustig, gemäß derer besagte Eingliederung oder Integration dieser genuinen Simulakren ins Geflecht der manifesten Wirklichkeit abzuwägen und zu vollziehen wäre. Im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit stehen Formen und Strukturen von Integrabilität aus einem historischen Blickwinkel betrachtet im Zentrum. 257 Zum Beispiel Erich Hörl, » We Seem to Play the Platonic Tape Backwards – McLuhan und der Zusammenbruch der Euklidischen Mentalität «, in : Derrick de Kerckhove, Martina Leeker und Kerstin Schmidt (Hrsg.), McLuhan neu lesen. Kritische Analysen zu Medien und Kultur im 21. Jahrhundert, Bielefeld 2008, S. 376–393. Siehe auch Hörls Forschungsprojekt » Die Krise der ›Euklidischen Mentalität‹ – Studien zur Geschichte der Anschauung « an der Ruhruniversität Bochum, online : http : //www.ruhr-unibochum.de/ifm/seiten/03institut/mitarbeiter/hoerl_anschauung.htm (06.01.2009). 258 Zum Beispiel Oliver Simons, Raumgeschichten. 259 Manfred Fassler, Bildlichkeit. Navigationen durch das Repertoire der Sichtbarkeit, Wien 2002, hier insbesondere S. 66ff. 260 Der Medien- und Wissenschaftsphilosoph Michel Serres hat in seinem Buch Atlas den Versuch unternommen, Karten zur Orientierung in der veränderten Welt zu skizzieren, die er aus einem eindrücklichen Blickwinkel beschreibt : Da » Wissenschaft und Technik sich heute gleichfalls mehr mit dem Möglichen als mit der Wirklichkeit « befassen würden, so Serres, bräuchten wir » heute nicht mehr die Frage zu beantworten, wohin wir gehen wollen, sondern wo wir sind «. Damit formuliert er eine Perspektive auf einen historisch veränderlichen Modus, wie wir in der Welt sind und welche Form dieses Dasein annimmt und annehmen kann. Siehe dazu Michel Serres, Atlas, Berlin 2005 [1994]. 261 Mit seinem Label einer » wirklichen Virtualität « betont beispielsweise Hubig die Notwendigkeit einer Änderung unserer Blickrichtung : » Die tiefgreifendsten Technologien sind die, die verschwinden. Sie verbinden sich mit den Strukturen des täglichen Lebens, bis sie von ihnen nicht mehr zu unterscheiden sind. […] Das Skandalon einer solchen Selbstverständlichkeit, die sich mit der neuen Unbestimmtheit angefreundet hat, ist, in den Worten Blumenbergs, die Verabschiedung der Vernunft zugunsten einer Überantwortung an den technisch-vorstellenden Verstand, ein vorstellendes Denken, das selbst in seiner Vorstellung von ›Natur‹ nicht mehr dessen gewahr wird, dass diese ›Natur‹ bereits Ergebnis eines technomorphen Weltverhältnisses ist. « Christoph ­Hubig, » ›Wirkliche Virtualität‹ «, S. 42.

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Zuvor wollen wir nun in aller Kürze besagte Krise der Grundlagen formalen Denkens kontextualisieren. Räumliches Denken – Codieren eines Aussen nach Übereinkunft Nach einer bekannten Überlieferung setzte schon Platon das Primat der Geometrie für das Denken über das Eingangsportal seiner Akademie. Die Inschrift, so wird gesagt, habe nur Geometern den Zutritt erlaubt.262 Damit war natürlich nicht gemeint, dass Platon die antiken Vorgänger von Vermessungstechnikern bevorzugt hätte, sondern vielmehr die Erkenntnis, dass die Kenntnis der Struktur der – damals bekannten – Geometrie eine entsprechende Struktur des individuell verfügbaren Denkens zur Folge hatte. Philodoxe und Philodogmen hatten deshalb draußen vor der Tür zu bleiben. Seit jeher versprach die Geometrie, ein zeitloses Formenvokabular bereitzustellen, das allen historischen Verwerfungen enthoben sei. Euklids Elemente wurden ab 325 v. Chr. wegen ihres axiomatischen Aufbaus zum Paradigma der gesicherten Erkenntnis schlechthin.263 Sie stellten Anschauungsformen bereit, die bis Mitte des 19. Jahrhunderts weithin als unwandelbar galten. Ihre Formen und die durch sie ermöglichten Methoden zur Demonstration, Anschauung und Messbarkeit galten deswegen als Basis für die Orientierung im begrifflichen Denken. Aber diese Rolle ist problematisch geworden.264 Hans Hahn hat in den 1930er-Jahren schließlich die Rede einer von ihm so benannten » Krise der Anschauung « in die Welt gesetzt, die er mit folgenden Worten beendete : » Denn nicht, wie Kant dies wollte, ein reines Erkenntnismittel a priori ist die Anschauung, sondern auf psychischer ­Trägheit beruhende Macht der Gewöhnung ! «265 Oder anders gesagt : Das zeitgenössische Reden über Medialität und Virtualität steht über das Problem der Anschauung offensichtlich in einem engen Zusammenhang mit der Geschichte der Mathematik. Das schon mit den frühen Diskussionen um die Virtualisierung im literarischen Milieu des Cyberpunk bzw. der Cyberculture auftauchende Problem der Anschauung (das heißt der Behauptung einer konkreten Erlebbarkeit des Abstrakten) wurzelt also – so die Vermutung, der später 262 Peter Sloterdijk, Sphären I, Frankfurt am Main 1998, S. 11. 263 Für ein Aufrollen des Problemfeldes siehe Dagmar Reichert (Hrsg.), Räumliches Denken, Zürich 1996. Für einen geschichtlichen Überblick vgl. Herbert Mehrtens, Moderne, Sprache, Mathematik. Eine Geschichte des Streits um die Grundlagen der Disziplin und des Subjekts formaler Systeme, Frankfurt am Main 1990. Vgl. auch die Zusammenstellung von Ulf Heuner, Klassische Texte zum Raum, Berlin 2008. Er versammelt hier Texte von Euklid, Platon, Aristoteles, Descartes, Leibniz, Pascal, Kant bis Scheler, die sich allesamt auf metaphysische Grundfragen fokussieren, die der Raumthematik philosophiegeschichtlich innewohnen. 264 Vgl. für eine kurze Einführung dazu Gaston Bachelard, Der neue wissenschaftliche Geist, Frankfurt am Main 1988 [1934], insbesondere das Kapitel » Die philosophischen Dilemmata der Geometrie «, S. 24–44. 265 Hans Hahn, » Die Krise der Anschauung «, in : Brian McGuinness (Hrsg.), Hans Hahn, Empirismus, Logik, Mathematik, Frankfurt am Main 1988, S. 86–114, hier S. 114.

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detailliert nachgegangen werden soll – in einem ganz spezifischen Kontext, der bisher kaum berücksichtigt wurde. Dabei handelt es sich um ein seit mehr als 100 Jahren andauerndes Symptom des Übergangs vom sogenannten anschaulichen Denken zum symbolischen Denken, wobei dieser Übergang seine Motivation in der Mathematik, vordringlich derjenigen des 19. Jahrhunderts, findet.266 In einer Wende weg von der Anschauung und hin zum Symbolischen wird Erfahrung nicht mehr von reinen Anschauungsformen und apriorischen Kategorien gelenkt, sondern von Modellen. Doch Modelle können nicht mehr in herkömmlichem Sinne als Veranschaulichung, als Darstellung des Reellen gelten. Es handelt sich bei ihnen vielmehr um eine » Codierung « eines Außen nach Übereinkunft. Wie Hörl ­ausführt : » Dass es um die Suche nach Invarianten durch symbolische Modellierung von Beziehungen, und nicht mehr ums Studium der Eigentümlichkeit von Objekten als solchen ging, markierte ursprünglich den historisch-­epistemologischen Wendepunkt des Abschieds von der Darstellung durch die nicht euklidschen Geometrien und die Gruppentheorie «.267 Damit ist ein Kurzschluss eingerichtet zwischen dem Reellen und den rein formalen Symbolen, wobei Ersteres damit nicht mehr nur von Letzterem begrifflich bedacht wird, sondern auch vermeintlich unmittelbar und kalkulatorisch » verarbeitet « werden kann. So wird eine konstruktivistische Wende der analytischen Sprachphilosophie ermöglicht. Über die algebraischen Symbole, so die Illusion der kybernetischen Informationswissenschaftler und ihrer Apologeten268, 266 Lacan hat dieses Symptom später aufgegriffen im Zuge seiner Weiterentwicklung der freudschen Psychoanalyse und sprachstrukturalistisch gewendet. Man tut allerdings gut daran, wenn man einige der für ihn zentralen Konzepte wie dasjenige des » Phantasmas « oder eben auch dasjenige des » Symbolischen « in ihrer Genealogie zumindest bis zu den Anfängen einer analytischen Methode zur Erkenntnisgewinnung bei Descartes zurückführt. Es gibt eine kontroverse Rezeptionsgeschichte um der Rolle der Imagination bei Descartes. Während die klassische Interpretationslinie jegliche Rolle der Einbildungskraft für den Erkenntnisprozess bei ihm ausgeschlossen sieht, vertreten andere demgegenüber gerade die Position, dass dasjenige philosophische Denken, das wir heute als Cartesianismus bezeichnen, viel cartesianistischer sei als bei dessen Urheber selbst. Sie beziehen sich damit vor allem auf einen frühen Text von Descartes, die » Regulae ad directionem ingenii «, der erst rund 200 Jahre nach seinem Tod veröffentlicht worden ist, als sich die Rezeption bereits feste Wege gebahnt hatte. In diesem Text zumindest kommt der Imagination nicht nur eine verbindende Rolle zu zwischen den res extensa und den res cogitans, sondern geradezu eine, die für die Unterscheidung selbst konstitutiv ist. Vgl. dazu Klaus Kießling, » Selbstorganisation – Multidisziplinäre Beiträge zur Konturierung einer postcartesianischen Psychologie «, in : Systeme, Band 14, 2000, S. 99 –131, online : http ://www. st-georgen.uni-frankfurt.de/rp-pps/kiesslingpublikationen.html (06.01.2009). 267 Erich Hörl, Die heiligen Kanäle, S. 251. 268 Die spätere Kybernetik hat versucht, auf diesen totalitären Grundzug mit einer Relativierung der Ordnungsebenen zu reagieren. Da der Beobachter selbst immer mitmodelliert wird in seiner subjektiven Verbandelung mit dem modellierten Sachverhalt, ergeben sich später die sogenannte Kybernetik zweiter Ordnung und jüngst sogar die der dritten Ordnung. Das Kernproblem bleibt jedoch bestehen. Vgl. dazu Claus Pias, » Die kybernethische Illusion «; siehe auch die gesammelten Protokolle bei Claus Pias (Hrsg.), Cybernetics-Kybernetik, Band 1 und 2, The Macy-Conferences 1946–1953, Zürich und Berlin 2003. Für eine zeitgeschichtliche Einordnung der Kybernetik siehe beispielsweise N. Katherine Hayles, How We Became Posthuman, S. 50ff.

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würde sich das Reale nun weitgehend von der Subjektivität der Interpretation von Zeichen emanzipieren, wie auch von dem mit ihr einhergehenden Interpretationsbedarf. Ferner, so die Vorstellung, würden Symbole nun in eine auf formal hergeleiteter Information gründende Objektivität führen269 – eine Entwicklung, die Heidegger in seiner Rede über Technik als Gestell270 in aller Deutlichkeit schon früh vorweggenommen hat. Die postmodernen Topoi vom Verschwinden des Raumes271, der » Agonie des Realen « gegenüber einer Vorherrschaft der Simulakren und Simulationen oder dem Ende der Geschichte272 wie auch Deleuze’ Charakterisierung unserer Zeit als die einer Kontrollgesellschaft273 sind vielleicht am besten vor dem Hintergrund dieses Anspruchs des kybernetischen Denkens zu lesen. Allerdings verbleiben insbesondere die selbstgewissesten dieser Topoi mit ihrer Kritik selbst noch in einem vorsymbolischen Wissensbegriff befangen und verpflichten sich einer Rhetorik des Verlustes, in der sie eben jene zeichentheoretischen Annahmen noch beibehalten, deren Vorzeichen sich soeben verkehrt haben. In ihnen zeigt sich noch in aller Deutlichkeit die Diskurslinie von Hegels » Bollwerk gegen die ­Äußerlichkeit aller Symbole «, gegen » begriffsloses Kalkulieren «.274 Darin kann es kein Denken ohne Anschauung geben, Zeichen und Symbole verkörpern den wissensgenerierenden Widerspruch zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit. Beide waren für Hegel » Medien des Geistes « zum Denken in Begriffen, so Hörl.275 Die Rede von einem rein symbolischen Denken wäre für Hegel völlig sinnlos gewesen; das, was damit bezeichnet wird, fiel für ihn unter das Rechnen. Und » rechnendes Denken « hieße schlichtweg, » den Geist nach Form und Inhalt auszuhöhlen und abzustumpfen «, » Begriffsloses festzuhalten und begriffslos es zu verbinden «, beherrscht vom bloßen » äußerlichen, gedankenlosen Unterschied «.276 Ein Wissensbegriff der ohne die Problematisierung des Status algebraischer Symbole auskommt, gründete auf der fundamentalen Opposition zwischen Denken und Rechnen. Inbegriff des Denkens war das Lesen und Schreiben, Hegel bezeichnete das Buch denn auch als » Schädelstätte des absoluten Geistes «277, und diese stand der Mechanik von Automaten, etwa der Rechenmaschine, entgegen. 269 Paradigmatisch kommt diese Vorstellung zum Ausdruck in Rudolf Carnap, Der logische Aufbau der Welt, Hamburg 1999 [1928]. 270 Martin Heidegger, Technik und die Kehre, Stuttgart 2002[1962]. 271 Der wohl prominenteste Vertreter dieser These ist Virilio mit seinen Szenarien einer beschleunigten Gesellschaft und seiner Vorstellung von einer Dromologie. Vgl. Paul Virilio, Dromologie. Der negative Horizont. Bewegung, Geschwindigkeit, Beschleunigung, München und Wien 1991 [1984]. 272 Vgl. etwa die Schriften von Jean Baudrillard, Die Agonie des Realen, Berlin 1978; ­Simulacra and Simulation, Michigan 1994; Die Illusion des Endes oder Der Streik der Ereignisse, Berlin 1994 [1992]. 273 Gilles Deleuze, » Post-scriptum sur les societiés de contrôle «. 274 Erich Hörl, Die heiligen Kanäle, S. 57ff. 275 Ebenda. 276 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik I, hier zitiert nach Erich Hörl, Die heiligen Kanäle, S. 61. 277 Ebenda.

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Heute aber lässt das Problematische der Anschauung unsere alltägliche Beziehung zum Verhältnis von Interpretation und Formalisierung auf dem Boden des symbolischen Denkens ins Wanken geraten. Auch jenseits der hermeneutischen Praxis steht dem früher als ursprünglich gedachten interpretierenden Decodieren zunehmend das gestaltende Formalisieren – das Encodieren – zur Seite. Darin gründet die » systemtheoretische « bzw. die » konstruktivistische « Wende,278 welche Information erst als Wirklichkeit erscheinen lässt, wie etwa Tholen oder Zimmerli dies ausführen.279 Insbesondere Tholen hat immer wieder auf die epistemologische Bedeutung der Topologie als formale Raumbeschreibung, die ohne das Maß einer absoluten Metrik auszukommen vermag, für die Medienwissenschaft hingewiesen.280 Immanuel Kants Lehre vom Raum als Anschauungsform kann noch immer als Stärkung der Verfechter eines transzendenten Status des euklidschen Raums gelesen werden. Kant hob die Frage nach der Absolutheit des euklidschen Raums aus ihrem S ­ tatus eines Erkennens in der Welt – was sie der Willkür empirischen Irrtums aussetzte – heraus und, wie Bornschlegel es formuliert, mit ihr » die Form, unter der diese Welt angeschaut werden kann « und erklärte sie zu » des Menschen ureigenster Sache «281. Eine Geometrie jenseits derjenigen Euklids entziehe sich nach Kant nicht allein der Anschauung, sondern auch jeder Möglichkeit, eine solche Geometrie zu denken.282 278 Diese Begriffe stehen hier in Anführungszeichen, weil damit keine spezifische Ausprä­ uhmanns gung einer dieser Denkrichtungen gemeint ist wie etwa die Systemtheorie L oder der Erlanger Konstruktivismus. 279 Vgl. dazu unsere Ausführungen in der vorliegenden Arbeit, S. 53ff. 280 Vgl. dazu Georg Christoph Tholen, » Der Ort des Raumes. Zur Heterotopie der Einbildungskraft im ›digitalen‹ Zeitalter «, in : Stefan Günzel (Hrsg.), Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld 2007, S. 99–114. 281 Peter Bornschlegell, » Als der Raum sich krümmte. Die Entstehung topologischer Vorstellung in der Geometrie «, in : Stefan Günzel (Hrsg.), Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld 2007, S. 153–170, hier S. 155. 282 Peter Bornschlegell, » Als der Raum sich krümmte «, S. 155. Der Auflösungsprozess einer euklidisch verfassten Welt nimmt seinen Fortgang aus der Diskussion des Parallelenproblems, das sich aus Euklids fünftem Postulat der Elemente ergibt : Dieses nämlich lässt sich nicht aus den übrigen Axiomen seines Systems ableiten und beweisen. Das offensichtliche Funktionieren des Gesamtsystems jedoch » legt einen Ausschluss der Falschheit des Parallelenaxioms nahe « (ebenda. S. 156). Jede Untersuchung ist also aufgrund der Suggestivkraft empirischer Evidenz immer schon voreingenommen. Gleichzeitig brachte jedoch » sein Widerstreben gegenüber jedem Beweisversuch seiner Richtigkeit « das Parallelenaxiom in eine problematische Stellung (ebenda, S. 156). Neben János Bolyai (1802–1860) gilt vor allem auch Nicolaj ­Iwanowitsch Lobatschewskij (1792–1856) als Begründer der ersten nicht euklidschen Geometrien. Für einen Überblick siehe neben dem Artikel von Bornschlegell auch den von Marie-Luise Heuser » Die Anfänge der Topologie in Mathematik und Naturphilosophie « im selben Band sowie von ihr » Geschichtliche Betrachtungen zum Begriff ›Topologie‹ «, in : dies., Topologie. Ein Ansatz zur Entwicklung alternativer Strukturen, Stuttgart 1994, S. 1–13.

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Bereits Gottfried Wilhelm Leibniz hatte versucht, inspiriert von den Fortschritten in der Algebra, eine Art Abstraktion für die Geometrie zu entwickeln.283 Sein Vorhaben lief, entgegen der Behauptung Kants, darauf hinaus, nicht nur von einer speziellen Geometrie zu abstrahieren, sondern » das Geometrische « zu kalkülisieren, um die Umformungen von Geometrien in Symbole zu packen. Er glaube, schrieb er an seinen Freund Christiaan Huygens, dass » eine neue Analysis nötig sei, die geometrisch bzw. linear sei, und die Lage so unmittelbar ausdrücken solle, wie die Algebra die Größen ausdrückt «.284 Und weiter : Er habe » einen Weg gefunden, um Figuren und sogar Maschinen und Bewegungen durch Charaktere zu bestimmen, so wie die Algebra Zahlen und Größen darstelle «.285 Leibniz verwendet für die von ihm avisierte Mathematik der reinen Lagebeziehungen des Raums, die inzwischen unter der Bezeichnung Topologie bekannt sind, noch andere wie etwa Geometria Sita oder Calculus Situs. Diese Bezeichnungen machen deutlich, dass es ihm eigentlich um eine Infinitesimalrechnung des Ortes ging. Er war dabei durchaus nicht alleine, beinahe zeitgleich hat zum Beispiel Johann Benedict Listing an einer solchen Lehre der qualitativen Gesetze von Ortsverhältnissen gearbeitet. Neben diesen beiden gelten ferner Felix Hausdorff und Henri Poincaré als wichtige Mitbegründer der Topologie. Sie hatten am Übergang zum 20. Jahrhundert entsprechende Ergebnisse publiziert. Das 19. Jahrhundert war insgesamt reich an weiteren bedeutenden mathematischen Entwicklungen,286 sodass sich in der Summe nichts weniger als eine neue Ära eröffnete, weil die Entwicklungen eine durch und durch veränderte Einstellung gegenüber dem Symbolischen erlaubten.287 283 Die Algebra ist ein Bereich der Mathematik, in dem es abstrakt um die Beziehungen der Symbole untereinander geht. Wie d’Alembert (1717–1783) beschreibt : Während die Arithmetik » simply the art of finding a short way of expressing a unique relationship [a number] « ist, was sich aus einem Vergleich verschiedener konkreter Fälle ergeben kann, verhält es sich bei der Algebra völlig anders. Die Algebra sei eine Abs­ traktion der Arithmetik, » expressing its relationships in a universal general form «. D’Alembert ist hier zitiert nach Amir R. Alexander, » Through the Mathematical Looking Glass «, in : Siegfried Zielinski und David Link (Hrsg.), Variantology. On Deep Time. Relations of Arts, Sciences and Technologies, Köln 2006, S. 117–144, hier S. 129. Für die Quellen von Jean-Baptiste le Rond d’Alembert in ursprünglichem Kontext siehe Richard N. Schwab (Hrsg.), Preliminary Discourse to the Encyclopedia of Diderot, Chicago 1995 [1751], hier S. 20ff. 284 Der Briefwechsel zwischen Leibniz und Huygens » Leibniz a Huygens. A Hanover ce 8 de Sept. 1679 «, wird zitiert nach Marie-Luise Heuser, » Die Anfänge der Topologie in Mathematik und Naturphilosophie «, S. 185ff. 285 Ebenda. 286 Vgl. dazu insbesondere Ernst Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik, Darmstadt 1976 [1910], wie auch Alexander Gosztonyi, Der Raum. Geschichte seiner Probleme in Philosophie und Wissenschaft, Band 1 und 2, Freiburg i. Br. und München 1976. 287 Vgl. dazu die Arbeiten von Krämer zum Konzept und zur Problematik einer » formalen Schrift «. Sybille Krämer, Symbolische Maschinen. Die Idee der Formalisierung in geschichtlichem Abriss, Darmstadt 1988; dies., Berechenbare Vernunft. Kalkül und Rationalismus im 17. Jahrhundert, Berlin 1991, sowie Ulrike Ramming, Mit den Worten rechnen. Ansätze zu einem philosophischen Medienbegriff, Bielefeld 2006.

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Das Umstürzen der basalen Unterscheidung von Denken und Rechnen durchschlug dem Befund von Hörl zufolge die » Begriffshegungen « einer ganzen Epoche.288. Dies hängt vielleicht vor allem damit zusammen, dass die von Hahn erstmals so benannte » Krise der Anschauung « genau durch die technologischen Fortschritte, aber auch den Erfolg des technizistischen Paradigmas selbst verschleiert wurde. So formuliert Klaus Th. Volkert etwa : » Versuchten Frege und andere Logizisten noch, die Frage nach dem ontologischen Status der mathematischen Gegenstände zu beantworten, so führte die weitere Entwicklung dazu, dieses Problem gänzlich auszuklammern – ja, man könnte sagen, es zu tabuisieren. «289 Eben dieser Erfolg hat das kalkulierende Modellieren und Simulieren inzwischen zu einer eigentlichen Kulturtechnik avancieren lassen, deren Grundlagen noch als weitgehend ungeklärt gelten. Die Stanford Encyclopedia of Philosophy schließt den Eintrag zum Begriff » Models in Science « mit der Bemerkung : » Models play an important role in science. But despite the fact that they have generated considerable interest among p­ hilosophers, there remain significant lacunas in our understanding of what models are and of how they work. «290 Die eigentliche Krise des Anschaulichen also, dessen Erörterung durch das Phänomen der Virtualisierung aktuell wiederaufflackert, wurde im Vorfeld und während des 19. Jahrhunderts durch gewaltige Fortschritte in der Algebra und der darauf beruhenden Technisierung in nahezu allen Lebensbereichen ausgelöst. Etwa Gaston Bachelard zieht dementsprechend in den 1930er-Jahren die Konsequenzen dieser Erschütterung der Fundamente » euklidscher Mentalität «, deren Grundgedanken doch » während fast zweitausend Jahren weitgehend dieselben geblieben waren « und » die Grundlagen der menschlichen Vernunft darstellten «.291 Er steht mit der Radikalität seiner Diagnose nicht alleine da. Auch Edmund Husserl spricht von » der Krise der europäischen Wissenschaften «, die Nietzsche mit seiner Rede von einer » Krise der abendländischen Philosophie « vorweggenommen habe. 292 Auf Oswald Spengler schließlich geht die Dramatisierung dieser Krise als » Untergang des Abendlandes « zurück, der sich in einer veränderten Rolle von Rationalität ankündige.293 Auch die neue Aufmerksamkeit der Kultur- und Geisteswissenschaften 288 Erich Hörl, Die heiligen Kanäle, S. 61. 289 Klaus Th. Volkert, Die Krise der Anschauung. Studien zur Wissenschafts-, Sozial- und Bildungsgeschichte der Mathematik, Göttingen 1986, S. 266. 290 Roman Frigg und Stephan Hartmann, » Models in Science «, in : Edward N. Zalta (Hrsg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy, 2008, online : http ://plato.stanford. edu/archives/spr2008/entries/models-science/ (06.01.2009). 291 Gaston Bachelard, Der neue wissenschaftliche Geist, hier insbesondere S. 24–44. 292 Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Hamburg 1996 [1936]. 293 Vgl. dazu überblickend Herbert Schnädelbach, Rationalität, Frankfurt am Main 1984.

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für Raumfragen wird gegenwärtig nicht nur affirmativ als » spatial turn «294 aufgenommen. Bisweilen wird diese neue Aufmerksamkeit jenseits seiner rein formalen Eigenschaften nicht nur als eine Wende zum Raum interpretiert, sondern auch als eine zurück und in Richtung eines vormodernen substanzialistischen Denkens. Denn nach allgemeiner Überlieferung war insbesondere die Loslösung der Einheit von Substanz- und Raumbegriffen sowohl Kennzeichen wie Ausgangspunkt der modernen Wissenschaft. Aktuelle Stimmen apostrophieren die neue Aufmerksamkeit mitsamt der damit (erneut) aufscheinenden Problematik der Referenz als » Raumfalle « der kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorie.295

294 Laut Günzel wurde im Nachgang zu Soja vor allem in den Sozialwissenschaften der spatial turn ausgerufen. Allerdings wurde dieser Ausdruck dort von Soja selbst nur zur historischen Beschreibung eines Moments der zunehmenden Aufmerksamkeit auf Raumfragen der späten 1960er-Jahre verwendet. Vgl. Edward Soja, Postmodern Geographies. The Reassertion of Space in Critical Social Theory, London und New York 1989, hier S. 16 und 39ff.; vgl. auch Jörg Dünne und Stephan Günzel (Hrsg.), Raumtheorie, Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2006, S. 12ff. Im Gespräch ist auch der Ausdruck topographical turn, der auf Weigel zurückgeht. Sigrid Weigel, » Zum ›topographical turn‹ – Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften «, in : KulturPoetik, Band Nr. 2, 2002, S. 151–165. 295 Vgl. Roland Lippuner und Julia Lossau, » In der Raumfalle. Eine Kritik des spatial turn in den Sozialwissenschaften «, in : Georg Mein und Markus Rieger-Ladich (Hrsg.), ­Soziale Räume und kulturelle Praktiken, Bielefeld 2004, S. 47–64.

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Zusammenfassung Wir haben in diesem Teil versucht, drei größere, vielleicht sogar zentrale Argumentationslinien für eine Neurahmung des Problemkomplexes » Virtualität und Medialität « herauszuschälen. Die erste Linie nimmt zum Ausgangspunkt, dass die Minorisierung des Technischen, wie sie für nahezu die gesamte abendländische Philosophietradition konstitutiv gewesen war, gegenwärtig im Begriff ist, eine Neubestimmung zu erfahren. Eine solche, so unser Argument, müsste nach einer Genealogie von Medialität selbst fragen. Dafür haben wir vorgeschlagen, der gegenwärtig weithin akzeptierten Auffassung zu folgen, Medien den Status eines archimedischen Angelpunktes zuzuschreiben. Diese Bestimmung ermöglicht die Konstruktion einer spezifischen genealogischen Serie, die hier nur in groben Zügen skizziert wurde. Medialität steht demnach in einer Linie mit Vernunft, Rationalität, Bewusstsein, woraus sich wiederum spezifische Problemrahmungen im Hinblick auf das Verhältnis von Medialität und Virtualität ergeben. Die zweite Argumentationslinie zur näheren Fassung des Problems um Virtualität und Medialität fokussiert sich auf das Konzept der Information bzw. auf den Prozess der Informatisierung. Dieses Konzept durchkreuzt den neuzeitlichen Dualismus von res extensa und res cogitans. Feststeht dabei vor allem eines, nämlich dass diese Dimension des Informatorischen in kategorischer Hinsicht noch nicht zufriedenstellend bestimmt worden ist. Die Dimension der Verarbeitung kultureller Signifikationsartefakte in der sowohl zersplitternden wie abstrahierenden Form der Information stellt sich als kulturgeschichtliche Wendezone dar, die das Sprechen von einer epochalen Zäsur sowohl sinnvoll macht, wie auch es zu rechtfertigen vermag. I  Virtualität und medialität

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Information scheint eine Art dritter Wirklichkeit zu bezeichnen, welche die Trennungslinie zwischen Subjektivität und Objektivität durchkreuzt. Die dritte Argumentationslinie greift dieses Moment der Verunsicherung hinsichtlich der Grundbegriffe neuzeitlicher Wissenschaften und abendländischen Denkens unter dem Aspekt von Hahns Bestimmung als » Krise der Anschauung « auf. Im Zentrum stand zum einen das Problematische am Symbolischen als Element für Begründungen von Erkenntnis und ferner die paradoxale Macht dessen, was Blumenberg » theoretische Neugierde « nennt. Diese hat jener als gleichermaßen konstitutive wie bedrohende Komponente für ein neuzeitliches Wissenschaftsverständnis gesehen. Wir haben Blumenbergs Begriff in Bezug gesetzt zum Begriff der Virtualisierung, verstanden in der Folge von Deleuze als ein kreativer Umgang mit den Referenzrahmen, hinsichtlich derer ein Etwas seine Bedeutung erhält. Die Praxis des Virtualisierens, ausgehend von Blumenbergs Moment theoretischer Neugierde, zeigt sich gleichermaßen als Motor wie als Konsequenz der verschiedenen Umwälzungen im Raum- und Zeitdenken, wie sie im 19. Jahrhundert aufgebrochen waren. Die Konsequenz dieser Einsicht – dass Raumbegriffe und wie wir uns im Denken orientieren eng miteinander verkoppelt sind – bedeutet jedoch nicht unbedingt den Rückfall in eine Substanzontologie, wie einige Stimmen dies befürchten. Vielmehr wurde eine bestimmte Auffassung einer Relationenontologie deutlich, welche die scholastischen Weltverhältnisse mit ihren Wesens- oder Substanzontologien damals abgelöst hatte und die offensichtlich bis heute weitgehend unhinterfragt in unserem Selbstverständnis wirksam zu sein scheint. Anfänge einer adäquaten Reflexion darüber zeigen sich in gegenwärtig aufkommenden 94

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Diskursen um die Möglichkeit einer Theorie der Netzwerke bzw. in der daraus virulent werdenden Notwendigkeit einer neuen Auseinandersetzung mit Fragen der klassischen Metaphysik. Unter dem Titel » Formen und Strukturen von Integrabilität « wollen wir im folgenden Teil einige Topoi dieser aktuellen Verquickungen unterschiedlicher Weisen, Weltverhältnisse kohärent zu integrieren, herausstellen und konturieren. 296

296 Vgl. dazu Manfred Fassler, Netzwerke, Stuttgart 2001; Sebastian Gießmann, Netze und Netzwerke. Archäologie einer Kulturtechnik 1740 –1840, Bielefeld 2006; ­Hartmut Böhme, » Einführung. Netzwerke. Zur Theorie und Geschichte einer Konstruktion «, in : Jürgen Barkhoff, Hartmut Böhme und Jeanne Riou (Hrsg.), Netzwerke. Eine Kulturtechnik der Moderne, Köln 2004, S. 17–37; Eugene Thacker und Alexander R. ­Galloway, The Exploit. A Theory of Networks, Minneapolis 2007.

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II Formen und Strukturen von Integrabilität II.I. VIRTUALITÄT UND KONSTRUKTIONSFOrM 98  —  II.II. ZUM TOPOS DER BEGRENZUNG 111 · EIN PLANET NAMENS » TERRA « ODER DER MYTHOS DES FIRMAMENTS IM MOMENT DER VERMEERUNG 113 · » LEGERE IN LIBRO NATURAE « ODER VON DER SCHEIDUNG DER WELT IN EINE WELT DER WERTE UND EINE WELT DER FAKTEN 115 · » RELATIONENONTOLOGIE « ODER DIE NEUZEITLICHE INTEGRATION VON BEWEGUNG IN DIE ART UND WEISE, VERHÄLTNISSE ZU BESTIMMEN 123 · DIE RELATIVIERUNG VON STETIGKEIT ALS VORAUSSETZUNG ODER VOM DETERRITORIALISIERTEN DENKEN BIS ZUR REKOMBINAnTEN SYNTHESE 132 — II.III. FUNKTION, SINN UND FORM  136 · » FUNKTION « – GESCHICHTE UND VERWENDUNG ALS THEORIE UND TECHNIK 136 · IMAGINATION UND METHODE ODER DAS ENDE DER REPRÄSENTATION DURCH DIE VORSTELLUNG 154 · Die Frage nach dem Sinn oder das Problem des Anfangs 164 · DIE IDEE ALS » DIFFERENTIAL « DES DENKENs ODER ZUM VERHÄLTNIS VON STRUKTUR UND GENESE IM SPRACHSPIEL DES VIRTUELLEN 180 · DAS » INFORMELLE « ODER ZUM KONZEPT DER ÄHNLICHKEIT ALS MEDIUM 192 — Zusammenfassung 203

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» Alle Welt ist medial geworden : vor Angst, vor Schreck, vor Qual, oder weil es keine Gesetze mehr gibt – wer weiß es ? «297 » Was will man sagen, wenn man sagt, dass es Zeichen gibt und dass es genügt, dass es Zeichen gibt, damit es eine Aussage gibt ? Welchen besonderen Status will man diesem ›Es gibt‹ einräumen ? «298 II.I.

virtualität und konstruktionsform

Vor dem Hintergrund, alle sei Welt medial geworden, wie Hugo Ball in den 1920er-Jahren so prägnant artikuliert hat, gilt unser Inte­ resse denjenigen Denkformen, wie sie für die Entwicklung begrenzender Ordnungsstrukturen unerlässlich erscheinen. In Anlehnung an Hans Leisegang299 wie auch Ernst Cassirers Konzept der symbolischen Form300, sollen diese Denkformen hier im Zuge einer Abstraktion, die derjenigen der Anschauungsform komplementär ist, als Konstruktionsformen begriffen werden. Wir wollen versuchen zu plausibilisieren, inwiefern sich Konstruktionsformen kurzgefasst als das Apriori funktionaler Anwendungen abstrahierter Formalisierungen im Raum einer deterritorialisierten Analytik auffassen lassen. Lev Manovich hat in seinem wegweisenden Buch The Language of New Media (2001) die Datenbank als symbolische Form einer Kultur der neuen Medien postuliert. 301 Diese würde ihm zufolge die symbolische Form der Zentralperspektive ablösen, wie sie Erwin Panofsky302 für die Betrachtung der Kunstwerke der vergangenen 500 Jahre vorgeschlagen hatte. Manovichs Hypothese selbst kann hier nicht hinreichend besprochen werden. Das Reden von Denkformen oder symbolischen Formen als eine Art ästhetischer oder stilistischer Organisation von Wahrnehmung und Erkenntnis überhaupt aber gilt uns als Nachweis dafür, dass die von Kant als in absoluter Weise transzendental gedachte Organisation vernünftigen Denkens über die von ihm sogenannten A ­ nschauungsformen heute als kontingent erachtet 297 Hugo Ball, Die Flucht aus der Zeit, München 1927. 298 Michel Foucault, Archäologie des Wissens, S. 123. 299 Der Begriff der Denkform bietet sich hier an, weil er einem nicht neuzeitlichen Modell von Wissenschaft entspricht und trotzdem ein methodisches, prozedurales Moment ebenso wie ein gegenstandsbezogenes mit einschließt. Vgl. dazu Hans Leisegang, Denkformen, Berlin 1928. 300 Ernst Cassirer, » Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften «, in : Vorträge der Bibliothek Warburg 1921/22, Leipzig 1923, S. 11–39. ­Cassirer hat seine Darlegungen zusammengefasst : » Der Gang unserer Betrachtungen hat zu zeigen versucht, wie hinter jedem bestimmten Kreis von Symbolen und Zeichen […] immer zugleich bestimmte Energien des Bildens stehen. «, S. 15. 301 Lev Manovich, The Language of New Media, Cambride Massachusetts, 2001, S. 194. 302 Erwin Panofsky, » Die Perspektive als ›symbolische Form‹ «, in : ders., Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, Berlin 1974 [1927], S. 104.

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werden, auch wenn sie weiterhin als Apriori einer spezifizierten Situation oder Konfiguration fungieren mögen. Ob Zentralperspektive oder Datenbank, beide Vorschläge formulieren zunächst einmal lediglich, dass besagte Organisation grundsätzlich vor dem Hintergrund medialer Dispositive zu untersuchen sei. Wie aber könnte man über Dinge oder Phänomene oder Daten sinnvoll sprechen, die in ihrem Zusammenhang kontingent sind ? Wir meinen damit erst einmal in abstrakter Weise vergängliche Erscheinungen, die zusammenhängen, ohne dass strukturelle Regelmäßigkeiten als gegeben vorausgesetzt werden könnten. Gemeint sind also Erscheinungen, von denen wir nicht sicher sein können, ob sie sich für den anderen in derselben Weise darstellen wie für einen selbst, und ob diese Darstellung eine legitime, eine adäquate Darstellung ist. Was sich wie ein Zitat aus den Alltagsfragen eines Datenmodellierers aus der Statistikabteilung anhört, das waren auch schon die Fragen, mit denen sich die Antike, insbesondere Platon, in Auseinandersetzung mit den Sophisten beschäftigt hat. Dabei ist es äußerst erstaunlich, dass die Blütezeit der athenischen Kultur um 500 v. Chr. nur rund 40 Jahre andauerte oder, wenn es hoch kommt, 80 oder 90 Jahre. Im damaligen Athen gab es erstmals keinen König mehr, und es entwickelte sich etwas völlig Neues, etwas, das den Kolonien fehlte. Die Stadt war als Handelszentrum über Seewege mit der ganzen Welt verbunden. Angesichts der Macht dieser Agora bildete sich eine Art geistige Aristokratie aus, in die man nicht aufgrund seiner Herkunft aufgenommen wurde, sondern vor allem durch die eigene Leistung. In diesen Verhältnissen entstand laut Ernst Bloch erstmals die Vorstellung von » Individuen « : Erfahrung, Selbstständigkeit, Wagemutigkeit und Unternehmerslust wurden als persönlichkeitsfördernde Charakterzüge wertgeschätzt – die gesellschaftlichen Strukturen waren hier lebendig und beweglich. Man konnte werden, » was man will, wenn man nicht gerade Sklave ist, und zwar durch Geschicklichkeit, durch Wendigkeit, durch Rhetorik, durch die Kunst, sich in Szene zu setzen «.303 Eine geschickte Rhetorik und geistige Geschmeidigkeit konnten jedem Einfluss verschaffen, auch politischen. Nicht ganz unähnlich zur heutigen Situation hinsichtlich der Diskurse um virtuelle Realität, Vervielfachung der Personae via Avatare, Macht von Inszenierung und Marketing war auch die kulturelle Befindlichkeit zur Zeit Platons eine des Umbruchs. Bloch beschreibt diese als Zustand der athenischen Aufklärung, welche die individuelle Subjektivität entdeckt : » Mit dieser Wendung zur Eitelkeit, zur Frivolität, zur Rhetorik, aber auch zum menschlichen Selbst, mit dem ungeheuren Quirlen und Herumwirbeln in dem Gewohnten, mit Zweifeln an allem, mit 303 Ernst Bloch, Antike Philosophie, Band 1 : Leipziger Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie, Frankfurt am Main 1985, S. 99ff.

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Frechheit großen, aber auch kleineren Stils, wird in der griechischen Aufklärung die Sophistik geboren. «304 Von Aufklärung zu sprechen meine denn auch, so Karen Gloy, damals wie heute das Loslösen von althergebrachten Lebens- und Denkgewohnheiten, die Befreiung von Verhaltensnormen, die als Zwang empfunden werden, sowie der Versuch, sich auf eigene Füße zu stellen, nach neuen Wegen Ausschau zu halten. 305 Der Sinn- und Wahrheitsgehalt von tradierten Vorstellungen wurde im antiken Athen immer weniger verstanden; der Mythos degradierte zur Erzählung und nahm Formen von Überlieferungen an, denen keine selbstverständliche Verbindlichkeit mehr zugesprochen wurde.306 Gloy zufolge lasse sich dieser Umbruch als Spätphase einer Entwicklung begreifen, die eng mit der Verbreitung der seinerzeit neuen Kulturtechniken des Schreibens und der systematischen Darstellung formaler Zusammenhänge Euklids verbunden waren. Zur Zeit Platons sei dem bis dahin fraglos allgemein akzeptierten magisch-mythischen Weltbild auch aufgrund der neuen Überlieferungsmöglichkeiten das Vertrauen entzogen worden. 307 Diese Situation stellte auch die sogenannte philosophisch-wissenschaftliche Ursituation dar, in der Theorie entstehen konnte. Thales von Milet gilt als erster Philosoph überhaupt. Ihm soll die Voraussage der Sonnenfinsternis von 585 v. Chr. gelungen sein, selbst wenn man heute davon, wie das möglich gewesen sein soll, nichts Genaues weiß.308 Entscheidender ist aber, dass er anscheinend als Erster über die Entstehung der Dinge nachgedacht und dabei keine mythischen oder halb mythischen Erzählungen – etwa eines Chronos, eines Welteies oder eines Zeus – mehr als befriedigende Erklärungsszenerie anerkannt hat. Thales scheint zu bezeugen, dass die Götterfülle damals als ein Zuviel empfunden wurde, mit dem sich nichts mehr verstehen ließ. Dementsprechend schreibt Blumenberg in seinem Werk Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte der Theorie : » Sätze von einem anderen Typus als solche mit Götternamen mußten her, und ein Muster dafür war die Generalthese vom Wasser. «309 Thales war Blumenberg zufolge der Erste, der auf der Suche nach dem Wesen der Dinge nach einer neuen Art von » abstrakter Einstellung « suchte und nach einer durch viele ­Einzelverrichtungen hindurchgehenden Absicht, die selbst 304 Ebenda, S. 100. 305 Karen Gloy, Die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens. Das Verständnis der Natur, München 1995, S. 73ff. 306 » Die im Mythos dargestellte Welt wurde nur noch als Scheinwelt empfunden, die allenfalls für dichterische Zwecke genutzt werden konnte. Mit der kritischen Einstellung verbanden sich zunehmend pejorative Merkmale, die sich bis heute erhalten haben, wie Lug und Trug, Täuschung, Phantasterei, Groteske, logische Widersprüchlichkeit, Unwirklichkeit und Amoralität. « Gloy, ebenda, S. 74. 307 Ebenda, S. 73ff. 308 Wilhelm Capelle, Die Vorsokratiker, Stuttgart 1968, S. 69. 309 Hans Blumenberg, Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte der Theorie, ­Frankfurt am Main 1987, S. 3 (Vorwort).

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buchstäblich produktiv war : » [A]us dieser Einstellung [entsteht] ein Strom von Behauptungen und Lehren und Sammlungen von Lehren und Schulen sowie zu all diesem jeweils Rivalisierendes – eine ständig Produkte auswerfende Bewegung der Geschichte. «310 Damit einher ging eine Wende, die in zunehmender Weise den Menschen zum Maß der Dinge werden ließ, 311 mitsamt den damit einhergehenden Konfusionen, wie sie sich in den besagten Umbrüchen äußerten. Thales vermochte mit seiner Vorhersage der Sonnenfinsternis – ermöglicht durch den Weg (die Methode, von methodos, griechisch für Weg zu einem bestimmten Ziel) – eine abstrakte, im Sinne von kontrolliert mittelbare Einstellung einzunehmen und den Menschen damit auf neuartige Weise die Furcht vor einem Naturereignis zu nehmen. Auf diesen Erfolg geht wohl die zwiespältige Geschichte der Thrakerin zurück, die über Thales lacht, als dieser, die Augen nach oben gerichtet, das Nächstliegende vor seinen Füßen nicht sieht und ausgerechnet in einen Brunnen fällt. Diese Ambivalenz hinsichtlich einer theoretischen Haltung zieht sich als Motiv durch die gesamte Geschichte der Philosophie, und Platon war vielleicht der Erste, der dem grenzenlosen Reich der Abstraktion einen Rahmen oder eine Matrix zur Eingrenzung einer sinnvollen Theorie entwickelte. Damit verschaffte er sich Orientierung im Durcheinander der abstrakten Erscheinungen, die allesamt als Produkte der theoretischen Geste gelten können und aufgrund derer die Sophisten so fleißig und schnell ihre sprachkünstlerischen Geschäfte lernen konnten. Platons Antwort auf diese Fragen bestand darin, die Erscheinungen in ein Verhältnis zu anderen Wesenheiten zu setzen, deren Sein er als universell und ewig voraussetzte. Das Problem der Begrenzung des Abstraktionsraums erscheint mit ihm auf spezifische Weise als Topos der Philosophie. Dessen Ausgestaltung freilich stellte sich über die Geschichte hinweg immer wieder unterschiedlich dar, zumal das damit verbundene Problem der Einbildungskraft bzw. der Fantasie seit jeher als zu überbordendes, streng zu regulierendes Vermögen des Geistes gegolten hat und zugleich auch als unverzichtbares Konstituens eines jeden Erkenntnisprozesses. Das Problem bestand schlicht darin : Wie kann man wissen, dass man bei einer abstrakten Einsicht nicht irregeleitet ist ? Die Antworten darauf konzentrieren sich seitdem sicher in den beiden Haltungen, die als Empirismus bzw. als Rationalismus eigene Tradi­tionen entwickelt haben. Es gibt jedoch eine Denkrichtung, die in die Zeit vor Platon und seinen Vorschlag von einer begrenzenden Ordnung der abstrakten Ausschweifungen zurückgeht, und zwar direkt zu den ersten Materialisten. Hier gründet ein anderer Vorschlag, wie man mit dem Überfluss 310 Ebenda, S. 2. 311 Zentral in dieser Entwicklung ist der sogenannte Homo-mensura-Satz, der Protagoras, einem der Athener Sophisten, zugeschrieben wird. Vgl. dazu Bloch, Antike Philosophie 1, S. 106ff.

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an » Theorieangeboten « umgehen kann, und dessen Hauptgedanke vielleicht als eine Parallelisierung zwischen Ethik und Sinnlichkeit begriffen werden könnte. Wie Bloch schreibt : » Der Verstand stellt eine erkenntniskritische Untersuchung an. Er reinigt die Eindrücke, indem er fragt : Was ist unter diesen Eindrücken glaubhaft, was ist Täuschung, […] was ist das in Wahrheit Seiende ? Ebenso ist es mit unseren Handlungen. Dieses feurige, flackernde, heiße Wesen in uns zeigt sich als kochend von Affekten, Trieben und Impulsen, in denen ebenfalls etwas verfehlt wird, was als ξυ ξτεη συ des Menschenhaften angeht. Diese Trübungen durch Affekte müssen ebenso entfernt werden wie der Verstandesspiegel gereinigt werden muss. Wie die sinnliche, so muß auch die ethische Rezeptivität, die ethische Attitüde zur Welt gereinigt werden […]. «312 Demokrit hat eine Sammlung ethischer Probleme formuliert, die ihn zum Gründer der Ethik als Wissenschaft gemacht hat.313 Der Akzent liegt bei ihm nicht auf der kontemplativen Versenkung in oder dem Abstrahieren aus der Erfahrungswelt und auch nicht beim Wiedererkennen der Ordnungsstrukturen in der Empirie, sondern auf dem komplementären Moment derselben Bewegung, bei der Rückkehr aus der Höhe der Abstraktion, der Tiefe der Versenkung, beim Landen auf der Oberfläche des Erfahrbaren selbst. Kurzum, diese Denkrichtung, mit Demokrit als ihrem Hauptvertreter postuliert, dass es mit dem methodischen Auffinden von abstrakten Einstellungen noch nicht getan sei. Vielmehr gibt es problematische Felder überall dort, wo man die gewonnene Einsicht oder Aussicht aus den beiden zuvor genannten Verfahren (Empirismus und Rationalismus) wieder zurück in die Oberfläche des gegenwärtigen Geschehens implementieren und integrieren will. Als materialistische Ethik gilt die Suche interessanterweise einem Mechanismus der Ethik : » Wenn er [Demokrit] überall den Zweck hinausgeworfen hat, hier, in der Ethik, kann er nicht umhin, ihn wieder hereinzulassen, denn da sind Handlungen, da sind Vorschriften, es gibt ein Sollen, also braucht man Zweck und Ziel. «314 Es mag überraschen, dass gerade das in ethischer Hinsicht derzeit in Verruf geratene Mechanische am Denken seine Wurzeln im Ursprung der Ethik selbst haben soll.315 Dieser Linie können wir hier jedoch nicht nachgehen. Aber wir halten fest, dass mit der Tradition des antiken Materialismus der erkenntnistheoretische Akzent auf eine Art Eingliederung 312 Ebenda, S. 95. 313 Erstaunlicherweise gelten die frühen Materialisten als Stifter ethischen Nachdenkens. Vgl. dazu Bloch, ebenda, S. 95ff. 314 Ebenda, S. 95. 315 Eine » Genealogie des Mechanischen « unter diesem Blickwinkel wäre nach dem Stand unseren Recherchen erst noch zu schreiben. Bedeutenderweise aber gilt die Tradition des antiken Materialismus und dessen Ethik sowohl Foucault als Referenzebene wie auch Serres und Deleuze, Philosophen, die alle drei an einer philosophischen Neuinterpretation des Mechanischen im Paradigma der Dynamik und der dafür konstitutiven Differential- und Integralrechnung, kurz : der Funktionsgleichungssysteme und deren Analytik, gearbeitet haben.

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des Abstrahierten ins Geflecht des Konkreten fällt, und zwar so, dass die neue Situation nachhaltig zu funktionieren vermag. Das Sprechen von Funktion ist hier keine saloppe Redewendung, sondern als präzise Bezeichnung gemeint : Ein neu postulierter Zusammenhang kann nicht nur für sich genommen betrachtet werden, sondern muss auch im Einklang mit all den gewohnten und eingespielten Zusammenhängen stehen, in die ein jedes ehemals » Außerordentliches « eingebettet und integriert ist, und damit seine Integrabilität erweisen. Einen neuen Zusammenhang und eine neue Relationalität ins Funktionieren zu bringen, nennt man gemeinhin Konstruktion. Es ist dieses Moment des Konstruierens in komplexen Verhältnissen, in dessen Kontext ein philosophischer Begriff der Virtualität nach Deleuze verortet werden muss. Jenseits des positivistischen Reduktionismus, wie er den Konzeptionen eines Cyberspace als Produkt der Kybernetik innewohnt, hat Deleuze mit seiner Philosophie des Differentials eine solche Konzeption entwickelt. In diesem Zusammenhang gründet die Verbindung zwischen Virtualität und dem, was wir als Konstruktionsform bezeichnen. Deren Verbindung versammelt im Kern die Bedingungen und Konsequenzen eines jeden Konstruierens von Differenz und Differenzierung. Sie gilt für unser Nachspüren der Formen und Strukturen von Integrabilität als maßgeblich. Jede Differenzierung und jede Differenz impliziert eine Bewegung ins Abstrakte, indem es mit etwas ihm Äußerlichen ins Verhältnis gesetzt wird. Diese vertikale, verallgemeinernde Bewegung nennt Deleuze nach dem Vorbild der entsprechenden mathematischen Struktur » das Differential «. Der Gebrauch von Differentialen mündet in eine Integration der in Beziehung gesetzten Instanzen in einem Funktionszusammenhang auf abstrakter Ebene, mit vielen unterschiedlichen Graden an Differenziertheit. Diese Integration wird über die notwendigerweise attribuierte Bestimmung der Freiheitsgrade dessen, was im Abstrakten variieren kann, im postulierten Zusammenhang zu einer systematischen Konstruktion. Einer solchen kommt aufgrund ihres systematischen Charakters immer schon eine immanente Konsistenz zu, aber nichtsdestoweniger wird in einem doppelten Sinne auch Konsistenz erzeugt, mithin faktisch konstruiert. Kurz gesagt : Es handelt sich bei der wichtigsten Konsequenz der durch das Differential erzeugten Virtualität um die Frage nach den Bedingungen eines jeglichen Konstruierens von Konsistenz. Zur Handhabung der Arbitrarität dieser Bedingungen schlagen wir den Begriff der Konstruktionsformen vor. Diese sind damit in struktureller Hinsicht den kantschen Anschauungsformen analog, nur ist ihre Beziehung zum Verhältnis von Konkretum und Abstraktum unterschiedlich. Während Anschauungsformen in die Abstraktion führen bzw. hinsichtlich der Denkbewegung nicht unterscheiden, ob diese in die Abstraktion hinein- oder aus ihr herausführen, sind Konstruktionsformen klar auf die Instantiierung bzw. Integration von Abstrakta

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bezogen. Dies meint Deleuze, wenn er in seiner Terminologie von der Aktualisierung des Virtuellen spricht.316 Es scheint uns also sinnvoll, von einer Virtualität derjenigen Formen auszugehen, anhand derer wir uns beim Konstruieren von Konsistenz im Denken orientieren. Die Voraussetzungen für eine solche Perspektive treffen sich mit Nietzsches Forderung nach einer Umwendung des Platonismus und deren erweiterte Begründung durch Deleuze.317 Diese Forderung ist im Verlauf des 20. Jahrhunderts unterschiedlich interpretiert worden. Für Deleuze, um dessen Interpretation es hier im Speziellen geht, bedeutet eine solche Umkehrung die Abkehr vom Postulat einer unserer Erkenntnis vorgängigen Positivität dessen, was integrierbar ist und somit zu Wissen werden kann. Doch im Gegensatz zu anderen Vorschlägen, speziell aus dem Umfeld der Kritischen Theorie, sucht Deleuze nach einer Möglichkeit, diese Positivität nicht als diejenige eines Negativen zu denken – ohne dabei allerdings die von Nietzsche so nachhaltig angeprangerten Probleme einer Präsenzmetaphysik in Kauf zu nehmen. Die Paradoxalität dieser Situation kann weder verborgen noch aufgelöst werden. Die Radikalität von ­Deleuze’ Umgang mit ihr besteht darin, die Paradoxalität zum generativen Grundsatz für Philosophie überhaupt zu erklären.318 Sein Vorschlag lautet konkret : Umwendung des Verhältnisses von Problematik und Erkenntnis. Deleuze erachtet das Ideelle als Natur, also als das, was es zu erkennen gilt. Erstes Prinzip seiner Philosophie ist es, dass das Universelle nichts erklärt, sondern selbst das ist, was erklärt werden muss. 319 Der Idealismus von Deleuze ist weder objektiv noch subjektiv, es ist ein ideeller Naturalismus. Natur gilt ihm als » keine kollektive, sondern eine distributive «.320 In ihrer Distributivität ist sie für ihn das Element des Problematischen, und als solches ist die Natur gewissermaßen Bedingung der Möglichkeit für Neues. » Die Natur muss als Prinzip des Diversen und seiner Herstellung gedacht werden. «321 Deleuze geht damit nicht nur eine Allianz mit Lukrez und der epikureischen Tradition ein, sondern er bezieht sich damit auch auf eine bestimmte mathematikgeschichtliche Tradition der Analysis,322 die in der Zwischenzeit, also seit seiner eigenen Publikation dazu in Différence et Répétition (1968)323 auch 316 Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung. 317 Deleuze erklärt diese Bewegung zum Kern seiner Philosophie. Vgl. Gilles D ­ eleuze, » Trugbild und antike Philosophie «, in : ders., Die Logik des Sinns. Aesthetica, ­Frankfurt am Main 1993 [1969], S. 311–340. Nietzsche selbst spricht von » Umdrehung des Platonismus « (siehe Anm. 35). Vgl. dazu auch die ausführliche Diskussion dieses Topos in Annamaria Lossi, Nietzsche und Platon : Begegnung auf dem Weg der Umdrehung des Platonismus, Würzburg 2006. 318 Diese Haltung hat Deleuze am deutlichsten entwickelt in Die Logik des Sinns. 319 Gilles Deleuze und Félix Guattari, Was ist Philosophie ?, Frankfurt 2000 [1991], S. 11. 320 Gilles Deleuze, » Platon und das Trugbild «, S. 311–323, hier S. 311. 321 Ebenda, S. 325. 322 Deleuze folgt in deren Rezeption in erster Linie Jules Vuillemin, La Philosophie de l’algèbre. Recherche sur quelques concepts et méthodes de l’algèbre moderne, Paris 1962. 323 Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung.

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in der Tradition der analytischen Philosophie erneut aufgegriffen worden ist.324 Der Kern dieser Rezeptionslinie besteht darin, in der Analysis entgegen der traditionellen Interpretation nicht eine Methode des Beweises (proof) zu sehen, sondern eine der Konfiguration (configuration). Diese Unterscheidung bedeutet, die Verlaufsrichtung des analytischen Prozesses umgekehrt zu verstehen. Jaakko Hintikka und ­Unto Remes erläutern : » Does analysis consist of a series of conclusions or does one proceed in an analysis from a hoped-for conclusion to its more and more distant premises ? «325 Folgt man wie Deleuze der zweiten Interpretation, so hat dies gewichtige Konsequenzen. Es gilt dann, die sogenannten Hilfskonstruktionen, ohne die jeder analytische Nachweis faktisch nicht vollzogen werden kann, als heuristische Annahmen zu verstehen, die es im Vollzug selbst auf ihre Adäquatheit hin zu überprüfen gälte. Besagte Adäquatheit der Hilfskonstruktionen ergibt sich, mathematisch gesehen, über die sogenannte Integrabilität, die sie erlauben. Somit gelten sie als Bedingungen des analytischen Modells, die im Konkreten selbst – das heißt im Vollzug dessen, wie das Modell in der Realität zur Anwendung kommt – jeweils heuristisch zu evaluieren sind. Nach Deleuze’ Übertragung dieser Interpretation der Analysis auf den Bereich der Philosophie ergeben sich grundsätzliche Konsequenzen. Das Schwierige beim Denken besteht nicht darin, Lösungen für Probleme zu erkennen, sondern die Probleme selbst zu formulieren. Was vollzieht Deleuze also mit seiner Umwendung des Platonismus ? Er setzt an die Stelle von Wesenheiten als Idee die Probleme in ihrer für sie charakteristischen vorkonkreten Seinsweise. Probleme drängen sich gemeinhin auf, ohne dass man sie sogleich fassen kann. Erkenntnis heißt für Deleuze folgerichtig : Bestimmung des Problematischen, und zwar anhand eines philosophischen Mathematismus, einer philosophischen Analytik. Während Platon die ideale Ordnung nach geometrischen Elementen etabliert sehen wollte, arbeitet Deleuze in Richtung einer analytischen Begründung dieser Elementarität.326 Die Betrachtungen in diesem Kapitel sind vordringlich nach drei Topoi327 ausgerichtet, in denen sich verschiedene Manifestationen nachvollziehen lassen : Es handelt sich um den Topos der Begrenzung, denjenigen der Funktion und denjenigen des Problematischen. Trotz des relativ weit gefassten historischen Feldes ist die hier entfaltete Perspektive eine strukturelle in dem Sinn, als dass sie zu erörtern sucht, wie sich bestimmte Serien gebildet und fortgesetzt haben könnten. Bei einem solchen Vorgehen, das die Geschichte eher als Archiv denn als freizulegende und eindeutig darzustellende Entwicklungslinie zugrunde legt, werden zwangsläufig gewisse Zusammenhänge vernachlässigt, während 324 Jaakko Hintikka und Unto Remes, The Method of Analysis. Its Geometrical Origin and Its General Significance, Boston 1974. 325 Jaakko Hintikka und Unto Remes, The Method of Analysis, S. xiv. 326 Dieser Ansatz wird im zweiten Teil » Funktion, Sinn und Form « dargestellt, siehe S. 136. 327 Mit topos ist hier grundsätzlich die Bedeutung von Allgemeinplatz gemeint.

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andere in den Vordergrund gerückt werden. Wir orientieren uns bei diesem Vorgehen – wie bereits erläutert – am archäologischen Geschichtsverständnis von Foucault, ohne jedoch den Anspruch erheben zu wollen, im eigentlichen Sinne ein Dispositiv oder ein Aussagefeld offenzulegen.328 Das würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit zwangsläufig sprengen. Entscheidend für unsere Referenz auf Foucault ist vielmehr die maßgeblich durch ihn beförderte grundlegende Wende hinsichtlich eines jeden Wissens über verschiedene Episteme, die sich aus seinem Verständnis einer historischen Wissenschaftsphilosophie ergeben. Foucaults Begriff der Episteme begreift diese als sogenannte Regimes mit einer jeweils eigenen Genealogie. Aus diesem Geschichtsverständnis heraus zeigt sich die Strukturähnlichkeit zur besagten mathematikgeschichtlichen Linie, welche eine methodische Heuristik hinsichtlich der Bedingungen von Integrabilität analytischer Folgerungen nahelegt. Foucaults Verständnis nach erfährt die traditionelle Suche nach den Strukturen einer objektiven Ordnung der Dinge eine Transzendierung hin auf eine regulierende Dimension, die er als diejenige der Macht herausstellt. Diese liegt einer jeden auszumachenden Ordnungsstruktur dessen, was wir Wahrheit, Wissen oder Welt nennen, zugrunde. Sucht Deleuze mit dem Virtuellen nach der Abstraktion der neuzeitlichen Präsenzmetaphysik, so sucht Foucault mit seiner Dimension der Macht nach der Abstraktion der an Kontinuität ausgerichteten Geschichtsschreibung. Beide postulieren nicht lediglich leere Namen für diese Abstraktionsebenen, sondern schlagen ein Instrumentarium vor und weisen damit in Richtung einer eigentlichen Denkkultur, wie diese Ebenen für unseren Intellekt zugänglich werden können. Die Ausgangslage für Foucaults Philosophie ist das Postulat einer differentiell zu erschließenden Positivität von Wissen, die er an der Form von Aussagen festmacht. Dabei verlässt man mit Foucault nie das Symbolische, die von ihm postulierte Positivität zeigt sich nie auf transparente und unmittelbare Weise, sondern immer vermittelt. Es ist damit eine Positivität, die nie erschöpfend herausgestellt und repräsentiert werden kann. Aussagen umfassen bei Foucault nicht in erster Linie wissenschaftlichphilosophische Theorien zur Erklärung empirisch beobachtbarer Ordnungen, sondern es manifestiert sich in ihnen eine gewisse Ordnung, die für 328 Ein Dispositiv, so eine der zentralen Positionen von Foucault, ist unserer Reflexion selbst nie als Ganzes zugänglich. Hubig schlägt deshalb etwa vor, Dispositive als » kategorial « zu begreifen. Wird ihnen allerdings dieser Status zugeschrieben, so kommen die Dispositive in einen Konflikt mit der klassischen Kategorienlehre und ihrem kontinuierlichen Universalitätsanspruch zu stehen. Dispositive beanspruchen keine globale, sondern eine lokale Art von Universalität. Wollte man die Suche, wie Diskontinuität und Universalität aufeinander bezogen werden könnten, ohne das eine oder das andere preiszugeben, von vornherein als naiv zurückweisen, impliziere das eine » missliche rationalistische Mechanik, mathematischen Idealismus und Hypostasierung der Bedeutung der wahrgenommenen Welt «, so Hubig. Christoph Hubig, » Dispositiv als Kategorie «, in : Sammelpunkte. Elektronisch archivierte Theorie, online : http ://sammelpunkt.philo.at :8080/561 (06.01.2009).

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uns » stumm «329 ist : Der Mensch enthülle sich, » sobald er denkt, seinen eigenen Augen nur in der Form eines Wesens, das bereits in einer notwendig darunterliegenden Schicht, in einer irreduziblen Vorherigkeit, ein Lebewesen, ein Produktionsinstrument, ein Vehikel für ihm präexistente Wörter ist «.330 Das von ihm so benannte » Vehikel für Präexistentes «, diese » irreduzible Vorherigkeit «331 scheint den notwendigen Hilfskonstruktionen in der mathematischen Analytik verwandt, die – der Rezeptionsgeschichte entsprechend, auf die wir uns hier beziehen – ein für jede analytische Folgerung konstitutives Element an Unvorhersagbarkeit beinhaltet : » They [auxiliary constructions] are needed because the desired proof or construction cannot be carried out without their mediation. In principle, the main non-trivial, unpredictable element of the analytic method lies in these auxiliary constructions. They are therefore the heuristically crucial but at the same time heuristically recalcitrant element of the methodological situation. «332 Das Konzept der analytischen Hilfskonstruktionen wird von Hintikka und Remes selbst als » recalcitrant element « benannt, was man als » abbauresistente Substanz « übersetzen kann. Sie legt eine Verwandtschaft mit Foucaults Positivität von – in logischem Sinn – Präexistentem auch auf der Ebene der Aussagen selbst nahe.333 Es gibt einen oft geäußerten Einwand, der an dieser Stelle sogleich ausgeräumt werden soll. Mit dem Postulat einer Positivität von Wissen sowie mit Foucaults Postulat der Möglichkeit einer Analytik zur Untersuchung dieser Positivität, scheint er sich in die Tradition der analytischen Philosophie im Ausgang des logischen Positivismus (logischen Empirismus) einzureihen. Doch dies wäre, vor diesem Hintergrund betrachtet, zu kurz gegriffen. Zwar definiert er Aussagen, wie in der analytischen Logik, auch funktional. Doch sind sie als solche nicht in gleicher Weise mit einem Korrelat verbunden wie etwa der Wahrheitswert im Fall von logischen Propositionen oder dem Sinn im Fall von Sätzen in der Pragmatik. Die Funktionalität von Aussagen folgt bei Foucault keiner repräsentationalen Logik, sondern einer Analytik, die im Symbolischen selbst produktiv ist. Darin ist seine Methodik derjenigen Rezeption der Geschichte der Analysis als » proving backwards by synthesis «, wie sie Hintikka und Remes nahelegen334, verwandt. Bei Foucault definieren Aussagen explizit die Möglichkeit 329 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main 1999 [1966], S. 23. 330 Ebenda, S. 379. 331 Ebenda, 332 Hintikka und Remes, The Method of Analysis, S. xiii. 333 Mit diesem Vorschlag konsistent wäre auch, dass Foucault selbst dieses Apriori nicht primär als transzendentales Prinzip interessiert, sondern als Bedingung für die Realität von Aussagen. Vgl. dazu Christoph Hubig, » Dispositiv als Kategorie «, S. 2ff. 334 Jaakko Hintikka und Unto Remes, The Method of Analysis, S. 118. Innerhalb der analytischen Philosophie ist diese Rezeptionsgeschichte jedoch nicht unumstritten. Zwei Einwände von Imre Lakatos und von Arpad Szabó sowie die Antworten von Hintikka und Remes darauf sind im Appendix abgedruckt. Vgl. S. 118–129.

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des Auftauchens und der Abgrenzung dessen, was dem Satz seinen Sinn, der Proposition ihren Wahrheitswert gibt : » Das Referential der Aussage bildet den Ort, die Bedingung, das Feld des Auftauchens, die Differenzierungsinstanz der Individuen oder der Gegenstände, der Zustände der Dinge und der Relationen, die durch die Aussage selbst ins Spiel gebracht werden. «335 Aussagen sind in diesem Sinne und nach der Formulierung von Foucault selbst Existenzfunktionen. Über das Funktionieren ihres Referentials ist der Status ihres » Korrelats « immer schon symbolisch verfasst und im Werden begriffen : » Es [das Korrelat einer Aussage, Anm. d. Verf.] wird zum Beispiel ein Gebiet von materiellen Gegenständen sein, das eine bestimmte Zahl von feststellbaren physischen Eigenheiten, Relationen von wahrnehmbarer Größe besitzt, oder umgekehrt wird es ein Gebiet von fiktiven Gegenständen sein, die mit arbiträren Eigenschaften ausgestattet sind (selbst wenn sie eine bestimmte Beständigkeit und eine bestimmte Kohärenz haben), ohne Instanz experimenteller oder perzeptiver Verifikationen. «336 Der Status des Im-Werden-begriffen-Seins kann nur unterstrichen werden – Foucault ist sehr explizit in dieser Bestimmung. Er fährt fort : » Es [das Korrelat einer Aussage, Anm. d. Verf.] wird ein Gebiet von Objekten sein, die in demselben Augenblick existieren und auf derselben Zeitskala, auf der die Aussage formuliert wird, oder es wird ein Gebiet von Gegenständen sein, das einer ganz anderen Gegenwart zugehört – dasjenige, das durch die Aussage selbst angegeben und konstituiert wird, und nicht das, dem die Aussage auch angehört. «337 In dieser Bestimmung scheint Foucaults Aussagen eine entscheidende Rolle in einer Theorie des Virtuellen zuzukommen.338 In einer Abstraktionsbewegung weg von der Referenz ist sein Begriff der Aussagen mit besagtem Referential verbunden, welches » nicht aus ›Dingen‹, ›Fakten‹, ›Realitäten‹ oder ›Wesen‹ konstituiert wird, sondern von Möglichkeitsgesetzen, von Existenzregeln für die Gegenstände, die darin genannt, bezeichnet oder beschrieben werden, für die Relationen, die darin bekräftigt oder verneint werden «.339 Foucaults Referential ist als Abstraktion von Referenz und als parallele Bewegung zu Deleuze’ Differential als Abstraktion von der Differenz als reine Differenz zu werten. Diese Abstraktion erlaubt es, über den 335 Foucault, Archäologie des Wissens, S. 133. 336 Ebenda. 337 Ebenda. 338 Dies wäre freilich systematisch auszuarbeiten und kann hier nicht geleistet werden. Als aufschlussreicher Ansatzpunkt könnte auf alle Fälle Deleuze’ Buch über Foucault dienen, in dem er selbst auf die tiefenstrukturelle Verwandtschaft seines Denkens mit desjenigen Foucaults hinweist. Vgl. Gilles Deleuze, Foucault, Frankfurt am Main 1992 [1986]. Vgl. dazu ebenfalls die Rezensionen von Foucault zu Deleuze’ Werken Differenz und Wiederholung und Logik des Sinns in : Gilles Deleuze, Michel Foucault. Der Faden ist gerissen, Berlin 1977, S. 21–58. 339 Foucault, Archäologie des Wissens, S. 133.

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differentiellen Umgang mit Referenzialität die Sinnfrage gleichzeitig als eine transzendentale wie positivierbare zu behandeln, und zwar über ihre Rückbindung an eine Empirie. Denkt man sie auf Deleuze’ Konzept der Virtualität bezogen und in Kombination mit den Konstruktionsformen, ergibt sich daraus die Möglichkeit zur Fortführung des kantschen Programms einer kritischen Philosophie, allerdings nun als virtuellen Realismus. Foucaults Methodik böte damit einen wichtigen Teil zu einem Instrumentarium performativer Theoriebildung, mit dem die Performanz einer jeden Reflexion sich kritisch kultivieren ließe. Auch hier zeigt sich seine Nähe zu Wittgensteins Konzeption einer transzendentalen Logik, welche die logische Form jeder denkbaren praktischen Logik und damit jede Theoriebildung selbst zu einer empirischen Folge von Performanz werden lässt.340 Zudem vermöchte wohl erst eine solche Kulturtechnik des Differential-Denkens der kommerzialisiert-sophistischen Mächtigkeit guter Rhetorik (heute vor allem in Politik, Werbung und Marketing) ein genügend starkes Pendant gegenüberzustellen. Vielleicht wird gerade in dieser Pragmatik der Unterschied zwischen einer Philosophie des Differentials und beispielsweise Derridas Philosophie der Différance besonders deutlich. Er entspringt unserer Ansicht nach einer so apriorischen wie ethisch wirksamen Wahl : Wählt man zur Bestimmung der eigenen Verhältnisse zur Welt eine primär transzendente Beziehung oder aber eine primär immanente ? Es ist klar, dass beide Positionen differenziert mit dieser Unterscheidung umgehen. Beide konstituieren sich jeweils über die wechselseitige Bedingtheit dieser Differenz. Doch es ergeben sich unterschiedliche Fragen und somit unterschiedliche Orientierungsgrößen, je nachdem, welchen Aspekt man bevorzugt. Die von Foucault postulierte Möglichkeit einer analytischen Projektion eines Im-BegriffSeins impliziert ein paradoxales Verhältnis, das nichtsdestotrotz für das mit seiner Analytik vorgeschlagene Verfahren als konstitutiv gelten muss. Bemerkenswerterweise finden wir hier auch die gleiche paradoxale wie konstitutive Uneigentlichkeit, die wir bereits bei ­Tholens Vorschlag einer Metaphorologie der Medien kennengelernt haben und die jener für eine Wesensbestimmung von Medialität postuliert. Das Kriterium zur Unterscheidung dieser Positionen scheint mir in den Ratschlägen zu liegen, wie der Umgang mit dieser Paradoxalität aussehen soll. Als Ursache für das Dilemma darf also die moralisch-ethische Frage nach den Werten vermutet werden. Eine genaue Untersuchung dieser Verwandtschaftsstrukturen und ihren Unterscheidungen steht allerdings nicht im Zentrum dieser Arbeit. Angesichts der Möglichkeit einer Kritischen Philosophie des Virtuellen schlagen wir vielmehr vor, zunächst lediglich aufgrund 340 Vgl. zur Wiederentdeckung dieses spezifischen, konträr zur zeitgenössischen Auffassung der Praxis der Logik stehenden Verhältnisses von logischer Form und Performanz Colin Johnston, » Tractarian objects and logical categories «, in : Synthese, Nr. 167, 2009, S. 145–161.

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einer einfachen Symmetrieüberlegung, das entsprechende Pendant zu den Anschauungsformen in einer geometrisch-analytisch begründeten Vernunfttheorie, wie Kant sie ausgearbeitet hat, für eine algebraischanalytisch begründete Vernunfttheorie anzunehmen. Wir benennen sie vorläufig als Konstruktionsformen. Abschließend seien die wichtigsten Punkte zusammengefasst. Aufgrund der erörterten Überlegungen halten wir Konstruktionsformen für ein zentrales Instrument in einer Kritischen Philosophie des Virtuellen, die wir im Kern als eine Komparatistik von Formen und Strukturen von Integrabilität verstehen. Ausschlaggebend für die Wahl dieser Akzente ist die materialistische Position, Konstruktionsformen im Sinne einer foucaultschen Mikromechanik als eigentliche Mechanismen von Medialität zu begreifen. Hier lassen sich nur einige wenige Linien anzeigen, die in diese Richtung führen könnten. Unser Interesse ist es, das Prinzip des Mechanischen aus seiner modern(istisch)en Engführung zu befreien, wie sie auf der Basis einer uneingestandenen symbolistischen Ontologie und deren Absprechen einer Teilnahme des Mechanischen an der Dimension des Sinns möglich werden konnte. Die antike Tradition des Mechanischen hat, wie ausgeführt, bei Demokrit gemeinsame Wurzeln mit der Entstehung von Ethik. Sie kann wohl als die Konsequenz einer frühen kulturgeschichtlichen Abwendung von einer angenommenen göttlichen Maßgabe zur Einordnung der Geschehnisse hin zu einer Grundorientierung verstanden werden, in der die Frage nach der Maßgabe als immer schon problematische Frage persistiert. Als deren Kernkonzepte können die Denkformen des Zwecks, des Instruments und der technischen Selbstbefähigung zur nach Lernen strebenden Herausforderung der Natur ebenso wie zu ihrer temporären Überlistung gelten.341 341 Die Zuordnung der Mechanik als Teil der modernen Physik schlechthin kann keinesfalls als selbstverständlich angesehen werden, wurde doch die Mechanik in der Antike als Pendant zur Physik gedacht, welche sich mit den natürlichen Dingen befasste, während die Gegenstände der Mechanik die künstlichen Geräte, insbesondere komplizierte Werkzeuge, umfasste. Die Mechanik galt daher als Theorie und Praxis der nicht natürlichen, also widernatürlichen Bewegungen und diente der Überlistung der Natur zur Erfüllung menschlicher Wünsche und Interessen. Bei Aristoteles (in seiner peripatetischen Schrift » Quaestiones mechanicae «) werden Natur und Kunst (Technik), Physik und Mechanik gegeneinander profiliert : Während die Natur immer gleichförmig Gesetzen folgt, wechseln die menschlichen Interessen, Ziele und Zwecke ständig und lassen sich daher häufig nur gegen die Natur und nur unter Schwierigkeiten durchsetzen. Die Mechanik war noch für Aristoteles die Wissenschaft von den Hilfsmitteln und Geräten zur Erfüllung der Wünsche, die daher eher über die widernatürlichen Kräfte und Bewegungen Auskunft gibt, also über das, was gegen die Natur ist. Erst mit Galileo Galilei setzt sich ein Wandel im Verständnis der Mechanik durch. Aus seinem 1593 verfassten Traktat » Le Mecaniche « geht hervor, dass er die Mechanik nicht länger als Lehre von der Überlistung der Natur verstand, sondern als Lehre von der geschickten Anwendung auf die Natur. Dies wiederum setzte voraus, dass die Gesetze der Mechanik denen der Natur konform seien und Mechanik nichts anderes als Naturwissenschaft war. Dieses Verständnis ist das uns heute vertraute, an die antike Vorgeschichte denken wir indessen nur mehr selten. Vgl. Karen Gloy, Die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens, S. 169ff.

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II.II.

zum topos der begrenzung

Wie die Charakterisierung des Themas als Topos schon nahelegt, wird mit den folgenden Erörterungen nur ein bescheidener Anspruch erhoben, der lediglich in einer bestimmten Perspektivierung einiger Aspekte besteht, und zwar in Hinsicht auf die Fragestellung der vorliegenden Arbeit nach einem kategorischen Status des Medialen und eines um das Virtuelle erweiterten Begriffs von Theorie. Daher wäre es zu viel gesagt, von einer These dieses Kapitels zu sprechen. Dennoch besteht eine strukturelle Vermutung, die uns für die folgenden Ausführungen Anlass ist : So aktuell das Reden von einer fließend gewordenen Welt im Zuge dessen, was zu Beginn des 21. Jahrhundert gemeinhin mit Digitalisierung, Informatisierung und Globalisierung benannt wird, auch erscheinen mag – es haftet dieser Charakterisierung etwas eigenartig Unzeitgemäßes an. Natürlich gäbe es verschiedene Möglichkeiten einer Auslegung dieser Bezeichnung für eine fließend gewordene Welt. Aber wenn mit dieser Metaphorik so etwas wie eine Wende vom Terranen zum Maritimen als Leitelement für unser Weltbild gemeint sein sollte,342 so schiene der in dieser Metaphorik ausgedrückte Befund eigenartig achronistisch. Das Maritime als neues Leitelement charakterisiert tatsächlich vielmehr die Anfänge der Neuzeit denn unsere Gegenwart und kann mit seinem Primat des Kontinuierlichen, und der infinitesimalen Kalkülisierung wohl nur schlecht Orientierung bieten im Diskontinuierlichen der symbolischen Algebra und ihrer Alphabete zur Codierung. Eine für die Gegenwart vielleicht stabilere These würde auf die Fragen zielen, wie sich die Dualität von Begrenzung und Fluidität aufheben ließe und wie sich eine Aufhebung dieses Gegensatzes tiefenstrukturell zum Paradigma der globale Infrastruktur gewordenen, logistisch vernetzten Netze verhält. Die informationsbasierte Kommunikativität, die in diesen Netzen stattfindet, fühlt sich zwar durchaus fließend an, aber die mathematische Basis dafür ist nicht mehr der Kontinuitätsraum des infinitesimal Zusammenhängenden, sondern die Diskretheit symbolisch kodierter Ordinierbarkeit. Das heutige analytische Denken findet im Raum eines deterritorialisierten Analytischen statt343, und die Betonung sollte hierbei auf der Diskretheit von Deterritorialisierung liegen. Wir beginnen gerade erst, in einer Kluft, die sich bei genauem Hinschauen als der » grundlose Raum des Symbolischen «344 darstellt und die Bernhard Siegert passend als » aufbrechende Passage des 342 Dies legt zumindest die Rhetorik von » Verflüssigung «, » Informationsschwemme «, » Überflutung « bis zur Beschreibung unseres Umgangs damit als » surfen « oder » fischen im Netz « nahe. 343 Dieses Konzept wird im Folgenden dieses Kapitels ausgeführt. Vgl. das Kapitel in der vorliegenden Arbeit » Die Relativierung von Stetigkeit als Voraussetzung oder Vom deterritorialisierten Denken bis zur rekombinanten Synthese «, S. 132ff. 344 Vgl. dazu das Kapitel » Begründbarkeit von ›Information‹ im Element des Symbolischen « im ersten Teil der vorliegenden Arbeit, S. 72ff.

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Digitalen «345 charakterisiert, ein solches deterritorialisiertes und in gewisser Weise auch entgrenztes Denken zu entwickeln. Und dafür könnte sich die Metaphorik des Maritimen und Flüssigen als geradewegs kontraproduktiv herausstellen, denn ein solches würde gute Taktiken hervorbringen müssen, nicht nur dafür, wie wir uns am besten beim Navigieren orientieren können, sondern auch dafür, wie diese neuen Elemente, in denen wir navigieren, selbst symbolisiert werden könnten. Diese Situation ist, strukturell betrachtet, gar nicht so beispiellos und neu. Im Folgenden soll eine kurze kulturgeschichtliche Reise unternommen werden, mit Station in verschiedenen Situationen der Neuzeit, in denen sich – zumindest in struktureller Hinsicht – vergleichbar fundamentale Umbrüche vollzogen haben. Es geht insbesondere um vier von ihnen, die alle auf die eine oder andere Weise davon betroffen sind, Strategien zu entwickeln, um die drohende Unendlichkeit eines Außen symbolisch zu bannen. Zum einen wollen wir die zu Beginn der Neuzeit geradezu schockierende Entdeckung des geografischen Flächenverhältnisses zwischen Festland und Ozeanen auf unserem Globus betrachten. Seinerzeit konnte sich das Reden von Firmament nur dann zu einer eigenständigen und tragenden Symbolik entfalten, indem den Erdteilen im unendlichen Raum der Ozeane die alte Funktion des Weltbehälters zugewiesen wurde – die terra firma wurde zum continens. Erst aufgrund dieser Verschiebung konnte sich das moderne Sprachspiel Grund, Begründung, Kausalität entwickeln, welches als eigentliches Säkularisierungsprinzip zum Charakteristikum der Neuzeit geworden ist. Zum anderen wollen wir das Moment der cartesianischen Ungeheuerlichkeit herausstellen, in dem Descartes über seine formale Symbolisierung des Konzepts des Ursprungs dieses heiligste Heiligtum selbst im abstrakten Koordinatenraum operationalisiert und mobilisiert hat : Anhand seiner analytischen Begründung der Geometrie konnte der Ursprung situativ freigesetzt werden, was die Möglichkeit für eine exakte experimentelle Naturforschung erst ermöglichte. Die daraus hervorgegangene Entwicklung einer Mathematik des Flüssigen und unendlich Kleinen wurde von ihren Erfindern – entsprechend dieser neuzeit­ lichen und umfassenden Volatilisierung aller (symbolischen) Elemente – auch » Fluxionsrechnung « (Newton) oder » Infinitesimalanalysis « (Leibniz) genannt. Mit dieser sogenannten höheren Analysis konnten fortan Prozesse aus experimentell postulierten Gesamtzusammenhängen hergeleitet oder in solche eingeordnet und somit formal gefasst und integriert werden. Die kulturgeschichtlichen Auswirkungen dieser neuen Vermessungsund Symbolisierungstechniken lassen sich an der sich verschiebenden Bedeutung des Topos des Buches der Natur nachvollziehen. Die 345 Bernhard Siegert, Passage des Digitalen.

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Offenbarungsmetaphysik der scholastischen Hermeneutik und des mit ihr verbundenen Leseprozesses von Zeichen als göttliche Spuren in der Welt machte über die Abstraktion ins » Element « des Formalen einer Relationenontologie Platz. In ihr wurde die Suche nach einer transzendentalen Bedeutung von Partikulärbeobachtungen von der strukturellen Untersuchung der Funktionszusammenhänge des Beobachteten verdrängt. Als eine damals unreflektierte Voraussetzung für die mit einer solchen implizit vorausgesetzen Relationenontologie erreicht geglaubten Sicherheit muss jedoch das Postulat einer grundsätzlichen und kontinuierlichen Stetigkeit der Naturprozesse gelten. Eben jene ist mit den weiteren Entwicklungen der Mathematik seit Euler problematisch geworden und verweist auf die besagte Passage des Digitalen, in dessen wiedereröffneter Abgründigkeit oder eben Grundlosigkeit wir uns seither – auf der Suche nach einem neuen Naturbegriff – wähnen.346 Unser Augenmerk gilt also durchwegs der Frage, ob überhaupt und inwiefern die oft proklamierte » Fluidität « von heute sich vor diesem wissenschafts- und kulturgeschichtlichen Hintergrund abhebt, in den wir seit dem Verlust der Sphärenschalen und der ewigen Ordnung antiker und mittelalterlicher Kosmologien unwiderruflich eingetreten sind. Ein Planet namens » Terra « oder Der Mythos des ­Firmaments im Moment der Vermeerung Bereits im 16. Jahrhundert wurde den Europäern mit Christoph Kolumbus’, Amerigo Vespuccis oder Ferdinand Magellans Entdeckungsfahrten auf einmal zugemutet, » zu begreifen, dass der Planet Erde angesichts des Übergewichts der Wasserflächen seinen Namen im Grunde zu unrecht führt «.347 Die Entdeckung, dass drei Viertel der Erdoberfläche » dem nassen Element gehören «, muss von geradezu ungeheuerlicher Wirkung gewesen sein.348 Noch die spätmittelalterliche Erdzeichnung des venezianischen Kamaldulensermönchs Fra Mauro aus dem Jahr 1459 präsentiert einen Planeten, der innerhalb eines Kreises lag und dem auf dem Wasser » außer dem etwas aus dem Zentrum gerückten Flecken des Mittelmeers und den Flüssen, nur die äußersten Ränder gegönnt «349 sind. Diese Darstellung vor Augen war denn auch schlichtweg unbegreiflich, wie der baskische Entdecker Juan Sebastián Elcano und der italienische Chronist des magellanischen Schiffstagebuchs, Antonio Pigafetta, mitteilten : Nach dem Ablegen von der Südspitze Südamerikas hätten sie » drei Monate und zwanzig Tage lang « – vom 28. November 1520 bis zum 16. März 1521, bei stetigen günstigen Winden – ein unermessliches, unbekanntes Meer auf Nordwestkurs durchlaufen, das sie » mare pacifico « 346 Vgl. dazu das Kapitel » Das Problem der Rahmung eines erweiterten Prinzips der Verfügbarkeit « im ersten Teil der vorliegenden Arbeit, S. 57ff. 347 Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals, S. 71. 348 Ebenda. 349 Ebenda, S. 70.

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nannten, » weil wir während der ganzen Fahrt keinen Sturm erlebten «.350 Solche Schilderungen der Seefahrer, während beinahe drei Monaten auf einem einzigen Meer unterwegs zu sein, konnten von den Herstellern der neuen Erdgloben offensichtlich noch eine geraume Zeit lang nicht nachvollzogen werden. Davon zeugt die große Nähe zu Amerika, in der man in den Karten und Globen die westindische Inselwelt andeutungsweise zu berücksichtigen begann.351 In dieser Unermesslichkeit der Ozeane, von der das Festland umgeben ist, sieht Sloterdijk denn auch » die globographische Grundinformation der Neuzeit « – eine Information jedoch, die seinem Ermessen nach damals noch gar nicht ankommen konnte : » Wenn der feuchte Planet sich weiterhin hartnäckig Terra nennt und wenn die Landmassen auf ihm sich bis heute mit dem absurden Titel Kontinent schmücken, so verrät dies nur, wie die neuzeitlichen Europäer auf die nasse Revolution geantwortet haben : Sie ziehen sich nach dem Umrundungsschock auf Fehlbezeichnungen zurück, die im ungewohnten Neuen das Altvertraute vortäuschen. «352 Tatsächlich hat sich der Abschied von alten Gewissheiten zugunsten der neuen Weltbilder, die damals aufgrund von Berichten der Entdecker entstehen sollten, nicht einfach gestaltet. Die neuen Konventionen der Berichterstattung, die der Buchdruck mit sich brachte, begannen sich gerade weithin durchzusetzen und verlangten von einem professionellen gelehrten Schreiber, seine Beschreibungen am Ideal der perspektivischen Sichtweise auszurichten. Das hieß konkret, sich nicht auf das zu berufen, was man ehemals » Evidenz « genannt hatte, sondern verschiedene objektiv nachvollziehbare Blickpunkte einzunehmen, Argumente für die jeweiligen Perspektiven zusammenzutragen, zu besprechen und abzuwägen, die eigene Beobachtung im Kontext der Überlieferungen zu erörtern und ins Gesamtbild einzupassen. Just dieses Vorgehen jedoch, das für das aufkommende Wissenschaftsverständnis der Neuzeit grundlegend sein sollte (wie im folgenden Abschnitt dargestellt), war für die Entdecker und deren Berichterstatter des Neuen schlicht unmöglich. Ihnen blieb zur Beobachtung dessen, was sie erlebten, nur die eigene Wahrnehmung, der eigene Blickpunkt. Und das, was sie beobachteten, lag weit jenseits dessen, was als theoretischer oder praktischer Gemeinplatz (Topos) hätte gelten können ! In seiner » Vorred vo(n) der nüwen Welt « etwa berichtet Vespucci, dass auf der Südhalbkugel der Erde, jenseits des Äquators, durchaus Menschen und gar eigene Hochkulturen lebten. Das war der 350 Antonio Pigafetta, Die erste Reise um die Erde. Ein Augenzeugenbericht von der Weltumsegelung Magellans 1519–1522, hrsg. von Robert Grün, Tübingen und Basel 1978, S. 93, hier zitiert nach Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals, S. 69f. 351 Für eine Besprechung der Entstehung der damaligen Globen und Karten im Zusammenhang mit der Entstehung von neuen Weltbildern aus medienhistorischer Perspektive vgl. Michael Giesecke, Von den Mythen der Buchkultur, S. 109–162; vgl. dazu auch Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals, S. 69ff. 352 Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals, S. 72.

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in der Antike und auch noch im Mittelalter tradierten Auffassung stark entgegengesetzt. Natürlich wusste Vespucci, dass etwa Augustinus es für » schlechterdings unglaublich « hielt, » wenn man von Antipoden, Gegenfüßlern, also Menschen, die auf der entgegengesetzten Seite der Erde wandeln « sprach.353 Aber was tun, wenn jemand wie der Florentiner Aristokratensohn Vespucci eigenfüßig gewandelt war, » wo die Sonne aufgeht, wenn sie bei uns untergeht, also unseren Füßen gegenüber «, und zwar ohne, dass er hinabgefallen oder ihm auch nur das Blut in den Kopf gestiegen wäre ?354 Obwohl also die Entdeckung des Planeten Erde mit seiner Entdeckung als maritimer Globus einherging, haben in den neueren Kartografien bald schon und bis heute andauernd allein die zusammenhängenden Landmassen der Erdoberfläche den Namen continens erhalten – den Namen jenes Umfassenden, das bis in die Tage des Nikolaus Kopernikus die Allhülle oder das Gewölbe der letzten Weltgrenze bezeichnet hatte. Man kann darin ein Insistieren auf der überlieferten Denkform des Firmaments und des mittelalterlichen Ordodenkens erkennen, das nun im Moment der Entdeckung der rundum unbegrenzten Gewässer allerdings symbolisch übertragen und vom Himmelsgewölbe auf die » Terra « projiziert wurde. Ob damit ein lebensweltlicher Chauvinismus verbunden war oder ein solcher gar als überholungsbedürftig einzustufen wäre, sei dahingestellt. Die Geschichte illustriert jedenfalls in augenfälliger Weise die begriffliche Problematik von grenzüberschreitenden Entdeckungsreisen, insbesondere bezüglich der Assimilation aufbrechender oder sich umkehrender Inklusionsverhältnisse. » Legere in libro naturae « oder Von der Scheidung der Welt in eine Welt der Werte und eine Welt der Fakten Mit dem Zusammenbruch der Vorstellung von bergenden Weltschalen in der Umrundung der Erde hat sich das geschlossene Weltbild von einem lebendigen Kosmos verändert. Dies lässt sich anhand der Entwicklung der für das Mittelalter typischen Denkfigur des Topos vom Buch der Natur nachvollziehen, der sich nicht nur aufgrund einer generellen Analogie zwischen Natur und Bibel rechtfertigt. 355 Diese Analogie folgt vielmehr aus verschiedenen, wenn auch miteinander verworrenen Punkten. Sowohl die Heilige Schrift als auch die Natur hatten nach mittelalterlichem Weltbild beide denselben Urheber.356 Ebenso wie Gott nach damaliger Auffassung das Schreiben der Heiligen Schrift inspirierte und 353 Michael Giesecke, Von den Mythen der Buchkultur, S. 127. 354 Augustinus, De civitate dei, in der Übersetzung von Wilhelm Thimme : Aurelius ­Augustinus, Vom Gottesstaat, München 1985, Band 2, S. 296, hier zitiert nach Michael Giesecke, Von den Mythen der Buchkultur, S. 127ff. 355 Vgl. für einen darstellenden Überblick über verschiedenste Weisen, wie man in der Sprache einen Ort gesucht hat, in dem sich einem jenseitsweltliche Vollkommenheit eröffnen könne, Umberto Eco, Die Suche nach der vollkommenen Sprache, München 1997. 356 Karen Gloy, Die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens, S. 147.

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den Schreibern und Illustratoren die Hand führte, so hatte er auch die Natur geschaffen. Gott dokumentiere sich also in beidem gleichermaßen, so die Haltung damals, und gebe sich in der Natur wie in der Bibel selbst zu erkennen. 357 Die Wahrheit von beidem wird als nicht unmittelbar zugänglich begriffen, sondern hat in beiden Fällen einen Verweisungs- und Transzendenzcharakter. 358 Aus ihm leitet sich auch die für das Mittelalter typische symbolische Naturauffassung ab, derzufolge die Natur selbst keinen eigenen Charakter habe, sondern lediglich als Erscheinung und Manifestation Gottes erachtet wurde.359 Die Natur galt in der griechischen Philosophie der Antike als etwas, das immer schon vorlag und als Natura naturans sogar selbstständig wirkte. Im christlichen Mittelalter büßte sie diese Stellung einer selbstständig gebärenden Kraft ein und erhielt vollends den Charakter einer repräsentierenden Ordnung. Dies jedoch hatte, wie Gloy ausführt, zur Folge, dass das Studium der Natur ebenso wie das der Heiligen Schrift Selbstzweck war, also ausschließlich der Ergründung, dem Lob und Preis Gottes diente.360 Die Wunder der Natur (mirabilia), Phänomene die nicht in die erwartete Ordnung eingegliedert werden konnten, haben denn auch nicht die erwartete Ordnung in Frage gestellt, sondern galten als Zeugnis für die Omnipräsenz Gottes. Es scheint, als hätte sich das Interesse an der Natur völlig der theologischen Perspektive untergeordnet und als sei es nicht um eine Begründung für die Physik gegangen, sondern um eine heilsgeschichtliche Deutung der Natur. So heißt es etwa in der Abhandlung De bono religiosi Status et variarum animantium tropologia (Über das Gute des religiösen Standes und die Eigenart der Lebewesen) von Petrus Damiani (1007–1072) : » Gott, der allmächtige Schöpfer der Dinge, wie er die Erde zum Gebrauch der Menschen erschuf, so auch durch jene natürlichen Kräfte und notwendigen Bewegungen, welche er den wilden Tieren eingab, dafür Sorge getragen, den Menschen heilbringend zu belehren. «361 Auf dieselbe Weise, also mit der Erkenntnis des Schöpfers, wurden nach Gloy auch die damals schon aufkommenden Studien zur Anatomie gerechtfertigt.362 Das Mittelalter hat eine eigentliche Interpretationskunst hervorgebracht, die als hermeneutische Methode für das Studium der Heiligen Schrift ebenso zur Anwendung kam wie für einen gewissen » Empirismus «, der » die Natur als zweite Quelle der Offenbarung begriff «.363 Sie unterschied vier verschiedene Arten, wie das geschriebene Wort interpretiert werden könne : etwa wie sich historische Fakten rekonstruieren lassen (sensus historicus); 357 Ebenda. 358 Ebenda, S. 148. 359 Ebenda. 360 Ebenda. 361 Nach der Übersetzung von Gloy, ebenda, S. 148. 362 Ebenda. 363 Ebenda, S. 149.

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wie die Geschichte im Hinblick auf Gott und einen hinter den Dingen verborgenen Sinn zu verstehen sei (sensus allegoricus); wie das Wort zu befragen sei, das Gott an den Menschen richtete, um sie zur Umkehr aufzufordern (sensus tropologicus); und wie dem zukünftigen Aufstieg in der Ordnung sowie der verheißenden Gemeinschaft des Menschen mit Gott nachzugehen (sensus anagogicus) sei.364 Wie der Topos des Legere in libro naturae nahelegt, war die Welt des Mittelalters durchdrungen von symbolisch-allegorischer Zeichenhaftigkeit, die grundsätzlich auf eine Dimension der Sinngebung verwies, als deren Stifter Gott galt. Dieses Zusammenfallen von Sinngebung und Sinnstiftung in Gott steht im Hintergrund jenes Universalismus, wie er für diese Zeit gemeinhin als charakteristisch erachtet wird.365 Wie Gloy ausführt leitet sich diese Vorstellung vom ordo-Gedanken her, der in der griechischen Philosophie wurzle, wie sie vorab in der platonischen Seinshierarchie, etwa im Liniengleichnis der Politeia und im Timaios, dargestellt sei.366 Die platonischen Systematisierungstendenzen wurden freilich in der Vermittlung der Neuplatoniker radikalisiert, sodass die platonischen Ideen – die bei Platon noch Vorbilder des real Seienden wie auch ontologisches Korrelat des Denkens waren367 – einen » Sitz im hypostasierten Nous «368 erhalten, aus dem sich im Mittelalter die Ordnung der Welt herleitete. Das antike und mittelalterliche Ordnungsdenken war auf Stabilität, Bestand und Erhalt ausgerichtet und abstrakte Begriffe galten beiden, wenn auch in unterschiedlicher Auslegung von Universalität (einmal als unpersönliche Natur, einmal als personalisierte Natur), als Voraussetzung dafür, dass die Welt und die Dinge nach den Regeln der logisch folgerichtigen, respektive der grammatisch korrekten Auslegung erfasst werden konnten. In der hermeneutischen Methode des Mittelalters musste ein Begriff formal und strukturell betrachtet, nach den fixen (quasi axiomatischen) Proportions- und Symmetrieverhältnissen zwischen den idealen Seinsstufungen deduktiv herleitbar und darstellbar sein, und inhaltlich betrachtet musste ein Begriff mit der strengen archetypischen Ordnung vereinbar sein. Das Gesetzes- und Ordnungsdenken war streng ausformuliert und bestimmte nicht nur den Kosmos, sondern auch das 364 Ebenda. 365 Vgl. dazu beispielsweise Michael Hampe, Eine kleine Geschichte des Naturgesetzbegriffs, Frankfurt am Main 2007, insbesondere das Kapitel » Begriffsgeschichtliche Anmerkungen zur vormodernen Verwendung von Gesetz «, S. 45–63. 366 Karen Gloy, Die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens, S. 151/52. 367 Ebenda, S. 151ff. 368 Damit wird die mittelalterliche Vorstellung von einem Personengott ermöglicht, der in der christlichen Deutung an der höchsten Stelle der Seinshierarchie zu stehen hat : » So wird aus dem nicht allmächtigen Handwerkergott Platons, der im Blick sowohl auf vorgegebene Ideen wie auf vorgegebene Materie die Welt lediglich formt, der allmächtige christliche Schöpfergott, der nicht mehr auf externe Ideen zu schauen braucht, sondern nach selbsteigenen Gedanken die Welt erschafft. « Gloy, ebenda, S. 152.

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Leben und Denken insgesamt, » im Feudalismus des Staates wie in der Hierarchie der Kirche, in der Ständeordnung der Handwerker wie in der Gliederung der Familie «.369 Die platonischen Ideen und ihre Seinshierarchie wurden zu einem neunfachen Hypostasensystem (eines paradoxerweise verdinglichten, aber trotzdem idealen Seins) ausgebaut, dessen Rangabstufung streng geregelt war. Die für Platon noch transzendenten Ideen wurden in ein Immanenzsystem integriert, das von einem sich nur auf sich selbst beziehenden Geist kontrolliert wurde – dem Geist Gottes. Damit konnte der nicht allmächtige Handwerkergott Platons, der, wie Gloy schreibt, » im Blick sowohl auf vorgegebene Ideen wie auf vorgegebene Materie die Welt lediglich formt «370, eine Personalisierung erfahren. Gott wurde zu einem persönlichen Gott, zu einem allmächtigen christlichen Schöpfergott, » der nicht mehr auf externe Ideen hinzuschauen braucht, sondern nach selbsteigenen Gedanken die Welt erschafft «.371 Interessanterweise war für diese Übersetzung des platonischen Denkens vor allem ein Ausdruck problematisch : derjenige des Paradigmas (parádeigma). Er wurde in der Chalcidius-Übersetzung des Timaios bezeichnenderweise mit dem Ausdruck archetypus wiedergegeben – darauf fuße die christliche Deutung, Gloy zufolge, wenn sie die Ideen als Gedanken Gottes deutet und zu archetypischen Vorstellungen erkläre, die dem Geist Gottes entstammen, der nun als mundus archetypus begriffen werde.372 Diese Gliederung des Seins machten die Logik und die Metaphysik des Mittelalters im Wesentlichen aus, wobei der logischen Einteilung nach dem Motto ens logicum est umbra entis realis auch die reale Seinseinteilung entsprach : » Das logische Sein war Abbild des realen Seins «.373 So lautet demnach die scholastische Formel ens et verum convertuntur (Sein und Wahrheit stimmen überein), aber genau diese wird zu Beginn der Neuzeit zunehmend durch ein anderes Axiom ersetzt : factum et verum convertuntur (Tatsache und Wahrheit stimmen überein) – selbst wenn, so Gloy, die damit verbundene 369 Ebenda, S. 151. 370 Ebenda, S. 152. 371 Ebenda. 372 Vgl. ebenda, S. 152ff. Interessant wäre insbesondere auch die Betrachtung der Rolle von Archetypen im Strukturalismus des 20. Jahrhunderts. Vgl. dazu beispielsweise François Wahl, Einführung in den Strukturalismus, Frankfurt am Main 1973 [1968]. 373 Gloy, ebenda, S. 153. Allerdings schiene es wichtig zu unterscheiden, dass dasjenige Denken, das die Antike als Logik entwickelt hatte, sich mit diesen Veränderungen in eine Grammatik wandelte, die nicht mehr der Metaphysik diente, sondern der Theologie gehorchen musste. Diese Unterscheidung ist für unseren Kontext nicht unbedeutend, weil sie ausdrückt, dass der Status des Technischen zwar in der Antike auch als für das Denken transparent gegolten haben mag, dass aber die Moralisierung des Technischen als etwas dem Natürlichen Gegenüberstehendes, sich erst mit der Subsumption von Metaphysik unter Theologie so drastisch entwickeln konnte. Seither erst stellt sich das Problem, zwischen verwerflichem weil nur konsumorientertem, und preisendem weil nachhaltigem Einsatz von Technik zu entscheiden.

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Methode, die der scholastischen grammatischen Logik über die Entwicklungen in der zunehmend analytischen Mechanik wieder neue Freiräume zuspielt,374 erst in der Renaissance und dann vorallem bei Giovanni Battista Vico (1668–1744) zur vollen Entfaltung gelangt sei. 375 Diese Entwicklung habe sich laut Gloy durchaus schon im späten Mittelalter angekündigt, da sie im Topos des Buches der Natur selbst angelegt sei.376 Denn beim Lesen eines Textes geht es einerseits darum, sich ihm unterzuordnen und sein eigenes Denken dabei preiszugeben, um völlig in das Geschriebene eindringen zu können.377 Aber andererseits bleiben die Buchstaben Hieroglyphen wie das Lesen einer fremden Sprache, die man zwar wahrnimmt, aber nicht deuten kann, ohne sie zu verstehen. Wirkliches Verstehen – und darin bestand ja die mittelalterliche Interpretationskunst – » verlangt den Bezug des vorgegebenen Materials auf einen dahinterstehenden Sinn «.378 Und dieser Sinn kommt erst in einer » Einheit des Mannigfaltigen « zum Ausdruck, die er selbst konstituiert.379 Der Bezug der Zeichen zu einem Sinn stellt sich nicht von allein her. Er wird hergestellt durch das Subjekt in » Gestalt eines hermeneutischen Vorentwurfs, auf den hin die Zeichen interpretiert werden « können.380 Diese beiden Momente sind in jedem Lesen eines Textes schon angelegt, und Gloy sieht darin ideen­geschichtliche Stadien eines Wandlungsprozesses, der diesen Topos des legere in libro naturae betrifft.381 Noch Galilei war der Meinung, das Buch der Natur sei von Gott geschrieben, jedoch – und darin drückt sich eine andere zeichentheoretische Denkform aus – für ihn jetzt nicht mehr in den Buchstaben des Alphabets, sondern in der Sprache der Mathematik. Dies mag als subtile Verschiebung erscheinen. Zeichentheoretisch bedeutet sie aber nichts anderes als eine Umwertung in der Haltung und im Selbstverständnis des Lesenden. Zwar verläuft diese Umwertung von einer mittelalterlich-kontemplativen Haltung zu einer neuzeitlichaktiven zweifellos graduell und in verschiedenen Linien gleichzeitig und zueinander verschoben. Gloys dualem Schema einer Passivität und einer Aktivität wollen wir hier trotzdem382 – mit entsprechenden 374 Vgl. dazu auch Vinzenz Rüfner, » Das Formproblem der Neuzeit und die Wende der Gegenwart «, in : Beiträge zur christlichen Philosophie, Heft 4, 1948, S. 3–34, insbesondere S. 9. 375 Karen Gloy, Die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens, S. 150, vgl. auch 160ff. 376 Ebenda, S. 150, 377 Ebenda. 378 Ebenda. 379 Ebenda. 380 Ebenda, vgl. auch 160ff. 381 Ebenda, S. 150. 382 » Mag auch die Einteilung der Geschichte des Topos in zwei Phasen grob und unzulänglich sein, so enthält sie doch ein Stückchen Wahrheit. Während da Früh- und Hochmittelalter den rezeptiven Aspekt hervorkehren, betont das ausgehende und in die Neuzeit hinüberführende Mittelalter den konstruktiven, produktiven Aspekt. « Gloy, ebenda, S. 150.

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Vorbehalten – folgen.383 Dieses Schema erlaubt es nämlich durchaus, die Ausweitung und Öffnung des endlichen Kosmos zum unendlichen Universum der Renaissance und der Neuzeit implizit bereits im späten Mittelalter angelegt zu sehen.384 Es lassen sich insbesondere drei Tendenzen erkennen, die von dieser Verschiebung des Passivitätspols zum Aktivitätspol hin ausgehen : von einer Überlieferung des Wissens vom Mündlichen zum Schriftlichen und von der Vorstellung eines Voluntarismus der göttlichen Absichten und damit der beunruhigenden Vorstellung von einem Willkürgott schließlich hin zur Auflösung dieses Konfliktes für den Einzelnen, hin zur Vorstellung von der Ebenbildlichkeit des Menschen mit Gott.385 Man könnte von einer (für mittelalterliche Verhältnisse) ungemeinen Dokumentationswut sprechen, in der sich die Kunst der Interpretation zunehmend entfaltet hat : Um Gott immer besser kennenzulernen, zeigte sich das Bestreben, alles und jedes dokumentarisch festzuhalten.386 Mit einer damit einhergehenden geschärften und systematisierenden Beobachtung entwickelte sich nun die Vorstellung von einem Voluntarismus – der Wille Gottes wurde notgedrungenerweise über den Intellekt gestellt weil sich nur so die zunehmend zahlreich dokumentierten Katastrophen, Wunder, Unregelmäßigkeiten allgemein in ein Weltbild integrieren ließen. Die Annahme eines göttlichen Willens führte einerseits zu der Vorstellung von einem Willkürgott, die noch Martin Luther beunruhigte, und andererseits regte diese Annahme aber auch die Vorstellung von einem Gott an, der sich selbst Prinzipien geschaffen haben soll, um seinen Willen zu relativieren. Eine solche Vorstellung klingt etwa in Albert Einsteins Äußerung an : Gott würfelt nicht.387 Die Vorstellung von einem Voluntarismus allerdings entwickelte auch Konsequenzen entgegengesetzter Wirkung, wie Gloy ausführt : hin zu einer zunehmenden Selbstverherrlichung des Menschen, ausgehend von der mittelalterlichen These der Ebenbildlichkeit Gottes.388 Konkret hatte sich das Problem 383 Da hier keine detaillierte Darstellung der geschichtlichen Zusammenhänge im Zen­ trum steht, sondern die einiger struktureller Züge, scheint uns diese eher grobkörnige Einstellung gerechtfertigt. 384 Gloy, ebenda, S. 154ff. 385 Vgl. dazu viel ausführlicher Gloy, ebenda, S. 153ff. 386 Siegert bezeichnet die damalige Zeit und ihre Zeichenpraktiken als anbrechende » Zeit der großen Bürokratie «. Bernhard Siegert, Passage des Digitalen, Teil 1, S. 21–109. 387 Vgl. hinsichtlich der Konsequenzen dieser Annahme (und hinsichtlich deren Aktualität) das Buch des Mathematikers Ian Stewart Does God Play Dice ?. Er trägt darin Ergebnisse aktueller Mathematik zusammen, die nach seinem Befund allesamt nicht hinreichend Eingang in die angewandte Forschung finden können, weil der geistesgegenwärtige Konsens unserer Zeit dieser Haltung noch tabuisierend gegenübersteht. Nur so lässt sich seiner Meinung auch erklären, warum die Mechanisierung dieser Willkür in der Statistik selbst dort so erfolgreich auf Akzeptanz stößt, wo sie nicht als Instrument für das Zusammentragen einer Datenlage zum Ausgang für eine Interpretation gilt (wie dies in den frühen Anwendungen durchaus der Fall gewesen war), sondern in einer repräsentativen Funktion anstelle einer Interpretation. Ian Stewart, Does God Play Dice ?, London 1989. 388 Karen Gloy, Die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens, S. 153.

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angesichts von menschlichen Artefakten gestellt, also in Fragen wie : Wo haben solche Ideen wie diejenigen einer Weberlade, eines Stuhls oder eines Zaumzeugs » ihren Ort « ?389 Für Platon orientierte sich die Kunst an der Natur, und diese wiederum an den universellen Ideen – für ihn herrschte ein durchgängiges Imitationsverhältnis. Die Vorstellung von frei entworfenen künstlerischen Artefakten, ob als Erfindung oder als Kombination aus vorgegebenem Material, stellte für das mittelalterliche Denken ein philosophisches Problem dar, für das es laut Gloy keine Lösung gab.390 Nicolaus Cusanus (1401–1464) hat schließlich einen christlichen Unendlichkeitsbegriff in die Philosophie eingeführt und damit eine unwiderrufliche Differenz im Universaliendenken der damaligen Zeit freigesetzt. In seinem Dialog Idiota de mente (1450) behandelt er diese Frage am Beispiel des Löffelschnitzers : Woher hat er die Idee von einem Löffel, da diese Idee doch offensichtlich nicht aus der Natur stamme ?391 Cusanus formuliert eine Antwort, indem er den Status des Menschen als alter deus, als zweiten Gott, bestimmt.392 So schreibt er : » Dei potentia creativa non sit evacuata in ipsius creatione. « (Die Schöpfermacht Gottes ist in seiner Schöpfung nicht erschöpft.)393 Nach Cusanus’ Lehre ist die Welt » ausgefaltet « (explicatio) aus dem Wesen Gottes, in das sie zuvor » eingefaltet « gewesen war (complicatio).394 Demnach ist die Welt, so wie sie ist, nurmehr eine kontingente, keine notwendige Explikation mehr. Als alter deus wird so das menschliche Denken in der Folge von Cusanus zum poietischen Vermögen (virtus fingendi), das allerdings sein Paradigma im schöpferischen Geist Gottes hat.395 Der Löffelschnitzer kann für ihn somit zum Imitator Gottes werden, dessen Kunst nun schlichtweg als unbegrenzt gefasst wird (ars infinita). Der Kunsthandwerker Cusanus muss so nicht mehr auf den Kosmos schauen, um von dort seine Ideen zu empfangen, sondern auf sich selbst.396 Cusanus hat wohl geglaubt,397 mit dieser Aufspaltung in eine Sphäre des Potenziellen und eine des Aktuellen den mittelalterlich-christlichen 389 Ebenda, S. 154. 390 Ebenda. 391 Ebenda. 392 Entsprechend sieht Gloy in ihm auch einen frühen Vorläufer der Genietheorie. Nur unschwer lässt sich in der Formulierung dieses Problems auch eine frühe Formulierung dessen erblicken, was Deleuze als Problem der Virtualität formuliert hat. 393 Nikolaus von Kues, Philosophisch-Theologische Schriften, Wiesbaden 2005, S. 276f., zitiert nach Gloy, ebenda, S. 154. 394 Deleuze stellt diese Complicatio-Explicatio-Struktur, insbesondere ihre Weiterführung in Gottfried Wilhelm Leibniz’ Monadologie, als eine der genealogischen Linien für die philosophische Konzeption von Virtualität dar. Vgl. Gilles Deleuze, Die Falte, Frankfurt am Main 1996 [1988], hier insbesondere das Kapitel » Inkompossibilität, Individualität, Freiheit «, S. 99–125. 395 Vgl. Karen Gloy, Die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens, S. 154. 396 Wie Gloy bemerkt ist es beachtlich, dass die Idee der Originalität zunächst nicht in der Kunst im engeren Kreis entwickelt wurde, in der Malerei oder Bildhauerei, sondern in der handwerklichen und technischen Kunst. Vgl. Gloy, ebenda, S. 154. 397 Vgl. Karl-Heinz Volkmann-Schluck, Nikolaus Cusanus. Die Philosophie im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, Frankfurt am Main 1957.

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Glauben ans Universelle zu stärken. Sein Bestreben bestand vermutlich auch darin, eine Möglichkeit zu finden, um weiterhin an die unerschöpfliche Kraft Gottes glauben zu können. Wie Sloterdijk in seiner Rede über den Beitrag Giovanni Boccaccios zur Fabulier- und Erfindungskunst dargelegt hat, war dieser Glaube im 14. Jahrhundert tatsächlich tief erschüttert.398 Ganz Europa wurde von mehreren Pestwellen heimgesucht, auf die Boccaccio in seinen Erzählungen des Decamerone Bezug nahm, in dem er die moralische Zerrüttung in Florenz zu dieser Zeit beschrieb.399 Sloterdijk sieht in diesem Werk den Anfang einer Tradition des Fabulierens begründet, dessen Rolle nicht mehr länger eine traditionssichernde sein kann, sondern die sich seither zunehmend als ordnungsstiftende versteht.400 Dass sich das Hingeben an Einfallsreichtum, selbst wenn es im Dienste von Traditionssicherung geschieht, leicht in sein Gegenteil verkehren und Ambitionen wecken kann, diesen Einfallsreichtum progressiv zur Ordnungsstiftung einzusetzen, verweist auf die ebenso grundlegenden wie ambivalenten Konsequenzen einer Affirmation des Differenz- und Unendlichkeitsdenkens. Nach mittelalterlichem Weltbild war die Hierarchie und Struktur des Seins durch als konkret und zum guten Leben gehörend empfundene Werte bestimmt, wie der Wissenschaftshistoriker Alexandre Koyré (1892–1964) betont.401 Das philosophische Denken habe um Überlegungen zu Wertvorstellungen » wie Vollkommenheit, Harmonie, Bedeutung und Zweck « gekreist. 402 Diese sieht Koyré mit dem Preisgeben der begrenzten Ordnungssystematik in einer » völlige[n] Entwertung des Seins « beendet, abgelöst durch ein » grenzenloses Universum, das durch die Identität seiner fundamentalen Bestandteile und Gesetze zusammengehalten wird und in dem alle Bestandteile auf derselben Stufe des Seins stehen «.403 Die Zerstörung der alten Ordnung des Kosmos vollzieht sich für ihn in einer Linie von Cusanus bis zu Isaac Newton. Überblickend merkt er an, dass die als 398 Peter Sloterdijk, » Natur, Nachahmung, Kunst und Künstlichkeit «, Vortrag, gehalten im Rahmen der Reihe Natur – ein fünfteiliger Zyklus in Wort und Klang, konzipiert von Konrad Hummler, Rudolf Lutz und Michael Wirth, in St. Gallen am 01.05.2007. 399 Vgl. beispielsweise Winfried Wehle, » Boccaccios Decameron oder die Kunst des Lebens «, in : Giovanni Boccaccio, Das Dekameron, Düsseldorf und Zürich 1991, S. 855–876. 400 Im Rahmen seines Projekts einer » phantastischen Philosophie « sieht Sloterdijk damit sogar die Wende des neuzeitlich-modernen Diktums » factum et verum convertuntur « zu einem » fictum et verum convertuntur « eingeleitet. Vgl. dazu vor allem Peter ­Sloterdijk, Tau von den Bermudas; vgl. auch Vera Bühlmann, » Tau, und zwar von den Bermudas. Peter Sloterdijks analytisches Spiel mit der synthetischen Kraft phantastischer Philosophie «, in : Marc Jongen, Sjoerd van Tuinen und Koenraad Hemelsoet, Die Vermessung des Ungeheuren. Versuche über Peter Sloterdijk, München 2009, S. 56–72; sowie Peter Sloterdijk, Zur Sprache kommen – Zur Welt kommen, Frankfurt am Main 1989. 401 Alexandre Koyré, Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum, Frankfurt am Main 1980, S. 11ff., hier zitiert nach Elisabeth List, Vom Darstellen zum Herstellen, S. 100. 402 Koyré, ebenda, S. 11ff. 403 Ebenda.

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Zerstörung charakterisierten Entwicklungen Ausdruck eines Prozesses seien, » in dessen Folge der Mensch – wie bisweilen gesagt wird – seinen Ort in der Welt, oder vielleicht genauer : eben diese Welt, in der er lebte und über die er nachdachte, verlor […] und das gesamte Gefüge seines Denkens ändern und neu gestalten musste. «404 Die naturwissenschaftliche und philosophische Revolution zu Beginn der Moderne, so Koyré, habe tatsächlich bewirkt, » daß die Vorstellung von der Welt als endliches, geschlossenes und hierarchisch geordnetes Ganzes « sich in zwei Teile spalten konnte : » die Scheidung der Welt der Werte und der Welt der Fakten «.405 » Relationenontologie « oder Die neuzeitliche ­Integration von Bewegung in die Art und Weise, V­erhältnisse zu bestimmen Noch für Galileo Galilei (1564–1642) war die Natur in ein Buch geschrieben, jedoch für ihn nun in der Sprache der Mathematik.406 Eine exakte Naturerkenntnis ließ sich für ihn nurmehr mittels Mos Geometrico (nach der geometrischen Methode) gewinnen – durch die Aufstellung von Axiomen, Definitionen, Postulaten, Petitionen und Konklusionen mit den » Buchstaben «, die für ein solches Buch unentbehrlich sind : » Dreiecke, Vierecke, Kreise, Kugeln, Kegel, Pyramiden und andere mathematische Figuren. «407 Damit einher gingen zwei verschiedene mathematische Verfahren : zum einen die mathematische Beschreibung der Natur (descriptio), zum anderen die Reduktion der sinnlich erfahrbaren Dinge auf mathematische Prinzipien in Form von Reduktionsketten (reductio).408 404 Ebenda. 405 Ebenda. 406 » Die Philosophie ist in diesem großen Buch niedergeschrieben, das vor unseren Augen immer offen liegt (ich meine das Universum), welches wir aber nicht verstehen können, wenn wir nicht zuvor lernen, die Sprache zu verstehen und die Zeichen zu deuten, in denen es geschrieben ist. Es ist in der mathematischen Sprache geschrieben, und seine Buchstaben sind Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren; ohne diese Mittel ist es dem Menschen unmöglich, ein einziges Wort zu verstehen […]. « Galileo Galilei, Übersetzung nach Karen Gloy, Die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens, S. 156. 407 Galilei, ebenda. 408 Die Sinnenwelt wurde in ihren qualitativen Momenten zunehmend auf quantitative Prinzipien zurückgeführt, mit denen auch der Überstieg eines Etwas in ein anderes Genus abgebildet wurde. Aus dem Mittelalter sind vor allem die grafischen Darstellungen von Nikolaus von Oresme bekannt, der Intensitätsveränderungen, wie sie beispielsweise bei Erwärmung und Abkühlung oder bei Geschwindigkeitswechsel stattfinden, in Diagrammen wiedergab, das heißt auf geometrische Punkte und Linien zurückführte. Seine Methode der sogenannten Formlatituden ordnete die Uniformität und Difformität von Qualitäten und Geschwindigkeiten geometrischen Figuren zu. Laut Gloy war Oresme der Erste, der den variablen Wert der Intensität einer Qualität oder der Geschwindigkeit einer Bewegung für jeden Körperpunkt oder jeden Augenblick eines Zeitabschnittes durch eine in einer bestimmten Richtung abgetragene Strecke darstellte. Nach ihrer Interpretation arbeitete er damit der cartesianischen analytischen Geometrie vorab und hat auf jeden Fall die Wissenschaft um ein wertvolles methodisches Hilfsmittel bereichert. Vgl. ausführlicher : Karen Gloy, Die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens, S. 157ff.

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Beide sind bereits eine Entdeckung der Antike. Bekannt sind sie insbesondere aus dem platonischen Timaios, und im Rahmen christlichen Denkens konnten sie – bis zu den Avantgardisten der neuzeitlichen mathematischen Mechanik übrigens – mit einem viel zitierten Bibelwort gerechtfertigt werden : » Aber du hast alles geordnet nach Maß, Zahl und Gewicht. «409 Das Zusammentreffen der Mathematik mit dem antiken Gesetzesbegriff im ordo-Gedanken führte nach Gloys Darstellung410 zur Ausbildung des neuzeitlichen Naturgesetzes, das im Unterschied zum antiken Gesetzesbegriff, der eine konstante Struktur bezeichnet, mathematischen Charakter hat. In den vormodernen, antiken Verwendungsweisen von » Gesetz « und » Natur « habe der Ausdruck » Naturgesetz « ein Oxymoron dargestellt, wie Michael Hampe ausführt, denn das Natürliche war ehemals das, was » von selbst «, » ohne Gewalt und Zwang « und immer auf dieselbe Weise geschah.411 Der neuzeitliche Gesetzesbegriff benennt nun eine Gleichung, in die Variablen eingesetzt werden. Er bezeichnet jedoch keine unveränderliche Gestalt, sondern drückt vielmehr selbst eine Veränderung aus.412 War für Galilei die Mathematisierung der Natur noch als Beschreibung gedacht, so eröffnete sich mit einer zunehmenden Insistenz auf dem Eigencharakter der Mathematik das Bewusstsein für eine prinzipiell unbegrenzte Konstruierbarkeit in Raum und Zeit.413 Gloy spricht von einer Drei-Stadien-Theorie hinsichtlich des Wandels der Naturauffassung von der Antike bis zur Gegenwart.414 Das erste Stadium sieht sie in der Naturauffassung der griechischen Antike, die die Natur als eine vorgegebene, immer schon vorfindbare nimmt, die prinzipiell unabhängig ist vom menschlichen Erkennen 409 410 411 412

Bibel, Sapientia 11, 21, zitiert nach Gloy, ebenda, S. 156. Gloy, ebenda, S. 157ff. Vgl. Michael Hampe, Eine kleine Geschichte des Naturgesetzbegriffs, S. 49ff. » Und nicht nur zur Aufgabe des herkömmlichen Gesetzesbegriffs führte die zunehmende Bedeutung der Mathematik und Geometrie, sondern auch zum Bruch mit der bisherigen Naturauffassung und zur Öffnung des geschlossenen mittelalterlichen Systems. Die prinzipiell unbegrenzte Konstruierbarkeit in Raum und Zeit stand von Anfang an in Widerspruch zum geschlossenen Weltbild – eine Spannung, die sich schon bei Platon angekündigt hatte. Das Insistieren auf dem Eigencharakter der Mathematik, verbunden mit dem gleichzeitigen Entrücken der Gottesvorstellung als des ontologischen Fundaments der Welt, musste die Grenzen des antiken und mittelalterlichen Kosmos sprengen und ungewiss machen. « Karen Gloy, Die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens, S. 157. Deleuze wird mit seinem » umgewendeten Platonismus « die Konsequenzen dieses Insistierens auf dem Eigencharakter der Mathematik in seiner Kritik am repräsentationalistischen Bild des Denkens ziehen und einen virtuellen Strukturbegriff ausarbeiten, auf den wir im Kapitel » Die Idee als ›Differential‹ des Denkens oder Zum Verhältnis von Struktur und Genese im Sprachspiel des Virtuellen « ausführlich eingehen wollen, S. 180ff. 413 Gloy sieht in der daraus resultierenden Spannung zum geschlossenen Weltbild allerdings einen Konflikt, der schon bei Platon angelegt sei. Vgl. Karen Gloy, Die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens, S. 157. 414 Ebenda, S. 165ff.

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und Handeln.415 Die Natur selbst ist hier kein Konstrukt. Sie wird nur » zum Zweck der verstehenden Aneignung unter ein technisches Modell gebracht und im Sinne des hermeneutischen Verstehensprozesses rekonstruiert. «416 Das zweite Stadium sieht Gloy im christlichen Mittelalter, das eine Radikalisierung dieses Gedankens insofern mit sich bringt, als dass die Natur nicht länger intellektuelles Konstrukt, sondern ein reales ist und zugleich Produkt des göttlichen Schöpfers, das der Mensch aufgrund seiner Ebenbildlichkeit mit Gott in seinem Geist nachzubilden vermag. Die Welt bleibt hier für den Menschen noch das andere.417 Im dritten Stadium schließlich, das Gloy in der Neuzeit verortet, ändert sich dies : Die Gottessohnschaft des Menschen wird verabsolutiert, und der Mensch beginnt sich de facto als gottähnlich zu verstehen, als eine Instanz, die » die Welt prinzipiell zu ihrem Produkt erklärt, das wenngleich noch nicht voll realisiert, so doch sukzessiv zu realisieren ist «.418 Zur Begegnung mit den grenzenlosen Strömen der Weltmeere zu Beginn der Neuzeit gehörte also auch, das formale wie strukturelle Rüstzeug und die Verhältnisbestimmungen zwischen einem Teil wie dem Ganzem auf neue, nicht mehr ousia419 oder substanzontologische Weise zu denken. An die Stelle der erkenntnistheoretischen Bedeutung von Ideen bei Platon, ebenso wie an die Stelle der teleologischen, immanenten Beseeltheit bei Aristoteles und auch an die Stelle der mittelalterlichen hypostasierten Gedanken von Gott treten nun formale Funktionszusammenhänge. So konnte sich ein Weltbild der » formalisierbaren Physik « entwickeln, für das die von Koyré beschriebene Scheidung einer » Welt der Werte und der Welt der Fakten « die Voraussetzung darstellte.420 Das Bild einer Welt des begrifflichen Deutens von Natur veränderte sich zu dem eines formalen Konstruierens nach den Gesetzen der Natur, und das hieß in erster Linie : nach denjenigen der mechanischen Dynamik.421 Foucault hat unterschiedliche Arten des Weltbezugs als unterschiedliche Ordnungen des Wissens (Episteme) untersucht. 422 Er unterscheidet 415 Ebenda. 416 Ebenda. 417 Ebenda, S. 166. 418 Ebenda. 419 ousia ist der griechische Substanzbegriff. Neben Platon hat auch Aristoteles eine Seinslehre entwickelt. Seine Kritk an seinem Lehrer Platon war vor allem, dass sich mit dessen Seinslehre der Ideen die empirisch zu beobachtenden Werdensprozesse nicht befriedigend beschreiben und erklären ließen. So postulierte er den Wesensheiten innewohnende Kräfte, nach welchen sich die Materie von innen heraus organisiert und strukturiert. Aristoteles verstand das Prinzip der Bewegung der Erde als vitalistischen Finalismus. Vgl. dazu ausführlich Gloy, ebenda, S. 106ff. 420 Alexandre Koyré, Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum, S. 11ff. 421 Dabei kann die Avancierung der Mechanik als Teil der Physik schlechthin keinesfalls als selbstverständlich angesehen werden kann. Vgl. dazu Karen Gloy, Die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens. 422 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge.

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eine Episteme der » Ähnlichkeit «, die nach seiner Datierung bis ins 16. Jahrhundert andauerte,423 und eine Episteme der » Repräsentation «, die er während der sogenannten klassischen Epoche der Moderne bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wirksam sieht.424 Das Kriterium, an dem Foucault die Unterschiede festmacht, ist die Rolle und Struktur von Zeichen zur Gewinnung von Wissen. In seinem Buch beschäftigt ihn vor allem die zweite Episteme, zur Ordnung der Ähnlichkeit finden wir lediglich ein kleines Kapitel mit dem Titel » La prose du monde « von nur rund 30 Seiten. Diese kurzen Ausführungen können als eine Art Prolog gelesen werden.425 Foucault schreibt dort : » Bis zum Ende des sechzehnten Jahrhunderts hat die Ähnlichkeit im Denken der abendländischen Kultur eine tragende Rolle gespielt. Sie hat zu einem großen Teil die Exegese und Interpretation der Texte geleitet, das Spiel der Symbole organisiert, die Erkenntnis der sichtbaren und unsichtbaren Dinge gestattet und die Kunst ihrer Repräsentation bestimmt. Die Welt drehte sich in sich selbst : die Erde war die Wiederholung des Himmels, die Gesichter spiegelten sich in den Sternen, und das Gras hüllte in seinen Halmen die Geheimnisse ein, die dem Menschen dienten. «426 Unschwer können wir diese Schilderungen mit den bereits beschriebenen Darstellungen in Zusammenhang bringen. Foucault unterscheidet einige Figuren des semantischen Rasters dessen, was man damals unter Ähnlichkeit verstanden hat,427 die aber für unseren Kontext hier nicht relevant sind. Wichtiger sind uns dafür seine Bestimmungen zu den Zeichen. Er nennt jene Zeichen, in denen sich Ähnlichkeitsverhältnisse ausdrücken, » Signaturen «, und er beschreibt die grundlegende Rolle für die so organisierte Ordnung des Wissens folgendermaßen : » Die Ähnlichkeiten in ihrer Verborgenheit müssen an der Oberfläche 423 Es sei darauf hingewiesen, dass sich die gegenwärtige » Wissenschaft für Ähnlichkeit «, nämlich die Statistik, äußerst schwertut mit einem Diskurs über die Ähnlichkeit selbst; ein solcher scheint nachgerade inexistent zu sein. Vgl. für einen Überblick die Aufsatzsammlung von Gerd Gigerenzer u.a., The Empire of Chance. How probability changed science and everyday life, New York 1989. Obwohl es Dutzende von Maßzahlen gibt, die jeweils eine andere Varietät von Ähnlichkeit beinhalten, also eine eigentliche Multiplizität der Ähnlichkeit in Gebrauch ist, gibt es doch nahezu keinerlei methodenkritische Komparatistik über das Konzept der Ähnlichkeit oder gar eine Formalisierung ihres Differentials. 424 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 78-107. 425 So etwa der Vorschlag von Richard Heinrich in seiner Vorlesung » Ausdruck und Abdruck. Francis Bacon « am philosophischen Institut der Universität Wien im Wintersemester 2001/02. Ich beziehe mich auf den Abschnitt » Foucault über Ähnlichkeit und Repräsentation «, online (daher keine Seitenangaben) : http ://nomoi.philo.at/per/rh/ ellvau/fb/book1.htm (21.09.2008). 426 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 46. 427 Foucault bezieht sich dabei vor allem auf die Darstellungen von Pierre Grégoire, von dem er etwa folgende Unterscheidungen zitiert : » Amicitia, aequalitas (contractus, consensus, matrimonium, societas, pax et similia) consonantia, concertus, continuum, paritas, proportio, similitudo, coniunctio, copula. « Pierre Grégoire, Syntaxeon artis mirabilis, Köln 1610, S. 28. Vgl. auch bei Foucault selbst : Die Ordnung der Dinge, S. 46ff.

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der Dinge signalisiert werden. « 428 Er begreift die Ähnlichkeit und ihre verschiedenen Figuren, nach denen sich Wissen gliedern konnte, als eine » unsichtbare Form dessen, was aus der Tiefe der Welt die Dinge sichtbar machte «.429 Aus der Tiefe der Welt – dies kann als Referenz auf den Urheber des Sinns gelesen werden, der Zeichen schickt, die auf Ähnlichkeiten rückschließen lassen, die wiederum über Zeichen ausgedrückt werden, und so weiter. Tatsächlich besteht der Kern dieser Wissensordnung nach Foucault in einer Art von Zirkularität, die jedoch offen ist und in der die Konzepte Ähnlichkeit und Signatur in ihrer Bedeutung nicht zusammenfallen. Foucaults Modell besagt lediglich, dass ihre Unterscheidung keine dingliche mehr sein kann, sondern eine des Kontextes und der Funktion geworden ist. Darin zeigt sich die Konsequenz der von Koyré erwähnten Scheidung der Welt in eine der Werte und eine andere der Fakten. Sie geschieht just in jenem Moment, in dem die Zeichen – mit Foucault gesprochen – sich aus diesen Ähnlichkeitsverhältnissen emanzipieren und » Zeichen in der Fülle ihres Funktionierens werden «430. Die Frage nach dem Funktionieren der Konstruktionen ersetzt somit die alles organisierende Frage nach dem Sinn. Damit müssen in der klassischen Episteme der Neuzeit die Zeichen auch nicht mehr entziffert werden – ihre Verweisstruktur operiert in einem für den jeweiligen Funktionszusammenhang spezifischen Kontext und ist nicht mehr transzendent gegründet. Foucault meint zu dieser Differenz : » Als natürliches ist das Zeichen nichts anderes als ein den Dingen entnommenes Element […]. Es ist also vorgeschrieben, rigid, unbequem, und der Geist kann seiner nicht Herr werden. «431 Diese Charakterisierung soll nun sogleich zu einer kontrastieren, die den konsensualen und willkürlichen referenziellen Bezug der neuen Ordnung hervorhebt : » Wenn man indes ein vereinbartes Zeichen einführt, kann man es stets (und man muß es in der Tat) so wählen, daß es immer einfach, leicht zu erinnern und auf eine unbegrenzte Zahl von Elemente anwendbar, selbst teilbar und zusammensetzbar ist; das geschaffene Zeichen ist das Zeichen in der Fülle seines Funktionierens. «432 Wir nehmen Foucaults These als eine produktive, das heißt, der Disput um ihre Adäquatheit oder gar Wahrheit soll uns hier nicht beschäftigen.433 428 Foucault, ebenda, S. 56. 429 Ebenda, S. 57. 430 Ebenda, S. 96. 431 Ebenda. 432 Ebenda. 433 Heinrich merkt etwa kritisch an, dass er die These mit der Episteme der Ähnlichkeit nicht als wahre Aussage über die Zeit oder die Philosophie der Zeit nimmt. Für ihn sei sie » eine faszinierende, erhellende und produktive These «, aber etwas, das ganz sicher wahr sei, wenn Foucaults These wahr wäre, so Heinrich, » dass die Renaissance auch schon die Überwindung dieses Ähnlichkeitsdenkens war «. Vgl. Richard Heinrich, » Ausdruck und Abdruck. Francis Bacon «.

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Feststellen lässt sich auf jeden Fall, dass sich die Bezugsweisen von unserem Denken zur Welt derart verändert haben, dass sich eine vollkommen neue Art und Weise von Möglichkeit erschlossen hat, um größere Gesamtzusammenhänge zu beschreiben – und dabei auch einen gewissen Begriff von Bewegung zu integrieren. Mit der von Wilhelm Gottfried Leibniz (1646–1716) und Isaac Newton (1642–1727) gleichzeitig434 entwickelten höheren Analysis (Differential- und Integralrechnung) war es der modernen Wissenschaft möglich, aus einem abstrakten Formalismus Prozesse über die Zeit hinweg so exakt formal zu beschreiben, dass ihr Verhalten für einen bestimmten Moment oder Ort methodisch zu bestimmen war.435 So konnte eine spezifizierbare Konzeption von Bewegung in die differenzierte Bestimmung der Verhältnisse in Raum und Zeit integriert werden. Als Schlüsselmoment zu diesen Entwicklungen kann jedoch die Abspaltung eines rein formalen Raumes von der vorgängigen Substanzontologie gelten, wie sie René Descartes (1596–1650) mit seiner gelungenen Etablierung eines Koordinatensystems wegweisend befördert hat. Mit dieser Differenz ist die Unbegrenztheit und damit auch die Willkür einer jeden Setzung, wie wir sie schon bei Cusanus’ Konzeption einer unendlichen Schöpfungskraft festgestellt haben, in den » normalen Zeichenraum « eingebrochen. Bevor wir im folgenden Kapitel genauer erfahren, wie zu Beginn der Neuzeit die Möglichkeit einer formalen Ordnung im Element des Unendlichen auftauchte, einige Anmerkungen zum Übergang von einer Substanzontologie zu einer Relationenontologie, wie sie mit der Infinitesimalrechnung (einer Bezeichnung von Leibniz) respektive mit der Fluxionsrechnung (einer Bezeichnung von Newton) effektiv stattgefunden hat. Die antike Konzeption eines Substanzraumes wird gewöhnlich auf Aristoteles zurückgeführt.436 In der Antike galt der Kosmos (griech. für Ordnung, entspricht lat. » mundus «, Welt) als endlich, das heißt, nach damaliger Vorstellung war er von kugelartigen Sphärenschalen begrenzt. Eine Ordnung, die zum Unendlichen hin offen wäre, war schlicht nicht vorstellbar, da die Dinge von sich aus als ruhend angesehen wurden.437 Als Prinzip von Bewegung und deren Kausalketten erforderte dieses 434 Die beiden Wissenschaftler haben diese Mathematik im 17. Jahrhundert fast zeitgleich, aber unabhängig voneinander und vor gänzlich unterschiedlichem metaphysischem Hintergrund entwickelt. Noch zu ihren Lebzeiten entfachte sich ein Streit darüber, welcher von beiden als Urheber gelten kann. Die Argumente in diesem Streit sollen hier nicht von Belang sein. Vgl. dazu beispielsweise Jason Socrates Bardi, The Calculus Wars : Newton, Leibniz, and the Greatest Mathematical Clash of All Time, London 2007, oder Klaus Volkert, Geschichte der Analysis, Mannheim, Wien und Zürich 1988. 435 Die Veränderung des Methodenbegriffs, die damit verbunden ist, wird uns an späterer Stelle im Kapitel » Imagination und Methode oder Das Ende der Repräsentation durch die Vorstellung « ausführlich beschäftigen, S. 154ff. 436 Die Naturlehre von Aristoteles wurde später von der katholischen Kirche, insbesondere von Thomas von Aquin, übernommen. Vgl. dazu beispielsweise Hans Günter Zekl, Topos. Die aristotelische Lehre vom Raum, Hamburg 1990. 437 Dies ist anders im antiken Atomismus etwa von Lukrez und Epikur, die genau den Fall der Teilchen, also die Bewegung selbst, als Ausgangstheorem annahmen.

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Weltbild einen Anfang, einen sogenannten » ersten Beweger «, der in der Annahme Aristoteles’ das Geschehen der Welt bedingte. Diese göttliche Figur war sowohl Ziel (griech. telos) aller metaphysischen Überlegungen als auch prinzipieller Anfang (griech. arche) jeglicher Physik als Naturbeschreibung. Angesichts dieser Voraussetzungen der aristotelischen Bewegungs- und Raumlehre durfte es in der Natur (der Physik) keinen leeren Raum geben : Wenn alle Bewegungen im Raum kausal verursacht sind, dann müsste bei der Annahme von leerem Raum die Übertragung des Bewegungsimpulses durch ein Nichts hindurch erfolgen – und dies war undenkbar. Wie wir schon gesehen haben, hatte die Scholastik genau diesen Gedanken aufgenommen und Gott nicht nur als erste Ursache angesehen, sondern auch als allumfassende Substanz. Noch bei Descartes zu Beginn der Neuzeit wurden diese antiken und mittelalterlichen Voraussetzungen im Raumdenken beibehalten, auch er sah den Raum als sub­stanzielles Kontinuum an und folgerte daraus etwa die Unmöglichkeit, einen leeren Raum zu denken.438 Neu bei Descartes war die Doppelung der Welt in eine der materiellen Dinge (res extensa) und in eine der inneren Vorstellungen (res cogitans). Damit konnte er eine Distanz gewinnen gegenüber dem herkömm­lichen Ähnlichkeitsdenken. Anstatt die Welt anhand von Abbildungen idealer Körper und deren in der Geometrie geregelten Verhältnisse zu erkennen, wollte Descartes die Grundsätze der Geometrie analytisch fundieren : » Nicht die Geometrie lag ihm am Herzen, sondern die geistigen Waffen, die an ihr entwickelt werden konnten, die Methode, die Wahrheit zu finden. «439 In gewisser Hinsicht scheint er sogar die Geometer und Rechenkünstler seiner Zeit verachtet zu haben : » Es gibt in der Tat nichts Törichteres, als sich mit bloßen Zahlen und eingebildeten Figuren so eifrig zu beschäftigen, daß es den Anschein gewinnt, als wolle man sich mit der Erkenntnis derartiger Nichtigkeiten begnügen und sich diesen oberflächlichen Beweisen, die öfters durch Zufall als durch bewußte Kunst gefunden werden, so sehr hingeben, daß man sich dabei in gewißer Weise des Gebrauchs der Vernunft selbst entwöhnt. «440 Descartes hätte, so zumindest Paul Karlson in seiner Schilderung von dessen Bedeutung für das mathematische Denken, » Ernst [gemacht] mit der Forderung, die Welt rein verstandesmäßig zu begreifen «.441 Während die geometrische Darstellung der Mathematik mit Euklid aufgrund ihrer demonstrierbaren Anschaulichkeit als so wertvoll gegolten hatte, stellt Descartes – als methodischer Zweifler – nun die umgekehrte Frage : Er verließ sich nicht 438 Vgl. dazu insbesondere René Descartes, Über die Prinzipien der materiellen Dinge (1644), in : Jörg Dünne und Stephan Günzel (Hrsg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2006, S. 44–57. 439 Paul Karlson, Zauber der Zahlen. Eine unterhaltsame Mathematik für jedermann, ­Berlin 1954, S. 159. 440 Descartes, hier zitiert nach Karl Jaspers, Descartes und die Philosophie, Berlin 1937, S. 34. 441 Paul Karlson, Zauber der Zahlen, S. 157.

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auf die Formen, um den Zahlen zu glauben, sondern berief sich auf die Zahlen, um den Formen zu trauen. Descartes beschäftigt sich in seiner analytischen Geometrie mit der Abbildung der Elemente der Geometrie auf das Zahlenreich.442 Im Zuge dessen gelangte er zu der Einsicht, mit seinem bereits erwähnten Koordinatensystem auch den Ursprung hypothetisch, nach Belieben, verschieben zu können. Welch eine Ungeheuerlichkeit für seine Zeitgenossen, obwohl die euklidische Konzeption des Raumes dadurch noch nicht tangiert war ! Die Entwicklung der rein formalen Symbolisierung von Raum in ihrer Loslösung des scholastischen Sustanzdenkens seit ihren Anfängen ist mit der Frage nach der Natur des » realen « Raumes verwoben. Und diese Frage, glaubt man dem Wissenschaftsphilosoph und Mathematiker Michel Serres, ist auch heute noch aktuell : Es gibt eine » regelrechte Opposition zwischen einem leeren Universum und einer erfüllten Welt, zwischen einem homogenen Universum und einer differenzierten Welt, zwischen einem ewigen Universum und einer unvorhersehbaren Welt «.443 Unschwer lässt sich in dieser Opposition ein Zwist zwischen der antiken, aristotelischen und der modernen Tradition erkennen : Während die Erstere in der Technik eine Überlistung der Natur gesehen hatte, sieht die zweite in ihr deren Nachahmung. Aristoteles war in seiner peripatetischen Schrift Quaestiones mechanicae der Auffassung, dass die Natur » in vielen Fällen nämlich « dem entgegenarbeite, » was uns nützt «.444 Er schreibt ferner : » Denn die Natur verhält sich immer gleich und einfach, während der Nutzen vielfältig wechselt «, um kurz darauf den Dichter Antiphon zu zitieren : » Durch die Technik nämlich beherrschen wir das, wodurch wir von der Natur besiegt werden. «445 Im klassischen Weltbild der Moderne nun fielen Naturerklärung und mechanische Erklärung zusammen, wobei das mechanische Erklärungsprinzip zu nichts anderem wurde als zum Erklärungsprinzip der natürlichen Vorgänge schlechthin. » Die Positionen der scheinbar neuen Diskussion zwischen den Parteigängern des Ganzen und denen der Zerlegung der Teile «, so führt Serres seine These zur anhaltenden Aktualität dieses Themas aus, » werden ursprünglich schon im 17. Jahrhundert eingenommen «, und zwar » als es um das Bindeglied zwischen Mathematik und Mechanik geht. «446 Was mit diesem Bindeglied 442 Es gibt Diskussionen darüber, ob Descartes nicht zu Unrecht zahlreiche Neuerungen der frühen Neuzeit zugeschrieben werden. Er scheint insbesondere nach der Darstellung Karlsons seinen analytischen Zugang zur Geometrie etwa zeitgleich mit Pierre de Fermat (1607–1665) gefunden zu haben (Paul Karlsons, Zauber der Zahlen, S. 163). Diese Betrachtungen sollen hier nicht behandelt werden; für eine Darstellung siehe beispielsweise Karl Jaspers, Descartes und die Philosophie. 443 Michel Serres, » Anfänge «, S. 10ff. 444 Aristoteles, hier zitiert nach Karen Gloy, Die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens, S. 169. 445 Ebenda. 446 Ebenda, S. 9f.

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auf dem Spiel steht, beschreibt er wiederholt als die Möglichkeit eines » Übergangs vom Lokalen zum Globalen «447, was durch David Hume auch als das Problem der Induktion bekannt ist. Dieser Übergang markiert nichts anderes als das Problem der Verallgemeinerung : Wie kann man aus einer notwendigerweise immer nur endlichen Beobachtung auf universelle oder zumindest allgemeingültige Aussagen schließen ? Mit anderen Worten : Es geht um die Bedingungen und um die Grenzen der Möglichkeit, lineare, kausale Gesetzmäßigkeiten für die Beschreibung der Ordnung der Dinge vorauszusetzen.448 Tatsächlich wird, sobald die Frage nach der Natur des » realen « Raumes erhoben wird, gleichzeitig die Annahme von einer Gleichförmigkeit der Natur problematisch. Natura non facit saltus449 – die vorausgesetzte Stetigkeit von natürlichen Veränderungen und Bewegungen war im mechanistischen Weltbild gleichsam zur symbolischen terra firma der modernen Wissenschaft inmitten der geografisch von unbegrenzten Meeren umschwemmten Welt geworden.450 447 Damit nicht zu verwechseln ist das Primat der Lokalität in der Topologie und der Theorie komplexer Systeme bzw. dem entgegengesetzt, das Primat des Globalen in der klassischen Statistik. Angesichts dieses Kontrastes ließe sich eine zweite geradezu inverse Problematik formulieren, eben die eines Übergangs vom Globalen ins Lokale : Wie kann mit lokalen Interaktionen, Regeln etc. das globale Systemverhalten beschrieben werden, ohne schon von Beginn an das globale Ganze vorauszusetzen ? Genau diese Frage wird durch das Abheben auf die Mechanismen invoziert, zum Beispiel in der Biologie : Patrick P. G. Bateson, » Levels and Processes «, in : ders. (Hrsg.), The Development and Integration of Behaviour. Essays in Honour of Robert Hinde, Cambridge 1991, S. 3–18. 448 Damit wird deutlich, dass es mit den Calculus Wars nicht nur um mathematische Konventionen gegangen sein kann, sondern vielmehr um etwas Grundsätzliches. Der Aktualitätspol der Zeitskala, die Serres aufspannt, besteht in den sogenannten nicht linearen oder komplexen Systemen, die heute Teil der naturwissenschaftlichen Forschung geworden sind. Serres bezieht sich hier auf die Diskurse rund um » Komplexität « und » Selbstorganisation «, die im 20. Jahrhundert in zunehmender Dichte, Intensität und Reichweite aufflackern. Vgl. beispielsweise Sandra Mitchell, Komplexitäten. Warum wir erst anfangen, die Welt zu verstehen, Frankfurt am Main 2008, oder Wolfgang Krohn und Günther Küppers (Hrsg.), Selbst-Organisation. Aspekte einer wissenschaftlichen Revolution, Braunschweig und Wiesbaden 1990. 449 Vgl. Georg Büchmann, Mutation, Geflügelte Worte, 23. Auflage, Berlin 1907, S. 451, zitiert nach Friedrich Kirchner, Wörterbuch der philosophischen Grundbegriffe, online : http ://www.textlog.de/1850.html (18.01.2009) : Natura non facit saltus (lat. : Die Natur macht keine Sprünge) bedeutet : In der Natur entwickelt sich alles stetig, stufenweise. Es ist ein von Leibniz und Kant öfter verwendeter Satz, der aber älteren Ursprungs ist. Amos Comenius (1592–1671) formulierte in seiner Schrift De sermonis Latini studio (1638) die Worte » Natura et Ars nusquam saltum faciunt, nusquam fecerunt. « Die Wendung » Natura non facit saltus « rührt von Carl von Linnés Philosophia Botanica (1751) her. 450 Die symbolische Verfasstheit dieser terra firma, dieses festen Grundes, wird entsprechend auch Anlass der sich bereits zur Mitte des 19. Jahrhunderts ankündigenden Grundlagenkrise des formalen Strukturdenkens : Wenn die Mathematik die Logik nicht auf stabiler, sondern lediglich konventionell auf symbolischer Grundlage fundieren kann, kann dann vielleicht die Logik der Mathematik verlässliche Fundamente bereitstellen ? So ließe sich der Kern dieser Krise formulieren. Vgl. für eine Darlegung des mit der Algebra problematisch gewordenen Verhältnisses zwischen Logik und Mathematik Alfred North Whitehead, A Treatise on Universal Algebra With Applications, Cambridge 1907 [1898].

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Die Relativierung von Stetigkeit als ­Voraussetzung oder Vom deterritorialisierten Denken bis zur ­rekombinanten Synthese » Aus dem Elementarraum des Meeres ist der Elementarraum des Digitalen und der Medien geworden. Walten […] und Schalten werden dasselbe. Der Mensch ist ein Landtier, stellte Carl Schmitt einmal fest. Das stimmt. Aber ein im Symbolischen radikal vom Grund losgemachtes (oder grundlos gemachtes) Landtier. Wir sind alle fliegende Holländer. «451 Wenn Serres eine Opposition » zwischen einem leeren Universum und einer erfüllten Welt, zwischen einem homogenen Universum und einer differenzierten Welt, zwischen einem ewigen Universum und einer unvorhersehbaren Welt «452 als Diskussionsmatrix für die Gegenwart herausstellt, mag das zumindest auf den ersten Blick erstaunen. Er sieht in dieser Problematik jedoch auch heute noch den Bezug der Symbole zur Welt verhandelt. Nach seinem Befund führte gerade die von Foucault sogenannte Episteme der Repräsentation, die Annahme der Repräsentierbarkeit als epistemischer Voraussetzung, dazu, dass uns der Bezug zur Welt abhanden gekommen ist : » Traurig, aber wahr : wir hatten die Welt verloren […]. Als Diskurs über den Diskurs war sie [die Philosophie, Anm. d. Verf.] schwarz auf weiß zu lesen und vergaß die Welt. Und welche Überraschung : Den Wissenschaftlern ging es nicht anders. Jacques Monod setzte uns aus – als Fremde, fehl am Platz in einem Universum ohne Bezug zu uns. «453 Wer aus diesen Worten eine romantische Sehnsucht nach verlorener Einheit heraushört, greift wohl zu kurz. Serres plädiert nicht für ein Zurücknehmen des Grades an Abstraktheit im philosophischen und wissenschaftlichen Denken, sondern ganz im Gegenteil : Der wissenschaftliche Geist, der uns der Möglichkeit einer Sinndimension der Welt entfremdet hat, ist seiner Meinung nach nicht etwa zu abstrakt, sondern nicht abstrakt genug. Das Universale als Geltungsbereich von bestimmbaren Gesetzen sei nicht die Regel, nur die Ausnahme, so Serres.454 Man solle sich nur nicht täuschen : Die Genauigkeit wachse, wenn sich das Denken auf die Vielfalt einlasse, das Wissen multipliziere dann seine Strenge.455 Serres äußert sich hier so emphatisch, um einem nachklassischen Verständnis des Integralkalküls und der Dynamik die Bahn zu ebnen, in welchem die Heterogenität des Natürlichen dessen klassische Homogenität entmachtet. Dissipative Strukturen, um die es hier geht, sind offene Strukturen, die Serres als » Ordnung durch Fluktuation, Schwankung und die Irreversibilität Bernhard Siegert, Passage des Digitalen, S. 19. Michel Serres, » Anfänge «, S. 10ff. Ebenda, S. 7. » Das Universale ist eher die Ausnahme, die Trajektorie ist selten, und der Weg, der vom Lokalen zum Globalen führt, ein Wunder. « Serres, ebenda, S. 12. 455 Ebenda. 451 452 453 454

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der Zeit « bezeichnet.456 Das Denken der klassischen Dynamik hätte laut Serres Newtons Terminus Fluxion demjenigen von Leibniz aus folgendem Grund vorgezogen : » Für das klassische Universum war Fluxion besser als Differential […], weil der Ausdruck nicht die dem Kalkül und der Dynamik gemeinsame Vorstellung verbarg, daß es einen Weg vom Lokalen zum Globalen, vom Kleinen zum Großen oder vom Element zum System gibt, daß es einen Weg, eine Verlängerung gibt, und daß diese Verlängerung nicht allzu viele Probleme stellt. «457 Leibniz hätte, so die Mutmaßung von Serres, Newtons Terminus nicht geliebt, weil er im Gegensatz zu diesem nicht sicher gewesen sei, ob es diesen Weg des » geradlinigen Weiterschreitens « tatsächlich gebe.458 Auf der Annahme dieses Weges aber beruht laut Serres die Vorstellung eines kontinuier­ lichen Verständnisses von Dynamik.459 Nun sieht er ein neues Verständnis der Dynamik und des Kalkulus im Entstehen begriffen : » Stengers und Prigogine durchpflügen den Weg durch das Frequentativ Fluktuation, das auf dieser Strecke Diskontinuität, Unsicherheit, Veränderung einführt, ohne die Flüssigkeit zu beeinträchtigen, die der Terminus Fluxion mitbeinhaltet. Die Straße zum Universellen ist oft unterbrochen; Zufälle, Unentschiedenheiten, Ungleichzeitigkeiten und singuläre Gegebenheiten zerhacken sie. Durch die Fluxion war das Universum überall Nachbar des Teils; durch die Fluktuation füllt sich die Welt mit verschiedenartigen Nachbarschaften. «460 Der Übergang von einer Philosophie innerhalb eines – mit Foucault gesprochen – » repräsentationalistischen « Denkens zu einer Philosophie über ein solches Denken gestaltet sich dramatisch und erstreckt sich, wenn man neueren archäologischen Untersuchungen über die Zeichenpraktiken der Wissenschaften folgt, nun schon über einen Zeitraum von mehr als 600 Jahren.461 Das Aufkommen elektronischer Medien seit dem 19. Jahrhundert und die damit einhergehenden Veränderungen unserer Kulturtechniken des Schreibens, Rechnens und Symbolisierens könnten allerdings einen nächsten Abstraktionsschritt unseres Denkens über das Denken erlauben.462 Siegert kommt in seiner Untersuchung von Zeichenpraktiken in den neuzeitlichen Wissenschaften zu dem dramatischen Schluss, dass die neuere, komplexe Mathematik – und damit meint er die Analysis seit Euler und jene Verzweigungen, die darauf aufbauen – in einem ­seltsamen Raum ganz ohne geometrisch interpretierbare 456 Ebenda, S. 8. 457 Ebenda. 458 Ebenda, S. 9. 459 Ebenda. 460 Ebenda. 461 Wegweisend dazu : Bernhard Siegert, Passage des Digitalen. 462 Das radikale Differenzdenken in der französisch inspirierten Philosophie, des 20. Jahrhunderts, ebenso die Kybernetik, die Systemtheorie oder auch bestimmte Zweige der analytischen Philosophie weisen auf jeden Fall schon länger in diese Richtung.

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Ordnungs- und Begrenzungsstrukturen operiert. 463 Vielmehr gehen die mathematischen Modelle demjenigen Sinnzusammenhang voraus, als dessen Repräsentant sie später gedeutet werden. Sie identifizieren auf formale Weise Dinge, die als Objekte oder Gegenstände noch gar nicht wahrnehmbar geworden sind. Siegert spricht daher davon, dass sich seit rund 600 Jahren eine Entwicklung vollziehe, die ein » deterritorialisiertes Analytisches « zurücklässt.464 Dieser Analysis, so Siegert, sei » die Krise ihrer Grundlagen inhärent «465. Diese Krisen der Grundlagen sind für Siegert zugleich auch die Geburt von Medien in einem strikten, materialistischen Sinn : Diese Krisen konfrontieren uns mit einer Analysis, deren Symbole nicht mehr das transzendente Signifikat der Physik referenzieren, sondern, wie Siegert nüchtern konstatiert, Medien.466 Seinen Untersuchungen zufolge basieren die elektronischen Medien auf einer Kalkulierbarkeit, die ein Vertreter der klassischen Leibniz-Wolffschen Analysis noch das Nichtanalytische genannt hätte, das Nichtdarstellbare, die Grenzen des Kalkulus Überschreitende. Während die Analysis von ihren frühmodernen Anfängen an von der Vorstellung einer elementarisierenden Totalbeschreibung der Dinge ausging,467 die unter dem Gesetz der Kontinuität stand, so ist die Analysis nach Euler zu einem Unterfangen geworden, das auf eine eigentümliche Weise generativ ist : Sie schöpft ihre Produktivität jenseits jeder sterilen Logik der Repräsentation aus ihrem Selbstbezug.468 » Darstellbarkeit ist nun nicht mehr eine transzendentale, unbefragbare ­Voraussetzung der Analyse, sondern etwas, dessen Existenz die Analyse allererst und bevor ihr eigentliches Geschäft 463 Bernhard Siegert, Passage des Digitalen; vgl. für eine mathematikgeschichtliche Darstellung dieser Entwicklungen : Hans Wußing, 6000 Jahre Mathematik. Eine kulturgeschichtliche Zeitreise, Band 2 : Von Euler bis zur Gegenwart, Wien 2008. 464 Bernhard Siegert, Passage des Digitalen, S. 16. 465 Ebenda. 466 Ebenda, S. 211. 467 Serres hat darauf hingewiesen, dass dieser Aspekt in der Wissenschaftsgeschichte zu wenig beachtet worden sei : » Über die beständige, tiefgreifende Beziehung der Schöpfer der modernen Enzyklopädie zur Infinitesimalrechnung ist wenig gesagt worden. Die Bedeutung dieser Beziehung wird unterschätzt. Leibniz erfindet die Infinitesimalrechnung und entwirft zugleich die moderne Konzeption einer Vereinigung des Wissens. D’Alembert schreitet zur Verwirklichung, er wendet die Infinitesimalrechnung auf die Mechanik an und schreibt die Einleitung zur Großen Enzyklopädie. ­Auguste Comte bringt – nach entsprechender Sichtung und Sortierung – in eine logische Ordnung, was zuvor lediglich ein Wörterbuch gewesen war, und er kanonisiert, was nur ein Fachgebiet dargestellt hatte. Die drei Begründer dessen, was man nun nicht mehr eine Summe nennt, sind sämtlich vertraut mit der Integralrechnung. Die Rolle, die sie in den Totalitätsphilosophien gespielt hat, ist bisher kaum bemerkt worden. « Michel Serres, Hermes V. Die Nordwestpassage, Berlin 1994, S. 20. 468 Siegert formuliert in der Rhetorik der Dekonstruktion : » Die Analysis nach Euler, und besonders nach Fourier und Cauchy [ist] ein Unternehmen, das seine Produktivität aus seiner unaufhörlichen Selbstdekonstruktion bezieht. « Bernhard Siegert, Passage des Digitalen, S. 16. In diesem Sinne könnte man beinahe versucht sein, von der mathematischen Analysis als einer popperianischen Wissenschaft der Zeichen auf struktureller Ebene zu sprechen.

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beginnt, beweisen muss «, so Siegert.469 Beweisen heißt im präzisen mathematischen Wortsinn : eine Situation eindeutig formalisieren und sein Verhalten aus dem Gesamtzusammenhang, mit dem man rechnet, deduzieren.470 Mit anderen Worten : Es gilt, ein formales Modell zu konstruieren. Der Unterschied zu digitalen Symbolpraktiken allerdings besteht darin, dass eine vorgängige Erfahrung dessen, was beschrieben werden soll, nicht nur nicht mehr notwendigerweise die Ausgangslage darstellt, sondern dass eine solche grundsätzlich überhaupt gar nicht möglich ist. Während also die frühere Analysis Naturbeschreibungen in größere Zusammenhänge zu integrieren und spezifisches Verhalten daraus zu deduzieren vermochte, so ist es jetzt gängige Praxis, etwas rein formal zu bestimmen. Und diese Bestimmung erfolgt mitunter auch ganz und gar, ohne auf dasjenige Kulturgut zurückzugreifen, das die humanistische Tradition Weltwissen genannt hatte. Wir modellieren – so könnte man pointiert formulieren – gleichsam objektiv im Fantastisch-Symbolischen.471 Das Analytische und seine Zeichen-  bzw. Kulturtechniken waren immer schon unterschiedlich auf einen » elementarischen « Raum bezogen, der ihm als sein anderes, seine Grenze oder als sein Grund galt. Das ist, wie Siegert in seiner Untersuchung über den » wuchernden, sich rasch verästelnden und in unterschiedlichen Erscheinungen sich zeigender epistemischer Bruch «, den das Digitale entfaltet, vorausschickt » das Meer, das als Meer im Wortsinn, aber auch in metaphorischer Form als Ozean der Luft-, der Wärme-, der Elektrizitäts- oder der Ätherwellen die Repräsentationssysteme der Analysis deterritorialisiert «.472 In gewisser Hinsicht beginnen wir gerade erst damit, das Bild für ein maritimes Denken zu entwerfen, das sich der Küstenlinie bewusst ist – wenn darunter ein Bild des Denkens verstanden werden soll, in dem » Sphärenschalen « zur bergenden Eingrenzung im » Dispositiv des Digitalen « nicht mehr in der gleichen Weise unreflektiert vorausgesetzt würden, wie das uneingestandenerweise noch im Determinismus der 469 Ebenda, S. 16. 470 Vgl. auch Sybille Krämer, Symbolische Maschinen; dies., Berechenbare Vernunft; sowie Ulrike Ramming, Mit den Worten rechnen. 471 Nichts anderes ist gemeint, wenn heute vonseiten der Science Studies und Technik-Folgen-Forschung die Rede von der » realen Virtualität « ist : Wenn der rein formal operierende Verstand über die reflektierende und interpretierende Vernunft hinweg als Einziger das Möglichkeitsspektrum unserer Kontingenzerfahrungen bestimmt, dann wird menschliches Handeln kongruent zur technologisch veräußerlichten Perfekti­onierung von Handlungsabläufen. Solche Kongruenz äußert sich notwendigerweise in immer unspezifischeren, homogenisierteren Verhaltensweisen, die sich letztlich auf Mechanismen in einem größeren System reduzieren. » Das technische Gestell will, daß wir uns anpassen – darin besteht die Gefahr «, so hatte Heidegger in seiner einflussreichen Schrift Technik und die Kehre, Pfullingen 1962, formuliert. Vgl. auch Christoph Hubig, » ›Wirkliche Virtualität‹ «, S. 39–62. 472 Bernhard Siegert, Passage des Digitalen, S. 19.

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Moderne der Fall gewesen war.473 Ein solches deterritorialisiertes, entgrenztes Denken würde allerdings auch gute Taktiken entwickeln müssen, nicht nur dafür, wie wir uns am besten beim Navigieren orientieren können, sondern auch dafür, wie wir uns in Zukunft auf offener See unsere Flöße und Schiffe selbst zimmern können.474 Ein solches Denken würde das Primat von Analyse, Kontrolle, Steuerung und Optimierung durch dasjenige einer rekombinanten Synthese ersetzen, ohne Ersteres deshalb gänzlich aufzugeben. II.III. funktion, sinn und form » Die Philosophie, die das Unendliche bewahrt, verleiht dem Virtuellen Konsistenz; die Wissenschaft, die auf das Unendliche verzichtet, verleiht dem Virtuellen eine Referenz, die es aktualisiert, und zwar durch Funktionen. «475 » Funktion « – Geschichte und Verwendung als Theorie und Technik Im Folgenden geht es darum, den Begriff der Funktion in einem geschichtlichen Kontext zu sehen. Weder die Funktion noch die Mechanik als allgemeine Lehre der Funktionszusammenhänge sind von jeher auf Räderwerke, Stahl, Silizium oder digitalen Code bezogen gewesen. Die Frage, welche die Wissenschaften heute in denjenigen theoretisierenden Diskursen (wieder) stark beschäftigt, in denen die Kopula Natur 473 Die mathematischen Funktionen und ihre Welt haben versprochen, das Geheimnis der Veränderung zu lösen – und dieser Geist animiert die moderne Wissenschaft wahrscheinlich so stark wie nichts anderes. » Wir müßen also den heutigen Zustand des Weltalls als eine Wirkung seines vorhergehenden Zustandes betrachten und als Ursache des Zustandes, der folgen wird. Ein Verstand, der in einem gegebenen Augenblick aller Kräfte, durch die die Natur belebt ist, und der einzelnen Orte der Wesenheiten, aus denen sie besteht, inne wäre und dessen Einsicht umfassend genug wäre, um diese Tatsachen einer Analyse zu unterwerfen, ein solcher Verstand könnte mit einer einzigen Gleichung die Bewegung der größten Körper im Weltall und der leichtesten Atome umfassen. Nichts wäre für ihn ungewiss; die Zukunft und die Vergangenheit stünden mit gleicher Deutlichkeit vor seinem Auge. Der menschliche Geist zeigt in der Vollkommenheit, die er der Astronomie zu verleihen gewusst hat, die schwachen Umrisse eines solchen Verstandes […]. Alle seine Bemühungen auf der Suche nach der Wahrheit gehen dahin, sich dem Verstande, den wir uns eben vorgestellt haben, zu nähern. « Diese Worte stammen von Pierre-Simon Laplace, einem der bedeutendsten Physiker und Mathematiker des 18. Jahrhunderts. Sie sind so eindringlich formuliert wie nur möglich in demjenigen Augenblick, da der Mensch seine größte Gottesähnlichkeit annähernd erreicht zu haben glaubte, wie Karlson schreibt. Hier zitiert nach Paul Karlson, Zauber der Zahlen, S. 247. 474 Diese Redewendung lehnt sich an die schöne Formulierung von Martin Stingelin an, der von der Philosophie und der Arbeitsweise Deleuze’ als derjenigen eines Schiffbrüchigen spricht, der sich auf offener See ein Floß baut, weil » man nur innerhalb eines Elements einem Element trotzen kann « (Klappentext). Martin Stingelin, Das Netzwerk von Deleuze, Berlin 2000. Serres bietet, wie mir scheint, für dieselbe Grundstimmung ein anderes Bild, dasjenige der in die Adoleszenz kommenden Menschheit. Vgl. Michel Serres, Hominescence, Paris 2001. Vgl. zu einer Theorie des Sphärenbildens als ein » Ernstmachen mit der hermeneutischen Devise « auch Peter Sloterdijk, Sphären I–III. 475 Gilles Deleuze und Félix Guattari, Was ist Philosophie ?, S. 136.

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im Terminus der Naturwissenschaften durch die Kopula Technik ersetzt werden soll, ist eine alte Frage, die spätestens seit Platon offensteht : » Können das von Natur aus Seiende (physei on) und das künstlich Geschaffene (techne on) überhaupt zusammenfallen ? «476 Man könnte auch fragen, ob es zulässig ist, von einer Funktion eines Zeichens oder eines Symbols zu sprechen, oder ob wir dann nicht von den Medien als unserer uneigentlichen zweiten oder dritten Natur sprechen können (wenn wir Platon folgten) und ob sich daraus nicht geradewegs eine idealistisch begründete Naturalisierung von Medialität ergäbe ? Gloy zufolge ruht das magisch-mythische Naturbild in der Vorstellung eines lebendigen Organismus, von dem der Mensch ein konstitutiver, nicht abtrennbarer Teil war.477 Mit Platon und Aristoteles entwickelte sich ein neues Bild von der Natur, welches auf dem Verlust dieser ursprünglichen Lebenseinheit beruhte, der auf eine Abspaltung des Einzelnen vom Ganzen zurückging. Wie diese, Einzelnes und Ganzes sowie Einzelnes und Einzelne zueinander im Verhältnis stehen können, bildet den Kern dieses neuen Naturdenkens. Gloy macht hier den Anfang der Subjekt-Objekt-Spaltung aus, welche die gesamte weitere westlicheuropäische Bewusstseinsgeschichte durchzieht.478 Mit dieser Spaltung geht ein Insistieren auf das objektivierende, distanzierende Vermögen des Menschen einher, das zur Voraussetzung für die Entwicklung einer theoretischen Naturbetrachtung wird. Natur zerfällt damit in eine formale und eine materielle Komponente – in einen Begriff von ihr, der in einem Theoriesystem artikuliert wird, und in eine reale Gegebenheit, auf die das Theoriesystem applikabel ist. Unter Theorie versteht Gloy also einen » auf den intellektuellen Kräften basierenden Systementwurf «.479 Zwar nennt Platon im Timaios den sinnlichen Kosmos noch immer ein » zoon «480, ein Lebewesen, oder allgemeiner ein Lebendiges, zu dem alles Lebendige gehört, und setzt damit die Grundannahme des magisch-mythischen Weltbildes fort. Platons Intention geht darüber insofern hinaus, als es ihm nicht um den lebendigen Vollzug oder den Mitvollzug der organischen Natur geht, sondern um deren Theoretisierung. Philosophen haben seither unterschiedliche Systemtheorien entwickelt, denn der Begriff der Theorie ist mit demjenigen des Systems eng verbunden. Doch auch Platon hat schon zwischen diversen Systemen unterschieden, selbst wenn sein Verständnis damals noch bei Weitem nicht die Luzidität eines Fachterminus aufwies.481 Gloy dazu : » Freilich ist mit ›System‹ nicht jede Art von Zusammenstellung gemeint, sondern eine 476 477 478 479 480 481

Karen Gloy, Die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens, S. 90. Ebenda, S. 30ff. Ebenda, S. 18. Ebenda, S. 78. Ebenda, S. 90. Vgl. Gloy, ebenda, S. 86ff., und ebenfalls Alois von der Stein, » Der Systembegriff in seiner geschichtlichen Entwicklung «, in : Alwin Diemer (Hrsg.), System und Klassifikation in Wissenschaft und Dokumentation, Hain 1968, S. 1–14.

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ganz bestimmte. Von der bloß willkürlichen, planlosen, zufälligen Zusammenstellung oder Anhäufung, die nach Art der vom Wind am Strand zusammengewehten Sandkörner gedacht wird, unterscheidet sich die systematische durch ihr absichtsvolles, gezieltes Arrangement. «482 Darauf verweise nicht zuletzt die Tatsache, dass der Systembegriff im Kontext der Frage nach der Strukturierung des Kosmos eingeführt worden sei, so Gloy.483 Im Kern stand damals wie heute die Frage, wie sich Vielheit und Einheit als zwei Pole eines Systems vermitteln lassen. Auch viele der gegenwärtigen Diskussionen kreisen um ein Bild der Natur als autopoietisches484, selbst organisierendes485 oder selbstreferenzielles486 System, mit dem versucht wird, ein dynamisches Modell von Theorie zu greifen – ob in Entwicklungs-, Evolutions- oder Rhythmusbegriffen, ob mit oder ohne Fortschritt sei dahingestellt. Die folgenden Ausführungen zum Begriff der Funktion sollen indirekt eine Perspektive auf das komplizierte Verhältnis von Theorie und Technik eröffnen, ohne dieses hier allerdings in eine (wiederum) systematische Darstellung bringen zu wollen. Es werden sich jedoch Fragen ableiten lassen, die als Hintergrund für die weiteren Darstellungen relevant sind. Wie bislang deutlich geworden ist, war das antike und auch noch das mittelalterliche Natursystem ein geschlossenes Ganzes aus Teilen, das in einem statischen Gleichgewichtszustand begriffen wurde.487 Erst im Übergang zur Renaissance, exemplarisch mit Cusanus’ affirmativer Integration eines Unendlichkeitsbegriffs in seine Philosophie, artikulierte sich eine Tendenz, Systeme als offen zu begreifen. Sie ging einher mit der empirisch motivierten Entgrenzung des Weltbildes durch Kepler, 482 Karen Gloy, Die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens, S. 86. 483 Ebenda. 484 Vgl. Humberto Maturana und Francisco Varela, Autopoiesis and Cognition. The Realization of the Living, Boston 1980. 485 Vgl. u.a. Charles Sanders Peirce’ naturphilosophische Semiotik, Ludwig von B ­ ertalanffys frühe Systembiologie, Ilya Prigogines dissipative Strukturen, Manfred Eigens Konzept der Hyperzyklen, Stuart Kauffmans Suche nach den Gesetzen der Selbstorganisation. Ludwig von Bertalanffy, » General System Theory «, in : Biologia Generalis, 1, 1949, S. 114 –129; Ilya Prigogine, Vom Sein zum Werden, München und Zürich 1992; Manfred Eigen und Peter Schuster, The Hypercycle – A Principle of Natural Self-Organization, Berlin 1979; Stuart Kauffman, Investigations, New York 2000; für eine empfehlenswerte Einführung : Andreas Dress, Hubert Hendrichs und Günter Küppers (Hrsg.), Selbstorganisation. Die Entstehung von Ordnung in Natur und Gesellschaft, München und Zürich 1986. 486 Vgl. Gotthard Günther, Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, 3 Bände, Hamburg 1976–1980; vgl. dazu auch die Ausführungen zu Günthers Dialektik in Anm. 200 in der vorliegenden Arbeit. 487 Wie Gloy anmerkt scheint die Antike sich das Problem, das mit der Vorstellung eines allumfassenden Ganzen gegeben ist, noch nicht hinreichend vergegenwärtigt zu haben; ein solches System impliziere einerseits mit der Vollkommenheit auch Geschlossenheit und damit Begrenzung und Endlichkeit. Aber andererseits impliziere der Allheitsbegriff die Vorstellung von Unendlichkeit. Dieses Problem habe erst Hegel in seiner Konzeption der Unendlichkeit aus Unendlichkeit und Endlichkeit auf der Basis seiner Grundidee einer Einheit aus Einheit und Vielheit angegangen. Bei der Frage, ob er es freilich auch gelöst habe, bleibt Gloy zurückhaltend. Karen Gloy, Die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens, S. 299. Vgl. für eine Besprechung der Rolle des Unendlichen bei Hegel auch Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 330ff.

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Kopernikus, Vespucci und anderen. Mit diesen Neuerungen scheint es problematisch geworden zu sein, einen Totalitäts- oder Absolutheitsanspruch auf ein bestimmtes Naturbild zu erheben. Allerdings scheint es unter bestimmten Gesichtspunkten plausibel, in der bis zum 19. Jahrhundert weitgehend unhinterfragten Voraussetzung einer Stetigkeit der natürlichen Veränderungen und Bewegungen eine ins Symbolische abstrahierte Terra firma als Konzeption eines festen Bezugspunktes zu sehen. Dieser bleibt im mechanistischen Weltbild auf einen nicht weniger absoluten oder statischen Systembegriff bezogen, als es der antike oder der mittelalterliche Begriff der Ewigkeit oder der Schöpfung gewesen war. Sah Platon das Verhältnis der Theorie zur Natur als ein rein nachvollziehendes488 an, so wandelte es sich im Mittelalter zu einem kontemplierenden Verhältnis und in der Neuzeit zu einem eingreifenden, das die Sinngebung seitens des Subjektes hervorhob. Mit dieser Verschiebung einher ging eine Verallgemeinerung der geometrischen Methode aus der Anschauung und Einteilung des Konkreten auf die Ebene mechanischer Funktionszusammenhänge im Begreifen der Natur als maschinelles Artefakt. Anders als beim antiken Gesetzesbegriff wurde im neuzeitlichen Begriff eines Naturgesetzes keine konstante Struktur mehr bezeichnet. Ein Naturgesetz benannte nun eine mathematische Gleichung, ein Funktionsprinzip, das die systematische Zusammenstellung organisierte und das auf verschiedene Kontexte angewandt werden konnte. Ernst Cassirers Untersuchung zur Geschichte des modernen Denkens von der Renaissance bis zu Kant gilt als die erste Arbeit, in der die wissenschaftliche Revolution der Neuzeit in minutiöser Weise als die Mathematisierung der Natur beschrieben wird.489 Cassirers Darstellungen der modernen Philosophie des Idealismus haben nachhaltigen Eindruck auf verschiedene Historiker des Denkens gemacht, unter anderem auf Koyré, der sie später für seine Geschichte der Wissenschaft als Disziplin zugrunde gelegt und weiterentwickelt hat. Friedman geht davon aus, dass es für Cassirer vor allem Galilei gewesen sei, der sowohl gegenüber einer » sterile Aristotelian-Scholastic 488 Dennoch muss Platons Verhältnis der Theorie zur Natur durchaus auch in einem konstruktiven Sinn gedacht werden, jedoch in einem Sinn, der lediglich davon ausging, die ewigen Gesetze und Verhältnisse nachzukonstruieren, um sie intellektuell verstehen zu können. Für Platon war die theoretische Erkenntnis der Natur nicht in einem exakten Sinn möglich, sondern lediglich in einem approximativen. Das steht klar im Widerstreit zur Auffassung der Neuzeit. Trotzdem war die Neugewichtung der platonischen Schriften in der Renaissance für die aufkommende aktive Haltung eines konstruierenden Weltbezugs wichtig. Kant ist allerdings Platons These mit der Antithese begegnet, dass es sehr wohl eine exakte und präzise Wissenschaft von der Natur gebe. Seine Begründung war, dass die Bedingungen der Möglichkeiten der Erfahrung zugleich auch die Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung seien. Vgl. dazu Karen Gloy, Die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens, S. 101ff. 489 Michael Friedman, » Ernst Cassirer «, in : Edward N. Zalta (Hrsg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy (2008), online : http ://plato.stanford.edu/archives/fall2008/ entries/cassirer/> (16.01.2009).

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formal logic « wie auch gegenüber einer » sterile Aristotelian-Scholastic empirical induction « als Vordenker dessen gelten kann, was Cassirer in seiner Kant-Lektüre herausstellt : nämlich einer genetischen Konzeption von wissenschaftlichem Wissen als fortlaufendem, nie abzuschließendem synthetischem Prozess.490 Diesem rein formalen Aspekt von » Funktionen « im Zusammenhang mit einer toten, unbelebten und von außen bewegten Maschine steht jedoch zunächst das antike Technikverständnis entgegen. Die Vorstellung von einer machina mundi als einer Weltmaschine war bereits den lateinischen Schriftstellern und Kirchenvätern bekannt. In den lateinischen Übersetzungen von Platons Timaios tauchte der Begriff der machina auf, und auch Lukrez (um 95–55 v. Chr.) verwendete ihn in De rerum natura.491 Für Gloy steht der Begriff der machina von Beginn an in Zusammenhang mit dem Systemgedanken. Während systema mundi eher die formale Seite eines zusammengesetzten Körpers betone, wäre mit machina mundi eher die materielle, reale Seite gemeint.492 Der Begriff besaß zunächst eine » organismische « Bedeutung, die noch in der Tradition einer der Welt immanenten Seele stand. Gloy sieht für das mechanistische Weltbild verschiedene Voraussetzungen gegeben : einmal die Vorstellung von der Welt als technisches Produkt und Kunstwerk (artificium) eines göttlichen Künstlers (artifex) durch die christliche Deutung der Schöpfung, die sich zur Vorstellung von der Welt als Bauwerk eines göttlichen Baumeisters entwickelte und in der Renaissance in der Vorstellung von einem » Weltenbaumeister « gipfelte.493 Ferner sei die Vorstellung von der Welt als instrumentarium Dei, als Instrument göttlicher Vorhersehung, relevant gewesen, ebenso die Vorstellung von einem rein kausal bestimmten Mechanismus im Unterschied zum aristotelischen Finalismus mit den verschiedenen Ursachen. 494 Spätestens mit dem Abklingen des Aristotelismus und seiner Theorie der inneren Kräfte, derzufolge sich die Materie von innen heraus organisiert und strukturiert, blieb ein lebloses, auseinanderfallendes Produkt zurück, dessen Zusammenhalt und Funktionsweise nur durch 490 Cassirer war der Meinung, » philosophy must take the fact of science as its starting point and ultimately given datum «. Zitiert nach Friedman, ebenda. 491 Titus Lucretius Carus, Welt aus Atomen, lateinisch-deutsch, Textgestaltung, Einleitung und Übersetzung von Karl Büchner, Zürich 1956, S. 422. 492 Karen Gloy, Die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens, S. 158. 493 Ebenda, S. 160. 494 Bei Ficino steht entsprechend zu lesen : » natura est infimum divinae providentia ­instrumentum « (die Natur ist das niederste Werkzeug der göttlichen Vorsehung). Vgl. Marsilio Ficino, » Agrumentum Marsilii Ficini in dialogum primum de Legibus, vel de Legum latione, ad Laurentium Medicem «, in : ders., Omni divini Platonis opera tralatione Marsilii Ficini, Basel 1546, S. 743ff. » Profecto si natura quae nihil aliud est quam infimum dividnae providentia instrumentum […] « (Sicher, wenn die Natur nichts anderes ist als das unterste Werkzeug der göttlichen Vorhersehung […]), übersetzt von Gloy und zitiert nach Gloy, ebenda, S. 310.

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äußerlich einwirkende Kräfte garantiert werden konnte. So schreibt Gloy : » Mit der Entwicklung der machina-mundi-Vorstellung ging die Ausarbeitung einer neuen Kräftetheorie einher, die zum kausalmechanistischen Weltbild führte. «495 Zwingendes Korrelat der Identifizierung der Welt bzw. der Natur mit einer Maschine war die Avancierung jener Disziplin, welche die Gesetze von der Funktion von Maschinen thematisiert – der Mechanik. Diese wurde in der Neuzeit zur Physik schlechthin. Mitte des 17. Jahrhunderts schreibt Vico rückblickend : » Auch die Alten verwandten Geometrie und Mechanik als Grundlagen der Physik, allein nicht dauernd; wir dagegen dauernd, und zwar beide in verbesserter Form. Denn ob die durch die Analysis weiter entwickelte Geometrie und die Mechanik neu zu nennen ist, haben wir nicht zu untersuchen; mit neuen und höchst genialen Erfindungen vervollkommnet, dient sie unseren Meistern; und um von diesen auf dem dunklen Pfad der Natur nie im Stich gelassen zu werden, haben sie die geometrische Methode (methodum geometricam) in die Physik eingeführt; von ihr wie von einem Ariadnefaden geleitet, gehen sie den eingeschlagenen Weg zu Ende, und beschreiben die Kausalzusammenhänge, aus denen der allmächtige Gott das wunderbare Triebwerk der Welt gebildet hat (haec admirabilis mundi machina a Deo Opt. Max. constructa est), nicht mehr als tastende Naturphilosophen, sondern wie die Baumeister eines unermesslichen Bauwerks (immensi alicuius operis achitecti). «496 Diese Verbindung von Mechanik und Physik ist nun aber keineswegs selbstverständlich. In der Antike galt die Mechanik der Physik geradezu entgegengesetzt. Während Letztere sich mit den natürlichen Dingen, den physei onta, befasste, waren die Gegenstände der Mechanik künstliche Geräte, die techne onta. Die Mechanik galt daher als Theorie und Praxis der nicht natürlichen Bewegung, welche der Überlistung der Natur zum Zwecke der Erfüllung menschlicher Wünsche und Interessen diente. Erst zu Galileis Zeit, und mit ihm selbst als prominentestem Vertreter, änderte sich das Verständnis von der Mechanik. In seinem 1593 verfassten Traktat Le Mecaniche beschreibt er, dass er die Mechanik nicht mehr länger als Überlistung der Natur versteht, sondern vielmehr als Lehre von der geschickten Anwendung mechanischen Wissens auf die Natur selbst.497 Dies setze jedoch voraus, so Gloy, dass die Gesetze der Mechanik denjenigen der Natur konform seien : » Ja, dass die Mechanik nichts anderes als Naturwissenschaft « sei.498 Im weiteren Verlauf der » Karriere der Mechanik «499 495 Ebenda, S. 161. 496 Giambattista Vico, De nostri temporis tudiorum ratione/Vom Wesen und Weg der geistigen Bildung, zitiert nach Gloy, ebenda, S. 159ff. 497 Galileo Galilei, On Mechanics, Wisconsin 1960. 498 Karen Gloy, Die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens, S. 170. 499 Jürgen Mittelstraß, » Das Wirken der Natur. Materialien zur Geschichte des Naturbegriffs «, in : Friedrich Rapp (Hrsg.), Naturverständnis und Naturbeherrschung, ­München 1981, S. 36–69, hier S. 59.

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wird das mechanistische Erklärungsprinzip nichts anderes als das der natürlichen Vorgänge, das seine letzte und höchste Steigerung dadurch erfährt, indem die neue Erfahrungsweise zum allumfassenden mechanistischen Weltbild verabsolutiert wird.500 War man in der traditionellen Wesensmetaphysik noch von einem Zusammenfallen der Begriffe mit dem, was sie in der Wirklichkeit bezeichnen, ausgegangen, so änderte sich dies im Zuge dieser Entwicklung. An die Stelle der sokratisch-platonischen Was-ist-Frage, die dem Wesen der Dinge nachforscht, tritt nun die reduziertere Frage nach dem äußeren Verhältnis der Gegenstände zueinander. Räumlich-zeitliche Verhältnisse und quantifizierbare Bestimmungen treten in den Vordergrund, von den » Hintergründen « begann man sich bewusst zu distanzieren. An die Stelle der Frage nach dem Wesen der Dinge trat das ausschließliche Interesse an den Verhältnisbestimmungen. Gloy verweist auf eine besondere Stelle in Galileis Dialogo von 1632, die Aufschluss gibt über diese neue Einstellung. Denn auch mit dem Interesse an Verhältnisbestimmungen hat sich die Frage nach dem Prinzip von Bewegtheit nicht erübrigt, sondern nur verschoben. Sie stellt sich jetzt als die Frage nach der Bewegung der Erde in ihrer Umlaufbahn, ob sie sich aufgrund eines der Erde inneres oder äußeres Prinzip bewege. In besagtem Dialog von Galilei vertritt die aristotelische Figur ­Simplicio die Meinung, dass die Ursache von dem, was uns als Bewegung erscheint, allgemein bekannt sei und gar jedermann wisse, dass es die Schwere sei, antwortet die Figur Salviati, die Sprachrohr von Galilei selbst ist : » Ihr irrt, Signore Simplicio; Ihr solltet sagen, jedermann weiß, daß man sie Schwere nennt. Ich frage Euch aber nicht nach dem Namen, sondern nach dem Wesen der Sache. Über dieses Wesen wisst Ihr nicht im geringsten mehr, als Ihr über das Wesen des bewegenden Princips der Sterne wißt, ausgenommen den Namen, welchen man jenem gegeben hat und der einem geläufig und vertraut ist durch die oft wiederholte Erfahrung, die man tausendfältig den Tag über macht. In der That aber haben wir ebensowenig ein Verständnis für das Princip oder die Kraft, welche den Stein nach unten treibt, als wir begreifen, was ihn nach oben bewegt, nachdem er die Hand des Schleudernden verlassen, oder was den Mond in seiner Kreisbahn erhält, abgesehen, wie gesagt, von dem Namen Schwere, welchen wir für diesen besonderen und eigenartigen Zweck gewählt haben, während wir sonst mit allgemeinerem Ausdruck bald von einprägender Kraft 500 Dies setzte voraus, dass dieses Erklärungsprinzip nicht nur in der Physik Anwendung fand, sondern auch hinsichtlich des Menschen selbst. Diesem Weltbild ist eine ethische Einstellung gegenüber dem wissenschaftlichen Gegenstand inhärent, der von einem Macht- und Herrschaftsanspruch des Intellekts über sein Objekt ausgeht. Vgl. für eine Darstellung beispielsweise Elisabeth List, Vom Herstellen zum Darstellen, insbesondere S. 53–176; ebenso Friedrich Rapp (Hrsg.), Naturverständnis und Naturbeherrschung, München 1981; Carolyn Merchant, Der Tod der Natur. Ökologie, Frauen und neuzeitliche Naturwissenschaft, München 1994.

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reden, bald eine informierende oder assistierende Intelligenz annehmen, und bei unendlich vielen anderen Bewegungen als Ursache die Natur bezeichnen. «501 So erstaunt es nicht, dass für Galileo das Buch der Natur in mathematischer Sprache geschrieben war. Für die neuzeitliche Relationenontologie übernimmt die Mathematik selbst keine lediglich epistemologische Rolle mehr bezüglich der Natur, sondern eine konstitutive. Folgen wir noch einmal den Ausführungen Gloys : Indem Descartes die natürlichen Gegenstände als res extensa definiere, als ausgedehnte Dinge, erhebe er nicht nur die Ausdehnung und somit die Gestalt, Größe, Lage und Bewegung zu konstitutiven Merkmalen dieser Gegenstände, sondern garantiere auch die Applikabilität der reinen Geometrie auf die materielle Natur.502 Beide fallen damit zusammen. Indem die Masse wie der abstrakte Raum zum Konstituens der Materie wird, wird zugleich die präzise Bestimmung des Raumes, wie sie in der Geometrie vorliegt, zur präzisen Bestimmung der materiellen Natur.503 Das Zusammenfallen von Raum und Materie hat Konsequenzen für die Auffassung der materiellen Natur. So wird bis heute oft behauptet, dass das mechanistische Denken » den Tod der Natur « heraufbeschwöre und die lebendigen, organisierenden Kräfte der Natur durch tote, träge Materie und rein zufällige Bewegungen ersetzen würde, welche letztlich entweder – metaphorisch gesprochen – von Gott initiiert werden müssen oder auf unerklärliche Weise immer schon existieren.504 Gegenwärtig wird auch entgegengesetzt argumentiert. Peter Galison und Lorraine Daston sprechen in einem Kapitel mit dem vielsagenden Titel » Von der Repräsentation zur Präsentation « in ihrem Buch Objektivität (2007) davon, dass » Sehen « unter den heutigen technologischen Bedingungen » Machen « bedeute; dafür haben sie den Begriff der » Nanofaktur « geprägt.505 Einer strukturähnlichen Denklinie folgt auch List in ihrem Buch Vom Darstellen zum Herstellen (2007), nachdem sie in ihrem vorherigen unter dem Titel Die Grenzen der Verfügbarkeit (2001) dem Verhältnis zwischen aktueller (Bio-/Gen-)Technik, Lebendigkeit und Subjektivität nachgespürt hatte.506 Wir werden im nächsten Kapitel noch ausführlicher auf diese kategorischen Wirrungen und Komplifizierungen zu sprechen kommen. Zuvor noch einige Bemerkungen zur Begriffsgeschichte unseres Kernkonzeptes in diesem Kapitel, dem Begriff der Funktion. In wissenschaftsgeschichtlicher Hinsicht haben wir jetzt gesehen, dass er als Form des 501 Galileo Galilei, Dialog über die beiden hauptsächlichsten Weltsysteme, das ptolemäische und das kopernikanische, hrsg. von Roman Sexl und Karl von Meyenn, Stuttgart 1982, S. 249ff. (2. Tag 258), zitiert nach Karen Gloy, Die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens, S. 174ff. 502 Gloy, ebenda, S. 177. 503 Ebenda, S. 175ff.; vgl. dazu auch Alexander Gosztonyi, Der Raum. 504 Carolyn Merchant, Der Tod der Natur. 505 Lorraine Daston und Peter Galison, » Von der Repräsentation zur Präsentation «. 506 Elisabeth List, Vom Darstellen zum Herstellen, und dies., Die Grenzen der Verfügbarkeit.

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neuzeitlichen Naturgesetzbegriffs spätestens seit Descartes eine wichtige Rolle zu spielen scheint. Auf der Suche nach der Verwendung des Wortes functio im klassischen Latein wird man kaum fündig. Lediglich Cicero (106–43 v. Chr.) hat das Wort gerade zwei Mal benutzt : in der » Zweiten Rede gegen Verres « und in den Tusculanischen Gesprächen im ersten Text als » Leistung einer (Steuer-)Abgabe «507, im zweiten als » Verrichtung des Geistes oder Körpers «.508 In beiden Fällen bezieht sich functio auf eine menschliche Tätigkeit, also nicht auf Aufgaben oder Leistungen von Dingen oder Tieren, geschweige denn auf einen Naturvorgang.509 Anders verhält es sich mit fungor, der Verbform zu functio. Es kam bereits im klassischen Latein häufig vor, wie Ute Poerschke darlegt, meist in Verbindung mit munus (Pflicht, Amt, Dienst, Abgabe) und officio (Amt, Dienstleistung), außerdem mit labor (Arbeit, Mühe), mandatum (Auftrag, Befehl) oder virtute (Tapferkeit).510 Es hat die Bedeutung von » verrichten, vollziehen, vollbringen, einer Sache Genüge leisten, ein Amt verwalten, ausrichten «.511 Das Nomen functio wurde personen- und nicht sachbezogen verwendet. Diese Ausrichtung auf eine menschliche Tätigkeit blieb auch im allgemeinen Sprachgebrauch bis Ende des 17. Jahrhunderts erhalten. Erst im Spätlatein ab dem 3. Jahrhundert tauchte es häufiger auf, hier 507 Zweite Rede gegen Verres, 3, 6, 15 : » Itaque decumas lege Hieronica semper vendundas censuerunt, ut iis iucundior esset muneris illius functio, si eius regis qui Siculis carissimus fuit non solum instituta commutato imperio, verum etiam nomen maneret. « (Sie verordneten daher, daß der Zehnte stets nach dem Gesetz des Hieron verpachtet werden solle, damit den Siziliern die Leistung der Abgabe desto angenehmer sei, wenn nach dem Wechsel der Herrschaft nicht nur die Einrichtungen, sondern auch der Name des Königs bleibe, der ihnen überaus teuer gewesen war.) Marcus Tuillius Cicero, Die Reden gegen Verres, übersetzt von Manfred Fuhrmann, Band 2, lateinischdeutsch, Zürich 1995, S. 19f., hier zitiert nach Ute Poerschke, Funktion als Gestaltungsbegriff. Eine Untersuchung des Funktionsbegriffs in architekturtheoretischen Texten, Dissertation, Wuppertal 2005, S. 25. 508 Tusculanische Gespräche 2, 15, 35 : » Interest aliquid inter laborem et dolorem. Sunt finitima omnino, sed tamen differt aliquid. Labor est functio quaedam vel animi vel corporis gravioris operis et muneris, dolor autem motus asper in corpore alienus a sensibus « (Es ist ein Unterschied zwischen Arbeit und Schmerzen. Sie gränzen nahe aneinander; doch haben sie eine Gränzscheide. Arbeit ist eine Verrichtung des Geistes oder Körpers bei einem schweren Werke oder Berufe, Schmerz aber eine rauhe Erschütterung des Körpers, die den Sinnen weh thut.) Cicero, Tusculanische Gespräche, übersetzt von Xaver Weinzierl, München 1806, hier zitiert nach Ute Poerschke, Funktion als Gestaltungsbegriff, S. 25. 509 Alle anderen, von Livius, dem ältesten bekannten lateinischen Schriftsteller ausgehend, über Varro, Vergil, Horaz, Ovid, Seneca bis zu Vitruv, verwenden functio nicht. Nachgeprüft in den Thesauri folgender Schriftsteller : Plautus, Terentius, Varro, Cäsar, Nepos, Lukrez, Sallust, Vergil, Horaz, Livius Titus, Seneca, Ovid, Vitruv, Plinius der Jüngere, Quintilian, Tacitus. Wir folgen hier dem Nachweis in Poerschke, ebenda, S. 25. 510 Poerschke, ebenda, S. 25. 511 Wir folgen hier der Zusammenstellung Poerschkes, ebenda, S. 25ff., die folgende Quellen zitiert : Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, ­Berlin 1999; Wolfgang Pfeifer, Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, Berlin 1993; Friedrich Ludwig Karl Weigand und Herman Alfred Hirt, Deutsches Wörterbuch, Gießen 1909/10; Walther von Wartburg, Französisches etymologisches Wörterbuch, 3 Bände, hier Band 3, Tübingen 1949.

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nun vorwiegend im juristischen und politisch-ökonomischen Zusammenhang, wie im Codex Iustiniani (293–534) und dem Codex Theodosianus (333–431). Der Thesaurus Linguae Latinae von 1926 gibt drei hauptsächliche Verwendungen an : Neben der allgemeinen als » Verrichtung, Ausführung « (actio) eine zweite als » Dienstverrichtung, Amtsobliegenheit « (officii publicii : muneris, magistratus) und eine dritte als » Abgabeleistung, Tribut- oder Steuerabgabe « (actio solvendi nummos, impensas, collatio, liberalitas, impensae).512 Auch hier steht functio in Zusammenhang mit munus, -eris, was selbst » Pflicht, Obliegenheit « bedeutet. In der Zusammenstellung muneris functio übernimmt functio den aktiven Teil und meint so viel wie » Verrichtung der Pflicht «. Die Bedeutung als actio scheint also zu überwiegen, so folgert Poerschke.513 Die Verbindungen des Verbs fungor (verrichten) mit munus (Pflicht, Amt, Dienst, Abgabe), officio (Amt, Dienstleistung), labor, -oris (Arbeit, Mühe), mandatum (Auftrag, Befehl) oder virtute (Tapferkeit) weisen laut ihrem Befund auf einen meist menschlichen (und nicht dinglichen) Bezug hin.514 Folgen wir Poerschke weiter, so taucht functio im Zusammenhang mit einer Maschine erst im 18. Jahrhundert auf, und zwar in Johann Karl August Musäus’ Roman Der deutschen Grandison von 1781/82 : » er […] wuszte spinnräder zu verfertigen und die alten ausgelaufenen zu reparieren, dasz sie ohne gewöhnliche unleidliche geräusch ihre function verrichteten. «515 Hier liege erstmals eine sachbezogene Bedeutung des Begriffs vor, während er zuvor ausschließlich in personenbezogenen Kontexten vorgekommen sei.516 Erst um 1800 erschien im Deutschen das Wort funktionieren517, zunächst wie beim Wort Funktion nur auf Personen, insbesondere auf Kirchenämter bezogen im Sinne von einen Gottesdienst verrichten. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts begann sich, so Poerschke, der allgemeine, auch sachbezogene Gebrauch durchzusetzen.518 Zusammenfassend stellt sie erstens fest, dass Funktion und verwandte Worte sich in Europa erst im 16. und 17. Jahrhundert zu entwickeln und auszubreiten begannen. Zweitens : Funktion ist ein Wort, das 512 Wir folgen hier wiederum der Zusammenstellung Poerschkes, ebenda, S. 25ff., die folgende Quellen zitiert : Thesaurus Linguae Latinae, Band 6, Leipzig 1926 (Untersuchung lateinischer Wörter bis um 600 n. Chr.); Karl Ernst Georges, Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, Basel 1962; Aegidio Forcellini, Lexicon Totius Latinitatia, Bologna 1965. 513 Poerschke, ebenda, S. 26. 514 Ebenda, S. 25. 515 Ebenda, S. 27, Poerschke bezieht sich auf folgende Quelle : Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, 4 Bände, Leipzig 1878. 516 Ute Poerschke, ebenda, S. 27f. 517 Ebenda, S. 28, Poerschke bezieht sich auf folgende Quelle : Hans Schulz und Otto ­Basler, Deutsches Fremdwörterbuch, Straßburg 1913; Joachim Heinrich Campe, Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Wörter, Braunschweig 1801. 518 Ebenda.

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man im allgemeinen deutschen Sprachgebrauch zunächst für personenbezogene Tätigkeiten verwendete und erst Ende des 18. Jahrhundert auf Dinge. Drittens : Funktion ist zumindest im Deutschen im 18. Jahrhundert kein beliebtes Wort. Und viertens : Funktion kommt nicht als kunsttheoretischer Begriff vor.519 Poerschke arbeitet ferner drei Aspekte heraus, nach denen der Funktionsbegriff abstrakt umrissen werden kann : Aktion, Relation und in Bezug auf ein größeres Ganzes. Diese Aspekte kamen bereits im lateinischen functio und auch in den frühen Verwendungen in anderen Sprachen zum Tragen.520 Als Verrichtung und Leistung bezeichne er eine Aktion, so Poerschke, und zwar sowohl eine tatsächliche als auch eine potenzielle.521 In seiner Bedeutung in Bezug auf eine amtliche Tätigkeit zeige sich zudem ein relationaler Charakter, denn ein Amt, als soziale Institution, impliziere ja das Vorhandensein anderer Ämter, die in Bezug zueinander stehen.522 Der Begriff der amtlichen Tätigkeit impliziere jedoch nicht nur das Vorhandensein mehrerer Ämter, sondern auch die Relation zu einer größeren (Staats-)Einrichtung, sei also auf ein größeres Ganzes ausgerichtet – » eine Funktion haben oder in Funktion sein, bedeute demnach, innerhalb eines größeren Ganzen als Teil von diesem für dieses aktiv zu sein. «523 Uns interessieren nun Poerschkes weitere Folgerungen, dass nämlich der Begriff weit früher im Kontext biologischer Fragen vorkommt als im Kontext der Mathematik, obwohl sich die Biologie als eigene Disziplin erst zwischen 1750 und 1800 zu entwickeln begann. Dies bedeutet, dass sich eine Trennung zwischen diesen beiden Bereichen der organischen und der anorganischen Materie erst ab dieser Zeitspanne etablieren konnte.524 Doch man hatte schon früher begonnen, das Verhältnis zwischen Seele und Materie zu studieren. Dementsprechend bezog sich eine den Funktionsbegriff betreffende Diskussion im 16. Jahrhundert auf die Frage, welche eigentlich die Ursache sei, die Körper- oder Organfunktionen in Gang setzte. Wie Poerschke ausführt, bestimmte Jean François Fernel (1497–1558) beispielsweise die Seele mit ihren sogenannten facultates animae (Vermögen der Seele) als Ursache.525 Von diesen gebe es drei Arten, denen wiederum, so ­Fernel, drei verschiedene functiones (Körperfunktionen) zugeordnet seien : erstens den facultates animae naturales (natürlichen Vermögen) die natürlichen functiones wie Ernährung, Verdauung; zweitens den facultates animae animales (animalen Vermögen) die functiones der 519 Ebenda, S. 29. 520 Ebenda. 521 Ebenda. 522 Ebenda. 523 Ebenda. 524 Vgl. dazu den Artikel von Georges Canguilhem, » Die Herausbildung des Konzepts der biologischen Regulation im 18. Und 19. Jahrhundert «, in : ders., Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie, Frankfurt am Main 1979, S. 89–109. 525 Ute Poerschke, Funktion als Gestaltungsbegriff, S. 29.

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Bewegung und Empfindung; und drittens den facultates animae vitales (vitalen Vermögen) die functiones, die das Herz in Gang setze, zum Beispiel den Puls.526 Descartes versuchte, die facultates als Ursache der functiones weitestgehend zu eliminieren und mechanische Erklärungen für die Funktionen zu finden. In seinem » Traité de l’homme « (1632) beschreibt er eine Maschine, deren Antrieb die Wärmequelle im Herzen sei. Der Traktat beginnt : » Ich stelle mir einmal vor, daß der Körper nichts anderes sei als eine Statue oder Maschine aus Erde, die Gott gänzlich in der Absicht formt, sie uns so ähnlich wie möglich zu machen, und zwar derart, daß er ihr nicht nur äußerlich die Farbe und die Gestalt aller unserer Glieder gibt, sondern auch in ihr Inneres alle jene Teile legt, die notwendig sind, um sie laufen, essen, atmen, kurz all unsere Funktionen nachahmen zu lassen, von denen man sich vorstellen könnte, daß sie aus der Materie ihren Ursprung nehmen und lediglich von der Disposition der Organe abhängen. « 527 Und er endet : » Ich wünsche, daß man schließlich aufmerksam beachte, daß alle Funktionen, die ich dieser Maschine zugeschrieben habe, zum Beispiel die Verdauung der Nahrung, das Schlagen des Herzens und der Arterien, die Ernährung und das Wachstum der Glieder, die Atmung, das Wachen, Schlafen, die Aufnahme des Lichtes, der Töne, der Gerüche, des Geschmacks, der Wärme und anderer solcher Qualitäten […], daß sie so vollkommen wie möglich die eines richtigen Menschen nachahmen : ich wünsche, sage ich, daß man bedenke, daß die Funktionen in dieser Maschine alle von Natur aus allein aus der Disposition ihrer Organe hervorgehen, nicht mehr und nicht weniger, als die Bewegungen einer Uhr oder eines anderen Automaten von der Anordnung der Gewichte und ihrer Räder abhängen. «528 In strikt formaler Weise wurde der Begriff jedoch auch in der Biologie erst Ende des 18. Jahrhunderts verwendet. Er konnte sich erst dann durchsetzen, als man Klassifizierungen nicht mehr nach sichtbaren Merkmalen vornahm, sondern nach Funktionen. Mit Jean-Baptiste de Lamarck und Georges Cuvier wurde Funktion damit zum Schlüsselbegriff der biologischen Forschung. Man könnte diese Entwicklung durchaus als Mathematisierung begreifen. Seinerzeit implizierte der Prozess der Mathematisierung ja in erster Linie, dass nach der geometrischen Methode vorgegangen werden kann, und dies erschloss sich nun auch für Kontexte des Lebendigen. Bei Cuvier wurden formal bestimmbare Kriterien der Struktur, Lage und Funktion eines Organs zur Klassifizierung wichtiger als seine sichtbaren Merkmale. Den Unterschied zwischen lebenden und toten » Maschinen « definierte er anhand der Abhängigkeit 526 Ebenda, S. 29ff. 527 René Descartes, » Traité de l’Homme «, Übersetzung nach Karl E. Rothschuh, Einführung zu Descartes’ Traktaten Über den Menschen und Beschreibung des menschlichen Körpers, Heidelberg 1969, S. 44. 528 Ute Poerschke, Funktion als Gestaltungsbegriff, S. 44.

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aller Teile eines Organismus voneinander, die nur im Zusammenhang mit dem Ganzen existieren können : » Alle Theile eines lebenden Körpers sind unter einander verbunden : sie können nur insofern wirken, als sie alle in Gemeinschaft wirken; einen vom Ganzen trennen heißt, ihn in die Reihe todter Stoffe zurücksetzen und sein Wesen völlig abändern. Die Maschinen, welche der Gegenstand unserer Nachforschungen sind, können nicht ohne gänzliche Zerstörung aus einander genommen werden : wir können nicht erfahren, was aus der Abwesenheit eines oder mehrer Räder erfolgen würde, und folglich den Antheil nicht kennen lernen, welchen jedes dieser Räder an dem Erfolge hat. «529 Während im Kontext der Kosmologie die mechanischen Prinzipien ihre Integration innerhalb einer umfassenden Ordnung finden konnten, entstand nun im Kontext der Biologie mit dieser Differenzierung eine neue Situation – gewissermaßen eine Art Relativierung von Ganzheit als Konzept. Die einzelnen Lebewesen wurden nun als autonome Funktionszusammenhänge begriffen. Diese Verteilung des Konzeptes » System « ins Viele fand ihre Entsprechung in der Entwicklung des Funktionsbegriffs in der Mathematik, wo die höhere Analysis von Leibniz und Newton ein neuartiges Folgern ermöglichte : Das formale Integrieren stellte in gewisser Hinsicht die Gegenbewegung zum deduktiven Ableiten dar. Damit hat die Analysis, wie Paul Karlson feststellt, » das starre Reich der griechisch-klassischen Geometrie « gesprengt.530 In der Tat bestand bisweilen eine Unsicherheit, ob die Funktionen selbst tatsächlich einfach nur eine mathematische » Abbildung « oder nicht doch eher eine Art » abstraktes Lebewesen « seien. Ein » alter, abgeklärter, längst über den Dingen stehender Weiser « mache sich wohl ein sehr klares Bild davon, was er beim mathematischen Differenzieren eigentlich tue, so Karlson in seinen einleitenden ­Ausführungen zum Kapitel Die Funktionen und ihre Welt.531 Durch die Funktionen würden für ihn » gewisse Beziehungen hergestellt, Verbindungslinien von einem Punkt zu einem zweiten, von einem Gebiet zum anderen «.532 Karlson präzisiert : » Die Funktion y = f(x) verknüpft eine Zahlenmenge y mit einer zweiten Zahlenmenge x. «533 Diese Darstellung ist eine Schilderung aus der Außenperspektive, und als solche verschleiert sie, was man bei dieser neuen Vorgehensweise des Integrierens jenseits 529 Georges Cuvier, Vorlesungen über vergleichende Anatomie. Erster Theil, welcher die Organe der Bewegung enthält, Leipzig 1809, S. XII. Vgl. ebenfalls : » […] das die Theile, die man dem lebenden Körper absondert, ohne Aufschub absterben […] so daß, wie KANT es ausdrückt, die Ursache der Art der Existenz bey jedem Theile eines lebenden Körpers in dem Ganzen enthalten ist, während bey todten Maßen jeder Theil sie in sich selbst trägt. « (S. 5). 530 Paul Karlson, Der Zauber der Zahlen, S. 247. 531 Ebenda, S. 247–284. 532 Ebenda, S. 257. 533 Ebenda.

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des » starre[n] Reich[s] der griechisch-klassischen Geometrie « tatsächlich tut. Denn jenseits dieses Reiches, so Karlson, bleibe nichts anderes übrig, als auf einen objektiven Standpunkt zu verzichten. Um diesen Kontrast zu schärfen und herauszustellen stellt Karlson der objektiven eine situierte Schilderung entgegen : Alles stelle sich anders dar, wenn man eine Position innerhalb des Wertegebietes einer unabhängigen Veränderlichen wähle,534 so schreibt er, und erläutert : Man greife Punkt für Punkt die x-Werte heraus und wandere das Gebiet ab.535 Während man das tue, erschaffe die Funktion aus jedem x-Wert einen zugehörigen y-Wert. So betrachtet werde jeder einzelne Schritt eine Wegstrecke schaffen, die als Strecke vorher noch nicht vorhanden gewesen war, sondern die in eben diesem Augenblick, gleichsam aus dem Nichts, entstehe : » Die Funktion gleicht hier einer Maschine, die nach genau festgelegtem Plan aus dem hineingesteckten Werkstoffstück ein anderes, fertiges Ding macht – etwa einem Grammophon, das jede eingeritzte Schallschwingung der schwarzen Platte in klingende Töne übersetzt, sie neu erstehen lässt, freilich in gesetzmäßiger Weise «.536 Kurzum : » Die Funktion schafft neue Größen «.537 Während diese Perspektive für die Medienwissenschaft unmittelbar einleuchtend erscheint, wird sie indes beim mathematischen Integrieren tatsächlich nicht oft mit dem Funktionsbegriff assoziiert ! Genau darum geht es aber, in jenem Element des deterritorialisierten Analytischen, von dem schon mit Bezug auf Siegerts Passage des Digitalen die Rede war. Wir kommen später ausführlicher darauf zurück. Für jetzt ein einfacheres Beispiel desselben Problems bei Poerschke zur Illustration, worum es eigentlich geht : » Die mangelnde Unterscheidung bzw. die Missachtung, nach welchem größeren Ganzen man mit einer Funktion überhaupt fragt, ist eines der wesentlichen Probleme des Funktionsbegriffs in der Architekturtheorie. «538 Für die Mathematik sind die Probleme, die mit der Semantik in der Frage nach » dem größeren Ganzen « ins Spiel kommen, allerdings ungleich größer. Sie sind grenzenlos, denn es geht buchstäblich um das Unendliche.539 War die Mathematisierung in der Neuzeit zumindest anfangs klar als Säkularisierung des Naturdenkens zu verstehen, so bahnte sich mit der Emanzipation der Mathematik eben jene Entwicklung an, die wir mit 534 Ebenda. 535 Ebenda. 536 Ebenda. 537 Ebenda. 538 Ute Poerschke, Funktion als Gestaltungsbegriff, S. 44. 539 Darauf können wir jedoch an dieser Stelle nicht eingehen. Ian Stewart hat das Unendliche mit dem vielsagend-zwiespältigen Begriff des » Wunderkrug der Mathematik « bezeichnet : » Er ist wunderbar, weil seine Inhalte unerschöpflich sind. Man entnehme einem unendlichen Gefäß einen Gegenstand, und es bleibt nicht etwa einer weniger, sondern genau dieselbe Anzahl zurück. « Ian Stewart, Mathematik. Probleme – Themen – Fragen, Basel und Boston 1990.

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Siegert schon als » Passage des Digitalen « kennengelernt haben.540 An deren aktuellem Stand erkennen wir heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, nicht nur das sogenannte » Universalmedium Computer «541 und den universellen digitalen Code. Alle diese Technologien basieren auf einer Analysis, die Funktionen – also Abbildungen – identifizieren kann. Sie operieren im referenzlosen Symbolischen, jenseits des euklidischen Anschauungsraumes, in dem sich Ordnung nach Maß und Zahl in die Dinge bringen ließe.542 Oder anders gesagt : Die Symbole referieren nicht mehr direkt auf die Physik, sondern auf bestimmte Medien. Nur, um was für Dinge handelt es sich bei solchen, die aus medial erzeugten Größen bestehen ? Schon in Karlsons Darstellung lassen sich diese Funktionen bzw. Abbildungen eigentlich nicht mehr als » Beschreibungen « einer » Situation « verstehen, sondern vielmehr als Konstruktion einer Codierung zum Erzeugen einer Situation. Auch bei Kant ist die mathematische Erkenntnisart als Konstruktion definiert : » Die philosophische Erkenntnis ist die Vernunftserkenntnis aus Begriffen, die mathematische aus der Konstruktion der Begriffe. Einen Begriff aber Konstruieren heißt : die ihm korrespondierende Anschauung a priori darstellen. «543 Er orientierte sich jedoch bei seiner Deutung des Konstruktionsbegriffs an der Funktion, welche die Konstruktion als Teilschritt des euklidischen Beweisverfahrens erfüllt. Bei ihm ist Konstruktion nicht die Beschreibung irgendeiner Genese, stattdessen geht es » um den Aufweis eines Wahrheitskriteriums in unserem Wissen um die Sachverhalte «.544 540 Bernhard Siegert, Passage des Digitalen; vgl. auch unsere Ausführungen im vorangegangenen Kapitel » Die Relativierung von Stetigkeit als Voraussetzung oder Vom deterritorialisierten Denken bis zur rekombinanten Synthese «, S. 132ff. 541 Norbert Bolz, Friedrich Kittler und Georg Christoph Tholen (Hrsg.), Computer als Medium, S. 7 (Vorwort). 542 Komplexe Zahlen sind definiert als zweidimensionale Zahlen, bestehend aus Realteil und Imaginärteil, wobei Letzterer ein reellwertiges Vielfaches von i ist, der Qua­ dratwurzel aus –1. Da es weder eine negative Strecke noch eine negative Fläche gibt, die anschaulich oder gar euklidisch sichtbar gemacht werden könnte, operiert i = √-1 jenseits jenes Raumes, der einst aus der klassischen geometrischen und statischen Sichtweise als denkbar und anschaulich galt. Allerdings lässt sich dies trotzdem symbolisieren und sogar höchst erfolgreich für die Konstruktion von Automaten, sprich Rechenautomaten, einsetzen, deren physikalische Basis anders gar nicht berechenbar wäre. Anzumerken wäre außerdem, dass der norwegische Landvermesser Caspar Wessel bereits 1799 i als eine Drehung von –90° im Vektorraum (unter Polarkoordinaten) interpretierte. Zitiert nach Paul J. Nahin, An Imaginary tale – The Story of √–1, Princeton 1998, hier S. 48–53. Siehe auch Michel Serres, » Die Anamnesen der Mathematik «, in : ders., Hermes I. Kommunikation, Berlin 1991 [1968], S. 103–151, hier S. 120f. Die geometrische » Unanschaulichkeit « regrediert in eine solche der Imagination der Zahl, sind die imaginären Zahlen doch ungewohnterweise zweidimensional. Aber genau das liegt ja der Einsicht von Wessel zugrunde. Primär bleiben die imaginären Zahlen » imaginär «, selbst wenn sie mit der Operation der Drehung eine Deutung qua Gebrauch erfahren. 543 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Akademie-Textausgabe, Berlin 1968, hier A713 B741, zitiert nach Jürgen Weber, Begriff und Konstruktion, S. 6. 544 Jürgen Weber, Begriff und Konstruktion, S. 7. Vgl. auch Kant, » Der Demonstration geht die Construction nicht voran, sondern beides ist eins und unzertrennlich. « I, 4, S. 407, zitiert nach Georg Neugebauer, Tillichs frühe Christologie : Eine Untersuchung zu Offenbarung und Geschichte, Berlin 2007, S. 71.

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Salomon Maimon, ein Zeitgenosse Kants und der von ihm am meisten geachtete Kritiker545, hat schon damals exakt dies zum Gegenstand seiner Kritik gemacht. Eine kritische Philosophie habe nicht nur eine transzendentale Deduktion zu begründen, sondern müsse auch Aufschluss geben können über die Genese des im Transzendenten wirksam werdenden Grundes, und dafür, so sein Argument, wäre der kantsche Gesichtspunkt einer Begründbarkeit unzureichend.546 ­Maimons Vorschlag, wie darüber Aufschluss gegeben werden könne, geht von einer bestimmten Interpretation der Infinitesimalrechnung aus, die jene Genese einem Prinzip der reziproken Bestimmbarkeit überantwortet.547 Sie ist für die Konzeption des Virtuellen mittels der Annahme von Konstruktionsformen von zentraler Bedeutung. Auf jeden Fall können wir jetzt schon sehen, wie sehr die eingangs von Gloy zitierte Frage im Brennpunkt gegenwärtiger Wissenschaften steht : » Können das von Natur aus Seiende (physei on) und das künstlich Geschaffene (techne on) überhaupt zusammenfallen ? «548 Es handelt sich um nichts anderes als die Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Technik. Diese Frage ist allerdings nicht neu, und ergibt sich nicht erst aus der faktischen Emanzipation der Mathematik von der euklidischen Geometrie – selbst wenn sie sich nach dieser Emanzipation mit einer größeren Dringlichkeit stellen mag. Schon im Zeitraum vor den großen wissenschaftlichen Revolutionen im 17. Jahrhundert549 gab es Überlegungen, inwiefern Technik nicht mehr nur als transparentes Mittel zum Zweck, sondern als eigentliche Erkenntnisart anzusehen wäre oder – mit den Worten Francis Bacons – wie die Beziehung zwischen rationeller und experimenteller Fakultät aussehen sollte : » Kurz, es bestehe fernerhin eine andere Methode für die Bearbeitung, und eine andere für die Erfindung der Wissenschaft « schrieb er. Das Insistieren auf zwei unterschiedlichen Methoden meint nichts anderes, als dass beidem eine Technizität zugesprochen werden soll. ­Bacon präzisiert : » Und nun will ich, zum besseren Verständnis, damit man an den Namen schon ersehe, was ich im Sinne habe, die eine Methode die Anticipation des Verstandes, die andere die Auslegung der Natur nennen. «550 Die Vorstellung, in der Technik selbst eine Erkenntnisart zu vermuten, war angeregt durch die neuen algebraischen Vorgehensweisen, Quantitäten symbolisch zu bestimmen. Schon vor Descartes gab es eine rege Diskussion, in den 545 Peter Thielke und Melamed Yitzhak, » Salomon Maimon «, in : Edward N. Zalta (Hrsg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy (2008), online : http ://plato.stanford.edu/ archives/fall2008/entries/maimon/> (18.01.2009). 546 Salomon Maimon, Versuch über die Transzendentalphilosophie, Berlin 1790, S. 33. 547 Vgl. dazu die Ausführungen von Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 191ff. 548 Karen Gloy, Die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens, S. 90. 549 Vgl. Paolo Rossi, Philosophy, Technology and the Arts in the Early Modern Era 1470– 1700, New York 1970, S. 30ff. 550 Francis Bacon, Neues Organ der Wissenschaften, übersetzt und hrsg. von Anton Theobald Brück, Darmstadt 1990 [1620], S. 24f.

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algebraischen Methoden eine eigentliche Logik des Erfindens zu sehen.551 Pierre Hérigone (1580–1643) schrieb beispielsweise : » Analytical doctrine or algebra is the art of finding the unknown magnitude, by taking it as if it were known, and finding the equality between this and the other given magnitudes «.552 Marco Aurel, ein Mathematiker um 1520, formulierte die dafür notwendige Denkbewegung in seinem Libro primero de Arithmetica Algebratica wie folgt : » I say that, by that rule, to ask a question you have to imagine that such a question has already been asked, and answered, and that you now want to prove it. «553 Die Vorstellung nun, in solch technischem Umgang mit Symbolen eine eigentliche Erkenntnismethode zu sehen, resultiert daraus, dass es möglich wird, mathematisch zu erweisen, was eigentlich, mit einer geometrisch-anschaulichen Vorstellungskraft, gar nicht präzise auszudenken war. Diese Entgrenzung des mathematisch handhabbaren Problembereichs über das anschauliche Vorstellen hinaus markiert die eigentliche Erneuerung, welche die Algebra damals für die Wissenschaften bedeutete. Sie geschieht dadurch, dass nun nicht mehr direkt mit Zahlen gerechnet wird, sondern dass Zahlen durch Buchstaben symbolisiert werden. Hérigone unterscheidet entsprechend : » One may distinguish between vulgar and specious [­Viètes, Anm. d. Verf.] algebra. Vulgar or numerical algebra is that which is practiced by numbers. Specious algebra is that which exerts its logic by ›species‹ or by the forms of the things designated by the letters of the alphabet. Vulgar algebra is not limited by any kind of problem, and is no less useful for inventing all kinds of theorems as it is for finding solutions to and proofs of problems. «554 Seither ist die Vorstellung präsent, dass eine universelle Methode, eine mathesis, nicht unbedingt die eine geometrische Methode sei, sondern vielleicht eher als eine symbolische Charakteristik zu begreifen wäre.555 Hier die spitzen Worte des Dichters und Satirikers Alexander Pope (1688–1744) gegen diesen entgrenzten 551 Paolo Rossi, Philosophy, Technology and the Arts, S. 42. 552 Pierre Hérigone, im ersten Kapitel » Algebra « in seinem Cursus Mathematicus (Paris 1634-1637), hier in der Übersetzung von und zitiert nach : Maria Rosa Massa Esteve, » Symbolic Language in the Algebraization of Mathematics, 1600–1660 « für das Symposium Speciation in Science. Historical-Philosophical Studies on the Emergence and Consolidation of Scientific Disciplines, (S. 13). Dieses Symposium hat am XXII International Congress of the History of Science stattgefunden, vom 25.–30. Juli 2005 in Beijing. Das Manuskript ist eine erweiterte Fassung dieses Vortrags, und online erhältlich: http  ://www.ma1.upc.edu/recerca/preprints/preprints-2007/ Fitxers/060701massa.pdf (02.03.2014) 553 Marc Aurel, Libro Primero de Arithmetica Algebratica, Valencia 1552, nach der Übersetzung von und zitiert nach : Maria Rosa Massa Esteve, » Symbolical language in the Algebraization of Mathematics «, S. 13. 554 Das Beunruhigende an dieser Vorstellung besteht darin, dass eine solche Charakteristik von der Unterscheidung in künstliche Artefakte und essenzielle Natur absehen müsste. Genau damit steht sie allerdings auch im Zentrum von jeder Überlegung, wie Medialität philosophisch zu bestimmen wäre. 555 Pierre Hérigone, Cursus Mathematicus, nach der Übersetzung von und zitiert nach : Maria Rosa Massa Esteve, » Symbolical language in the Algebraization of Mathematics «, S. 14.

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Anspruch der Mathematik : » Mad Mathesis alone was unconfirmed, / Too mad for mere matherial chains to bind, / Now to pure space lifts her ecstatic stare, / Now, running round the circle, finds its square. «556 Befördert wurde dieser entgrenzte Anspruch des mathematischen Denkens, sich nun in der Wissenschaft (und nicht mehr nur im Handel, als etwas der Wissenschaft Äußerliches) über den Bereich des geometrisch Messbaren hinaus auszuweiten, wie gesagt durch die Einführung des Rechnens mit Buchstaben sowie durch die Einführung des Kartesischen Koordinatensystems zur Lokalisierung von Punkten im Raum über eindeutige Zahlenwerte. Ersteres wird gewöhnlich vor allem Linie François Viète zugeschrieben, Letzteres René Descartes, obwohl in beiden Fällen natürlich zahlreiche weitere Mitstreiter beteiligt waren.557 Auf jeden Fall können sowohl Viète wie auch Descartes als Wegbereiter der analytischen Geometrie gelten, die in ihrer Verbindung von Algebra und Geometrie weit mehr Möglichkeiten für berechnendes und errechnendes Bestimmen bot, als zuvor denkbar gewesen wäre. Diese Verbindung war so vielversprechend, dass sie Descartes veranlasste, von einer Universalmathematik zu träumen. Seine Mathesis universalis558 sollte alles erklären, was der Ordnung oder dem Maß unterworfen war, wobei die deduktive Methode der Logik als universelles Erkenntnismittel diente. Zunehmend begann man in der Folge der cartesianischen Philosophie, auch die Tätigkeit des Verstandes selbst in mathematisch-experimentellen Modellen zu begreifen – eine Tendenz, die etwa sogar bei Kant dazu geführt hatte » Begriffe « als mathematisch » konstruiert « zu definieren. Mit seiner Annahme der deduktiven Methode einer transzendentalen Logik wollte er zwischen der philosophischen Weise des Erkennens in Begriffen und der mathematischen Weise des Erkennens, was nach seinem Verständnis die Konstruktion von Begriffen war, vermitteln.559 Im 19. Jahrhundert hat der mathematische Funktionsbegriff mit Gottlob Frege (1842–1925) eine weitere Erweiterung in die Logik erfahren. In seiner Schrift Funktion und Begriff (1891) argumentiert er, dass » das eigentliche Wesen der Funktion « in dem liege, was in einem Ausdruck noch » außer dem x vorhanden ist «.560 Eine Funktion führe » eine leere Stelle mit sich «.561 Mit der Betonung der » Ergänzungsbedürftigkeit « der mathematischen Funktion hat Frege zu Recht auf deren Alexander Pope, The Dunciad in Four Books, London und New York 1999 [1744]. Vgl. dazu Carl B. Boyer, A History of Mathematics, New York 1968. Und darauf bezieht sich Pope im zitierten Gedicht. Vgl. für eine neuere Diskussion der damit assoziierten Probleme Darius K ­ oriako, Kants Philosophie der Mathematik. Grundlagen – Voraussetzungen – Probleme, ­Hamburg 1999; ferner Forum für Philosophie Bad Homburg (Hrsg.), Kants transzendentale Deduktion und die Möglichkeit von Transzendental-philosophie, Frankfurt am Main 1988. 560 Gottlob Frege, » Funktion und Begriff «, in : ders., Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien, Göttingen 1969, S. 21. 561 Ebenda, S. 30.

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Referenzverhältnis aufmerksam gemacht : » Wir sehen daraus, wie eng das, was in der Logik Begriff genannt wird, zusammenhängt mit dem, was wir Funktion nennen. «562 Die Konsequenzen, die er daraus zog, bildeten den Grundstein für das Programm zur logischen Sicherung der Grundlagen der Mathematik im 20. Jahrhundert. Einer der Kernsätze Freges dazu : » Ja, man wird geradezu sagen können : ein Begriff ist eine Funktion, deren Wert immer ein Wahrheitswert ist. «563 Der Fortschritt der neuzeitlichen Wissenschaft scheint vor diesem Hintergrund in der Tat weniger auf einer Einsicht in einen elementaren Zusammenhang zu beruhen, der sie begründet. Es trifft wohl eher das Gegenteil zu : Der Fortschritt scheint darauf zu beruhen, dass eine sowohl intelligible wie auch sensible Realität aus dem Symbolischen heraus geschaffen wird. Und in diesem Schaffen von Realität komplementieren sich List und Geschick von Technik mit Erklärung und Verallgemeinerung von Theorie. Imagination und Methode oder Das Ende der ­Repräsentation durch die Vorstellung » Wir verstehen die Idee der Formalisierung, wenn wir erklären können, warum wir mit formalen Beschreibungen keine Geschichten erzählen können. «564 » Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt. «565 Unser Augenmerk wird nun von diesen allgemein betrachteten Rahmenbedingungen für Erkenntnis, wie sie sich aus dem Verhältnis von Theorie und Technik ergeben, einzoomen darauf, wie diese in unterschiedlicher Weise über das Verhältnis zwischen Methode und Imagination gegeben sind. Dieses Verhältnis war sowohl für René Descartes (1596–1650) wie auch noch für Immanuel Kant (1724–1804) zentral, nicht jedoch für die Scholastik und die Antike. Seit Aristoteles galt Wissenschaft als ein System von Sätzen, aus denen sich die partikulären Beobachtungen und Erfahrungen der Naturdinge kohärent in Bezug zueinander setzen lassen, möglichst ohne dass Widersprüche zwischen diesen entstehen oder bestehen bleiben.566 Das Nachdenken über die » Methode «567 zielt auf eine 562 Ebenda, S. 28. 563 Ebenda. 564 Sybille Krämer, Symbolische Maschinen, S. 1. 565 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt am Main 2006 [1921]. 566 Die Ausführungen können hier nur rudimentär dargestellt werden. Für eine ausführlichere Darstellung vor allem zur Geschichte der Syllogistik siehe James Gasser, La syllogistique d’Aristote à nos jours, Neuchâtel 1987; zur Geschichte der Analysis allgemein siehe Ursula Goldenbaum (Hrsg.), Infinitesimal differences : controversies between Leibniz and his contemporaries, Berlin 2008; zur geometrischen Genesis des Verfahrens der Analysis vgl. Jaakko Hintikka und Unto Remes, The Method of Analysis. 567 Der Gedanke, dass wissenschaftliche Erkenntnis sich von außerwissenschaftlicher unterscheide, geht auf Descartes zurück. Bis zur analytischen Geometrie war als Verfahren zur Problemlösung lediglich das syllogistische Schließen bekannt, auf systematische Weise more geometrico. Um den größeren Argumentationsbogen zu behalten, sprechen wir hier trotzdem schon von » Methode «. Vgl. Sybille Krämer, Berechenbare Vernunft, S. 91ff.

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Untersuchung, wie man bei der Konstitution einer Wissenschaft vorzugehen hat.568 Für Aristoteles war die Differenzierung des » Bekannten « wesentlich, indem er » das für uns Bekanntere « und » das der Natur nach Bekanntere « unterschied.569 Laut Heinrich lässt sich das Vorgehen zum Aufbau einer Wissenschaft nach Aristoteles wie folgt beschreiben : » Wir schreiten von dem für uns Bekannteren, aber der Natur nach weniger Bekannten zu dem für uns weniger Bekannten, aber der Natur nach Bekannteren fort. «570 Aus dieser Unterscheidung ergibt sich Heinrich zufolge ein Widerspruch im aristotelischen System, der für unsere Frage relevant ist. In seiner Physikvorlesung Über die Natur definiere Aristoteles das für uns Bekanntere als das » Komplexe « und das der Natur nach Bekanntere als das » Einfache «, zu dem man gelangen möchte.571 Demgegenüber formuliere er in der Zweiten Analytik genau umgekehrt, das für uns Bekanntere sei das » Einfache «, und wo wir hinwollten, das sei das » Allgemeinere «.572 Heinrich zögert hier, Allgemeinheit mit Komplexheit gleichzusetzen, legt es aber dennoch nahe.573 In der Geschichte des Aristotelismus sei dies überwiegend als Widerspruch interpretiert worden mit der Folge, dass zwei Arten von Beweisen mit unterschiedlicher Gewichtung postuliert worden seien.574 Der Beweis, der vom Einfachen zum Komplexen geht, heißt demonstratio propter quid. Er zeigt, warum etwas so » ist «, wie es » ist «, das heißt, er schließt von den beobachtbaren Wirkungen zurück auf die Ursachen. Der Gang vom Komplexen zum Einfachen heißt demonstratio quia. Er zeigt, dass etwas Bestimmtes der Fall sein muss, es wird also von den Ursachen auf die Wirkung geschlossen.575 Diese beiden Arten der Schlussfolgerung sind nicht als gleichwertig angesehen. Mit ihrer Unterscheidung war die Basis für die Unterscheidung zwischen analytisch und synthetisch gelegt, die später für Kants transzendentale Logik von zentraler Bedeutung sein 568 Vgl. dazu Michel Serres, Hermes V. Das Programm des Buches, in dessen Zentrum die Frage nach der Methode steht, umschreibt Serres im Klappentext zusammenfassend : » Der fünfte Band der Reihe Hermes zeichnet Wege zwischen Orten auf, von denen man gemeinhin annimmt, daß keine Verbindung zwischen ihnen besteht : zwischen Strenge und Phantasie, zwischen Mythos und Exaktheit, zwischen gesichertem und wildem Wissen. Zuweilen gelingt es einer neuen Vernunft, den Raum zu durchqueren, der die Universalität der Form von den individuellen Umständen trennt. « 569 Zitiert nach Richard Heinrich, » Kant und die Methode der Philosophie «, Vorlesungsskript zu einer Vorlesung an der Universität Wien, Sommersemester 1998, online : http ://nomoi.philo.at/per/rh/ellvau/kaweb/k5pxt.htm (25.09.2008). Das Skript ist als Hypertext publiziert ohne Seitenzahlen, deswegen vermerken wir im Folgenden die Titel der Abschnitte, aus denen zitiert wird. 570 Ebenda, im Absatz » 5.1.1.3 Wissenschaft als Beweis «. 571 Ebenda. 572 Ebenda. 573 Ebenda. 574 Ebenda. 575 Vgl. dazu die ausführlichen Darstellungen zum Beispiel in Klaus D. Dutz und Ludger Kaczmarek, Rekonstruktion und Interpretation, Problemgeschichtliche Studien zur Sprachtheorie von Ockham bis Humboldt, Tübingen 1985.

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sollte.576 Der Schluss von Ursachen auf Wirkungen führt keine hinreichenden Bedingungen mit sich. Oder aus heutiger Perspektive formuliert : Der Schluss ist lediglich eine Hypothese, ein Modell, das noch getestet werden muss. Diese Art des syllogistischen Schlusses wurde bis in die Neuzeit hinein allerdings wenig problematisiert und im Einzelnen durch eine Kombination mit anderen Beweisen geführt. Erst mit der Veränderung des wissenschaftlichen Selbstverständnisses seit dem späten Mittelalter, weg von einer rein kontemplativen, hin zu einer aktiven Tätigkeit, gewinnt die Frage nach einer Hierarchie zwischen beiden Bedeutung. Sie wurde zur Ausgangslage für die aufkommende Kultur einer empirischen, experimentellen Wissenschaft, für die eine Fundierung der gültigen Schlüsse in der Erfahrung zunehmend an Bedeutung gewann.577 Der Tradition eines Erkennens rein aus Begriffen, bloßen logischen Schließens und rationalen Disputierens » ohne Ausweis «578 der Scholastik wurde zunehmend eine Absage erteilt zugunsten eines eigenen Nachspürens der Ursachen der Naturdinge. Diese neue Bedeutung von bloß Hypothetischem für die wissenschaftliche Forschung führte zu einer Aufwertung der menschlichen Fähigkeit der Vorstellung. Mit Raimundus Lullus (um 1235– 1315), einem Dichter, Theologen und Philosophen, erfolgte somit auch eine Neuinterpretation der Aufgabenbestimmung der Logik. Lullus nahm mit seiner Neuinterpretation allerdings eine Sonderstellung inmitten der scholastischen Logiker ein. Er kam in der Logikund Philosophiegeschichte lange Zeit » im belächelten Abseits absurder Gedanken « zu stehen, wie Krämer formuliert.579 Lullus wies der 576 Was bis zu Kant lediglich eine Differenz des Beweisens war, wird für ihn zu einer Differenz der Methode. Vgl. dazu ausführlich Richard Heinrich, » Kant und die Methode der Philosophie «. 577 Gloy weist darauf hin, dass Experimente faktisch seit der Antike bekannt waren, sowohl qualitative in der Medizin und Alchimie wie auch quantitative in der Architektur und Mechanik. Dennoch könne erst Albertus Magnus (1200–1280) als geistiger Vater des Experiments gelten, für das die erkenntnistheoretischen Grundlagen der empirischen experimentellen Naturforschung gelten. Vgl. Karen Gloy, Die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens, S. 184ff. 578 Diese Bezeichnung von Gloy ist auf schöne Weise doppeldeutig. Einerseits belegt sie die Forderung nach Reproduzierbarkeit und Objektivität, wie sie für die empirischen Experimentalmethoden zum zentralen Wert wurden. Andererseits weist diese Formulierung auch auf den kulturgeschichtlichen Zusammenhang hin, der zwischen der Absage des scholastischen Offenbarungsbegriffs mit einer Absage an die fraglose Anerkennung von Autorität bestand. Vgl. Gloy, ebenda, S. 184ff. Vgl. dazu ferner die Schilderung der Anfänge neuzeitlicher Zeichenpraktiken : Bernard Siegert, Passage des Digitalen, vor allem das erste Kapitel » Die große Bürokratie «, S. 21–180. 579 Vgl. Sybille Krämer, Symbolische Maschinen, S. 88. Laut ihr führte erst die Forschung, die Yates und Rossi am Warburg-Institut zur Geschichte der Techniken der memoria artificialis zu einem nachhaltigen Wandel in der Bedeutung, den man Lullus für die Wissenschaftsteschichte zusprach. Vgl. ferner Frances A. Yates, The Art of Ramon Lull. An Approach to it through Lulls Theory of Elements, Journal Warburg and ­Courtauld Institute, Nr. 17, 1954, S. 115–173; ders., Ramon Lull and John Scotus E ­ rigena, Journal Warburg and Courtauld Institute, Nr. 23, 1960, S. 1–44; Paolo Rossi, Clavis universalis. Arti mnemoniche e Logica combinatoria da Lullo a Leibniz, Mailand 1960.

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Logik eine neue Funktion zu, indem er sie als Instrument einer universalen Wissenschaft betrachtete, die er Ars Magna et Ultima nannte. Mit deren Hilfe sollten alle wahren Sätze auf mechanische Weise erzeugt werden. Er löste nicht nur die aristotelische und scholastische Funktion der Logik als Beweiskunst als ars demonstrandi durch eine produktive Funktion ab, sondern begriff die Logik als ars inveniendi, als Kunst, neue wahre Sätze zu erzeugen.580 Damit war die Idee geboren, logische Operationen als mechanisierbare Verfahren durchzuführen,581 und es begann die für die gesamte Neuzeit so prägende Suche danach, wie sich Probleme » berechnen « ließen. Die Pointe dieser Berechenbarkeit sei allerdings nicht etwa als Wiederauferstehung der pythagoreischen Leitidee » Alles ist Zahl « zu verstehen, so Krämer.582 Auch Ian Stewart sieht sie vielmehr darin, dass man die Problemlösung als genuines Selbstverständnis des Rechnens, der Algebra, nicht mehr geometrisch zu begründen suchte, sondern auf mechanische Vollzüge hin zu untersuchen begann.583 Damit ging allerdings eine Emanzipation der Mathematik von der geometrischen Anschaulichkeit einher, die Descartes als Erster in seiner Methode zur wissenschaftlichen Erkenntnis systematisch auszuarbeiten versucht hatte. 584 Als Vorbilder für seine Methode nennt er in seinem relativ kurzen, erst postum veröffentlichten Text » Regulae ad directionem ingenii «585 die von Pappus von Alexandria ausgearbeitete Methode geometrischer Analysis 580 Vgl. dazu Sybille Krämer, Symbolische Maschinen, S. 88–90; ebenso Wolfram ­Platzeck, Die Lullsche Kombinatorik, Franziskanische Studien, 34, 1952, S. 32–60; ders., ­Raimund Lull. Sein Leben, seine Werke, die Grundlagen seines Denkens, Düsseldorf 1962. 581 » Mechanisierbarkeit « bedeutete bei Lullus sowohl eine formale als auch eine technische. Er entwarf tatsächlich eine erste mechanische Vorrichtung zur kombinatorischen Erzeugung von Sätzen, deren Wahrheit mit Rückgriff auf die mechanisch erzeugte Schlussfolgerichtigkeit bestimmbar sein sollte; siehe weiterführende Literatur unter Anm. 580 der vorliegenden Arbeit. 582 Vgl. für eine kurze Darstellung dazu Sybille Krämer, Symbolische Maschinen, S. 26–30. 583 Er schreibt etwa : » […] die treibende Kraft der Mathematik sind Probleme. « Ian ­Stewart, Mathematik, S. 19. Als eines der wegweisenden Probleme der Mathematikgeschichte nennt er die Frage, ob es einen Bruch geben kann, dessen Quadrat genau gleich zwei sei. Aus umgekehrter Formulierung dieses Problems wissen wir, dass das Wurzelziehen aus der Zwei einen unendlichen Wert erzeugt, also als » irrational « zu gelten hat. Deswegen sei diese Frage von den Pythagoreern negativ beantwortet worden und habe nachhaltig – während rund 600 Jahren – das Gleichgewicht zwischen Arithmetik und Geometrie zugunsten der Geometrie verschoben. Diese Unausgewogenheit habe die Entwicklung der Mathematik ernsthaft gestört, trotz der wunderbaren Entdeckung der griechischen Geometrie, die diesem Ungleichgewicht wahrscheinlich zu verdanken sei. Ebenda. 584 Vgl. zur Geschichte der Koordinaten Bernhard Dotzler, » HistorioGraphie des Wissens : Kartesianische Koodinaten «, in : Peter Berz, Annette Bitsch und Bernhard ­Siegert (Hrsg.), FAKtisch. Festschrift für Friedrich Kittler zum 60. Geburtstag, München 2003, S. 89–106; vgl. ferner Siegmund Günther, » Anfänge und Entwicklungsstadien des Coordinatenprincipes «, in : Abhandlungen, Band 6, Nürnberg 1877, S. 1–50; sowie Klaus Mainzer, Geschichte der Geometrie, Mannheim 1980, S. 72ff. 585 René Descartes, Regulae ad directinem ingenii, Œvres I–XII, hrsg. von Charles Adam und Paul Tannery, Paris 1897–1913, Band 10, deutsche Übersetzung von Lüder Gäbe, Hamburg 1972 und 1979.

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sowie Diophants Arithmetik.586 Beide Verfahren verstehen sich gewissermaßen als » analytische Kunst «587, indem sie versuchen, die Problemlösung dadurch zu bewältigen, indem sie das, was gesucht wird, als bereits gegeben behandeln. Es soll durch Schlussfolgerung herausgefunden werden, ob die angenommene Größe den in der Aufgabe gestellten Bedingungen genügt. Doch während Diophant laut Morris Kline über keine allgemeine Methode verfügt habe – » Seine Mannigfaltigkeit von Methoden für die einzelnen Probleme verblüfft mehr, als dass sie erleuchtet. «588 – setzte Pappus seine Vorgehensweise im Kontext der Geometrie ein. Descartes hatte an einer radikalen Verallgemeinerung derselben gearbeitet und einen eigenen Begriff der Problemlösung entwickelt. Der in der Tradition entdeckte Königsweg für die Mathematik, so Descartes, bestand demnach darin, » das Gesuchte einfach anzunehmen, so als ob man es schon hätte, und dann Folgendes zu tun : Man studiert die Beziehungen zwischen dieser nur angenommenen Gegebenheit und den tatsächlichen Gegebenheiten (Angabe) so lange, bis man auf fundamentale geometrische Wahrheiten (z. B. Axiome oder bereits bewiesene Lehrsätze) stößt «, fasst Heinrich zusammen.589 Seine Frage lautet : Was heißt hier » annehmen « ? Denn tatsächlich müsse dem Gesuchten und gar nicht Bekannten eine ganz bestimmte positive Funktion zugewiesen werden. Das Unbekannte werde gewissermassen zum Zweck seiner ­eigenen Entdeckung eingesetzt.590 Es selbst werde verwendet bei der Suche nach dem Schlüssel zu seiner eigenen Entdeckung.591 Heinrich betont, dass es sich hiermit um eine scharfe Entgegensetzung gegen eine traditionelle Auffassung von Erkenntnis handelt, die man abkürzend als Anamnesis-Auffassung bezeichnen könnte.592 Ihr zufolge, in großer Vereinfachung gesagt, könne man nichts erkennen, was man nicht schon einmal gekannt habe.593 Vor allem aber könne man auf keinen Fall absichtlich etwas Neues, Unbekanntes finden, denn als Unbekanntes

586 Ebenda, S. 376; zur geometrischen Genesis des Verfahrens der Analysis vgl. Jaakko Hintikka und Unto Remes, The Method of Analysis. Pappus’ Methode handelt vom Problem, wie ein bestimmter geometrischer Ort gefunden werden soll. Dazu hat Pappus (um 300 n. Chr.) ein Verfahren mit Hilfskonstruktionen als heuristische Vorgehensweise entwickelt. Diese wurde von Descartes radikal verallgemeinert und zu einem eigenen Begriff von Problemlösung entwickelt. Vgl. auch Richard Heinrich, » Kant und die Methode der Philosophie «, insbesondere den Absatz über » Die mathematische Methode «. 587 Es handelt sich um einen Begriff, der auf Viète zurückgeht, der seine Buchstabenalgebra ars analytice genannt hat. Vgl. François Viète, Opera mathematica, hrsg. von Franciscus van Schooten, Leiden 1646; für eine Darstellung von Viètes Beitrag zur analytischen Geometrie vgl. beispielsweise Sybille Krämer, Berechenbare Vernunft, S. 124–150, sowie 177ff. 588 Morris Kline, zitiert nach Ian Hacking, Mathematik, S. 41. 589 Richard Heinrich, » Kant und die Methode der Philosophie «, im Absatz » 6.2 Descartes «. 590 Ebenda. 591 Ebenda. 592 Ebenda. 593 Ebenda.

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könnte es ja nicht verglichen werden mit dem, was gesucht sei.594 Die algebraische Methode bricht mit dieser Tradition insofern, als man das Unbekannte als unbekanntes handhaben kann, indem man es symbolisiert. Heinrich formuliert wie folgt : » Man könnte auch sagen : wir vertreten auf künstliche Weise das noch Unbekannte durch ein kontrolliertes Trugbild – nicht ein Abbild im Sinne Platos «.595 Es sei an die bereits erfolgte Ausführung zur Charakterisierung dessen erinnert, was eine Funktion sei : ein Abbild oder, mit Karlson überspitzt formuliert, eine Art » Lebewesen «, und zwar insofern, als man – zumindest beim Integrieren – die nächsten Schritte nicht anders finden kann als durch Ausprobieren. 596 Und dieses Ausprobieren lässt sich nicht vortäuschen, denn es verändert die eigene Situation gegenüber der Ausgangslage, solange man nicht von der komfortablen Position einer Auflösung aus die Schritte lediglich nachvollziehen kann. » Selbst wenn ich die ganze Sache nur in Gedanken durchführe «, schreibt Heinrich in Bezug auf Pappus’ Anwendung in der Geometrie, » muss ich mich wirklich für eine Zeichnung entscheiden, die die Hilfskonstruktion ist; ich kann nicht alle paar Augenblicke eine andere nehmen. «597 Dieses Annehmen müsse also über eine bloße Prätention hinausgehen und etwas » Reales « sein, so fährt Heinrich fort. 598 Nur : Was tritt bei Descartes an die Stelle der geometrischen Zeichnungen und Körper ? Bei ihm kommen die Zeichen als operative Symbole ins Spiel. Ihm wird zugutegehalten, als Erster nicht nur Buchstaben für unbekannte Größen in einer Gleichung verwendet zu haben, sondern systematisch für alle Größen. Bei ihm bilden die Elemente für die symbolischen Operationen ein umfassendes System. Krämer beschreibt diese Entwicklung als Kalkülisierung des Erkenntnisverfahrens und stellt insbesondere drei Implikationen heraus.599 Erstens finde eine Entkopplung von Konstruktion und Interpretation statt. Der methodische » Kunstgriff « (dessen, was man aufzufinden hofft) bestehe im Aufbau eines symbolischen Systems und im Operieren innerhalb dieses Systems (Kalkül), unabhängig von der hermeneutischen Deutung 594 Ebenda. 595 Ebenda. 596 Paul Karlson, Zauber der Zahlen, S. 247. 597 Richard Heinrich, » Kant und die Methode der Philosophie «, im Absatz » 6.2 Descartes «. 598 Ebenda, vgl. zur Bedeutung solcher Annahmen auch Michel Serres, der sein Buch Hermes V über einen den Natur- und Geisteswissenschaften gemeinsamen Methodenbegriff mit folgender fabulierter Erzählung beginnt : » Der neue Zenon, aus Paris oder London, nannte seine Methode ›randonnée‹, weil aus einem alten, der Jagd entstammenden Wort zwei enge und dennoch unterschiedene Verwandte hervorgegangen waren : das französische ›randonnée‹, Wanderung oder Streifzug, und das englische ›random‹, Zufall, und weil er die beiden Bedeutungen wieder miteinander vereinen wollte, über den Ärmelkanal oder den Sankt-Lorenz-Strom hinweg. « Ders., Hermes V, S. 9–13. 599 Sybille Krämer, Berechenbare Vernunft, S. 88ff.

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dieser Symbole.600 In der zweiten Implikation werden Sprachen zur Technik.601 Operativ gebrauchten Symbolen wächst eine neue Aufgabe zu, die laut Krämer über ihre » kommunikative « Funktion auch technische Funktionen umfasse. Damit entstehe ein neuer Typus von Schriftlichkeit, der völlig autonom von der mündlichen Sprache sei.602 Krämer spricht von Schrift als einem Operationsraum, in dem die Symbole gewissermaßen zu » Gegenständen « werden, mit denen » umgegangen « werden kann.603 Doch dies vermag nicht zu klären, warum Krämer hier von » Schrift « spricht.604 Es scheint nicht plausibel, warum die Systeme operativer Zeichen, wie sie die symbolische Algebra entwickelt hat, nicht einfach – wie beispielsweise Foucault dies tut – als willkürliche Zeichensysteme begriffen werden sollten. Er stellt die Notwendigkeit einer immanenten Systematik der Zeichen heraus : » Ein willkürliches Zeichensystem muss die Analyse der Dinge in ihren einfachsten Elementen gestatten. Es muss bis hin zum Ursprung zerlegen, aber es muss auch zeigen, wie die Kombinationen dieser Elemente möglich werden […]. In seiner Perfektion ist das Zeichensystem jene einfache, absolut transparente Sprache, die fähig ist, das Elementare zu bezeichnen. Es ist auch jene Gesamtheit von Operationen, die alle möglichen Verbindungen definiert […]. Es existiert eine notwendige 600 Ebenda, S. 65ff. 601 Ebenda, S. 67ff. Vgl. auch dies., » Operationsraum Schrift : Über einen Perspektivenwechsel in der Betrachtung der Schrift «, in : Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine, hrsg. von Gernot Grube, Werner Kogge und Sybille Krämer, ­München 2005, S. 23–61. 602 Vgl. Sybille Krämer, » Operationsraum Schrift «. 603 Ebenda. 604 Krämer scheint nahezulegen, dass der postulierte Schriftcharakter der symbolischen Algebra diese aus einer Nähe zum Okkulten herausholen würde, und dass erst der Schriftcharakter die für Methoden gemeinhin erwartete intersubjektive Gültigkeit gewährleisten könne. Erst durch die Erfindung der Buchstabenalgebra sei die Aufstellung allgemeiner Lösungsschemata möglich geworden. Somit habe sich das vormalige Rezeptwissen in ein methodisches Wissen gewandelt und die Gestalt des algebra­ischen Kalküls annehmen können : die Zweiteilung in Formationsregeln (Aufstellen der Normalform) und Transformationsregeln (Auflösung der Gleichung). Während Rezeptwissen in gewisser Weise immer einer okkulten Praxis verbunden bleibe und stets auch als Geheimrezept praktiziert werden könne, würde nur die Schrift die für eine Methode angebrachte Objektivität ermöglichen (Vgl. Sybille Krämer, Symbolische Maschinen, S. 71f.). Es wäre interessant, weiterzuverfolgen, welcher Schriftbegriff Krämers Gedankengang zugrunde liegen mag. Es müsste auf jeden Fall einer sein, der die formalen Zeichensysteme von Codes nicht selbst beeinhaltet. Daraus ergäbe sich allerdings das Problem, worin denn die übrig bleibende » Positivität « eines derartigen Schriftbegriffs bestehen könnte. Als Theorie scheint sich hier einzig Derridas Dekonstruktion des Konzeptes einer Urschrift anzubieten. Damit kämen Krämers Untersuchungen allerdings erneut in den Kontext einer transzendenten Metaphysik zu stehen – wenn auch ex negativo. Das würde einen experimentellen Umgang in diesem Operationsraum, den sie als eine von der Lautsprache unabhängige Schriftlichkeit begreift (vgl. Sybille Krämer, Operationsraum Schrift), zum Gefechtsraum doktrinärer Verwaltungsansprüche erklären respektive ihn zum Herrschaftsgebiet ideologischer Anschauungen deklarieren. Diese Diagnose träfe sich in der Tat mit dem Befund von Hörl, der die objektivierten Kommunikationskanäle heutiger Medien keineswegs als säkularisierte, sondern als uneingestanden heiliggesprochene Kanäle herausstellt. In der Konsequenz wirft er erneut die Frage nach den Grundlagen unseres Wissens auf. Vgl. Erich Hörl, Die heiligen Kanäle.

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und einmalige Disposition, die die ganze klassische Episteme durchzieht : Es ist die Zugehörigkeit zu einer universalen Berechnung […]. Im klassischen Zeitalter sich der Zeichen zu bedienen, heißt nicht, wie in den voraufgehenden Jahrhunderten zu versuchen, unterhalb ihrer den ursprünglichen Text einer gehaltenen und für immer festgehaltenen Rede wiederzufinden. Es heißt vielmehr, den Versuch zu unternehmen, die arbiträre Sprache zu entdecken, die die Entfaltung der Natur in ihrem Raum, die letzten Punkte ihrer Analyse und ihre Kompositionsgesetze gestatten wird. «605 Wenn wir uns an die Ausgangssituation unserer Ausführungen zur Entwicklung der analytischen Methode erinnern, an jene Hilfskonstruktionen anhand derer man eine bestimmte » Realität « vorwegnimmt : Die unbekannte Größe x sei, » was immer man wolle «.606 Hilfskonstruktionen seien » Elemente von Kreativität «, die » wieder eliminiert werden «, sobald die Formulierung eines Satzes so gelungen ist, dass er als Lehrsatz annehmbar wird.607 In welchem Sinn kann hier, auf dem Weg zu einer solchen Erkenntnis, von Realität gesprochen werden ? Heinrich rechtfertigt diesen Wortgebrauch mit folgendem Argument : Die Setzung sei zwar willkürlich, aber sie müsse » von der Art sein, dass eine Interaktion möglich ist zwischen dem Zeichen und dem, was als Angabe für das Problem schon vorher da war […], denn wir müssen ja jene Folgerungen ziehen können, die uns dann irgendwann auf den Satz führen, der als Schlüssel für das Problem gestatten wird, uns von der Annahme zu emanzipieren «.608 Das heißt, die Setzung mag zwar willkürlich vereinbart sein, dennoch ist sie als Setzung innerhalb eines Problemlösungsprozesses immer schon die Verbindung eingegangen mit den Umständen, in denen und für die ein spezifisches Problem formuliert worden ist. Mit dieser Formulierung des Problems, die jedem symbolischen Lösungsprozess notwendigerweise vorausgeht, ist nach Heinrich der » kognitive Raum der Begegnung des Zeichens mit dem Bezeichneten « gegeben.609 Dieser Raum kann nun mehr oder weniger Unbekanntes enthalten – je nachdem, ob man ein Problem mehr oder weniger gut verstanden hat. Ein weitgehend verstandenes Problem eröffnet demnach einen kognitiven Raum als exakt formal beschreibbaren Kontext, indem gewissermaßen für das Unbekannte nur noch ein einziger » slot « oder » Stellenwert « übrig bleibt – womit das Gleichungssystem, in dem dieser kognitive Raum formalisiert ist, einfach zu lösen sein wird. In Descartes’ Verfahren des Operierens mit Symbolen erhalten diese den Status von Objekten. In seiner Begrifflichkeit kommt 605 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 96ff. 606 Richard Heinrich, » Kant und die Methode der Philosophie «, im Absatz » 6.2 Descartes «. 607 Ebenda. 608 Ebenda. 609 Ebenda.

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ihnen das Attribut zu, ausgedehnt und objektiv zu sein, also als » res extensa « zu gelten und nicht nur subjektiv als » res cogitans «. Dies ist zentral für ein Verständnis der Abgrenzung von Descartes’ operativem Symbolismus von axiomatisch-deduktiven Beweisverfahren. Schon in der antiken Analysis, die nach der von Pappus als problematisierend charakterisierten Methode verfährt, 610 sind die Gegenstände geometrische Objekte anstelle von Sätzen, die entweder wahr oder falsch sein können wie in den Beweisverfahren. In Descartes’ Verallgemeinerung nun treten an die Stelle der geometrischen Objekte symbolische Objekte, die allerdings – und darin besteht die Neuerung seiner Methode – nicht als Sätze erachtet werden, sondern als Objekt-Figurationen.611 Descartes’ Verallgemeinerung abstrahiert von jeder konkreten Größe und nimmt » Größen überhaupt « zum Gegenstand.612 Sein operativer Symbolismus ist zugleich ein figurativer Symbolismus – dieser Aspekt seiner Methode hat Anlass zu kontroversen und vielfältigen Interpretationen gegeben : » Descartes gewährleistet die Erkennbarkeit der Welt, indem der Symbolismus, kraft dessen wir die (Größen-) Verhältnisse der Welt bildlich repräsentieren, über eben jene ObjektBeschaffenheit der ›extensio‹ und ›figura‹ verfügt, die die Grundbedingung intuitiver Erkenntnis darstellen. ›Extensio‹ und ›figura‹ sind nicht einfach Beschaffenheiten der dinglichen Außenwelt, sondern des ›dinglichen‹ Symbolsystems, mit dem wir uns die Welt vergegenwärtigen. «613 Dieses Vergegenwärtigen geschieht nach Descartes durch unsere Einbildungskraft. Die ausgedehnten Figuren erhalten deswegen eine Sonderstellung in seinem System, weil es » diejenige Größenart [ist], die sich am leichtesten und deutlichsten von allen in unserer Einbildungskraft abmalt «.614 Die Funktionalität der willkürlichen Zeichen entfaltet ihr Potenzial nach Descartes’ Methode auf einem imaginären » Untergrund «. Es gibt selbstverständlich verschiedene Interpretationen der Rolle der Einbildungskraft.615 Könnte die 610 Vgl. dazu Daniel W. Smith, » Axiomatics and problematics as two modes of formalisation : Deleuze’s epistemology of mathematics «, hier S. 145. 611 Krämer schreibt beispielsweise : » Für Aristoteles folgten die verschiedenen wissenschaftlichen Methoden der je besonderen Natur des Gegenstandes, den es zu behandeln galt. Die Gattung des Gegenstandes gab vor, welcher Erkenntnismethodik man sich zu bedienen hatte. Descartes nun kehrt dieses Verhältnis um : Aus der methodischen Ordnung des Verfahrens folgt, was überhaupt zum Gegenstand wissenschaft­ licher Erkenntnis eignet : Die Einheit des Erkenntnisgegenstandes wird verbürgt durch die Einheit des Verfahrens. Ohne eine solche Umorientierung wäre die Verallgemeinerung von ›Berechenbarkeit‹, wie sie sich in der analytischen Geometrie oder der mathematisch verfahrenden Naturwissenschaft vollzieht, undenkbar. « Sybille Krämer, Berechenbare Vernunft, S. 92. 612 Ebenda, S. 93. 613 Ebenda, S. 217. 614 René Descartes, Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft, zitiert nach Sybille ­Krämer, Berechenbare Vernunft, S. 206. 615 Thematisiert wird sie meist nur sekundär als Konsequenz der eigentümlichen Wahrnehmungstheorie von Descartes. Vgl. dazu beispielsweise Krämer, ebenda, hier S. 204–213.

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Rolle der Imagination im operativen Symbolismus eine Neuverteilung der Gewichte zugunsten der Theorie gegenüber rein operativen Zeichenpraktiken bewirken ? Wir gehen davon aus, dass die Einbildungskraft nicht so sehr die Fähigkeit bezeichnet, sich etwas vorzustellen, was es nicht oder noch nicht gibt, sondern die Fähigkeit, verschiedene, durchaus heterogene Elemente in einem Kontext präsent zu haben.616 So definiert tritt ein altes Problem wieder in Erscheinung, nämlich dasjenige der Relationen zwischen den Elementen einer Konfiguration. Wie können diese zu einer Gesamtgestalt – mit Bacon empiristisch gesprochen – komponiert oder rationalistisch gewendet bzw. konstruiert werden ? Eben zur Beantwortung dieser Frage dienten im hermeneutischen Deutungs- und Interpretationshorizont vorklassischer Zeichenpraktiken die subtil differenzierten Ähnlichkeitsbeziehungen, von deren Korsett man sich im Paradigma der rein operationalen Symbole doch gerade befreien wollte. Foucault erläutert : » Während im 16. Jahrhundert die Ähnlichkeit die fundamentale Beziehung des Seins zu sich selbst darstellte, ist sie im klassischen Zeitalter die einfachste Form, in der das erscheint, was zu erkennen ist und was von der Erkenntnis selbst am weitesten entfernt ist. Durch sie kann die Repräsentation erkannt werden, das heißt mit denen verglichen werden, die ähnlich sein können, in Elemente aufgelöst werden […]. «617 Die einfachsten Formen, in denen das erscheint, was zu erkennen ist – bei Descartes wären das die operativen » symbolischen Dinge « –, sind die Symbole mit den Attributen figura und extensa. Sie markieren im klassischen Denken eine Grenze, die sich Foucault zufolge im Konzept der Repräsentation manifestiert. Damit grenzt sich das klassische Denken von vorklassischen Erkenntnisbedingung der Präsentation ab, und Ähnlichkeit wird zu einem Konzept, das nicht mehr in den essentiellen Eigenschaften der Dinge gründet, sondern in der Imagination : » In dieser Position der Grenze und Bedingung […] steht die Ähnlichkeit auf der Seite der Imagination, oder genauer, sie erscheint nur durch die Kraft der Imagination, und die Imagination wirkt sich umgekehrt nur aus, indem sie sich auf sie stützt. Wenn man in der ununterbrochenen Kette der Repräsentation die einfachsten Eindrücke annimmt, die untereinander auch nicht die geringste Ähnlichkeit hätten, gäbe es in der Tat keine Möglichkeit, daß der zweite an den ersten erinnert, ihn wiedererscheinen ließe und so seine erneute Repräsentation im Imaginären gestattete. […] Diese Kraft zu erinnern, impliziert zumindest die Möglichkeit, zwei Eindrücke gewissermaßen als ähnlich (als benachbart und zeitgleich, auf fast die gleiche Weise existierend) erscheinen 616 Wir folgen hier beispielsweise Richard Heinrich, » Ausdruck und Abbild. Francis Bacon «. 617 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 103ff.

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zu lassen […]. Ohne die Imagination gäbe es keine Ähnlichkeit zwischen den Dingen. «618 Die Frage, wie die Synthesen von Vorstellungen zu denken seien, ist prägend für die gesamte neuzeitliche Philosophie, sowohl in ihren empiristischen wie in ihren rationalistischen Ausprägungen. Eine entscheidende Pointe in Kants transzendentaler Logik, die zwischen diesen beiden Richtungen vermitteln möchte, besteht genau darin, dass für ihn die Synthesen von Vorstellungen fundamentaler sind als die Gegebenheit von Begriffen. Das heißt aber nichts anderes, als dass die Vorstellung selbst zu einem undefinierbaren Grundbegriff wird. Wie Heinrich hervorhebt, schreibt Kant in seiner Logik-Vorlesung ausdrücklich : » Aber Vorstellung ist noch nicht Erkenntnis, sondern Erkenntnis setzt immer Vorstellung voraus. Und diese lässt sich auch durchaus nicht erklären. Denn man müsste, was Vorstellung sei ? doch immer wieder durch eine andere Vorstellung erklären. «619 In Kants bekanntem Brief an Marcus Herz vom 21. Februar 1772 schrieb er von etwas » Wesentlichem «, das ihm » in seiner Theorie noch mangele «, und zwar : » Auf welchem Grund beruhte die Beziehung desjenigen, was man in uns Vorstellung nennt, auf den Gegenstand ? «620 Anders ausgedrückt : Worauf gründet die Beziehung des repräsentativen Zeichens zum Gegenstand ? Die gesamte neuzeitliche Entwicklung, die wir bisher skizziert haben, beruht darauf, dass genau diese Frage nicht gestellt werden durfte. Kant beendete gewissermaßen die Epoche der modernen Repräsentation, wie Heinrich etwas schelmisch formuliert, indem er ihre geheime Grundfrage ausplaudert – nämlich jene nach der Begründbarkeit der Referenz von Vorstellungen auf Gegenstände.621 Die eigentliche Idee einer Transzendentalphilosophie besagt, dass es eine Ebene der Analyse geben muss, anhand derer man erklären kann, warum die operativen Zeichenpraktiken funktionieren. Für Kant ist dies die Ebene einer systematischen Erkenntnistheorie, und Heinrich liest sein » Ausplaudern « in der Tat als » energischen Versuch, wieder ein Interesse an Theorie anzumelden, wo die Repräsentation technisch geworden war «.622 Die Frage nach dem Sinn oder Das Problem des Anfangs » Zwischen den Problemen und den Sätzen besteht stets eine Wesensdifferenz. «623 618 Ebenda. 619 Immanuel Kant, Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen, Königsberg 1800, hier zitiert nach Richard Heinrich, » Ausdruck und Abbild. Francis Bacon «. 620 Immanuel Kant, Brief an Marcus Herz, hier zitiert nach Heinrich, » Kant und die Methode der Philosophie «. 621 Richard Heinrich, » Ausdruck und Abbild. Francis Bacon «, Vorlesung 9 im online Skript. 622 Ebenda. 623 Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 209.

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Das Denken unterhält Beziehungen zu einem Außen. Gleichzeitig ist davon auszugehen, dass kein Denken voraussetzungslos beginnen kann. Mit diesen beiden Theoremen als Ausgangslage steht Deleuze in der Tradition eines radikalen Differenzdenkens, für die vielleicht in besonderem Maße das Denken Nietzsches und Heideggers wichtig ist. Es geht in dieser Tradition darum, nicht von Identität ausgehend zu denken, diese also nicht als originäre, sondern als eine bewirkte oder erzeugte zu begreifen. Differenz anzunehmen, wo man von Identität ausgegangen war – dies ist in der Tat eine Formel, die schon Gegenstand » so vieler möglicher Deutungen « geworden ist, dass man bei einer genaueren Betrachtung der Variationen dieses Problems » nicht genug Vorsicht walten lassen kann «, wie Deleuze selbst schreibt.624 Was seine Perspektive vielleicht in besonderem Maße auszeichnet, ist sein Insistieren darauf, dass es eine Art des Nachdenkens über Anfänge geben müsse, die weder auf eine für sich reklamierte Vo­raussetzungslosigkeit gründet,625 noch auf den reflexionslogischen Weg setzt mit dem von vornherein zum Scheitern verurteilten Versuch, eigene Voraussetzungen einzuholen.626 Es gibt hier eine gewisse Nähe zu Wittgenstein, der im § 209 seiner Philosophischen Untersuchungen ebenfalls vor der Selbstbezüglichkeit anlangte und die Reflexionslogik verwirft.627 Der Anspruch, den ­Deleuze für sein philosophisches Projekt formuliert, betrifft Philosophie in ihren architektonischen Grundfesten. Und zwar in einer Weise, die nicht – metaphorisch gesprochen – den Schauplatz vom Haupt- auf Nebengebäude lenken möchte, Vor- oder Hinterhöfe mit ins Bild bringen will, sondern die für philosophische Strukturen just jene Inversion thematisieren will, wie wir sie für algebraische Strukturen über die nur scheinbar transparente und neutrale Rolle der Hilfskonstruktionen in der Mathematik thematisiert haben. 624 Ebenda, S. 169f. 625 Rölli grenzt Deleuze’ virtuelle Dialektik von der spekulativen Dialektik Hegels ab, indem er dessen (Deleuze’) Transzendentalphilosophie als Empirismus charakterisiert (nicht als Phänomenologie). Hegels Kreisförmigkeit, derzufolge die Voraussetzungen des Anfangs bereits ihre Aufhebung im Prozess der Selbstbestimmung des Absoluten impliziert, bleibt Röllis Meinung nach dem Ideal der Voraussetzungslosigkeit ebenso verpflichtet wie die cartesianische Suche nach unmittelbarer Gewissheit als Grundlage des Wissens. Anders etabliere die Zirkularität der hermeneutischen Logik eine Anzahl von Vorurteilen, die sie als solche nicht thematisiere : Vorurteile, die durch ihre Geschichtlichkeit und Geschicktheit ihren unbegründeten, veränderlichen Charakter verstellen würden. Vgl. Marc Rölli, Gilles Deleuze. Die Philosophie des transzendentalen Empirismus, insbesondere S. 238ff. 626 Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 169. In ihrem gemeinsamen Buch Was ist Philosophie ? unterscheiden Deleuze und Guattari drei » Bilder des Denkens «, die jeweils unterschiedlich auf dogmatischen Voraussetzungen fußen : die Formen der Kontemplation, der Reflexion und der Kommunikation. Alle drei beziehen sich nach den Autoren auf eine transzendente Instanz, deren Voraussetzungslosigkeit gewissermaßen in Kauf genommen wird. Vgl. Gilles Deleuze und Félix Guattari, Was ist Philosophie ?, S. 53–57. 627 » Unser Paradox ist dies : eine Regel könnte keine Handlungsweise bestimmen, da jede Handlungsweise mit der Regel in Übereinstimmung zu bringen sei. « Ludwig ­Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt am Main 1982 [1953], § 209.

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Um die Implikationen einer solchen Inversion schon vorgreifend etwas zu verbildlichen : Während die Vorstellungen der Antike als Sitz (Herrenhaus) einer allgemeinen Vernunft die Struktur des Kosmos erwogen, das Christentum aus einer nun theologisch gefassten kosmischen Ordnung die Struktur eines geistigen Ordens oder mit Augustinus gar einer Stadt Gottes herzuleiten suchte, und während die neuzeitlichen Vorstellungen ein universelles intellektuelles Heim als Universität begriffen, die es in ihrer Gliederung in unterschiedliche Fakultäten zu denken galt, respektive, im Deutschen Idealismus, die Welt in ihrer Geschichtlichkeit als werdender Körper eines allgemeinen Weltgeistes fingierten, scheint Deleuze die Allgemeinheit von Vernunft selbst nicht mehr als Haus, Orden, Stadt, Institution oder Körper repräsentiert zu denken, sondern als Natur des Universellen, dessen » Physik « er in eben jenem Symbolischen verkörpert sieht, von dem wir gemeinhin annehmen, dass seine Elemente ganz ohne Referenz seien.628 Philosophie, so wie Deleuze sie begreift, reißt sich von jedem festen Grund los, auf den sich bauen ließe.629 Damit macht er das, was man vielleicht als das Grundthema der Philosophie überhaupt seit Ende des 19. Jahrhunderts bezeichnen könnte, direkt und explizit zum Gegenstand einer Affirmation : die scheinbar heillosen Aussetzungsverhältnisse, denen sich ein Denken hingeben muss, will es in jenem grundlosen Element des Symbolischen Herr seiner selbst werden, sein und bleiben. Betrachtet man die in ihrem Umgang mit Geschwindigkeit und Abstraktion bisweilen geradezu beleidigend anmutenden Strategien, mit denen Deleuze gearbeitet hat als Ausdruck überdrehter Selbstbezüglichkeit, so täte man seinem Bestreben aber Unrecht. Auch wenn man in der bisweilen recht sperrigen Zugänglichkeit seiner Texte eine reaktionäre Geste gegenüber von Populärkultur sähe, oder andersherum, darin ein listiges Instrument derselben erkennen wollte, um sich die Autorität bestimmter Themen anzueignen, würde die Dimension der eigentlichen Auseinandersetzung mit dem Mathematisch-Symbolischen in seinem Werk versperrt bleiben. In dieser Sperrigkeit kommt vielmehr zum Ausdruck, wie sich Deleuze gegen einen bestimmten Status auflehnt, der » den Intellektuellen « oft zugeschrieben wird – nämlich derjenige, » Sachwalter des Allgemeinen « zu sein.630 Die Erwartung überhaupt, dass jemand diesen Status bedienen können müsste, hängt jedoch selbst mit den besagten Umwälzungen auf dem Gebiet der Mathematik zusammen. Denn etwas polemisch 628 Deleuze und Guattari sprechen von diesem Projekt auch als » Geophilosophie «. ­Gilles Deleuze und Felix Guattari, Was ist Philosophie, S. 97–131. 629 Dies wird Deleuze immer wieder von Kommentatoren vorgeworfen, für die dieses Aufs-Spiel-Setzen lediglich als spekulatives Gedankenexperiment erscheint. So wird Deleuze auf dieser Basis beispielsweise von Hallward für eine politische Positions­ losigkeit kritisiert. Vgl. Peter Hallward, Out of this World. 630 Vgl. Gilles Deleuze, Foucault, S. 127ff.

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formuliert kann man es wagen, zu postulieren, dass das Vertrauen in die moderne Wissenschaft von der schlichten Nüchternheit der Trias das Wahre, das Ausgedehnte, das Formalisierte lebt, durch welche man die ehemalige Trias des Wahren, des Schönen, des Guten ersetzt sah. Just diese Nüchternheit musste spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts als entlarvt gelten : » Der Zweck substitutiver Zeichen ist es, das Denken ökonomisch zu machen «,631 so formulierte Whitehead etwas erbarmungslos. Und weiter : » Die Kunst der Manipulation substitutiver Zeichen nach festgelegten Regeln und die Ableitung wahrer Propositionen aus diesen ist ein Kalkül «.632 Den Unterschied zwischen Wörtern und substitutiven Zeichen sieht er wie folgt festgelegt : » Ein Wort ist ein Werkzeug für das Nachdenken über die Bedeutung, die es ausdrückt, ein substitutives Zeichen ist ein Mittel, nicht über die Bedeutung, die es symbolisiert, nachzudenken. « 633 Mit dem Verlust der geometrischen Anschaulichkeit wurde dem Denken gewissermaßen der vertraut geglaubte, allen gemeinsame intellektuelle Boden unter den Füßen entzogen.634 Seither haben philosophische Schulen wie die Phänomenologie, der Existenzialismus, der Strukturalismus, der Pragmatismus, der Positivismus, die Performanztheorien und nicht zuletzt die Psychoanalyse nach Wegen gesucht, eine solche Ökonomisierung des Denkens erneut unter eine höhere Autorität, und darüber in die Schranken bestimmter, unerschütterlicher Fundamente zu weisen. Während also die meisten intellektuellen Energien zur Mobilisierung intellektuellen Widerstandes eingesetzt werden, in der Annahme, dass von der Möglichkeit eines Kalküls des Denkens nichts Gutes zu erwarten sei, setzt Deleuze diese Möglichkeit analytisch voraus und beginnt damit, gewissermaßen philosophisch-algebraisch, verschiedenen Abbildungen dieser Voraussetzung zu untersuchen. Und es ergeben sich, je nachdem, wie er diese Voraussetzung formalisiert, unterschiedliche Abbildungen. Diese nennt er » Bilder des Denkens «, und er sieht in ihnen die symbolisch formalisierbaren, natürlichen, Vo­ raussetzungen der Philosophie : » Unter Bild des Denkens verstehe ich keine Methode, sondern etwas Tieferes, das immer vorausgesetzt ist, ein Koordinatensystem, ein System von Dynamismen, Orientierungen : eben denken und ›sich im Denken orientieren‹. […] Das Bild des Denkens ist wie die Voraussetzung der Philosophie, es liegt ihr voraus. […] Das Bild des Denkens leitet die Schöpfung von Begriffen. […] Eine solche Untersuchung der Bilder des Denkens könnte man Noologie 631 Alfred North Whitehead, A Treatise on Universal Algebra, S. 4. 632 Ebenda. 633 Ebenda. 634 Vgl. für eine Darstellung der damaligen Umwälzungen Paul Ziche, Wissenschaftslandschaften um 1900. Philosophie, die Wissenschaften und der nichtreduktive Szientismus, Zürich 2008. Für eine kurze Einführung in die Krisenverhältnisse aus dezidiert philosophischer Perspektive vgl. auch Michael Hampe, Alfred North Whitehead, München 1998, hier insbesondere S. 31ff. sowie S. 38–82.

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nennen. Es wären die Prolegomena zur Philosophie. Das ist der eigentliche Gegenstand von Differenz und Wiederholung : die Natur der Postulate im Bild des Denkens. « 635 Entscheidend ist hier, dass der Begriff der » Abbildung « bei Deleuze ein analytischer ist, ein algebraisch-mathematischer. Dieser Punkt war für viele oftmals irreleitend, denn er wendet sich in einem der wichtigsten Kapitel von Differenz und Wiederholung dezidiert gegen ein bestimmtes » Bild des Denkens «, dasjenige der Repräsentation.636 Deleuze meint mit diesem Bild des Denkens generell jedes, das nicht von einer messbar machenden analytischen, sondern von einer direkt messenden geometrischen Abbildbarkeit ausgeht.637 Dieses Commitment zur Tradition der analytischen Philosophie bei Deleuze wird nur selten erkannt oder kommentiert.638 Das für diese Tradition charakteristische Interesse an Verallgemeinerung und Abstraktion spricht bei Deleuze jedoch eine klare Sprache. Deleuze kritisiert in dem, was er die » Form der Repräsentation « nennt, die Annahme einer gleichsam als » natürlich « angenommenen Neigung des Denkens zur Wahrheit.639 Diese Neigung finde ihr Element im Gemeinsinn : » Dieses Element [Gemeinsinn, Anm. d. Verf.] besteht nur in der Setzung des Denkens als natürlicher Ausübung eines Vermögens unter Voraussetzung eines naturwüchsigen Denkens, das zum Wahren fähig und geneigt ist, und zwar unter dem doppelten Aspekt eines guten Willens des Denkenden und einer rechten Natur des Denkens. Denn jedermann denkt von Natur aus, und jedermann sollte doch implizit wissen, was Denken bedeutet […]. Die implizite Voraussetzung der Philosophie findet sich im Gemeinsinn als cogitatio natura universalis, von der aus die Philosophie ihren Ausgang nehmen kann. «640 635 Gilles Deleuze, Unterhandlungen 1972–1990, Frankfurt am Main 1993, S. 215–217. 636 Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, S.169ff. 637 Für die analytische Anschaubarkeit entwickelt Deleuze in der Tradition der Zeichentheorie von Peirce den Begriff des Diagramms. Damit begegnet er dem Problem des Abbildes, welches für die Linguistik wie für die meisten Richtungen der Sprachphilosophie unhintergehbar erscheint, aus der Tradition der Topologie heraus. Damit wird das Abbild zur » Kartografie « im Sinne eines analytischen – das heißt, funktionsanalytischen – mappings, dessen Darstellung nie als unabhängig von einer Zwecksetzung und der entsprechenden Auswahl an Kriterien zur Beurteilung zu » lesen « ist. Vgl. zur Bedeutung des Diagramms bei Deleuze beispielsweise John Rajchman, The ­Deleuze Connections, Cambridge 2000, insbesondere S. 8ff.; vgl. zum Begriff des Abbildes spezifisch bei Wittgenstein Wilhelm Vossenkuhl, » Sagen und Zeigen. Wittgensteins ›Hauptproblem‹ «, in : ders. (Hrsg.), Ludwig Wittgenstein. Tractatus logico-philosophicus, S. 35–64; Erich Ammereller, » Die abbildende Beziehung. Zum Problem der Intentionalität im Tractatus «, in : Wilhelm Vossenkuhl (Hrsg.), Ludwig Wittgenstein. Tractatus logico-philosophicus, S. 111–140; zur diagrammatischen Logik vgl. Charles Sanders Peirce, » Kategoriale Strukturen und graphische Logik « [1903], in : ders., ­Semiotische Schriften, Band 2 (1903–1906), Frankfurt am Main, 1999, S. 98–165. 638 Dies verhält sich bei Deleuze ähnlich wie bei Foucaults Diskursanalyse. Beide können in der Tat in ihren Begriffs- respektive Aussagetheorien gewissermaßen als strukturverwandt gelten. Als Ausnahmen dieser Tendenz zum Ignorieren siehe die Aufsatzsammlung hrsg. von Simon Duffy, Virtual Mathematics. 639 Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 173ff. 640 Ebenda, S. 171.

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Deleuze kritisiert an dieser Annahme vor allem, dass darin eine bestimmte Natürlichkeit des Denkes nomologisch gesetzt werde, anstatt dass eine bestimmbare Natürlichkeit empirisch untersucht werde. Mit der Setzung einer bestimmten Natur einher geht die Annahme einer Innerlichkeit des Denkens, während die Setzung einer bestimmbaren Natur des Denkens dieses einer Äußerlichkeit aussetzt. Das Denken widerfahre einem viel mehr, als dass man es intentional ausüben könne.641 » Denken gehört zum Außen «, schreibt Deleuze und schränkt ein : » […] soweit dieses als ›abstrakter Sturm‹ durch den Spalt zwischen dem Sehen und dem Sprechen dringt «.642 Demgegenüber gehen sowohl Descartes wie auch Kant von einer Innerlichkeit des Denkens aus. Descartes etwa kann nur unter der Annahme des Gemeinsinns als Element einer generellen Innerlichkeit des Denkens unmittelbar von der Gewissheit des Denkens zur Existenz des denkenden Ich übergehen. Bei Kant begreift Deleuze den Gemeinsinn nicht als Element, sondern als Ergebnis, nämlich eines Zusammenspiels der geistigen Vermögen, das allerdings orchestriert wird. Wie einem Dirigenten folgen die Vermögen bei Kant dem Postulat, dass sich die Identität eines Objekts feststellen lässt, als dessen gemeinem Sinn.643 Nicht das Ding an sich sei das Objekt von R ­ ekognition bei Kant, sondern ein solchermaßen durch das Zusammenspiel der geistigen Vermögen erzeugter Sinn : » Die Rekognition definiert sich durch die Ausübung aller Vermögen auf ein Objekt, das als dasselbe vorausgesetzt wird : dasselbe Objekt ist es, das gesehen, berührt, erinnert, imaginiert, begriffen […] werden kann. «644 Ein Begriff, der dieses Zusammenspiel der Vermögen in einem Objekt fassen lässt, stellt die Identität dieses Objekts auf generelle, im Sinne von gemeingültiger Weise fest. Bei Kant gewährleistet die Rekognition den Gemeinsinn, dies ist bei Descartes genau umgekehrt. Hier muss der Gemeinsinn die Rekognition gewährleisten. Descartes hat sich dieses Problem anhand eines Wachsstücks gestellt, dessen Natur er in der zweiten seiner Meditationen untersucht.645 641 » Anstatt zu sagen ›Ich denke‹, sollte es viel eher heißen ›Es denkt‹ etwa so wie man sagt, ›Es blitzt‹ «. Wittgenstein, zitiert nach Erich Ammereller, » Die abbildende Beziehung. Zum Problem der Intentionalität im Tractatus «. 642 Gilles Deleuze, Foucault, S. 121. An anderer Stelle präzisiert er sein Verständnis der Konzepte : » Sprechen und Sehen oder genauer Aussagen und Sichtbarkeiten sind reine Elemente, apriorische Bedingungen, gemäß denen sämtliche Ideen zu einem bestimmten Zeitpunkt formuliert werden und die Verhaltensweisen sich zeigen. « Ebenda, S. 86. Vgl. zu den Konzepten insbesondere Michel Foucault, Die Archäologie des Wissens. 643 Deleuze hat die verschiedenen Bedeutungen des Wortes Vermögen genau differenziert. Die Lehre von den Vermögen und ihren Verhältnissen ist das große Thema seines Buches über Kants kritische Philosophie. Gilles Deleuze, Kants kritische Philosophie. Die Lehre der Vermögen, Berlin 1990. 644 Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 174. 645 René Descartes, Meditationen über die Erste Philosophie/Meditationes de Prima Philosophiea, deutsch-lateinisch, übersetzt und hrsg. von Gerhart Schmidt, Stuttgart 1986, S. 89–97.

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Wie Zechner ausführt, ist Descartes’ Antwort berühmt : Er bezieht die jeweiligen Sinne wie die jeweiligen Vermögen auf eine gemeinsame Instanz – das Ich, das man selbst ist, während man denkt.646 Für Deleuze gibt es auch eine Natur des Denkens. Aber diese Natur haben wir nicht alle in unserer subjektiven, persönlichen Innerlichkeit, als ob sie ein Organ wäre, etwa das Gehirn. Die Natur des Denkens ist bei Deleuze auch allen gemeinsam, aber ihr können wir nur begegnen wenn wir uns gewissermaßen entsetzen, wenn wir außer uns sind, indem wir uns dem Infiniten, dem Unbeschränkten aussetzen : » Das Problem der Philosophie besteht darin, eine Konsistenz zu erlangen, ohne das Unendliche preiszugeben. «647 Wollte man hier lediglich einen Rückfall in scholastische Denkmuster wiedererkennen, würde man diesem Vorschlag von ihm zweifellos nicht gerecht. Zwar geht es ihm tatsächlich um eine Wiederbelebung der transzendenten Dimension von » Sinn « gegenüber jener immanenten von » Funktion «. Deleuze’ Wagnis besteht darin, zu erwägen, wie sich im immanenten Element des Funktionellen etwas ereignen könnte, was die gegenüber dem Infiniten geschlossene, kombinatorische Serialität jener Immanenz transzendiert. Dafür entleert er jenes Funktionelle radikal von jedem Sinn und jeder Bedeutung, das heißt, er behandelt es, wie Whitehead sagt, 648 als Raum rein substitutiver Zeichen, referenzloser Symbole. An die Stelle eines göttlichen Geistes, der in den Zeichen der Welt seine Spuren hinterlässt, tritt bei Deleuze die Vorstellung von Sinn als einer Art geistigen Elements, welches für die Philosophie in den Funktionsgleichungen des Symbolischen konserviert, faktorisiert, transformiert und ausgetauscht wird – gerade so wie Größen als physisches Element in Funktionsgleichungen konserviert, faktorisiert, transformiert und ausgetauscht werden. Kurzum, seine Hermeneutik des Sinns geht nicht mehr über Auslegeordnungen von Worten und Sätzen, um einen Sinn freizulegen, der den Dingen innerlich wäre, sondern darüber, wie Worte und Sätze Sinn, der ihnen äußerlich ist, codieren und erhalten können. Die referenzlosen Symbole, welche er als das natürliche Element des Denkens erachtet, dienen bei ihm nicht auf unmittelbare Weise zur Wiedererkennung, sondern sie müssen selbst Gegenstand einer Begegnung werden. Zu fassen, wie sich eine solche Vorstellung von Philosophie entwickeln ließe, ist sein großes Projekt eines » transzendentalen Empirismus «649. Wie wir gesehen haben, gelten die Symbole auch für Descartes als objekthaft (in Abgrenzung zur begrifflichen Form, die für ein Beweisverfahren konstitutiv wäre). Wie sehr Deleuze mit seinem Empirismus von anderen Voraussetzungen ausgeht als Descartes wird daran deutlich, dass es 646 647 648 649

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Ingo Zechner, Deleuze. Der Gesang des Werdens, München 2003, S. 30. Gilles Deleuze und Félix Guattari, Was ist Philosophie ?, S. 51. Alfred N. Whitehead, A Treatise on Universal Algebra, S. 4. Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung.

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sich für ihn nicht um Symboloperationen handelt, die kombinatorisch eine Annäherung an eine Problemlösung suchen könnte.650 Vielmehr ist es bei Deleuze eine insistierende Objektivität der Probleme selbst, die sich uns in den Verweisstrukturen von Markierungen zu erkennen gibt und die sich auf regelmäßige Weise (also mathematisch) in die Sub­ stitutionszeichen des referenzlosen Symbolischen projizieren lassen. Seine Philosophie ist ein Platonismus, ein invertierter oder gestülpter Platonismus jedoch, bei dem die Probleme (nicht die rein-regelmäßigen Körper der Formen) den Status von Ideen zugesprochen bekommen. Die Verweisstruktur der Zeichen referiert damit bei ­Deleuze nicht auf einen Gott als Absender, sondern auf transzendente Probleme, die in Zeichen zum Ausdruck kommen. Wir werden später ausführlicher darauf eingehen. Die größte Herausforderung, zu der ­Deleuze’ Philosophie anregt, mag vielleicht darin bestehen, die notwendige Verinnerlichung des Außen nicht mit der Aufhebung der ­eigentlichen Dimension des Außen zusammenfallen zu lassen651 – wie das im Ausgang an die kant­sche Philosophie geschieht und heute in bestimmten Richtungen der künstlichen Intelligenzforschung sowie der Kybernetik fortgeschrieben wird. Bei Deleuze sind es nicht die Formalisierungen von Problemen (in Lösungsmöglichkeiten), denen der objektive Status eines gemeinen Sinns zukommt. Anders als das kantsche Denken, das man als das Projekt eines empirisch begründbaren Idealismus umschreiben könnte, verlagert Deleuze’ Projekt eines » idealistischen Empirismus «652 das Schwergewicht von der Ebene der rationalen Entwicklung allgemeiner Verfahren zur Problemlösung auf eine dieser noch vorgelagerten Ebene. In aller Nähe 650 Vgl. zur Begrenzbarkeit des Möglichen anhand einer rein formalen Kombinatorik den Essay über Samuel Beckett von Gilles Deleuze, » Erschöpft «, in : ders., Samuel Beckett, Quadrat. Stücke für das Fernsehen, Frankfurt am Main 1996, S. 49–101. Er schreibt dort etwa : » Wenn man Mögliches verwirklicht, so geschieht es im Hinblick auf gewisse Ziele, Pläne, Vorlieben : ich ziehe Schuhe an, um auszugehen, und Pantoffeln, um daheim zu bleiben. […] Ganz anders mit der Erschöpfung : man kombiniert alle Variablen einer Situation, vorausgesetzt, daß man auf Vorlieben, Zielsetzungen oder Sinngebungen jedweder Art verzichtet. […] Becketts großer Beitrag zur Logik ist, daß er zeigt, daß die Exhaustion nicht ohne eine gewisse physiologische Erschöpfung vor sich geht : ähnlich wie Nietzsche nachwies, daß das wissenschaftliche Ideal nicht ohne eine gewisse Einbuße an Vitalität möglich ist […]. Muß man erschöpft sein, um sich mit Kombinatorik zu beschäftigen, oder ist es vielmehr die Kombinatorik, die uns erschöpft, die zu unserer Erschöpfung führt, oder beides zusammen, die Kombinatorik und die Erschöpfung ? « (S. 52–56). 651 Rölli weist darauf hin, dass in diesem Zusammenhang die Spätphilosophie von Merleau-Ponty für Deleuze wichtig war. Gerade der dialektischen Theorie als einer » Kunst der Probleme und Fragen «, die Merleau-Ponty im kritischen Ansatz gegen Hegel und Sartre konzipiert hat, habe sich Deleuze ausdrücklich zugeneigt. Auch seine ontologisch konzipierten Denkfiguren der » Verflechtung « oder » Faltung « aus Das Sichtbare und das Unsichtbare finden entsprechende Theoreme im Denken von Deleuze. Vgl. Marc Rölli, Gilles Deleuze. Die Philosophie des transzendentalen Empirismus, S. 242, sowie Leonard Lawlor, » The End of phenomenology. Expressionism in Deleuze and Merleau-Ponty «, in : Continental Philosophy Review, Vol. 31, 1998, S. 15–34. 652 Auch Peirce ist für seine Semiotik auf eine ähnliche (paradoxale) Verwicklung tradierter philosophischer Positionen gekommen. Er spricht von seiner Philosophie als empirischem Idealismus. Vgl. Helmut Pape (Hrsg.), Kreativität und Logik.

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von Deleuze’ Projekt zu Kants transzendentaler Methode formuliert er eine grundlegende Kritik, die darin besteht, dass dieser seinen allgemeinen Möglichkeitsbedingungen entsprechend einen bestimmten Begriff von Erfahrung setzen müsse, und damit eine Begegnung des Denkens mit dem jeweils noch Undenkbaren verunmögliche. So gebe Kant für die Philosophie das Infinite preis.653 Es gebe bei Kant einen vorausgesetzten, starr konzipierten Begriff der Erfahrung, und dieser gründe auf dessen Modell der Rekognition.654 Der Gemeinsinn als » bestverteilte Sache der Welt, […] von Natur gleich bei allen Menschen « wird als concordia facultatum bestimmt, als Vermögen zur Synthese in der Erfahrung.655 Deleuze identifiziert hier eine Illusion, die darin besteht, den reellen immanenten Erfahrungsgehalt mit einer begrifflichen Regelung spontan zu objektivieren.656 Damit will er nicht bezweifeln, dass wir uns anhand von Denkgewohnheiten in der Welt eingerichtet haben, aber er verwahrt sich dagegen, diese alltäglichen Rekognitionsakte in einem unthematischen Verhältnis zu belassen und sie damit regelrecht zu naturalisieren. Anders als Kant, der diese positive Aktualität in einem bestimmten Begriff der Erfahrung zu fassen sucht, versucht ­Deleuze, die genetischen Bedingungen aufzudecken, von welchen jegliche Erfahrung bestimmt wird. » Es gibt etwas in der Welt, das zum Denken nötigt. Dieses Etwas ist Gegenstand einer fundamentalen Begegnung, und nicht der Rekognition. «657 Diese genetischen Bedingungen können – so die Kritik von Deleuze an Kant – nicht selbst auch nach der » Form der Repräsentation « begriffen werden.658 Die Form der Repräsentation beschränke sich auf den Raum der Erinnerung, der Imagination und des Begriffes, während doch dasjenige, was zum Denken nötigt, in diesen Raum erst hereinbricht, darin aber vorher noch nicht vorzufinden ist : » In seinem ersten Merkmal […] kann es nur empfunden werden. Gerade in dieser Hinsicht widersetzt es sich der Rekognition. Denn das Sinnliche ist in der Rekognition keineswegs das, was nur empfunden werden kann, sondern dasjenige, was sich unmittelbar auf die Sinne in einem Objekt bezieht, das erinnert, imaginiert, begriffen werden kann. […] Es setzt also den Gebrauch der Sinne und den Gebrauch der anderen Vermögen in einem Gemeinsinn voraus. « 659 Um es auf die Spitze zu treiben : In einem vorausgesetzten Gemeinsinn kann es keine Begegnung geben, sondern 653 Vgl. dazu Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 174ff. 654 Ebenda 655 Vgl. auch Marc Rölli, Gilles Deleuze. Die Philosophie des transzendentalen Empirismus, S. 242. 656 Vgl. zum selben Problem bei Peirce auch Helmut Pape, » Die Seele des Universums. Peirce’ semiotische Metaphysik der kosmologischen und kulturellen Evolution «, in : ders. (Hrsg.), Charles Sanders Peirce. Naturordnung und Zeichenprozess. Schriften über Semiotik und Naturphilosophie, Frankfurt am Main 1988, S. 11–110, hier insbesondere S. 25–31. 657 Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 182. 658 Ebenda. 659 Ebenda.

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nur ein Wiedererkennen. So wird das, was bei Kant als Transzendentales der cartesianischen Innerlichkeit des Denkens eigentlich äußerlich sein sollte, lediglich von den Gestalten des Empirischen abgepaust. Den einzigen Weg zu einem Objekt der Begegnung sieht Deleuze im Empirismus selbst.660 Die Differenz, die den Ausschlag für Erfahrung gebe, liege zwischen dem Transzendentalen und dem Empirischen – nämlich dort, wo die Erfahrung sich gleichsam selbst organisiert.661 Anders als die Rekognition lasse » das Objekt der Begegnung wirklich die Sinnlichkeit im Sinn entstehen. « 662 In einer Begegnung erfahre man so betrachtet nicht etwas Gegebenes, » sondern das, wodurch das Gegebene gegeben ist. «663 Deleuze findet bei Hume die Idee eines » Atomismus der Einbildungskraft «,664 der alles andere ist als gleichbedeutend mit der Vorstellung eines » Sinnes-Atomismus «, wie er gemeinhin für empirische Positionen veranschlagt wird.665 Für Deleuze ist der Empirismus eine Philosophie der Einbildungskraft, deren Elemente Vorstellungen oder Ideen sind – und zwar die kleinsten, unteilbaren, die Quanten einer intellektuellen Energie, mit der die Einbildungskraft in der Natur des Symbolischen operiert.666 Dieses materialistische Bild gewinnt er über eine Verbindung zum antiken Atomismus von Lukrez.667 Der Dritte im Bunde zur Gründung eines transzendentalen Empirismus in den Gedankengängen von Deleuze ist Leibniz mit seinem Inflexionsatomismus. Nur so kann ­Deleuze schließlich sagen : » Das Atom ist das, was gedacht werden muss, was nur gedacht werden kann. «668 Daraus ergibt sich für ihn » das erste 660 Ebenda, S. 187. 661 Dieser Begriff der Selbstorganisation ist in gewisser Weise problematisch. Während man sich seiner bedient, um die Annahme eines Selbst loszuwerden, scheint er doch wiederum ein solches zu implizieren. Wie Hampe darlegt, stehen Theorien um Genesis und Selbstorganisation in der Tradition und Geschichte des Naturgesetzbegriffs. Vgl. Michael Hampe, Eine kleine Geschichte des Naturgesetzbegriffs, S. 110–130. In ihnen wird versucht, eine Geschichte der Natur mit immanenten Gesetzen zu entwickeln, eine Geschichte ohne Schöpfungsakt also. Frühe Selbstorganisationstheorien waren etwa die spekulativen Kosmologien von Peirce und Whitehead. Vgl. Charles Sanders Peirce, Naturordnung und Zeichenprozess, insbesondere seinen Aufsatz » Was ist ein Naturgesetz ? «, S. 292–315; Alfred North Whitehead, Process and Reality. 662 Vgl. dazu Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 182. 663 Ebenda. 664 Ingo Zechner, Deleuze. Der Gesang des Werdens, S. 69. 665 Vgl. zu Deleuze’ Lektüre und zur Interpretation von Hume seine Monografie über diesen : Gilles Deleuze, David Hume, Frankfurt am Main 1996 [1953], S. 104. Deleuze ist beispielsweise auch der Auffassung, dass der Empirismus die Erfahrung immer schon dem Prinzip unterstellt, dass jede Vorstellung (das heißt jede Idee) von einem Eindruck her stamme. 666 Ebenda, S. 108. 667 Vgl. dazu Lukrez, De rerum natura. Siehe auch Serres’ Studie zu Lukrez und der Bedeutung des antiken Atomismus für die sogenannten Komplexitätswissenschaften heute : Michel Serres, The Birth of Physics, London 2000. Deleuze hat einen kurzen, aber sehr wichtigen Text über Lukrez geschrieben, der als Appendix in Logik des Sinns veröffentlich wurde. Vgl. Gilles Deleuze, » Trugbild und antike Philosophie «, in : ders., Logik des Sinns. Aesthetica, Frankfurt am Main 1993 [1969], S. 324–340. 668 Gilles Deleuze, » Trugbild und antike Philosophie «, S. 327.

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Prinzip der Philosophie «,669 dass nämlich diese Vorstellungen als Universalien überhaupt nichts erklären können, sondern vielmehr selbst erklärt werden müssen. » Der Fehler aller Bestimmungen des Transzendentalen als Bewusstsein besteht darin, das Transzendentale nach dem Bild und der Ähnlichkeit dessen zu begreifen, was es begründen soll. Also postuliert man es entweder als schon vorhanden, was man durch eine transzendentale Methode zu erzeugen beabsichtigt, oder man postuliert es als schon vorhanden im ›ursprünglich‹ genannten Sinn, den man als dem konstituierenden Bewusstsein zugehörig unterstellt; oder aber man verzichtet ebenso wie Kant selbst auf die Genese oder auf die Konstitution, um sich an ein schlichtes transzendentales Bedingen zu halten; aber man entgeht dennoch nicht dem Zirkelschluß, dem zufolge die Bedingung auf das Bedingte verweist, dessen Bild sie nachahmt. «670 Deleuze zufolge lässt sich der Begriff der Differenz also weder auf die empirische Verschiedenheit reduzieren, noch lässt er sich negativ und begriffsintern als Gegensatz oder Widerspruch bestimmen. Trotzdem ist die Ausrichtung seines Denkens eine empiristische, denn nur der Empirismus versteht es, » über die erfahrungsabhängigen Dimensionen des Sichtbaren hinauszugehen, ohne den Ideen zu verfallen «.671 Marc Rölli weist auf eine eigentümliche Ablehnung des Empirismus innerhalb der nicht positivistischen Metaphysikkritik hin, die er auf das verbreitete Vorurteil zurückführt, dass der Empirismus die eigentlichen Denkvorgänge leichtfertig missachte. 672 Wenn wir sehen, wie idiosynkratisch die philosophischen Anleihen zusammengestellt sind, auf denen Deleuze seine Idee eines transzendentalen Empirismus aufbaut, stellen sich diese Vorbehalte nicht mehr als erstaunlich dar. Wie Rölli ausführt : Obwohl oftmals auf empiristische Theoreme zurückgegriffen werde, geschehe dies durchwegs nur in negativer Absicht und sorgfältiger Abgrenzung.673 Es werde etwa eine » sinnliche Unmittelbarkeit « lediglich als Negativfolie und Korrektiv benötigt, um den Charakter der philosophischen Begriffe als defizitär oder abstrakt subsumierend ins Licht zu setzen.674 Man habe sich allzusehr an die kantsche Strategie Gilles Deleuze und Felix Guattari, Was ist Philosophie ?, S. 11. Gilles Deleuze, Logik des Sinns, S. 138. Ebenda, S. 39. Marc Rölli, Gilles Deleuze. Die Philosophie des transzendentalen Empirismus, insbesondere S. 238ff. 673 Ebenda. 674 Wie Rölli ebenda darlegt, findet sich im Nachwort zu Limited Inc (1988) bei Derrida beispielsweise » einer jener unschuldig hingeworfenen Bemerkungen «, die in ihrer Gesamtheit von der stillschweigenden Wirksamkeit des Verdikts über den Empirismus als Positivismus Zeugnis ablegten : » As a philosophy, empiricism is still dominated by a logic I deem it necessary to deconstruct «, S. 127. Ferner weist Rölli auf eine Stellungnahme Lacans hin, wo dieser auf den ersten Seiten seines bekannten Aufsatzes » Subversion du sujet et dialectique de désir dans l’inconscient freudien « den Empirismus » mit einem Handstreich erledige «. Rölli zitiert Lacan weiter : » Jedenfalls rechne ich mit ihrem Wohlwollen, wenn ich es für ausgemacht halte, dass die Bedingungen einer Wissenschaft nicht im Empirismus liegen können. « S. 247ff.

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gewöhnt, sein eigenes philosophisches Denken durch die schablonenartig wiederholte Duplizität zweier Extrempositionen sowohl vom Rationalismus wie auch vom Empirismus abzusetzen, so Röllis Fazit.675 Deleuze findet im Empirismus ein Geheimnis, von dem zuvor auch Peirce inspiriert gewesen war, ebenso Alfred North Whitehead.676 Unter der Voraussetzung, dass Denken nicht als Akt677 ausgeübt wird, sich einem aber auch nicht über einen Sinnesatomismus d­ eterministisch aufdrängt, sondern als Ereignis gleichsam geschieht, verändert sich die Vorstellung dessen, was Denken sei. Dieser neuen Vorstellung muss zugrunde liegen, dass die Relationen, in denen die geistigen Vermögen sich verbinden, nicht in derselben Weise in unserem Denken hergestellt werden, wie dies die kantsche Synthesislehre vorschlägt – nämlich indem sie sich in einem Objekt versammeln, welches der gemeine Sinn dieser Vermögen verkörpere. Aber ebenso wenig können diese Relationen essentialistisch, in Form von Eigenschaften, zum Wesen der Dinge selbst gehören. Ausgehend von der Denkfigur Humes in seiner Assoziationslehre wird es vorstellbar, dass die Beziehungen zwischen den Vorstellungen oder Ideen und den Dingen als etwas gedacht werden könnten, das beiden äußerlich wäre.678 Affirmiert man solche Äußerlichkeit jedoch als Möglichkeit, so drängt sich die Vorstellung einer Natur des Denkens vor die Weisen, wie das Denken im Verhältnis von Subjekt und Objekt bestimmt werden kann : » Ist die Relation äußerlich, wird Wesentliches in die Umstände einer Sache verlagert. Und ist das Wesen, die Essenz einer Sache, von den Umständen nicht länger 675 In dieser Weise werde die außerordentlich voraussetzungsvolle Strategie, mit der Kant seine » vernunftsbezogene Vermittlung « vollziehen konnte, nicht nur kaschiert, sondern könne in ihrer Unausgesprochenheit auch weiterhin wirksam bleiben, so folgert Rölli. Seine Beobachtung ist noch in einer anderen Hinsicht interessant. Kant hat sich bekanntlich Newtons Physik sehr verbunden gefühlt, und tatsächlich erscheinen so nun die beiden unausgesprochenen Voraussetzungen als strukturähnlich : Newtons » göttliches Sensorium « und Kants » Gemeinsinn «. Vgl. dazu Darios Koriako, Kants Philosophie der Mathematik. Grundlagen – Voraussetzungen – Probleme. Vgl. zu Newtons Voraussetzung eines » göttlichen Sensoriums « beispielsweise Alexander ­Gosztony, Der Raum. Geschichte seiner Probleme in Philosophie und Wissenschaft, S. 338ff. 676 Diese Beziehungen zwischen dem Denken von Deleuze und Whitehead werden derzeit herausgearbeitet. Das Buch von Stengers mag dafür Anregung gewesen sein. Vgl. Isabelle Stengers, Penser avec Whitehead. Une libre et sauvage création de concepts, Paris 2002; vgl. ferner Keith Robinson (Hrsg.), Deleuze, Whitehead, ­Bergson. Rhizomatic Connections, New York 2008; Steven Shaviro, Without Criteria : Kant, Whitehead, Deleuze, and Aesthetics, Cambridge 2012. 677 Gewissermaßen in der Gegenrichtung zu Deleuze schreibt Adorno etwa unmissverständlich : » Denken heißt identifizieren. « Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt am Main 1996 [1966], S. 17. Differenz ist für ihn uneinholbar, weil sie von einer scheinlosen Wahrheit vom Ende der Geschichte her abstrahlt und nur gemindert werden kann, indem man über reale Zustände und Ideologien nachdenkt und reflektiert. Denken hat hiermit im negationslogischen Denken, zumindest als wichtigem Bestandteil, auch eine heilsversprechende Verfassung. 678 Im 19. Jahrhundert war die Idee des Naturgesetzes gemeinhin prekär geworden. Es trat ein offenkundiger Widerspruch zu den Ideen einer Geschichtlichkeit des Subjektiven und einer Historizität des Objektiven zutage, wie sie seinerzeit charakteristisch waren. Es gab verschiedene Ansätze und Vorläufer zu einem Denken der Selbstorganisation. Vgl. dazu Michael Hampe, Eine kleine Geschichte des Naturgesetzbegriffs, insbesondere S. 110ff.

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zu trennen, wird das Akzidenzielle selbst wesentlich. «679 Ein Subjekt allerdings, das Umstände in Betracht zieht und die Beziehungen zwischen den Dingen den Umständen entsprechend herstellt, ist das Subjekt einer Praxis – einer Praxis jedoch, für welche die Differenz zwischen dem Begrifflichen und dem Erfahrbaren konstitutiv ist und nie vollends zur Übereinstimmung gebracht werden kann. Deleuze sieht den Empirismus als eigentlichen » Mathematismus des Begriffs « – eines Mathematismus jedoch, der Begriffe » als Gegenstand einer Begegnung « behandelt.680 » Nur der Empirist kann sagen : Die Begriffe sind die Dinge selbst «, führt er aus.681 Wenn wir mit dem Begriff Mathematismus an die symbolischen Verfahrensweisen zur Problemlösung denken, um die es auch den Rationalisten der Neuzeit gegangen ist, so sehen wir nun die spezifischen Vorteile des deleuzianischen Ansatzes besser. Wie bei Descartes und Kant bezieht er sich hier auf das synthetische Vermögen unseres Denkens. Die zentrale Annahme, mit der D ­ eleuze gegenüber diesen beiden Philosophen vorgeht, ist sein Ersatz des Konzeptes der Kategorie zugunsten seines Konzepts der fantastischen Begriffe : » Denn die Kategorien gehören zur Welt der Repräsentation […]. Die Philosophie war darum oft versucht, den Kategorien Begriffe ganz anderer Natur gegenüberzustellen, wirklich offene Begriffe, die einen empirischen und pluralistischen Sinn bezeugen. «682 Wo für Descartes und Kant die Imagination das auf unproblematische Weise vorausgesetzte und entscheidende Vermögen zum begrifflichen Denken ist, behandelt Deleuze die Imagination selbst als eine problematische : » Und diese Frage müssen wir überdies nicht nur hinsichtlich des Gedächtnisses und des Denkens stellen, sondern auch hinsichtlich der Einbildungskraft – gibt es ein imaginandum, […], das zugleich die Grenze, das unmöglich Imaginierbare ist ? «683 Der Ersatz der Kategorien durch fantastische Begriffe kann als Voraussetzung dafür gelten, dass die Öffnung des sinnlichen Vermögens der Wahrnehmung auf einen transzendentalen Gebrauch hin gelingen kann. Diese Öffnung begreift Deleuze als das große Geheimnis des Empirismus, insofern dessen » Unvermitteltheit « Begegnungen mit dem, was begriffen werden kann, gleichsam erzwingt : » Es sind nicht schon vermittelte und auf Repräsentation bezogene Gestalten, sondern im Gegenteil freie oder wilde Zustände der Differenz an sich, die die Vermögen an ihre jeweiligen Grenzen zu treiben vermögen. […] Und wenn die Sinnlichkeit ihren Zwang auf die Einbildungskraft überträgt, wenn sich die Einbildungskraft ihrerseits zum transzendenten Gebrauch erhebt, so ist es das Phantasiegebilde, die 679 Ingo Zechner, Deleuze. Der Gesang des Werdens, S. 70. 680 Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 13. 681 Ebenda. 682 Ebenda, S. 354f. 683 Ebenda, S. 186f. Er weist auf die unterschiedliche Rolle der Einbildungskraft in der Kritik der reinen Vernunft gegenüber der Kritik der Urteilskraft bei Kant hin. In Zusammenhang mit dem Erhabenen sei die Einbildungskraft auch bei Kant » genötigt, gezwungen, ihrer eigenen Grenze zu trotzen […] ihrem Maximum, das zugleich das Unvorstellbare, das Formlose oder Ungestalte in der Natur «.

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Disparität im Phantasiegebilde, die [dasjenige] bildet, was nur imaginiert werden kann, das empirische Nicht-Imaginierbare. «684 Dort, wo bei Kant ein Schematismus der Formen möglicher Anschauung das Spiel der Imagination immer schon auf die Allgemeinplätze des Gemeinsinns hin begrenzt, steht bei Deleuze ein unbegründeter und insofern fantastischer Mathematismus. Das » Element « dieses Mathematismus, das Wo, an dem dieser sich entfalten kann, ist die Dimension der Begriffe, das, was sich überhaupt zu einer bestimmten Situation, zu einer bestimmten Zeit, über etwas, das erfahren wird, aussagen lässt. Denken ist für ihn die asymmetrische Synthese diskordanter sinnlicher Vermögen in fantastischen Begriffen.685 Deleuze stellt sich nun die Frage, in der sich Kants Idee der Möglichkeit einer » Kritik « ausdrückt, nämlich auf welchem Grund die Beziehung desjenigen beruhe, was man in uns Vorstellung nenne, auf seinen Gegenstand.686 Diese Frage stellt sich nun im Fall von Deleuze’ » fantastischen Begriffen « in keiner Weise als trivialer oder einfacher dar, als sie uns an früherer Stelle – in der Episteme der Repräsentation – zurückgelassen hatte. Es ist die Frage nach der Wahrheit bzw. nach der Legitimation unserer Vorstellungen als sinnvolle Vorstellungen. Deleuze dazu : » Schon die Lehrer wissen recht gut, dass man in den ›Schulaufgaben‹ […] selten Irrtümer oder etwas Falsches antrifft. Vielmehr Unsinniges, Bemerkungen ohne Belang und Bedeutung, wichtig genommene Banalitäten, Verwechslungen von gewöhnlichen ›Punkten‹ mit singulären, schlecht oder abwegig formulierte Probleme – das ist das Schlimmste und geschieht am häufigsten, unheilschwanger dennoch, unser aller Los. «687 Deleuze begreift die kantsche Frage als eine nach dem Sinn. Für ihn gründet Wahrheit einzig und allein im Sinn, und für diese Position genügt es vollkommen, zur Legitimation einer Vorstellung auf das allgemeine » Man sagt « Bezug zu nehmen : » Man definiert den Sinn als Bedingung des Wahren. «688 Um die Ernsthaftigkeit dieser Perspektive zu unterstreichen, fährt Deleuze fort mit dem Hinweis, dass auch bei den Mathematikern, wenn diese polemisierten, wohl kaum einer dem anderen vorwerfen würde, er habe sich in seinen Resultaten oder Berechnungen getäuscht. Viel eher würden sie einander den Vorwurf machen, ein insignifikantes Theorem, ein unsinniges Problem geschaffen zu haben.689 Deleuze’ Forderung gegenüber der 684 Ebenda, S. 187f. 685 Vor diesem Hintergrund wäre Denken vielleicht eher als » Einklingen « zu charakterisieren denn als » Einbildung « – wenn auch nur aufgrund unserer aktuellen Denkgewohnheiten, nach denen es uns (vorerst noch) leichter fällt, uns einen Einklang als diskordant vorzustellen denn als ein Bild. Es ist eine interessante Beobachtung, dass im Zuge der Möglichkeiten, welche die digitale Ästhetik bietet, ein zunehmendes Interesse an der Metaphorik von Klangwelten gegenüber visuellen Welten festzustellen ist. Bei Sloterdijk etwa ist die Rede dezidiert von » Resonanzräumen «, vgl. Peter Sloterdijk, Sphären I, II, III. 686 Kant, hier zitiert nach Richard Heinrich, » Ausdruck und Abbild «. 687 Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 198. 688 Ebenda. 689 Ebenda.

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so formulierten Frage nach der Wahrheit bzw. dem Sinn, ist nun wenig erstaunlich : » Die Philosophie muss die Konsequenzen daraus ziehen. «690 Das Element des Sinns sei zwar von der Philosophie wohl erkannt worden, indem diese einen Begriff von Sinn als Bedingung des Wahren annehme.691 Doch wenn man sich auf das Nachdenken über die Begründung des Wahren im Sinn erst einmal einließe, so ergebe sich eine ganze Reihe von offenen Problemen, die das betreffen, was zumindest in unserer westlich-europäischen Tradition als die Frage von Philosophie überhaupt gelten könnte : die Frage nach den Grundlagen von Entscheidungen. Da man etwa » annimmt, dass die Bedingung eine größere Extension als das Bedingte behält, begründet der Sinn die Wahrheit nicht, ohne auch den Irrtum zu ermöglichen. Ein falscher Satz bleibt also dennoch ein sinnvoller Satz. Und der Unsinn wäre das Merkmal dessen, was weder wahr noch falsch sein kann. «.692 Man unterscheide gewöhnlich an einem Satz zwei Dimensionen, so Deleuze : Die eine Dimension sei eine des Sinns oder Ausdrucks und sage etwas Ideelles aus, die andere Dimension sei eine des Wahren und Falschen und bezeichne Gegenstände, auf die sich das Ausgedrückte beziehe.693 Von Wahrheit oder Logik kann angesichts dieser Aufspaltung nur hinsichtlich der zweiten Dimension die Rede sein. Über Ideelles kann es weder Wahrheit noch logische Folgerichtigkeit geben. Deleuze kritisiert die Gewohnheit, genau dies zu missachten, aufs Schärfste. Mit dieser Aufspaltung werde just jenes Begründungsverhältnis preisgegeben, von dem doch auszugehen wäre.694 Stimmt man seinem folgenschweren Vorwurf zu, so entfällt jede Notwendigkeit, mit der ein Sachverhalt als sinnvoll und wahr ausgewiesen werden könnte. Und zwar entfällt sie, weil der Sinn als bedingende Dimension immer eine größere Extension behalten muss als das bedingte Konkrete. Aus dieser Perspektive erscheint die Wahrheit » als eine Sache von Produktion, nicht von Adäquation « :695 » Begründen heißt verwandeln. […] Der Bezug des Satzes zum Objekt, das er bezeichnet, muß im Sinn selbst errichtet werden. […] Niemals wäre die Bezeichnung begründet, wenn sie nicht – verwirklicht im Fall eines wahren Satzes – als Grenze genetischer Reihen oder ideeller Verbindungen, die den Sinn konstituieren, gedacht werden müsste. «696 Die Dimensionalität des » Sinns « selbst muss mit Deleuze als vor- oder jenseitssprachlich begriffen werden : Da Sinn per definitionem das, was er begründet, immer zugleich überschreitet, lässt er sich selbst nicht in Sätzen vollumfänglich zum Ausdruck bringen. Die eigentliche Stülpung des Platonismus, als die Deleuze seine Philosophie bezeichnet, 690 Ebenda. 691 Ebenda. 692 Ebenda, S. 197. 693 Ebenda, S. 198. 694 » Damit aber würde der Sinn die Wahrheit eines Satzes nicht begründen, ohne hinsichtlich dessen, was er begründet, indifferent zu bleiben. « Ebenda. 695 Ebenda, S. 199. 696 Ebenda.

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besteht in dieser Bewegung. Denn damit kommt der Sinn in den nun als transzendent gedachten Ideen selbst zu liegen (die Deleuze zufolge ja im Element des Problematischen ihre Natur haben, in der sie empirisch untersucht werden können).697 Fassen wir Deleuze’ Strategie in den wichtigsten Punkten zusammen. Wenn er empiristisch auf einem » Atom der Erfahrung « besteht, dieses aber als Unteilbares der Einbildungskraft selbst bestimmt, um eine Begriffstheorie zu begründen, die er als » Mathematismus « umschreibt, so zielt seine Kritik darauf : Man habe zwar richtig erkannt, dass das Problemkalkül selbst wesentlich als logisches, genauer : als dialektisches zu begreifen sei, insofern nämlich, als die Dialektik die Kunst der Formulierung von Problemen und Fragen umfasse.698 Das Unhaltbare an den logizistischen Konzeptionen sieht er aber darin, dass dort das » Problemkalkül « als bloßes » Satzkalkül « erschlossen werde, welches » stets von den[jenigen] Sätzen selbst kopiert, abgepaust ist «, deren Genese das Kalkül eigentlich klären sollte.699 Die Konsequenz eines solchen logizistischen Umgangs mit Problemen sieht Deleuze in der Beschränkung des Denkens auf die im Rahmen der Rekognition » jeweils denkbaren Möglichkeiten «.700 Eine Beschränkung bedeute dies deshalb, weil auf diese Weise – und darin bestand schon der Einwand von Aristoteles gegenüber Platon – das Werden wie das Entstehen des Neuen nicht erklärt werden kann.701 Man kann die Strategie von Deleuze also gerade darin sehen, dass er diesen Umstand selbst als Problem in seinem Sinne begreift und in seiner Philosophie auf eine sinnvolle Art und Weise zu formulieren versucht. Wie wir gesehen haben, kann sich die Lösung eines Problems nach ­Deleuze’ Philosophie nur aus den vollständigen Bedingungen ergeben, unter denen man das Problem als Problem bestimmt. Somit muss auch gelten, dass jede Lösung aus den Mitteln und Termen besteht, über die man verfügt, um es zu stellen.702 Dafür hat er eine Reihe von Begriffen 697 Ebenda, S. 203. 698 » Die Dialektik ist die Kunst der Probleme und Fragen, die Kombinatorik das Kalkül der Probleme als solcher. « Ebenda. 699 » Man macht uns glauben, die Probleme seien als fertige gegeben und verschwänden in den Antworten oder der Lösung; schon unter diesem doppelten Aspekt können sie bloße Phantome sein. Man macht uns glauben, die Denktätigkeit, und ebenso das Wahre und Falsche bezüglich dieser Tätigkeit, beginne erst mit der Suche nach Lösungen, betreffe nur Lösungen. « Ebenda, S. 204. 700 Ebenda. 701 Vgl. für eine strukturähnliche Argumentation im Ausgang an Wittgensteins Relativierung der erkenntnistheoretischen Mächtigkeit, die der Logik zugeschrieben wird : Ulrich Metschl, » Ein Platz für alles Mögliche. Der logische Raum im Tractatus «, in: Wilhelm Vossenkühl (Hrsg.), Ludwig Wittgenstein. Tractatus logico philosophici, Berlin 2001. Hierbei wird auch sehr deutlich, dass jede Stellenwertlogik – ob positiv vermeint oder negativ dekonstruiert – immer nur auf die Dimension des Symbolischen abgebildet werden kann. Und diese fällt nach Deleuze’ Unterscheidung mit derjenigen der Logik zusammen, nicht etwa mit derjenigen des Sinns (nach seinem Begriff). 702 Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 205.

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geschaffen, die alle zusammen ein neues Sprachspiel zum Verhältnis von Struktur und Genese ermöglichen : das Sprachspiel des Virtuellen. Dieses steht nun im Zentrum des folgenden Kapitels. Die Idee als » Differential « des Denkens oder Zum Verhältnis von Struktur und Genese im Sprachspiel des Virtuellen » Jede Umgestaltung eines im echten und fruchtbaren Sinne ›formalen‹ Begriffs zieht hier zugleich eine neue Auffassung des gesamten Gebietes nach sich, das durch ihn beherrscht und geordnet wird. «703 Das Sprachspiel des Virtuellen von Deleuze konnte nicht voraussetzungslos beginnen. Die Schwierigkeit für ihn bestand dabei darin, dass er zuerst eine Methode entwickeln musste, die dem Kerngedanken des transzendentalen Empirismus gerecht wurde : Die Bedingungen für ein Etwas sind nicht unabhängig von der konkreten Bestimmung des Bedingten selbst bestimmbar.704 Als Konsequenz ergibt sich offensichtlich eine spezifische Zirkularität. Die Bedingungen sollen doch, nach tradierter Auffassung, gerade das Fundament bilden, auf das man zurückgreifen kann, um etwas Konkretes zu bestimmen. » This is why there can be no categories (at least in the Aristotelian or Kantian sense) in Deleuze’s philosophy, since (as he puts it), the categories cast a net so wide that they let all the fish (that is, the real) swim through it. But this requirement – that conditions not be broader than the conditioned – means that the conditions must be determined along with what they condition, and thus must change as the conditioned changes. «705 War Descartes vor allem an der Bestimmung dessen interessiert, was logisch möglich ist, und Kant an der Bestimmung der Grenzen möglicher Erfahrung, so geht es bei Deleuze um die Bedingungen wirklicher Erfahrung.706 Daher sucht er konsequent nach einer genetischen Methode, die er weder in den empirischen Methoden der Experimentalwissenschaft noch in den analytischen Methoden der Logik finden kann.707 Deleuze versteht sich durchaus als Metaphysiker : » I feel myself to be a pure metaphysician […] Bergson says that modern science hasn’t found its Ernst Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, S. 34. Vgl. dazu auch Colin Johnston, » Tractarian objects and logical categories «. Daniel W. Smith, » The Conditions of the New «, hier S. 6. Ich folge hier den drei von Smith unterschiedenen Typen, um über Bedingungen nachzudenken. Vgl. Smith, ebenda, S. 3. 707 Für eine wissenschaftstheoretische Besprechung zur Problematik des Neuen als Gegenstand von entweder analytischen oder empirischen Methoden vgl. Thomas Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt am Main 1969; ders., Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt am Main 1978; aus der Perspektive des Modellierens vgl. Robert Rosen, Life Itself. A Comprehensive Inquiry into the Nature, Origin, and Fabrication of Life, New York 1991; ders., Essays on Life Itself, New York 2000; für eine Besprechung spezifisch im Anschluss an Deleuze vgl. Daniel W. Smith, » The Conditions of the New «.

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metaphysics, the metaphysics it would need. It is this metaphysics that interests me. «708 Die spezifischen Anforderungen für eine solche Philosophie, nach der Deleuze also sucht, charakterisieren John Protevi und Daniel W. Smith entlang zweier Vektoren : » First, the abstract (e. g. ›subject‹, ›object‹, ›State‹, the ›whole‹ and so on) does not explain, but must itself be explained; and second, the aim of philosophy is not to rediscover the eternal or the universal, but to find the singular conditions under which something new is produced. In other words – and this is a pragmatic perspective from which Deleuze never deviated – philosophy aims not at stating the conditions of knowledge qua representation, but at finding and fostering the conditions of creative production. «709 Mit anderen Worten : Das Abstrakte selbst muss Gegenstand einer empirischen Untersuchung werden. Zugleich kann jedoch die Auswertung der so gewonnenen » empirischen Daten « nicht auf logischen oder kategorischen Bestimmungen gründen, die unabhängig von der konkreten Untersuchung universell als » gültig «710 gelten könnten. In diesem Punkt gibt es eine enge Verwandtschaft des Denkens von Deleuze und Serres. In Serres’ Terminologie handelt es sich dabei um die schwierige Beziehung des » Lokalen « zum » Globalen «, dessen Übergang er anhand von unterschiedlichen Metaphern thematisiert.711 Das Gebiet, in welchem dies verhandelt wird, ist für Serres wie für Deleuze der Kalkulus.712 » Calculus is the primary mathematical tool we have at our disposal to explore the nature of reality, the nature of the real «,713 fasst Smith die Bedeutung dieser Mathematik zusammen. » When physicists want to examine the nature of a physical system, or an engineer wants to analyse the pressure on a weight-bearing load, they model the system using the symbolism of the calculus. «714 Es ist durch die Philosophiegeschichte hindurch immer wieder paradigmatisch gewesen, zu welchen Ästen der Mathematik sich Philosophen hingezogen gefühlt haben. So weist Serres beispielsweise die Verbindung zwischen Lukrez und Archimedes nach, dessen Mathematik des Flüssigen und Strömenden nach Serres Modell gewesen sei für Lukrez’ Gedicht über die Dinge der Natur.715 Von Platon 708 Gilles Deleuze, zitiert nach Arnauld Villani, La guêpe et l’orchidée. Essai sur Gilles Deleuze, Berlin und Paris 1999, S. 130. 709 Daniel W. Smith und John Protevi, » Gilles Deleuze «, in : Edward N. Zalta (Hrsg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy (2008), online : http ://plato.stanford.edu/­ archives/fall2008/entries/deleuze/ (20.01.2009). 710 Das bedeutet hier, mit Deleuze, » wahr «, sofern sich die Lösung als » sinnvoll « begründen lässt. 711 Es sei hier nur auf zwei Stellen verwiesen, von denen schon die Rede war : Das Bild der Nord-West-Passage in Serres, Hermes V; sowie das Bild der Karten in Serres, Atlas. 712 Das Bild eines Übergangs vom Lokalen zum Globalen selbst ist für Serres eine Metapher für den Kalkulus. Vgl. dazu seine ausführliche Studie über Leibniz : Michel Serres, Le Système de Leibniz et ses modèles mathématiques, Paris 1990 [1968]. 713 Daniel W. Smith, » The Conditions of the New «, S. 9. 714 Ebenda, S. 9. 715 Vgl. Michel Serres, The Birth of Physics; vgl. dazu auch die Hinweise in Anm. 667

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andererseits ist wohlbekannt, dass er sich der euklidischen Geometrie und deren statischen, unveränderlichen und selbst-identischen Elementen und Formen zugewandt hätte, um ein Modell zur Konzeption seines Begriffs der Ideen zu finden. Deleuze’ Interesse am Kalkulus kann man als gegenläufiges Interesse zu Platon interpretieren – konsistent mit seiner Forderung einer Umkehrung des Platonismus –, denn er findet hier das mathematische Modell eines Differenzprinzips. Ian Stewart sieht im Kalkulus gar den Motor der wissenschaftlichen Revolution der Neuzeit, nämlich dass die Natur nur durch Differentialgleichungen verstanden werden könne.716 Die technische Form des Motors selbst gilt ihm als Verkörperung des » differential equation paradigm. « 717 Indem sich Deleuze dem Kalkulus zuwendet, ist darin nicht etwa der Anspruch zu entdecken, er wolle damit eine Philosophie der Mathematik entwickeln. Sondern umgekehrt, er scheint eine Mathematisierung der Philosophie anzustreben, die sich hauptsächlich in einem spezifischen Umgang mit Zeichenschöpfungen und Referenzsystemen äußert. Er will anhand dieser Auseinandersetzung mit der Mathematik Hinweise dafür finden, wie sich ein genuin philosophisches Konzept der Differenz entwickeln ließe. In seinem Vorwort zur englischen Ausgabe von Difference and Repetition schreibt Deleuze klärend : » We tried to constitute a philosophical concept from the mathematical function of differentiation. […] We are well aware, unfortunately, that we have spoken about science in a manner which was not scientific. «718 Es bleibt jedoch die Frage bestehen : Warum interessiert ihn gerade der Kalkulus ? Wir haben bereits gesehen, wie grundlegend die Bedeutung der Funktionalanalysis, der analytischen Geometrie sowie der Differential- und Integralrechnung für die Neuzeit im Allgemeinen gewesen ist. Das Denkbild des Funktionsbegriffs kann als Ausdruck des neuzeitlichen Interesses an einer analytischen Begründung der Geometrie gelesen werden. Es kann allgemein formuliert werden als Verhältnisbestimmung von beobachtbaren Entwicklungen, die man damit methodisch in ihren Relationalitäten zueinander und untereinander bestimmen kann. Dieses Denkbild stellt sich als zentral heraus : für die Durchsetzung der Ablösung einer scholastischen Zeichenhermeneutik durch den operationalen Symbolismus seit Viète und Descartes, für den Erfolg der empirischen Experimentalwissenschaft in der Folge von Galilei und Bacon, für die neuen Weltentwürfe eines sich selbst zusammen- und am Laufen haltenden Kosmos in den Begriffen mechanischer Räderwerke und dynamischer Systeme. Insofern als sich mit den mathematischen Entwicklungen des Funktionsbegriffs neue Verfahren zu rechnen und damit auch neue ökonomische 716 Ian Stewart, Does God play Dice ?, S. 32f. 717 Ebenda. 718 Gilles Deleuze, Difference and Repetition, New York 1994, S. xvi, xxi (Vorwort).

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und technische Verfahren herausbildeten, die wiederum die sozialen und die politischen Verhältnisse auf neue Weise bestimmbar machten, kann man den Ausgang der diversen Umwälzungen im 19. Jahrhundert durchaus als Folge dieser mathematischen Entwicklungen begreifen. Sie gingen einher mit der Ausbildung eines neuartigen Zahlenbegriffs, was eine Emanzipation von der antiken wie der scholastischen Zahlenontologie bedeutete. Zahlen waren damit nicht mehr mit Bezug auf eine Referenz, als Eigenschaften von etwas wie auch immer gearteten Abzählbaren definiert, sondern als logische Symbole. Zahlen wurden nunmehr als Elemente von Mengen begriffen, die durch Abbildungsregeln als Glieder einer Reihe geordnet erschienen. Die Essenz von Zahlen geht damit vollends in ihrem Stellenwert innerhalb eines symbolischen Ordnungssystems auf, wie Cassirer zusammenfasst : » Der ganze ›Bestand‹ der Zahlen beruht nach dieser Ableitung auf den Verhältnissen, die sie in sich selber aufweisen, nicht auf der Beziehung zu einer äußeren gegenständ­lichen Wirklichkeit : sie bedürfen keines fremden ›Substrats‹, sondern halten und stützen sich wechselseitig, sofern jedem Glied durch das andere die Stelle im System eindeutig vorgeschrieben ist. «719 Solche Reihen wurden in einem weiteren Entwicklungsschritt nun wiederum als Einheiten gesehen, oder genauer : als Mengen von Mengen, für deren Ordnung wiederum eine Definition von Prinzipien erfolgen musste. Man unterschied diese Ordnungsebene von der ordinalen mit dem Begriff der kardinalen Ordnungsebene. Damit entstand jedoch das Problem, woran sich eine Ordnungstheorie auf dieser Ebene begründen ließe. Cassirer beschreibt entsprechend, wie just an diesem Punkt die » allgemeine logische Prinzipienfrage « erneut auftaucht : » In den verschiedenen Deutungen des Zahlbegriffs wiederholt sich noch einmal der allgemeine Kampf zwischen der Logik der Gattungsbegriffe und der Logik der Relationsbegriffe. «720 Als » allgemeine logische Prinzipienfrage « bezeichnet Cassirer diesen Streit deshalb, weil Frege und Russell es als entscheidenden Vorzug ihrer Logik gegenüber der aristotelischen Gattungslogik betrachten, dass in ihr die Zahl nicht mehr als eine Eigenschaft an physischen Dingen, sondern als Aussage über eine bestimmte Beschaffenheit von Klassen erscheint. Dass hier, so Cassirer, » nicht mehr die Objekte als solche, sondern die Begriffe von diesen Objekten das Fundament des Zahlurteils bilden «.721 Das Problem, das hier auftaucht, betrifft den Erkenntniswert solcher Aussagen und ist in diesem Sinn ein – nichtsdestotrotz – quasimetaphysisches Problem. Auslöser für die Grundsatzdiskussionen im 19. Jahrhundert war insbesondere die Einführung einer neuen Zahlart, der sogenannten imaginären Zahlen. Diese Bezeichnung trifft den Kern des Problems : » Es sind Urteile und Aussagen über Nicht-Wirkliches, die 719 Ernst Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, S. 48. 720 Ebenda, S. 69. 721 Ebenda; vgl. auch S. 38ff.

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hier dennoch einen bestimmten, unentbehrlichen Erkenntniswert für sich in Anspruch nehmen «, schreibt Cassirer rückblickend.722 Obwohl dieses unbegründbare In-Anspruch-Nehmen von Erkenntniswertigkeit am Beispiel der imaginären Zahlen schön zum Ausdruck kommt, betrifft Cassirer zufolge das Problem der Einführung von neuen Zahlen im Allgemeinen.723 Deshalb habe Karl Friedrich Gauß etwa die explizite Forderung ausgesprochen, eine » echte Metaphysik des Imaginären « müsse begründet werden.724 Damit wird deutlich, welche Rolle die Vorstellung des Unendlichen in diesen Entwicklungen gespielt haben. Es bestand der Vorzug des Zahlbegriffs gegenüber dem Zahlzeichen und seiner ontologischen Verbandelung mit etwas Außersymbolischem genau darin, dass ein allgemeines Ordnungsprinzip unabhängig von den zu ordnenden Entitäten gefunden schien. Damit war eine Vorstellung von formaler Begrenzung und Begrenzbarkeit verbunden, von der man sich die Zähmung des grenzenlos Offenen und der mit ihm verbundenen Sinnlosigkeit versprochen hatte. Anders als zu Beginn der Neuzeit stellte das Unendliche jetzt nicht mehr eine Bedrohung im Außen dar, sondern schien sich einen Weg aus dem vermeintlich gesicherten Innen zu bahnen. Sinnbildlich für die Befindlichkeiten, die ein solches » immanentes Unendliches « evoziert haben,725 mag eine Diskussion sein, die im Kontext dieser Themen geführt wurde : Aus der Perspektive des logischen Zahlenbegriffs sei » jede natürliche Zahl ein Sonderwesen, dessen Eigenart durch das Erzeugungsgesetz der Zahlenreihe garantiert wird «, schreibt Nils Röller.726 Die neuen Zahlen bzw. die neuen Zahlverhältnisse wurden entsprechend des genetischen Prinzips, nach denen sie erzeugt waren, biologistisch als neue » Wesen «, als neue » Spezie « beschrieben. Unten ihnen gab es auch solche, die etwa von Karl Weierstraß als » Monster « bezeichnet wurden, das heißt als Gebilde oder Wesen, die wohl von dieser Welt waren, aber dennoch nicht als » natürlich « im Sinne einer legitimen, genealogischen Nachfolgeschaft angesehen wurden.727 722 Ebenda, S. 71. 723 Die Grundlagenkrise in der Mathematik des 19. Jahrhunderts wird auch als » neue Grundlagenkrise « bezeichnet in Abgrenzung zur Grundlagenkrise in der Antike, die auf die Legitimität des Umgangs mit irrationalen Zahlen zurückzuführen sein soll. Vgl. dazu Bartel Leendert van der Waerden, » Zenon und die Grundlagenkrise der griechischen Mathematik «, in : Mathematische Annalen, Nr. 117, 1940, S. 141–161; Harro Heuser, Unendlichkeiten. Nachrichten aus dem Grand Canyon des Geistes, Wiesbaden 2008. 724 Ernst Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, S. 72. 725 Deleuze beschreibt dies im letzten Kapitel seines Buches über Foucault : » Die Faltung oder das Innen des Denkens «, in : Gilles Deleuze, Foucault. 726 Nils Röller, Medientheorie im epistemologischen Übergang, Weimar 2002, S. 41. 727 So gab es beispielsweise bestimmte Funktionen, die etwa Karl Weierstraß als sogenannte Monsterfunktionen klassifiziert hat. Für eine ausführliche Darstellung der Implikationen und Konsequenzen der damit verbundenen und später von Hans Hahn so benannten » Krise der Anschauung « siehe : Klaus Volkert, Die Krise der Anschauung. Für eine prägnante Darstellung der Problematik rund um das Unendliche im 20. Jahrhundert siehe die Vorlesung von Taschner im Rahmen der Wiener Vorlesungen : Rudolf Taschner, Musil, Gödel, Wittgenstein und das Unendliche, Wien 2002.

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Im 19. Jahrhundert hatte man also erkannt, dass sich nach dieser neuen Logik auch Zahlen bilden ließen, für die es in der über die Anschauung vertrauten Wirklichkeit keinen Nachweis gab. Die zahlenontologischen Streitereien dieser Zeit brachten die Notwendigkeit einer Revision der philosophischen Unterscheidung zwischen der Substanz und ihren Eigenschaften zum Ausdruck. Das Erfassen der Implikationen der Mengentheorie und deren Mannigfaltigkeiten setzte schlicht eine Revision der aristotelischen Logik voraus.728 Cassirer stellt dar, inwiefern die ontologischen Voraussetzungen der aristotelischen Logik noch so lange uneingestandenerweise auch von der begrifflichen Logik fortgeschrieben werde, wie diese » Dingbegriffe und Funktionsbegriffe völlig auf eine Stufe « stelle.729 Wie Röller darstellt, werden nach aristotelischer Logik Begriffe durch Abstraktion spezifischer Merkmale von einer Reihe von Gegenständen gewonnen.730 Der Begriff des Baums zum Beispiel werde durch einen Vergleich mit Eiche, Ulme und Birke gewonnen, bei dem man von den individuierenden Merkmalen wie etwa der besonderen Form der Blätter absehe und nur die Gemeinsamkeit der Gattung festhalte, nämlich dass sie Wurzeln, Stamm und Äste besitzen.731 Demgegenüber wird nach der symbolischen Logik in der Darstellung Cassirers ein Begriff nicht durch den Vergleich von Eigenschaften und zunehmender Abstraktion von Gegebenem gewonnen. Stattdessen wird, wie wir umschreiben könnten, nach der analytischen Pro­blemlösungsmethode ein » individuelles Allgemeines « vorausgesetzt, dessen Ordnungskraft sich mittels eines genetischen Prinzips entfaltet, das spezifische Instanzen dieses » individuellen Allgemeinen « zu erzeugen vermag. Kehren wir nun zu Deleuze zurück mit der Frage, was ihn wohl an der Differentialrechnung dermaßen inspiriert hat. Das Versprechen, das er in ihr entdeckt – so möchten wir im Folgenden versuchen darzulegen –, betrifft eben dieses von Cassirer problematisierte Verhältnis zwischen dem Funktionsbegriff und dem Substanzbegriff. Wie ließe sich eine philosophische Methode entwickeln, welche eine ähnliche Revolution des philosophischen Begriffs des Seins ermöglichte, wie dies mit dem Zahlenbegriff in der Logik geschehen konnte ? Mit Deleuze’ Verständnis von Philosophie als dem Schaffen von Begriffen sucht er nach einer genetischen Methode bzw. nach der Möglichkeit einer systematischen Darstellung dieser Methode sowie deren Voraussetzungen.732 In diesem Sinn, so Protevi und Smith, hätte Deleuze eine Metaphysik entwickelt, die » adequate to contemporary mathematics 728 Vgl. Nils Röller, Medientheorie im epistemologischen Übergang, S. 40ff. 729 Ernst Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, S. 69. 730 Nils Röller, Medientheorie im epistemologischen Übergang, S. 40. 731 Ebenda. 732 Vgl. dazu die Untersuchung von Bell zum Verhältnis von Deleuze und Derrida bezüglich der Möglichkeit einer systematischen Philosophie der Differenz : Jeffrey A. Bell, Philosophy at the Edge of Chaos. Gilles Deleuze and the Philosophy of Difference, Toronto 2006.

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and science « sei. 733 Und ferner : » [A] metaphysics in which the concept of multiplicity replaces that of substance, event replaces essence and virtuality replaces possibility. «734 Erinnern wir uns nun, dass Deleuze sagt, es läge ihm daran, ein » philosophical concept from the mathematical function of differentiation « zu entwickeln.735 Im Folgenden wollen wir nun genauer betrachten, welche Rolle also die Denkfigur des Differentials für Deleuze spielt. Dafür sei ein kurzer Exkurs zur Geschichte der Mathematik vorausgeschickt, um den philosophischen Begriff des Differentials später auch in systematischer Hinsicht begreifen zu können. Dafür orientiere ich mich vorwiegend an Simon Duffys » The Mathematics of Deleuze’s Differential Logic and Metaphysics «.736 Er bezieht sich auf Carl Boyer, der in seinem Buch The History of the Calculus and its Conceptual Development das Konzept des Differentials beschreibt als » dealing with the infinite sequences […] obtained by continuing […] to diminish ad infinitum the intervals between the values of the independent variable. […] By means of [these] successive subdivisions […] the smallest possible intervals or differentials [are obtained]. «737 Das Konzept wurde in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts als eine bestimmte Interpretation von analytischen Funktionsgleichungssystemen von Leibniz entwickelt.738 Bei ihm leistet das Differential als Modellvorstellung die Vermittlung einer Relation, die eigentlich als » unmögliche « bezeichnet werden müsste : » As a vanishing quantity, dy, in relation to y, is strictly speaking, equal to zero. «739 Der Wert eines Differentials bestehe lediglich darin, eine verschwindend kleine Quantität auszudrücken – » a quantity smaller than any given or givable quantity «, so Duffy.740 Wenn nun zwei solche Differentiale aufeinander bezogen werden, wenn also ein Differentialquotient dy/dx gebildet wird, so kommt dieser Relation eine Positivität zu, obwohl der Wert des Verhältnisses eigentlich ein undefinierbares Nichts darstellt, nämlich 0/0, numerisch ausgedrückt. Zu dieser paradoxal anmutenden Situation schreibt Duffy : » […]there is no relation between two things which do not exist. However, the differentials do actually exist. They exist as vanishing quantities insofar as they continue to vanish as quantities rather than having already vanished as quantities. «741 733 Daniel W. Smith, John Protevi, » Gilles Deleuze «, in: Edward N. Zalta (Hrsg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy (2008), online: http://plato.stanford.edu/archives/fall2008/entries/deleuze/ (20.01.2009). 734 Ebenda. 735 Gilles Deleuze, Difference and Repetition, S. xvi, xxi, (Vorwort). 736 Simon Duffy, » The mathematics of Deleuze’s differential logic and metaphysics «, in : ders., Virtual Mathematics, S. 118–143. 737 Carl Boyer, The History of the Calculus and its Conceptual Development, New York 1959, hier zitiert nach Simon Duffy, » The mathematics of Deleuze’s differential logic and metaphysics «, hier S. 118f. 738 Newton hatte gleichzeitig eine andere Perspektive dazu entwickelt, die er Fluxionsrechnung nannte. Anstelle von Leibniz’ Differential kam bei ihm das Fluxion zu stehen. 739 Simon Duffy, » The mathematics of Deleuzes differential logic and metaphysics «, S. 119. 740 Ebenda. 741 Ebenda, S. 119.

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Paradoxerweise bestehen die Differentialrelationen also, im Fall der Ableitung, um eine Änderung zu beschreiben, die eigentlich keine ist, bzw. im Fall der Integration, um eine Summe unendlich kleiner Größen (die eigentlich keine Größen sind) zu berechnen. Deleuze schreibt über dieses eigenartige Verhältnis : » What subsists when dy and dx cancel out under the form of vanishing quantities, is the relation dy/dx itself. «742 Er entdeckt nun mit diesem Begriff der Relation eine Denkbewegung, die ihn zu seiner spezifischen Art über Logik nachzudenken inspiriert. » Under this form of infinitesimal calculus is discovered a domain where the relations no longer depend on their terms. […] The differential relation presents itself as the subsistence of the relation when the terms vanish. «743 Er findet hier das Modell einer » reinen Relation «, rein in dem Sinn, dass damit ein Verhältnis symbolisiert wird, das als unabhängig von den konkreten Termen, zwischen denen es sich aufspannt, gedacht wird. Ausführlich bespricht Deleuze das Differential in Die ideelle Synthese der Differenz.744 Wenn davon die Rede ist, dass Deleuze das generische Modell einer bestimmten Relation findet, so bedeutet das weit mehr als bloß eine Idee, die weitere Gedankengänge auszulösen vermag und in diesem Sinn auch inspirierend wäre. Um hier ein Modell – das heißt, eine Idee in ihrer Funktionsweise – zu entdecken, dafür müssen wir den Stellenwert der Differentiale im ursprünglichen Kontext besser verstehen. Was leisten sie dort, worin besteht ihre Funktion und wie sähen alternative Modelle aus, um auf das Problem zu antworten, für das sie eine Lösung bieten ? Wir müssen die Voraussetzungen dieses Modells genauer in den Blick nehmen, und das heißt zweierlei : Einmal gilt es, diese Fragen hinsichtlich der Infinitesimalrechnung zu stellen, und einmal hinsichtlich der Problematik um die Potenzreihen, in dessen Zusammenhang Deleuze seinen Rückgriff auf diese Denkfigur vor allem stellt.745 Bedenken wir den Stellenwert dessen, was er als das Verhältnis zwischen Idee und 742 Gilles Deleuze, Sur Spinoza. Cours Vincennes 12 December 1981, übersetzt von Timothy S. Murphy, online : http ://www.webdeleuze.com/php/sommaire.html, hier zitiert nach Simon Duffy, » The mathematics of Deleuzes differential logic and metaphysics «, S. 120. 743 Ebenda. 744 Vgl. das gleichnamige vierte Kapitel von Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 215ff. 745 Um den Punkt zu bezeichnen, den man aleatorischen Punkt für die Differenzphilosphie von Deleuze nennen könnte, den » kritischen Punkt, an dem die Differenz als Differenz die Funktion der Vereinigung übernimmt «, kommt Deleuze auf das Differential zu sprechen. Er verfolgt die Strategie, die Denkfigur des Widerspruchs durch diejenige des Differentials zu ersetzen, und beginnt seine Ausführungen mit folgenden Worten : » Wir stellen Nicht-A dx gegenüber, und entsprechend dem Symbol des Widerspruchs das der Differenz […] – und ebenso der Negativität die Differenz an sich selbst. Freilich sucht der Widerspruch die Idee seitens der größten Differenz, während das Differential Gefahr läuft, in den Abgrund des unendlich Kleinen zu stürzen. Das Problem ist damit aber nicht richtig gestellt : Es ist falsch, den Wert des Symbols dx mit der Existenz der Infinitesimalen zu verbinden; aber es ist ebenso falsch, im Namen ihrer Ablehnung jenem Symbol jeglichen ontologischen oder gnoseologischen Wert zu verweigern. « Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, beide Zitate S. 220.

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Problem definiert, für seine Philosophie insgesamt, so sehen wir die zentrale Bedeutung, welche der Denkfigur des Differentials bei ihm zukommt : » Kurz, das dx ist die Idee – die platonische, leibnizsche oder kantische Idee, das ›Problem‹ und dessen Sein. «746 Worin besteht also der » Schatz «, den er aus den » sogenannt barbarischen oder vorwissenschaftlichen Interpretationen der Infinitesimalrechnung « bergen will ?747 Etwas salopp ausgedrückt geht es beim Rechnen mit Funktionen zunächst darum, spezifische Beobachtungen anhand einer postulierten Regelhaftigkeit (Funktion) in einem größeren Zusammenhang zu begreifen, und diesen dann systematisch zu überprüfen. Dies kann in zwei Richtungen geschehen. Der Ausgangspunkt ist immer ein Prinzip, eine Regel. Von dieser kann man nun über ein Ableitungsverfahren die Werte für das Verhalten eines Funktionsgleichungssystems zu einem bestimmten Zeitpunkt festlegen, oder mit anderen Worten : Man ist interessiert an der global gültigen Beschreibung der Änderung einer Funktion. Dieses Vorgehen bezeichnet man mathematisch als Differenzierung oder Ableitung einer Funktion. Es gibt aber auch die Möglichkeit, in der inversen Richtung zu verfahren und zu verschiedenen Ableitungen die gemeinsame Stammfunktion zu suchen. Dieses Verfahren nennt man Integration. Ein Differentialgleichungssystem zu lösen heißt, dass man das System mathematisch integrieren und darüber eine Regelhaftigkeit herausfinden kann, welche die verschiedenen Komponenten zu einem umfassenden Systemzusammenhang transformiert. In vielen realweltlichen Anwendungsfällen kommen Differentiale als relativ kleine Größen dort ins Spiel, wo man keine analytische Lösung für ein Gleichungssystem finden kann. In diesem Fall gibt es die Möglichkeit, eine Lösung lediglich approximativ zu bestimmen, wobei sich hier die Frage stellt, wie genau denn ein solcher Systemzusammenhang beschreibbar sein muss, um als gelöst erachtet zu werden. Praktisch gesehen beurteilt man den Status einer numerischen Rechnung anhand einiger Kriterien wie Konvergenz, Stabilität oder Robustheit, die man über numerische Experimente bestimmt. Theoretisch wäre der Verlauf eines Verhaltens über Approximation erst in dem Moment exakt beschrieben, in dem das Kontinuum aller Punkte, durch die das Kontinuum selbst verläuft, miteinbezogen wären.748 Damit kommt allerdings der alte Disput um die Unendlichkeit und die strittige Realität der irrationalen Zahlen an die Oberfläche. Heute sagen wir, dass sich in dieser Situation das Problem der Grenzwerte zeigt. Newton und Leibniz haben verschiedene Verfahren 746 Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 220. 747 Ebenda. 748 Der Streit um die Realität des Kontinuums geht darum, dass wenn immer die Unendlichkeit ins Spiel kommt, auch irreduzible, implizite oder explizite metaphysische Voraussetzungen deutlich werden. Stewart stellt die Frage : » Kann man sich eine Gerade als eine Art von Punktfolgen vorstellen ? Kann eine Ebene in parallele Geraden zerschnitten werden oder ein Körper in Ebenen ? Die moderne Sicht lautet ›Ja‹, das Verdikt der Geschichte ein überwältigendes ›Nein‹; der Hauptgrund dafür ist der, daß sich die Deutung dieser Frage geändert hat. « Ian Stewart, Mathematik, S. 92.

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zum Umgang damit entwickelt, die inzwischen allerdings beide antiquiert erscheinen. Newton hatte ein geometrisches Approximationsverfahren gefunden, während Leibniz ein analytisches Approximationsverfahren entwickelt hatte, für das er allerdings eine neue Klasse von Zahlen definieren musste, die sogenannten Infinitesimale. Beide Lösungen provozierten eine metaphysische Diskussion, welche man eigentlich doch gerade mit dieser neuen Mathematik gelöst haben wollte.749 Während für Deleuze der Fehler Newtons darin besteht, die Differentiale mit Null gleichzusetzen, so sieht er den Fehler Leibniz’ darin, die Differentiale mit individuellen Werten zu verknüpfen. » Das Prinzip einer differentiellen Philosophie […] darf in keiner Weise vom unendlich Kleinen abhängen «, betont Deleuze wiederholt.750 Es sei vielmehr die große Stärke der Interpretation von Jean Baptiste Bordas-Demoulin, so Deleuze, dass er den Differentialen eine platonische Bedeutung gegeben hätte, die nicht einfach das Kontinuum als Idealität voraussetzt.751 Nach dessen Interpretation gehört, wie Deleuze schreibt, das » Kontinuum […] tatsächlich zur Idee nur in dem Maße, wie man eine ideelle Ursache der Kontinuität bestimmt. Zusammen mit der Ursache gefasst bildet die Kontinuität das reine Element der Quantitabilität. « 752 Selbst als differentielles System gedacht, wird das Kontinuum zur Medialität, zu einem symbolischen Element, welches sowohl fixe Quantitäten der Anschauung – Deleuze nennt diese quantum – wie auch die variablen Quantitäten als Verstandesbegriffe – quantitas in seiner Terminologie – ermöglicht. So verstanden ist das dx als Symbol für das Kontinuum weder Allgemeinheit (Verstandesbegriffe) noch besonderen Ausdruck (Anschauungswerte), sondern es ist vielmehr beidem kategorisch vorgelagert. Es ist das Element » des Universalen und seiner Erscheinung «.753 Deleuze präzisiert : » Was sich in dy/dx oder 0/0 aufhebt, sind nicht die differentiellen Quantitäten, sondern bloß das Individuelle und die Verhältnisse des Individuellen in der Funktion. […] die Funktion hat ihren veränderlichen Teil oder ihre Variationseigenschaft eingebüßt, 749 So war der vehementeste Gegner der Differential- und Integralrechnung Bischof George Berkeley. 1743 veröffentlichte er eine gegen Newtons Fluxion gerichtete Schrift unter dem Titel » The Analyst, Or a Discourse Addressed to an Infidel Mathematician. Wherein It is examined whether the Object, Principles, and Inferences of the modern Analysis are more distinctly conceived, or more evidently deduced, than Religious Mysteries and Points of Faith. « Zitiert nach Ian Stewart, Mathematik, S. 94. Newton hatte laut Hacking ein Fluxion als das letzte Verhältnis verschwindender Inkremente definiert. Dazu schreibt Berkeley in besagtem Text : » Und was sind diese Fluxionen ? Die Geschwindigkeit verschwindender Inkremente. Und was sind diese selben verschwindenden Inkremente ? Sie sind weder endliche Größen noch unendlich kleine Größen noch gar nichts ? Können wir sie nicht Geister verblichener Größen nennen ? « Hacking kommentiert die Einwände Berkeleys : » Das erste, was man hinsichtlich der Einwände Berkeleys anerkennen muss, ist daß er die Analytiker mit vollem Recht kritisiert hat. Es war eine scharfsinnige sachliche Kritik, und sie riss eine schreckliche Lücke. « Ian Stewart, Mathematik, S. 82f. 750 Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 220f. 751 Ebenda. 752 Ebenda. 753 Ebenda, S. 221.

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sie repräsentiert nurmehr das Unveränderliche zusammen mit der Operation, die es hervortreten ließ. «754 Wir sehen jetzt, inwiefern Deleuze sagen kann, dass das Universale kein Nichts sei : weil Verhältnisse des Universalen denkbar sind, von denen keiner der Terme selbst über eine unabhängige Variable bestimmbar ist. » dx ist im Verhältnis zu x völlig unbestimmt, dy im Verhältnis zu y, im Verhältnis zueinander aber sind sie vollkommen bestimmbar. Darum entspricht dem Unbestimmten als solchem ein Prinzip von Bestimmbarkeit. «755 Deleuze findet also in der Denkfigur des Differentials ein Prinzip der Wechselbestimmung, die für ihn – mit Bourdas in eine platonische Idealität gewendet – die Funktion von Synthese an sich wird, und zwar als » Idee einer reziproken Synthese «.756 Die reziproke Synthese des Differentialquotienten, wie Deleuze sie bestimmt, hat keine reflexionslogische Bedeutung. Vielmehr sieht er in ihr seinen Standpunkt der Genese, von dem aus er seine » kritische « Philosophie ausrichtet : » Die Materie der Idee im gedachten Element der Qualitabilität, in das sie eingebettet ist «.757 Die reziproke Synthese der Differentialquotienten gilt ihm » als Quelle der Produktion der Realobjekte «.758 Die zentrale Frage lautet nun : In welcher Form ist der Differentialquotient bestimmbar ? Als Modell, übersetzt von der Mathematik in die Philosophie, würde diese Frage lauten : In welcher Form sind Realobjekte bestimmbar, das heißt, wie lässt sich sinnvoll über die Welt der Erscheinungen und Ereignisse sprechen ? Das Differential legt nahe, nicht über Objekte, sondern über deren Relationen und Veränderungen in der Zeit zu sprechen, dx/dt, wobei x nachgerade für alles stehen kann. Die Objekte werden als Quasiobjekte durch eine Zweckbestimmung jener Relationalität bzw. Veränderlichkeit abgeleitet. Wir finden darin also die klassische Frage der antiken Seinslehre, wenn auch buchstäblich unter umgekehrten Vorzeichen neu formuliert. Aber worin besteht der Schatz, den Deleuze in diesem Zweig der Mathematik zur Inspiration für seine Philosophie des Differentials sieht ? In den Naturwissenschaften formuliert man ein Problem heute anhand von Differentialgleichungssystemen, für die man eine Lösung sucht. Es gibt also Funktionen, die man gerne in ein Gleichungssystem integrieren möchte, um irgendwelche umfassenderen Zusammenhänge besser verstehen zu können. Vom heutigen Standpunkt aus und in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle759 gelingt dies nicht. Die Suche nach der Integrierbarkeit solcher Systeme – und nichts anderes bedeutet 754 Deleuze bezieht sich hier auf Jean Baptiste Bordas-Demoulin und verweist darauf, dass dieser unter dem Individuellen sowohl das Besondere als auch das Allgemeine versteht. Ebenda. 755 Ebenda, S. 222. 756 Ebenda. 757 Ebenda, S. 223. 758 Ebenda. 759 Gilles Deleuze, Sur Spinoza.

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mathematisches Modellieren mittlerweile – geschieht mithilfe verschiedener Verfahren zur Annäherung an das, was man mengentheoretisch als Grenzwert definiert hat. Wie Duffy hervorhebt, muss die Auseinandersetzung von Deleuze mit diesen Themen als Problematisierung der modernen Reduktion der Differential- und Integralrechnung auf den Finitismus der cantorschen Mengenlehre verstanden werden. Die Kritik von Deleuze, so Duffy/Salanski, beziehe sich auf deren endliche Interpretation des Unendlichen, auf » the idea that infinite entities are […] considered to be finite within set theory «.760 Die Mengenlehre benötige zwar selbst ein Axiom des Unendlichen, schreibe aber nichtsdestoweniger eine strikt end­liche Interpretation der Differentialrechnung vor, wie Deleuze ausführt : » Man weiß nämlich, daß der Begriff des Grenzwerts seinen phoronomischen Charakter eingebüßt hat und nur noch statische Erwägungen umfaßt; […] daß das Differential schließlich nur eine Größe bezeichnet, die man unbestimmt läßt, um sie bei Bedarf mit einem Wert kleiner als dem einer festgesetzten Zahl zu versehen. An dieser Stelle ist der Strukturalismus entstanden, während gleichzeitig die genetischen oder dynamischen Bestrebungen der Differentialrechnung abgestorben sind. «761 Wenn man von der Metaphysik der Differentialrechnung spreche, so Deleuze, so handle es sich um eben diese Alternative zwischen der unendlichen und der endlichen Repräsentation. 762 Mit Deleuze’ kritischer Position gegenüber dem Repräsentationsdenken ist mit dieser Alternative für ihn das Problem damit falsch gestellt. Denn » freilich «, so sagt er, » ist diese Alternative, und folglich die Metaphysik, in der Technik des Kalküls selbst unverbrüchlich enthalten «.763 Dem entgegen will er eine andere Tradition in der Interpretation der Infinitesimalrechnung des 17. Jahrhunderts erschließen, die bisher nur wenig Aufmerksamkeit erhalten hat. Die Formel, der er dabei nachspürt, ist, dass es in jedem Diskreten eine Unendlichkeit gibt, die über das Differential selbst irreduzibel in der Technik des Kalküls enthalten ist.764 Dies stellt sich für ihn so dar, weil durch seine Konzeption dieses Denkmodells eine Funktion als Formulierung eines Problems durch die differentielle Beziehung selbst erst konstituiert wird. Die strikt endliche Repräsentation von Unendlichkeiten, wie sie die Mengenlehre vorschlägt, würden laut Deleuze eben diese » extra-propositionale « oder » sub-representative « Quelle missachten, » from which calculus draws its power «.765 Es ist wichtig, 760 Jean-Michel Salanskis, » Idea and Destination «, in : Paul Patton, Deleuze. A Critical Reader, Oxford 1996, S. 66, hier zitiert nach Simon Duffy, » The mathematics of ­Deleuzes differential logic and metaphysics «, S. 142. 761 Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 227. 762 Ebenda. 763 Ebenda 764 Ebenda, S. 229. 765 Deleuze, hier zitiert nach Simon Duffy, » The mathematics of Deleuzes differential logic and metaphysics «, S. 142.

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noch einmal hervorzuheben, dass es Deleuze hier nicht darum geht, für eine bestimmte Position in der Geschichte der Mathematik einzutreten. Er formuliert sein Interesse grundlegender : » Wichtig für uns ist weniger die Bestimmung dieses oder jenes Einschnitts in der Geschichte der Mathematik […] als die Art und Weise, wie sich in jedem Augenblick dieser Geschichte die dialektischen Probleme, ihr mathematischer Ausdruck und die gleichzeitige Genese von Lösbarkeitsfeldern zusammensetzen. «766 Für ihn entspricht dieses Thema, so wie er sich mit seinem Begriff des Differentials und der Ordnung darauf bezieht, der Dialektik. » Die dialektische, problematische Idee ist ein System von Bindungen zwischen differentiellen Elementen, ein System von Differentialverhältnissen zwischen genetischen Elemente. «767 Und weiter : » Die Probleme sind stets dialektisch, die Dialektik hat keinen anderen Sinn, auch die Probleme haben keinen anderen Sinn. Mathematisch (oder physikalisch, biologisch, psychologisch, soziologisch . . .) sind die Lösungen «.768  Dabei gibt es für ihn unterschiedliche Ordnungen von Ideen, die sich ebenfalls wechselseitig voraussetzen, wie in der Idee einer Idee beispielsweise. Nicht die Mathematik sei es also, » die auf andere Gebiete angewendet wird, vielmehr ist es die Dialektik, die für ihre Probleme, vermöge ihrer Ordnung und ihrer Bedingungen, die Differentialrechnung einführt, die dem betrachteten Gebiet unmittelbar angemessen ist und eignet «.769 Deleuze geht sogar so weit, zu formulieren : » Der Universalität der Dialektik entspricht in diesem Sinne eine mathesis universalis. Wenn die Idee das Differential des Denkens ist, so entspricht jeder Idee ihre eigene Differentialrechnung, ein Alphabet dessen, was Denken bedeutet. «770 So betrachtet ist die Differentialrechnung » nicht das platte Kalkül der Utilitaristen, nicht das grobe arithmetische Kalkül, das das Denken anderen Dingen wie anderen Zwecken unterordnet, sondern die Algebra des reinen Denkens, die höhere Ironie der Probleme selbst «.771 Im folgenden Kapitel nun wollen wir genauer sehen, wie Deleuze dieses Element des Ideellen als eigentlichen Sprudelort aus dem Neues entstehen kann, beschreibt. Das » Informelle « oder Zum Konzept der Ähnlichkeit als Medium » Logic of Sense is therefore an answer to the question : How are series determined with no external reference point ? «772 766 Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 232. 767 Ebenda, S. 232f. 768 Ebenda, S. 230. 769 Ebenda. S. 232f. 770 Ebenda. 771 Ebenda. 772 James Williams, Gilles Deleuze’s Logic of Sense. A Critical Introduction and Guide, Edinburgh 2009, S. 26.

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In Logik des Sinns beschreibt Deleuze diesen Sprudelort als das werdende Sein des Sinns. Er begreift es als eine Oberfläche die doppelt artikuliert wird, als » physische Oberfläche « und als » metaphysische Oberfläche «.773 Sie wird also fortlaufend gegliedert und organisiert, dialektisch in reziproker Synthese, und bildet als solche einen Ort des reinen Werdens, welchen er als das Element des Sinns bestimmt. Deleuze beschreibt diesen Ort – in einer recht eigenwilligen PlatonInterpretation, die er als » umgekehrten Platonismus «774 charakterisiert – seiner Natur nach als ein » informelles «.775 Das Element des Sinns ist weder Form noch Materie, obwohl Deleuze die platonische Dualität durchaus in seiner Konzeption erkennen möchte. Nur handle es sich » um eine grundlegendere, verborgenere Dualität, die in den sinnlich wahrnehmbaren und stofflichen Körpern selbst eingeschlossen liegt […]. Das reine Werden, das Grenzenlose bildet den Stoff des Trugbildes […], indem es sowohl das Urbild als auch das Abbild zurückweist. «776 Wir sehen also schon, dass eine zentrale Denkfigur hier in der Art und Weise besteht, in der Deleuze mit dem Konzept der Ähnlichkeit umgeht. Wir können vermuten, dass im Rahmen seiner Kritik des repräsentationalistischen Denkens dieses Konzept ein problematisches sein muss. Dennoch stellt er es hier ins Zentrum seiner Logik des Sinns, allerdings nicht, ohne ihm eine andere Bestimmung zu geben. Im Folgenden sollen zwei zentrale Linien entwickelt werden, die sich gegenseitig bedingen. Zum einen handelt es sich um die Rolle des Konzeptes der Ähnlichkeit als Operator, zum anderen um eine nähere Charakterisierung dieses » Elements des Sinns «, in welchem sich nach Deleuze mittels des Konzeptes der Ähnlichkeit die Logik gleichermaßen wie die Ontologie entfalten kann. Als Maxime des Philosophieverständnisses von Deleuze mag gelten, dass die entscheidende Frage in der Auseinandersetzung mit einem Autor immer die nach der Problematik, nach den Voraussetzungen der formulierten Lösungssysteme ist, mit denen sich ein Denken in Beziehung setzt.777 Bevor wir nun also über die Nachvollziehbarkeit, Schlüssigkeit oder Plausibilität von Deleuze’ Vorschlag im Konkreten nachdenken, wollen wir uns auf diese Maxime besinnen und danach fragen, was er im Sinn gehabt haben könnte, als er 773 Gilles Deleuze, Logik des Sinns, S. 180. 774 Gilles Deleuze, » Trugbild und Antike Philosophie «, S. 311f. 775 Gilles Deleuze, Logik des Sinns, er führt aus : » Dieser neue Diskurs ist nicht mehr jener der Form, aber auch nicht Diskurs des Formlosen : Er ist vielmehr das reine Informelle. «, S. 141. 776 Ebenda, S. 16. 777 » Kurz, die durchgängige Bestimmung eines Problems verschmilzt mit der Existenz, der Zahl, der Aufteilung der bestimmenden Punkte, die gerade deren Bedingungen liefern […]. Es nun aber immer schwieriger, von Fehler oder Fehlerkompensation zu sprechen. Die Bedingungsgleichungen sind weder bloße Hilfsgleichungen noch, wie Carnot sagte, unvollkommene Gleichungen. Sie sind konstitutiv für das Problem und seine Synthese. « Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 228.

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das große Wort der Forderung einer Umkehrung des Platonismus zum Keim für sein Denken werden ließ. Die Kulturgeschichte spricht von einer » griechischen Aufklärung « im 6. Jahrhundert v. Chr., die ihren Ausgang bei den Kolonialgriechen Kleinasiens genommen haben soll, rund um die wirtschaftliche und geistige Metropole Milet. Bei Gloy fällt besonders der Hinweis auf die damalige neuartige Konzentration des Erfahrungswissens auf, einem Thema, das uns schon zuvor in Bezug auf die verdichtete semantische Aktivität in unserer eigenen Zeit wichtig war. » Bedingt, zumindest mitbedingt durch die Konzentration des Erfahrungswissens jener Zeit, das teils durch wagemutige Seeleute, teils durch unternehmungslustige Kaufleute zusammengetragen war, erfolgte in jenem Jahrhundert ein geistiger Umschwung, der als die ›griechische Aufklärung‹ in die Geschichte eingegangen ist «, so schreibt Gloy in ihrer Darstellung des Umschwungs vom magisch-mythischen Naturverständnis zum philosophisch-wissenschaftlichen.778 Für dieses sich damals gerade erst ankündigende Naturverständnis stehen gewöhnlich zwei Namen im Zentrum : Platon und Aristoteles. Die von Platon besonders im Timaios779 entwickelte Naturtheorie hat den Grundstein für alle künftigen wissenschaftlichen Theorien bis heute gelegt, wenn auch die Einzelergebnisse sich radikal geändert haben mögen. Das sich mit ihm herausbildende Denken beginnt, Natur nicht mehr als undifferenzierte Einheit zu begreifen, sondern versucht, etwas allgemein Strukturelles vom konkret Materiellen abzulösen. Natur zerfällt in eine formale und eine materielle Komponente, wie Gloy darlegt, in einen Begriff von ihr und in die sinnliche Gegebenheit.780 Platons Naturauffassung basiert auf der grundsätzlichen Unterscheidung einer sinnlich wahrnehmbaren, sichtbaren, hörbaren, betastbaren Natur und einer formalen, ideellen, die nur den intellektuellen Vermögen der Vernunft (nous) und dem Verstand ­(dianoia) zugänglich ist. Zum ersten Mal scheidet er systematisch einen Ideenkosmos und eine Welt des Werdens. Relevant für unsere Fragestellung sind nun Angaben zur kulturellen Befindlichkeit der Zeit, in der Platon gelebt hat. Diese beschreibt Gloy, wie wir bereits gesehen haben, als Spätphase einer andauernden Zeit des Umbruchs, die sich am einfachsten durch einen Vertrauensverlust charakterisieren lässt. Dem bis dahin fraglos gültigen und allgemein akzeptierten magisch-mythischen Weltbild wurde das Vertrauen entzogen, so schreibt sie schlicht.781 Das Wort Aufklärung meinte damals 778 Karen Gloy, Die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens, S. 73. 779 Die Bedeutung des Timaios zeigt sich laut Gloy darin, dass er bis ins Mittelalter und die Renaissance hinein als Platons Hauptwerk galt und folglich eine Vielzahl von Kommentaren, Interpretationen und auch Kritiken evozierte. Vgl. zur Überlieferungsund Rezeptionsgeschichte Gloy, ebenda, S. 79ff. 780 Ebenda, S. 78. 781 Ebenda, S. 35.

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wie heute die Loslösung von althergebrachten Lebens- und Denkgewohnheiten, die Befreiung von Verhaltensnormen, die als Zwang empfunden wurden, sowie der Versuch, sich auf eigene Füße zu stellen und nach neuen Wegen Ausschau zu halten. Der Sinn- und Wahrheitsgehalt der tradierten Vorstellungen wurde immer weniger verstanden, und der Mythos degradierte zur Erzählung und nahm Formen von Überlieferungen an, denen keine Verbindlichkeit mehr zugesprochen wurde : » Die im Mythos dargestellte Welt wurde nur noch als Scheinwelt empfunden, die allenfalls für dichterische Zwecke genutzt werden konnte. Mit der kritischen Einstellung verbanden sich zunehmend pejorative Merkmale, die sich bis heute erhalten haben, wie Lug und Trug, Täuschung, Phantasterei, Groteske, logische Widersprüchlichkeit, Unwirklichkeit und Amoralität. «782 Eines der großen Themen der platonischen Ideenlehre ist bekanntlich das, wie ein sinnvoller Diskurs über die Dinge oder Phänomene geführt werden kann, trotzdem dass die Phänomene sich uns als Erscheinung immer nur vergänglich und unzuverlässig darstellen. Es scheint nahezuliegen, dieses Thematisieren von Erscheinungen in Verbindung zu dem damaligen Klima des Vertrauensverlustes zu sehen. Für eine Erscheinung ist es charakteristisch, dass sie sich für den einen anders darstellen mag als für den anderen, und dass diese Abhängigkeit der Auslegung keine konstanten Regeln offenbart. Platons geniale Idee bestand also in dem Postulat, dass wir diese Erscheinungen in Bezug zu anderen Wesenheiten begreifen könnten, und dass diesen durchaus ein verlässliches Sein zuzusprechen wäre. Eines der Probleme, die sich daraus ergeben, drängt sich besonders auf : Wie sind denn jene Wesenheiten zu finden ? Und selbst wenn wir annehmen könnten, dass Platon diese Frage plausibel zu klären vermochte, bliebe eine zweite Schwierigkeit übrig. Wie kommt man von den Ideen wieder zu den Erscheinungen zurück ? Eine andere Frage, die sich aus Platons Einführung einer Unterscheidung in einen Ideenkosmos und eine Welt des Werdens stellte, wurde wohl am prominentesten von seinem Schüler Aristoteles gegen ihn angeführt : Gloy nennt es die » Unendlichkeitsproblematik «.783 Sie ergebe sich aus der Annahme einer eigenständigen Seinsweise des ideellen Vis-à-vis des Sinnlichen, weil damit eine räumliche Trennung naheliegend sei (chorismos), wie sie Platon von Aristoteles unterstellt worden war, und wie Gloy schreibt, nahezu von der gesamten Tradition nachgesprochen worden ist.784 Nehme man an, dass es außer den Sinnendingen an sich seiende Ideen gebe, an denen jene nach einem Urbild-AbbildVerhältnis partizipierten, so der Einwand von Aristoteles, dann gelte, 782 Ebenda, S. 74. 783 Ebenda, S. 82ff. 784 Ebenda, S. 82.

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dass nicht nur die Sinnendinge den Ideen ähnlich seien, sondern auch umgekehrt die Ideen den Sinnendingen. Damit würde ein neues Vorbild verlangt, an dem beide partizipierten. Für den Fall, dass auch dieses als an sich seiend gedacht würde, ist ein drittes und viertes Vorbild erforderlich und so ad infinitum.785 Ohne Schwierigkeiten können wir hier in struktureller Hinsicht das modernere Problem entdecken, das sich um die begriffliche Definition von Zahlen anhand der Mengenlehre entfaltet. Wenn die kardinale Ordnung von Mengen durch deren ordinale Ebene organisiert wird, welche Ordnung vermag dann diese wiederum zu organisieren ? Für Gloy besteht bei diesem Einwand gegenüber Platons Ideenlehre allerdings ein Missverständnis. Weder müsse die Annahme der räumlichen Trennung zwangsläufig aus der Differenz zwischen sinnlich-materiellem und intelligibel-ideellem Kosmos folgen, noch sei es plausibel, dass Platon selbst sich des Problems nicht bewusst gewesen sei.786 Ihrer Darstellung nach hat er diese Schwierigkeit selbst wiederholt erörtert, in der Politeia, in dem Parmenides, aber auch im Timaios. Daher lautet ihr Fazit : » Dass Platon bei einem so ausgeprägten Bewusstsein für die Schwierigkeiten dieses Ansatzes im Timaios denselben blindlings erlegen sein sollte, steht kaum zu vermuten. Bei rechtem Verständnis seiner Theorie haben die Ideen kein An-sichSein, da dies zu einer unnötigen Weltverdoppelung führte, sondern ein ausschließliches Sein relativ zur Sinnenwelt. «787 Dies ist beachtlich. Gloys Interpretation besagt, dass die Ideen ausschließlich ein Sein haben durch ihre Relationen zur Sinneswelt. Kein autonomes Sein der Ideen also – aber wie dann ? Gloys Vorschlag lautet : » Ihr Sinn und ihre Funktion bestehen darin, Bedingungen und Bestimmungsgründe des sinnlich wahrnehmbar Seienden zu sein; sie sind allein funktional zu interpretieren. «788 Mit dieser Einordnung sind wir bei einer Interpretation von Platon, die den bisher erörterten Ausgangslagen im Denken von Deleuze wiederum sehr nahe ist. Das Problem, mit dem sich Gloy hier beschäftigt, steht auch im Zentrum von Deleuze’ Interesse : Wie ist es möglich, eine apriorische Erkenntnislehre (Epistemologie) zu vertreten, ohne sich die logische Priorität vor der Erfahrung durch das Zugeständnis eines ontologischen Status des Ideellen – und der damit verbundenen Unendlichkeitsproblematik – erkaufen zu müssen ?789 Wie wir gesehen haben, steht die systematische Entwicklung der philosophischen Konsequenzen eines in 785 Ebenda. 786 Ebenda. 787 Ebenda. 788 Ebenda. 789 Blumenberg beschreibt diese Problematik als das » Heimatloswerden der Attribute « und stellt diese als ein Charakteristikum der Neuzeit heraus. Vgl. dazu Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, insbesondere das Kapitel » Die vermeintliche Wanderung der Attribute : Unendlichkeit «, S. 87ff.

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solcher Weise funktional, das heißt differentiell begriffenen Platonismus im Zentrum von Deleuze’ Philosophie. Worum es dabei geht, lässt sich mit Gloys Worten zusammenfassen : » So ist es denn auch denkbar, dass der Platonische Strukturkosmos methodisch aus dem faktisch vorliegenden Kosmos durch Abstraktion gewonnen wird, dass er jedoch nicht wie in der empiristischen Induktionstheorie den Status eines empirisch Abhängigen, einer Erfahrungserkenntnis hat, sondern die logische Bedingung des realen Kosmos darstellt, ohne die dieser nicht verständlich wäre. Die logische Priorität des Ideenkosmos und die Dependenz des realen Kosmos von ihm erzwingen keineswegs den ontologischen Status eines An-sich-Seins des ersteren. «790 Eben diese Vorstellung, dass der Strukturkosmos, obwohl er durch Abstraktion gewonnen wird, dennoch die logischen Bedingungen des realen Kosmos darstellt, scheint mir das Interesse von Deleuze an Platon zu sein. Mit der Umkehrung, die Deleuze (über Nietzsche) im Sinn zu haben scheint, geht es nicht darum, die Platonische Spaltung des Kosmos in Sensibles und Intelligibles abzuschaffen.791 Deleuze’ » renversement du platonisme «, wie er sich in der französischen Ausgabe wörtlich ausdrückt,792 ist weniger ein Umsturz denn eine Umkehrung, weil sie das platonische Denksystem nicht grundsätzlich betrifft, sondern sich auf jenes operative Element richtet, mit welchem Platon das Motiv seiner Theorie begründet : der Teilungsmethode, nach der man die Dinge in ihren allgemeineren Zugehörigkeiten unterscheidet. D ­ eleuze’ Umkehrung betrifft die Zwecksetzung, nach der man in tradierter Weise diese Teilungsmethode interpretiert. Und zwar betrifft sie die Annahme einer kontinuierlichen Spezifikation dessen, was erkennbar ist, in Gattungen und Arten, die anhand klarer Kriterien voneinander unterscheidbar sein müssen. Dieses Primat einer angenommenen Kontinuität in der methodischen Spezifikation wendet Deleuze in ein Primat des Diskreten. Sehen wir genauer, was damit für Deleuze auf dem Spiel steht. Dem Stellenwert des Problematischen im Denken von Deleuze entsprechend beginnt sein Text mit der Erörterung der möglichen Motivation Platons. Deleuze’ Fazit lautet, dass Platon sich der Einwände von ­Aristoteles (dass die platonische Teilungsmethode die Frage nach dem Kriterium zur Einteilung nicht zu lösen vermag) durchaus bewusst gewesen sein müsse. 793 Platon müsse demnach, so Deleuze, eine andere Pointe mit seiner Teilungsmethode und der daraus konstruierbaren 790 Karen Gloy, Die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens, S. 83. 791 Dies sei viel eher das Projekt von Hegel gewesen, und mehr noch vielleicht von Kant, wie Deleuze selbst sagt. Gilles Deleuze, » Trugbild und antike Philosophie «, S. 311. 792 In der deutschen Übersetzung wird » renversement « mit » Umsturz « widergegeben, was uns als eine unglückliche Übersetzung erscheint. Deswegen zitieren wir hier aus dem Original : Gilles Deleuze, » Simulacre et Philosophie Antique «, in ders., Logique du ­Sense, Paris 1969, S. 292–307, hier S. 292. 793 Gilles Deleuze, » Trugbild und antike Philosophie «, S. 313.

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Ordnung verbunden haben.794 Diese Pointe entwickelte er nicht unter dem Begriff der Zuordnung, sondern unter dem der Selektion : » Der Zweck der Teilung besteht also keineswegs darin, eine Gattung in Arten zu teilen, sondern grundlegender in der Selektion der Stammlinie : Prätendenten, Bewerber unterscheiden, das Reine und das Unreine unterscheiden, das Echte und das Unechte. «795 Und er fährt fort : » […] die platonische Dialektik ist keine Dialektik des Widerspruchs oder der Gegensätzlichkeit, sondern eine Dialektik der Rivalität, eine Dialektik der Rivalen oder Bewerber «.796 Mit einer Verschiebung der Ausrichtung von der Zuordnung zur Auswahl, zur Selektion, ist im Thema der Wahrheit und Legitimität, um das es bei Platons Ideenlehre zweifellos im Kern geht, eine Arbitrarität sowie eine geschichtliche Kontingenz aufgedeckt oder vielleicht auch eingeimpft, das ist dabei wohl nicht ganz eindeutig.797 Es interessiert uns im Folgenden vor allem, welche Fragen durch eine solche Umwertung eröffnet werden. Wie gestaltet sich die Formulierung des problematischen Feldes unterschiedlich von derjenigen, von der sich Deleuze damit absetzen will ? Generell lässt sich festhalten, dass es in dieser Auslegung des Problemfeldes nicht mehr um eine kontinuierlich fortschreitende Auffächerung des Anfangs gehen kann, um die Auffächerung in Arten und Unterarten. Vielmehr geht es um die Auszeichnung von Abstammungslinien, um die Konstruktion einer Genealogie also, wobei die » Idee « bei Deleuze, wie wir gesehen haben, keine » Form « mehr ist, der ein unabhängiges, ewiges Sein zukäme, sondern ein » Problem «. Die konkrete Formulierung des Problems geschieht durch die Auswahl der passenden Konkurrenten in der Welt der Erscheinungen, also im selben Zug mit der Konstruktion der Genealogie. Die Methode der Einteilung ist dazu da, wie Heinrich in seiner Vorlesung zum Verhältnis von Ausdruck und Abbild798 schreibt, aus einer Reihe von möglicherweise trügerischen Anwärtern auf die Repräsentation für die Idee auszuwählen. Die Frage lautet jetzt, was » trügerisch « heiße. Und das ist eine schwierige, denn der Clou von Deleuze’ Modell einer » umgedrehten « platonischen Ideenlehre besteht genau darin, dass der Begriff der Ähnlichkeit als Kriterium für die Teilungsmethode kein äußerliches Verhältnis bezeichnet, sondern zu einer Beziehung von Ursprünglichkeit wird. 794 Ebenda. 795 Ebenda. 796 Ebenda. 797 Und es ist auch nicht wirklich von Belang hier. Damit soll nun nicht leichtfertig einem Anything-goes der Interpretation das Feld bereitet werden. Aber der Fokus liegt in der vorliegenden Arbeit nicht auf einer hermeneutischen Textexegese, sondern in der Erkundung des spezifischen Fragehorizonts, der sich aus der Interpretation Deleuze’ ergibt. Als Kriterium gilt uns dabei in erster Linie die Fruchtbarkeit hinsichtlich eines besseren Verständnisses in der Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Phänomenen, die sich durch die Digitalisierung und Informatisierung unserer Kultur aufdrängen. 798 Richard Heinrich, » Ausdruck und Abdruck «.

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Es ist einleuchtend, dass Ursprünglichkeit in einer Struktur, in der die Differenz zum transzendentalen Apriori gesetzt ist, sich nicht linear fortschreiben kann, sondern diskret setzen muss. Der erste Schritt aus der Transzendenz heraus besteht in der Feststellung einer Ähnlichkeit, die freilich auf dieser Stufe selbst nur als Differential erscheinen kann, das heißt als strukturgebendes Verhältnis ohne positiven eigenen Wert außerhalb konkreter Integrationsverhältnisse. Konkret bedeutet das : Wählt man einen » trügerischen « Bewerber in der Welt der Erscheinungen als Repräsentant der Idee, über die man mehr herausfinden möchte, dann wird die Idee selbst – und bedenken wir dabei immer, dass es bei D ­ eleuze die Ideen sind, die problematisch sind in der Weise, als dass sie noch keine körperliche Gestalt, keine Form haben – zu etwas anderem als das, was ursprünglicherweise im Fokus des Erkenntnisinteresses gestanden hatte. Als Beziehung der Ursprünglichkeit also ist die Ähnlichkeit etwas, das im Erkenntnisprozess selbst hergestellt werden muss. Dies ist der Hintergrund, vor dem Deleuze das platonische Ordnungsprinzip von Original und Abbild hinterläuft, um dieses selbst mit einem genetischen Prinzip zu begründen. Für ihn ist der Mythos, das Sinnbild für die Idee eines Ursprungs, ohne den das Prinzip von Original und Abbild seine Ordnungskraft gar nicht entfalten könnte, zirkulär verfasst und als » integrierendes Moment der Teilung selbst « wirksam : » Der Mythos ist in einer stets zirkulären Struktur die Erzählung einer Grundlegung, einer Begründung. Er erlaubt die Errichtung eines Modells, nach dem die unterschiedlichen Bewerber beurteilt werden können. «799 Die Beurteilung selbst kann also immer nur innerhalb der Systematik des Modells, das heißt in Ableitung der Prämissen (die den Mythos ausmachen) und auf denen das Modell gründet, stattfinden. Damit kommt bei jedem Erkenntnisprozess ein Moment des Anspruchs hinzu, dessen Legitimität erst einmal ausgewiesen werden muss. Und diese kann in Deleuze’ Interpretation nicht aus einer Wesensverwandtschaft abgeleitet werden, weil sie über die Selektionsprozesse, über das Konstruieren einer Genealogie, erst im Vollzug hergestellt werden muss. Die Wohlbegründetheit eines Bewerbers ist bei Deleuze keine innerliche Ähnlichkeit mehr, sondern eine zunächst einmal sowohl der Erscheinungen wie auch der Ideen äußerliche Relation. Dennoch ist sie ein Kriterium der Selektion. Ähnlichkeit (als äußerliche Relation) kann im Erkenntnisprozess bewertet werden hinsichtlich der Konstruktion des Modells, vor dessen Hintergrund eine arbiträre Erscheinung in den Wettbewerb auf die wahre Repräsentation einer Idee (sprich : die Formulierung eines Problems) eintritt. 799 Gilles Deleuze, » Platon und das Trugbild «, S. 312. Es gibt hier einige Berührungspunkte zur strukturalistischen Mythentheorie von Barthes, der den Mythos ebenfalls als zirkulär erfasst und genealogisch wirksam konzipiert. Vgl. dazu Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt am Main 1964.

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Erscheinungen, die in keiner innerlichen Ähnlichkeitsbeziehung zum Original stehen, hat bereits Platon mit dem Begriff der simulacra benannt. Solche Erscheinungen waren für ihn Trugbilder. Differentielle Ähnlichkeit als Relation, die einem bestimmten Denken oder einer bestimmten Abstraktion äußerlich ist, ist gewiss ein Teil unserer Konstruktionsformen zur Erzeugung von Anschaulichkeit, die für die Aktualisierung eines Abstraktums im Performativen eines Konkretums notwendig ist. Natürlich gibt es eine Prämisse, anhand derer Deleuze diese Umwälzungen erst vornehmen kann. Sie betrifft den Begriff, den er sich von der Natur macht. Die Natur gibt die Totalität der Beschränkungsmöglichkeiten vor, die man modellierend in eine Konstellation bringen muss, sodass innerhalb dieser Konstellation ein Vorschlag selbst bewertet werden kann. Auf diese Naturvorstellung geht Deleuze im zweiten Teil seines besagten Essays ein, und zwar indem er eine Allianz mit Lukrez bildet : » Die Natur muss als Prinzip des Diversen und seiner Herstellung gedacht werden. «800 Und ein solches Prinzip findet er in der epikure­ ischen These, die er selbst wie folgt formuliert : » Die Natur als Herstellung des Diversen kann nur eine unendliche Summe sein, das heißt eine Summe, die ihre eigenen Elemente nicht totalisiert. «801 Ferner schreibt er, wenn wir diese Natur theoretisch begreifen wollen, so müssen wir davon ausgehen, dass » die Natur […] keine kollektive, sondern eine ­distributive  « ist.802 Vor diesem Hintergrund können wir erst verstehen, was Deleuze mit seiner Umwertung des simulacras als vorgängig zum Begriffspaar Original/Abbild gewinnt : Ein Simulacrum, als Erscheinung, ist als solches erst einmal » illegitim «; es bringt einen Anspruch zum Ausdruck, dessen Begründetheit sich erst noch zeigen muss. Es bewirbt sich, in der Terminologie von Deleuze, als Repräsentant für eine Idee, die selbst zwar schon als » real « zu erachten ist, die aber gerade erst im Begriff ist, sich zu » differentieren « (sprich : zu aktualisieren) – und eben dafür braucht sie Repräsentanten, die diese Aktualisierung der Differenz im Begrifflichen ermöglichen. Das heißt, simulacra, wenn sie im Erkenntnisprozess selektiert werden, entfalten einen Effekt, den Brian Massumi in seinem Aufsatz » Realer than real « als Simulation bezeichnet.803 Ihr » Repräsentieren « bestehe in einem Wirken – sie wirkten bei der Herstellung des Wirklichen mit : » A copy is made in order to stand in for its model. A simulacrum has a different agenda, it enters different circuits. […] This account overcomes the polarity between the model and the copy by treating them both as second-order productions, 800 Gilles Deleuze, » Trugbild und antike Philosophie «, S. 325. 801 Ebenda. 802 Ebenda. 803 Brian Massumi, » Realer than real. The simulacrum according to Deleuze and Guattari «, in : Copyright, Nr. 1, 1987, S. 2, online : http ://www.anu.edu.au/HRC/first_and_ last/works/realer.htm (20.01.2009).

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as working parts in the same machine […]. «804 Mit diesem Maschinischen meint Massumi nichts anderes als das Wirken der Simulacra. Wie können wir nun die offensichtlich veränderte Rolle der Ähnlichkeit in Deleuze’ » umgekehrten Platonismus « näher bestimmen ? Ähnlichkeit wird hergestellt, das haben wir schon gesehen. Aber gleichzeitig, so Massumi, sei mit der Ähnlichkeit nicht etwas gemeint, dessen Feststellung man anstrebe, sondern ein Mittel und Medium : » [T]he resemblance of the simulacrum is a means, not an end. «805 Wir haben hier hinsichtlich der Ähnlichkeit eine ähnlich paradoxe Situation, wie wir sie schon im Kontext von Deleuze’ Begriff der Relation angetroffen haben, wenn er von einer » reinen Relation « spricht, die unabhängig von den Termen » existiert «.806 Es wäre vielleicht exakter, diesen Status nicht als Existenz sondern als Insistenz zu fassen. Diesen Begriff der Relation gewinnt er, wie wir gesehen haben, in seiner Auseinandersetzung mit der Differentialrechnung. Er bestimmt dort die » Idee «, um die es ja auch hier geht, als » Differential des Denkens «.807 Insofern als die Ideen bei Deleuze dasjenige sind, was er » Probleme « nennt, müssen wir also davon ausgehen, dass Probleme selbst in diesem Sinn von einer differentiellen Struktur sind. Als Differentiale existieren sie allerdings ohne bestimmte Positivität, sondern im Sinne einer unbestimmten Positivität, oder anders gesagt, als Virtualität. Sie können sich über verschiedenste Relationalitäten aktualisieren : dy/dx. Das heißt, Probleme (respektive Ideen) sind nicht Gegenstand unseres Denkens, nicht das, was es zu erkennen gilt, sondern sie sind nach Deleuze in unserem Denken stets am Werk – also immer dann, wenn wir denken. Sie sind Mittel zur Integration des Disparsen, ganz wörtlich, und zwar durch das Postulieren von Ähnlichkeit als Medium zur Vermittlung dessen, was erst virtuell existiert und noch keinen aktuellen Ausdruck gefunden hat.808 Hier werden die Konsequenzen deutlich, in denen sich der deleuze­ anische Ansatz von reflexionslogischen Differenzphilosophien unterscheidet. Die Logik des Sinns ist nach Deleuze von einer Theorie der Ontogenese nicht zu trennen. Nach seiner Konzeption eines Begriffs der Ähnlichkeit lässt sich diese weder als Äußerlichkeit noch aus einer Innerlichkeit heraus begreifen. Das heißt auch, dass feststellbare Ähnlichkeit nicht per se Legitimation genug wäre zur Auswahl einer Repräsentation. Deleuze begreift Ähnlichkeit als operatives Prinzip zum Bilden von Serien, von Zusammenhängen, die ihren je eigenen 804 Brian Massumi, » Realer than real «, S. 2. 805 Ebenda. 806 Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 220. 807 Ebenda, S. 232f. 808 Differentiale in der Mathematik gebraucht man für die Formulierung einer allgemeinen Lösung in Form einer Beschreibung der Änderung im Rahmen eines Spektrums, welches als Gleichung gefasst werden kann. Dies bedingt eine auf Konstanten beruhende Verallgemeinerung, die für die Berechnung eines spezifischen Falls (oder eines spezifischen Zusammenhangs, einer Abbildung) reinstantiiert werden muss.

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Legitimationsgrund im Konkreten erst schaffen müssen, indem sie sich bewähren. Damit stellt Deleuze ein mächtiges Konzept vor, um besser begreifen zu können, was symbolisches Formalisieren eigentlich bedeutet. Wie genau diese Theorie funktioniert bzw. eine Darstellung von ihr, wie sie bei ­Deleuze vorkommt und wie sie sich im Verhältnis zu anderen Entwürfen, etwa denjenigen von Sanders Peirce, verhält, kann hier nicht ausgeführt werden.809 Für unseren Zusammenhang ist es lediglich relevant, darauf hinzuweisen, dass sich mit dem Versuch von Deleuze, die Kategorie des Sinns in das Nachdenken über Symboloperationen und algebraische Logik wiedereinzuführen, wichtige Fragen stellen, deren Beantwortung für die gegenwärtig exponenziell zunehmende Bedeutung computergestützten symbolischen Modellierens augenfällig sein dürfte.

809 Vgl. dazu beispielsweise Alberto Toscano, The Theater of Production. Philosophy and Individuation between Kant and Deleuze, New York 2006; James Williams, Gilles ­Deleuzes Logic of Sense. A Critical Introduction and Guide, Edinburgh 2008.

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Zusammenfassung Seit den frühen Hochkulturen und den anfangs teils noch mündlich überlieferten Zeugnissen mensch­lichen Denkens dreht sich das Denken um die Wahrheit und unsere Stellung zu dieser Vorstellung. In dieser nun Jahrtausende währenden Exkursion lassen sich bestimmte Phasen rekonstruieren, in deren Verlauf und Abfolge sich der Begriff von Wahrheit immer weiter von Göttern, der reinen Existenz oder anderen starken Aprioris entfernt hat. Von Sein und Wahrheit, die übereinstimmen sollen (Ens et Verum Convertuntur), über die Übereinstimmung von Tatsachen und Wahrheit (Factum et Verum Convertuntur) bis zum Übereinstimmen von Vorstellung und Wahrheit (Fictum et Verum Convertuntur), oder von der großen mythischen Einheit über das Buch der Natur, zunächst mit göttlicher Hand, dann in der Sprache der Mathematik geschrieben, bis zur gespaltenen Welt der Fakten und Werte : Das Denken wird sich selbst gewahr, und es verändert dabei nicht nur die Favorisierungsliste der Ontologien, sondern auch sein Sicherheitsdispositiv. Die Unberechenbarkeit wechselt von der Natur ins Denken. Zwei besonders mutagene Entwicklungen seien hier hervorgehoben, die beide über das Stichwort der Deterritorialisierung in Zusammenhang gebracht werden können : zum einen die praktische Erfahrung qua Ersegelung des Planeten als einem zu drei Vierteln blauen Globus, zum andern die Erfindung einer besonderen mathematischen Form, des Differentials, zu Beginn und manchmal heute noch » Kalkulus « genannt. Beides steht, so unsere Argumente, ganz direkt für die praktische Umsetzung einer gewaltigen Dynamisierung der Lebensund Vorstellungsverhältnisse. Zwei der aus praktischer wie theoretischer Perspektive am weitesten hervorstechenden Fragen waren : Wie II  Formen und Strukturen von Integrabilität

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funktioniert dieses oder das, dieser oder jener, und was oder wer könnte besser funktionieren ? Und wie integrieren wir das Neue, das uns aus den nicht kartierten geografischen oder mentalen Gegenden entgegentritt ? Das Interesse an den Verhältnisbestimmungen überflügelte rasch jenes vormalige Fragen nach dem Wesen der Dinge. Mit der machina-mundi-Vorstellung bildete sich auch die Vorstellung heraus, es gäbe so etwas wie regelmäßige Kausalität, die in den Schwierigkeiten am Werk sein muss, auf die man so stößt. Es kamen Versionen verstehbarer und bezwingbarer Kausalität auf, zu denen eben auch jene Vorstellung gehört, Probleme seien etwas, was man vorfindet und mittels Ideen, die irgendwie ins Denken hineingetan worden sein müssen, gelöst werden können in einer Weise, dass die Anzahl von Schwierigkeiten eigentlich mit wachsendem Wissen stetig abnehmen müsse. Wir haben uns an einer Frage orientiert, die schon von den ersten Philosophen formuliert wurde, nämlich : Können das von Natur aus Seiende (physei on) und das künstlich Geschaffene (techne on) überhaupt zusammenfallen ? Mit Blick auf diese Frage haben wir verschiedene Linien verfolgt, wie das Verhältnis von Theorie zu Imagination und Einbildungskraft gefasst werden könnte. Indem wir in diesem Kapitel auf drei auffällige Topoi Bezug nehmen, den der Begrenzung, den der Funktion und den des Problematischen, argumentieren wir dafür, dass die vorgenannten und andere, ähnliche Vorstellungen sämtlich auf die eine oder andere Weise in diverse Sackgassen führen. Allerdings zeichnen wir nicht den Weg dort hinein nach, sondern versuchen uns an einer Rekonstruktion einer Philosophie, deren Wesen man vielleicht am besten beschreibt, indem man sagt, dass sie nun vollständig beim Menschen angekommen sei. Die Bewegung, der einst Cusanus Ausdruck 204

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verschaffte, als er seinem Löffelmacher empfahl, selbst nachzudenken, anstatt auf göttliche Eingebungen zu warten, kommt gewissermaßen zur Ruhe. Für diese Rekonstruktion beginnen wir mit der Erweiterung einer wohlbekannten ideellen Figur : der Anschauungsform. Wir sind der Meinung, dass sie für sich genommen und allein bleibend wesentliche Mängel aufweist, da sie wichtige Beziehungen zwischen Mensch und Welt nicht sichtbar werden lässt. Unser Vorschlag für diese Erweiterung ist die Konstruktionsform, die wie ihre Schwesterformation als situatives Apriori zu gelten hat, aber nicht für den Aufstieg qua Abstraktion (grob gesprochen), sondern für die Landung im Konkreten qua Spezifizierung und Integration zuständig ist. Diese vertikalen Bewegungen stellen nun den Kern der auf der Figur des Differentials aufbauenden Philosophie von Deleuze dar, die, wie bereits gesagt, beim Menschen ankommt, weil sie eine Natur des Denkens annimmt. In dieser Natur sieht er freilich kein Paradigma (Referenzrahmen), an dem sich das kultivierte Denken auszurichten hätte und das eine Funktion hätte (kollektivierend zu sein). Sondern er sieht in dieser Natur ein unendlich großzügiges distributives Prinzip der Genese des Denkens, das sich selbst verteilt in jedem Moment und an alle, die lernen. Das Differential der Philosophie von Deleuze ist ein strukturelles Analogon des mathematischen Differentials, der Ableitung als symbolischer Operation von Leibniz oder Newton. Es wird jedoch verallgemeinert und als Element der Dialektik als universell apostrophiert : Alle Probleme werden ihrer Natur nach als dialektisch begriffen. Nur die Lösungsansätze sind spezifisch (und disziplinär). Das philosophische Differential erlaubt vor allem, das noch nicht Bestimmte, das Präspezifische, zum einen als bestimmbar zu II  Formen und Strukturen von Integrabilität

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denken, zum anderen jedoch das Vermögen zu anderen Bestimmungsweisen nicht auszuschließen. Das Differential als philosophischer Begriff lässt sich nur über ein Konzept von Virtualität begreifen, welches Deleuze in die platonische, in die kantsche und auch in die hegelsche Dialektik einführt. Wir haben demonstriert, wie das Virtuelle eine besondere Beziehung zur gliedernden Konstruktion und ihren Bedingungen unterhält. Es erlaubt ein Konstruieren auch in komplexen Verhältnissen, weil das Konstruieren von Beziehungen vor der Interpretation derselben steht. Das Konzept der Virtualität figuriert als so etwas wie ein aktiver Vermögensbegriff von Grund(-lage) und der Bedingungen die eine solche jeweils für ein jedes Konstruieren von Konsistenz aufbringen kann. Als solches eröffnet das Konzept der Virtualität erst die Formen und Strukturen von Integrabilität als Problematik. Die konkrete Formulierung qua diskret gliedernder Modellierung des Problems geschieht durch die Auswahl der passenden Konkurrenten in der Welt der Erscheinungen, niemals jedoch durch die Zuordnung bekannter, das heißt statischer Entitäten. Sie geschieht also im selben Zug mit der Konstruktion der Genealogie welche sie bezeugen wird, wenn die Formulierung einmal artikuliert ist. Wahrheit suchen wird gleichbedeutend mit aktivem Lernenwollen, und äußert sich im Aufsuchen von Aussetzungsverhältnissen aller Art. Die Extension von Sinn gilt als größer denn jene von Wahrheit, nicht umgekehrt. Dies verlangt nach einer passenden Konzeption von Ähnlichkeit, die im Falle von Deleuze eine differentielle Ähnlichkeit als reine Relation darstellt. Probleme bzw. Ideen sind universeller Gegenstand unseres Denkens, und das heißt gleichzeitig auch, dass sie nicht dasjenige sind, was es zu erkennen gilt, sondern dass sie in unserem Denken 206

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stets am Werk sind – das heißt immer dann, wenn wir denken. Eine kritische Philosophie in seinem Sinne muss ohne Innerlichkeit des Denkens als Ruhepol auskommen können, und sich stattdessen der Gewohnheit als Ruhepol bewusst werden. Das Denken selbst muss, seiner überschwänglichen und distributiven Natur nach, voraussetzungslos bleiben. Deswegen konzipiert Deleuze seine Theorie als einen » trans­ zendentalen Empirismus «. Das erdachte Abstrakte wird selbst Gegenstand empirischer Untersuchungen. In seiner Schrift Logik des Sinns konzipiert Deleuze Sinn als Produkt einer sich stets doppel-artikulierenden, elementaren Oberfläche, die vor einem ereignishaften Brodeln sichtbar wird, welches wir, vorausgreifend und mit Blick auf die Ausführungen im nächsten Kapitel, anhand einer Vorstellung aus der Statistik als abstrakte und unbestimmte, weil nicht in einer positiven Weise verankerbaren, Populationseffekte charakterisieren wollen. Denn in diesem Sinn von Denken ist niemand wirklich er selbst oder individuell, wenn er denkt. Sinn, dessen Konstitution Deleuze in aterritorialer Weise etabliert, gilt ihm als Bedingung des Wahren und kann damit nicht gleichzeitig als Kriterium zu seiner Bestimmung genügen.

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III Virtualisierung von Dialektik : Zum Verhältnis zwischen Theorie und Synthese III.I. Die synthetische Analyse im Paradigma der Netze 210 · Die Medialität und die Unbestimmtheitsdimensionen des Technischen 214 · Zur Geschichte und Metaphorik des Begriffs der Spur 222 — III.II. Das Modell und die Simulation : das kontingente Konkrete 230 · Die Simulation : Ersatzoffenbarung oder epistemisches Werkzeug ? 230 · Modelle : Mathematical fictions ? 233 · Simulacrum, Abbild und das Herkommen von Templates in fantastischantizipierbaren Genealogien 235  —  III.III. System, Element, Serie. Inversion mimetischer Traditionslinien 241 · Die Integrität und Existenzweise technischer Objekte 247 · Der Individuationsprozess technischer Entitäten 252 · » konvergenz « – Grenzen des Konzepts im Sprachspiel des linguistischen Strukturalismus 257

» Dieses Paradox der schöpferischen Zirkularität ist jeder Form autonomer Hervorbringung […] eigen. «810 » Die Mathematik ist nicht mehr Fundament und auch nicht schützendes Geländer; sie ist zum Wörterbuch geworden; der Ausdruck ›Methode‹ erhält seine ursprüngliche Bedeutung des Transportierens zurück. «811 III.I. die synthetisierende analyse im paradigma der netze Im letzten Teil der vorliegenden Arbeit soll nun genauer ins Auge gefasst werden, welche Perspektiven und Herangehensweisen sich für spezifisch medientheoretische Fragestellungen rund um das Thema Simulation und Modellierung ergeben. In vielen Bereichen, von der Architektur, dem Design über die Chemie bis hin zum Chipdesign und zur prospektiven Datenanalyse im Pharmabereich kommt heute ein sogenanntes generisches Modellieren zum Einsatz. Zu dessen Eigenheiten gehört es, dass das jeweils zu Modellierende im Voraus zwar wohl symbolisch codiert werden, nicht aber auch anschaulich vorgestellt werden kann : Was bislang sozusagen interesselos als Modell von etwas verstanden worden ist, wird zunehmend und in diversen Bereichen in zweckrationaler Weise als Simulation für etwas gehandhabt. Damit löst sich die technische Operationalisierung für diese synthetische Verfügbarkeit von einem ehemals notwendigerweise vorherigen Verstehen einer Problematik.812 Es gerät ein Außen in unseren technischen Verfügbarkeitsbereich, das sich durch ein vorstellendes, antizipierendes Denken nicht mehr theoretisch einholen und reflektieren lässt.813 Diese Situation stellt philosophisch betrachtet ein epistemico-ontologisches Ärgernis dar; gleichzeitig aber schöpfen gegenwärtige Technikanwendungen dieses Potenzial von Simulationen längst aus. Dazu ein Beispiel aus dem Bereich der Navigationssysteme : Die Firma TomTom bot 2009 eines namens » HD Traffic « an, wobei HD für High Definition steht und darauf verweist, dass dieses System netzwerkbasiert funktioniert und in Realtime den schnellsten Verkehrsweg für den Nutzer ausfindig macht. » Das TomTom-Gerät […] arbeitet mit einem online-Dienst, der die aktuellen Geschwindigkeiten von Mobiltelefonen einer relevanten Population misst, um den aktuell schnellsten Weg für eine bestimmte Anfrage zu finden, und diese Lösung 810 Pierre Lévy, Die Kollektive Intelligenz. Eine Anthropologie des Cyberspace, Mannheim 1997, S. 122. 811 Michel Serres, Hermes I. Kommunikation, Berlin 1991 [1968], S. 8. 812 Vgl. zum Beispiel Johannes Lenhard, Günter Küppers und Terry Shin (Hrsg.), Simulation. Pragmatic construction of reality, New York 2006. 813 Vgl. dazu auch Kapitel » Das Problem der Rahmung eines erweiterten Prinzips der Verfügbarkeit « in der vorliegenden Arbeit, S. 57ff.

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berücksichtigt die gerade ­wirksamen ›Kräfteverhältnisse‹ auf den Straßen. «814 Herkömmliche Navigationssysteme operieren im Gegensatz zu diesem nicht auf der Basis dynamischer topologischer Perspektiven, also netzwerkbasiert, sondern nach geometrischen Abbildungen. Das heißt, sie funktionieren nach demselben Prinzip wie gezeichnete Karten, über ein zweidimensionales, rein geometrisch orientiertes Modell von Abbildung ohne situationsbezogene Flexibilität hinsichtlich eines übergeordneten Wertes – der in diesem Beispiel darin bestünde, möglichst schnell ans Ziel zu kommen. TomTom-Kunden würden, so Ludger Hovestadt, nicht nach vordefinierten Karten navigieren, sondern » im Schwarm « der anderen Verkehrsteilnehmer, deren Position fortlaufend und live identifiziert und in einem Netzwerkmodell ständig aktualisiert werde. 815 In diesem Netzwerkmodell wertet das System situativ und für jeden Nutzer einzeln den optimalen Weg aus, indem die große Anzahl der möglichen Wege hinsichtlich der momentanen Verkehrssituation (Stau, Baustellen et cetera) ausgewertet wird. » Planer oder Vermesser können nur hilflos zusehen, wie ihre Pläne und Karten zum einen trivialisiert werden und zum andern deren Eigenschaftspalette erweitert wird, um die vor dem Hintergrund der rasanten informatorischen Rekonfigurierbarkeit mehr und mehr als ungenügend empfundenen semantischen Neutralität. «816 Hovestadt fragt weiter, was den Vermessungsexperten des euklidischen Raumes bleibe : » Sie werden Moderatoren in einer sich selbst organisierenden Welt, in der die Bewegung jedes Punktes von den Bewegungen aller anderen Punkte abhängig sind «, so sein Fazit.817 Dieses Beispiel hat einen exemplarischen Status für unsere Argumentation, und es gäbe zahlreiche andere Beispiele, in denen dieselbe Abstraktion hinsichtlich der formalen Ebene eines Modells von derjenigen einer zweidimensionalen Abbildung hin zu einer drei- oder noch höherdimensionalen Netzstruktur zur Anwendung kommt. Im Zuge von Google-Earth etwa und anderen Plattformen des Realtime-Datenverkehrs versuchen alle großen IT-Unternehmen, sich gegenwärtig Anwendungen auszudenken, um neue Potenziale zur Orientierungs- und Planungshilfe auszuschöpfen. Genau das ist jedoch in topologisch (statt topografisch) fundierten und als Mannigfaltigkeit überlagerter Netzwerke sich präsentierenden Milieus mitsamt der sich daraus ergebenden beschleunigt semantischen Produktivität ziemlich schwierig. Vor diesem Hintergrund verlagert sich die Schwierigkeit einer theoretischen bzw. methodischen Fundierung empirischer Datenauswertung von dem Anspruch, ein mimetisch exakt formuliertes Modell zu entwickeln, auf die Ebene der Selektion der Modellkandidaten, die nicht mehr in idealistischer Freistellung für sich genommen gut oder weniger gut sein 814 Vgl. dazu Ludger Hovestadt, » Als die Architektur laufen lernte «, in: arch+, Nr. 190, 2009, S. 15. 815 Ebenda. 816 Ebenda. 817 Ebenda.

III  Virtualität von Dialektik

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können, sondern mehr oder weniger passend (besser : optimal), je nach Zwecksetzung und Situation. Man könnte von einer eigentlichen Rückkehr der aristotelischen Causa Finalis sprechen, wäre diese bei Aristoteles nicht naturalistisch konzipiert gewesen und inert gegenüber kulturellem Verhandlungsgeschick und situativ » begründeten « Entscheidungen.818 Es ist zur Gewohnheit einer jeden wissenschaftlichen Praxis geworden, mit dieser neuen » Freiheit «, die insofern neu ist, als dass sie nicht mehr eine Freiheit von etwas, sondern eine Freiheit für etwas bezeichnet, umzugehen, indem man von der Frage nach einer global-gültigen Begründbarkeit absieht und stattdessen eine primär methodische Fundierung des wissenschaftlichen Tuns anstrebt. Das macht die Situation jedoch nicht einfacher, ist doch das Sprachspiel von » Methode « selbst nicht mehr wie zu Zeiten euklidischer Hoheit über die Elemente, sprich more geometrico, begründet.819 Ebenso problematisch ist gegenüber den Netzwerkstrukturen, in denen sich dieses veräußerte Synthetische manifestiert, die dialektische Methode geworden, sofern diese in ihrer bipolaren Formulierung verharrt. In einer Netzstruktur gibt es für jede angestrebte Entwicklung eine Vielzahl von Möglichkeiten, wie diese realisiert werden können. Jeder Software-Ingenieur kennt die Situation : Zur Implementierung einer bestimmten Prozedur muss er sich zwischen den sprichwörtlichen 1001 Möglichkeiten entscheiden, und mit jeder Entscheidung auf dem Weg zur Realisierung legt er bestimmte Voraussetzungen fest, welche die spätere Integrabilität der Prozedur in einen größeren Zusammenhang mitkonstituiert : Es sind Voraussetzungen, die notabene im Laufe der Entwicklungen zu constraints mutieren. Aus exakt diesem Grund sind schon mittelgroße Softwaresysteme nie nur ein syntaktischer Automat. Die semantische Dimension mit allen ihren praktischen und theoretischen Korollaren ist mannigfaltig wirksam, wenn auch meist auf implizite Weise. Michel Serres hat schon vor der eigentlichen Flut solcher Anwendungen in unserem Alltag formuliert : » An die Stelle der starren Notwendigkeit einer einzigartigen Vermittlung tritt die Selektion einer Vermittlung unter anderen Vermittlungen. Und das stellt einen beachtlichen Vorteil dar, denn es handelt sich um eine bessere Annäherung an reale Situationen, deren Komplexität häufig auf der Vielzahl denkbarer praktikabler Vermittlungsmöglichkeiten beruht. «820 Darin verdankt sich laut Serres’ Analyse die Überlegenheit eines tabulatorischen Modells über ein lineares Modell : » […] eine Argumentation mit mehreren Eingängen und vielfältigen Verknüpfungen 818 Serres hat auf diese Zusammenhänge hingewiesen. Vgl. dazu Michel Serres, Le Contrat Naturel, Paris 1999 [1990]. Für eine Einordnung der dort entwickelten Gedanken in den größeren Kontext von Serres’ Philosophie vgl. Maria L. Assad, Reading With ­Michel Serres. An Encounter With Time, Albany 1999. 819 Vgl. dazu auch das Kapitel » Imagination und Methode oder Das Ende der Repräsentation durch die Vorstellung «, S. 154ff. 820 Michel Serres, Hermes I, S. 12.

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[ist] reicher und flexibler als eine lineare Verkettung von Gründen, ganz gleich ob diese Verkettung nun auf Deduktion, Determination, Entgegensetzung usw. beruht «.821 Was Serres als entscheidenden Schritt sieht zur Unterscheidung zwischen dem, was er ein » lineares Modell « bzw. ein » tabulatorisches Modell « nennt, ist der Übergang auf der Ebene des formalen Modells von der Linie zum Raum : Im Paradigma der Netzstrukturen wechselt das Modell die Dimension. Während die Dialektik glaube, so Serres, sie habe alle früheren Argumentationen flexibel gemacht und verallgemeinert, indem sie aus der geraden Linie eine gebrochene Linie gemacht habe, so bleibe sie doch, so oft und so sehr die Linie auch gebrochen sein mag, dennoch immer innerhalb ihrer Dimension.822 Daraus ergebe sich das große philosophische Problem der Tradition : Logik oder Zeitlichkeit ? Konsequenz oder Sequenz ? Logische oder zeitliche Folge ?823 Serres’ Fazit lautet : » Zwischen zwei Thesen […], das heißt zwei Gipfelpunkten, gibt es nach Auffassung der Dialektik einen und nur einen Weg, auf dem man vom einen zum anderen gelangen kann; dieser Weg ist ›logisch‹ notwendig und verläuft durch einen ganz bestimmten Punkt, den der Antithese oder entgegengesetzten Situation. In dieser Hinsicht ist die dialektische Argumentation einlinig; sie ist dadurch gekennzeichnet, dass es nur einen Weg gibt, dass dieser Weg einfach und der Determinationsfluss, den dieser Weg transportiert, eindeutig ist. «824 Weil das dialektische Modell von Methode auf der logischen Notwendigkeit verharrt, sei sie lediglich in der Lage, » diffizile Totalitäten zu schaffen «.825 Die Abstraktion und Verallgemeinerung der Dialektik, wie Serres sie vorschlägt, fasst die Verteilung dieser Totalitäten ins Auge und erlaubt deren differenziertere Beschreibung, sowohl qualitativ wie auch quantitativ : » Während wir nun wissen, dass eine These (oder ein Situationselement) ganz unterschiedliches Gewicht haben kann, je nachdem, ob sie sich auf sich selbst, auf eine lokale Teilmenge oder auf die Totalität des Netzes bezieht, ist die Dialektik unfähig, ihre Analyse so weit zu verfeinern, dass sie über das Begriffspaar Totalität/Widerspruch hinausgelangte, wobei das eine ein Moment des anderen ist und umgekehrt. «826 Folgt man Serres in diesem Schritt in eine räumliche Dimensionalität formaler Modelle, so lässt sich die dialektische Methode als Element begreifen, dessen Abstraktion im Sinne von Verallgemeinerung einen neuen Modellbegriff darstellt. Wir möchten ergänzen, dass die Abstraktion und die implizierten Anschauungsformen der Konstruktionsformen bedürfen. Ferner darf die Virtualisierung von Dialektik nicht auf der Stelle treten, sondern muss sich im Differential dx/dt entfalten oder besser in 821 Ebenda. 822 Ebenda. 823 Ebenda, S. 11. 824 Ebenda. 825 Ebenda. 826 Ebenda, S. 17.

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einem dynamisierten Bild der Dialektik als ihre eigene differentielle Ableitung in der Zeit : als das Differential dD(ialektik)/dt. Ein Modellbegriff, so abstrakt gefasst, dass er als paradigmatisch für das Symbolische angesehen werden könnte, müsste eine gliederbare Gefügtheit verkörpern, zu deren näherer Bestimmung sich am empirischen Pol wohl ein » Organon zum Verständnis historischer Phänomene « und am abstrakten Pol eine » Theorie der Schemata «827 finden lassen müssten. Aufgrund der netzwerkbasierten Technologien und des erweiterten Modellbegriffs steht das Analytische dem Synthetischen nicht länger in einer ganzheitlich-komplementären Weise gegenüber. Digitale Verfahren ermöglichen diskrete synthetisierende Analysen, welche die neuen » Originale « gleichzeitig analysieren wie hervorbringen – sowohl in informatorischer als auch materiell konkretisierter Form. Wie diese »  abstrakten Gebilde «, mit Manfred Fassler eigentliche » Kopfgeburten «828, jedoch in die manifesten Ordnungen der Welt passen können, stand bislang nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit theoretisierend-philosophischen Ansinnens. Wer heute mit den Analysen etwas anfangen möchte, begegnet schier unendlichen Möglichkeiten, die sich bei ihrer Anwendung im digital vermittelten Konkreten anbieten. Es ergibt sich daraus zwangsläufig das Problem einer reflektierenden Untersuchung dieser Entwicklungen. Im Folgenden sollen zwei schon einige Male genannte Ansätze zu einer philosophischen Techniktheorie näher besprochen werden : die Bestimmung einer Unbestimmtheitsdimension von Technik als eines derer Konstitutiva sowie der damit verwandte und in allfälligen Diskursen häufig verwendete Begriff der Spur. Die Medialität und Unbestimmtheitsdimensionen des Technischen » [D]as Problem betrifft nicht mehr die Tradition und Spur, sondern den Ausschnitt und die Grenze; es ist nicht mehr das Problem der sich perpetuierenden Grundlage, sondern das der Transformationen, die als Fundierung und Erneuerung der Fundierung gelten. «829 Bereits vorläufige Betrachtungen zeigen, dass die tief greifendsten Technologien diejenigen sind, die gewissermaßen aus dem Raum der Sichtbarkeit verschwinden : » Sie verbinden sich mit den Strukturen des täglichen Lebens, bis sie von ihnen nicht mehr zu unterscheiden sind. «830 Der für manche beunruhigendste Aspekt am Gehalt dieser Aussage hat mit dem erkennbaren Selbstverständlichwerden des Technischen zu tun, mit dem 827 828 829 830

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Ebenda, S. 23. Manfred Fassler, Erdachte Welten, S. 227. Michel Foucault, Archäologie des Wissens, S. 12. So charakterisiert Weiser die gegenwärtigen Tendenzen. Vgl. Marc Weiser, » The Computer for the 21st Century «, in : Scientific American, Nr. 3, 1991, S. 94–104, hier S. 98, zitiert nach Christoph Hubig, » ›Wirkliche Virtualität‹ «, hier S. 42.

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Quasinatürlichwerden desselben, mit dessen scheinbar glatter Eingliederung in eine als kontinuierlich erscheinende Ordnung des Natürlichen. Blumenberg hebt aus einer kulturanthropologischen Perspektive den weltkonstitutiven Charakter von Technik hervor : » Die künstliche Realität, der Fremdling unter den vorgefundenen Dingen der Natur, sinkt an einem bestimmten Punkte zurück in das ›Universum der Selbstverständlichkeiten‹ in die Lebenswelt […]. Der von Husserl analysierte Prozess der Verdeckung des Entdeckens erreicht erst darin sein Telos, dass das in theoretischen Fragen unselbstverständlich gewordene zurückkehrt in die Fraglosigkeit. Ungleich vollkommener als durch Mimikry der Gehäuse wird das Technische als solches unsichtbar, wenn es der Lebenswelt implantiert wird. Die Technisierung reißt nicht nur den Fundierungszusammenhang des aus der Lebenswelt heraustretenden theoretischen Verhaltens ab, sondern sie beginnt ihrerseits, die Lebenswelt zu regulieren, indem jene Sphäre, in der wir noch keine Fragen stellen, identisch wird mit derjenigen, in der wir keine Fragen mehr stellen, und indem die Besetzung dieses Gegenstandsfeldes gesteuert und motiviert wird von der immanenten Dynamik des Technisch Immer-Fertigen […]. «831 Als derzeit noch weitgehend offenes Desiderat einer Medientheorie können wir also eine systematische Unterscheidung zwischen den Prozessen der Implementierung technischer Objekte und deren Bedingungen hinsichtlich einer nachhaltigen Integration ausmachen. Eine Theorie der Medialität von Technik, die in Anlehnung an Foucaults Mikrophysik der Macht ein Wissen über die » Mikromechanik von Medialität « beinhalten müsste, wäre die Bedingung für eine im Sinne einer Technikphilosophie aktive Auseinandersetzung mit den regulierenden Constraints unserer technologisch ausgerüsteten Lebenswelt. Konkret ist über dieses Desiderat, die dahinterliegenden Umstände eines Selbstverständlichwerdens des Artifiziellen und der damit einhergehenden Unschärfe bezüglich der Thematisierbarkeit der technologisch veränderten Lebenswelt, die Aufgabe der sogenannten Technikfolgenabschätzung zu einem pro­ blematischen Projekt geworden. Es eröffnet sich aus dem Zusammenspiel dieser Aspekte eine Kluft, die im Widerspruch zur neuzeitlich-modernen kulturellen Gewohnheit steht, Technik und technisches Handeln im Kontext von Erwartbarkeit und Gelingensgarantien zu betrachten. Christoph Hubig beschreibt diese Kluft als reflexionslogisches Dilemma.832 Zusammenfassend vorweggenommen : Eine Darstellung erachtet die technologischen Strukturen unserer Lebenswelt wie Produktions-, Distributions-, Kommunikations- oder Organisationsprozesse als symbolische Strukturen, die als Infrastruktur der bewohnten Umgebungen 831 Hans Blumenberg, Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie, Turin 1963, S. 3–31, hier S. 22, zitiert nach Christoph Hubig, » ›Wirkliche Virtualität‹ «, hier S. 42. Siehe dazu auch Bernhard Waldenfels, Bruchlinien der Erfahrung, Frankfurt am Main 2005. 832 Christoph Hubig, » ›Wirkliche Virtualität‹ «, hier insbesondere S. 53f.

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denjenigen Hintergrund bilden, in den sich neue Artefakte wie auch entstehende neue Verfahrensweisen zu deren Erfindung, Herstellung etc. als mediale Phänomene einschreiben. Mit dieser Charakterisierung der Situation greift Hubig auf die kulturgeschichtliche Metapher der » Lesbarkeit der Welt « zurück und behält so die für dieses Denkbild zentrale Unterscheidung von Rechnen und Lesen als zwei unabhängigen Kulturtechniken des Geistes bei.833 Die Produkte des vorstellenden Verstandes hinterlassen aus seiner Perspektive Signaturen und Spuren, aus denen sich für die kritische Reflexion eine Unbestimmtheitsdimension des Technischen eröffnet, die Aufschluss geben soll über die Herkunft aller möglichen Aspekte des Unvorhergesehenen.834 Die Aufgabe der reflektierenden Vernunft sieht Hubig dabei dem Modell der zwei Kulturen in den Wissenschaften verpflichtet.835 Die erwähnte Kluft stellt sich für ihn als Dilemma für das kritische Denken dar, weil ihm diese Unbestimmtheitsdimension als Lesebuch für eine moderne Hermeneutik zunehmend als gefährdet erscheint : Die Verwicklungen der Steuerungs- und Regulierungsprozesse seien derart komplex geworden, dass eine Orientierung über das Lesen und Interpretieren von Spuren oder Signaturen sich immer weniger zu bewähren scheine, da gleichzeitige Effekte im Geflecht der technischen Zusammenhänge nicht mehr eindeutig auseinandergehalten und abgeleitet bzw. in ihren Kausalzusammenhängen eingeschätzt werden können.836 Unserer Meinung nach sieht Hubig hier Steuerung im Sinne von ausgeübtem Kontrollvermögen durch direkte Beeinflussung (und das heißt ein Modell linearer Kausalität) als notwendige Entsprechung auf ein normatives Anliegen, nämlich dass Geflechte technischer Zusammenhänge genau so, eben linear, kontrolliert werden sollen. Es erscheint uns jedoch nicht gerechtfertigt, das Auftreten von Geflechten generell mit dem Verlust einer Antizipationsfähigkeit gleichzusetzen, eher folgt daraus lediglich ein Versagen des Modells linearer 833 Vgl. zu der Bedeutung Hegels für diese Unterscheidung das Kapitel » Räumliches Denken – Codieren eines Außen nach Übereinkunft «, S. 86ff. 834 Christoph Hubig, » ›Wirkliche Virtualität‹ «, hier insbesondere S. 48f. 835 Vgl. dazu die wegweisende Studie von Snow aus den 1950er-Jahren, der herausstellt, wie sehr eine solche Aufsplittung ein junges Phänomen ist, dessen Herkunft erst im 20. Jahrhundert auszumachen ist. Charles Percy Snow, The Two Cultures and the Scientific Revolution. 836 Christoph Hubig, » ›Wirkliche Virtualität‹ «, hier insbesondere S. 58f. Tholen zeichnet in seinem Text » Ordnungsliebe, Selbsterhaltung « die Perspektive des von Heidegger so prägnant formulierten Dilemmas nach, wonach Technik in den zeitgenössischen Ausformungen in erster Linie als » Bestandessicherung « erscheint, was den Menschen in die Enge eines rationalen » Gestells « einschließt – und zwar proportional dazu, wie sehr wir uns von Technik abhängig machen –, in welchem die Freiräume für ein » spontanes Verhalten « immer wie kleiner werden : » Die vorherrschende Praxis der Simulation freilich orientiert sich – wie ich zu zeigen versuchte – an der Strategie eines streng codierten und banalen Überlebens, in welchem Kraft und Spontaneität des Tätig-Seins vergessen scheint. « Georg Christoph Tholen, » Ordnungsliebe und Selbsterhaltung. Vermutungen über das Dispositiv von Regelkreisen «, in : Gottfried Heinemann und Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hrsg.), Sabotage des Schicksals, Tübingen 1982, S. 177–184, hier S. 182.

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Kausalität in netzbasierten Milieus. Freilich ist es nachvollziehbar, dass das Erleben von Nicht-Linearität in technischen Systemen ein Unbehagen auszulösen vermag. Damit verschärft sich das von Wittgenstein formulierte Problem im Tractatus, nämlich wie von einem Modell als logischer Form auf der Basis einer über Mittelwerte (oder andere arbi­ träre Operationalisierungen) bestimmten Semantik wieder zurück in die Konkretheit eines einzelnen Falls zu finden sei. Statistische Methoden scheinen Aussagen über eine zu erwartende Zukunft greifbarer zu machen, während gleichzeitig die unbestimmbare Ebene der abstrakten Streuungen gerade für solche Prognosen unhintergehbar bleibt.837 Das Problem stellt sich wie folgt dar : Erstens geht jeder statistischen Aussage die Behauptung einer umfassenden Stabilität (Stationarität) vo­ raus, und zweitens bezieht sich jede statistische Aussage auf eine vorher arbiträr gewählte Stichprobenpopulation. Damit ist klar, dass jegliche Offenheit eines Regelsystems – wie sie für das, was man gemeinhin als komplex beschreibt, also Systeme die sich zwar chaotisch aber nichtsdestotrotz deterministisch verhalten – bereits in den Voraussetzungen einer statistischen Methodologie ausgeschlossen ist. Robert Musil hat diese Art von Ordnungsstrukturen eindrücklich in einer Passage seines Romans Der Mann ohne Eigenschaften (entstanden zwischen 1895 und 1930) umschrieben. Darin beobachtet der Protagonist Ulrich einen Verkehrsunfall und kommentiert das Einschneidende dieses Ereignisses mit den unberührten Worten, dass ein Verkehrsunfall in keiner Weise überraschend sei, gar alles andere als ein Ereignis sei, sondern statistisch betrachtet eine Regelmäßigkeit darstelle.838 Die Abgründigkeit, die sich aus dieser Darstellung eröffnet, steht dem Vertrauen, das wir der Sicherheit statistischer Prognosen im Alltag entgegenbringen (zumindest sofern sie als technische Anwendung implementiert sind und wir in der Regel gar nichts von ihnen wissen), entgegen. Was in statistischen Aussagen regelmäßig zumindest überbeansprucht wird, ist die Relation zwischen Population und Individuum. Wenn Aussagen über das eine oder das andere vermischt werden, so ergeben sich die zum Beispiel von Musil so treffend dargestellten ethischen » Konsequenzen «. Dieselbe Abgründigkeit führt auch zu einer Verunsicherung in normativen Kontexten bei der Orientierung an Regeln, Werten, Standards, Leitbildern und Ideen. Ihre Legitimität basiert auf Gründen, die sich aus dem Verhältnis zwischen Handlungsabsichten und den Ergebnissen der auf ihrer Grundlage ausgeführten Handlungen herleiten. Die Anerkennung von Standards beruht darauf, dass sie sich hinsichtlich eines praktischen Vollzugs bewähren. Wenn nun der Bezugsbereich sich 837 Für eine Einführung in die Geschichte des statistischen Denkens vgl. die erhellende Studie von Ian Hacking, The Emergence of Probability. A Philosophical Study of Early Ideas about Probability, Induction and Statistical Inference, Cambridge 2006. 838 Hier zitiert nach Bernhard Waldenfels, » Die Macht des Ereignisses «, in : Marc Rölli (Hrsg.), Ereignis auf Französisch, hier S. 451f.

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derart schnell verändert, dass Erfahrungen nicht mehr zu einem normativen Wert wachsen können, so wird dieses In-Bezug-Setzen statistisch gewonnener Erfahrungswerte zu Entscheidungen hinsichtlich konkreter Situationen problematisch. Ist nach Hubigs Diagnose jener produktive Interpretationsspielraum dessen, was er die » Unbestimmtheitsdimension des Technischen « nennt, traditionellerweise für das Öffnen einer logischen Abgeschlossenheit technischer Lösungen auf unvorhergesehene Weiterentwicklungen hin verantwortlich gewesen, so ändert sich die Situation gegenwärtig grundlegend.839 Die für die Interpretation des Technischen konstitutive Unbestimmtheit verwandle sich, so Hubig, in eine faktische Unbestimmtheit des Technischen selbst, die unkontrollierbar wirke, gänzlich unabhängig von Interpretation, Verständnis und fortlaufend eingreifender Technikfolgengestaltung : Es sei ein » Grundzug des Erscheinungsbildes neuester Technologien «, dass » der Konfrontation mit Nichtwahrnehmbarkeit von Wirkmechanismen, hintergründigen Steuerungs- und Regulierungsprozessen, verdeckt gezeitigten (erwünschten oder unterwünschten) Effekten, kaum mehr erfassbaren Folgelasten, die durch die immer weiter vergrößerte Eingriffstiefe sowie die steigende Langfristigkeit der Technikfolgen bedingt sind «.840 Diese neue Unbestimmtheit im Faktischen habe also einen völlig anderen Charakter. Vor allem werde mit der zunehmenden Komplexität der technisierten Lebenswelt die theoretische Bezugnahme eines vernünftigen Nachdenkens über Technik unmöglich gemacht. Menschliches Handeln werde im Zuge dieser Entwicklungen » zunehmend unspezifisch «, » homogenisiert « und auf Veranlassung hin reduziert : » Vernunft als Vermögen der Herstellung eines Weltbezugs, wird ›inkonsequent‹ (Husserl), wenn sie sich dem solchermaßen hergestellten Bezug unterordnet : Auf dem Wege der Technik produziert sie ihre eigene Heteronomie nicht als eine infolge des Unterliegens unter ›Sachzwänge‹, ›Amortisationsdruck‹ oder beständiges ›Krisenmanagement‹ – dies alles sind Oberflächenphänomene – sondern als eine, die sich fortan in den Möglichkeiten des Verstandes bewegt und sich dem Anspruch der Vernunft entzieht. «841 839 Christoph Hubig, » ›Wirkliche Virtualität‹ «, hier insbesondere S. 39f. 840 Ebenda, S. 39. 841 Ebenda, S. 42. Hier findet sich in zugespitzter Weise Hubigs zentrales Bedenken : Die Vernunft als Vermögen der Herstellung eines Weltbezugs bringe sich selbst gegenwärtig – insbesondere auf dem Weg der netzwerkbasierten Technik – in einer Form hervor, die sich ihrem eigenen Ansprüchen entziehe. Es gäbe freilich unterschiedliche Konsequenzen, die sich aus dieser Beobachtung ziehen ließen. Anstatt von der » Verurteilung zu einer provisorischen Moral « zu sprechen und dabei an dem inzwischen offensichtlich problematisch gewordenen Konzept von Vernunft festzuhalten, könnte man sich auch dafür entscheiden, das Konzept der Vernunft selbst zu überdenken. Folgt man Foucaults strukturellem Ansatz, verfügt auch dieses Konzept – wie alle philosophischen Konzepte – über eine Genealogie. Es gibt meiner Meinung nach keinen ersichtlichen Grund dafür, anzunehmen, diese Genealogie hätte in irgendeiner ihrer verschiedenen Ausprägungen so etwas wie ihre » Erfüllung « erreicht.

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Die neue Unbestimmtheit der Technik eröffne sich nach Hubig mit aller Konsequenz, als » wirkliche Virtualität «, in der die Virtualität nun ihren Status als Möglichkeitsspielraum verheerenderweise einbüße. Anders formuliert : Hubig beobachtet gegenwärtig nicht mehr eine Bewegung der Virtualisierung des Wirklichen, sondern eine Verwirklichung des Virtuellen. Dabei bestimmt er seinen Begriff der Virtualisierung analog zu einem Verständnis von » Kulturalisierung « im klassischen Sinn. Er beruht auf rekonstruierbaren Traditionen des Bewährten und bietet somit Gelingen versprechende Möglichkeiten im Umgang mit der Zukunft an. Die komplexe Durchdringung, Verschachtelung und Abhängigkeit verschiedenster Prozesse in diesem Sinn führen zu der Schwierigkeit, Kausalitätsketten aus ihrem Geflecht überhaupt noch entwirren und ihren Zusammenhang rekonstruieren zu können. Damit, so Hubig, werde das Lesen der Spuren erschwert, wenn nicht gar verunmöglicht : » Die hochartifizialisierte Selbstverständlichkeit der neuen Lebenswelt schlägt um in eine Nicht-mehr-Verständlichkeit, weil die Selbstverständlichkeiten untereinander konkurrieren. «842 Die konkrete Ausgestaltung der » wirklichen Virtualität « umschreibt Hubig anhand folgender Beispiele : In der grünen Gentechnik sei es nicht mehr unterscheidbar, inwiefern die ausgelösten Prozesse auf anthropogene Inputs hin zu identifizieren sind, weil auch eine Überwachung der angestoßenen Prozesse es nicht erlaubt, zu unterscheiden, ob ein System überhaupt funktioniert oder ob es dysfunktional ist. 843 Es könne nicht eindeutig festgelegt werden, was Systemeffekt oder systemischer Effekt in der oder auf die Umwelt ist, in den ausgelösten Prozessen ließe sich nicht mehr identifizieren, was » entscheidbare anthropogene Inputs « seien und was nicht.844 Ebenso verhalte es sich im Bereich der Nanotechnologie, in dem die » ­size-dependent-properties « von Atomen und Molekülen und die durch sie ausgelösten Selbstorganisationsprozesse zur Ausbildung weiterer Eigenschaften nicht mehr abschätzbar oder berechenbar seien.845 Durch die Integration von zahlreichen Prozessebenen und deren konstitutiver Abhängigkeit voneinander in einem systemisch gefassten Zusammenhang werde es heute unmöglich gemacht, eine – dem idealistischen Begriff entsprechende – vernünftige Position zu beziehen.846 Nach Hubigs Darstellung sehen wir uns zunehmend gezwungen, eine ungesicherte Als-ob-Position im Umgang mit der Technik und ihrer 842 Ebenda, S. 55. Es lässt sich zu diesem Zitat zumindest die Frage aufwerfen, ob denn das nicht immer schon so war. Was heißt es denn gesellschaftsphilosophisch, unterschiedliche Selbstverständlichkeiten, die untereinander konkurrieren, als pauschale Nicht-mehr-Verständlichkeit darzustellen ? Und was heißt es philosophisch, für die Unterscheidung von Selbstverständlichkeiten eine Steigerungsskala von – was genau ? – bis zu hochartifizialisiert zu postulieren ? 843 Ebenda, S. 58. 844 Ebenda. 845 Ebenda, S. 59. 846 Ebenda, S. 58.

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Folgeneinschätzung einzunehmen : » Chancen und Risikoabschätzung, wie sie in der klassischen Technik noch möglich war, entfällt, weil zum einen eine Basis für entsprechende Wahrscheinlichkeitsannahmen nicht mehr gegeben ist aufgrund des Abbaus von Stereotypen und der Adaptivität von Systemen, einer nicht mehr überschaubaren Systemdynamik (Emergenz) sowie aufgrund der zunehmend nur noch in den Systemen selbst fundierten Möglichkeit des Auffälligwerdens von Ereignissen. Zum anderen wird im Zuge der ›wirklichen Virtualität‹ die Qualifizierung von Nutzen und Schaden trügerisch, weil die Intuition nicht mehr in einem Verhältnis zu den Systemen, sondern unter den Präformationen der Systeme selbst steht. «847 Deutlich wird hier die Verwandtschaft von Hubigs Denken zu dem, was wir zuvor als » vorsymbolischen Wissensbegriff « bezeichnet haben. Dieser gründet auf der fundamentalen Opposition zwischen Denken und Rechnen. Die kulturgeschichtliche Metapher der Lesbarkeit steht in dieser Diskurslinie der Mechanik von Automaten, etwa der Rechenmaschine, entgegen. Hegel bezeichnet das Buch als solches als » Schädelstätte des absoluten Geistes «848, für ihn war Lesen und Schreiben der Inbegriff des kritischen, reflektierenden Denkens. Technik erscheint in dieser Tradition als » Anstrengung, Anstrengung zu ersparen «, wie Ortega y Gasset einmal pointiert formuliert hat.849 Sie ist unverkennbar einer Antizipationslogik verpflichtet und folgt damit einer Dynamik, die dafür sorgt, dass unsere Systeme funktionieren. Um diese instand zu halten und beständig zu optimieren, benötigen wir nach dieser Tradition das reflektierende Denken, in dem wir uns als Menschen verwirklichen können. Dieselbe Dynamik scheint nun aber, wie Hubig exem­plarisch ausführt, gegenwärtig infrage zu stellen, ob wir als Subjekte der technischen Vollzüge zur Sicherstellung des systemischen ­Gelingens überhaupt noch vonnöten sind. Ähnlich wie in den medienkritischen Diskussionen, die unsere Gegenwart als Scheinsphäre von realen Simulakren entlarven wollen, entwickelt sich in der Tradition eines solcherlei vorphilosophischen Wissensbegriffs eine Kritik der Technik, die dieser einen quasimetaphysischen Status zuweist, den sie gleichzeitig auch beklagt. Hubig gibt dieser zwiespältigen Haltung Ausdruck : » An die Stelle einer metaphysisch angelegten Technikphilosophie im Großen tritt dann eine Ethik der Technik im Kleinen als ›provisorische Moral‹, sofern wir nicht im neuen Paradies der Hochtechnologien aufgehen wollen und unsere Intelligenz an unsere Handlungsumwelt abgeben. «850 Die Abstraktion der 847 Ebenda, S. 59. 848 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik I, hier zitiert nach Erich Hörl, Die heiligen Kanäle, S. 61. 849 José Ortega y Gasset, Betrachtungen über die Technik, Stuttgart 1949, hier zitiert nach Christoph Hubig, » ›Wirkliche Virtualität‹ «, S. 41. 850 Christoph Hubig, » ›Wirkliche Virtualität‹ «, S. 59.

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reflektierenden Vermittlung alias Technik habe sich derart weit von einer – wie auch immer konzipierten – » Eigentlichkeit « abgelöst und entfernt, so das Argument, dass sie einer sich selbst bestimmenden Eigendynamik folge. Gegenüber dieser Eigendynamik sei es uns nur noch überlassen, auf die sich ständig beschleunigende Dynamik des Systems zu reagieren. Doch lässt sich – etwa im Anschluss an Simondon, auf den wir in Kürze ausführlicher zu sprechen kommen werden – das Technische wirklich in einer solchermaßen ausschließlichen Orientierung auf Funktionalität, gefasst als Äußerlichkeit von Kultur, charakterisieren ? Verführen solche Begriffe wie Technik und Funktionalität nicht vielmehr dazu, eine konstitutive Rekursivität im Verhältnis vom Mittel zum Zweck zu verkennen ? Baudrillard hat explizit betont, dass bei seinen Recherchen zur Rolle der Funktionalität im Feld der alltäglichen Objekte – und dies ist gewissermaßen der Ausgangspunkt seiner ganzen Beunruhigung über eine » Verselbständigung « der Apparate – » ›funktionell‹ keineswegs bedeutet, dass etwas an einen Zweck adaptiert ist, sondern an eine Ordnung oder an ein System angepasst scheint «.851 Eben hier wird jene von Hörl hervorgehobene dilemmatische Frage nach dem » Seinsgrund des Symbolischen «852 deutlich : Mittel sind schließlich nicht per se Mittel, sondern nur auf der Basis einer Bindung an mögliche Zwecke. Um diese Zwecke auszumachen, müssen allerdings Probleme formuliert werden; es müssen komplexe Zusammenhänge modelliert werden, welche in der Lage sind, die eine Weise des » problem framing « sinnvoller erscheinen zu lassen als eine andere. Tatsächlich aber kommt insbesondere im Kontext der Technologieforschung eine überwältigende Aufmerksamkeit auf dem Moment der » Lösung « und nicht auf dem per se problematischen Status des » Problems « zu liegen, auf welches die technische Lösung überhaupt antworten soll. Die hitzigen ­Diskussionen um die Klimakatastrophe etwa verdeutlichen diese Zusammenhänge. Es hat sich im Zuge der Auffächerung der Disziplinen wie auch der wissenschaftlichen Kulturen im 20. Jahrhundert eine bisweilen geradezu bürokratisch anmutende Struktur im Umgang mit Wissen herausgebildet. Ihre objektivistisch-systematische Geschlossenheit wird durch die sich nun als nicht hintergehbar zeigende Subjektivität in der Zwecksetzung, die jedem » problem framing « vorausgeht, unweigerlich immer wieder aufgebrochen. Ob dies mit der Regulation von Symbolprozessen oder mit physikalischer Kraft geschieht, scheint an dieser Stelle keinen Unterschied zu machen : Sollwerte wollen bestimmt werden, und sie sind ohne eine Wertsetzung nicht zu haben. Eine pauschale Kritik an der Bestimmung 851 Jean Baudrillard, » Naturalität und Funktionalität «, in : ders., Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen, Frankfurt am Main 2007 [1968], S. 83–85, hier S. 83. 852 Erich Hörl, Die heiligen Kanäle, S. 275.

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von Technik als Inbegriff der Mittel verfehlt diese Pointe und setzt so betrachtet an der falschen Stelle an. Eine solche Kritik begeht den naturalistischen Fehlschluss der Folgerung aus einem beobachtbaren SoSein-Können auf ein prinzipielles So-Sein-Müssen. Zur Geschichte und Metaphorik des Begriffs der Spur Verschiedene Ansätze zu einer Abgrenzung des Medialen vom Technischen setzen an diesem Moment der Funktionalität an : Technik gilt als Inbegriff von Funktionalität, während Medien genau in dieser Technizität nicht aufgehen sollen. Eine Charakterisierung dieses Unterschieds gilt im medienwissenschaftlichen Diskurs als ein zentrales Anliegen. Vor dem Hintergrund von Hegels List der Vernunft 853 geht man in dieser Diskursverzweigung davon aus, dass es die Medialität von Techniken sei, den besagten Möglichkeitsraum per se – und nicht nur als Konsequenz von Sachzwängen und nicht mehr handhabbarer Kompliziertheit – als genuin unbestimmten zu bestimmen. Hubig führt zur Illustration eines solchen Medienbegriffs folgende Beispiele an : » Ein gebautes Haus ist Mittel zum Schutz vor Witterung, zugleich Medium bestimmter Weisen des Wohnens, ein Hammer ist Mittel zum Einschlagen von Nägeln und Medium eines weiten Spektrums der möglichen Herstellung weiterer Weltbezüge ästhetisch-anmutender, praktischer oder kognitiver Natur. «854 Hiermit wäre es erst die hegelsche List der Vernunft als Inbegriff von Medialität, welche die Dinge auf immer wieder neue Weise ihres Gegebenseins erscheinen lässt und somit verschiedene Arten von Weltbezügen offen erhält. Eine solche Bestimmung von Medialität verbleibt allerdings einem reflexionslogischen Denkhorizont verpflichtet und bleibt damit vorerst nach hegelscher Tradition im Kern rückblickend orientiert. Technische Realisierungen erscheinen so als Phänomene, die sich für eine hermeneutische Interpretation anbieten. Damit handelt man sich allerdings auch das alte Problem der Hermeneutik ein, wie sich – scholastisch gesprochen – ein aktives Verständnis von der eigenen Rolle im » Diesseits « gewinnen ließe. Über dieses Pro­blem wird nun das Konzept der » Spur « wiederum – und vielleicht auch in einer neuen Weise – interessant. Vorab einige kurze Bemerkungen zum historischen Hintergrund dieses Konzeptes : Die Metapher der » Spur « (griech. to ichnos, lat. vestigium) spielt eine zentrale Rolle im Neuplatonismus bei Plotin, wird von Augustinus aufgenommen und spielt eine verhältnismäßig wichtige Rolle bei den beiden Scholastikern Thomas von Aquin 853 In der List der Vernunft wird diese sich selbst vermittelt unmittelbar (über die Spuren, ­ egel die ihre Reflexionen hinterlassen. Ein Kerngedanke der Dekonstruktion, der auf H zurückgeht). Siehe dazu Christoph Hubig, » ›Wirkliche Virtualität‹ «, hier S. 49ff.; Georg Christoph Tholen, » Dazwischen – Der Ort der Medien «, in : ders., Zäsur der Medien, Frankfurt am Main 2002, S. 169–203, hier S. 169ff. 854 Christoph Hubig, » ›Wirkliche Virtualität‹ «, hier S. 49.

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und Bonaventura.855 Die metaphorische Verwendung dieses Begriffs erlaubte eine » Kontinuität des Endlichen mit dem Intelligiblen und Göttlichen « zu gewährleisten : » Wenn das Göttliche im Endlichen eine Spur hinterlässt oder wenn alles von Gott Erzeugte Spur dieses Göttlichen bildet, dann scheint jene Kontinuität vorstellbar zu werden «, so Taureck.856 Ganz im Einklang mit der neuplatonischen-scholastischen Metaphysik galt die » Spur « als Bild von Wirkung, obwohl sich genau zwischen den Begriffen Bild und Spur eine subtile Differenz etablierte.857 Für Bonaventura gehörte die » Spur « neben » Schatten « und » Bild « zu den zentralen Termini, anhand derer er seine Gedanken zu der Frage formulierte, ob Gott vom Geschöpf oder vom Geschaffenen aus überhaupt erkennbar sei. Das Geschaffene sei von der Art der » Signa « (Zeichen), so Bonaventura, für die gelte : » sie sind Mittel, um voranzukommen, Mittel auf dem Weg, nicht jedoch am Ziel; denn sie selbst gelangen nicht dorthin, vielmehr gelangt der Mensch durch sie zu Gott, sie selbst lässt er zurück (sunt media in deveniendo sive in via, non in termino, quia illae non perveniunt, sed per illas pervenit homo ad Deum, illis post se relictis) «.858 Spuren sind nach der Darstellung Taurecks bei Bonaventura also Zeichen, die als Weg zu einem Ziel führten und selbst lediglich Mittel bzw. Medium waren, also letztendlich, in einem für sie erwägenden Eigencharakter, ohne Belang. Das Bild der Spur wird in einem solchen Verständnis für eine Begriffsbestimmung verwendet, zu einer Bestimmung des Begriffs des Zeichens. Die Verbindung zwischen beiden ist das Medium. Zeichen dienen also dem Gebrauch, doch dieser ist bei Bonaventura metaphorisch aufgebrochen und erfüllt sich nicht in positiver Weise, denn der Gebrauch dient einem Werden, einem Unterwegssein, Vorankommen und auch dem Erreichen eines Zielortes, an dem keine Zeichen und kein Spurenlesen mehr von Nutzen sind. In einer solchen Bestimmung steht das mittelalterliche Spurenkonzept dem Konzept einer Metaphorik strukturell nahe : Auch sie gilt als ein Mittel zur Bewegungsfreiheit im übertragenen Sinn. Im übertragenen Sinn – dies ist etwa bei Bonaventura ganz wörtlich zu verstehen, das scholastische Weltbild betrieb Wissenschaft vor allem als Hermeneutik. In den Zeichen, die in der Welt gelesen werden können, offenbarte sich Gott den Menschen. 859 855 Vgl. zur Entwicklung der Spurmetaphorik die Darstellung von H. J. Gawoll, » Spur «, in : Historisches Wörterbuch der Philosophie, hier zitiert nach Bernhard H. F. Taureck, Metaphern und Gleichnisse in der Philosophie. Versuch einer kritischen Ikonologie in der Philosophie, Frankfurt am Main 2004, S. 209. 856 Taureck, ebenda. 857 Vgl. Ebenda, S. 210ff. 858 Bonaventura, » In I. Librum Sententiarum Commentarius in Distinctionem III «, in : ders., Über den Grund der Gewissheit, Weinheim 1991, S. 28, hier zitiert nach Taureck, ebenda, S. 213, nach einer von ihm selbst übersetzten Version des Absatzes. 859 Zur ausführlicheren Erörterung des kulturgeschichtlichen Topos » die Lesbarkeit der Welt « vgl. in der vorliegenden Arbeit, S. 115ff.

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Hinsichtlich eines solchen Verhältnisses leistet nun das Bild der Spur bei Bonaventura einiges, denn nach ihm gibt es Spuren nicht nur in der physischen Welt, sondern auch im Geistigen : » vestigium est etiam in spiritualibus «.860 Die Folgerung, die daraus für Bonaventuras Ontotheologie möglich wurde, gründet auf dem klassisch-aristotelischen Prinzip der Syllogistik : Erkennbar ist nur Ähnliches durch Ähnliches. Sein Vorschlag nun, in den Prozessen unseres Geistes Spuren Gottes zu sehen, erlaubte es Bonaventura, über diese Spuren und die Kontinuität, welche sie zwischen Gott und den Menschen herstellen, eine Ähnlichkeit zwischen beiden zu postulieren. Damit konnte er auf die in der damaligen Philosophie vorherrschende Frage nach der Möglichkeit, Gott zu erkennen, eine positive Antwort geben. Die Spur erhält bei ihm einen ähnlichen Status wie die drei Prinzipien : das Eine, das Wahre und das Gute.861 Von eben diesem Bild der neuplatonisch-scholastischen Metaphysik entfernt sich das neue Auftauchen der Spurmetapher im 20. Jahrhundert bei Derrida und Lévinas über die Vermittlung von Nietzsches und Heideggers differenzphilosophischer Kritik an der Metaphysik. Galt dem früheren Verständnis die Spur als Wegweisung, welche nicht mehr benötigt wird – ist man erst einmal beim Ewigen oder ersatzweise bei einer gefühlten Offenbarung angelangt –, so wird dieses ontotheologische Verständnis nun zugunsten einer produktiven Spurmetaphorik verabschiedet.862 Derrida gilt als Modernisierer der Metaphysikkritik, der nicht mehr davon ausgeht, dass eine sprachliche Bedeutung als Bezug zu außersprachlichen Gegenständen, Vorgängen oder Verhältnissen besteht. Dekonstruktivistisch gewendet, lässt sich im Vorhandenen nicht nur eine Spur von einer früheren Präsenz erkennen. Vielmehr lässt sich dieses Erkennbare zugleich als Spur für, als Bahnung für ein Verhalten in Zukunft interpretieren. Hier schließt Hubig mit seinen technik-philosophischen Überlegungen an, die in der postulierten Medialität von Technik einen Freiraum zur List der Vernunft ausmachen und sich als reflexionslogischer Gegenstand über eine distanzierte Hermeneutik der Spuren technischer Wirk- und Entwicklungszusammenhänge entfalten. Derridas Theorem der » archi-trace «863 zufolge haben Spuren die Eigenheit, dass sie sich selbst in einem doppelten Sinn auslöschen. Sie tun dies, 860 Bonaventura, hier zitiert nach Bernhard H. F. Taureck, Metaphern und Gleichnisse, S. 213. 861 Taureck untersucht in seiner Lektüre, die wir hier nur verkürzt zusammengetragen haben, die Rolle von Metaphern und Bildern in Bonaventuras Argumentation ausführlich. Seine Gedankengänge sind in einem ikonologischen Sinn äußerst aufschlussreich. Vgl. dazu Taureck, ebenda, S. 212ff. 862 Ebenda, S. 209. 863 Jacques Derrida, De la grammatologie, Paris 1967. Vgl. zur Bestimmung von Zeichen als Spuren im formellen Spiel der Differenzen ferner Jacques Derrida, Positions, Paris 1972, S. 37. Er schreibt hier explizit : » tout procès de signification comme un jeu formel de différences. C’est-à-dire de traces. «

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indem sie etwas Vergangenes in die Gegenwart holen und somit eine eigene » Präsenz « zwar nicht einnehmen, wohl aber markieren. Spuren nehmen somit eine unzugängliche Präsenz ein : die Markierungen, welche ihren Gehalt des absenten Präsenten bezeugen, bleiben in arbiträrer Weise interpretierbar. Damit geht das Konzept der Spur über das, wovon der kausale Nexus von Spuren als Spuren von etwas Vergangenem zeugt, hinaus. Dieses Uneinholbare beim Lesen von Spuren regt nun gleichzeitig zu Projektionen des Möglichen in die Zukunft an. So löschen Spuren ihre eigene Gegenwärtigkeit und Präsenz performativ, gleichsam im Ereignis ihrer Konstitution, aus, denn eine Spur ist nur eine Spur, wenn sie von jemandem als solche wahrgenommen wird864. Spuren löschen nach den Grundwerten der Dekonstruktion ihre eigene Gegenwärtigkeit zugunsten eines Verweiszusammenhangs auf, und zwar durch den für sie konstitutiven Charakter eines Hinweises, einer Indexikalität. Als » reine Indexikalität «, so einer der Kerngedanken dieser Denkrichtung, vermag das Zeichen eine Medialität zu entfalten, die weder einer (neuplatonisch-scholastischen) Kontinuität zwischen dem Weltlichen und einer Sphäre des Transzendentalen entspricht, noch mit der tautologischen Struktur von Beziehungen im formal-logischen Raum des Symbolischen deckungsgleich wäre.865 Begreift man auf diese Weise die derridasche Denkfigur des Selbstentzugs als Konstitutivum für Medialität, so ergibt sich eine verzwickte Situation hinsichtlich der Unterscheidung von eigentlicher Rede versus uneigentlicher Rede. Wie ließe sich im Rahmen von Derridas absolut gesetzter metaphorischer Struktur einer Rede im Übertragenen eine entsprechende » Infrastruktur «866 konzipieren, welche eine Entfaltung der produktiv-dissimilierenden Möglichkeiten der figürlichen Rede auch weiterhin ermöglichen könnte ? Dieses Problem ist demjenigen strukturverwandt, welches Hubig als » Medialitätsveränderung der Technik « herausstellt, das Problem, das 864 Es gibt an dieser Stelle intime Verbindungen zur Semiotik von Peirce und seinem Konzept der Zeichensituation. Pape hat jedoch in seinem Beitrag zu einer Textsammlung von 2008, welche den aktuellen Stellenwert des Konzeptes des » Spurenlesens « als » Orientierungstechnik und Wissenskunst « für die Medien- und Kulturwissenschaften konturieren will, eindringlich auf die Fallstricke wie auf die unweigerliche Beschränkung hingewiesen, die eine allgemeine Theorie indexikalischer Zeichen und Spuren bedeuten würde. Vgl. dazu Helmut Pape, » Fußabdrücke und Eigennamen. Peirce’ Theorie des relationalen Kerns der Bedeutung indexikalischer Zeichen «, in : Sybille Krämer, Werner Kogge und Gernot Grube (Hrsg.), Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, Frankfurt am Main 2007, S. 37–54. 865 So wird das Konzept der Spur gegenwärtig in seinem Potenzial zur Möglichkeit einer Kritik bzw. einer Fortführung der Metaphysiktradition erwogen. Krämer rahmt in der Einleitung zur bereits erwähnten Aufsatzsammlung das – in der Konsequenz nichts desto trotz identitätslogisch (wenn auch ex negativum) motivierte – Ziel der Fragerichtung. Vgl. Sybille Krämer, » Was also ist eine Spur ? Und worin besteht ihre epistemologische Rolle ? Eine Bestandesaufnahme «, in : dies., Gernot Grube und Werner Kogge (Hrsg.), Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, S. 11–36. Vgl. auch dies., Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität. 866 Ich verwende diesen Begriff hier in Anlehnung an Deleuzes Rückgriff auf das Bild der Infrastruktur in seinem Text : Woran erkennt man den Strukturalismus ?, Berlin 1992 [1973].

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er durch den » Verlust an Spuren « in den gegenwärtigen Formen des Technischen angezeigt sieht.867 Was Hubig als Selbstverständlichwerden der Technik beschreibt und was in gewisser Weise nichts anderes besagt als deren Status als Infrastruktur, als Struktur, welche Verhaltensfreiräume auf einer neuen Ebene weithin eröffnet868, erlebt er als Sinnverlust. Technische Systeme sind mittlerweile unauflösbar miteinander verworren bzw. ineinander eingebettet, was Hubig zufolge zum Verlust eines konkreten Weltbezugs führe.869 Er erwägt nun, ob sich dasjenige, was er als Verlust erlebt, einfach durch eine » Umcodierung « ins Positive wenden ließe, und fragt : » Wie aber, wenn jenes Sich-Überlassen an die Möglichkeiten ›unreflektierter Wiederholbarkeit‹ nicht als Sinnverlust, sondern als bewusster ›Sinnverzicht‹ zu erachten wäre ? «870 Unschwer lässt er eine Struktur dekonstruktivistischen Denkens erkennen : » Ein solcher Sinnverzicht wiederum beinhaltet eine höherstufige Kontingenzerfahrung, aus der durchaus eine neue Position der Vernünftigkeit resultieren könnte : Denn sofern Heteronomie nicht mehr mit Sinn versehen wird (das ist der Ertrag der husserlschen Aufklärung), kann sie zum Stimulans einer Vernünftigkeit werden, die, da ein ursprünglicher Sinn nicht mehr unterstellt wird, sich neu als Sinnkonstituens erfahren müsste. «871 Auch hier erscheint die Möglichkeit einer strukturellen Öffnung : » Dann wäre der Unbestimmtheit ein Positivum abzugewinnen, welches jenseits des kulturpessimistischen oder des kulturoptimistischen (Paradies-)Szenarios liegt. «872 Diese Kontingenzerfahrung jedoch ist notwendigerweise das Resultat einer Reflexion über den Sinnverzicht. » Der pure Sinnverzicht selbst «, so Hubig, » konfrontiert uns noch nicht mit einer Vorstellung des Anders-Sein-Könnens. «873 Damit sind wir wiederum zum Kern des Problems vorgedrungen, wie es sich in dieser Denklinie entfaltet : Eben jener Reflexionsraum wird nach Hubig, wie eingangs erläutert,874 zunehmend prekär. Diese Perspektiven, die wir anhand von Hubigs Formulierungen darlegen wollten, finden in kulturwissenschaftlichen oder soziologischen Diskursen um die Bedeutung der Virtualisierung eine weitreichende 867 Christoph Hubig, » ›Wirkliche Virtualität‹ «. 868 Der Transport und die Wasser-, Elektrizitäts- oder Lebensmittelversorgung et cetera bringen schön zum Ausdruck, was sich alles ändern würde, wenn wir damit nicht mehr rechnen könnten. Der etwas unbeholfene Ausdruck » eine neue Ebene « soll auf diese Brüche hinweisen, die sich in der Vertikalen eher entfalten als in der Horizontalen, müsste man denn, wenn auch nur zur Veranschaulichung, auf ein geometrisches Bild zurückgreifen. 869 Christoph Hubig, » ›Wirkliche Virtualität‹ «, S. 43. 870 Ebenda. 871 Ebenda. 872 Ebenda. 873 Ebenda. 874 Vgl. den Abschnitt » Informatisierung als kulturgeschichtliche Wendezone « des ersten Teils der vorliegenden Arbeit, S. 53ff.

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Verbreitung. Es sind damit jedoch Annahmen impliziert, die es erst zu erörtern gilt, bevor man sich aufmacht, den nahegelegten Schlussfolgerungen vorbehaltlos zu folgen. Denn tatsächlich bleibt es zumindest etwas unklar, wozu genau Aussagen wie diejenigen Hubigs, dass es heute » keinen Platz mehr für die List der Vernunft gäbe « und wir anstelle dessen » zu einem Pragmatismus einer provisorischen Moral verurteilt seien «, in dem wir » wollen müssen, uns mit den systemischen Überraschungseffekten auseinanderzusetzen «, aufrufen wollen.875 Deren evokativer Charakter freilich bleibt damit eindrücklich in der Luft hängen. Doch die dahinterliegenden Anliegen, so scheint mir, lassen sich präzisieren. Es wäre, wie wir bei Derridas Spurenbegriff und dessen Stellenwert für eine Kritik der metaphysischen Präsenz gesehen haben, zweifellos zu einfach, lediglich auf die kategoriale Differenz hinzuweisen, ohne die ein Denken entlang dieser Linien konturlos bleiben müsste. Nichtsdestotrotz bleibt dieser Aspekt der Kategorizität von Differenz problematisch, sowohl in der Rezeption der traditionellen Dekonstruktion philosophischen Denkens876 als auch in einer dekonstruktivistisch konzipierten Philosophie der Technik, wie sie nicht nur Hubig erwägt. Obwohl er mit dem in phänomenologischer Tradition verorteten Begriff der Lebenswelt argumentiert, hinterfragt er eine – wenn auch implizite – Ahistorizität als Ausgangslage wie als Referenzebene nicht. Genau darin, im Problematischen der Kategorizität, gründet denn auch sein Argument, dass es nicht mehr der Fall sei, dass alle kulturellen Abstraktionen (als technische Prozesse) sich auf ein und dieselbe Grundlage bezögen; vielmehr würden sie sich in zunehmend unüberblickbarer Weise gleichsam differentiell und komplex-relational gegenseitig be-dingen und be-gründen. Abgesehen davon, dass die damit unterstellte historische Universalität wohl überzogen ist, stellt es ein Problem dar, wenn Medialität als Basis zur Reflexion auf einem konstitutiven Selbstentzug gründet. Dieser lässt sich in Abgrenzung zum paradoxal anmutenden Phänomen der postulierten » Erscheinungen von Selbstentzug « nicht mehr hinlänglich unterscheiden. Als Konsequenz beobachtet Hubig – ähnlich wie schon Baudrillard für die Bilder – eine generative Selbstbezüglichkeit, die er einer » inzestuösen «, für die menschliche Kultur » ungesunden « Entfaltungsdynamik verpflichtet sieht. Bemerkenswert an Hubigs Argumentation ist, dass er verschiedene Arten des Unbestimmten identifiziert. So sieht er den Prozess der » Virtualisierung « einerseits auf eine Dimension des Unbestimmten bezogen, 875 Christoph Hubig, » ›Wirkliche Virtualität‹ «, hier S. 60ff. 876 Vgl. dazu beispielsweise die Besprechung von Bernhard H. F. Taureck, Metaphern und Gleichnisse, insbesondere S. 214–226; ebenfalls Wellmers Besprechung von Heidegger, Derrida und Wittgensteins Konzeption des Sprachspiels in : Albrecht Wellmer, Sprachphilosophie, Frankfurt am Main 2004; und ebenfalls ders., Wie Worte Sinn machen. Aufsätze zur Sprachphilosophie, Frankfurt am Main 2007.

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die sich aus unserer Vernunft, über List im hegelschen Sinn, als gleichsam » natürliche Kulturalisierung « eröffnet. Demgegenüber stellt er aber eine andere Art von Unbestimmtheit heraus, die nicht unter diese Bestimmung fallen soll, sondern die sich aus einer reflexionsfreien Interaktion innerhalb von etablierten Strukturen ergibt. Diese Strukturen gelten ihm hier nun als mathematisch-» technische «, und unterscheiden sich so (ohne Medialität) von jenen » kultureller « Interaktion. Aus dieser Spaltung in einen Aspekt mathematischer und ahistorischer Technik und einen Aspekt von historischer und medialer Technik entsteht der von ihm beschriebene Konflikt : Um die kategorische Trennung von Technik und Kultur aufrechtzuhalten, umschreibt Hubig diesen Prozess als Verwirklichung von Virtualität : » Unter Bezug auf die Begriffstradition, die unter ›Realität‹ alles begreift, was der Fall ist, und unter ›Wirklichkeit‹ die Gesamtheit von Wirkungszusammenhängen, bezeichnen wir als ›virtuelle Realität‹ Inhalte von Vorstellungsbereichen, die über komplexe technische Mittelverkettungen produziert werden (Simulationen) sowie als ›virtuelle Wirklichkeiten‹ die solchermaßen produzierten Wirkungen «.877 Technik erscheint somit als geradezu » monströse « und im wahrsten Sinn des Wortes » unheimliche «. Manifestation eines Außen in unsere » weltlichen « Sinnzusammenhänge, in denen für die » Faktizität des Technischen « keine kategoriale Ebene vorgesehen ist. Baudrillards und Hubigs Argumentationen sind mit einer Aussparung des mathematisch-Symbolischen von jeglicher Medialität in ihren Einschätzungen strukturähnlich. Dieses Desiderat einer kategorialen Bestimmung des Technischen wird in verschiedenen Ansätzen heute thematisiert und stellt im Kern das Problem einer nachheideggerschen Theorie der Technik dar. Bezeichnenderweise heben philosophische Ansätze dazu das Soziale als jenes, was keine andere Grundlage beansprucht als die Kommunikativität und Mitteilbarkeit von Vorstellungen, Eindrücken, Gedanken usw., zur relevanten Kategorie heraus. Jean-Luc Nancy etwa lagert dem heideggerschen existenzialen System eine Ebene vor, indem er vom » Mit-Sein des Da-Seins « spricht 878. Für diese Dimension ist bei ihm das Singuläre ein zentraler Begriff. Das Singuläre impliziere seine eigene Singularisierung, daher, so Nancy, impliziere er auch eine Unterscheidung von anderen Singularitäten. Dies geschehe im Unterschied beispielsweise zu den Begriffen des Individuums – denn das perfekte Individuum sei eine immanente Totalität ohne Möglichkeit für ein anderes. Die Singularität hingegen versammle sich. Ihr » Zusammen « (ensemble) sei weder eine Summe noch ein Umfassendes. Diese Worte 877 Christoph Hubig, » ›Wirkliche Virtualität‹ «, hier S. 61. 878 Andreas Wagner, Andreas Niederberger, Dietmar Köveker, » Dem Politischen mangelt es an Symbolizität. Ein Gespräch mit Jean-Luc Nancy «, in : Information Philosophie, Band 4, 2002, S. 33–41.

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seien nur Ausdrücke für ein und dasselbe Problem, welches im Zentrum seiner Reformulierung der ontologischen Grundfragen stehe : die Notwendigkeit einer Analyse von » Gemeinschaft «.879 Nancys Bestreben ließe sich vielleicht als Frage danach zusammenfassen, wie man jenseits einer Zone der Entscheidbarkeit nichtsdestotrotz unterscheiden, differenzieren, denken kann, in einer Zone der » Ununterscheidbarkeit «, in der aber dennoch nicht alles aufgelöst, sprich : undifferenziert bleiben müsste. Es bleibt die Schwierigkeit bestehen, wie eine solche Zone der » Entscheidbarkeit im Ununterscheidbaren « zu denken wäre. Nancys Sprechen von » Mischungen « und » Mixturen «, von der » Intimität der Welt « und von der » Körperlichkeit des Sinns « oder von der » Sinnlichkeit des Denkens « läuft auf den Vorschlag der Symbolisierung eines Kriteriums hinaus, welches er » Mitsein « nennt und das nach seinem Vorschlag dem existenzialen » Dasein « vorgelagert sein soll.880 Ein entsprechendes Sprachspiel dessen, was er als » Singulär-Plural-Sein « postuliert und in welches diese Symbolisierung seines Kriteriums zu integrieren wäre, ist bislang noch ausgeblieben. Dieser Linie zu folgen ist jedoch auch unserer Ansatz hier, der vorschlägt, in reziproker Weise die Singularität des Medialen auf die Singularität des Städtischen zu beziehen und in all dem, was mitgeteilt wird (generisch, also unabhängig von einer Bestimmung des Mitgeteilten in einer jeweiligen Intention und Rezeption), einen abstrakten Körper des Sinns zu verstehen, den man sich als ebenso verteilt wie kollektiv vorstellen müsste : ein lebendiger Körper der Literacy, sozusagen, der mit wachsendem Vermögen um die traditionelle Rolle eines Wissenskorpus konkurriert. Deleuze’ Vorschlag mit einem Atomismus der Einbildungskraft, der auch davon ausgeht, dass sich Ähnliches nur durch Ähnliches bestimmen lässt, der aber wie ausgeführt Ähnlichkeit als Differential versteht, sodass Ähnlichkeit in einer eigentümlichen Unbestimmtheit als rein operatives Abstraktum gesehen werden kann, verspricht eine systematische Formalisierung eines solchen philosophischen Ansatzes. Denn ein Atomismus, in der antiken Tradition verstanden, soll ja genau dies ermöglichen : in einem Element von Mischung Unterscheidbarkeit zu gewährleisten. Michel Serres hat in seiner Philosophie der Gemenge und Gemische881 eine erste Formulierung dessen versucht, was in einem solchen Sprachspiel der » Mischungen « – deren mediale Konzeption vorsieht, dass sie jeder zeit-räumlichen » Mitte « vorgelagert seien – problematisch sein würde : » Die Mitte, abstrakt, dicht, homogen, nahezu stabil, ist Konzentration; Mischungen bedeuten Fluktuation. Die Mitte ist Bestandteil der Geometrie der Körper, wie man das früher einmal nannte; die Mischung 879 Ebenda, S. 40. 880 Vgl. auch Jean-Luc Nancy, singulär plural sein; und ders., Corpus. 881 Michel Serres, Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische, Frankfurt am Main 1998 [1985].

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begünstigt Verschmelzung, sie zielt auf Verflüssigung ab. « 882 Er fährt fort : » Die Mitte trennt, die Mischung mildert ab; die Mitte bringt Klassen hervor, die Mischung Bastarde. «883 Mit Deleuze vermag die Ähnlichkeit, als nicht repräsentierendes, sondern als operativ-symbolisches Verhältnis verstanden, einen adäquateren Begriff von »Medium« darzustellen. Denn sie kann produktiv eingesetzt werden, ohne dass die Form, in der Ähnlichkeit als Verhältnis operativ eingesetzt wird, schon im Vorhinein eine spezifische sein müsste. Die Voraussetzung dafür ist jedoch, das Symbolische der Mathematik nicht kategorisch von der Notwendigkeit zur Vermittlung auszugrenzen. Genau dies herausstellend hat ja Deleuze seinen Ansatz auch als » philosophischen Mathematismus «, als » fantastischen Mathematismus des Begriffs « bezeichnet.884 Ein solches Verständnis von Philosophie lässt sich über einen medialen Begriff von Ähnlichkeit erschließen, indem die Rolle, die in der Philosophie traditionellerweise den Kategorien zugewiesen wurde, neubesetzt werden soll mit dem, was Deleuze » fantastische Begriffe « nennt.885 Im Folgenden wollen wir die Problematik, wie mit der vor dem erläuterten Hintergrund scheinbar irreduziblen Kontingenz eines jeden Konkretums verfahren werden könnte, ausführlicher darstellen. III.II. das modell und die simulation : das kontingente konkrete » How do we know that quantum spin exists ? Is there such a property as alienation in society ? Is covalent bonding a specifically chemical property ? «886 Die Simulation : Ersatzoffenbarung oder epistemisches Werkzeug ? Simulationen werden in den Wissenschaften mittlerweile als eine Erweiterung der traditionellen Kategorien von Theorie und Experiment begriffen, um die Komplexität der strukturellen Zusammenhänge eines jeden Konkretums als wahrnehmbares Phänomen besser in den Griff zu bekommen. So formuliert etwa Hoßfeld : » Die Komplexität vieler Systeme […] überschreitet bei weitem das Potenzial konventioneller Verfahren und Rechenanlagen. Diese Situation hat die Entwicklung einer dritten wissenschaftsmethodischen Kategorie erzwungen : die ›Computational Science‹, die Theorie und Experiment qualitativ und methodisch […] 882 Ebenda, S. 103. 883 Ebenda. 884 Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 13. 885 Vgl. dazu auch die beiden Kapitel in der vorliegenden Arbeit » Die Idee als ›Differential‹ des Denkens oder Zum Verhältnis von Struktur und Genese im Sprachspiel des Virtuellen «, S. 183ff., sowie » Das ›Informelle‹ oder Zum Konzept der Ähnlichkeit als Medium «, S. 197ff. 886 Paul Humphreys, Expanding ourselves, S. 23.

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ergänzt. «887 Was aber bildet den Hintergrund, gegen den sich diese neue Wissenschaft, deren zentrales Arbeitswerkzeug die Simulation ist, abhebt ? Wie können wir verstehen, dass gerade jene wissenschaftlichen Vorgehensweisen, die sich als » computational procedures « ausschließlich im Numerischen entfalten, nicht mehr in gleicher Weise als mathematisch fundiert gelten sollen wie die moderne Wissenschaft mit ihren zentralen Pfeilern des Experimentes und der Theorie ? Die mathematische Fundierung einer Wissenschaft besteht hauptsächlich darin, über einen rein observationalen Empirismus hinauszugehen und die Regelhaftigkeit der Transformationen der beobachteten Entität selbst zum Thema zu machen. Man erkennt hier sofort eine strukturelle Nähe zum Begriff der Information in den Informationswissenschaften, die bezüglich solcher Regelhaftigkeit von Input-/Output-Beziehungen sprechen. Jene Regelhaftigkeit wird meist als Gradient der Änderung der beobachteten Parameter formuliert, eben als erste bzw. n-te formale Ableitung, entweder nach der Zeit(-entwicklung) oder dem Ort bzw. seiner Verschiebung. Mathematische Differentialgleichungen lassen sich deshalb als formale Strukturen zur Codierung prozessbasierter Entwicklungen im abstrakten Raum des Symbolischen verstehen. Damit ist gemeint, dass die Art und Weise, wie sich eine so modellierte Struktur auf konkrete Situationen in der Welt bezieht, keine Rolle spielt. Berechnungen im Allgemeinen sind zunächst rein syntaktische Regelhaftigkeiten. Erst dieser Abstraktionsschritt von numerischen Zahlwerten in der Arithmetik zu symbolischen Zahlwerten in der Algebra ermöglichte den Kalkulus von Leibniz und Newton überhaupt. Die Berechnung von Veränderungsprozessen war allerdings mit klassischen analytischen Methoden lediglich für » wohldefinierte « Problembereiche möglich. Dabei bezieht sich » wohldefiniert « auf die Möglichkeit, die für die analytische Lösung der Differentialgleichung zu spezifizierenden Randbedingungen innerhalb der Gesetze der modernen Physik und deren Diktum einer eindeutig identifizierbaren Kausalität faktisch zu setzen. Halten wir fest, dass die damit zum Ausdruck kommende implizite Annahme der Mathematik, welche eigentlich für wissenschaftliches Vorgehen grundlegend sein soll, die Physik als ihre transzendente Referenz zuweist. Nun besteht die Herausforderung der sogenannten Komplexitätsforschung heute darin, dass eben diese Voraussetzungen zur modellhaften Beschreibung bei einer erschlagenden Vielzahl natürlicher wie technischer Systeme gar nicht möglich ist. Hier scheint nun die computerbasierte Simulation die Möglichkeit zur Induktion im symbolischen Raum des Abstrakten zu eröffnen, womit sich die alten Fragen nach dem Verhältnis zwischen Analyse und Synthese, die seit Hume als Induktionsproblem thematisiert 887 Friedel Hoßfeld, » ›Grand Challenges‹ – Wie weit tragen die Antworten des Supercomputing ? «, in : Physik und Informatik – Informatik und Physik, Informatik-Fachberichte, Band 306, Berlin, 1992, S. 241–251, hier S. 241.

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werden, erneut, aber anders stellen : Ist überhaupt ein Induktionsschluss von beobachtbaren Einzelfällen auf einen allgemeingültigen Zusammenhang zulässig – und wenn ja : unter welchen Bedingungen ? Das quasi-empirische Vorgehen computerbasierter Simulationspraxen gibt vor, dass sich nun auch komplexe(re) Situationen modellieren lassen, die aus systemischer Perspektive nicht als » wohldefiniert « gelten können.888 Sie lassen es insbesondere zu, die Voraussetzung einer linearen Gleichförmigkeit im zeitlichen Verlauf aufzuheben, was einen relativierten Umgang mit dem linearen Zeitpfeil der physikalischen Gesetzmäßigkeit erlaubt. Eine numerische Behandlung von Differentialgleichungen im Zuge einer Simulation verspricht damit zumindest potenziell auch bei sogenannten nicht linearen Systemen eine » Berechenbarkeit «. Doch diese Einschätzung ist problematisch, verschiebt sich doch der Bedeutungsraum von Berechenbarkeit entscheidend, wenn die in der modernen Wissenschaft transzendent gesetzte Referenz des Mathematischen, nämlich physikalische Gesetzmäßigkeit, sich zumindest als problematische darstellt, wenn nicht überhaupt wegzufallen scheint (wie etwa im Feld wirtschaftlicher Märkte). Medientheoretisch gesehen stellt sich zunächst die Frage, was eine Simulation von einer extrem umfangreichen Berechnung unterscheidet. Es wäre zum Beispiel denkbar, eine exakte und vollständige Exploration eines Problemraumes mittels computerbasierter Berechnungen auszuführen, wie sie etwa für das Vierfarbenproblem von Kenneth Appel und Wolfgang Haken 1976 erfolgte.889 Die Untersuchung dieses Problems benötigte eine relativ große Rechnerkapazität (Hardware) und ebenfalls eine umfangreiche Software, denn die Berechnungen dauerten mehrere Wochen. Trotzdem handelte es sich dabei nicht um eine Simulation, sondern um den heuristischen Beweis eines mathematischen Satzes. Eine Simulation ist deswegen eine Simulation, weil sie eine Probehandlung darstellt, für die weder das einbettende Regelgerüst (im Fall von Hakens 888 So lässt sich etwa das begrenzte (und damit idealisierte) Wachstumsverhalten einer Population mit linearen Differentialgleichungen beschreiben; sobald man allerdings einen (öko-)systemischen Kontext für dieselbe Population versucht mitzumodellieren und etwa eine zweite Population in Bezug auf die Nahrungsquelle einbezieht, wird die Entwicklung des Gesamtsystems abhängig vom Verhalten der beiden Populationen. Dies geschieht in einer Weise, für die aufgrund der Selbstreferenzialität keine ahistorische Lösung mehr möglich ist. Es handelt sich um ein Beispiel für ein nicht lineares Differentialgleichungssystem. 889 Der Vier-Farben-Satz (früher auch als Vier-Farben-Vermutung oder Vier-FarbenProblem bekannt) wurde erstmals 1852 von Francis Guthrie als Vermutung aufgestellt. Der Satz ist ein mathematischer Satz, der in der Graphentheorie, Topologie und Kartografie Anwendung findet und besagt, dass vier Farben immer ausreichen, um eine beliebige Landkarte in der euklidischen Ebene so einzufärben, dass keine zwei angrenzenden Länder dieselbe Farbe erhalten. Appel und Haken haben 1977 mithilfe des Computers als Erste einen Beweis für diesen Satz gefunden. Der Beweis reduzierte die Anzahl der problematischen Fälle von Unendlich auf 1936 (in einer späteren Version sogar auf 1476), die durch einen Computer einzeln geprüft wurden. Vgl. dazu Kenneth Appel und Wolfgang Haken, Every Planar Map is Four Colorable, Band 98, Providence, 1989.

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Untersuchung den theoretisch formalisierten Problemraum) noch die Regelhaftigkeit des modellierten Prozesses hinlänglich bekannt ist und auch gar nicht bekannt sein kann. Eine gute Simulation untersucht lediglich die Abhängigkeit der Resultate von der Variation der Randbedingungen oder der im Modell enthaltenen Regeln. Damit sagt eine Simulation also – wie auch ein Modell – zunächst nichts Referentielles über eine Wirklichkeit, die als faktische gelten müsste, aus. Das gilt sogar für kalibrierte Simulationen, die sich über einige prognostische Schritte bewährt haben. Modelle : Mathematical fictions ? Simulationen mögen epistemologisch interessant, bei der Ausbildung neuer Denkformen behilflich und sogar für das Erkennen gewisser Risiken unabdingbar sein. Sie bleiben dennoch problematisch, weil sie genau den Zusammenhang zwischen epistemologisch-ontologischen Sinnübergängen und den Bedingungen der Aktualisierung des Virtuellen verschleiern und vielleicht sogar negieren. Gleichgültig, in welchen Dimensionen und mit welchem Anspruch Simulationen von Modellen durchgeführt werden, sie bleiben immer in doppelter Hinsicht der nicht kontrollierbaren Kontingenz unterworfen : der theorieimmanenten Kontingenz von Konstruktionsformen bei der Aktualisierung des Virtuellen und der Kontingenz materieller Gegebenheit. Humphreys bringt mit seiner Formulierung » Not computability in principle, but computability in practice «890 eine ähnliche Einschätzung zum Ausdruck. Das neuerdings Problematische, das er als charakteristisch für die Computational Sciences herausstreicht, liegt nicht mehr » nur « wie gehabt in unterschiedlichen Arten der Verallgemeinerung, Klassifizierung, Systematisierung. Die neuen Methoden lassen vielmehr vis-à-vis den Theoremen moderner Wissenschaft einen ebenfalls neuen Problembereich erscheinen, wie Humphreys beschreibt : » It is the solvability of models that is the major barrier to the application of scientific theories, and if we restrict ourselves to the resources of the human mind augmented by pencil and paper, the solvability constraint bites hard, even with severe idealizations and approximations. «891 Die prinzipielle Schlussfolgerung, die zu ziehen sei, bestehe darin, zu Bewertung und Test von Computational Models die Herkunft der Templates einzubeziehen, denn : » the justification of the template is intertwined with its construction «.892 Ohne tiefer in dieses Thema einzutauchen, sei festgehalten, dass komplexe Probleme auf verschiedenen Ebenen Semantik importieren, was eine rein formale Behandlung solcher Modelle unmöglich macht. Neben sogenannten syntaktischen Zugangsweisen haben sich seit Längerem 890 Paul Humphreys, Expanding Ourselves, S. 50. 891 Ebenda. 892 Ebenda, S. 87.

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schon sogenannte semantische Zugangsweisen he­rausgebildet. Dennoch entsteht im Fall der Computational Sciences eine Schwierigkeit, die sich auch aus der Perspektive der semantischen Tradition betrachtet nicht auflöst. Hier taucht ein Phänomen auf, das Isabelle Stengers als » mathematical fictions « charakterisiert : » [T]he art of simulating is that of the screenwriter : to put a disparate multiplicity of elements onstage «, und so präzisiert sie in einer dazugehörigen Anmerkung, » Referring, if the case arises, to different disciplines, those that can make simulation an ›interdisciplinary‹  practice «.893 Die Mächtigkeit des Computers als Instrument für Simulationen habe, so Stengers, unter den Wissenschaftlern zum Auftauchen von » new sophists « geführt, also Forschern, deren Engagement » no longer refers to a truth that would always silence fictions, but to the possibility, whatever the phenomenon, of constructing a mathematical fiction that reproduces it [the truth] «.894 Modelle seien per definitionem nicht imstande, Kriterien zu ihrer Beurteilung zu liefern. Für ein einziges Phänomen können immer viele verschiedene Modelle gleichzeitig existieren, wobei jedes einzelne unterschiedliche Variablen beinhalten und damit auch spezifische Vorteile bzw. » zones of priviledged validity « haben kann, ohne dass sie per se als widersprüchlich gelten müssten.895 Allerdings dienten Modelle ebenfalls dazu, bestimmte Vorschläge zur Beschreibung eines Phänomens zu testen, um die unterschiedlichen Konsequenzen zu entfalten und in Erklärungen einbetten zu können : » In effect «, hält Stengers fest, » the computer universe establishes a direct relation between phenomenon and simulation, with nothing » beyond « simulation, with no promise of a theory beyond the models. «896 Die epistemische Voraussetzung der Medienwissenschaften sieht etwa Tholen in einer ontologiefreien Verkörperung von Differenz bzw. Distanz zwischen den interagierenden Subjekten und zwischen den medialen Repräsentationsweisen.897 Die moderne Analyse von Sprache als Erkenntnismedium zwischen Subjekt und Objekt gründe ihm zufolge auf einer als konstitutiv angenommenen Differenz innerhalb der Welt der Zeichen.898 Im konkreten Fall wissenschaftlicher Simulationen ergibt sich aus diesen Bestimmungen allerdings ein Konflikt, den Stengers wie folgt benennt : » Computer simulations not only propose an advent of the fictional use of mathematics, they subvert equally the hierarchy between the purified phenomenon, responding to the ideal intelligibility invented by the experimental representation, and anecdotal complications. «899 893 Isabelle Stengers, » Subject and Object «, in : dies., The Invention of Modern Science, Minneapolis und London 2000, S. 131–150, hier S. 136, und weiter die Anmerkung im Appendix S. 176. 894 Ebenda, S. 136. 895 Ebenda. 896 Ebenda. 897 Georg Christoph Tholen, » Medium, Medien «, S. 150–172. 898 Ebenda. 899 Isabelle Stengers, » Subject and Object «, S. 136.

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Es ergibt sich daraus die dringliche Frage, worauf sich – zumindest im Fall wissenschaftlicher Simulationen – ein solches Experiment im Symbolisch-Medialen denn überhaupt beziehe : » But what does an ›experiment‹ done on an ›information‹ crystal correspond to ? Does it produce a fiction or authorize an experimental statement ? How should we treat statements of the ›experience shows that …‹ type when it is no longer the question of an event, a conquered link between words and things, but rather a scene that is defined completely in terms of representations ? «900 Es macht, wie auch Tholen betont, einen erheblichen Unterschied aus, ob und wie das historische bzw. das transzendentale Apriori der Welt der Zeichen, Techniken und Medien konstituiert wird.901 Wie deutlich geworden sein dürfte, geht es hier um nichts weniger als das, was spätestens seit Platon als die Gretchenfrage von theoria – griechisch übrigens für Anschauung – gelten muss : Wie lässt sich die weitreichende Verbindlichkeit und Dauerhaftigkeit bestimmter Beschreibungen von Phänomenen von der unverbindlicheren, flüchtigeren Scheinhaftigkeit anderer Beschreibungen unterscheiden ? Im Folgenden werden einige der Argumentationslinien des medientheoretischen Diskurses um die Begriffe von Kopie, Simulacrum und Abbild erörtert. Simulacrum, Abbild und das Herkommen von Templates in fantastisch-antizipierbaren Genealogien » Simulationen lassen Phänomene und Situationen entstehen, die keinen anderen Rückhalt haben als das Medium, das sie hervorbringt «, hält Bernhard Dotzler fest.902 Es geschehe nicht erst aufgrund der Vervielfältigung, dass sich Simulationen aus ihrem angestammten Bereich herauslösen903, schreibt er weiter, vielmehr hätten sie in 900 Ebenda, S. 137. 901 Georg Christoph Tholen, » Medium, Medien «. Seine eigene Haltung demgegenüber führt Tholen als » Theorem des semiologischen Konstruktivismus « aus und kontextualisiert es wie folgt : » Der ›Modus der Subjektkonstitution‹ (Jäger 2001, 27) und die Sphäre der basalen Intersubjektivität des Menschen, die im und als Sprechen ›beginnt‹, ist auf die Sprache des Anderen als uneinholbarer Sinn und Bedeutung (und sei es die eines ›leiblichen Selbst‹) allererst generierender Zwischenraum stets angewiesen. Kommunikation in und durch Medien ist ›responsiv‹ (Becker 2003, 102) eingebunden in das Spiel der Signifikanten – als den unhintergehbar zwischen Anwesenheit und Abwesenheit oszillierenden und jedweden Sinn aufschiebenden ›Abort des Symbolischen‹ (Lacan 1954/55). Die Künstlichkeit des medialen ›Dazwischen‹, das sich der konstitutiven ›Spaltung des Zeichens‹ (Jäger 2001, 23) verdankt, ist eine ursprungslose ›Différance‹ (Derrida 1976), die jedweder Medientechnik vorausgeht und zugleich deren Wandel zu situieren erlaubt (Lenger 1999) «, S. 153. 902 Bernhard Dotzler, » Simulation «, in : Karlheinz Barck u. a., Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Band 5 : Postmoderne – Synästhesie, ­Stuttgart 1992, S. 509–535, hier S. 509. 903 Ein Rückgriff etwa auf Benjamins Kriterium für den Effekt technischer Produzierbarkeit würde dies nahelegen. Vgl. Walter Benjamin, » Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit « (1936), in : ders., Gesammelte Schriften, Band 1,2 (Werkausgabe Band 2), hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1980, S. 471–508.

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genuiner Weise keinen solchen Herkunftsort jenseits ihres Zu-TageTretens : » Jedes, schon das erstmals generierte Computerbild ist ein Duplikat seiner selbst, unwirkliches Glied einer ganzen Reihe beliebig häufiger und ganz in sich verselbständigter Verwirklichungen. «904 Dieser aktuellen Begriffsfassung stehen indes weit zurückreichende, alte Traditionslinien gegenüber. Im lateinischen Begriff simulatio flossen die griechischen Bedeutungen von eidolon oder fantasma, eironeia sowie hypokrisis zusammen – so werden die eidola der Wahrnehmungstheorie Demokrits bei Lukrez zu simulacra.905 In der Semantik der lateinischen Wortherkunft ist der aktuelle Begriff der Simulation konnotiert durch lat. similis : ähnlich; simulacrum : Bild, Abbild, Nachbildung, Götterbild (Statue), Trugbild, Blendwerk; simulatio : Heuchelei, Schein, Täuschung, Verstellung; simulator : Nachahmer, Heuchler; simulo : abbilden, nachahmen, ähnlich machen, sich verstellen.906 In der Übersetzungsgeschichte werden oftmals Fiktion und Simulation synonym verwendet 907, oder es ist von einem Gegensatz zwischen » echt « und » bloß simuliert « die Rede908. Meist referiere das Wort auf Aspekte der Imitation wie der durch sie erzeugten Illusion, fasst Dotzler zusammen.909 Obwohl zu dem Begriff von jeher eine ästhetische Dimension der Scheinhaftigkeit gehöre, entstehe ein eigenständiger Begriff der Simulation erst gegenwärtig und im Kontrast zur Tradition des Mimetischen : » Zwischen altem und neuen Simulationsbegriff vollzieht sich eine ›Umwertung der Werte‹, und zwar zum einen das Feld der Ästhetik in toto betreffend wie zum anderen eben den Einsatz der Simulationskategorie. «910 Simulation heute würde vielmehr in einer » Des-Imagination « gipfeln, in der eine Unterscheidung zwischen Original und Fälschung, Vorbild und Kopie nicht mehr möglich sei.911 Dotzler folgt hier der von Benjamin inspirierten Darstellung Rosalind Krauss’, die von einer Implosion dieser Differenzierbarkeit spricht : » Der Effekt des Realen ersetzt das Reale selbst. «912 Die derzeitige Konjunktur des Simulationsbegriffs sei, so Dotzler, nicht aus einer Neubeleuchtung des historischen Spektrums 904 Bernhard Dotzler, » Simulation «, S. 509. 905 Vgl. Edward B. Tylor, Primitive Culture. Researches into the Development of Mythology, Philosophy, Religion, Language, Art and Custom, Band 1, London 1871, S. 449f.; Lukrez. De rerum natura, S. 54ff.; Gilles Deleuze, hier zitiert nach Bernhard Dotzler, » Simulation «, S. 511. 906 Bernhard Dotzler, » Simulation «, S. 509. 907 Martin Seel, » Medien der Realität und Realität der Medien «, in : Sybille Krämer (Hrsg.), Medien – Computer – Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien, Frankfurt am Main 1998, S. 244–268, hier S. 249. 908 Wolfgang Welsch, » ›Wirklich‹. Bedeutungsvarianten – Modelle – Wirklichkeit und Virtualität «, hier S. 180. 909 Bernhard Dotzler, » Simulation «, S. 510. 910 Ebenda. 911 Ebenda. 912 Rosalind Krauss, » Eine Bemerkung über die Photographie und das Simulakrale «, in : dies., Das Photographische. Eine Theorie der Abstände, München 1998, S. 210–223, hier S. 222.

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des Mimesisbegriffs heraus begreifbar, sondern nur aus einem historischen Kontrast : » Simulation statt Mimesis «.913 Wir werden dieser Forderung Dotzlers hier nicht weiter bis zu der von ihm postulierten Konsequenz einer hegelianischen Dialektik folgen, denn spätestens wenn ein von ihm in Aussicht gestellter Begriff differenzfreier Simulation überhaupt theoretisch konturierbar sein sollte, wäre eine Rückbesinnung auf die historische Tradition unverzichtbar.914 Deren Probleme und ­Denkformen haben in der Vergangenheit auf verschiedene Art den Konsens jeder wie auch immer konkretisierten Ordnung der Dinge ihrerseits geprägt, und dies werden sie – ob auf problematisierte Weise oder als uneingestandene metaphysische Voraussetzungen und Denkgewohnheiten915 – wohl weiterhin tun.916 Dotzlers Akzentuierung eines gegenwärtigen Simulationsbegriffs als Inversion tradierter Linien des Denkens über Ähnlichkeit wollen wir jedoch in diesem Kapitel weiterhin folgen. Der Begriff der Simulation erhielt im Anschluss an Platons Ideenlehre in der westlichen Philosophie eine überwiegend pejorative bis negative Besetzung. Demnach bezeichnete die Simulation kein gültiges Abbild eines Urbildes, sondern galt lediglich als das Abbild eines Abbildes, was in der Konsequenz gedeutet wurde als Trugbild, Wahnbild.917 Auf Nietzsche geht das Programm einer Inversion des Platonismus zurück, als dieser von einer » Verstellung als Pflicht « spricht, die sich seit Platon in der Geschichte der Philosophie uneingestandenerweise etabliert habe.918 Davon ausgehend ist seither über Heidegger, Pierre Klossowski 913 Bernhard Dotzler, » Simulation «, S. 511. Vgl. dazu auch Bernhard Dotzler, Der Hochstapler. Thomas Mann und die Simulakren der Literatur, München 1991, S. 12ff. 914 Hegel hat freilich genau an dieser logischen Stelle die Proklamation des Endes der Philosophie eingeführt, und dieses Moment ist bei ihm – in der Darstellung Lefeb­ vres – mit einem kritischen Moment der Stadtentwicklung zusammengefallen, als diese auf einmal als eine lebenswerte zweite Natur wahrgenommen wurde. Vgl. dazu Henri Lefebvre, Metaphilosophie, Frankfurt am Main 1975 [1965], insbesondere das Kapitel » Annullierung der ›Erkenntnistheorie‹ – Simulierung und Simulacrum «, S. 210–218, hier zitiert nach Nils Röller, » Scientia Media – Simulation zwischen den Kulturen «, in : Andrea Gleiniger und Georg Vrachliotis (Hrsg.), Simulation. Präsentationstechnik und Erkenntnisinstrument, Basel 2008, S. 51–61, hier S. 57. 915 Vgl. für eine Problematisierung des historischen Ordnungsbegriffs der Epoche Hans Blumenberg, » Die Epochen des Epochenbegriffs «. 916 Eine andere Möglichkeit bestünde höchstens darin, von einer geschichtlichen Dimension solcher Ordnungsstrukturen ganz abzusehen, wie es die Utopie respektive die Dystopie eines kybernetischen Denkens bisweilen nahelegt. In diese Richtung weist tatsächlich auch das Fazit von Bernhard Dotzlers Buch Diskurs und Medium. Zur Archäologie der Computerkultur (München 2006, S. 197) : » fabula impleta est « schreibt er abschließend zu seinen Erörterungen über die Zukunft des Geschichtenerzählens. Zur Aufzeichnung einer dem kybernetischen Denken innewohnenden, jedoch uneingestandenen symbolistischen Ontologie vgl. die Studie von Erich Hörl, Die heiligen Kanäle. 917 Vgl. dazu Hans Blumenberg, » Nachahmung der Natur. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen «, in : ders., Wirklichkeiten, in denen wir leben, Stuttgart 1986, S. 55–103. 918 Friedrich Nietzsche, Morgenröthe (1881), hier zitiert nach Bernhard Dotzler, » Simulation «, S. 514.

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bis zu Foucault und Deleuze von einem neuen Anfang des Denkens als primäre Aufgabe der Philosophie die Rede. Hörl steht sicher nicht alleine mit seinem Vorschlag, dass diese Forderung ein » maschinenbasiertes Ereignis « darstelle.919 Auch für Dotzler steht außer Frage, dass die Herrschaft der » platonischen Konstellation « erst mit dem Aufkommen der Informationstechnologie, präziser : mit der Erfindung des Computers, wirklich breitenwirksam infrage gestellt werden konnte.920 Zur Veranschaulichung nennt er die Computergrafiken fraktaler Gebilde, die in exemplarischen Serien » Serien von Serien ohne Original « liefern.921 Anders als die frühesten Synthesen von » Algorithmus und Kunst « in den Werken eines Herbert W. Franke, Frieder Nake oder Georg Nees ab Mitte der 1960er-Jahre922 liege jedoch, wie ­Dotzler hervorhebt, die Besonderheit der Fraktale gerade in einer wiederentdeckten mimetischen Beziehbarkeit auf Realität, und zwar im Sinn einer strukturellen Nachahmung der Natur.923 Damit habe die Indifferenz von Realität und Fiktion jenen Grad an Perfektion erreicht, den zu kritisieren sich ebenfalls ab den 1960er-Jahren und vielleicht allen voran am vehementesten Baudrillard aufgemacht habe.924 Auf seinen Ansatz werden wir noch genauer eingehen, insbesondere auch auf das Verhältnis zwischen dem baudrillardschen und dem deleuzianischen Simulationsbegriff im Anschluss an das strukturalistische Denken. » Le but de toute activité structuraliste «, so schreibt Barthes in seinem berühmten Aufsatz gleichen Titels, » est de reconstituer un ›objet‹, de façon à manifester dans cette reconstitution les règles de fonctionnement (les ›fonctions‹) de cet objet «.925 Die strukturalistische Tätigkeit sei zwar » essentiellement une activité d’imitation «, aber eine Nachahmung oder Mimesis » fondée non sur l’analogie des substances […] mais sur celle des fonctions «.926 Die verschiedenen Linien, denen das medientheoretische Denken seither folgt, ergeben sich aus unterschiedlichen Begriffen dessen, was unter einer Funktion verstanden werden könnte. Über diesen Begriff lässt sich, so Peter Caws, zwischen dem Konzept der Struktur und demjenigen des Systems unterscheiden : » It is important at the outset to get clear the relations between these two concepts, and this can best be done by relating them both to a third, namely that of ›function‹. According to the standard structuralist 919 Vgl. Erich Hörl, » Wissen im Zeitalter der Simulation. Metatechnische Reflexionen «, in : Andrea Gleiniger und Georg Vrachliotis (Hrsg.), Simulation. Präsentationstechnik und Erkenntnisinstrument, hier S. 95. 920 Bernhard Dotzler, » Simulation «, S. 515. 921 Ebenda. 922 Vgl. dazu Frieder Nake und Diethelm Stoller (Hrsg.), Algorithmus und Kunst. » Die präzisen Vergnügen «, Ausstellungskatalog, Hamburg 1993. 923 Bernhard Dotzler, » Simulation «, S. 515. 924 Ebenda. 925 Roland Barthes, » L’activité structuraliste « (1963), in : ders., Œvres complètes, hrsg. von Eric Marty, Band 1, Paris 1993, S. 626–628. 926 Ebenda, S. 626.

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account, structures are structures of systems; systems function, structures in themselves do not function – but systems function because they have the structures they do. «927 1983 erschien Baudrillards Band Simulation gleichzeitig zu der Übersetzung des Aufsatzes von Deleuze über das Trugbild in der für die Kunstszene bedeutenden Zeitschrift October.928 Diese beiden Texte können als Repräsentanten für zwei unterschiedliche Interpretationen des Funktionsbegriffes gelten. Es entwickeln sich hier zwei Denklinien parallel, die zwar ähnliche Referenzen (vor allem Gilbert Simondon) und Begrifflichkeiten verwenden – Simulakrum, virtuell, Differenz, Konvergenz, Funktion, Oberflächenphänomene, Maskierung et cetera –, sich dennoch in weitgehend inkompatiblen Denkhorizonten bewegen. ­Brian Massumi hat in seinem Aufsatz » Realer than real. The Simulacrum according to Deleuze and Guattari « die Differenzen hinsichtlich des Simulationsbegriffs herausgearbeitet.929 Für Baudrillard gelte, so Massumi, » the substitution of signs of the real for the real. In hyperreality, signs no longer represent or refer to an external model. They stand for nothing but themselves, and refer only to other signs. «930 Diese Perspektive gilt Massumi als diejenige eines » hypercynicism «, die ihn bemerken lässt : » It makes for a fun read. But do we really have no other choice than being a naive realist or being a sponge ? «931 Im Simulationsbegriff von Deleuze (und Guattari) sieht er den dritten Weg, zwischen jenen eines naiven Realisten oder eines » hyperzynischen Schwamms « – und zwar, indem dem Begriff der Simulation über ein anders gefasstes Verhältnis zwischen Struktur, Funktion und System eine andere Agenda zugeschrieben wird.932 In Differenz und Wiederholung (1968) stellt Deleuze mit Rückgriff auf eine bestimmte Linie der Mathematikgeschichte, die er selbst als minoritär charakterisiert,933 einen philosophischen Begriff von Funktion vor und entwickelt daraus, wie bereits ausgeführt, sein » neues « Bild des Denkens.934 Im Bewusstsein dieses Hintergrundes, so 927 Peter Caws, » Structuralism «, in : The Dictionary of the History of Ideas. Electronic Text Center, University of Virgina, online : http ://etext.virginia.edu/cgi-local/DHI/ dhiana.cgi ?id=dv4-42 (10.04.2009). 928 Vgl. Jean Baudrillard, » Simulations « (1981), in : ders., Semiotext(e), New York 1983 (Dies ist eine unvollständige Übersetzung von Simulacra et Simulation, 1981 in Paris erschienen; die vollständige amerikanische Übersetzung erschien unter dem Titel ­Simulacra and Simulation, 1994); und Gilles Deleuze, » Platon and the Simulacrum «, in : October, Nr. 27, Winter 1983, S. 44–56. 929 Brian Massumi, » Realer than Real. The Simulacrum According to Deleuze and Guattari «, in : Copyright, 1/1987, S. 90–97, online : http ://www.anu.edu.au/HRC/first_ and_last/works/realer.htm (10.04.2009). Die Onlineausgabe hat keine Seitenzahlen. 930 Ebenda. 931 Ebenda 932 Ebenda. 933 Denn sie verläuft nur still neben den lauten vorherrschenden Entwicklungslinien von Georg Cantor über David Hilbert bis zu Bertrand Russell, und führt u. a. über JosephLouis Lagrange, Hoëné Wronski, Bernhard Riemann und Albert Lautmann. 934 Vgl. dazu insbesondere das gleichnamige Kapitel IV » Das neue Bild des Denkens « in : Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 169–216.

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stellt Massumi klar, spiele die Ähnlichkeit eine neue Rolle bei Deleuze : » The resemblance of the simulacrum is a means, not an end. «935 Nach Deleuze und Guattari würde ein Etwas, » in order to become apparent «, genötigt sein » to simulate structural states and to slip into states of forces that serve it as masks «.936 Diese Masken der Ähnlichkeit freilich dienen nicht der Verstellung einer Eigentlichkeit. Ebensowenig aber gehen sie darin auf, lediglich als Zeiger innerhalb indexikalischer Verweisstrukturen zu funktionieren, denen sich das Eigentliche als Außenreferenz auf nicht einholbare Weise entzieht. Deleuze’ Version einer Umkehrung des Platonismus setzt in gewisser Hinsicht dort ein, wo das Denken im baudrillardschen Simulationsbegriff anstößt und nicht weiterführt : Es geht Deleuze nicht um die Möglichkeit der Rekonstruktion einer Genealogie, sondern um die Entstehung dieser Genealogie selbst.937 Für ihn stellt sich die Frage nach der Ordnung der Dinge nicht in erster Linie angesichts von Reflexion und Reproduktion, sondern von artikulierender Produktion. Wie lässt sich, zum Beispiel in der Technik, das Disparse vereinzelter Funktionszusammenhänge – Heideggers Zeugs, das Erzeugte – einsortieren, in Serien verknüpfen, und zwar so, dass diese Serien die » Kohärenz « von genealogischen Entwicklungslinien nicht abbilden, sondern aktiv unterhalten können. Eine Verwandtschaft zu dem wissenschaftsphilosophischen wie ingenieurstechnischen Problem, wie mit der Dimension des Informalen umzugehen sei, sollte in Deleuze’ Bestreben, die Erzeugbarkeit von Genealogizität verstehen zu lernen, deutlich werden. Man denke an die Problematik einer nachhaltigen Eingliederung von » mathematical fictions « (Stengers) als genuine Konstruktionen in einen bestehenden Kontext.938 Massumi verdeutlicht diesen Bezug : » underneath the mask and by means of it, it [the simulacrum] already invests the terminal forms and the specific higher states whose integrity it will subsequently establish. «939 Darauf werden wir im folgenden Kapitel ausführlich zu sprechen kommen, und zwar am Beispiel von Gilbert Simondons Technikphilosophie aus den 1950er-Jahren, die sowohl das Denken Baudrillards wie auch dasjenige von Deleuze geprägt hat. 935 Brian Massumi, » Realer than Real «. Damit soll die zurecht häufig geäußerte Kritik an der Vermengung des Medienbegriffs mit dem Werkzeugbegriff, etwa in McLuhans falsch kommentiertem Verständnis von Medien als Prothesen, keineswegs zurückgewiesen werden. Es gibt jedoch, wie im zweiten Kapitel der vorliegenden Arbeit argumentiert wird, über den Begriff von Funktionen vielleicht eine sinnvolle Weise zur weiteren Differenzierung dieser unglücklichen Vermengung, die es erlauben würde, aus diesem – ebenfalls als allzu einfach erkannten – Gegensatz zwischen Technik und Medien auszubrechen. Vgl. dazu beispielsweise Tholens Vorschlag, Medien über eine Metaphorologie zu definieren. Georg Christoph Tholen, » Eine Metaphorologie der Medien «. 936 Brian Massumi, » Realer than Real «. 937 Für eine ausführliche Darstellung dieses Aspekts vgl. Alberto Toscano, The Theatre of Production. 938 Isabelle Stengers, » Subject and Object «, S. 136. 939 Brian Massumi, » Realer than Real «.

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III.III. system, element, serie. inversion mimetischer traditionslinien » Therefore, anything to which we give a particular name – that of engine, for example – may, perhaps, be multiple even as we speak of it and may vary with time, as it changes its individuality. Meanwhile, if we wish to define the laws of the genesis of a technical object within the framework of its individuality and specificity, we had better not begin with its individuality or even its specificity but, rather, reverse the problem. «940 Zuerst wollen wir uns ansehen, worin die vorausgesetzten Annahmen bei Baudrillard bestehen. Er hat sich in seinem frühen Buch Das System der Dinge (1969) mit denjenigen Vorgängen beschäftigt, die zwischen Menschen und Gegenständen Beziehungen stiften. Beeinflusst von den Konsequenzen, die Heideggers » Ontosemiologie «941 aus der generellen Krise der Repräsentation gezogen hat, sucht Baudrillard diesen noch einmal zu trotzen. Für Heidegger waren die Zeichen des Seins verkörpert in der Realität der Dinge. Diese aber sind für ihn nicht mehr » bloße Dinge «, sondern sie verwandeln sich durch ihre Funktion als Zeichen zu » Zeugs «, denn wie Wetzel in seinem Aufsatz » Verweisungen. Der semiologische Bruch im 19. Jahrhundert « erläutert, Zeug habe » die Eigenschaft, auf seine Relation mit anderen Dingen zu verweisen, es ist mit anderen Worten zugleich Träger von Information, die ihm als ›Verweisungen‹ eingeschrieben sind «.942 In einer solchen ontosemiologischen Ordnung entgleite nach Heidegger der traditionelle metaphysische Diskurs » um der Dinge willen « sich selbst und gerät in die Anziehungskraft eines semantischen Entzugs. Wetzel führt weiter aus : » In seiner Verweisung bringt ›Zeug‹ das von ihm Verwiesene nicht näher, vielmehr wird es in seine Abwesenheit verwiesen, das heißt im doppelten Sinne von Verweisung angezeigt und ausgewiesen : es ist nur ›da‹ als die ver- und aufschiebende Kraft, die Dinge in ›Zeug‹ verwandelt, das heißt in etwas, das – wie Heidegger in seinem etymologischen Gespür wohl weiß – Furchen oder Bahnen ›zieht‹ und Neues ›erzeugt‹. «943 Zeigend werden die Gegenstände zu Zeugen ihrer eigenen Geschichte, für deren Spuren und Hinweise es in den epistemologischen Klassifikationen 940 Gilbert Simondon, On the Mode of Existence of Technical Objects, London 1980 [1958], S. 12. 941 Michael Wetzel, » Verweisungen. Der semiologische Bruch im 19. Jahrhundert «, in : Georg Christoph Tholen und Friedrich Kittler (Hrsg.), Arsenale der Seele. Literaturund Medienanalysen seit 1870, S. 71–95, hier S. 72. Vgl. dazu auch Jochen Hörisch, » Das Sein der Zeichen und die Zeichen des Seins. Marginalien zu Derridas Ontosemiologie « (Vorwort), in : ­Jacques Derrida, Die Stimme und das Phänomen, ein Essay über das Problem des Zeichens in der Philosophie Husserls, Frankfurt 1979, S. 40ff. 942 Michael Wetzel, » Verweisungen «, hier S. 71. 943 Ebenda, S. 72. Wetzel verweist hinsichtlich der Etymologie auf das Herkunftswörterbuch, Der Duden, Band 7, Mannheim 1963, S. 780.

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keinen Namen gebe.944 Sie würden damit die substanzielle Gewissheit des Sichtbaren in ein funktionales Beziehungsgeflecht unsichtbarer Überdeterminationen auflösen, kurz : Die Ordnung der Wörter gehe in der Ordnung der Dinge zugrunde.945 Heidegger hat das kulturelle Klima gegenüber von Technik, Künstlichkeit und Medialität mit seiner Daseinsanalytik, die er einer autonomen Produktivität von Information gegenüberstellt, weit über den deutschsprachigen Diskurs hinaus nachhaltig geprägt. Zeitgleich zu seinem Denken in den 1950er-Jahren war nicht nur die Kybernetik als allgemeine Informationswissenschaft im Entstehen begriffen, vielmehr veröffentlichte zur selben Zeit in Paris Simondon seine eigenwilligen Vorstellungen von einer Theorie der Technik. Er berief sich auf die französische Bewegung der » méchanologistes «, welche die Grundzüge eines mechanischen Denkens zu einem mechanologischen Denken erweitern wollten. In aller Kürze können wir den Unterschied vielleicht folgendermaßen umreißen : Während Mechanik klassischerweise mit elementar-geometrischen Formen Maschinen konstruiert, die Dynamik das Zusammenspiel von elementar-geometrischen Formen infinitesimal zu differenzieren lernt und somit die Abläufe von Maschinen in Prozesse zu gliedern versteht, die sich übergeordnet (systemisch) orchestrieren lassen, so sucht nun eine Logik des Mechanischen die ehemals elementar-geometrischen Formen als in ihrer spezifischen Dynamik variierbare Struktur-Formen zu begreifen. Einer solchen Strukturform nun kann eine spezifizierbare eigene Dynamik zugewiesen werden. Solche logisch-konstruierten Maschinen nähern sich der Vorstellung des Organischen insofern an, als sie verschiedene solche temporalisierbaren Strukturformen verkörpern, die in ihrem Zusammenspiel, ähnlich wie Organe, eine Art Metabolismus verkörpern. Als physikalische Voraussetzung für logisch konstruierte Maschinen muss die Elektrizität gelten, wie auch die dynamischen Apparate ihre eigene physikalische Voraussetzung gegenüber von mechanischen Maschinen haben, nämlich das technische Prinzip des Motors und das Balancieren von systemischen Eigenschaften (wie Wärme, Druck etc.) mittels Thermodynamik.946 Mit einem speziellen Augenmerk auf Simondon und seiner Forderung, dass wir uns über die Existenzweise von technischen Objekten klarer werden sollten, soll im Folgenden dieser Hintergrund einführend und ausschnittweise beleuchtet werden. Simondons Theorie kann zurückgeführt werden auf sein Unbehagen, mit dem er die Unfähigkeit seiner Zeitgenossen registrierte, die neue 944 Michael Wetzel, » Verweisungen «, S. 73ff. 945 Ebenda. 946 Vgl. dazu Michel Serres, » Motoren. Vorüberlegungen zu einer allgemeinen Theorie der Systeme «, in : ders., Hermes IV. Verteilung, übers. von Michael Bischoff, Berlin 1992, S.43–91. Ebenfalls : Vera Bühlmann, » Primary Abundance, Urban Philosophy. Information and the Form of Actuality «, in : dies. mit Ludger Hovestadt, Printed Physics, Metalithicum I, Wien 2012, S. 114–150.

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technologische Lage wahrzunehmen und ein zureichendes Selbstverständnis der technologischen Kultur zu entwickeln.947 Er unterschied zwei grundlegende Modi, in denen sich » das Verhältnis des Menschen zu den technischen Gegebenheiten « wie auch » die ontologische Schematisierung technischer Dinge «948 zeigt : der von ihm so benannte » statut de minorité « und den » statut de majorité «.949 Das Verhältnis zwischen beiden Modi gestaltet sich nach seinem Vorschlag über die Zeit hinweg unterschiedlich, ohne dass er aber davon ausgeht, dass dieser Verlauf einer übergeordneten Logik folge. Simondon ist in diesem Schritt Darwin erheblich näher als Hegel.950 Zwischen diesen beiden Modi bilden sich nach Simondon also unterschiedliche Verhältnisse aus, auch auf unterschiedlichen Zeitskalen, die in ihrem Zusammenspiel den evolutionären Prozess bedeuten, welchen er als Konkretisierung des technischen Dings beschreibt.951 Dieses Moment der Konkretisierung gilt Simondon als zentral für ein Selbstverständnis der technischen Situation seiner Zeit – und seit den späten 1950er-Jahren hat dieser Prozess inzwischen noch weit stärker um sich gegriffen952 –, das er gezeichnet sieht von einer Umkehrung des elementaren Verhältnisses zwischen den beiden Modi. Was bis zur Einführung der Informationstechnologien als Ausdruck des » mode majorité « und in Abgrenzung zu den » téchniques mécanique « als » téchnique valorisée « gegolten hatte, wird nun mit den mechanisierten Symbolprozessen der Informationstechnologien plötzlich selbst zur » téchnique mécanique «. Aufgrund dieser Inversion sieht Simondon die Veränderungen motiviert, die im Verlauf des 20. Jahrhunderts zum Vorschlag einer Neucharakterisierung der ehemaligen Naturwissenschaften als Technowissenschaften geführt hatte.953 Das technische Wissen soll nach ihm » in ein geregeltes Verhältnis zu den Wissenschaften 947 Vgl. dazu Erich Hörl, » Wissen im Zeitalter der Simulation «, hier S. 99ff. 948 Ebenda, S. 99. 949 Gilbert Simondon, Du mode d’existence des objets techniques, Paris 2001 [1985], S. 85ff. 950 Sarasin hat jüngst mit Nachdruck auf die Bedeutung von Darwins Theorien für das Geschichtsverständnis von Foucault hingewiesen. Sarasin sieht in Darwins evolutionären Verständnis von Entwicklungs- und Entstehungsprozessen ein bisher von den Historikern unterschätztes Alternativmodell zu jedem kontinuierlichen Geschichtsverständnis. Vgl. dazu Philipp Sarasin, Darwin und Foucault, Frankfurt am Main 2009. 951 Gilbert Simondon, Du mode d’existence des objets techniques, Paris 2001 [1985], S. 85ff. 952 In einer bestimmten Interpretation von Simondon nimmt beispielsweise Stiegler diesen Konkretisierungsprozess als Brille, ergänzt mit Derridas Sprachphilosophie, um mit einem eigens entwickelten technikphilosophischen Konzept der » Grammatisierung « technischer Objekte gegenwärtige Entwicklungen zu beschreiben. Vgl. dazu Bernard Stiegler, » Nanomutations, hypomnemata and grammatisation «, online : www.arsindustrialis.org/node/2937 (10.04.2009); ferner Bernhard Stiegler, Technics and Time 1. The Fault of Epimetheus. 953 Für eine Darstellung der Entwicklung des Begriffs der Technowissenschaft vgl. Gilbert Hottois, Philosophie des Sciences, philosophie des techniques, Paris 2004, S. 119–171; zum gegenwärtigen Diskurs um diesen Begriff vgl. Jutta Weber, Umkämpfte Bedeutungen. Natur im Zeitalter der Technoscience, Dissertation, Bremen 2001.

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treten, Kohärenz gewinnen, und die Technik als solche sollte zum Problem des Denkens aufsteigen und Eigensinn erhalten «.954 An diesen Hintergrund schloss Baudrillard mit seinem Interesse in Das System der Dinge an und untersuchte, » wie die Gegenstände erlebt werden, welchen Bedürfnissen, außer den funktionellen, sie Genüge leisten, welche geistigen Strukturen sie als Verrichtungsträger anziehen oder abstoßen, auf welcher geistigen, infra- oder transkulturellen Ebene deren Alltäglichkeit erlebt wird «.955 Es ging ihm um den impliziten Einfluss der Alltagsdinge auf die menschlichen Verhaltensweisen und Verhältnisse. Diesen lokalisiert er in einem symbolischen Spielraum, der den funktionalen Entwicklungen – er nennt sie » technische Evolution « – entgegnet : Anders als Simondon dies tut, begreift Baudrillard funktionale Zusammenhänge wie deren Verkörperung in den mechanischen Prinzipien von Technik als das Andere des Menschen. Mitten im milieu technique sucht Baudrillard diejenigen Orte auszumachen, die für alles Unreine, Dysfunktionale oder Mehrdeutige Gelegenheit bieten. Dieser Spielraum – und daraus gewinnt Baudrillards Schreiben seine Dramatik – sieht er im Schwinden begriffen. Hier bleibt er in seiner Argumentation nahe bei Heidegger. Und so liest er denn auch Simondons Vorstellung von einem Konkretisierungsprozess auf eine strukturähnliche Weise zu Heideggers Argumentation in einem übergeordneten Horizont historischer Kontinuität und deren Eigenlogik im erwartbaren Fortgang. Er beschreibt etwa, wie operative Verweiszusammenhänge als » Funktionen « in ihrer ganzen strukturellen Abstraktheit für uns paradoxerweise als Verkörperungen in Technologien auf einmal konkret werden. Sie treten damit in ein Konkurrenzverhältnis zu den alltäglichen, nicht explizit funktionalen Zwischenspielen in unserem Verhältnis zu den Dingen, die in der Vergangenheit aufgrund ihrer Unmittelbarkeit als konkret empfunden wurden. Baudrillard sucht nach dem Verbleib dieser » alten Konkretheit « im Umgang mit den Dingen. Zur Illustration der neuartigen Konkretheit wählt er – irreführenderweise, wie wir im Folgenden zeigen möchten – ein bei Simondon zitiertes Beispiel : » In einem heutigen Motor wird, den energetischen Wechselwirkungen entsprechend, jeder wichtige Konstruktionsteil mit den übrigen dergestalt verbunden, dass er gar nicht anders aussehen kann, als er eben ist. […] Der moderne Motor ist konkret, der alte dagegen abstrakt. Im alten schaltet sich jedes Element zu einem gegebenen Moment in den Arbeitsvorgang ein und hat danach auf die anderen keinen Einfluss : Die Einzelbestandteile des Motors gleichen Personen, die nacheinander ihre Arbeit verrichten, aber einander nicht kennen. «956 954 So die Darstellung Erich Hörls, » Wissen im Zeitalter der Simulation «, S. 100. 955 Jean Baudrillard, Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen, Frankfurt am Main 1991, hier S. 10f. 956 Gilbert Simondon, zitiert nach Baudrillard, ebenda, S. 12.

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Zur Herleitung, inwiefern dieses Zitat bei Baudrillard irreleitend ist, müssen wir etwas ausholen. Mit Simondon, so nimmt dieser an, gebe es eine primitive Art der technischen Objekte, die abstrakt ist; jede technische Einheit bestehe darin in elementarer Weise für sich und könne modular bzw. akkumulativ in einen größeren Zusammenhang gebracht werden. Bei der fortschrittlicheren Technik nun ändert sich dieses Verhältnis vom Teil zum Ganzen, vom Element zum System. Die Komponenten verkörpern nicht mehr eine Funktion, sondern können eine Vielzahl an Rollen in unterschiedlichen Funktionszusammenhängen spielen. Sie verkörpern also zahlreiche differentielle Funktionen und bilden keine vom Gesamtzusammenhang unabhängigen Teile mehr. Im Konstruktionsprozess werden sie in ein Ganzes integriert und erfahren dabei mehrfache Codierungen. Anders formuliert : Sie spielen unterschiedliche funktionale Rollen in unterschiedlichen Funktionszusammenhängen innerhalb eines technischen Gebildes. Simondon charakterisiert das wie folgt : » The concrete technical object is one which is no longer divided against itself, one in which no secondary effect either compromises the functioning of the whole or is omitted from that functioning. In this way and for this reason, in a technical object which has become concrete, a function can be fulfilled by a number of structures that are associated synergetically, whereas in the primitive and abstract technical object each structure is designed to fulfil a specific function and generally a single one. «957 Um die Verschiebung in Baudrillards Denken aufgrund der Lektüre von Simondons Text Du mode d’existence des objets techniques (1958) nachvollziehen zu können, sollen nun dieselben mathematik-philosophischen Überlegungen eine entscheidende Rolle spielen, die ­Deleuze in seiner Philosophie als » Dialektik des Differentials « entwickelt. Dafür ist die deleuzianische Unterscheidung von Differenzierung und Differentierung tragend : Während Erstere die Unterscheidung der Dinge untereinander betrifft, betrifft Letztere ein Unterscheiden das sich in den spezifischen und individuellen Potenzen abspielt, die einem Ding eigen sind : Die Gültigkeit der gliedernden Einteilung der seienden Dinge erhalte ihre volle Gültigkeit wenn diese nicht nur » der Breite nach in der Differenzierung der Arten ein und derselben Gattung liegt, sondern der Tiefe nach in der Ableitung und Potenzierung, schon in einer Art Differentierung «958, und er fährt fort : » In einer seriellen Dialektik werden sodann die Potenzen einer Differenz lebendig […] «959 Auch Simondon spricht von diesem Konkretisierungsprozess als einem » Prozess der Differentierung «960, und zwar mit einem t geschrieben. Simondon 957 Gilbert Simondon, On the Mode of Existence of Technical Objects, S. 30. 958 Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 243. 959 Ebenda. 960 Gilbert Simondon, Du mode d’existence des objets techniques, S. 27.

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wählt nicht die bekannte Bezeichnung aus der Kategorienlehre, sondern verwendet einen mathematischen Begriff, welcher zusammen mit der Bedeutung von Konvergenz in seiner Theorie einen eigenen Referenzrahmen eröffnet, den allerdings erst Deleuze weithin dem philosophischen Diskurs zugänglich gemacht hat.961 In der Mathematik bezieht sich dieser Referenzrahmen auf den Umgang mit unendlichen Reihen in der Differentialrechnung. Es geht darum, herauszufinden, ob die Entwicklungslinien von zwei durch ein Differential zueinander ins Verhältnis gesetzte Wertereihen als differentielle Serie irgendwann in einem Grenzwert konvergieren oder ob sie bis ins Unendliche als zwei Reihen einer Serie divergieren. Simondon erkennt in diesem Denken Möglichkeiten für eine evolutionstheoretische Sicht auf die Genesis unterschiedlicher » technischer Spezien «.962 Seinen Konkretisierungsprozess beschreibt er nun als fortschreitende Integration – und zwar im mathematischen Sinn – von Funktionen und Funktionszusammenhängen. Die Integration im mathematischen Sinn sucht nach den sogenannten Stammfunktionen einzelner Funktionen; deren Auffinden bedeutet nicht die Einführung einer Strukturgleichheit im Konkreten, sondern die Erlaubnis, dadurch vielmehr auf kohärente Weise Aussagen machen zu können, ob bestimmte Funktionen – wenn sie als Differential zu einem System zusammengeschlossen sind – wiederum eine konvergierende Serie bilden oder nicht. Im positiven Fall, also falls sie eine konvergierende Serie bilden, spricht man betreffend eines Systems von homogenen Funktionen, jedoch in dem präzisen Sinn, als dass sie sich aus einer Stammfunktion ableiten lassen, die als ihr gemeinsamer » Herkunftsort « zu verstehen ist. Simondon leitet aus diesen Überlegungen eine Vorstellung darüber ab, wie man technische Objekte in Genealogien begreifen könnte, die ihnen jeweils eigen sind, gewissermaßen als fantastisch-mathematischer Herkunftsort der Templates, deren Instanzen sie sind. Er bespricht solche Herleitung anhand zweier experimenteller Gestalten ein und desselben technischen Elementes, der Elektronenröhre, einmal der sogenannten crookschen Röhre und deren Weiterentwicklung als Coolidgeröhre. Simondon schreibt : » Thus, these two examples tend to show that differentiation proceeds in the same direction as the condensation of multiple functions in the same structure, because the differentiation of structures at the core of a system of reciprocal causalities allows for the suppression (by integration into the 961 Gilles Deleuze, Differenz und Repetition. 962 Folgt man der Darstellung Deleuzes, so muss Simondon – wohl wie Deleuze selbst – von Maimons Kritik an Kants Transzendentalphilosophie inspiriert gewesen sein. Dieser hatte, noch als Zeitgenosse Kants, das Defizit des kantschen Systems herausgestellt, nichts über das Moment der Entstehung der transzendentalen Formen sagen zu können. Seine Hinweise verwiesen bereits damals auf diesen Kontext der Analysis, auf eine strukturelle Interpretation des Differentials als Denkfigur. Vgl. dazu Salmon Maimon, Versuch über die Transzendentalphilosophie.

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functioning) of secondary effects that were formerly obstacles. «963 Die nicht willkommenen » secondary effects «, von denen Simondon spricht, sind jene Komplikationen, die sich ergeben, wenn man in gebildeten Funktionszusammenhängen mit Serien rechnet, die divergent sind und niemals in einem gemeinsamen Grenzwert konvergieren. So kann Simondon sagen : » The specialization of each structure is a specialization of positive, functional, synthetic unity which is free of unlooked-for secondary effects that amortize this functioning. The technical object improves through the interior redistribution of functions into compatible unities, eliminating risk or the antagonism of primitive division. Specialization is not achieved function by function but synergy by synergy. «964 Und ferner : » What constitutes the real system in a technical object is not the individual function but the synergetic group of functions. It is because of the search for synergies that the concretization of the technical object can be seen as an aspect of simplification. «965 Der Konkretisierungsprozess bei Simondon, als Prozess des Zusammenfügens verschiedener Funktionen und des Herbeiführens von funktionalen Konvergenzen, kann also nicht aufgrund einer additiven Logik verstanden werden – darin besteht Baudrillards Missverständnis, wie wir noch genauer sehen werden. Die Integrität und Existenzweise technischer Objekte Für Simondon bedeutet der Konkretisierungsprozess einen » tatsächlichen technischen Fortschritt « im evolutionären Sinn : » Denn das wahre Problem der Technik besteht in der Herbeiführung von Konvergenzen der Funktionen im Rahmen einer strukturierten Einheit und nicht darin, Kompromisse mit einander widersprechenden Leistungsträgern zu schließen. «966 Diese Unterscheidung von additivem Zusammenfügen und dem Herbeiführen von Konvergenzen hat tief greifende Konsequenzen, welche die Bestimmung des ontologischen Status technischer Objekte betreffen. Simondon entwickelt eine » Genealogie « technischer Objekte und spricht diesen eine eigene Geschichtlichkeit wie auch eine eigene Seinsweise zu. » [A]lthough we live in a world saturated by technology «, so fasst Henning Schmidgen Simondons Anliegen zusammen, » we still have difficulties to grasp the ontological status of technological objects. «967 Simondon folgt mit diesem Anspruch einer » philosophy of machines « Georges Canguil963 Gilbert Simondon, On the Mode of Existence of Technical Objects, S. 30. 964 Ebenda. 965 Ebenda. 966 Simondon, zitiert nach Jean Baudrillard, Das System der Dinge, hier S. 13. 967 Henning Schmidgen, » Thinking technological and biologial beings : Gilbert Simondon’s philosophy of machines «, Vortrag, gehalten am Max Planck Institute for the History of Science in Berlin, am 27.08.2004, online : www.csi.ensmp.fr/WebCSI/4S/­download_ paper/[+]download_paper.php ?paper=schmidgen.pdf (10.04.2009).

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hem, der in seinem Vortrag mit dem Titel » Machine et organisme « (1946/47) für eine Philosophie der Technik argumentiert hat, die sich an der Biologie orientieren soll statt an der (klassischen) Physik.968 Dieser Vorschlag stand in der (minoritären) Tradition eines Nachdenkens über Technik, das Jacques Lafitte 1932 als » Wissenschaft der Maschinen « bzw. als » méchanologie « bezeichnet hatte.969 Es sei falsch, so fasst Canguilhem das gemeinsame Anliegen zusammen, von der logischen Priorität physikalischen Wissens auszugehen, primär sei vielmehr das chronologische und biologische Wissen, um Maschinen adäquat zu theoretisieren. Technik galt ­Canguilhelm als Inbegriff dessen, was die Protagonisten der mécanologie in aller Konsequenz zu Fragen nach dem Verhältnis von Technik zu Werten, zu Ethik also, führte. Wohl wissend, dass die Maschine » out of a purely Dionysian aspiration « entstehe, » capable of existing in radical isolation from other aspects of life «, werde gleichzeitig die Frage nach der Möglichkeit einer Metaethik unausweichlich, nach einer » awareness of value beyond the current perception of humanity, advancing together with it in a process of convergence «, so John Hart.970 Insbesondere Canguilhems Vortrag erfuhr im Frankreich der Nachkriegszeit eine große Resonanz. Seine Ideen wurden beispielsweise von André Leroi-Gourhan, Raymond Ruyer und eben auch von Simondon rezipiert. Letzterer hat in seinem Buch über die Existenzweisen technischer Objekte zentrale Ideen aus Canguilhems Vortrag aufgegriffen und weiterentwickelt mit dem Ziel, wie Henning Schmidgen darstellt, einer » general phenomenology of machines «.971 Nur kurz soll der zeitgeschichtliche Kontext hier skizziert werden, hauptsächlich die entscheidende Abgrenzung zur Kybernetik, die zur selben Zeit mit den Macy-Konferenzen, die zwischen 1946 und 1953 in den USA stattfanden, entstand. Diese Abgrenzung besteht, kurz gesagt, in unterschiedlichen Inspirationsquellen für die Formulierung von Modellen zur Theoretisierung der Veränderungen im Zuge der Entwicklung von Informationstechnologien. Simondon erhielt 1963 den Lehrstuhl für Psychologie an der Université de Sorbonne und übernahm kurz darauf auch die Leitung eines 968 Georges Canguilhem, Machine et Organisme, Connaisance de la Vie, Paris 1952. 969 Jacques Lafitte, Réflexions sur la science des machines, Paris 1932, hier zitiert nach dem Vorwort von John Hart zur englischen Übersetzung von Simondons Buch Du mode d’éxistence des objets techniques, S. iv. Es fanden in Paris verschiedene Konferenzen dazu statt, die zweite ist dokumentiert in : Cahier du Centre Culturel Canadien, Nr. 4, Deuxième Colloque sur la mechanologie, Paris 1976. 970 John Hart, Vorwort zu : Gilbert Simondon, On the Mode of Existence of Technical Objects, S. iv. Hinsichtlich der Forderung nach einer Metaethik bezieht sich Hart hier auf ein Buch von Mary Daly, Gynecology, the metaethics of radical feminism, Boston 1987. Diese Idee taucht bei Sloterdijk wieder auf, der in einem verwandten Sinn einen philosophischen Begriff der » negativen Gynäkologie « entwickelt. Vgl. Peter Sloterdijk, Sphären I, S. 275–346. 971 Henning Schmidgen, » Thinking technological and biologial beings : Gilbert Simondon’s philosophy of machines «, S. 1.

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eigenen Labors für » generelle Psychologie und Technologie « am Institut de Psychologie Henri Piéron in der Rue Serpente. Sein Ansatz einer Technikphilosophie grenzt sich deutlich ab gegenüber den Ansätzen der Kybernetik, die – so seine grundlegende Kritik – mit einem unzureichenden Informationsbegriff operiere. Auf einer Konferenz in Paris mit dem Titel Le Concept de l’information dans la science contemporaine im Jahr 1964 war unter anderem der Begründer der Kybernetik, Norbert Wiener, eingeladen, um über den Informationsbegriff in den Wissenschaften einen Vortrag zu halten. Simondon übernahm dessen Einführung und schloss mit den programmatischen Worten : » In fact, historically, cybernetics appeared as something new directed to achieving a synthesis; in sum, we find ourselves brought back to the time of Newton, or to the time when the great philosophers were mathematicians or scientists in the natural sciences and inversely. This is doubtless the context in which it is now possible to listen to what Professor Wiener has to present to us. «972 In dieser freundlichen Einleitung ist alles enthalten, was es an Kontrast zwischen dem Denken der Kybernetik und demjenigen der Mécanologie gibt. Die Mécanologie sei nicht wie Wieners Kybernetik, fasst Hart zusammen, » a kind of successor to the natural philosophy of Newton, but, insofar as the parallel is valid, a successor to the Anatomia Universalis of Harvey. «973 Ruyer hatte bereits zuvor in seinem Buch La C ­ ybernetique et l’origine de l’information (1954) die in Simondons Worten anklingende Kritik als eine Kritik des Informationsbegriffs formuliert : Was aus allen mechanistischen Erklärungen ausgeklammert werde, seien die » values or valences controlling actions by a kind of axiological feedback analogous, but not reducible to the mechanical feedback or automata «.974 Dieser Hintergrund und die hier eben formulierte Kritik sind entscheidend, um mit unserer Ausgangsfrage nach dem Konzept der Konvergenz im Denken Simondons weiterzukommen. Baudrillard selbst widerfährt nämlich, so unsere Argumentation dahinter, just an diesem Punkt ein Missverständnis, welches ihn in diesem frühen Anfang seines Denkens zu denjenigen Problemen führt, denen er später mit vielen seiner wohlbekannten Konzepte wie demjenigen der Simulakra, der Hyperrealität et cetera begegnen wird. Das Bemerkenswerte an Simondons Einbezug der Wertefrage in einen wissenschaftlichen Informationsbegriff ist, dass er an einer rein 972 Gilbert Simondon, » Introduction of Norbert Wiener in Le Concept de l’information dans la science contemporaine «, in : Les cahiers du Royaumont, Collection Internationale sous la direction de M. Louis Couffignal, Paris 1965, S. 99, hier zitiert nach John Hart, Vorwort zu : Gilbert Simondon, On the Mode of Existence of Technical Objects, S. vi. 973 Hart, ebenda, S. vii. 974 Raymond Ruyer, La Cybernetique et l’origine de l’information, Paris 1954, hier zitiert nach Hart, ebenda, S. ix.

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formalen Definition von Information festhält. Erstaunlicherweise sind es gerade nicht weltanschauliche Lösungen,975 für die Simondon plädiert. Es sind genuin mathematische Lösungen, in welchen er die Frage nach dem Umgang mit Werten und deren Kompatibilität ohne Notwendigkeit für semantische Konkretheit als die Frage nach den Entwicklungslinien unendlicher Serien an differentiellen Werten verankert sieht. Dies ist auch der Grund, warum Deleuze später in Simondons Denken eine ganze Philosophie enthalten sieht – eine Philosophie, welche » die Existenz einer Disparation «976 zum Ausgang nehme, eine Weise zu existieren in der » mindestens zwei Größenordnungen oder Realitätsmaßstäbe « zusammenfinden, » zwischen denen sich die Potentiale aufteilen «.977 Der mathematische Begriff der Konvergenz ist, wie ausgeführt, mit dem Problem der Unendlichkeit verknüpft. Mit der von Leibniz und Newton parallel entwickelten Theorie der Differential- und Integralrechnung hatten beide gleichzeitig und erstmals die Möglichkeit eines mathematisch kontrollierten Umgangs mit der Unendlichkeit eröffnet. In Stewarts Darstellung mathematischer Probleme, Themen und Fragen nennt er das Unendliche den » Wunderkrug der Mathematik «, weil seine Inhalte buchstäblich unerschöpflich seien.978 Selbstverständlich ergeben sich aus der Vorstellung von dem Unendlichen seit jeher Paradoxien. Und diese Paradoxien machten es in der Tat sehr plausibel, so Stewart, warum unsere Vorfahren gezwungen waren, » mit Schlüssen, die Bezugnahme auf das Unendliche beinhalten, äußerst vorsichtig zu sein «.979 Während Leibniz für die von ihm postulierte Variante des Umgangs mit dem Unendlichen eine eigene Klasse von Zahlen für die infinitesimalen Werte angenommen hatte, wählte Newton einen anderen Weg. Ihm war klar, dass das Einführen einer neuen Klasse von Symbolen metaphysische Annahmen in die Differential- und Integralrechnung eingeführt hätte, was er verhindern wollte. Dies war natürlich auch Leibniz klar, nur hatte dieser in seinem Selbstverständnis als Philosoph damit nicht die Probleme, die sich für Newton als moderner Wissenschaftler ergeben mussten. Stattdessen berief sich Newton also auf eine » wissenschaftlichere « Lösung, indem er seine Analysen auf die geometrische Anschauung gründete. Schon daran wird deutlich, dass das Problem, welcher Notation man in der Analysis des Unendlichen 975 Zumindest sind sie es nicht in einem naiven, unmittelbaren Sinn. Allerdings war just eine der Fragen, die zur Ausdehnung der Grundlagenkrise der Mathematik hin zu einer Grundlagenkrise der neuzeitlichen Wissenschaften führte, die Vermutung, dass auch die Mathematik, zumindest seit den Neuerungen, die für die Krise verantwortlich waren, nicht mehr als wertfreier Bereich gelten könnte. Daraus erst ergab sich Husserls Problem, zwischen Weltanschauung und Wissen klar unterscheiden zu können. 976 Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 310. 977 Ebenda. 978 Ian Stewart, Mathematik – Probleme, Themen, Fragen, S. 78. 979 Ebenda.

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folgen sollte, nicht lediglich ein stilistisches war. Für die » Zähmung « des Unendlichen, die mithilfe der neuen Mathematik erfolgen konnte, war es von zentraler Bedeutung, dass der korrekte Umgang mit endlichen Zahlenreihen von einem Umgang mit unendlichen Reihen verschieden sein musste. Der entscheidende Punkt war der, dass eine unendliche Zahlenreihe nur dann für Berechnungen verwendet werden durfte, wenn sie in einem Grenzwert konvergierte. Das war die Antwort auf das Problem von Newton und Leibniz, die allerdings erst mit ­Augustin-Louis Cauchy und seiner Idee eines Limes gefunden wurde.980 Erst der Grenzwert als Konvergenzpunkt macht die importierte Unendlichkeit zu einer lokalen Unendlichkeit, zu einer Unendlichkeit, die sich mathematisch eingrenzen ließ. Orientiert sich eine unendliche Zahlenreihe nicht an einem Konvergenzpunkt, so divergieren die beiden Werte des gebildeten Differentials unkontrollierbar. Dieses Pro­ blem ist ebenfalls der Hintergrund für den bereits eingangs erwähnten Streit zwischen Jean-Baptiste le Rond d’Alembert und Leonhard Euler um die schwingende Saite bzw. um die Grenzen der Analysis.981 Was mit diesem Streit Mitte des 18. Jahrhunderts entbrannt war, hat sich um die Wende zum 20. Jahrhundert zu einer eigentlichen Grundlagenkrise der Mathematik entwickelt, die – zumindest in entscheidenden Aspekten – bis heute nicht entspannt ist. Stewart etwa weist auf die Brisanz der damit verbundenen Probleme speziell im Kontext der Ingenieurwissenschaften hin, die inzwischen mithilfe von Simulationswerkzeugen und der mathematischen Modelltheorie auch Modelle anhand der Methoden sogenannter Nichtstandardanalysis entwickeln. Die Modelltheorie ist eine Entwicklung der mathematischen Logik aus dem 20. Jahrhundert, in der Modelle von möglichen Axiomatiken erstellt werden : » In diesem Sinne ist die Koordinatenebene ein Modell für die Axiome der euklidischen Geometrie, Poincarés Universum ist ein Modell für die Axiome der hyperbolischen Geometrie usw. «982 Das hört sich erst einmal harmlos an. Aber ein Kurs in Nichtstandardanalysis sehe tatsächlich aus » wie eine Zurschaustellung von genau denjenigen Fehlern, die zu vermeiden wir unseren Studenten stets und ständig lehren «, präzisiert Stewart.983 Im Unterschied zur Standardanalysis gelten diese aber hier nicht als Fehler, sondern in entsprechendem formalem Rahmen als strenge Wahrheiten. Mithilfe der neuen Methoden werden ferner neue Phänomene entdeckt, darunter solche, die in der Anwendung von Bedeutung sind. Als Beispiel nennt Stewart etwa die sogenannte Störungstheorie, 980 Cauchy definierte den Limes in seinem Werk Cours d’Analyse von 1821 wie folgt : » Wenn die sukzessiven Werte, die einer Variablen erteilt werden, unbeschränkt gegen einen festen Wert streben, indem sie letzten Endes von ihm um so wenig abweichen, wie man will, so heißt dieser letztere des Limes aller anderen. « Hier übersetzt und zitiert nach Stewart, ebenda, S. 98. 981 Vgl. dazu auch Stewart, ebenda, S. 31ff. 982 Ebenda, S. 101. 983 Ebenda, S. 104.

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welche sich mit relativ kleinen Änderungen von Gleichungen befasst und heute wichtig ist, um herauszufinden, ob sich mit bestimmten Differentialen rechnen lässt oder nicht. Das heißt nichts anderes als : ob die Serien ihrer Zahlenwerte konvergieren oder divergieren. Bevor wir auf Simondon zurückkommen und das philosophische Gebäude, in dem er Technik theoretisiert sehen wollte, bedenken wir nun in aller Kürze, wie diese mathematischen Hintergründe mit den elektronischen Informationstechnologien von heute verbandelt sind. Das Buch von Cauchy, in dem er diese Bedeutung des konvergierenden Grenzwertes entwickelte, war schon für die Akzeptanz der Infinitesimalen Zahlen von großer Wichtigkeit. Doch mit dem Etablieren einer nochmals neuen Klasse von Zahlen, den sogenannt komplexen Zahlen, wurde es geradezu zur » Bibel « der nun nicht mehr nur reellen, sondern auch der komplexen Analysis.984 Diese neue Klasse von komplexen Zahlen führte einen zeichentheoretischen Riss in die Konzeption des Symbolischen ein. Diesen Riss beschreibt Siegert als » die Passage des Digitalen «.985 Er sieht in ihm die Grundlage, auf der sich die frühe Elektrotechnik bis zu ihren gegenwärtigen Ausprägungen überhaupt erst entwickeln konnte. Dieser Riss entstand zwischen Repräsentation und Repräsentiertem, im Fall der Mathematik also zwischen den Funktionen und den Reihenentwicklungen, die sie » darstellen «. Aus den Neuerungen, die sich daraus für die klassische Analysis ergaben, ging eine Analysis hervor, die mit referenzlosen Zeichen operierte und nicht mehr auf den transzendentalen Referenten der Physik bezogen war. Die Symbole dieser Analysis seien vielmehr selbst zu Medien geworden, so Siegert.986 In diesem Sinn sind es nicht erst die technischen Infrastrukturen von heute, die eine Verfügbarkeit dessen ermöglichen, was wir auf eigenartige Weise als unwirklich oder virtuell wahrnehmen : Schon Euler, auf den die wichtigsten Entwicklungen zur Gründung neuer Zahlenklasse zurückgehen, empfand Funktionsgleichungen, die mit Symbolen für komplexe Zahlen operierten, als durchaus » legitime Prozeduren «, obwohl auch er sie als » nicht ganz real « ansah. Der Individuationsprozess technischer Entitäten Wir sehen jetzt klarer, was mit Simondons Konzept der » Konvergenz verschiedener Funktionen « in Abgrenzung zu bloß additivem Zusammenfügen verschiedener, frei kombinierbarer Elementarfunktionen auf dem Spiel steht : Er sah in den neuen Möglichkeiten der elektronischen Informationstechnik die technische Entsprechung zur komplexen Analysis. Die mécanologistes kritisierten an der Kybernetik, dass sie frei sei von » values or valences controlling actions by a kind 984 Ebenda, S. 98. 985 Bernhard Siegert, Passage des Digitalen. 986 Ebenda, S. 211.

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of axiological feedback analogous, but not reducible to, the mechanical feedback or automata «987. Es ging bei dieser Kritik weniger um eine naive, lebensphilosophisch inspirierte Moralisierung gegenüber einer wie auch immer im Konkreten beobachteten Vorherrschaft des Rationalen. Und sie richtete sich auch nicht gegen einen postulierten Kategorienfehler bei der Anwendung von Konzepten aus der Biologie auf die Technik. In den erwähnten mathematischen Theorien fanden die mécanologistes vielmehr formale Prozeduren, welche die kritische Rolle nach wie vor als Bewertungsfrage begreifen konnten, ohne die ein oder andere Semantik damit dogmatisch zu importieren. So betrachtet, ließe sich freilich etwas spekulativ vermuten, sie hätten die in der Kybernetik zum Ausdruck kommende Rationalität nicht in ihrer Rationalität kritisiert, sondern darin, dass dieses Denken noch nicht rational genug sei. Deswegen erschien ihnen die Kybernetik stillschweigend im Begriff zu sein, die vernunftkritische Einsicht in die Notwendigkeit einer Vermittlung zwischen Empirismus und Rationalismus vollends zu verabschieden.988 So spricht beispielsweise Simondon Wiener zwar das große Verdienst zu, die Kybernetik überhaupt als umfassendes, interdisziplinäres Forschungsprogramm auf den Weg gebracht und somit zu den ersten induktiven Untersuchungen über Maschinen angeregt zu haben.989 » But «, so fasst Schmidgen zusammen, » following Simondon, he failed to define his research project in an appropriate manner «.990 Mit ihrem beschränkten Informationsbegriff könne die Kybernetik legitimerweise nur über eine bestimmte Art von Maschinen Aussagen machen, und zwar über solche mit einem mechanischen Feedback.991 In allen anderen Fällen kommen dabei Fehlschlüsse zustande, mit denen sich auch die Schule des Wiener-Kreises beschäftigen muss : Durch die Reduktion des wissenschaftlichen Gegenstandes auf den Bereich positiv objektivierbarer Untersuchungen – also unter der Ausklammerung dessen, wie die Integration von Werten vermittelt werden könnte – hat sich der Positivismus damit selbst als Glaubenssystem etabliert. Damit wird Wissenschaft selbst zum Prokrustesbett für eine » Bewertung « von Wissen, die allerdings nicht mehr vernunftorientiert ist und somit kritisch vollzogen wird. Sie operiert auf dem tautologischen Fundament, das 987 Raymond Ruyer, La Cybernetique et l’origine de l’information, hier zitiert nach John Hart, Vorwort zu : Gilbert Simondon On the Mode of Existence of Technical Objects, S. ix. 988 Es ist aufschlussreich, diese Gedanken mit dem Bild zusammenzubringen, das Galison vom kybernetischen Weltbild als dasjenige einer stillschweigen impliziten Ontologie des Feindes herausstellt. Das Ausklammern der kritischen Wertefrage erscheint in der Tat – historisch betrachtet – eng mit der Befindlichkeit eines Ausnahmezustandes verknüpft zu sein. Vgl. dazu Peter Galison, » Die Ontologie des Feindes : Norbert Wiener und die Vision der Kybernetik «, in : Michael Hagner (Hrsg.), Ansichten der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt am Main 2001, S. 433–488. 989 Henning Schmidgen, » Thinking technological and biological beings : Gilbert Simondon’s philosophy of machines «, S. 4. 990 Ebenda. 991 Ebenda.

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Wittgenstein in seinem Tractatus offengelegt hatte. Die Einwände der Kritischen Theorie in der Folge Theodor W. Adornos und Max Horkheimers richteten sich vehement gegen jenen Missstand in den sogenannt positiven Wissenschaften. In dieselbe Richtung argumentiert auch Hart in seinem Vorwort zu Simondons Buch über die Existenzweise technischer Dinge : » Cybernetics, in its short career as synthesis or umbrella of science, was driven by the same imperialism [wie die Wiener Schule, Anm. d. Verf.]. «992 Von Anfang an, so schreibt Simondon, habe die Kybernetik zur Klassifikation der von ihr beschreibbaren Maschinen theoretische Grundannahmen akzeptiert, die » all theory of technology must refuse : a classification of technological objects conducted by means of established criteria and following genera and species «.993 Seine Kritik richtete sich also nicht gegen die von Wiener postulierte Verschmelzung des Biologischen mit dem Mechanischen. Vielmehr scheint es ihm um die Problematik blind importierter Voraussetzungen aus einem wissenschaftlichen Paradigma gegangen zu sein, zu dessen Überwindung seine neue Theorie der Maschinen anregen wollte. Denn diese blinden Importe setzen eine » Naturalisierung « in Gang, die von exakt derselben Struktur ist, wie es die imperialistischen Rechtfertigungen der Politik im 19. Jahrhundert gewesen waren. Die prinzipiellen Einwände gegenüber der Technik, welche diese in der Folge Heideggers, Oswald Spenglers et cetera auf einer kategorischen Ebene kritisierten, mussten für Simondon als komplementierendes Pendant zum kritisierten Gegenstand erscheinen. In seinen Augen musste diese Situation vergleichbar gewesen sein zur Situation der frühen Analysis. Im 18. Jahrhundert stand tatsächlich die Forderung im Raum, dass aufgrund der erwähnten Neuerungen betreffend der genuin symbolischen Zahlen (komplexe, Quaterionen und andere) und ihren weltanschaulichen Folgen prinzipiell nur noch mit endlichen Reihen gerechnet werden sollte. Aber zur Zeit Eulers wussten kluge Köpfe wie d’Alembert wohlweislich, wogegen sich die von ihnen geforderte Beschränkung überhaupt richtet. Davon kann zur aufkommenden Zeit der Kybernetik und im positivistisch geprägten Klima dieser Zeit nicht mehr ausgegangen werden. Simondon scheint sich darüber zu empören, dass die Mehrheit der Wissenschaftler, mit denen er die Seinsweise technischer Objekte erörtern wollte, sich offenbar gar nicht mehr über die beschränkenden Voraussetzungen der eigenen methodischen Mittel bewusst war. Mit seinem Rückgriff auf diese andere Tradition mathematischen Denkens versuchte Simondon demgegenüber ein Theoriegebäude zu 992 John Hart, Vorwort zu : Gilbert Simondon, On the Mode of Existence of Technical Objects, S. ix. 993 Simondon, zitiert nach Schmidgen, » Thinking technological and biological beings : ­Gilbert Simondon’s philosophy of machines «, S. 4.

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erarbeiten, das Information weder im Horizont eines aristotelischen ­Hylemorphismus zu begreifen suchte noch sie, im Horizont kybernetischer Nachrichtentechnik, schlicht operational handzuhaben vorschlägt. Die Struktur seines Theoriegebäudes machte er von der Hypothese eines diskretisierbaren Feedbackverhaltens abhängig, das gewisserweise – und mit Ruyer gesprochen – auf einer axiologischen Ebene funktionieren sollte. Schmidgen umschreibt dieses Anliegen : » His [Simondons] point was that Wiener had made the wrong choice relying on a quasi-Linnean, stable classification. What Simondon was after was a dynamic theory of technology, i. e. a theory that would grasp technological objects in their development and their relation to inner and outer milieus or Umwelten. «994 Und er fährt fort : » Simondon did not want to start another botany of machines, he was interested in their individuation, development and evolution. «995 Bei dieser großartigen Absicht stellt sich natürlich die Frage, wie so etwas bewerkstelligt werden könnte. Beginnen wir mit einigen Ausführungen zu Simondons speziellem Interesse am induktiven Charakter von Techniktheorie, den er grundsätzlich auch in der Kybernetik erkennt und schätzt. Bei dem Problem, welches er gegenüber von Wieners physikalistischem Ansatz hervorhebt, geht es um Folgendes : » Species are easy to identify summarily for practical purposes «, schreibt er, und zwar » in so far as we are willing to understand the technical object in terms of the practical end it is designed to meet. «996 Eine solche Unterscheidung von Spezien sei allerdings prinzipiell irreleitend, denn es sei nachgerade niemals der Fall, dass eine » fixed structure corresponds to its defined use «.997 Es gibt also einen Interpretationsspielraum bzw. im Fall der technischen Evolution einen Entwicklungsspielraum zwischen der Struktur und einer bestimmten Instanz, welche von dieser Struktur aktualisiert wird. Der Wissenschaftstheorie, die sich heute mit der empirischen Forschung und somit mit einer einigermaßen angemessenen Methode der induktiven Erweiterung von Kenntnissen beschäftigt, ist dieses Pro­ blem inzwischen als das » Problem der empirischen Unterbestimmtheit « bekannt geworden. Es ist also nicht möglich, mit logischer Notwendigkeit von einer Struktur auf die Instantiierung einer konkreten Form zu schließen. Und ebensowenig ist es möglich, von konkreten Formen alleine auf eine notwendige strukturelle Herkunft zu schließen. Vielmehr, so Simondon, » can [we] get the same result from very different functionings and structures : steam-engines, petroengines, turbinengines powered by springs or weights are all engines; yet, for all that, there is a more apt analogy between a spring-engine and a bow or cross-bow 994 Schmidgen, ebenda, S. 5. 995 Ebenda. 996 Gilbert Simondon, On the Mode of Existence of Technical Objects, S. 11. 997 Ebenda.

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than between the former and a steam-engine; a clock with weights has an engine analogous to a windlass, while an electric clock is analogous to a house-bell or buzzer «.998 Und er zieht folgende Konsequenzen daraus : » Usage brings together heterogeneous structures and functions in genres and species which get their meaning from the relationships between their particular functions and another function, that of the human being in action. Therefore, anything to which we give a particular name – that of engine, for example – may, perhaps, be multiple even as we speak of it and may vary with time, as it changes its individuality. «999 Vor diesem Hintergrund geht Simondon davon aus, dass » if we wish to define the laws of the genesis of a technical object within the framework of its individuality and specificity, we had better not begin with its individuality or even its specificity but, rather, reverse the problem «.1000 Seine Theorie besagt, dass es möglich ist, die Eigenheit technischer Objekte zu definieren, aber nur, wenn man mit dem Kriterium der Genese beginnt und nicht versucht, dieses umgekehrt aus den anderweitig klassifizierten Ordnungen zu rekonstruieren. Hier gründet die tiefenstrukturelle Verwandtschaft zum Denken von Deleuze und Foucault. Simondon präzisiert : » An individual technical object is not such and such a thing, something given hic et nunc, but something that has a genesis. The unity, individuality, and specificity of a technical object are those of its characteristics which are consistent and convergent with its genesis. The genesis of the technical object is part of its being. The technical object as such is not anterior to its own becoming but it is present at every stage of its becoming. The technical object is a unit of becoming. «1001 Für eine mögliche und sinnvolle Einsortierung technischer Objekte sind also diejenigen Eigenschaften relevant, welche in ihrem Zusammenspiel von einer Konsistenz sind, so dass sie – analog zu den unendlichen Reihen – in einem Punkt » konvergieren «. Diesen Punkt konzipiert Simondon als genealogischen, den er allerdings – und darum geht die strukturelle Analogie von Konvergenz und unendlichen Reihen – in inverser Weise zum traditionellen Genesisdenken konzipiert. Der Konvergenzpunkt ist » Herkunftsort «, liegt aber zugleich nicht kategorisch in der » Vergangenheit « sondern dauert, als fortlaufend bestimmbares Template, durch die Gegenwart der ihm immer wieder neu entspringenden Individuationen an. Wie Simondon sich ausdrückt : » The technical object as such is not anterior to its own becoming but it is present at every stage of its becoming. «1002 Indem Simondon für das Verständnis der Genese technischer Objekte ihren Herkunftsort als Konvergenzpunkt annimmt, formuliert er einige 998 Ebenda. 999 Ebenda, S. 11f. 1000 Ebenda. 1001 Ebenda. 1002 Ebenda.

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ungewöhnliche Annahmen. Diese muss man hypothetisch erst einmal übernehmen, um seinem Denken den Kredit geben zu können, der nötig ist, um die Entwicklungen im Einzelnen nachvollziehen zu können.1003 Die auffallendste und sperrigste dieser Annahmen dürfte vielleicht die Vorstellung sein, genealogisches Denken wiederum auf einen » positiven Ursprung « zu beziehen. Würde man darin allerdings die Wiederkehr eines Denkens vermuten, welches Wesentliches von Unwesentlichem zu bereinigen suchte, wäre dies zweifellos voreilig. Wir wollen vielmehr vorschlagen, in Simondons Bestimmung solcher positiv bestimmbarer Ursprünglichkeit eine frühe Formulierung einer generischen Medialität zu finden. Denn in der Inversion dieser Denkbewegung, die Simondon vorschlägt, ist die Herkunft eines Einzelnen nicht primär gegeben, sondern sie entsteht korrelativ zum Prozess der Spezifizierung, die sich für ihn als Prozess der Individuierung darstellt. Die Individuierung entspricht einer Konkretisierung, und Simondon umschreibt diesen Prozess als » a convergence of functions within a structural unity «.1004 Hierbei ist entscheidend, das in aller Kürze eingeführte mathematische Frameset mitzudenken, aus dem er seine Konzepte und Begrifflichkeiten gewinnt. Denn es ist entscheidend für das Nachvollziehen seines Denkmodells, genau zu bestimmen, wie er den Begriff der Einheit hier verwendet, wie dieser in Bezug steht zu den konvergenten bzw. divergenten Serien, zum Konzept der Serie überhaupt, dem Konzept der Funktion und auch demjenigen der Struktur. » Konvergenz « – Grenzen des Konzepts im Sprachspiel des linguistischen Strukturalismus Baudrillard hebt wie Simondon die besagte Tendenz zur » strukturellen Einheit « von technischen Konkretisierungsprozessen hervor : » Die Technik schildert eine kurzgefasste Geschichte der Gegenstände, in der die funktionellen Antagonismen sich in Systeme höherer Ordnung dialektisch auflösen. «1005 Hier wird jedoch sehr deutlich, dass Baudrillard von einem anderen Strukturbegriff aus denkt, als Simondons mathematisch orientierter Strukturbegriff dies nahelegt. Denn Simondon beruft sich gerade nicht auf das dialektische Zusammenspiel der Funktionen. Für Simondon geht es um eine eigentliche und sich in offenem Zusammenspiel individuierende Integrität der je objektiven Seinsweise technischer Artefakte. Für ihn sind technische Objekte heterogene Disparsität, das uneinheitliche Erzeugnis eines 1003 Es wird in der Literatur vermehrt darauf hingewiesen, dass die Sprache von Simondon außergewöhnlich sei, dass er Bezüge zwischen Bereichen aufspanne, die zusammenzudenken man nicht gewohnt ist. Es scheint plausibel, dass zu diesen Schwierigkeiten speziell auch die von ihm geforderte Inversion des herkömmlichen Denkschemas gehört. 1004 Hier zitiert nach Henning Schmidgen, » Thinking technological and biological beings : Gilbert Simondon’s philosophy of machines «, S. 7. 1005 Jean Baudrillard, Das System der Dinge, S. 13.

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evolutionären Prozesses, und dieser Prozess kann mit einer Betrachtung solcher Objekte als ihm rein funktionell dienende Instrumente, ohne eigenen Wert über ihre elementare Bedeutungsdimension innerhalb dieses Ganzen hinaus, nicht eingeholt werden. Er schreibt : » To bring about the understanding of which we speak, we might attempt to define the technical object in itself by a method of concretization and of functional over-determination, proving that the technical object is the end-product of an evolution and that it is something which cannot be considered as a mere utensil. «1006 Um diesen Prozess der Genese greifbar zu machen, unterscheidet Simondon unterschiedliche Modalitäten in der Existenzweise technischer Objekte auf drei Ebenen, die sich allesamt gegenseitig bedingen und hervorbringen : eine Ebene des Elements, eine Ebene der Individuelle, und eine Ebene der Ensembles. Damit schafft er – in seinem Denkmodell – eine differenziertere Grundlage, auf welcher er die unterschiedlichen Ebenen des evolutionären Prozesses in ihrem Entwicklungszusammenhang auf diskrete, über die Zeit hinweg verteilte Weise, differentiell zu fassen versucht : » The modalities of this genesis make it possible to grasp the three levels of the technical object and their temporal, non dialectic coordination : the element, the individual, and the ensemble. «1007 Es ist nur vermeintlich, dass Baudrillard Simondon in dieser Denkbewegung folgt, wenn er sagt : » Jeder Übergang von einem System in ein anderes, straffer integrierteres, jede Umgliederung eines bereits strukturierten Systems, jede Synthese der Funktionen, kehrt eine Bedeutung hervor, eine objektive Gültigkeit, die ohne Bezug auf die Individuen ist, welche sich ihrer bedienen. «1008 Bemerkenswert ist nun, wie sich diametral entgegengesetzte Akzentuierungen hinsichtlich der Freiheitsgrade auf der simondonschen Ebene des » Individuums « ergeben, und zwar je nachdem, ob man von der Betrachtungsebene des » Elements « aus denkt wie Baudrillard oder von derjenigen des » Ensembles « aus wie Simondon. Beide verstehen die fortgeschrittene Integration als » functional overdetermination «, sonst könnten sie ja gar keine größere strukturelle Einheit von technischen Konkretionsprozessen ins Auge fassen. Für Baudrillard aber, der von der freien Verfügbarkeit des Elements in einem homogenen Ganzen aus denkt, bringt der Konkretionsprozess eine » straffere Eingebundenheit « der unabhängigen Elemente mit sich. Im Verbund mit anderen büßen die Elemente notgedrungen in der Weise, wie sie eingesetzt werden könnte, an Flexibilität ein. Baudrillard vertritt damit eine Sicht auf Technik, welche diese auf objektive Gegenstände ohne eigene Integrität reduziert; technische 1006 Gilbert Simondon, On the Mode of Existence of Technical Objects, S. 8. 1007 Ebenda. 1008 Jean Baudrillard, Das System der Dinge, hier S. 12.

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Dinge bedeuten ausschließlich in ihrer Zuhandenheit, ihrer Dienlichkeit und Nützlichkeit für uns etwas. Simondons gesamte Theorie hingegen zielt darauf ab, dieses Verhältnis zwischen Mensch und Maschine anders zu bestimmen : » Culture is unbalanced because, while it grants recognition to certain objects, for example to things aesthetic, and gives them their due place in the world of meanings, it banishes other objects, particularly things technical, into the unstructured world of things that have no meaning but do have a use, a utilitarian function. «1009 Während wir anderen Objekten im Namen der Ästhetik durchaus einen Eigenwert zuschreiben, so Simondon, würden wir dies hinsichtlich technischer Objekte gerade nicht tun. Er sieht hier die Quelle einer Angst vor Entfremdung, die man seiner Meinung nach zu Unrecht gemeinhin auf die Maschinen projiziert : » The alienation in question is not caused by the machine but by a failure to come to an understanding of the nature and essence of the machine, by the absence of the machine from the world of meanings, and by its omission from the table of values and concepts that are an integral part of culture. «1010 Für ihn ergibt sich daraus eine eigenartig widersprüchliche Haltung gegenüber technischen Objekten. Auf der einen Seite, so Simondon, wird diese Haltung technische Objekte » as pure and simple assemblies of material « behandeln, » that are quite without true m ­ eaning and that only provide utility. «1011 Auf der anderen Seite hingegen vermuten wir in den technischen Objekten eine bedrohliche Autonomie und » that they harbour intentions hostile to man, or that they represent for man a constant threat of aggression or insurrection. «1012 Simondon erachtet Technik als Teil der menschlichen Kultur und fordert eine entsprechende kategoriale Bestimmung, wie die Philosophie sie mit der Kategorie des Erhabenen auch für die ästhetischen Dinge zu entwickeln versucht. Es sei falsch, die Technik als etwas Inhumanes zu begreifen, so Simondon. Die Menschen seien vielmehr permanente » inventors « und » coordinators « der Maschinen : » The presence of man in regard to machines is a perpetual invention. Human reality resides in machines as human actions fixed and crystallized in functioning structures. These structures need to be maintained in the course of their functioning, and their maximum perfection coincides with their maximum openness, that is, with their greatest possible freedom in functioning. «1013 Vor diesem Hintergrund überwindet Simondon das Phantasma der totalen Verfügbarkeit, und die Freiheit im Konstruieren von Funktionszusammenhängen erscheint als eine – im kantschen Sinn – kritische. Es gibt Beschränkungen, von der diese Freiheiten des Konstruierens ebensosehr ermöglicht wie wiederum beschränkt werden, 1009 Gilbert Simondon, On the Mode of Existence of Technical Objects, S. 2. 1010 Ebenda. 1011 Ebenda, S. 3. 1012 Ebenda. 1013 Ebenda, S. 2.

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und zwar über verschieden Abstraktions- und Diskretisierungsstufen hinweg. Es wird nun verständlich, inwiefern der Prozess der Automatisierung, der gemeinhin als » essenzieller Wert « von Maschinen gilt, für Simondon einen anderen Stellenwert erhält : » Modern calculating machines are not pure automata; they are technical beings which, over and above their automatic adding ability (or decision-making ability, which depends on the working of elementary switches) possess a very great range of circuit-commutations «, und diese ermöglichen, » to programme the working of the machine by limiting its margin of indetermination «.1014 Die » margins of indetermination « nehmen mit dem Komplexitätsgrad der Integration innerhalb eines Funktionszusammenhangs zu. Im Unterschied zu einem akkumulativen Systemzusammenhang findet mit jeder Integrationsebene ein weiterer Abstraktionsschritt statt. Dieser hat den Effekt zur Folge, dass das, was hinsichtlich der einen Abstraktionsebene als elementares Konkretum gilt, gleichzeitig auch als Abstraktum gegenüber einer anderen, niedereren Integrationsebene gelten kann. Aus dieser Vielschichtigkeit ergibt sich die Mehrfachcodierung der Elemente, von der wir als Charakteristik der neuen technischen Objekte schon eingangs gesprochen haben.1015 Hören wir noch einmal Simondons Zusammenfassung : » The real perfecting of machines, which we can say raises the level of technicality [mit der Komplexität der Integration, die Simondon als zunehmende Konkretion beschreibt, Anm. d. Verf.], has nothing to do with an increase in automatism but, on the contrary, relates to the fact that the functioning of the machine conceals a certain margin of indetermination. «1016 Maschinen können unterschiedlich komplex sein, weil sie unterschiedlich abstrakt sein können, und so ist eine komplexere Maschine im Unterschied zu einem reinen Automatismus eine » open machine «, weil sie sich durch die unterschiedlichen Abstraktionsebenen, die sie integriert, einem oder mehreren übergeordneten » ensembles « eingliedern lässt. Hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Mensch und Maschine ergibt sich für Simondon daraus folgende Konsequenz : » […]the ensemble of open machines assumes man as permanent organizer and as a living interpreter of the interrelationships of machines. «1017 Die drei von Simondon vorgeschlagenen axialen Dimensionen von Element, Individuum und Ensemble, in denen er über die Existenzweisen technischer Dinge spricht, mögen gesucht erscheinen. Interessanterweise gibt es aber heute – anders als zur Zeit von Simondons Schreiben – einen ganzen Diskurs innerhalb der Medienwissenschaften, der sich exakt mit diesem Problem beschäftigt : die Intermedialitätsforschung. 1014 Ebenda. 1015 Eben dies führt auch zu den emergenten Effekten im Verhalten komplexer, dynamischer Systeme. Vgl. dazu unsere Ausführungen im Kapitel » Die Simulation : Ersatzoffenbarung oder epistemisches Werkzeug ? « S. 230ff. 1016 Gilbert Simondon, On the Mode of Existence of Technical Objects, S. 4. 1017 Ebenda.

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Wie lässt sich über die unterschiedlichen Weisen des Zusammenspiels medialer Ausdrucksformen analytisch sprechen, und zwar bei der gleichzeitigen Übereinkunft, dass spätestens mit der Frage, ob der Computer als » universelles Medium «1018 verstanden werden sollte, sich keine positive Einteilung in Arten nach aristotelischer Manier – nämlich » conducted by means of established criteria and following genera and species «1019 – mehr auf sinnvolle Weise vornehmen lässt. Simondon hat für diesen Diskurs wichtige Grundlinien bereits vorgezeichnet, selbst wenn seine Bedeutung bisher nur selten erkannt bzw. gewürdigt wurde.1020 Ausgehend von der elementaren Ebene interpretiert Baudrillard den Mechanismus, der in diesem Prozess systemischer Integration von ehemals Vereinzeltem wirksam ist, nicht mathematisch als » Differentierung «, sondern sprachstrukturalistisch als » Codierung «. Damit steht die Symbolizität dieses Codes nicht als algebraischer Term in einem rein symbolisch und reziprok zu bestimmenden Äquivalenz-Verhältnis, sondern in einem linguistischen Referenz-Verhältnis. Er betrachtet Simondons Denken durch die Brille eines an der Linguistik orientierten Strukturalismus. Damit importiert er ein ganzes Set an strukturellen Constraints, die es ihm lediglich erlauben, Simondons » Konkretisierungsprozess « als Resultat oder Ausdrucksform einer » technischen, wenn auch zeichenbasierten, Sprache « zu begreifen. Baudrillard denkt von der Ebene technischer Elemente aus und konzipiert diese analog zu den linguistischen Elementen, den Phonemen, als Techneme. Die neue Dimension technischer Objekte, ermöglicht durch das Auffinden der elementaren Einheiten mit der Elektrotechnik, beruht nach Baudrillard auf dem Kombinationsspiel dieser Techneme. Diese sind jedoch, aufgrund seiner Analogie zur Sprache, lediglich abstrakte Repräsentationen der eigentlichen Elemente, und nicht wie für ­Simondon, operativ symbolisierte Elemente. Vor diesem Hintergrund wird schließlich verständlich, warum die Konsequenzen, die Baudrillard aus seiner Betrachtung desselben Prozesses wie Simondon zieht, ihn zu völlig anderen Schlüssen anregten.1021 Alle Veränderungen der Umwelt seien 1018 Norbert Bola, Friedrich Kittler und Georg Christoph Tholen (Hrsg.), Computer als Medium. 1019 Vgl. dazu Simondons strukturähnlichen Vorwurf gegen den Kategorienbegriff in ­Wieners Kybernetik, von Schmidgen festgehalten : » Cybernetics only focused on a specific type of machines, i. e. machines with feedback mechanisms. More generally, Simondon stated : ›Right from the start, [Cybernetics] has accepted what all theory of technology must refuse : a classification of technological objects conducted by means of established criteria and following genera and species.‹ « Zitiert nach Henning Schmidgen, Thinking technological and biologial beings : Gilbert Simondon’s philosophy of machines, S. 4. 1020 Ausnahmen sind zum Beispiel : Gilbert Hottois, Simondon et la philosophie de la culture technique, Brüssel 1992; und Bernhard Stiegler, Technics and Time 1 : The Fault of Epimetheus. 1021 Genauso verhält es sich auch mit Stieglers Lektüre über Simondon, der mit Bezug auf Derrida von einer konkreten Grammatikalisierung spricht. Vgl. dazu Bernhard ­Stiegler, » Nanomutations «, und Technics and Time 1.

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» einer irreversiblen Tendenz zur formalen Abstraktion von Elementen und Funktionen entsprungen «,1022 so Baudrillard. Nur sieht er darin, anders als Simondon, eine » Tendenz, diese zu einem einzigen Vorgang zu homogenisieren, einer Tendenz, Gesten, Körper und Tätigkeiten in elektrische oder elektronische Befehle zu übertragen, einer Tendenz zur zeitlichen und räumlichen Miniaturisierung der Vorgänge […] «.1023 Baudrillard sieht in technischen Objekten, für die Simondon eine je zu differenzierende eigene Seinsweise fordert, lediglich Repräsentationen. Was Letzterer als Objekte zu beschreiben sucht, besteht für Ersteren nur aus technischen Formalisierungen. In diesen sieht Baudrillard formale Repräsentationen ohne eigene Integrität. Simondons Konkretisierungsprozess findet für Baudrillard damit a priori schon im Raum abstrakter Generalisierung statt und bildet aus seiner Perspektive in erster Linie einen Prozess der Standardisierung ab. Die fortschreitende Komplexität der Integrationsstufen technischer » Objekte « im Hinblick auf immer umfassendere Systeme – für Baudrillard : codierbare Strukturen und Infrastrukturen von Funktionszusammenhängen – wirken sich aus dieser Perspektive betrachtet als eine immer weiter um sich greifende Homogenisierung aus. Die Implementierung technischer Komponenten in unsere alltäglichen Dingumgebungen wirkt sich für Baudrillard folglich als zunehmende Tyrannei der Technik aus, mit den bekannten Konsequenzen : Entfremdung und Verarmung einer kulturellen Sphäre des Menschlichen gegenüber einem, mit Heidegger gesprochen, sich in Stand setzenden Gestell, das den menschlichen Verhaltensspielraum beschränkt und den kombinatorischen Optionen symbolischer Stellenwertlogik unterordnet. Stellenwertigkeit, in diesem abstrakten System des formal Codierten, ließe zwar eine exakte Bestimm- und Identifizierbarkeit dessen, was mit den » Technemen « artikuliert werden könne, zu.1024 Doch weil die Gliederungen aus Technemen die so erzeugte Identität technischer Objekte aus der Immanenz eines formalen Systems gewännen, fehle den Objekten zunehmend eine »  natürliche Umwelt «, in der sie »  mutieren « könnten, in der sie sich den Veränderungen des Laufs der Zeit adaptieren und neu ausrichten könnten.1025 Zwar könne man wohl, so fährt Baudrillard fort, von einer totalen formalen Beschreibung und Codierung der Dinge und deren Bedeutungszusammenhängen träumen und der Vorstellung folgen, die Welt der reellen Dinge sei damit als kontrollierte Rekonstruktion in den Griff zu bekommen – » aber es bliebe ein Traum «1026. Stattdessen beobachtet er die Entfaltung einer strukturellen Selbstbezüglichkeit in technisierten Umgebungen, deren Ergebnis er als » Transistorisierung 1022 Jean Baudrillard, » Die Ekstase der Kommunikation «, in : ders., Das andere Selbst, Wien 1994, S. 10–23, hier S. 15. 1023 Ebenda. 1024 Jean Baudrillard, Das System der Dinge, S. 14. 1025 Ebenda. 1026 Ebenda.

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der Umwelt «1027 beschreibt. Im Verlauf dieses Prozesses werde alles, was bisher die alltägliche Szene des Lebens ausgemacht hätte, als unnütz, unbrauchbar und » obszön « beiseite geräumt : » Bekanntlich verwandelt die bloße Präsenz des Fernsehens die Wohnung in eine Art archaische Behausung, in ein Überbleibsel aus menschlichen Verhältnissen, dessen Überdauern verblüfft. Seit dieser Schauplatz nicht mehr von seinen Akteuren und ihren Phantasmen in Anspruch genommen wird, seit sich das Verhalten auf bestimmte Bildschirme oder auf Operationen ausführende Terminals konzentriert, erscheint das Übrige nur noch als großer nutzloser Körper, den man verlassen und verdammt hat. Das Reale selbst erscheint nur noch als ein großer nutzloser Körper. «1028 In der » transistorisierten Umwelt « herrsche ein ökologisches Ideal vor : von Ausgewogenheit, von gut abgestimmter Funktionalität, von Einvernehmen zwischen allen Elementen eines einzigen Systems, von Kontrolle und globaler Führung eines Ganzen. Jede konkrete Umgebung sei eine ökologische Nische, die Baudrillard als » ein von Beziehungen durchzogenes Feld « betrachtet, » in dem alle Elemente in beständigem Kontakt miteinander stehen und über ihren gegenseitigen Zustand sowie über den des ganzen Systems informiert sein müssen, denn die Schwäche eines einzigen Elements kann zur Katastrophe führen «.1029 Auf seiner Stufenleiter der Abstraktion sind wir » nicht mehr Dramaturg oder Akteur «, sondern Menschen, die zum » Terminal « geworden sind, » in dem zahlreiche Netze zusammenlaufen «1030. Gemeinsam mit Simondon spürt Baudrillard zweifellos der Persistenz von etwas Unwägbarem nach, welches durch die technische Zusammenschaltung codierter Sinnbestimmungen und herausgestellten Funktionszusammenhänge1031 bestehen bleibt. Baudrillard spricht denn auch weniger von einem » Realitätsverlust « als von einer bedrohlichen » Transparenz der Welt «, die er als » Überbelichtung « charakterisiert.1032 Bedrohlich ist diese Transparenz für ihn durch » jene absolute Nähe « und ­paradoxerweise » jene totale Unmittelbarkeit der Dinge «1033, die unsere durch Informationstechnik und -medien geprägte Gegenwart kennzeichnet.1034 Deutlich wird hier 1027 Jean Baudrillard, »  Die Ekstase der Kommunikation «, S. 12. 1028 Ebenda. 1029 Ebenda. 1030 Ebenda, S. 23. 1031 Ebenda, S. 12. 1032 Ebenda, S. 23. 1033 Ebenda. 1034 Mit dieser Haltung vertritt Baudrillard im Kern eine verbreitete Haltung gegenüber von Technik. So charakterisiert etwa auch Sfez diese Entwicklungen in einem ähn­ lichen Sinn und spricht von einer eigentümlichen »  déréalisation realitrice «. Er beobachtet mit Baudrillard ebenfalls den Prozess einer schizophrenen wirklichkeitserzeugende Entwirklichung. Die Entwicklung dieses Prozesses macht er allerdings, anders als es in Baudrillards fatalistisch gefärbter Grundhaltung zum Ausdruck kommt, bezeichnenderweise nicht an den Medien oder der Technik selbst fest, sondern an den sozialen Prozessen, in die jene eingebettet sind. Vgl. dazu Lucien Sfez, Critique de la Communication, Paris 1990.

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sein weitgehend nicht hinterfragter Anspruch einer autonomen Beobachterperspektive gegenüber der Welt. So spricht er den Menschen » ökologische Nischen « zu » in der Sphäre des Technischen «, aus denen heraus wir gegen die von ihm postulierte, zunehmende » Verselbstständigung « und » Ermächtigung « des Technischen Widerstand leisten sollen : » Wenn die Welt fatal ist, sollten wir noch fataler als sie sein. «1035 Oder weiter fordert er : » Ist sie gleichgültig, sollten wir gleichgültiger als sie sein. Die Welt muss durch eine Gleichgültigkeit besiegt und verführt werden, die der ihren zumindest ebenbürtig ist. «1036 Gemessen am populären Status von Baudrillards Thesen und an der nachhaltigen Akzeptanz, die sie auch heute noch im medienwissenschaftlichen Diskurs erfahren, kommt zum Ausdruck, dass wir noch immer von der eigentümlichen Vorstellung dominiert sind, dass » die Menschen von der Evolution, der indifferenten Göttin des Werdens, nicht gemeint «1037 seien und wir uns gar gegen diese zu behaupten hätten. Eben diese Annahme aber, nämlich dass wir als Subjekte der Welt gegenüberstünden, beschreiben andere Stimmen im Mediendiskurs inzwischen als unhaltbar. Die Vorstellung von einer, noch einmal mit Baudrillard gesprochen, » autonomen Sphäre des Technischen «1038 wird mittlerweile weithin als unverantwortliche Haltung kritisiert.1039 Wenn allerdings Sloterdijk von dieser Annahme, dass Menschen Krone der Schöpfung und von der Evolution nicht betroffen sein sollen, als » Hominismus, der zu den Akten gelegt werden könne «1040 spricht, so formulierte er im Jahr 2004, was Simondon bereits in den 1940er-Jahren gefordert hatte, und wirkt dabei noch ebenso polarisierend wie jener damals. Vor diesem Hintergrund haben Simondons Worte bis heute nur an Aktualität gewonnen : »  The purpose of this study is to attempt to stimulate awareness of the significance of technical objects. Culture has become a system of defense designed to safeguard man from technics. This is the result of the assumption that technical objects contain no human reality. We should like to show that culture fails to take into account that in technical reality there is a human reality, and that, if it is fully to play its role, culture must come to terms with technical entities as part of its body of knowledge and values. Recognition of the modes of existence of technical objects must be the result of philosophic consideration. «1041 1035 Jean Baudrillard, »  Warum Theorie ? «, in : ders., Das andere Selbst, Wien 1994, S. 76–81, hier S. 77 1036 Ebenda. 1037 Peter Sloterdijk, Sphären I, S. 21. 1038 Jean Baudrillard, Das System der Dinge, S. 16. 1039 Vgl. beispielsweise Christoph Hubig, Die Kunst des Möglichen I; ders., Die Kunst des Möglichen II; Gerhard Gamm und Andreas Hetzel (Hrsg.), Unbestimmtheitssignaturen der Technik; Michael Giesecke, Von den Mythen der Buchkultur, hier insbesondere S. 401. 1040 Peter Sloterdijk, Sphären III, S. 274f. 1041 Gilbert Simondon, On the Mode of Existence of Technical Objects, S. 4.

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Mit etwas Distanz können wir zusammenfassen, dass die Existenzweisen technischer Objekte sich in den mathematisch und symbolisch strukturierten Transformationsräumen entfalten, die in der Form von reziprok formulierten Entsprechungsverhältnissen (mathematischen Gleichungen) aufgespannt werden können. Solche Transformationsräume gelten uns nach herkömmlichem Denken – das heißt ohne einen generischen Begriff von Medialität, wir wir abschließend argumentieren wollen – als abstrakte Räume von strikter Gleichwertigkeit. Doch die Integrationskraft von solchen Teil-Ganzheits-Verbünden variiert nicht nur kontinuierlich auf einer homogenen Skala, wie Simondon darlegt (und wie Baudrillard missversteht). Sondern es gilt, die Varietäten in den Blick zu nehmen, die sich in ihrer Integrationskraft in keiner kontinuierlichen, graduellen Weise von einander unterscheiden, sondern auf diskrete Weise, das heißt der Individualität wie auch der Art nach. Ein Medienbegriff, der generalisierend vorgeht, also typologische Arten voraussetzen muss, bevor er angewandt werden kann, muss deshalb von vornherein als limitiert gelten, um jenes so dringende, von Simondon früh herausgestellte allgemeine Desiderat ernst zu nehmen : dass nämlich die Existenzweisen technischer Objekte (was alles auch immer man als technisches Objekt oder Artefakt zu charakterisieren bereit sein mag) zum Gegenstand philosophischer Erörterung werden müssten. Ein Begriff von Medialität, der adäquater ausgestattet wäre für dieses Anliegen, müsste selbst so verfasst sein wie jene Existenzweisen technischer Objekte. Ein solcher Begriff von Medialität müsste sich wie die technischen Objekte auch in den mathematisch und symbolisch strukturierten Transformationsräumen entfalten, die in der Form von reziprok formulierten Entsprechungsverhältnissen (mathematischen Gleichungen) aufgespannt werden. Die Coda zu dieser Arbeit sucht nun einen solchen Begriff von Medialität in ersten Ansätzen zu skizzieren.

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Coda : Ein generischer Begriff von Medialität Alles hängt für einen Begriff von Medialität, der generisch wäre, und nicht nur generell, davon ab, wie man das Substrat begreift, in dem sich Medialität entfaltet. Wir konnten in den erfolgten Darlegungen zwei Pole ausmachen, von denen ausgehend man die Eigenart von Technik und/oder Medien sowie deren Rolle für den Ort des Lernens und auf dem Schauplatz des Wissens zu bestimmen sucht : erstens die immer nur negativ bestimmbaren Verweiszusammenhänge von linguistischen und interpretationsbedürftigen Zeichen, und zweitens die strikt geordneten und nur positiv bestimmbaren Verweiszusammenhänge funktionaler und interpretationsfrei berechenbarer Zeichen. Während man Medien gemeinhin mit Ersteren verbindet, so assoziiert man Technik gewöhnlich nahezu ausschließlich mit Letzteren. Demgegenüber wollen wir vorschlagen, Medialität als das nur operativ-symbolisch fassbare Differential von Zeichensituationen im Allgemeinen zu konzeptualisieren. Damit läuft man nicht Gefahr, den Begriff des Mediums von einer partikulären Repräsentation symbolgestützter und zeichenbasierter Vorgänge aus zu denken, wie dies etwa im Ausgang an das Buch, die Zeitung, das Fernsehgerät oder irgendein spezifisches technisches Objekt notwendigerweise geschieht, anstatt vom Prinzip der Genese dieser Vorgänge her. Bücher sind zunächst eben nur mit Zeichen bedrucktes Papier, das Fernsehgerät ein elektronisches Gerät zur Umwandlung bzw. Decodierung analoger Spannungsänderungen in eine dynamische bildliche Darstellung, und Computer sind elektronische Geräte zur Durchführung von binär-digital encodierten Vergleichsoperationen. So wie das Wasser in den Weltmeeren zunächst nur Wasser und das Gasgemisch darüber nur Luft ist. Für Wale beispielsweise ist Wasser nun aber genauso wenig nur Wasser, wie für uns Luft nur Luft ist. Wir sind wie die Wale in diesen Milieus seit Urzeiten immersiv eingebettet, unsere wie ihre Kommunikation hat sich darin evolutionär entwickelt. Die auf diese Milieus aufgeprägten Schwingungen, die buchstäblich

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evozierten Dichteschwankungen1042, werden zu Signalen, sobald ein potenzieller Empfänger vorstellbar wird, der dieses Signal gegenüber dem dazu relativ bestimmten Rauschen separieren kann. Dieses Separieren benötigt Modelle über das Medium und über eine subjektiv gegebene Menge von möglichen Signalen, aber es benötigt kein Modell für eine semantische Interpretation. Wir sind hier noch auf der Ebene der technischen, das heißt der vollständig formal bestimmten Information. Signale wiederum werden zu Zeichen, wenn ihre Interpretation innerhalb eines meist mehrschichtigen, kulturell gewordenen Regelwerks erfolgt. Bereits auf der Ebene der Signale wird dem Milieu eine neue Eigenschaft als »  tragendes Milieu «1043 zugeordnet. Der Luft kommt im Zusammenhang mit einem Aussenden von den darin möglichen Dichteschwankungen (etwa beim Sprechen) genauso eine Medialität zu wie im Fall der Wale dem Wasser. Zeichen wiederum entzünden sich nicht im Medium der Luft, vielmehr stellen Signale das Medium für Zeichen dar. Es ist offensichtlich, dass die zunächst physikalischen Besonderheiten tragender Milieus zwar die unmittelbar sich daraus ergebende Medialität im Sinne beschränkender Bedingungen (constraints) beeinflussen; mit fortschreitender höherer Schichtung jedoch verlieren sie zunehmend an Einfluss. Ein Wort bleibt ein Wort, egal ob es gesprochen, geschrieben oder in binäre Bits encodiert wird. Es wäre ein kategoriales Missverständnis, würde man nun Luft oder Wasser als das »  Medium « für ein »  Wort « auffassen. Es ist vielmehr so, dass das tragende Milieu für »  Wörter « nicht mehr in einer physikalischen Bestimmung aufgehen kann – jedenfalls nicht im Sinn von Gasgemischen oder anderen nicht explizit symbolisch gefassten »  Sensibilia «. Zunächst scheint es also, als ob ein »  Medium « einfach bestimmbar wäre als »  tragendes stoffliches Milieu «. Doch bereits hier geht es nicht um das Gasgemisch, sondern um die Dichteschwankungen, die sich zum einen in der Zeit entfalten, zum anderen jedoch Vergleichsoperationen implizieren. Schon das Signal muss vom Rauschen unterschieden werden.1044 Medialität lässt sich deshalb unmöglich auf die inerte Stofflichkeit oder die triviale Repräsentation als Formalismus begrenzen. Jedes spezifische Medium infundiert semantische Anteile in die in ihm 1042 Mit der Formulierung der »  Dichteschwankung « ergibt sich hier die Möglichkeit für einen Übergang in die am Konzept der Wahrscheinlichkeit orientierten Epistemologien über Information. Das Konzept der Dichteschwankung geht Gregory Batesons »  Unterschied « voraus und ist deshalb erheblich geeigneter, über Signale und Information zu sprechen, da die Formulierung »  Unterschied « bereits einen Interpreten voraussetzt. 1043 Wir ziehen hier die Formulierung »  tragendes Milieu « der Formulierung »  vermittelndes Milieu « vor, weil sie weniger doppeldeutig ist. 1044 Genau hier ist Claude Shannons sogenannte Informationstheorie angesiedelt, die nur eine Theorie über die Degradation von Signalen in rauschgefährdeten tragenden Milieus darstellt.

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ablaufenden Zeichensituationen, es verkörpert eine bestimmte Modulierung von Maßgabe. Medialität impliziert ein differentielles Verhältnis zwischen Signal (und den dazu gehörenden Horizonten), seiner Separation qua Interpretation (gemäß unterschiedlicher Sprachspiele) und dem Rauschen innerhalb des tragenden Milieus (als strömender Ereignishaftigkeit). Daher sind Medien nie neutral gegenüber den in ihnen möglichen Signalen, den in der Signalität umhüllten Zeichen und dem sich aus einer Zeichenwelt ergebenden Sinn. Zu den tragenden Milieus gehören nicht nur Gasgemische. Jede populationsartige Regelmäßigkeit, der eine Dichteschwankung oder eine Wahrscheinlichkeitsschwankung aufgeprägt werden kann, kann als Medium dienen. Damit sind – im gesellschaftlichen Sinn – insbesondere Rituale, Traditionen, aber ebenso Gewohnheiten im Allgemeinen gemeint. Im Fall von Sprachen, die in gewisser Hinsicht sich selbst – performativ – zum Medium machen können, wird die Sache nun etwas komplizierter. Die Trennung von tragendem Milieu, Signal und Zeichen bricht global gesehen zusammen und kann nur lokal in konkret kon­ struierten Kontexten aufrechterhalten werden. Die Persistenz solcher Kontexte und der in ihnen aufgehobenen Trennungen ist ihrerseits hochgradig variabel und in der Regel Gegenstand von Verhandlungen. Freilich verlaufen diese Verhandlungen entweder relativ schnell, oder sie sind durch ein Dekorum weitgehend vorbestimmt und so in ihrem Ablauf stark vereinfacht. Vor diesem Hintergrund bietet es sich an, Medialität als das Differential des Zeichens im Allgemeinen aufzufassen. Als Differential ist Medialität selbst also quasi so etwas wie ein »  ontologischer Operator «, der nur im Präspezifischen bestimmbar ist. Gleichzeitig ist Medialität mit und wegen dieser operativen Unbestimmtheit im Aktuellen, die wegen ihres konstitutiven Selbstbezugs jedoch im Virtuellen vollkommen bestimmbar ist, ein klimatisches Milieu der Aktualisierungsbedingungen von Neuigkeit : des Virtuellen der generischen Realität, die immer schon war und sein wird, die aber, in ihrer reinen Generik, buchstäblich nichtssagend ist. Erst das einhüllende Milieu der vermittelnden Aktualisierungsbedingungen des Realen bedingt und ermöglicht die Encodierung und Decodierung von Unterschieden. So wird plausibel, inwiefern Encodierung und Decodierung in Modellen zur Artikulation wurzeln, welche sich jedoch zwischen Absender und Empfänger durchaus massiv unterscheiden können, ohne dass der Signalcharakter der Dichteschwankung oder die Zeichensituation als solche gefährdet wäre. Die Modelle zur Artikulation verkörpern die vermittelnden Aktualisierungsbedingungen des Realen, und wir beginnen gerade erst damit, die vermeintliche Konstanz dieser Aktualisierungsbedingungen als determinierbare Invarianz zu begreifen. Invarianz lässt sich weder positiv noch negativ bestimmen, sondern nur über Charakterisierungen dessen, was durch beliebige Transformationen in einem Zusammenhang

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erhalten bleibt. Ihr eigentlicher Gehalt bleibt ein Arkanum (geheimnisvoll). In ihr spielt sich die Virtualisierung von Dialektik ab, welche die strukturellen Plätze von Negativität und Positivität symbolisch zu dramatisieren weiß : Anstelle der Negativität, in der linguistische Verweiszusammenhänge operieren, setzt sie die symbolische Form des Verhältnisses-an-sich. Die Position von unmittelbarer Positivität erschließt sich nur über die fantastische Vermittlung eines symbolischen Atomismus, dessen operatives Element – das symbolische Atom als operative Referenz für Ähnlichkeit – freilich dasjenige ist, welches nur gedacht werden kann. In einer virtualisierten Dialektik ist die symbolische Stofflichkeit die Positivität des Ideellen. Die Feststellung von Ähnlichkeit wird damit zum vermittelnden Akt per se. Die Vermittlung aber bleibt nicht länger auf die Pole einer konkreten Relation bezogen (etwa Sender und Empfänger, Autor und Leser, Priester und Gläubiger, Experte und Bürger), sondern richtet sich selbstreferenziell an das Geschehen, welches sie, sich selbst vermittelnd, charakterisiert. Ein Atomismus der Einbildungskraft vermittelt nicht, wie Platos geometrisches Atom (das Dreieck mit seiner irrationalen Diagonalen) unmittelbar messend zwischen den chiastisch verschlungenen Sphären des Intelligiblen und des Sensiblen. Er vermittelt aber auch nicht den Kreisgang in der Landschaft eines ringenden Gevierts, wie Martin Heidegger sich die Innigkeit zwischen der unbeschränkten Mächtigkeit des Kosmos und dem beschränkten, aber lernenden Vermögen des Weltlichen vorstellt. Ein Atomismus der Einbildungskraft vermittelt nur sich selbst und erzeugt damit das Element, in dem sich Sinn verteilen kann – wir haben es in unserer Einleitung das Städtische genannt. Das Städtische entsteht aus der Vermittlung von Kosmos, dem Ordnen nach Regelhaftigkeit und Welt, dem Walten des Disparsen. Der Charakter des Städtischen ist universell, unendlich großzügig, aber ebenso gebieterisch wie die physische Natur. Als chiffrierte intellektuelle Natur ist der Charakter des Städtischen in all den Weisen gegeben, in denen er sich artikuliert : in den technischen Objekten, von denen jedes die Nachricht von Neuigkeit ist. Das Städtische ist gebieterisch, weil es sich in zahlreichen Imperativen äußert, die alle notwendig und dennoch willkürlich die Entsprechung zu ihrem Diktat fordern. Denn jede Form von Technik verkörpert die Affirmation einer Frage, und Fragen drücken das Verhältnis der Probleme zu den Imperativen aus, aus denen sie hervorgehen. Für eine virtualisierte Dialektik sind die Probleme nicht von einer Entscheidungsgewalt zu lösen. Deleuze formuliert dies als ein »  fiat, das uns zu halbgöttlichen Wesen macht, wenn es uns durchfährt «1045. Und er führt aus, wie sich dieses fiat zur symbolischen Form des Verhältnisses im Allgemeinen verhält : »  Zählt sich 1045 Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 251.

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der Mathematiker nicht bereits zum Geschlecht der Götter ? «1046 Diese Frage ist nur verständlich, wenn wir uns auf seine Vorstellung von Philosophie als fantastischen Mathematismus besinnen. Die Mathematik formuliert Notwendiges, aber der Charakter der Natur dieses Notwendigen wird über das quantelnde Faktorisieren und gliedernde Formulieren der mathematischen Sätze erzeugt. Ein fantastischer Mathematismus affirmiert, dass der Charakter des Notwendigen nicht unabhängig von seiner Formulierung schon in der gleichen Weise real war, nur um, einmal verstanden, lediglich abbildend festgestellt zu werden. Er erachtet die Natur des Notwendigen als universell, aber in einer Weise, in der diese Natur vor allem eines hervorbringt : die Entscheidungsgewalt, welche eine Dialektik von Problemen überhaupt erst ermöglicht. Das Atom der Einbildungskraft muss die Anschauung erzeugen, die das Intelligible an einer Idee herauszuschälen vermag. Deleuze beschreibt näher, worin er die Verwandtschaft der Mathematiker mit den Göttern sieht : »  In den beiden grundlegenden Verfahren der Adjunktion und Verdichtung wird am höchsten Punkt jene Entscheidungsgewalt, die sich in der Natur der zu lösenden Probleme gründet, ausgeübt, da eine Gleichung ja stets im Verhältnis zu einem vom Mathematiker adjungierten idealen Körper reduzierbar oder nicht reduzierbar wird. «1047 Ein adjungierter idealer Körper, das ist in der algebraischen Gleichungstheorie die durch einen symbolischen Zahlenkörper ermöglichte Symmetriestruktur, in der ein als Gleichung formuliertes Problem seine Lösungen finden kann. »  Die idealen Adjunktionskörper, die ein Problem bestimmen, würden dem Willkürlichen ausgeliefert bleiben, wenn der Grundkörper nicht in Resonanz geriete, indem er sich all die durch den adjungierten Körper ausdrückbaren Größen einverleibt. «1048 Es ist entscheidend zu realisieren, dass jede Form von Technik in einer solchen symbolischen Symmetriestruktur gründet – die Wissenschaft und Kunst des Technischen besteht im Formulieren und im Artikulieren solcher Symmetriestrukturen. Symbolisch-artikulierbare Symmetriestrukturen sind nicht nur in dem Sinn bedeutungsvoll, als dass sie wahr oder falsch sein könnten, und auch nicht in dem Sinn, als dass sie prinzipiell möglich oder unmöglich wären. Denn die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit hängt von den Zahlen ab, mit denen wir rechnen können : erst einmal das Erdenken von Zahlen überhaupt, dann jenes der Null, der negativen Zahlen, der Verfahren zur Zahlreihenentwicklung, der Verfahren zum Umgang mit Grenzwerten (Infinitesimalien), der imaginären Zahlen oder eben auch der diversen algebraischen Zahlenkörper (sie werden in der Algebra bezeichnenderweise Ringe genannt). Sie alle erschließen immer neue Möglichkeiten zum Faktorisieren, Artikulieren und Formulieren von solchen 1046 Ebenda. 1047 Ebenda. 1048 Ebenda.

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Symmetriestrukturen – und damit Möglichkeiten für neue Formen des Technischen. Wichtig an diesem Konzept ist also weder die Wahrheit noch die prinzipielle Möglichkeit von bestimmten Symmetriestrukturen, sondern dass sie jeweils eine Verträglichkeit verkörpern, die unterschiedlich vermögend sein kann. Grundsätzlich gilt : Je abstrakter ein Problem formuliert ist, desto größer ist das Vermögen der Symmetriestruktur, heterogene und widerstreitende Elemente in den Termen der Entsprechungssätze (Gleichungen), deren Lösungen sie verkörpert, miteinander in einer symbolischen Verträglichkeit zu organisieren. Doch diese Entscheidungsgewalt im Kern der Probleme – von der sich die Dialektik nicht befreien kann und in der ihre Virtualität besteht –, sie ist dennoch nicht unsere eigene. Obwohl der Charakter der Natur des Notwendigen in den Symbolisierungen zum Ausdruck gebracht wird, sind wir als symbolisierende Mathematiker, Techniker, Vermittler einer Natur des Notwendigen unterworfen. Denn die Fragen, die uns durchdringen, entstammen nicht dem Ego, sie gehören zum Sein : »  […] jede Frage ist ontologisch und verteilt ›das, was ist‹, auf die Probleme. «1049 Einleitend haben wir vorgeschlagen, ein Sein der Objektivität von Nachrichten anzunehmen als ein Sein, das etwas von uns will. Was dieses Sein von uns will, darüber können wir nur rätseln. Aber wenn wir uns in diesem Rätseln als Rätselnde gewahr sind, können wir darüber eine kritische Distanz gewinnen zu den unmittelbaren Imperativen mathematischer Zeichenverbünde und deren technischen Artikulationen. Wir können die Singularität des Medialen auf die Singularität des Städtischen beziehen, indem wir beides als Chiffre auffassen, deren Decodierbarkeit von dem Vermögen, ihre Encodierbarkeit in fantastischmathematischer Weise zu denken, nicht zu trennen ist. Jede Nachricht ist, in diesem Sinne, ein Medium : eine generische Gestalt des Möglichseins – des Seins, sofern es etwas von uns will. Darin können wir die Herausforderung dessen verstehen, was es heißt, intellektuell und lebendig zu sein.

1049 Ebenda, S.253.

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