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German Pages 684 [685] Year 1991
Zur Architektonik der Vernunft
Zur Architektonik der Vernunft herausgegeben von Lothar Berthold
Akademie-Verlag Berlin
ISBN 3-05-000 758-3 Erschienen im Akademie-Verlag Berlin, DDR - 1086 Berlin, Leipziger Str. 3—4 © Akademie-Verlag Berlin 1990 Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: IV/2/14 VEB Druckerei „Gottfried Wilhelm Leibniz" 4450 Gräfenhainichen • 7229 Einbandgestaltung: Martina Bubner LSV: 0115 Bestellnummer: 754955 1 (9145)
Zum Geleit Der sechzigste Geburtstag von Manfred Buhr war Freunden des Jubilars, die unterschiedlichsten Traditionen und Philosophien verpflichtet sind, Anlaß zu Diskussion und Austausch ihrer Vorstellungen von der Aufgabe und der Zukunft der Philosophie in unserer Welt. Leitmotiv waren dabei die Fragen Kants: Was kann icb wissen? Was soll icb tun? Was darf icb hoffen? Was ist der Mensch? Sie sind gerade heute von brennender Aktualität. Diese Beiträge waren verstreut in den Bänden Pflicht der Vernunft, 1987 herausgegeben von H. Hörz, G. Kröber und K.-H. Schöneburg, in Fortschritt der Aufklärung, herausgegeben 1987 von H. J. Sandkühler und H. H. Holz, und in dem Vorgänger dieses Bandes unter dem Titel Zur Architektonik der Vernunft, herausgegeben 1987 von mir. Das Interesse, das diese Bände gefunden haben, hat uns in unserem Vertrauen in die Kraft der Vernunft, in das Ethos der Arbeit am Begriff und des Ringens um die Bewahrung der Vernunft und der Vernünftigen bestärkt und uns veranlaßt, Beiträge dieser Bände hier noch einmal zu vereinen. Allen sei gedankt, die zu diesem Band beigetragen und den begonnenen Dialog fortgesetzt haben: Tandem fit surculus arbor. Lothar Berthold
Ich verstehe unter einer Architektonik die Kunst der Systeme. . . . Unter der Regierung der Vernunft dürfen unsere Erkenntnisse überhaupt keine Rhapsodie, sondern sie müssen ein System ausmachen, in welchem sie allein die wesentlichen Zwecke derselben unterstützen und befördern können. Immanuel Kant 1781
Inhalt
D I E T E R HENRICH
(München) Konstellationen Philosophische und historische Grundfragen für eine Aufklärung über die klassische deutsche Philosophie 15 JACQUES D'HONDT
(Paris) Der Tod der Philosophie in Frankreich 32 ANTONIO GARGANO
(Neapel) Die gegenwärtige Krise der Philosophie und der Mut des Denkens 56
HANS JÖRG SANDKÜHLER
(Bremen) Das Recht der Menschen auf Wahrheit, Handeln und Hoffen 69 EDUARDO CHITAS
(Lissabon) Bemerkungen über eine Hohe Schule der Humanität 97 H E R M A N N KLENNER
(Berlin) Hegels Identität von Recht und Pflicht Eine Quellenaufbereitung 115 G E R H A R D OBERKOFLER/EDUARD RABOFSKY
(Wien) Juristen-Romanistik im NS-Staat 127 U L R I C H RÖSEBERG
(Berlin) Vernunft im Spannungsfeld von Konfrontation und Kooperation 151 JOHN ERPENBECK
(Berlin) Vernunft der Pflicht 160
8
ANDRÁS GEDÖ
(Budapest) Das dialektische Wissen der absoluten Vernunft im Widerstreit 170
TOM ROCKMORE
(Québec) Hegel und die gesellschaftliche Funktion der Vernunft 186
VALERIO V E R R A
(Rom) Das Unendliche der Vernunft 201
JAIME QUIJANO-CABALLERO
(Bogotá) Zur neuen philosophischen Übersichtlichkeit Über die gegenwärtige Wende in Rolle und Funktion der Philosophie aus der Zukunftsperspektive des lateinamerikanischen gesellschaftlichen Menschen 222
L U C I E N SÈVE
(Paris) Der Tancredi-Komplex 232 9
N I K O L A I IRIBADSHAKOW
(Sofia) „Dämmerung der Vernunft" oder: Krise der bürgerlichen Rationalität Die neue irrationale Welle in der bürgerlichen Ideologie und Kultur 243 K A R L - H E I N Z SCHÖNEBURG
(Potsdam-Babelsberg) Revolutionäre Demokratie als realisierbare Vernunft 261 HERBERT HÖRZ
(Berlin) Natur und Geschichte. Zur Kritik des flachen Evolutionismus 278 H U B E R T HORSTMANN
(Berlin) Erkenntnisfortschritt als Fort-Schreiten zum Konkreten 297 J Ö Z S E F LUKÄCS
(Budapest) Die Zeit des Mythos 307 HERMANN HENSELMANN
(Berlin) Baukunst und Weltanschauung 331 10
H A N ? HEINZ HOLZ
(Groningen) Was sind und was leisten metaphysische Modelle? 362 A L B E R T HEINEKAMP
(Hannover) Leibniz und das Glück 392 TEODOR IL'IC O J Z E R M A N
(Moskau) Zur erkenntnistheoretischen Problematik des Kantschen Apriorismus 41? M I L A N DAMNJANOVIC
(Belgrad) Handle sprachlich" — oder: Warum blieb die Sprache bei Kant unthematisiert? 433 J U H A MANNINEN
(Oulo) Ein Kant-Dialog. Feuerbach, Bolin und das „Grundproblem der neueren Philosophie" 445 REINHARD LAUTH
(München) Fichte in den Jahren 1802 und 1803 489 Ii
MASAO FUKUYOSHI
(Nagoya) Die „Einbildungskraft" in der Umstellungszeit Im Anschluß an J. G. Fichte 513 WOLFGANG H . SCHRÄDER
(Siegen) „Wir denken über keinen einzigen Begriff gleich" Die Auseinandersetzung zwischen Reinhold und Maimon 525 CLAUDIO CESA
(Pisa) Zwischen juristischem Sozialismus und sozialistischer Religion Die Diskussion über Fichte in Italien zu Beginn des 20. Jahrhunderts 553 DOMENICO LOSURDO
(Urbino) Die Französische Revolution und das Bild des klassischen Altertums: von Constant zu Nietzsche 564 JOSÉ BARATA-MOURA
(Lissabon) Materialismus und Idealismus in Carl Nicolai Starckes „Feuerbach" (1885) 580 12
SHLOMO AVTNERI
(Jerusalem) Moses Heß' Gesellschaftslehre als „Jung-Spinozismus" 599 ROBERT STEIGERWALD
(Frankfurt am Main) Philosophiehistorische Überlegungen 630 WOLFGANG EICHHORN I
(Berlin) Historische Dialektik und Epochendeutung Fünf Thesen zur Entwicklung gesellschaftlicher Formationen 662 Autorenverzeichnis 673 Personenregister 675
DIETER HENRICH
(München)
Konstellationen Philosophische und historische Grundfragen für eine Aufklärung über die klassische deutsche Philosophie
I. Historische Rechtfertigungen, Selbstdarstellungen und Spektren von Theorien Die Erforschung der Geschichte der Philosophie steht in einem anderen Verhältnis zum Gang des philosophischen Denkens als etwa die Erforschung der Geschichte der Physik zur weiteren Ausbildung der physikalischen Theorie. Schon die Gedanken der frühen griechischen Philosophie haben sich zu einem guten Teil als Kritik fehlgehender oder nicht verläßlicher Denkweisen entfaltet, denen sie entgegentraten oder mit denen sie konkurrierten. Piaton gewann Klarheit in der Entfaltung seiner Ideenlehre aus einer Übersicht über die Lehren der Philosophen, die ihm vorausgingen — über ihre Stärken und über den Grundmangel, der sie doch allesamt von der Dimension ausgegrenzt hielt, auf die sich das Denken eigentlich zu konzentrieren hätte. Aristoteles hat seine ontologischen Grundbegriffe zwar der natürlichen Sprache der Griechen abgewonnen — aber in einer Anstrengung, die sich zuerst gegen die Weise der Begriffsbildung richtete, die 15
Piaton, sein Lehrer, erarbeitet hatte. Die moderne Philosophie hat dann zwar viele Unternehmen heraufgeführt, das philosophische Denken einer der alten Wissenschaften (der Geometrie) oder der neuen Naturtheorie (der mathematischen Physik) anzugleichen. Doch die klassische deutsche Philosophie kam wieder zu der Einsicht zurück, welche sie mit der klassischen Philosophie der Griechen in eine neue Verbindung brachte: Die philosophische Grundlegung hat nach einem nur ihr eigentümlichen Verfahren zu geschehen. Und über dies Verfahren ist nur Klarheit zu gewinnen, wenn in einem damit Klarheit über den gesamten historischen Gang des Denkens erreicht wird — über seine guten Gründe ebenso wie über seine Verwicklungen und Irrwege. Kants Kritik ist zugleich eine Theorie der Denkmotive und ihrer Logik, aus denen sich zuvor die Positionen formierten, welche er „dogmatische" und „skeptische" nannte. Hegels spekulative Logik schließt fugenlos eine Theorie des Aufbaus aller historischen Gestalten der Metaphysik in sich ein. Kants und Hegels Überblick über die Geschichte der Philosophie läßt sich aus ihrem Selbstverständnis erklären: Sie wollten das Denken aus einer zuvor unvermeidlichen Gegenläufigkeit von Möglichkeiten auf eine sichere Grundlage stellen. Und sie meinten, diese ihre Grundlegung ergäbe nicht nur einen verläßlichen Methodenbegriff, der ja mit künftiger Theorienvielfalt vereinbar gewesen wäre, sondern ebenso auch schon den Grundriß eines Systems, das dauern müßte. Sie zielten somit auf einen Abschluß der philosophischen Denkanstrengung im Prinzip. Insofern aber der Methodenbegriff zugleich einen solchen definitiven Abschluß ergeben sollte, konnte der Umstand, daß er dem Denken bisher unzugänglich geblieben war, nicht als unerklärbarer Zufall oder aus dem Denken ganz fremden Bedingungen verstanden werden. Es mußte eine dem Denken, das mit seinem Begriff auch zu seinem Abschluß kommt, selbst eigentümliche Eigenschaft sein, nur in einer Anstrengung 16
gegen in ihm selbst begründete Täuschungsquellen oder bloß vorläufige und im Grundsatz unvollständige Konzepte seiner selbst zur Klarheit über sich gelangen zu können. Die Einsicht in die Geschichte seiner Herkunft aus einer selbst einsichtigen Folge von Weisen und Stufen, sich zu verfehlen, gehört somit zu dem eigentlichen Verstehen seiner selbst, zu dem das Denken erst in seiner Vollendung zu finden vermag. Da nun aber die klassische deutsche Philosophie selbst in die Geschichte des Denkens übergegangen ist, kann dieses ihr Selbstverständnis nicht weiter fortgeschrieben werden. Was auf sie folgte und vor allem was sich an sie anschloß, läßt sich nicht als Ausfluß der bloßen Unfähigkeit der Nachfolgenden verstehen, an dem wirklich erreichten Abschluß festzuhalten oder ihn doch immer aufs neue anzueignen. Und diese Denkfigur, an die sich zu binden orthodoxe Kantianer und Hegelianer nicht umhin können, ist durch die historische Verständigung über die eigentliche Verfassung der klassischen deutschen Philosophie, zu der wir zweihundert Jahre nach deren Beginn schließlich gelangt sind, am meisten ihrer Glaubwürdigkeit beraubt worden. Wir haben Kants Kritik und Hegels Logik mit einer Anstrengung durchsichtig zu machen versucht, die durch ihre Ausdauer und die Differenziertheit ihrer analytischen Mittel alles übertrifft, was Kants und Hegels Zeitgenossen aufwenden konnten. Sie mußten sich auf die in ihrer Zeit neuen Methoden und Systeme des Denkens unmittelbar einlassen, sei es im Anschluß an oder im Widerspruch gegen sie. Aus der Distanz zu ihnen und aus den Unzulänglichkeiten ihrer späteren Aneignungsgeschichte wuchs uns die Aufgabe, aber auch die Möglichkeit zu, ihre innere Formation in Jahrzehnten einer Bemühung nachzuzeichnen, die sich auf definitive Schlußfolgerungen nicht vorab oder doch alsbald festzulegen hatte. Dabei hat sich aber herausgestellt, daß auch die Begründer der klassischen deutschen Philosophie selbst nicht in schon vollendeter Klarheit über ihrem eigenen 2
Zur Architektonik
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Begründungsgang standen, daß sie ihre imponierenden Werke vielmehr auf der Grundlage einer unzulänglich reflektierten Methode und Weise der Systembildung ausgearbeitet hatten. So zeigte sich auch, daß diese Konzepte gerade in dem, wodurch sie Aufklärung über die Grundlagen des Denkens sind, aus ihrem eigenen Wortlaut nicht dauerhaft aufgeschlossen und nicht eindeutig oder gar überzeugend gemacht werden können. Sie bedürfen darum einer Wiederholung aus selbständig erworbenen Gesichtspunkten. Und die muß grundsätzlich dazu imstande sein, auch von ihrer Selbstdarstellung abzuweichen, um gerade dadurch erst, sei es den wirklichen Aufbau ihrer Begründungsform, sei es das bestmögliche Muster für einen solchen Aufbau in ihrem eigenen Sinne, zu erreichen. Wenn es sich aber so verhält, so ergeben sich Folgerungen für die Stellung der klassischen deutschen Philosophie in der Geschichte des Denkens, und zwar zum einen in Beziehung auf die ihr vorausgehende Denkgeschichte, zum anderen aber auch in der Geschichte ihrer eigenen Entfaltung. Zum ersten: Kant hatte ebenso wie Hegel die Klarheit in der Begründung der eigenen Grundtheorie mit der Übersicht über die vorausgehende Geschichte des Denkens verbunden — und zwar so, daß diese Übersicht aus der Klarheit und Überzeugungskraft der Begründung und Selbstbegründung in einer abschließenden Theorie ermöglicht und hergeleitet sein sollte. Ist aber die Abschlußtheorie ihres eigenen Methodenkonzepts selbst gar nicht wirklich mächtig, so daß es aus historischer Distanz sowohl neu gewonnen wie zu höherer Klarheit gebracht werden muß, so scheint sich das Verhältnis von systematischer Klarheit zu historischer Übersicht nunmehr in Richtung auf eine Umkehrung zu verschieben: Daß eine neue Grundtheorie eine Übersicht über die Wege des Denkens im Rahmen eines selbst wieder systematischen Konzeptes erlaubt, wird zu einem wesentlichen Moment ihrer eigenen Beglaubigung. Sie eröffnet eine Dimension 18
von Denken und Begründen, von der her sich die widerstreitenden Möglichkeiten zur philosophischen Theorie» die ein Bewußtsein unheilbarer Verwirrung und einer grundlegenden, aber nicht eigentlich faßbaren Mangellage nach sich zogen, als zwar nicht harmonischer, aber doch sinnvoller Gesamtzusammenhang darstellen. Und eben die Fähigkeit zu einer solchen Darstellung gibt nunmehr ein gutes Argument dafür ab, eine Grundtheorie auch dann für überzeugend oder gar unabweisbar zu halten, wenn die Weise, in der sie sich selbst theoretisch rechtfertigt, nicht zur vollen Durchsicht gebracht ist, wenn sie eigentlich kaum übersehbare Mängel in der Selbstdarstellung und Selbstrechtfertigung aufweist. Aus der Umkehrung in den Graden der Klarheit zwischeft historischer Rechtfertigung und systematischer Selbstdar»stellung sind aber, zum anderen, auch Folgerungen zu ziehen, welche unsere Verständigung über den historischen Prozeß betreffen, in dem die Methodenbegriffe und die Systemformen der klassischen deutschen Philosophie aufeinander gefolgt sind. Und es sind diese Konsequenzen, denen die folgenden Überlegungen zur Methodik der Erforschung der klassischen deutschen Philosophie vor allem nachgehen wollen. Traut man den Begründern ihrer Konzeptionen zu, die eigene Leistung ganz zu durchschauen und in einer angemessenen Selbstdarstellung zu beherrschen, so muß sich ein ganz anderes Bild von den Verhältnissen zwischen ihnen ergeben als dann, wenn man zu der Überzeugung gelangt, daß sie die Gründe, die sie zu ihrer Konzeption bewogen, weit besser verstanden als deren Aufbau und die inneren Bedingungen, kraft derer er zustande kommen konnte. Sieht man in den Begründern selbstgenügsame Heroengestalten des Denkens, so kann das Verhältnis unter ihnen nur nach einem der beiden folgenden Modelle gedacht werden: Ihre Konzeptionen sind entweder Alternativen, die zur Ent2»
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Scheidung gegeneinander stehen, oder notwendige, in sich selbst aber jeweils vollendete Stufen in einem Erkenntnisprozeß, der eben diese Stufen zu durchlaufen hat, um zu seinem eigentlichen Abschluß zu kommen. Kämen nun nur diese Modelle in Betracht, so müßten wir uns für das erste von ihnen entscheiden — also gegen Hegel und auch gegen die gegenüber Hegels Anspruch unentschiedene Mehrheit der späteren Historiker der Philosophie. Denn die Verständigung über die klassischen Systembildungen aus der historischen Distanz hat zumindest ergeben, daß die Gesamtleistungen von Kant, Fichte und Hegel nicht in eine lineare Zuordnung und eine einsinnige Abfolge gestellt werden können. Fichtes Wissenschaftslehre ist mit Kants Kritik durch ihre Orientierung am gnoseologischen Problem verbunden. Sie teilt aber mit Hegels Logik die methodische Fundierung durch eine Formalontologie, in welcher der Gegensatz, also eine Form von negativer Beziehung, eine ipit Kants Denken unvereinbare Grundstellung innehat. Andererseits ist Fichtes Ausgang von der Theorie des Erkennens und von Bewußtsein überhaupt ein entscheidender Grund dagegen, seine Gegensatzlehre zu einer spekulativen Negationstheorie auszubilden, der in Hegels Logik eine Schlüsselstellung zukommt. Insoweit sind alle drei Positionen also wirklich als inkommensurable Alternativen zueinander anzusehen. Darüber hinaus bleibt aber die weitergehende Einsicht in Kraft, daß keine der drei Konzeptionen zur vollen Durchsicht durch die eigenen Formationsbedingungen und damit zu einer dauerhaft haltbaren Selbstdarstellung ihrer methodischen und systematischen Verfassung gelangen konnte. Am ehesten ist dies noch Kant zuzugestehen, der die kritischen Hauptwerke am Ende eines langen Arbeitsganges, nicht in jugendlichem Alter und aus früh entschlossenem Zugriff, konzipiert hat. Aber seine Selbstinterpretation gewinnt ihre Überlegenheit nicht aus konziser, allseits gesicher20
ter und ausgiebig begründeter Methodenklarheit. Sie ist vielmehr Kants Besonnenheit zu verdanken, welche die Methodenbegriffe dort im Unbestimmten stehen läßt, wo sie sich ihm als unzugänglich für eine überlegte und theoretisch beherrschte Rechenschaftslegung erwiesen. Wir müßten imstande sein, die Einsatzpunkte und die Entfaltungsart aller drei Konzeptionen aus eigener, wenngleich von ihnen angeleiteter Kraft in ein stabiles Verhältnis zueinander zu bringen, wenn es uns gelingen sollte, den theoretischen Raum, der sich zwischen ihnen öffnete, auszumessen und in einer Theorie zu beherrschen, die nicht am Ende doch wieder auf unvereinbare und gar unbezogene Alternativen hin ausdifferenziert werden muß. Nun sind aber alle diese Konzeptionen zwar nicht Leistungen einer Generation, aber doch einer Epoche, die das Maß von dreißig Jahren nicht einmal erreicht. Durch diese Anzahl von Jahren pflegt man aber eine Generation zu definieren. Die Konzeptionen der klassischen deutschen Philosophie sind somit Leistungen von Zeitgenossen. Noch zur Lebzeit Kants und während er sich weiter um die letzte Fassung seiner transzendentalen Begründung mühte, hatten die Konzeptionen Fichtes und Hegels schon ihre letzte reife Form angenommen. Wenn wir sie aus der Distanz und ohne den Druck einer durch sie schlechthin bestimmten Problemlage nur nach einer jahrzehntelangen Anstrengung in ein angemessenes Verhältnis zueinander stellen können — um wieviel weniger war von ihren Zeitgenossen zu erwarten, daß sie zur Klarheit über die theoretische Konstellation und das Spektrum von Theoriemöglichkeiten hätten kommen können, unter denen sie ihre theoretischen Entscheidungen zu treffen und im Blick auf die sie einen auf Einsicht begründeten Lebensweg auszubilden hatten!
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II. Theoretische Konstellationen und, Konstellationen in Gesprächen J e tiefer wit uns in die Diskussionsgänge einarbeiten, über welche die Rezeption der Kantischen Kritik in die erste Ausbildung der folgenden System- und Methodenkonzepte hinüberwirkte, um so deutlicher werden die Auswirkungen der Unübersichtlichkeit jener für Zeitgenossen im Grunde unbeherrschbaren Konstellation. Die Debatte über Kants Vernunftkritik kam seinerzeit nur langsam in Gang. Sie wurde zunächst von den Vertretern der metaphysischen und der empiristischen Schulphilosophie aufgenommen. Sie haben sie mit der für solche Debatten bisher gewohnten gemächlichen Gründlichkeit eingeleitet. Doch bald kam in der Rezeption von Kants Kritik eine ganz andere Ton- und Gangart auf. Es wurde Ernst gemacht mit dem Bewußtsein, das auch Kants eigenes gewesen war: daß die Kritik nicht nur eine Stelle in der Theo riegeschichte besetzen würde, daß sie vielmehr der Geschichte der Menschheit zugehört, so wie die Werke von Luther und Rousseau. Diese Wandlung in der Rezeptionsweise wurde erst dann unvermeidlich, als Kants moralphilosophische Grundwerke erschienen waren. Denn in ihnen wurde vollends deutlich, daß die Kritik für den „gemeinen Mann" sprechen wollte, daß sie als Theorie zugleich auf eine Klärung und damit eine Befreiung seines Selbstbewußtseins und seiner Selbstinterpretation abzielte. So trat der Zusammenhang zwischen der Kritik auf der einen Seite und den großen Zeitfragen auf der anderen Seite ins Licht, welche nicht die Grundlagen der Erkenntnis, sondern die der Religion und des Staates betrafen. Mit Reinholds Anschluß an Kant und mit Jacobis erster Kantkritik war diese Umbildung der Anschlußweise an Kant vollzogen. In der Atmosphäre theoretischer Erregtheit, die so entstanden war, traten in schneller Folge und immer aus irgendeiner Anschlußnahme an Kant, die sie über alle Differenzen hinweg 12
miteinander verbunden hielt, die weiteren Konzeptionen der klassischen deutschen Philosophie hervor. Nur wenige von ihnen, vor allem die Konzeptionen von Fichte und von Hegel, haben ein theoretisches Gewicht, das dauerhaft dahin wirken wird, sie als Alternativen zu Kants eigener Theorieform in Erwägung zu halten. Damit war jene Konstellation eingetreten, die es ausschloß, von Zeitgenossen selbst in sichere Übersicht gebracht werden zu können. Die Einreden der alten Kritiker, um die sich nun neue Skeptiker und die Theologen scharten, die von der kritischen Philosophie herausgefordert waren, konnten sich, die der Skeptiker ausgenommen, kaum noch Gehör verschaffen. Auch wenn sie Argumentationen von Rang aufboten, standen sie doch abseits der Bahnen, in denen sich das Denken zu orientieren hatte: auf die Erkundung der Grundlagen und der ferneren Konsequenzen, die aus dem Kantischen Neubeginn in der Theorie ebenso wie in der Verständigung über Religion und Staat gezogen werden konnten. Und in diese Erkundung war jene Dringlichkeit, die Eile bei einem nicht zu vertagenden Geschäft, gekommen, welche zwar nicht der Forschung, wohl aber der Selbstverständigung auf einem gefährdeten Lebensweg eigen ist. In der Arbeit und im Wirken derer, die bei der Ausbildung der klassischen deutschen Philosophie auf ihrem weiteren Wege irgendeine Rolle gespielt haben, läßt sich diese Eile, die aus Orientierungsnot kommt, überall erkennen. Jeder von ihnen hatte zwischen seiner Begabung, seinem spezifischen Interesse, seinen Lebenskonflikten und auch zwischen seiner Vorsicht und seinem theoretischen Wagemut ein mehr oder weniger prekäres Gleichgewicht zu finden. Die aber mit wirklicher Konzeptionskraft und der Kraft zur Selbständigkeit auf ihrem Weg begabt waren, konnten in einer solchen Situation und in einer Zeit, deren Kürze erstaunen macht, Leistungen des Denkens aus sich heraussetzen, welche die Bedingungen ihres Ursprungs überragen, 23
obgleich deren Spuren auch in sie eingezeichnet geblieben sind — deutbar aber erst für die in unserer Zeit in Gang gekommene Forschung. Man darf solche Entstehungsbedingungen nicht schon vorab zum Einwand gegen die Glaubwürdigkeit dieser Leistungen machen. Es gehört zur Philosophie als solcher, daß in ihr die Konzeption einen Vorrang gegenüber der Forschung und der Ausbildung der Details hat — und zwar in einem Maße, das Philosophie deutlich von anderen theoretischen Disziplinen unterscheidet. Viele der großen Theorien der Philosophie sind Konzeptionen, die aus kritischen Lebenslagen und aus dem Zwang zur Verständigung hervorgegangen sind. Piatons, Descartes', Spinozas und Rousseaus Werk geben dafür Beispiele jenseits des deutschen Sprachraums. Und solcher Zwang ins Denken muß auch nicht zu dessen Befangenheit führen. Er kann das Problembewußtsein steigern und die Wachheit für die Entdeckung von möglichen Denkbahnen, die andernfalls nicht deutlich erfaßt und sicher nicht eingeschlagen worden wären. Dennoch haben im Falle der klassischen deutschen Philosophie besondere Umstände dazu geführt, daß die Nötigung ins Denken die Übersicht über seine Verfassung ausgeschlossen hat: die durch Kant schon zu extremer Höhe gesteigerte Problemlage, sein gänzlich neuer und von jeder etablierten Wissenschaft abgesetzter Methodenbegriff, die besonnene Verweigerung Kants, über die von ihm gebrauchte Methode eine durchsichtige Rechenschaft zu geben, die Verpflichtung jeder Konzeption, die Kant nachfolgte, auf die Engführung der philosophischen Grundtheorie mit einer Aufklärung über die eigentlichen Grundlagen der Religion und der politischen Freiheit. Man versteht aber nun, warum in einer solchen Situation der philosophischen Kommunikation eine besondere Bedeutung zuwachsen muß. Leibniz' System konnte in der Isolation und in der Form von Briefwechseln über Europa 24
hinweg ausgearbeitet und dargelegt werden. Noch Kant erarbeitete die Kritik am Rande der gelehrten Welt. An seinem Tisch war alles Thema einer ausgedehnten und gepflegten Konversation — mit der einen Ausnahme der Philosophie. Noch der Anfang von Fichtes Weg war der eines vereinsamten Hofmeisters. Aber die fernere Entfaltung der klassischen deutschen Philosophie ist von Lagen des Austauschs und des anhaltenden Gesprächs nicht abgehoben zu denken. Diese Gespräche waren angebunden an eine öffentliche Debatte in den weitverbreiteten Rezensionsorganen der Zeit, deren Tempo extrem beschleunigt war. Was aber in ihnen entschied, war doch die Verständigung im direkten und vertrauten Austausch oder im Blick auf die Leistungen von Mitstreitern und Freunden, mit denen man einst in solchem Austausch gestanden hatte. So erklärt es sich zu einem guten Teil, daß die weiterführenden Leistungen des Denkens nach Kant ihre Wurzeln an nur wenigen Orten hatten, die einen solchen Austausch in einer Situation der Orientierungsnot und der Öffnung neuer Denkbahnen begünstigten: unter Stipendiaten des Tübinger Stifts, an der Universität Jena, in Hölderlins Umkreis in Frankfurt und Homburg. Und daraus erklärt sich weiterhin, daß die Erforschung der klassischen deutschen Philosophie in der späteren Phase ihrer Ausgestaltung vor spezifischen Schwierigkeiten steht. Die Werke, die aus diesen Konstellationen hervorgingen, wurden jedermann zugänglich vor die Augen der Zeitgenossen und der Nachfolgenden gelegt. Aber die Evidenzen, von denen diese Werke ausgehen und die sie denkend auszuarbeiten suchen, wurden in Gesprächslagen und in Beziehung zu den Ideen und Positionsnahmen von Freunden gewonnen, die nur spärlich oder gar nicht überliefert worden sind. So ist eine Voraussetzung adäquaten Verstehens, diese Gesprächslagen aus dem Schatten der reif gewordenen Werke und aus den Spuren von oft früh sich verlierenden Lebensbahnen von 25
Teilnehmern solcher Gespräche wieder hervortreten zu lassen. Diese Aufgabe verbindet die Bemühung um die Verständigung und die innere Form der entwickelten klassischen deutschen Philosophie mit der Bereitschaft, in Forschungsunternehmen vom Stile der historischen Feldforschung einzutreten. Sie sind lange behindert worden durch den Reichtum der literarisch dokumentierten Denkleistungen. Diese Fülle disparater und doch verwandter Gedanken kam in so kurzer Zeit auf, daß die Meinung begünstigt werden konnte, die Publikationen der Zeit böten genügenden Anhalt für eine Aufklärung, die erschöpfend sein kann. Inzwischen sind wir aber zu der Einsicht gekommen, daß selbst noch in der kurzen Zeit, die von Kants Wirkung bis zur Reife von Hegels Werk verging, Gesprächslagen und Etappen der Verständigung wesentliche Bedingungen der Entfaltung der Gedanken waren, die sich beinahe ganz in der Verständigung zwischen Personen und diesseits jeglicher Publikation ausgebildet haben. Briefwechsel und oft nur durch glückliche Zufälle überlieferte Manuskripte sind darum die einzigen Dokumente, die einer Rekonstruktion durch Forschung Anhalt und Verläßlichkeit geben können. Nur darf diese Einsicht wiederum nicht zu der Meinung führen, daß der Rückgang auf solche in ihrer Weise durchaus produktive und für unsere Erkenntnis der Denkgeschichte der klassischen deutschen Philosophie wesentliche Etappen die Ausbildung der Werke erschöpfend erkläre, um derentwillen die detektivisch-historische Aufklärung der Konstellationen erfolgt, aus denen heraus sie zustande kamen. Die Konzeptionen bleiben die Leistungen einzelner, insofern ihre formativen Grundgedanken nur von ihnen allein erfaßt und in einen systematischen Entwurf überführt worden sind. Aber diese Gedanken und Entwürfe kamen auf und entfalteten sich auf einem von ihren Autoren nur unzureichend aufgeklärten Fundament. Und sie mußten gleichwohl extrem weit ausgespannten Zielsetzungen folgen. Denn sie hatten, 26
in der Fortführung des Kantischen Programms, sowohl eine gänzlich neue Weise der Begriffsbildung und der Begründung wie auch eine Systematik zu gewinnen, in der die Freiheit des spontan sich bildenden Bewußtseins und damit die eigentlichen Grundlagen von Religion und Menschengemeinschaft begriffen und beheimatet sein konnten. Es war der große Zuschnitt und die Dringlichkeit dieses Zieles, das dem vertrauten philosophischen Dauergespräch, dem „Symphilosophieren", die Kraft und die Rolle zuwachsen ließ, leitende Evidenzen für die Ausbildung von Systemen entstehen zu lassen, welche nicht nur die intellektuelle Welt des gesamten Europa verändert haben. Es sind somit die Grundorientierungen und die grundlegenden Wendungen in der Orientierung eines Lebenswerkes, in denen sich dessen Einbindung in eine Konstellation des Gespräches nachhaltig und dauerhaft auswirkt.
III.
Konstellationsforscbung
So haben wir also in unserem Bemühen um Aufklärung über die klassische deutsche Philosophie zwei Arten von Konstellationen zu berücksichtigen: Zum einen die Konstellation zwischen den Begriffs- und Systembildungen der großen Theorien und zum anderen die Konstellationen des philosophischen Gesprächs, die für die Ausbildung der Systeme nach Kant und Fichte und wohl auch für Fichtes eigenen Weg in Jena und über Jena hinaus eine nicht ignorable Bedeutung gehabt haben. Beide Arten von Konstellationen sind von jeweils gänzlich anderer Art. Und die Erkenntnis einer jeden von ihnen verlangt den Gebrauch von nur für sie geeigneten Methoden - die erste Verfahren der Analyse von Argument- und Begriffsformen, die zweite die Verfahren der historischen Quellenforschung. Aber beide Methoden müssen doch in Verbindung fflit27
einander ins Spiel gebracht werden. Und die Aufgaben, denen sie nachgehen, sind nur in ihrer Beziehung aufeinander sicher genug zu bestimmen. Denn die historische Quellenforschung würde blindes Suchen bleiben und könnte allenfalls zur Bereicherung einer unphilosophischen, weil gegen Gedanken abgeschotteten Motiv-, Geistes- oder Sozialgeschichte gelangen, wenn sie nicht aus der Einsicht in die theoretischen Bedingungen, unter denen die Systeme der klassischen deutschen Philosophie konzipiert worden sind, ihre Anleitung gewinnt — der Einsicht in das Dunkel der methodischen Begründung des Denkens, auf die Kant und mehr noch seine Nachfolger aus waren, und somit in das Ungenügen der von ihnen vorgetragenen Selbstdeutungen. Aber diese Einsicht ist umgekehrt wiederum eine noch immer unzureichende Voraussetzung dafür, die Aufgaben, denen sich diese Konzeptionen verpflichteten, und die Evidenzen, denen sie folgten, verständlich zu machen. Dazu bedarf es des Aufschlusses über die Konstellationen der Gesprächslagen, in denen auf dem noch durchaus unvermessenen Terrain einer neuen philosophischen Methode und Problemanordnung die Klarheit und die Entschlossenheit der neuen Systemkonzepte gewonnen worden sind und auch allein gewonnen werden konnten — der Konzepte, die theoretische Interessen nur dann zu befriedigen vermochten, wenn sie ebensosehr dem Leben dienten, indem sie dessen vor ihm selbst zuvor verstellte Verfassung zu begreifen wußten. So müssen wir uns also auf eine doppelte und in der Doppelung kombinierte Analyse zweier Typen von Konstellation dauerhaft einlassen, wenn eine Verständigung über die klassische deutsche Philosophie zustande kommen soll, die ihrer historischen Gestalt und den in ihr freigekommenen Möglichkeiten des Denkens gleichermaßen gerecht werden kann. Noch stehen wir am Beginn von Arbeitsgängen, die aus 28
der Orientierung an dieser Forschungs- und Denkaufgabe hervorgehen. Zwar werden derzeit zuvor ungekannte Aufwendungen gemacht, um die Werke und die Werdegänge der nachkantischen Systembildungen zu erschließen. Aber diese Anstrengungen sind doch noch immer weitgehend fragmentarisch. Sie ergeben sich vor allem im Rahmen der Arbeit an den kritischen Werkausgaben der Philosophen. Doch sind sie auch dort, wo sie nicht in diese eingebunden sind, zumeist aus dem Bemühen um nur einen der maßgeblich gewordenen Systementwürfe motiviert. In dieser Begrenzung kommen aber die eigentlich formativen Bedingungen für die Ausbildung der klassischen deutschen Philosophie nach Kant nur verzerrt in den Blick. Denn diese Bedingungen müssen einer so orientierten Arbeitsweise als Randbedingungen einer Werkgeschichte erscheinen. Angemessener aber wäre eher noch die direkte Umkehrung der Orientierung, in der dann die Werkgeschichten als Später Ausfluß einer Konstellationsgeschichte zur Darstellung kämen. Auch darin läge freilich noch immer eine Deformation. Denn es gibt wirklich die individuellen Leistungen derer, die eine maßgebliche Konzeption erarbeitet haben. Sie muß aber als solche auf die Konstellationen des Gesprächs durchgängig bezogen bleiben, von denen sie sich schließlich abgehoben hat. Sie muß zudem von dem Spektrum der theoretischen Möglichkeiten her erwogen werden können, die sich in dem nach Kant unübersichtlich gewordenen Terrain philosophischer Grundlegungsprobleme aufgetan haben. Und dies ist wohl die noch schwierigere Aufgabe. Denn sie verlangt Vertrautheit mit mehr als nur einer der Konzeptionen der von Kant ermöglichten Epoche der Philosophie. Und sie verlangt zudem, daß man sich in diesen Konzeptionen mit anderen als nur den von ihnen selbst bereitgestellten Mitteln zu bewegen vermag, ohne damit auch schon den Kontakt zu den Intentionen zu verlieren, aus denen sie hervorgegangen sind. 29
Aber keine der beiden Aufgaben läßt sich auf die andere reduzieren. Und keiner der die Ausbildung der nachkantischen Philosophie determinierenden Faktoren läßt sieh zugunsten des einen oder des anderen unter ihnen in den Hintergrund drängen. Der Komplexion dieser historischen Epoche des Denkens kann nur eine in sich selbst ebenso komplexe Orientierung und Verfahrensart einer ebenso historischen wie philosophischen Aufklärung gerecht werden. Es versteht sich, daß die Umsetzung dieser methodischen Aufklärung in wirkliche Forschung nach neuen Formen der Kooperation verlangt. Auch in der Philosophie sind Forschungsinstitute mit vielerlei Zweckbestimmungen eingerichtet worden. Die Aufgabe der Edition der Werke einzelner Philosophen dominiert unter ihnen. Aber diese Organisationsweise wird bald schon quer stehen zu den Fragestellungen, welche in Beziehung auf die klassische deutsche Philosophie die eigentlich produktiven sind. Unter der Voraussetzung der bestehenden Organisationsweise wäre zunächst einmal produktiv die Verflechtung der Diskussion um die Ausgaben untereinander. In dieser Richtung sind einige wenige Schritte auch schon getan worden. Doch muß weitergegangen werden. Das fortgeschrittene philosophische Problembewußtsein muß Eingang finden in die Arbeit am Aufschluß über die Formationsbedingungen der Theorieformen der klassischen deutschen Philosophie. Ein wesentlicher Grund dafür ist, daß sich deren historische Erforschung von der Werkgeschichte zur Konstellationsgeschichte zu wandeln hat. Und es ist dargelegt worden, warum eine solche Forschung ohne alle Anleitung ist, wenn sie diese Anleitung nicht aus dem Blick auf die Grundbedingungen gewinnt, unter denen das Denken stand, das seinen Ausgang von Kant genommen hat. So müssen Arbeitsweisen entwickelt werden, die nicht dazu tendieren, in der Alltagsroutine von Editoren oder Archivaren aufzu30
gehen, die sich aber ebensowenig über diese Art der Arbeit nur hinwegsetzen. So muß eine neue Weise des Symphilosophierens, dem die klassische deutsche Philosophie (wie in ihrer Weise übrigens auch die analytische) so viel verdankt, auch die Konstellationsforschung begleiten und durchdringen. Nur wer selbst Philosoph ist, kann bei der Aufklärung einer der produktivsten Epochen des Denkens andere als Kärrnerarbeit — und womöglich noch eine diffuse — leisten. Auf solchen Wegen kämen wir auf einer neuen Stufe philosophischer und historischer Bewußtheit wieder in eine Entsprechung zu der Situation, von der die Erforschung der klassischen deutschen Philosophie in der Berliner Akademie den ersten und noch immer fortwirkenden Impuls gewonnen hat — in eine Entsprechung also zur Leistung von Wilhelm Dilthey. Es kann nicht ausbleiben, daß in einer solchen Situation und in der ständigen Nachfrage nach den Formationsbedingungen einer maßgeblichen Epoche des Denkens auch eine Frage in den Blick kommt, die zum Problembestand der Philosophie als solcher gehört: Was das Verhältnis des Denkens zu seiner Geschichte ist und wie infolgedessen die Stellung der Philosophie in der Geschichte des Zeitalters zu bestimmen ist, das auch unsere Gegenwart über alle Wandlungen hinweg noch mit der klassischen deutschen Philosophie verbindet. Die Konstellationsforschung ist in ausgezeichneter Weise offen auch für diese Fragestellung: Sie gilt Gedanken sowie deren Ursprung und Begründung, nicht nur Interessen, die nach irgendeiner Rechtfertigung verlangen. Aber sie gilt wiederum auch Gedanken nur insofern, als sie aus Lebenslagen hervorgehen, die der Orientierung aus und im Denken bedürftig sind. Und sie geht somit auf Gedanken, die, anders als irgendeine wissenschaftliche Theorie, gegenüber ihrer Aneignung in einem bewußt geführten Leben nicht gleichgültig sein können. 31
JACQUES D'HONDT
(Paris)
Der Tod der Philosophie in Frankreich Im Vorwort zu seiner wichtigen, unlängst erschienenen „Geschichte der Philosophie" schrieb Brice Parain: „Die Philosophie schickt sich vielleicht vor unseren Augen zum Sterben an." Aber er hoffe trotzdem weiter auf ein Überleben, während andere — weniger zartfühlend — schon meinten, einen Totenschein ausstellen zu können.
Zweideutiges Und so verkündete und verkündet man verschiedenenorts den Tod der Philosophie. Im allgemeinen wird die Nachricht lustvoll dramatisiert: „Madame liegt im Sterben! Die Dame Philosophie ist tot!" Manche lärmen dermaßen über diesen Tod, daß man beinahe meinen könnte, sie glaubten wirklich daran. Doch ihr wildes Geschrei hat nur geringe Wirkung. Philosophieprofessoren und -Studenten sind darüber zwar aufgebracht, aber nicht tief betrübt. Offen gesagt: man nimmt das Geschrei nicht ganz ernst, es löst nur verschwommenes Unbehagen und unklare Beklemmungen aus. Weshalb bewirkt es nur diesen relativ diffusen Skeptizismus? 32
Zuerst vielleicht deswegen, weil diejenigen Koryphäen, die der Philosophie den Tod bescheinigen oder sein Nahen voraussagen, selbst meist nicht jenes endgültig klingende Wort als Benennung dafür verwenden. Sie spüren, auch wenn sie sich das nicht klarmachen, wie waghalsig und unsicher eine so ausgedrückte Proklamation wäre. Sie sprechen daher lieber von einem Ende, einem Erlöschen, Sich-Erschöpfen, Verschwinden der Philosophie: eine sanftere Sterbehilfe. Den groben Ausdruck „Tod der Philosophie" verwenden vor allem unbesonnene Schüler, schlagzeilenbeflissene Journalisten oder um Effekte verlegene Redner. Und sie versuchen dann noch, andere dafür verantwortlich zu machen. Denn selbst zu den weniger pathetischen Worten wird nicht so ohne weiteres gegriffen. Zuweilen resultiert ihr Gebrauch nur aus falschem Verstehen, aus geistiger Leichtfertigkeit von Lesern, Kommentatoren oder Übersetzern. Aus nichtigen Gründen wird die Idee vom Ende der Philosophie großen Autoren zugeschrieben, die sie selbst vielleicht nie gehabt haben. Man kennt schöne Beispiele für solche Fehlgriffe. So wurde der Titel einer berühmten Schrift von Friedrich Engels wie folgt ins Französische übersetzt: Ludwig Feuerbacb et la fin de la pbilosophie classique allemande A Nun ist gewiß gleich anzumerken, daß es sich gerade um die klassische Philosophie und speziell die deutsche handelt, daß also eben nicht die ganze Philosophie in Rede steht. Jenes teilweise Ende bereitet vielmehr den Boden für eine andere Philosophie, die nicht mehr klassisch, nicht mehr nur deutsch wäre: gerade für die neue Philosophie eines Engels und seines Freundes Marx. Vor allem ist jedoch einzuwenden, daß Engels im Deutschen den Ausdruck Ausgang verwendet, der zwar in man1
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F. Engels, Ludwig Feuerbach et la fin de la philosophie classique allemande, Paris 1966. Zur Architektonik
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chen Fällen das Ende bedeuten kann — aber immerhin in dem grundlegenden Sinn eines Hinausgehens, eines Auswegs, einer Öffnung zu einem anderen Ort, eines Übergangs. Engels hätte das deutsche Wort nehmen können, das dem französischen la fin am strengsten entspricht: das Ende. Auch dieses Wort ist übrigens nicht synonym mit Tod in all dessen Anwendungsfällen. Wenn Balzac das Wort fin, Ende, unter ein Manuskript setzt oder wenn das Wort Ende auf der Leinwand des Kinos erscheint, dann bedeutet das nicht, daß der Roman oder der Film tot seien, sondern vielmehr, daß sie sich dem Leben darbieten, dem Publikum und dem Gedächtnis. Was die Schrift von Engels angeht, müßte die Übersetzung des Titels lauten: Ludwig Feuerbacb et ¿'issue de la pbilosopbie classique allemande, denn Engels wollte darin zeigen, daß die Entwicklung dieser philosophischen Strömung, die er hoch schätzte und in Ehren hielt, dialektisch auf eine andere Philosophie führte und nicht auf die Abschaffung allen Denkens. Das ist zur Genüge belegt durch den Schluß dieses Textes: „Die deutsche Arbeiterbewegung ist die Erbin der deutschen klassischen Philosophie." 2
Die Gefahren der Metapher Dieses Beispiel wurde nur angeführt, um gleich eingangs zu zeigen, daß sich bezüglich des Schicksals der Philosophie mehr oder minder deutlich eine bunte Konstellation von Wörtern abzeichnet: von Wörtern mit angrenzenden, schwer unterscheidbaren Bedeutungen, die sich wechselseitig so berühren und andere — stärkere — zur Folge haben, daß Gefahren für das klare Denken entstehen. 2
Ebenda, S. 85. — F. Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, in: K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 21, Berlin 1962, S. 307.
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Welcher Ausdruck auch immer gewählt wird — es gilt hier nachzuforschen, welcher Gedanke wirklich nahegelegt werden soll. Und letzten Endes ist es wohl doch am besten, das Wort vom „Tod der Philosophie" festzuhalten, denn es ist eher als andere geeignet, Einwände auf sich zu lenken. Wenn es keinen Tod der Philosophie gibt, dann wird es auch kein Ende, Verbleichen, Verlöschen usw. derselben geben. Die Wahl dieses Wortes durch so viele Schriftsteller enthüllt nämlich gut die theoretische Verworrenheit und die pathetische Übertreibung, die ihre Intention kennzeichnen. Es entspricht in der Tat dem Wunsch, den zu beschreibenden Prozeß zu vermenschlichen. Warum eigentlich nicht? Warum nicht ein bewegendes Bild verwenden, um stärker aufmerksam zu machen? Das Bild vom Tod gibt der Idee, die man aufdrängen will, einen Anstrich des Trauerns und macht sie damit sinnlich zugänglich und populär. Das bietet etliche Vorteile, vorausgesetzt jedoch, daß man die Nachteile nicht verschleiert. Es gilt, sich die damit verbundenen Gefahren vor Augen zu halten — und womöglich auch das Tückische an dem Verfahren, das zu einem solchen Ergebnis führt. Viele wackere Geister scheinen zu vergessen, daß der Tod hier nur metaphorisch heraufbeschworen wird. Auf die Philosophie angewandt, mag der Tod als Bild dienlich sein, aber mehr kann und darf es nicht ausrichten. Dessen muß man sich bewußt sein, und da ist denn Anlaß, mit Paul-Louis Courier auszurufen: „Jesus, mein Erlöser, erlöse uns von der Metapher!" 3 Denn das Bild, das hier gewählt wird, begeht seine Sünden gewiß nicht in aller Unschuld! Das Wort Tod bringt sogleich auf den Todesgedanken, und daran ist nichts Erstaunliches. 3
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P.-L. Courier, Œuvres complètes, Paris o. J., S. 211.
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Aber man assoziiert zuerst den Tod der menschlichen Person, mit seinem gesamten Geleit von Trauerzeichen: und in der Hinsicht kann man kaum erstaunt genug sein, wenn man es ohne jede Vorsicht und Abwandlung auf die Philosophie angewandt findet. Der Todesgedanke weckt in uns mehr oder minder lebhaft ein Empfinden von Erschrecken, Furcht und Mitleid. Und diejenigen, die ihn mit Bezug auf die Philosophie hervorrufen, wollen nahelegen, daß ein eventueller Abgang der Philosophie mit dem Tod eines Menschen verglichen werden könne — oder gar ihm gleiche —, und daß er den Hinterbliebenen denselben Kummer aufbürde wie der. Verlust eines seiner Lieben. Solch eine Gleichsetzung oder auch solch ein Vergleich ist aber — strenggenommen und so weit getrieben — unhaltbar. Wer wollte denn wagen, zur Philosophie die schmerzenden Fragen Paul Valérys, des Lukrez der Neuzeit, zu stellen: „Où sont des morts les phrases familières, L'art personnel, les âmes singulières?" („Wo sind die Worte, die den Toten fehlen, Wo ihre Künste, die besondren Seelen?)" 4 Die Metapher bewirkt eine emotionale Erregung — und dazu wird sie gebraucht. Aber der Philosoph mißtraut dieser zu weit mitreißenden Emotion und so auch der Erregung und der Metapher samt der Illusion, die sie gemeinsam erzeugen: der Illusion, daß es sich bei der Philosophie um „phrases familières", „art personnel", „âmes singulières", um eine individuelle Lebensbegabung, um eine Persönlichkeit handele, die sich ihrer selbst und anderer bewußt wäre. Die Philosophie als solche ist weder ein Individuum noch eine 4
P. Valéry, Le Cimetière marin. — Nachdichtung: R. M. Rilke, Friedhof am Meer.
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Art, sie ist ein Allgemeines. Man muß einigen Leuten ihre Hoffnung nehmen, eines Tages die Philosophie so zum Tode zu befördern, wie man einen Passanten ermordet: mit einem einzigen Dolchstoß — wenn man geschickt genug ist. Die sterbliche Philosophie Solch eine Demystifikation versteht sich jedoch nicht von selbst, sie verlangt etliche komplexe Vorbemerkungen. Die Frage nach dem Schicksal der Philosophie ist nicht einfach, und diejenigen, die sich - ohne Umschweife! — für ihren Tod aussprechen, setzen sich zweifellos deswegen am stärksten ins Unrecht, weil sie diese Frage zu rasch entscheiden wollen.' Der „Tod der Philosophie" steht für und bezeichnet Situa.-. tionen und Ereignisse, die man sich sehr verschieden vorstellen kann, und diese Vielfalt läßt sich nicht aussparen. Eine privilegierte Bedeutung zeichnet sich zunächst ab: jene der völligen Vernichtung der Identität oder Besonderheit, die das Lebewesen oder die konkrete Wirklichkeit kennzeichnet. Und hier ist ein Eingeständnis fällig. In diesem Sinn völliger Vernichtung des konkreten Charakters, der Identität und der Vereinigung der Unterscheidungsmerkmale eines Seienden ist die Philosophie, wie wir sehr wohl wissen, sterblich. Menschliches Tun und Werk, Tun und Werk eines in seiner Ausdehnung und Dauer begrenzten Menschengeschlechts: wir wissen wohl, daß das, was endlich, was bestimmt ist, eines Tages enden muß. Und zumindest dann, wenn das Menschengeschlecht am Schluß seines Weges anlangt, wenn es endet — wie man dieses Ende auch verstehen will —, wird mit ihm auch die Philosophie enden, so wie die Kunst, die Wissenschaft und das übrige. Die Philosophiebücher werden die Gesellschaft 37
vielleicht einen Augenblick überdauern, gleich den Marmorund Bronzestatuen, aber nur einen Augenblick — und zwecklos. Die Philosophie und das Menschengeschlecht sind in der Zeit entstanden und geboren worden, wenn auch ihre Geburt noch andauert; und alles, was entstanden ist, ist wert, daß es zugrunde geht. Selbst das imperiale Rom ist nicht mehr! Eines Tages — wenn man es so sagen darf — wird die Philosophie verscheiden.
Der kulturelle Tod Klar ist jedoch: Wenn der Philosophie heute mit dem Tod gedroht wird, dann ist ein ganz anderer Tod gemeint. Man zielt dann auf einen Tod, ein Verschwinden, eine Vernichtung nicht am Ende der menschlichen Entwicklung und infolge ihres Abbrechens, sondern während dieser menschlichen Entwicklung als ein innerhalb der menschlichen Erfahrung erlebtes Geschehen. Die Philosophie würde vor den Augen der Menschen umkommen, die Menschen aber würden weiterleben, sie sterben sehen und danach schmausen. Diesen Tod könnten wir zur Kenntnis nehmen, wir oder unsere Neffen. Wir hätten Muße, ihn zu beobachten — und aus ihm Lehren zu ziehen, seltsamerweise. Die Philosophie würde zu den Opfern rechnen, die die Menschheit an ihrem Wege zurückläßt. Ist die Philosophie wirklich unter so bestimmten Bedingungen vergänglich? Dazu wäre nötig, das sei angemerkt, daß keines ihrer Unterscheidungsmerkmale, kein Glied ihrer Bestimmung mit Notwendigkeit einem Wesenszug des Menschen selbst entspräche. Der Mensch müßte eines Tages die Philosophie als Ballast abwerfen können, ohne dadurch etwas von dem zu 38
verlieren, was ihn zum Menschen macht. Die Bestimmung der Philosophie müßte — in ihrer Allgemeinheit — so partikulär, so eng und so ärmlich bleiben, daß sie mit keinem wesentlichen Merkmal des Menschen zusammenfällt. Also brauchte man die Philosophie nur angemessen zu bestimmen, damit es keinen Tod der Philosophie g i b t . . . Jedenfalls muß, wenn man das Wort Tod unbedingt auf sie anwenden will, stets der Gedanke vor Augen bleiben, daß der Tod einer geistigen, kulturellen oder historischen Wesenheit etwas anderes ist als der Tod eines Menschen. Wer sich davon überzeugen will, braucht nur Gibbons berühmte „Geschichte des allmählichen Sinkens und endlichen Unterganges des Römischen Weltreiches" nachzulesen, von der sich Hegel seinerzeit anregen ließ. Der Tod eines Menschen bringt einen Zerfall des Körperlichen, einen Sturz aus dem Organisierten ins Elementare, eine Auflösung in, wie Bossuet sagt, „ein Irgendetwas, das in keiner Sprache mehr einen Namen hat" 5 . Wonach sich Bossuet allerdings aufrafft — um der Ketzerei zu entgehen— und hinzufügt, daß Gott kein Element dieses Körpers aus dem Blick verliert und ihn in all seiner Herrlichkeit auferstehen lassen wird: „Er, in dessen Augen nichts verlorengeht und der alle Teile unseres Körpers verfolgt, wohin in der Welt Verfall oder Zufall sie auch immer treiben." 6 Tod und Auferstehung der Philosophie im Verlauf des menschlichen Abenteuers können aber weder in der einen noch in der anderen Weise verstanden werden. Damit die Philosophie sterben kann, muß sie zunächst als solche existieren. Und dann darf sie nicht aus einer bloßen Sammlung von heterogenen Individuen bestehen, sonst könnte man stets nur von Philosophien sprechen, im Plural. Da ihr Leben dann negiert wäre, stünde die Frage ihres Todes 5 J.-B. Bossuet, Oraisons funèbres. Panégyriques, Paris o. J., S. 108. « Ebenda, S. 109.
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nicht mehr. Wenn die Philosophie nichts weiter wäre als bestenfalls ein bequemes Wort zum Bezeichnen eines Aggregats von regellos zusammengenommenen, durch keinerlei Verwandtschaft untereinander verbundenen Einzelsystemen, dann wäre die Philosophie freilich tot. Diese Auffassung von den philosophischen Dingen hat kaum woanders Sinn und Gültigkeit als in den Augen eines gewissen gegenwärtigen Strukturalismus. Aber wenn dieser den Tod der Philosophie verkündet, gibt er diesem Wort noch eine andere und besonders abwegige Bedeutung, denn in diesem Fall besagt das Verkünden des Todes der Philosophie nur, daß die Philosophie nie existiert, nie jene Wesenhaftigkeit, jene relative Einheit und erst recht nicht jene Identität besessen hat, die notwendige Bedingung jedes Hinscheidens sind. In letzter Zeit hat man in Paris ein paar Tage lang ein Stück mit dem Titel „Wie soll man vernichten, was es nicht gibt?" aufgeführt. Dieses Lustspiel ist, so scheint es, nicht lange auf dem Spielplan geblieben, und das Publikum hat — vielleicht zu Unrecht — etwas ins Nichts geschickt, was vielleicht nicht nichts war. Was also heißt leben, und was heißt sterben? Eine gewisse Art von Strukturalismus rebelliert gegen die Existenzansprüche einer Geschichte der Philosophie. Aber die ganze Geschichte der Philosophie erhebt sich gegen die Vorstellung einer nur en détail gelieferten Philosophie. Was sollten wir tun, so frage ich, wenn das Wort Philosophie keinen Sinn hätte? Ich meine, man will uns das Brot nehmen! Die Philosophie stirbt nicht körperlich, wenigstens nicht so, wie menschliche Körper sterben, sofern man gelten läßt, daß ihr mehrtausendjähriger Körper von den Schriften, den Büchern, den aufgezeichneten Worten der Philosophen gebildet wird. Die Bibliotheken und Filmarchive lassen sich denn doch nicht ganz mit Friedhöfen vergleichen, auch nicht mit jenen — immerhin philosophisch stimmenden — Friedhöfen 40
am Meer; sie sind auch Stätten der Pflege und Erhaltung, deren Mitarbeiter gerade damit emsig beschäftigt sind: sie wachen über die ihnen überlieferten Bücher und Handschriften, sie schützen sie, transkribieren sie, wenn sie in ihrer ersten Gestalt verblassen, fotografieren sie, filmen sie, speichern sie elektronisch, vervielfältigen sie und lagern die Exemplare an verschiedenen Orten, um den Wirkungen einer punktuellen Katastrophe vorzubeugen. Was für ein Unterschied! Wir erleiden das Schicksal unserer sterblichen Körper. Aber der Tod der Philosophien gestattet das Überleben ihres jeweiligen Corpus.
Die Prosperität Überleben ist noch zu wenig gesagt! Wir stehen vor einer erstaunlichen Prosperität! Was erzählt man uns da vom Tod der Philosophie! Alles ringsum bezeugt augenfällig, wie müßig solch eine Befürchtung ist! Die sichtbare Masse der Philosophien schwillt ständig, rasch, enorm an. Keine Knappheit auf diesem Gebiet! Heutzutage erscheinen in der Welt binnen zehn Jahren mehr Philosophiebücher — philosophisch intendierte, philosophisch auftretende Fachschriften im Sinn einer eng definierten Aktivität —, als in dieser Welt bis zum Ende des 19. Jahrhunderts herausgegeben wurden. Jedes Buch, wie verdienstvoll oder schwach auch immer, erreicht eine weit beträchtlichere Auflage als seinerzeit die berühmtesten philosophischen Werke. Die Schriften unserer namhaftesten Zeitgenossen werden nahezu unverzüglich in alle fremden Sprachen übersetzt. Es hatte 54 Jahre gedauert, bis die 1781 erschienene „Kritik der reinen Vernunft" ins Französische übersetzt wurde. Die „Phänomenologie des Geistes", von Hegel 1807 mit M ü h
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und Not veröffentlicht, hatte 132 Jahre auf ihre französische Übersetzung (1939, von Jean Hyppolite) zu warten. Die philosophische Lektüre hat sich über die ganze Erde verbreitet. Bald wird ein Kosmonaut Piaton in seinem Raumschiff mitnehmen. Denn die immense Verbreitung der zeitgenössischen Werke drängt die klassischen Autoren nicht in den Schatten. Niemals, überhaupt noch nie waren die Werke Piatons, Aristoteles', Descartes', Spinozas, Leibniz', Kants so verbreitet wie heute, in solch verschwenderischem Angebot in so vielen und so verschiedenen Ländern. Wie viele Griechen hatten Piaton während seines langen Daseins gehört oder gelesen? Heute blättern die Leute in der U-Bahn im „Gorgias" . . . Autoren, die lange vergessen waren, werden wieder herausgegeben. Die Philosophie ist wie ein Dornröschen, das von gelehrten — und gewiß auch charmanten — Prinzen recht spät geweckt wird. Und just da will man sie lautstark totsagen! Noch nie haben sich so viele Professoren, Schüler und Studenten der Philosophie verschrieben, noch nie sind in so üppiger Fülle philosophische Institute, Forschungszentren und Kollegien gegründet, Kongresse, Kolloquien und Seminare veranstaltet worden. Jahr um Jahr bringt jeder Philosophieprofessor seinen kleinen Artikel unter oder publiziert sein Büchlein. Nicht jeder kann einen Supermarkt aufmachen! Und freilich klagen und stöhnen alle. Aber welcher Krämer sagt schon offen, daß sein Laden floriert? In mancherlei Hinsicht geht es der Philosophie also besser als je. Wenn man sie dennoch für tot erklären wollte, müßte man diesem Ausdruck einen Sinn geben, der subtiler und ungewöhnlicher wäre als die Bedeutungen, denen wir schon begegnet sind. In diesem Licht wird der Wortsinn abgeschwächt. Hier wäre nun ein Tod - oder ein Ende, der Nachbar, 42
Begleiter, ja Bettgenosse einer erstaunlichen und üppigen Vitalität ist. Dermaßen sogar, daß dieses vitale Leben Besorgnis erregen müßte, weil Reichtum und Überfülle der Äußerungen sein geheimes Elend und seine Hinfälligkeit denunzieren würden. Der Tod wäre dann, auf die Philosophie bezogen, die Disharmonie zwischen dem Aufsehen, das sie erregt, und dem Begriff, den sie von sich haben müßte. Um sie stünde es wie mit jenen Witwen, die Bossuet bedauert: „Wie viele von ihnen müßte man also als Tote beweinen, von diesen jungen und lachenden Witwen, welche die Welt so glücklich findet." 7 Hätten wir eine Philosophie zu beklagen, die die lustige Witwe ihres Begriffs ist?
Der Tod der Philosophien In der Tat entgleitet gerade der Begriff des „Todes der Philosophie" unaufhörlich unserem Zugriff. Und dies, sobald sich die Philosophie in der Kontinuität ihrer Geschichte, der Identität ihres Seins, der Einheit ihre Schicksals unserer Betrachtung darbietet. Vielleicht können wir dann diesen Begriff in seiner Anwendung auf die Philosophie im allgemeinen besser fassen, wenn wir zunächst versuchen, seinen Inhalt in der Anwendung auf die Philosophien im besonderen abzuwägen? Um gleichsam stufenweise in der Untersuchung der Schwierigkeit voranzukommen, fragen wir uns also zunächst, was man vernünftigerweise unter dem Tod einer Philosophie verstehen könnte. Das wäre offensichtlich doch nicht ihr radikales Verschwinden, ihre Vernichtung. Eine besondere, einzelne Philosophie, zum Beispiel die Philosophie Kants, wäre nur dann tot, wenn bereits alle 7 Ebenda, S. 159.
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Bücher von Kant, alle Bücher über Kant und schließlich der Name des Philosophen selbst verschwunden wären. Das alles ist jedoch unvorstellbar. Die Menschen werden eher verschwinden als die Bücher, besonders wenn die zu diesem Zweck entwickelten selektiven Spezialwaffen angewandt werden. Bis auf Ausnahmefälle ist eine Philosophie in ihren objektiven Zeichen immer da (Dasein\) — in Reichweite, wie Fleisch im Kühlschrank. Objektiv verschwindet sie nur ausnahmsweise. Sterben heißt für eine Philosophie, außer Gebrauch zu kommen, nicht von den Bibliotheksregalen, wohl aber aus dem Begehren und aus dem Gedächtnis, dem Geist der lebendigen und tätigen Menschheit zu verschwinden. Tot ist eine Philosophie, die, obschon immer noch da, keine aktuelle Aufmerksamkeit, kein aktuelles Interesse mehr weckt. Sie ruft nicht mehr Anhänglichkeit oder auch Feindschaft hervor. Denn die Philosophie, die noch immer Zorn oder Entrüstung entfacht, ist durchaus lebendig. Stendhal sagt: „Für einen großen Menschen heißt Glück, noch hundert Jahre nach seinem Tod Feinde zu haben." Die meisten Philosophen zählen hundert Jahre nach ihrem jeweiligen Tod schon keine Parteigänger oder Feinde mehr; sie überdauern in einer Art von gelehrter Neutralität. Worin besteht also diese besondere Beharrens- oder Existenzweise, die man als Tod einer Philosophie bezeichnen könnte? Wagen wir es, einige ihrer Merkmale zu beschreiben: Tot ist eine Philosophie, die Fragen zu beantworten sucht, die die Leser von sich aus nicht mehr stellen. So kann man zum Beispiel — und durchaus sinnvoll — fragen, ob Spinoza Pantheist war. Wer aber befragt sich noch selbst deswegen? In seinem „Dictionnaire des idées reçus" bemerkt Flaubert unter anderem: „Pantheismus — dagegen wettern!" Wer aber wettert heutzutage noch gegen den Pantheismus? 44
In Frankreich wogte zwischen 1830 und 1850 ein enormer Streit zu diesem Thema. In der Rückschau verwundert er uns. Wir können freilich das dicke Buch des Abbé Maret über den Pantheismus nachlesen, das eine Auflage nach der anderen erlebte, bis der Abbé Maret Hochwürden wurde. Man kann gewiß mit Gewinn nachsehen, welch übertriebene Thesen der Abbé Bautain aus dieser Schrift ableitete, und man mag dann seine Vorstellungen von der Debatte anhand der Studie von Hochwürden Poupard über diesen Autor weiter klären. Der Abbé Bautain denunzierte die pantheistische Ketzerei noch in harmlosesten Glaubensauffassungen und Formulierungen, und in einer von der Vorsehung gesandten Wende der Dinge wurde schließlich er auf den Index gesetzt. Mit Interesse wird man die Veränderung der gewundenen Plädoyers eines der Hauptbeschuldigten, Victor Cousins, verfolgen. Aber offen gestanden, man wird lange suchen müssen, um im Frankreich von 1984 einen erklärten Pantheisten zu finden, und niemand geht mehr mit eingelegter Lanze auf diese verlassene Mühle los. Die Frage steht nicht mehr, sie liegt niemand mehr am Herzen, der tätige Geist hat dies ehemals heiß umkämpfte Feld verlassen. Das heißt längst nicht, daß die Kenntnis des Pantheismus jedes historische Interesse verloren hätte. Aber es ist hier gerade ein Todeszeichen, daß der Pantheismus gleichsam zum reinen Studienobjekt geworden ist. Man kann dann mit Bezug auf dieses Problem, auf die philosophischen Äußerungen, auf die Philosophen, die es berührt, das wiederholen, was Paul Valéry in seiner „Grabrede auf eine Fabel von Daphnis und Alkimadur" sagte, einem Versstück, das seinem Verfasser La Fontaine besonders viel bedeutet hatte: Diese Fabel „wird ohne Sinn und Zweck noch gedruckt und wieder gedruckt. Findet sie in irgendeiner Seele etwas,
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das sie weckt? Niemand braucht sie, und niemand schert sich um sie." Valéry erinnert dann an „all die Wünsche, all die Neigungen, das ganze Ideal eines Jahrhunderts, dessen Werke, selbst die Trefflichen, häufig nach und nach eine wundersame Abgeschmacktheit annehmen . . ." „Das fatale Los unserer meisten Schriften", so fügt er hinzu, „ist es, unfaßbar oder fremd zu werden. Die nacheinander Lebenden fühlen immer weniger mit ihnen mit, man betrachtet sie immer mehr als naive oder unbegreifbare oder bizarre Produkte einer anderen Art von Menschen . . . Nach und nach verschwinden diejenigen, die sie liebten, die sie genossen, die sie verstehen konnten. Tot sind auch jene, die sie verabscheuten, verrissen, persiflierten . . . Andere Menschen begehren oder verwerfen andere Bücher. Was Instrument des Vergnügens oder der Aufregung war, wird alsbald zum Schulrequisit; was wahr, was schön war, wandelt sich zu einem Zwangsmittel oder zu einem Objekt der Wißbegier, aber einer Wißbegier, sie sich zwingt, wißbegierig zu sein . . ." Und Valéry schließt traurig: „Alles endigt an der Sorbonne." 8
D a s Universitätsparadies In Wirklichkeit hat nicht alles die Ehre, an der Sorbonne zu endigen, wie Valéry großzügig unterstellt. Es gibt alte Philosophien, die dafür zu gering geschätzt, im Stich gelassen werden. Wahr ist aber, daß das Interesse an denjenigen, die im Schulbetrieb überleben, sich verlagert. Es wird nicht mehr gefragt, ob der Pantheismus Spinozas wahr oder gültig oder tragbar ist. Man fragt nur, ob es wahr ist, daß Spinoza 8
P. Valéry, Variété II, Paris o. J., S. 49-52.
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Pantheist war, und meint, daß diese Frage schon schwierig genug ist. Wir dürfen also nicht glauben, daß das Studium einer Philosophie an der Universität genüge, um sie ins Leben zurückzurufen. Es verschafft ihr zwar einen Hörerkreis, es schafft wieder genaue Kenntnis von ihr, und ihr Wappenschild wird etwas aufpoliert. — Dies alles aber wirft ein neues Licht auf den Todesgedanken. Eine Philosophie kann sehr lebendig und doch von der Universität ausgeschlossen sein. Alle großen Philosophen haben diesen Ausschluß mindestens vorübergehend erfahren. Aber umgekehrt kann eine Philosophie in der Universitätslehre intensiv leben und doch im Leben völlig tot sein. Die Universität scheint sogar in manchen Zeiten eine Vorliebe für tote Philosophien zu zeigen. Wählt sie sie als Studienobjekt, so richtet sie einen Raum müheloser Toleranz und gleichgültigen Pluralismus ein — voll Eintracht und Glück, der Arbeit zum Wohl. So hat man Frieden, und das ist sehr angenehm; auch sehr nützlich. Aber ein großer Hochschullehrer konnte unlängst feststellen: „ E s stimmt nur zu sehr, daß sich die Philosophielehre an unseren Fakultäten tendenziell auf den Unterricht in Geschichte der Systeme und Ideologien reduziert, ohne daß sich unsere Studenten darüber Sorgen machen, ob die dargestellten Thesen für uns noch Wahrheitswert haben. Unsere Universitäten neigen zu einer historisierenden Scholastik, unsere Prüfungen und Wettbewerbe gründen sich auf die Auslegung, und das liegt in der Logik des Systems. Gestatten Sie mir dennoch, darüber betrübt zu sein, auch wenn es bei uns eine Tradition gibt, die von Victor Cousin bis zuLachelierund ihren Epigonen dafür hält, daß alles schon gesagt ist und daß der Philosoph nur die Aufgabe hat, das Werk der Verstorbenen zu sammeln und zu verstehen." 9 9 R. Roirier, in: Bulletin de la Société Française de Philosophie, Paris, Januar—März 1973, S. 26.
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Die Todeszeichen Wenn die Zuneigung zu einer Philosophie schwindet, bekommt diese ein archaisches, starres Aussehen und wird für fremd gehalten. Hegel hat den Zustand, in den eine vom lebendigen Geist verlassene, nicht mehr den menschlichen Erfordernissen ihrer Epoche entsprechende menschliche Realität auf diese Weise gerät, unter dem Namen Positivität beschrieben. In dieser Sicht hat er vor allem den Fall der Religionen und der Staaten untersucht. Aber dasselbe Phänomen ist bei Philosophien zu beobachten. Ihr spezieller Wortschatz wird auf die Dauer rätselhaft, nur für Fachleute entzifferbar und selbst für die gebildete Öffentlichkeit unverständlich. Sie erstarren in Ausdrücken, die für keinen Lebenden mehr einen aktuellen Sinn besitzen und denen niemand mehr anmerkt, was sie unmittelbar nutzen oder fordern. Indessen ist diese Globaleinschätzung zu nuancieren. Der Tod einer Philosophie ist kein einfaches Ereignis. Sie kann in manchen ihrer Aspekte oder mit manchen ihrer Thesen lebendig und sogar fortpflanzungsfähig bleiben und in anderen Aspekten unwirksam und leblos werden. Der Totenschein darf in jedem Fall nur nach eingehender Prüfung ausgestellt werden, und er muß sich auf vielfältige und oft unbestimmte Zeichen gründen; nicht jedes hat in allen vorkommenden Fällen hinreichenden Wert. Ohne sie beschreiben und analysieren zu wollen, sollen einige dieser Zeichen angeführt sein, die bei vollzähligem Auftreten vielleicht definitiv und unwiderruflich entscheidend sind. Eine tote Philosophie ist eine Philosophie, die nicht mehr auf aktuelle Fragen antwortet, die nicht mehr Aufmerksamkeit und Interesse weckt. Obendrein muß sie Langeweile erregen (eine Wirkung, die Hegel besonders festgehalten hat, so daß sich bei ihm ein — wie man sagen könnte — Kriterium der Langeweile finden läßt); sie ist, um Valerys Wort zu ver48
wenden/ abgeschmackt geworden; sie zeigt keine Wirksamkeit mehr, das heißt, sie hat keinen Einfluß mehr auf die anderen Disziplinen, die Religionen, die Wissenschaften, Künste, Techniken, kapselt sich also ab und verknöchert in ihrer fatalen Einsamkeit-, sie verliert jede Popularität, und außer Fachphilosophen meint niemand mehr, auch nicht vom Hörensagen, daß sie ihn angehe; sie wird so zum Gut einiger Eingeweihter oder einiger Archäologen; da sie keine Rolle mehr im wirklichen Leben spielt, d. h. im konkreten Leben der Menschen, also im Leben, wie es von einem Bündel vielfältiger und verschiedener, miteinander wachsender und fortdauernder Tätigkeiten konstituiert wird, hat sie keine Fruchtbarkeit mehr aufzuweisen. „Schöpfer ist, wer Schaffen macht": lebendig ist eine Philosophie, die zum Suchen, Entdecken, Erfinden erregt, die sich von selbst ausweitet und zu neuem Denken und zu adaptierter Praxis anregt. Eine so abgestorbene Philosophie bringt es nur zu einer Art von Scholastik, wobei mit Scholastik hier nicht der Makel einer besonderen Philosophie, sondern vielmehr das Schicksal aller solchen Philosophien gemeint ist. Sie kommt dahin, daß sie sich ständig selbst wiederholt, stets denselben überlebten Inhalt bewahrt, auch wenn sie ihn um der Originalität willen in dunkle und auffallende Formulierungen kleidet.
Mörderische Philosophen Alle großen Philosophen haben, und zwar stets sehr grob und ohne Rücksicht auf anderer Leute Gefühle, den Tod der Philosophien verkündet, die der ihren vorangingen; mit großer Blindheit geschlagen, behaupten sie im übrigen zugleich ihre eigene Unsterblichkeit. Wir würden der ganzen philosophischen Tradition untreu, wenn wir nicht so vorgingen wie sie; indessen haben wir das Recht, uns weniger grausam, 4
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weniger abrupt, weniger selbstsicher und — um alles zu sagen — weniger dogmatisch zu zeigen als sie. Wir empfinden sehr wohl, daß der Tod einer Philosophie sie doch auf zweideutige Weise in der Existenz beläßt und daß wir uns mit dieser Zweideutigkeit abfinden müssen, um nicht eine ganze Kultur zu verlieren und ein großes und wertvolles Erbe zu verleugnen. Sie aber haben im Stolz auf ihre neue Wahrheit der philosophischen Vergangenheit mit provozierendem Jubel die Stunde geläutet. Aristoteles liebte Piaton wohl, aber er gab seiner eigenen — nicht mehr platonischen — Wahrheit den Vorzug. Descartes wiederum, so sagt uns Schelling, „begann damit, allen Zusammenhang mit der früheren Philosophie abzubrechen, über alles, was in dieser Wissenschaft vor ihm geleistet war, wie mit dem Schwamm wegzufahren, und diese ganz von vorn, gleich als wäre vor ihm nie philosophiert worden, wieder aufzubauen" 1 0 . In seiner mörderischen Passion wurde er indessen überboten von Kant, dem man den Beinamen „der Robespierre der Philosophie" gab. Die Formulierungen, mit denen er seine Vorgänger dem Tode weiht, sind selbst für unsere gewaltsame Epoche von erstaunlicher Grobheit, Eitelkeit und Zusammenhanglosigkeit: „Wenn also die kritische Philosophie sich als eine solche ankündigt, vor der es überall noch gar keine Philosophie gegeben habe, so tut sie nichts anderes, als was alle getan haben, tun werden, ja tun müssen, die eine Philosophie nach ihrem eigenen Plan entwerfen." 1 1 Der kritische Philosoph, sagt er, müsse unwillkürlich lachen, „wenn er die papierenen Systeme derer, die eine lange Zeit das große Wort führten, nacheinander einstürzen und alle 10 F. W . J. Schelling, Descartes, in: F . W . J. Schelling, Zur Geschichte der neueren Philosophie. Münchener Vorlesungen, hg. von M. Buhr, Leipzig 1966, S. 2 1 . 11
I. Kant, Metaphysik der Sitten, hg. von K . Vorländer, Leipzig 1945, S. 6.
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Anhänger derselben sich verlaufen sieht: ein Schicksal, was jenen unvermeidlich bevorsteht" 12 . In dem Geschäft, die veralteten Systeme vom Leben zum Tode zu befördern, erweist sich jedoch Hegels historische Methode nicht minder wirksam als die dogmatische Destruktion, er begnügt sich damit, sie auf den Status von, wie er sagt, „Mumien des Denkens" zu reduzieren.
Die Reinteriorisation der Vergangenheit Das sind recht seltsame Mumien: geistige Mumien. Den radikal zerstörenden Dogmatismus seiner Vorgänger meidend, gibt Hegel in der Tat vor, daß wir diese verstorbenen Philosophien noch immer — in gewissem Maße — wiederbeleben können. Wenn auch nicht ohne Schwierigkeiten, nicht ohne Mühen, so vermöchten wir doch, den tiefen Sinn der vergangenen Philosophien in uns wiederzufinden und wiederherzustellen. Das philosophische Denken der alten Autoren hat sich in Texten exteriorisiert, geäußert und vergegenständlicht, und unter gewissen Bedingungen ist es uns dank dieser Objektivität möglich, es zu reinteriorisieren, es uns wieder in Erinnerung zu rufen oder seine Reminiszenz abzuwarten, es zu „re-subjektivieren". Diese Operation, die wesentlich ist für die Philosophie, weil sie das Andenken der gestorbenen Philosophien bewahrt, setzt voraus, daß es in der Entwicklung des menschlichen Denkens zwar Unterbrechungen gibt, daß aber diese Unterbrechungen nie radikal oder absolut sind. Wenn es solch einen Absolutismus oder solch eine Radikalität der epistemologischen Brüche gäbe, könnten wir die vergangene Existenz der Philosophien weder wachrufen, noch könnten wir ihren letzten Schlaf achten. >2 Ebenda, S. 8. 4»
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Diese These erscheint grundlegend. Wenn der Tod der Philosophien radikal wäre, wüßten wir nichts von diesem Tod. Diese These beruht auf einer besonderen Auffassung vom Tod der Philosophien, dem Vertrauen in ein Fortdauern der Philosophie. Doch wenn sie erlaubt, etliche theoretische Schwierigkeiten zu überwinden, so verfehlt sie ihrerseits nicht, einige andere heraufzubeschwören. Und wenn es sich nur um folgende handelte: Wie soll man das Maß bestimmen, in dem die Wiederbelebung und Reinteriorisation einer vergangenen Philosophie möglich ist? In welchem Maße können wir Anspruch erheben, dank Einfühlung und Anstrengung mit dem Denken übereinzustimmen, das zu seiner Zeit und in Griechenland authentisch dasjenige des Aristoteles war? Ein Problem, das sich Hegel, Hölderlin und einige andere mit Bezug auf einen anderen, erhabenen Gegenstand eines Tages auf der Terrasse der Würmlinger Kapelle stellten . . . Ein Problem, das noch erschwert wird durch eine Feststellung, die Schelling nach Hegel oder zeitgleich mit ihm getroffen hat: „Ehe ich nun zu Kant selbst fortgehe, will ich eine allgemeine Bemerkung vorausschicken, die mehr oder weniger auf alle menschlichcn Taten anzuwenden ist, daß nämlich ihre eigentliche Wichtigkeit, d. h., daß ihre wahren Wirkungen meist andere sind, als die beabsichtet worden oder die im Verhältnis der Mittel stehen, durch welche sie hervorgebracht wurden." 13 Soll man die Philosophie eines Autors für lebendig halten, von dem man das aufgreift, was er nicht beabsichtigt hat, und dessen gemeuchelte Intentionen man begräbt, sei's auch unter Bergen von Blumen! 13
F. W . J. Schelling, Kant — Fichtc. System des transzendentalen Idealismus, i n : F. W . J. Schelling, Zur Geschichte der neueren Philosophie, a. a. O., S. 94.
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Vom Nutzen der Kenntnis des vergangenen Denkens Wenn die Philosophie leben soll, ist zumindest nötig, daß die toten Philosophien noch zu etwas dienen — gleich in welcher Weise. Aber diese Treue schließt nicht jeden Scharfblick aus. Was tot ist, ist tot, und man muß die Toten ihre Toten begraben lassen. Doch das anrührende und zuweilen angenehme Gedenken ist auch nützlich. Es ist nützlich zu sehen, wie sie „vorbeiziehn, die verstorbnen Jahre, Auf Himmelsbalkonen im Kleid alten Stils" („passer les défuntes années, Sur les balcons du ciel en robe surannés"). Und dies schon, um das Veraltete, die singulären Züge des Veralteten, zu empfinden und zu erfassen: das, was ein Descartes, ein Kant im Grunde nicht vermochten! Lektüre und Studium der vergangenen Philosophien, angemessen betrieben, bereichern die Erfahrung der Verschiedenheit, der Fremdheit, der Hinfälligkeit. Sie führen uns vor Augen, wie andere gedacht haben, und nur dieses Wahrnehmen der Unähnlichkeit in der Identität gestattet eine fruchtbare Wiederverwertung, es allein gestattet auch dem historischen Geist, aufzukommen und seine Lehren reich zu verbreiten. Überdies offenbart uns die Kenntnis der philosophischen Vergangenheit, was wir sind, indem sie uns in Erinnerung ruft, daß wir geworden sind und was wir geworden sind. Wir würden uns selbst nicht recht begreifen, wenn es uns nicht gelänge, in uns — und nahezu in ihrer Echtheit — jene aufgehobene Vergangenheit wiederzufinden, deren Gegenwart uns zu dem macht, was wir sind, indem wir sie verändern. Natürlich sind diese Wiederentdeckungen nur dann bereichernd,, wenn das Wiedergefundene richtig als solches — eben als Vergangenes — identifiziert wird. Sonst verfiele man 53
dem Fehler, vor dem uns Descartes warnt: „. . . ist man allzu begierig, die Dinge zu erfahren, die in den früheren Jahrhunderten geschehen sind, so bleibt man gewöhnlich recht unwissend in dem, was in unserem Zeitalter geschieht" 14. Aus der Überzeugung, daß die Philosophien sterben, darf man jedenfalls keineswegs die Folgerung ziehen, daß man sie weder studieren noch verstehen solle! Die Philosophie dagegen kann sich ihrerseits nicht auf irgendeine dieser toten Philosophien beschränken.
Mors immortalis15 Der Tod der Philosophien, die in der Zeit aufeinander folgen, ist die erste Bedingung für das Leben der Philosophie. Wir alles Lebende, ist die Philosophie ein stets wiederbegonnenes Sterben und somit zugleich eine fortwährende Schöpfung. Solange Philosophien sterben, wird die Philosophie leben. Denn es wird ein stets wieder begonnenes Leben sein. Und unter diesen Bedingungen offenbart sich das Wesen derer, die da sagen, daß die Philosophie tot sei. Es sind diejenigen, die nicht wahrhaben wollen, daß ihre Philosophie stirbt oder sterblich ist, diejenigen, die sich dermaßen an eine einzelne und einseitige Auffassung von der Philosophie klammern, daß sie sich nicht vorzustellen vermögen, daß diese eines Tages einer anderen Auffassung weichen kann. ' Sic glauben, wenn ihre Philosophie verschwände — eine i'* R. Descartes, Abhandlung über die Methode, i n : Ausgewählte Schriften, hg. v o n G. Irrlitz, Leipzig 1980, S. 1 1 . 15
K . Marx, Das Elend der Philosophie, i n : K . Marx/F. Engels, Werke, Bd. 4, Berlin 1959, S. 130. — Verkürztes Lukrez-Zitat; De rerum natura, HI/882: „mortalem vitam mors cui immortalis ademit" (das Sterbliche Leben hat ihm der unsterbliche Tod genommen).
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Philosophie, diejenige, der sie sich verschrieben haben —, dann würde damit die gesamte Philosophie erlöschen. Im übrigen lassen sie dieses Todesurteil für die Philosophie von der Höhe des Gipfels herniederfahren, den sie erklommen haben und den sie für unübertrefflich halten. Ob es ihnen nun voll bewußt ist oder nicht, so gehen sie von den Normen und Verheißungen einer partikulären — und gefährdeten — Philosophie aus, wenn sie das Ende der Philosophie für nahe halten. So ist denn auch die Bemerkung sehr banal geworden, daß sie, die alles philosophische Denken jetzt und künftig für unmöglich erklären und diese Unmöglichkeit zu beweisen versuchen, gerade damit recht lebhaft oder jedenfalls voller Schärfe weiter philosophieren. Wir sind jedenfalls, solange wir das sind, durchaus überzeugt, daß die Philosophie lebt und daß sie leben wird, solange es Menschen geben wird. Dieses Leben der Gattung muß mit einem Tod der Arten bezahlt werden — wobei das, was wir in diesem Fall Tod nennen, ein sehr spezieller und in mancher Hinsicht auserlesener Tod ist. Wir haben also die Entstehung oder Entwicklung einer neuen Philosophie zu erwarten und zu erhoffen. Jeder stellt sie sich nach der Couleur seines gegenwärtigen Denkens vor — und er träumt davon. Aber wir wissen gut, daß wir sie nicht wahrhaft vorhersagen können, ohne sie zu schaffen. Sie wird uns alle überraschen. Doch ohne die positiven Merkmale, die sie annehmen wird, präzisieren zu wollen, können wir immerhin die objektiven Bedingungen beschreiben, unter denen sie aufkommen und von denen sie in gewisser Weise abhängen wird. Jedenfalls sind wir mit unseren Studien, unseren Forschungen, unseren kleinen Arbeiten, diesem ganzen Gewimmel von geringfügigen Aktivitäten dabei, sie vorzubereiten. Alles in unserer Welt kündigt im Negativ ihre Heraufkunft an. Wer wird der junge Gedankenathlet sein, der sich dieses sorgsam ausgesparten Raums bemächtigt? In leidenschaftlicher Erwartung umringen wir die noch leere Stätte. 55
ANTONIO GARGANO
•'(Neapel)
Die gegenwärtige Krise der Philosophie und der Mut des Denkens In jeder Epoche ihrer Entwicklung hat die Zivilisation aus ihren griechischen Quellen, den Quellen des Logos geschöpft. In den Augenblicken des Vorwärtsstürmens der Menschheit haben die intellektuellen Avantgarden das Bewußtsein bekräftigt, daß der Mensch jedes Geheimnis der Wirklichkeit ergründen kann, weil sein Verstand, seine Vernunft von gleicher Art ist wie die Vernünftigkeit der Welt, wie die grundlegenden Gesetze der Wirklichkeit. In umgekehrter Weise verfestigten sich in Krisenepochen wie der unsrigen die Spaltung zwischen Subjekt und Objekt, wird die unendliche Entfernung des Menschen von der Welt und daher ihre grundlegende Unerkennbarkeit behauptet. Alles Nachdenken konzentriert sich auf das Ich. Es greifen Solipsismus, Existentialismus, verschiedenartige Formen des Irrationalismus und des Mystizismus um sich, die die Augen vor den vielfältigen Äußerungen des Wirklichen verschließen. Der Mensch wird in die Position des Schiffbrüchigen gedrängt, dem der Philosoph rät, sich nicht in die gefährlichen Wogen des „Ding an sich" zu wagen, sondern lieber in der Sicherheit der kleinen Insel der eigenen Subjektivität zu bleiben. Die eigentlichen Grundlagen der Zivilisation findet man 56
im klassischen Griechenland wieder, und man muß mit Hegel wiederholen: „Bei dem Namen Griechenland ist es dem gebildeten Menschen in Europa, insbesondere uns Deutschen, heimatlich zumute . . . das Hier, das Gegenwärtige, Wissenschaft und Kunst, was unser geistiges Leben befriedigend, es würdig macht sowie ziert, wissen wir von Griechenland ausgegangen, direkt oder indirekt — indirekt durch den Umweg der Römer." * Vor allem ist uns von Griechenland das stolze Bewußtsein von der Erkenntnisfähigkeit des Menschen überkommen, deren Grenzen nur die Grenzen der Welt selbst sind, wie es Lucretius besingt: „Da erkühnte zuerst sich ein Grieche, das sterbliche Auge/Gegen das Scheusal zu heben und kühn sich entgegenzustemmen./Nicht das Göttergefabel, nicht Blitz und Donner des Himmels/Schreckt' ihn mit ihrem Drohn. Nein, um so stärker nur hob sich/Höher und höher sein Mut. So wagt' er zuerst die verschlossnen/Pforten der Mutter Natur im gewaltigen Sturm zu erbrechen./Also geschah's. Sein mutiger Geist blieb Sieger, und kühnlich/Setzt' er den Fuß weit über des Weltalls flammende Mauern/Und er durchdrang das unendliche All mit forschendem Geiste." 2 Die Objektivität, die Regelmäßigkeit, die Vernünftigkeit der Weltordnung bestimmen die große Intuition des griechischen Genius: „Diese Welt, dieselbige von allen Dingen, hat weder der Götter noch der Menschen einer gemacht, sondern sie war immer und ist und wird immer sein ein ewig lebendiges Feuer, nach Maßen sich entzündend und nach Maßen erlöschend." 3 Ödipus, ein griechischer Mensch, 1
2
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G. W . F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Frankfurt a. M. 1974,1, S. 173. Lucretius, De rerum naturae. — Vgl. die Übersetzung von Hermann Diels in der Ausgabe: Lukrez, Über die Natur der Dinge (Philosophische Bücherei, Band 12), Berlin 1957, S. 3 0 - 3 1 . Herakleitos, Fragment 30, vgl. die Übersetzung von Wilhelm Capelle, in: Die Vorsokratiker. Die Fragmente und Quellenberichte, Berlin 1961, S. 142.
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enthüllt das Rätsel der Sphinx. Das Mysterium, das dem Menschen im asiatischen Orient droht und ihn erdrückt, ist aufgelöst: der Mythos überläßt den Platz dem Logos. Das Licht der Vernunft kann überall eindringen: das Maßlose ist auf das Maß reduziert: „Die orientalische maßlose Kraft der Substanz ist durch den griechischen Geist zum Maße gebracht und in der Enge gezogen worden. Er ist Maß, Klarheit, Ziel, Beschränkung der Gestaltungen, Reduktion des Unermeßlichen, des unendlich Prächtigen und Reichen auf Bestimmtheit und Individualität." 4 Die Kommensurabilität des Wirklichen mit dem Geist des Menschen, das Geschenk Griechenlands an die Zivilisation kennzeichnet jede Epoche des Fortschritts. Es genügt, an das italienische Rinascimento und selbst an die große Blütezeit der klassischen deutschen Philosophie in unmittelbarer Nähe der Französischen Revolution und der schöpferischen und fortschrittlichen Entwicklungsphase der Bourgeoisie zu denken. In der großen monistischen Philosophie Hegels wird das Wirkliche mit dem Vernünftigen nach der berühmten Formel versöhnt: „Alles was wirklich ist, ist vernünftig, alles was vernünftig ist, ist wirklich." Die Tendenz des Denkens geht dann aber nach der Auflösung des Hegelianismus in jene bereits von Lukäcs festgestellte und heute noch andauernde Richtung „Herabsetzung von Verstand und Vernunft, kritiklose Verherrlichung der Intuition, aristokratische Erkenntnistheorie, Ablehnung des gesellschaftlich-geschichtlichen Fortschritts, Schaffen von Mythen usw. . . . " 5 Dieser Typologie können heute andere Elemente, andere Formen der Manifestation des Irrationalismus hinzugefügt werden: die Tendenz zu einem erbitterten Formalismus, der jeglichen historischen Inhalt 4
5
G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, a. a. O. S. 177. G. Lukäcs: Die Zerstörung der Vernunft, Darmstadt und Neuwied 1974, S. 15.
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aus dem Denken ausmerzt und die Philosophie auf Logik reduziert, das Umsichgreifen verschiedener Formen des mystifizierenden Solipsismus, eine kleinliche philologische Forschung bar jedes auslegenden Elements und in platter positivistischer Weise, denen eine raffinierte Hermeneutik begegnet, die dagegen die Unerklärbarkeit des Textes und der Interpretation vorschlägt und in Subjektivismus verfällt. Diese vektorischen Kräfte ergeben eine einzige Resultante: den Relativismus und den Skeptizismus. Von einem rein historisch-philosophischen Standpunkt aus haben all diese Manifestationen des Irrationalismus nach letzter Analyse ihren Ursprung in der Wiederaufnahme des Kantschen Dualismus, unter dessen Zeichen man vielleicht die Parabel der gesamten nachhegelschen Philosophie lesen kann: vom Positivismus zu den positivistischen Reduzierungen des Marxismus der Zweiten Internationale, vom Neopositivismus zur Phänomenologie und zum Existentialismus. Bertrando Spaventa, der größte unter den Hegelianern Neapels, sah bei Begründung des Konzepts der „Zirkularität des europäischen Geistes" im Denken Hegels den Endpunkt des modernen Denkens, „insofern dies frei ist von allen Widersprüchen und Unvollkommenheiten der vorangegangenen Prinzipien, weil es sie bereits in sich selbst gelöst und begriffen hat, weil es in sich selbst die gesamte Realität des menschlichen Bewußtseins umgestaltet hatte und darum vollkommen adäquat zur Realität selbst ist". 6 Aus jenem Prinzip entsprang für Spaventa die dialektische, nicht zufällige, sondern notwendige Aufeinanderfolge aller „hauptsächlichen Stationen der Geschichte der Philosophie". Diese hatte daher eine Notwendigkeit, eine Logik. Gerade c
Vgl. B. Spaventa, Prolusione c Introduzione alle Lezioni di filosofia nell' Università di Napoli, 23. novembre—23. dicembre 1861 (1908 neuveröffentlicht von G . Gentile unter dem Titel: La filosofia italiana nelle sue relazioni con la filosofia europea).
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nach Hegel ist die Geschichte der Philosophie keine Galerie willkürlicher Meinungen, keine Aufeinanderfolge von Persönlichkeiten, die subjektive und unter sich gleichwertige Weltanschauungen zum Ausdruck bringen: „Die Philosophie aber enthält keine Meinungen; es gibt keine philosophischen Meinungen. Man hört einem Menschen — und wenn es auch selbst ein Geschichtsschreiber der Philosophie wäre — sogleich den Mangel der ersten Bildung an, wenn er von philosophischen Meinungen spricht. Die Philosophie ist objektive Wissenschaft der Wahrheit, Wissenschaft ihrer Notwendigkeit, begreifendes Erkennen — kein Meinen und kein Ausspinnen von Meinungen." 7 Die Geschichte der Philosophie als Erforschung ihrer inneren Entwicklungslogik entsteht mit Hegel: Auch wenn diese Geschichte entgegengesetzte Systeme vorzustellen scheint, ist sie tatsächlich von einem einzigen Prinzip getragen, das identifiziert werden kann. Die Existenz von entgegengesetzten philosophischen Systemen ist kein Argument zugunsten des Skeptizismus, wohl aber zugunsten einer dialektischen Theorie der Geschichte des Denkens. Der Skeptizismus, die Behauptung der Gleichwertigkeit der philosophischen Positionen ist tatsächlich falsch, ist nicht Ergebnis und Te/os der Geschichte der Philosophie, sondern eine spezifische Position, die durch ihre Parteilichkeit selbst überwunden wird. Der Skeptizismus gibt vor, jenseits der Geschichte der Philosophie selbst zu stehen, sich dem Urteilsspruch der Parteilichkeit und der historischen Begrenztheit zu entziehen, der über die anderen Positionen ausgesprochen wurde. Hegel zeigt jedoch, daß er seinerseits eine wohl determinierte, historische Position bildet. Seine Geschichtlichkeit — wie andererseits auch die aller anderen Denkformen — impliziert aber nicht, daß das geheime 7
G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, a. a. O., S. 30.
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Schicksal der Geschichte der Philosophie der Relativismus sei. „Es ist nicht einzusehen", argumentiert Vittorio Hösle, „warum dem gegenwärtigen geschichtlichen Relativismus ein anderes Los beschieden sein sollte, warum gerade er mehr als ein historisches Zufallsprodukt sein sollte, auf dessen baldige Erledigung begründete Zuversicht besteht, im Gegenteil: Gerade die Geschichte der Philosophie legt diese Annahme nahe." 8 Der Vernunft des Menschen kommt die Aufgabe zu, die historische Wirklichkeit zu lenken und diese menschliche Welt der Willkür, dem partikulären Willen und der Brutalität der Beziehungen der Gewalt zu entziehen. Tatsächlich ist sie hingegen heute nicht einmal in der Lage, ihren eigenen historischen Weg zu erfassen. Es blühen unzählige und sterile philologische Studien zur Geschichte des Denkens, bar jeder interpretierenden Dimension (während das systematische Denken leer wird, jeden Inhalt, jede Beziehung zur historischen Wirklichkeit verliert). Es ist wahr: „Die Philosophie der Gegenwart wird immer mehr zu einer Philosophiehistorie ohne Philosophie." 9 Für die antiken Lateiner behauptete Giambattista Vico: „Für die Lateiner sind die Begriffe des ,Wahren* und des , Geschaffenen' miteinander vertauschbar, oder, wie man sich gemeinhin im Sprachgebrauch der Schulen ausdrückt, konvertibel (verum et factum . . . convertuntur)."10 Es ist nötig, daß die Philosophie heute erneut den von Vico gewiesenen Weg beschreitet, jenen der Neuen Wissenschaft der Geschichte, 8
V. Hösle, Wahrheit und Geschichte. Studien zur Struktur der Philosophiegeschichte unter paradigmatischer Analyse der Entwicklung v o n Parmenides bis Piaton (Reihe „Elea" des Istituto Itahano per gli Studi Filosofici), Stuttgart - Bad Cannstatt 1984, S. 49.
9 Ebenda, S. 22. 10
G . B. Vico, Liber metaphysicus (De antiquissima italorum sapientia, liber primus 1,1), aus dem Lat. und Ital. ins Dt. übertragen v o n St. Otto und H. Viechtbauer, München 1979, S. 35.
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und dabei der Spaltung zwischen Wahrem und Tatsache ein Ende setzt, die sie steril und leer macht, während das Gespräch über die Welt des Menschen der Rhetorik und pseudowissenschaftlichen Diskursen positivistischen Schlages wie jenen der Humanwissenschaften überlassen wird. Die große griechische Intuition vom Zusammenfallen des menschlichen Logos und des universellen Logos, die Hegeische Koinzidenz von Wirklichem und Vernünftigem — ein Zusammenhang, der auch der theoretischen Kraft von Marx und Lenin, die aus der Hegeischen Dialektik schöpften, gegenwärtig blieb —, ist heute in der bürgerlichen Betrachtung der menschlichen Gesellschaft vergessen; sie scheint nur noch recht und schlecht in der Entwicklung der Naturwissenschaften zu leben. Und gerade von dem größten Wissenschaftler unserer Epoche, Albert Einstein, kommt die Aufforderung, die menschlichen Geschehnisse nicht in den Herrschaftsbereich des Zufalls zu verbannen. Einstein führte einen großen Teil der inneren Armut, die die Menschheit unseres Jahrhunderts ausdörrt, auf die „Gewohnheit zur Interpretierung aller Erscheinungen auf der Grundlage des Zufalls" zurück, auf eine Gewohnheit, die — auch bei den aufmerksamsten Intellektuellen — die Fähigkeit zur Orientierung schwächt und die in ihrer Folge ein Gefühl des Unbehagens einflößt und zum Probabilismus, zum Skeptizismus und schließlich zum Zynismus hinführt. In einer Situation wachsender Desorientierung — oft verborgen hinter ostentativen, unsicheren und unbegründeten Gewißheiten der Bequemlichkeit — rief Einstein dazu auf, die Aufmerksamkeit auf den Philosophen zu richten, den er immer als den ihm selbst am nächsten empfunden hat, auf Spinoza: „Obwohl Spinoza dreihundert Jahre vor unserer Zeit gelebt hat, ähnelt die geistige Situation, der er begegnete, um ihr kühn entgegenzutreten, der unsrigen in besonderer Weise." 11 11
A . Einstein, Einführung zu: R. Kayser, Spinoza. Portrait of a Spiritual Hero, New Y o r k o. J., S. XI.
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Noch heute ist also das Beispiel des holländischen Philosophen gültig: die Bemühung um das Erfassen der kausalen Zusammenhänge aller Erscheinungen, um das Erfassen der jedem Ereignis innewohnenden Notwendigkeit, und vor allem — schloß Einstein 12 , hat Spinoza uns einen Schatz überlassen — die Kohärenz in der exemplarischen Gestaltung der eigenen Existenz in Übereinstimmung mit dieser Vision von der Wirklichkeit, ohne sich in vereinfachter und hypokritischer Weise darauf zu beschränken, sie bloß zu verkünden. Einstein zeigt also mit Spinoza den Weg der äußersten intellektuellen Strenge und des dementsprechenden folgerichtigen Ausrichtens des eigenen Verhaltens: die Gründe der Realität erforschen und gemäß diesem Streben nach Vernünftigkeit zu leben — wie man leben muß, nicht wie es sieb bietet zu leben, sich nicht der zu ergreifenden Gelegenheit, dem Zufall, dem Zufälligen überlassend. Wenn Einstein glaubte, daß „die Welt auf die Vernunft gegründet ist und begriffen werden kann", scheint es hingegen, daß heute der bedeutendste Teil der Menschheit nur die Beute von rhetorischen, apologetischen, mystischen, irrationalistischen Diskursen ist, auch wenn diese sich unter den Gewändern der Wissenschaft präsentieren. Der Rhetorik der moralistischen Diskurse, die auf abstrakte aufklärerische Kategorien gegründet sind (formale Freiheit, Fortschritt, Suche nach dem Glück usw.: es scheint, daß die gesamte Denkarbeit zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts, die aus dem kritischen Nachdenken über die Bedeutung der Französischen Revolution geboren war, von den heutigen Intellektuellen beseitigt worden ist), steht das Wuchern von Diskursen der Nationalökonomen gegenüber (unveränderlich ökonomistischer Art), der Soziologen, der Psychologen, die nur Ausschnitte der zeitgenössischen Wirklichkeit aufgreifen, Fragmente, von denen ausgehend ungebührliche 12
Ebenda.
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Verallgemeinerungen abgeleitet werden. Die Totalität des historischen Szenariums und die Gesamtheit ihrer Vermittlungen entschwinden vollständig. Es gibt Gelegenheit, an die Worte Piatons zu erinnern: „Die jetzigen Weisen unter den Menschen setzen Eines, wie sie es eben treffen, und Vieles schneller oder langsamer als es sich gehörte, nach dem Einen aber gleich Unendliches; das in der Mitte hingegen entgeht ihnen, wodurch doch eben zu unterscheiden ist, ob wir in unsern Reden dialektisch oder nur streitsüchtig miteinander verfahren." 13 Die Philosophen verzichten also auf ihre spezifische Funktion, die darin besteht, „die eigene Zeit durch das Denken zu erfassen", die Welt des Menschen in einem konzeptionellen Licht zu interpretieren, das Szenarium der Geschichte durch die Vernunft zu beleuchten. Mehr noch als der Natur selbst ist die Vernunft der „zweiten Natur" zugemessen, jener der Institutionen, der Schöpfungen des menschlichen Geistes, der Beziehungen zwischen den Menschen. Die Welt der Nationen oder die •zivile Welt, um noch einen Ausdruck von Giambattista Vico zu gebrauchen, ist tatsächlich wegen ihres Wesens dem Verständnis des Menschen gegenüber offener, weil sie nicht die natürliche Welt selbst ist: „. . . daß diese historische Welt ganz gewiß von den Menschen gemacht worden ist: und darum können (denn sie müssen) in den Modifikationen unseres eigenen menschlichen Geistes ihre Prinzipien aufgefunden werden. Dieser Umstand muß jeden, der ihn bedenkt, mit Erstaunen erfüllen: wie alle Philosophen voll Ernst sich bemüht haben, die Wissenschaft von der Welt der Natur zu erringen; welche, da Gott sie geschaffen hat, von ihm allein erkannt wird; und vernachlässigt haben nachzudenken über die Welt der Nationen, oder historische Welt, die die Menschen erkennen können, weil sie die Menschen geschaffen haben", behauptet « Platon, Philebos, 17 a.
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Vico u', wobei er das Baconsche Konzept von der Wissenschaft als Wissen vermöge der Ursachen wieder aufgreift und umwandelt. Unter den verschiedenen Spaltungen unserer Epoche ist besonders verhängnisvoll jene zwischen dem Erkenntnisvermögen und der Welt der Zwecke. Der Raum der Vernunft ist stark eingeengt: ihr verweigert man gerade die Möglichkeit, die Zwecke zu bestimmen, die doch aber das Handeln des Menschen orientieren müßten. Die Vernunft, auf den einfachen Rang „instrumentaler Vernunft" reduziert, verkehrt sich in ihr Gegenteil. Die Ziele des menschlichen Handelns werden grundsätzlich der Gewalt des Irrationalen überlassen, also des individuellen Interesses und Willens — Beweggründen, die jedenfalls der Universalität der Vernunft entgegengesetzt sind. Und die Abdankung der Vernunft zugunsten der destruktiven Kräfte, der Verzieht auf jede universelle Perspektive zugunsten scheeler Partikularismen, der Abschied von den Hoffnungen auf Gleichheit zwischen den Menschen im Namen der faktischen Ungleichheiten (beschönigt und gerechtfertigt durch „technische" und fachmännische Diskurse), das ist der Bankrott der Intellektuellen. In dieser Situation ist ein Wiedererkennen der Zwecke notwendig, die die Menschheit verfolgen muß — auf der Grundlage einer rationalen Analyse der Wirklichkeit und somit gestützt auf das gesamte Erbe der philosophischen Tradition und des wissenschaftlichen Denkens. Die Philosophie muß die Richtungen des Weges der Menschheit, die zu durchlaufenden Wege aufzeigen, um die Beziehungen zwischen den Menschen vernünftiger zu gestalten, um die Welt menschlicher zu machen. Sie muß sich mit Macht als zivile Philosophie bekennen. Es gibt wahrlich das Bedürfnis 14
5
G. B. Vico, Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker. Nach der Ausgabe von 1744 übersetzt und eingel. von E. Auerbach, Bd. 1, München 1924, S. 125. Zur Architektonik
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um einen von Manfred Buhr geschätzten Ausdruck aufzugreifen, nach dem „Mut des Denkens". Ein großer Exponent des italienischen bürgerlichen Humanismus, Leonardo Bruni, sah in der Episto/a, mit der er an Papst Eugenio IV. seine Übersetzung der Politik des Aristoteles übersandte, die klassische Kultur in den Lehren kulminieren, „die die Staaten und ihre Regierung betreffen." Diese Lehren bilden in ihrer Gesamtheit eine Disziplin, die „darauf abzielt, allen Menschen das Glück zu verschaffen": „. . . es kann für den Menschen keine vorteilhaftere Disziplin der Erkenntnis geben als über die Stadt und den Staat, auf welche Weise sich die Gesellschaft erhält und wie sie untergeht." 15 Und ein anderer Humanist, Coluccio Salutati, brachte in einer komprimierten Formel das Lebensideal jener Intellektuellen zum Ausdruck, die in der Wiederentdeckung der klassischen Zivilisation Nahrung für eine beständige und höchste zivile Verpflichtung fanden: „ . . . daß ich den Freunden und dem Vaterland nützlich sein kann, um der menschlichen Gesellschaft durch das Beispiel und das Werk zu dienen." 16 Die Idee des tapferen Engagements des Philosophen in der Po/is war das Erbe, das der italienische Humanismus vom Höhepunkt der griechischen Zivilisation, vom Denken Piatons übernahm. Auch für Piaton ist „die größte aber und bei weitem schönste Weisheit die, welche in der Staaten und des Hauswesens Anordnungen sich zeigte, deren Namen Besonnenheit ist und Gerechtigkeit". 17 „Von seiner ersten Jugend an bis zum Vorabend des Todes", schreibt Giovanni Pugliese Carratelli 18 , „stellt 15 16
17 18
Vgl. E. Garin, Filosofi italiani del Quattrocento, Firenze 1942, S. 97. C. Salutati, De nobilitate legum et medicinae, zit. nach: E. Garin, a. a. O., S. 117. Piaton, Symposion, 209 a. G. Pugliese Carratelli, La cittä platonica, i n : L a p a r o l a d e l p a s s a t o , 1,1946, S. 6 (jetzt i n : G. Pugliese Carratelli, Scritti sul mondo antico, Napoli 1976, S. 412).
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Piaton in das Zentrum seiner Betrachtung das politische Problem: das Problem der Beziehungen zwischen dem Menschen, in griechischer Weise konzipiert als toXitixöv £ Trotz seiner Kritik an der AufkJärungsphilosophie crblickte auch Hegel in der Durchsetzung der Vernunft-Wahrheit „die Morgenröte einer schönern Zeit", deshalb wandte er sich gegen Hamann: „Die Aufklärung, welche Hamann bekämpft, dieses Aufstreben, das Denken und dessen Freiheit in allen Interessen des Geistes geltend zu machen, wird . . . von ihm übersehen, und ob ihm gleich mit Recht die Gestaltungen, zu welchen er dieses Denken nur brachte, nicht genügen konnten, so poltert er ganz nur so, um das Wort zu sagen, ins Gelag und ins Blaue hinein gegen das Denken und die Vernunft überhaupt, welche allein das wahrhafte Mittel jener gewußten Entfaltung der Wahrheit und des Erwachsens derselben zum Dianenbaume sein können." 5 Das Vertrauen zur unwiderstehlichen Kraft des Denkens des Menschen, „der Mut der Wahrheit, der Glaube an die Macht des Geistes" fi hielten an der Grundidee der klassischen bürgerlichen Philosophie fest, indem sie das Fazit aus dem deutschen Schlußkapitel ihrer Geschichtc zogen. Ist das Kernstück der Entwicklung dieser Philosophie < E b e n d a , S. 2 6 5 . 5
G . W . F Hegel, W e r k e m zwanzig Bänden, Frankfurt am Main
1969ff ,
Bd. 11, S. 331. 6
E b e n d a , Bd. 18, S 13. — Nach Hegel „ist es an und für sich für den zu der H ö h e des Geistes gebildeten Gedanken selbst und für seine Zeit Bedürfnis und darum unserer Wissenschaft allein würdig, daß das, was früher als Mysterium geoffenbart worden, aber m den reineren und noch mehr in den früheren Gestaltungen seiner Offenbarung dem formellen Gedanken ein Geheimnisvolles bleibt, für das D e n k e n selbst ( E b e n d a , Bd. 8, S. 31 )
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geoffenbart
werde . . "
im ganzen als Gcschichtc ihres Vernunft-Begriffs darzustellen 7 , so zentriert sich ihr Schlußkapitcl - die klassische bürgerliche deutsche Philosophie — unmittelbar und systematisch um jenen Vernunft-Begriff. Im Kontext seines Werdegangs galt der Kantsche Kritizismus nicht als Epochenschwelle — weder als „kopernikanische Wende", wie Kant selber erachtete, noch als frühe oder vorweggenommene Selbstkritik des „okzidentalen Rationalismus", wie etlichen Deutungen heutzutage dünkt; Kants Philosophie, die sich im Kritizismus nicht erschöpfte, konzipierte auf idealistische Weise den Gedanken der gesetzgeberischen Macht der Vernunft und des Verstandes. Insofern sie diese Macht vor der Materialität des Dinges an sich abbrach, nahm sie ein materialistisches Denkmotiv und zugleich ein agnostisches Element Humescher Herkunft und Prägung auf. Der auf der Humeschen Ansicht insistierende „Aenesidemus" widersetzte sich der Kantschen Philosophie: auch dies war ein Indiz dafür, daß man den Inhalt dieser Philosophie kaum auf den agnostischcn Kritizismus zurückführen konnte. In der Geschichte des Vernunft-Begriffs der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie wurde jenes agnostische Element eher erneuten Formen der Kritik ausgesetzt und unterzogen, war es eher überwunden als beibehalten: Fichte, Schelling und Hegel wiesen das Postulieren eines gedanklich unzugänglichen unbegreiflichen Dinges an sich ab. Kants fundamentaler Ansatz bestand in der Selbsterkenntnis der Vernunft, in der Aufhellung ihrer widersprüchlichen Bewegung; er bahnte Wege zur Idee einer Dialektik der Vernunft und einer dialektischen Vernunft.8 Der Primat der praktischen Vernunft, sowie 7
Zur Darstellung dieses Werdegangs, vgl. unter anderem M. Bulir, Vernunft — Mensch — Geschichte, a. a. O . , ders., Vernünftige Gcschichte. Zum Denken über Geschichte in der klassischen deutschen Philosophie, Berlin 1986.
8
Dies hob die Kant-Kritik des späten Schelling h e r v o r : „Kant
.nimmt
stillschweigend an, daß es keine andere als rationale Philosophie gebe." (F. W . J. Schelling, Sämmtliche Werke, hg. von K . F. A . Schelling, Stuttgart und Augsburg 1 8 5 6 f f . , Abth. II, Bd. III, S. 83).
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die idealistische Zentralstellung von Vernunft und Verstand bezeugten die philosophische Fassung einer gesellschaftlichen Umwälzung, „die deutsche Theorie der französischen Revolution" 9 ; das Werden des Vernunft-Begriffs von Kant bis Hegel reflektierte den Verlauf dieser Revolution und die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft. Durch die und in der Selbstprüfung der Vernunft hielt jene „philosophische Revolution" 10 die Idee der Macht der Ratio — sie umdenkend — aufrecht, seit Fichte subsumierte sie die Selbsterkenntnis der Vernunft dem philosophischen Ausbau und dem Durchsetzen der historischen Macht der als Subjekt-Objekt-Identität verstandenen Ratio, dem Wissen der Vernunft — dem Wissen durch die Vernunft und von der Vernunft —, der theoretischen Gestaltung der idealistischen Dialektik. Das philosophische Allgemeine erschien in der Geschichte des Vernunft-Begriffs in der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie als Feld von gedanklichen Anstrengungen, Konflikten und Wandlungen, Interessen und Leidenschaften, auch persönlichen Freundschaften und Brüchen; von dieser Geschichte galt Hegels Metapher vom Wahren — es sei „der bacchantische Taumel, an dem kein Glied nicht trunken ist", es sei „ebenso die durchsichtige und einfache Ruhe" 1J . Im Verhältnis Schelling — Hegel — Schelling verdichtete und widerspiegelte sich ein langer Abschnitt jener Geschichte von der Mitte der neunziger Jahre des 18. bis zu den frühen vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts: die Beziehung von Schelling und Hegel in der Jenaer Periode konzentrierte sich um einen Wendepunkt innerhalb der klassischen deutschen Philosophie; erst die Divergenz zwischen Hegel und Schelling nach ihrer Zusammenarbeit in Jena legte unterschiedliche Stufen der Dialektik-Entwicklung an den Tag. Als AuseinanK. Marx/F. Engels, Werke, Berlin 1956ff., Bd. 1, S. 80. W Vgl. ebenda, S. 79. " G. W. F. Hegel, Werke, Bd. 3, S. 46. 9
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dersetzung nm Vernunft und Dialektik, um die Vollendung jener klassischen deutschen Philosophie antizipierte sie zugleich auch Kontroversen um deren fundamentalen Inhalt, dann entfaltete sie sich zu einer solchen Kontroverse; schließlich vollzog sich in der Hegel-Kritik des alten Schelling in den 40 er Jahren der Bruch mit diesem Inhalt öffentlich und radikal, kündigte sich ein Übergang nicht im klassischen bürgerlichen Denken, sondern von diesem und gegen dieses zur spätbürgerlichen Geistigkeit an. Schelling erdachte seine „positive Philosophie" als Alternative zu Hegels Vernunft-Idealismus; er setzte seine eigene Frühphilosophie — die Naturphilosophie und die Identitätsphilosophie — auf das Niveau der „negativen Philosophie" herab. So sehr sich Schellings philosophisches Lebenswerk 12 den Gebilden linearer intellektueller Bewegung oder absoluter Gedanken-Zäsuren auch widersetzt, so sehr Prämissen der späteren Wende schon in seinen ursprünglichen Konzeptionen verborgen waren und die Reminiszenzen der Entwicklungsidee des jungen Schelling in der Darstellung der religiösen Spätphilosophie, besonders in den historischen Erörterungen der Philosophie der Mythologie auch aufschimmern, so sehr die langen Phasen des Schweigens, die den Prozeß seines Schaffens unterbrochen bzw. begleitet haben, die Einsicht in die Wandlungen und Periodenwechsel seiner Philosophie auch erschweren, so wirkte dennoch die philosophische Tendenz von Schellings Freiheitsschrift durch seine „Welt12
Zur Auseinandersetzung mit Schellings Irrationalismus, vgl. G. Lukäcs, D i e Zerstörung der Vernunft, Berlin 1954. — Zur Darstellung von Schellings philosophischem Œ u v r e vgl. unter anderem : X. Tilliette, Schelling. Une philosophie en devenir, vol. I—II, Paris 1 9 7 0 ; Schelling. Seine Bedeutung f ü r eine Philosophie der Natur und der Geschichte, hg. von L. Hasler, Stuttgart — Bad Cannstatt 1 9 8 1 ; Natur — Kunst — Mythos. Beiträge zur Philosophie F. W . J. Schellings, hg. v o n St. Dietzsch, Berlin 1978. — Zum Verhältnis von Philosophie und Politik bei Schelling, vgl. H. J. Sandkühler, Freiheit und Wirklichkeit. Zur Dialektik von Politik und Philosophie bei F. W . ]. Schelling, Frankfurt am Main 1968.
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alter"-Abhandlung bis zur „Philosophie der Offenbarung" hindurch nicht nur gegen Hegels Vernunft-Idealismus, sondern auch gegen wesentliche Motive und Inhalte von Schellings eigener Frühphilosophie. Die Kritik seiner „positiven Philosophie" an der Ratio und der „Vernunftwissenschaft" setzte einen Bruch innerhalb von Schellings o eigenem o Œuvre voraus oder implizierte ihn, auch wenn dieser Bruch nicht vollständig und absolut war. 13 Der alte Schelling befand sich im Dilemma: er sah sich gezwungen, die Tatsache dieses Bruches hervorzukehren; er behauptete, seine „positive Philosophie" sei „eine neue, bis jetzt für unmöglich gehaltene Wissenschaft", zugleich aber wollte er den Schein der Kontinuität aufrechterhalten:" 1 „wie sollte ich zumal die Philosophie, die ich selbst früher begründet, die Erfindung meiner Jugend, aufgeben?" Im Inhalt der „positiven Philosophie" herrschte aber der Bruch, die Kritik an der „negativen Philosophie" vor: „Der wahren Wissenschaft gegenüber, die selbst im Wahren ist, wird die negative Philosophie für sich den Namen der Philosophie nicht ansprechen dürfen." 1 5 Diese Vernunftkritik wurde durch die Umdeutung der Geschichtsphilosophie eingeführt, die Schelling in seiner Freiheitsschrift um den mythisierten, im Irrationalen empfangenen Willen konstruierte und der er die Naturphilosophie unterordnete. Der dialektische Ansatz schlug in Mythisieren um, wo er auch erlosch. Schellings Freiheitsschrift zufolge sei zwar zu erkennen, „daß der Begriff des Werdens der einzige der Natur der Dinge angemessene ist", dieser Gedanke war hier aber dem Verhältnis von Gott und Mensch subsumiert; er erzeugte 13
Vgl. M. Buhr, Die Entlassung der Philosophie aus Geschichte und Politik: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und die Entwicklungsgeschichte der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie, i n : M. Buhr, Vernunft — Mensch - Geschichte, a. a. O., S. 1 7 9 f f .
« F. W . J Schelling, Philosophie der Offenbarung 1841/42, hg. von M. Frank, Frankfurt am Main 1977, S. 95. « Ebenda, S. 152.
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in der Darstellung dieses Verhältnisses Widerspruch, der sich im supponierten irrationalen Grund auflöste. „Da aber doch nichts außer Gott seyn kann, so ist dieser Widerspruch nur dadurch aufzulösen, daß die Dinge ihren Grund in dem haben, was in Gott selbst nicht Er Selbst ist, d. h. in dem, was Grund seiner Existenz i s t . . . es sey die Sehnsucht, die das ewige Eine empfindet, sich selbst zu gebären." 1 6 Die irrationalistische Überwindung der Dialektik hatte den Schein der Dialektik an sich — sowohl in den „Deduktionen" der „positiven Philosophie" als auch in ihren Begriffen (wie in dem der ewig-unveränderlichen Gottheit als „actus des actus purus" 1 7 ). Die „positive Philosophie" insistierte aber auf der Kritik der mechanischen Anschauung, nicht um einer rationalen Dialektik, sondern um der „positiven Philosophie" Raum zu schaffen. Diese „positive Philosophie" vindizierte sich — der „negativen Philosophie" und der Hegeischen „Vernunftwissenschaft" entgegen — Objektivität, Existen^be^ogenbeit. Im Kapitel „Naturphilosophie" seiner Münchener Philosophiegeschichts-Vorlesungen (1827) — also seine eigene Philosophie und ihre Geschichte reflektierend — sagte Schelling über die Betrachtung Gottes, seines Werdens und Geschehens in der „negativen" Frühphilosophie: „. . . alles ist nur in Gedanken vorgegangen, und diese ganze Bewegung war eigentlich nur eine Bewegung des Denkens . . . eben damit begab sie sich ihres Anspruchs auf Objektivität, d. h. sie mußte sich als Wissenschaft bekennen, in der von Existenz, von dem, was wirklich existiert und also auch von Erkenntnis in diesem Sinn gar nicht die Rede ist . . ." 1 8 Schellings Kritik an der als „reine Vernunft-
17 18
12
F. W. J. Schelling, Sämmtliche Werke, a. a. O., Abth. I, Bd. VII, S. 359. Vgl. ebenda, Abth. II, Bd. IV, S. 349. F. W. J. Schelling, Zur Geschichte der neueren Philosophie. Münchener Vorlesungen, hg. von M. Buhr, Leipzig 1968, S. 142. — Schelling siedelte das Irrationale im Sein an; 1812 schrieb er in Antwort auf Eschenmayer: „Sie wollen das Irrationale in der Höhe suchen, das Ich in der Tiefe. Sie Z u r Architektonik
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Wissenschaft" aufgefaßten Philosophie warf Hegels Lehre vor, sie sei im logischen Prozeß befangen geblieben 19 ; die „positive Philosophie" versprach, in beiden Hinsichten außerhalb der Vernunft anzusetzen — das außerhalb der Vernunft seiende Absolute Gottes, und dieses absolute Sein außerhalb der Vernunft zu begreifen. Schelling war sich dessen bewußt, daß Hegels Vernunft-Philosophie das Wirkliche zu ihrem Gegenstand und Inhalt hatte: „Nun der Grundgedanke selbst von Hegel ist, daß die Vernunft sich auf das An sich, das Wesen der Dinge bezieht, woraus unmittelbar folgt, daß die Philosophie, inwiefern sie Vernunftwissenschaft ist, nur mit dem Was der Dinge, ihrem Wesen sich beschäftige." 20 Die „positive Philosophie" beanspruchte, statt des Was das Daß, statt des Wirklichen die Wirklichkeit überrational-unmittelbar zu erfassen 21 , wobei diese „Wirklichkeit" — nach Schelling — nicht das Materielle, sondern das Ewig-Unveränderlich-Göttliche sei: „denn was ein Inbegriff von Principien des Seyns, kann nur Geist seyn, was der Inbegriff aller Principe, nur der absolute Geist.'"11 Schellings Spätphilosophie scheint eher ihren gegenwärtigen Deutungen nach nachidealistisch; ihrem Selbstverständnis nach war sie der eigentliche Idealismus selber. Diese Philosophie wirkte direkt und entscheidend auf den Übergang vom Vernunft-Idealismus des klassischen Zeitn e n n e n irrational, was unserem Geiste am unmittelbarsten gegenwärtig ist, w i e Freiheit, T u g e n d , Liebe, F r e u n d s c h a f t . . . Ich n e n n e irrational, was d e m Geiste am meisten entgegengesetzt ist, das Seyn als solches, oder das w a s Plato das Nicht-Sejende
nennt." (F. W . J . Schelling, Sämmtliche
Werke,
a. a. O., A b t h . I, Bd. VIII, S. 1 6 3 . ) 19
F. W . J . Schelling, Philosophie der O f f e n b a r u n g 1841/42, a. a. O., S. 1 3 1 .
20 F. W . J. Schelling, Sämmtliche W e r k e , a. a. O., A b t h . II, Bd. III, S. 60. 21
D i e „negative Philosophie" soll nach Schelling eine Wissenschaft sein, „die das W e s e n der D i n g e begreift, den Inhalt alles Seyns", die „positive Philosophie" dagegen „eine Wissenschaft, welche die wirkliche Existenz der D i n g e erklärt" (ebenda, S. 95).
22 Ebenda, S. 174.
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alters zur Lebensphilosophie in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts ein: Schellings Berliner Vorlesungen 23 haben Kierkegaard erst beeindruckt, dann gelangweilt, Burckhardt empfand mehr „das Unheimliche, Monströse, Gestaltlose" in ihnen. Aber sowohl den Beeindruckten, als auch den Abgeschreckten ließ sie nicht nur den Bruch in Schellings eigener geistiger Laufbahn und den zwischen dem alten Schelling und Hegel spüren, sondern auch die derzeitige Krisenstimmung, das Gefühl der Zeitenwende erleben, den Prozeß des Wandels des bürgerlichen, philosophischen Bewußtseins ahnen. Signalisierte und prägte Schellings Spätphilosophie in ihrer direkten Wirkung diesen Wandel mit, kennzeichnete sie die Abwendung des bürgerlichen, philosophischen Bewußtseins vom Anliegen der Vernunftphilosophie, so lebte sie dennoch bis zu Jaspers und Heidegger — mehr durch Vermittlung ihres unmittelbaren Schockeffekts, mehr in ihrer letzten Schlußfolgerung und Gesamtrichtung, als durch das Aneignen und Wiederdurchdenken — fort. Erst Jaspers' Existenzphilosophie und Zeitdiagnose 24 , besonders aber Heideggers Seinsphilosophie 25 griffen reaktualisierend, in philosophiekonstituierender Absicht auf Schellings Spätphilosophie zurück. Auf Heideggers Auffassung basierte der Versuch — vor allem in den Schriften von Walter Schulz —, die Philosophie des alten Schelling als „die Vollendung des Deutschen Idealismus" zu betrachten, wobei „Vollendung" im zweifachen Sinne des Zu-EndeDenkens, der höchsten Phase eines Prozesses und in dem des Abschlusses verstanden ist. Die Stellung der Spätphilosophie Schellings im Übergang zur nachklassischen Philosophie (und damit auch das Wesen dieses Übergangs 23
Vgl. die Dokumentation in: F. W . J. Schelling, Philosophie der Offenbarung 1841/42, a. a. O., S. 4 5 1 f f . Vgl. K . Jaspers, Schelling. G r ö ß e und Verhängnis, München 1955.
25
V g l . M. Heidegger, Schellings Abhandlung über das Wesen der merschlichcn Freiheit (1809), Tübingen 1971.
11
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schlechthin) erscheint hier als notwendige Entfaltung und Folge des Vernunft-Idealismus. „Schellings Spätphilosophie ist der Bewegungsvollzug der sich transzendierenden Vernunft . . . Diese JV/foibegrenzung der Vernunft ist das Grundgeschehen der Epoche des Deutschen Idealismus, die sich in Schellings Spätphilosophie vollendet" 2 6 . Die Absage an die „selbstherrliche Vernunft", die Verkündung ihres Scheiterns wird zugleich als Ansatz zur Überwindung des Idealismus, als „Nachidealismus" gedeutet: Schelling sei zu Geschichtskonzeptionen gelangt, „die heute offenbar ernstgenommen werden können als das, was man die .Aufhebung des Idealismus von innen' nennen kann: Wird .Idealismus' der Glaube an die Macht der Vernunft oder das Vertrauen darauf, daß Vernunft die Welt beherrscht, genannt, so besteht die Selbstaufhebung des Idealismus in der Entdeckung der Dialektik von Macht und Ohnmacht der Vernunft." 2 7 Der Bruch, den Schellings Spätphilosophie vollzog, ist derart einerseits durch die „Selbstaufhebung der Vernunft" verschleiert und verharmlost, als Folge der Eigenund Selbstbewegung der Ratio dargestellt, andererseits zur Abkehr vom Idealismus stilisiert. Die „nachidealistische" Deutung der Schellingschen Kritik an der Vernunft-Philosophie hat zu ihrer latenten, bisweilen expressis verbis ausgesprochenen Folge, daß eigentlich und radikal eben Schelling und nicht Marx den Idealismus überwunden habe, daß Marx, wegen seiner Hegeischen Bindung und seines Festhaltens an der rationalen Erkenntnis, im Idealismus befangen bliebe. Diese Konklusion zieht Theunissen, obwohl er Schcllings Spätphilosophie kritischer beurteilt, deren Scheitern mehr wahrnimmt, als die gängigen „nachidealistischen" Interpretationen. „Aufhebung des Idea26
W. Schulz, Die Vollendung des Deutschen Idealismus in der Spätphilo-
27
L. Hasler, Schelling ernstgenommen, in- Schelling. Seine Bedeutung für
sophie Schellings, Pfullingen 1975, S. 329. eine Philosophie der Natur und der Geschichte, S 13.
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lismus ist die Figur, die ihre Bewegung beschreibt, also auch die innere Verfassung ihrer Systematik", sagt er über die Spätphilosophie Schellings. „Es gibt jedoch Anlaß zu vermuten, daß Marx den verabschiedeten Idealismus faktisch ebensowenig hinter sich gelassen hat, wie Kierkegaard, trotz seines Auszugs aus dem .objektiven Denken' . . . so droht der Marxsche Materialismus, von Anfang bis Ende fixiert auf starre Umkehrungsformeln, dem Schicksal zu verfallen, dem alle Umkehrungsparolen bis hin zu Nietzsche ausgesetzt waren: abhängig zu bleiben von dem, was da bloß umgekehrt wird." 28 Diese Auffassung meint auch, „die Vorzeichnung der Marxschen Dialektik in der Spätphilosophie Schellings" erblicken zu können 29 , wobei die konstitutive Rolle, die der Kritik an der Spätphilosophie Schellings im Entstehungsprozeß der materialistischen Dialektik zukam, in den Hintergrund tritt. Die Gegensätzlichkeit der Schellingschen und der Marxschen Hegel-Kritik wird nicht aufgehoben, auch nicht gelindert, indem die Hegel-Kritik des späten Schelling den Idealismus der Vernunft-Philosophie attackierte, insbesondere, daß in „der unbedingten Vernunftwissenschaft. . . die Vernunft nur noch sich selbst gegenüber steht, und das Erkennende so gut wie das Erkannte ist" 30 . Sowohl die lebensphilosophische als auch die materialistisch-dialektische Kritik am Vernunft-Idealismus bekämpften die Hypostasierung der Ratio, die Setzung einer absoluten Selbstbewegung des Begriffs, den Primat der Logik in der Philosophie. Schellings Lebensphilosophie vollzog aber diese Kritik, um die Ohnmacht der Vernunft, der begrifflichen Erkenntnis zu demonstrieren, um die „positive Philosophie" des Göttlichen, der 28
M. Theunisscn, Die Aufhebung des Idealismus in der Schellings,
Spätphilosophie
in: Philosophisches Jahrbuch, 83. Jg., 1. Hb.Bd.,
München
1976, S. 5 f . » Ebenda, S. 17. 30 F. W . J. Schelling, Sämmtliche Werke, a. a. O., Abth. II, Bd. III, S. 57.
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Mythologie und der Offenbarung einzuführen. Marx' Hegel-Kritik, die sich einerseits mit dem theologischen Element auseinandersetzte und auf die Rettung der Dialektik hinarbeitete, und die Auflehnung des späten Schelling gegen die „unbedingte Vernunftwissenschaft" andererseits, die die Begriffsdialektik wegen der Herabsetzung Gottes angriff ( „ D e r Satz: die Bewegung des Begriffs ist die allgemeine absolute Tätigkeit läßt auch Gott für nichts anderes übrig als die Bewegung des Begriffs, d. h. selbst nur der Begriff zu sein" 3 1 ), die den Vernunft-Idealismus v o n einem Idealismus der Überwindung der Vernunft, v o n einem Prinzip Glauben her kritisierte, sind nicht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. K n ü p f t die materialistische Dialektik durch historische Kontinuität und fundamentalen Wandel zwar an die idealistische Dialektik (auch an den Ansatz des frühen Schelling) an, so bildet sie dennoch kein gedankliches Kontinuum mit dem transformierten spätbürgerlichen Idealismus. Im Prozeß der materialistischen „ A u f h e b u n g " der idealistischen Dialektik hat die Arbeit an Hegels Philosophie geschichtlichen und theoretischen Vorrang. Sie ist die Zusammenfassung und Vollendung des klassischen bürgerlichen deutschen Denkens. Diese Zusammenfassung und Vollendung sind relativ, nicht erschöpfend, sie implizieren keine teleologische Deutung und Bedeutung; die Ideen Kants, Fichtes oder des frühen Schelling wurden in Hegels Denken nicht ganz absorbiert, ihre philosophische Relevanz beschränkt sich nicht darauf, daß sie Hegels Vorläufer waren, bzw. auf das, was sie zu Hegels Vorläufern machte. 3 2 Ihre materialistische Lektüre ist von selbständigem Belang im Werdegang 31
F. W. J. Schölling, Zur Gcschichte der neueren Philosophie, a. a. O., S. 147.
32
Vgl. M . Buhr, Von Kant zu Hegel — ein philosophiehistorisches Klischee, i n : Erneuerung der Transzendcntalphilosophie im Anschluß an Kant und Fichte, hg. von K . Hammacher und A. Mues, Stuttgart — Bad Cannstatt 1979, S. 76ff.
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der marxistischen Philosophie. Die Hegeische Philosophie als Zusammenfassung und Vollendung ist die abschließende Phase eines „Zirkels" in der Geschichte des Denkens, nämlich der Entwicklung der idealistischen Dialektik in der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie. Hegels Kritik an der Transzendentalphilosophie 33 war notwendiges Moment im Durchbruch zur Dialektik der Objektivität 3/ *. Die Transzendentalphilosophie erwies sich als Idealismus der (nicht-individuellen) Erkenntnissubjektivität, in dem philosophische Entdeckungen verortet waren, nicht im Sinne von gelungenen Lösungen, sondern in dem von bewußtwerdenden Problemen: die Fragestellung nach der Allgemeinheit und Notwendigkeit der Erkenntnis, nach der Dialektik von begrifflichem Wissen und Erfahrung, nach der Erkenntnis der Erkenntnis, und — vermittelt durch das Umdenken des Apriori und die Unterscheidung vom empirischen und transzendentalen Bewußtsein — die Frage nach der Geschichtlichkeit und Gesellschaftlichkeit der Erkenntnis. Marx' Materialismus ist keine Transzendentalphilosophie, und er widersetzt sich einer transzendentalen Deutung. Er erfaßt die in der Transzendentalphilosophie liegende Problematik von einer Theorie her, die — ihrem Inhalt, ihren 33
Zum Gegensatz von Transzendentalphilosophie und absolutem Idealismus — eher von der ersteren her — vgl. R. Lauth, Philosophie transcendentale et idéalisme absolu, in: Archives de Philosophie, tome 48, cahier 3, 1985, S. 371 ff.
M
„Hegel erbebt den subjektiven Idealismus Kants zu einem objektiven und absoluten ..." (W. I. Lenin, Werke, Berlin 1955 f f B d . 38, S. 157.) - Dieser absolute Idealismus, der die Vernunft als „Seele", als Notwendigkeit der Realität setzte, war die Grundlage der umfassenden, Wirklichkeit und Erkenntnis begreifenden, nicht-transzendentalen Dialektik. Engels' Idee folgend, daß „das Hegeische System nur einen nach Methode und Inhalt idealistisch auf den Kopf gestellten Materialismus repräsentiert" (K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 21, S. 277), hat Lenin in Hegels „Wissenschaft der Logik" Punkte „des Umschlagens des objektiven Idealismus in den Materialismus" wahrgenommen (vgl. W. I. Lenin, Werke, Bd. 38, S. 158).
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Fragestellungen und ihrer Struktur nach — disparat 2ur Transzendentalphilosophie steht. Greift sie, um diese Problematik zu eruieren, auf Kant, Fichte oder den jungen Schelling zurück, so denkt sie den philosophischen Entwicklungsgang und innerhalb dessen die Hegeische Kritik der — vor allem Kantschen — Transzendentalphilosophie mit. Die materialistisch-dialektische Durchforschung der naturdialektischen (und geschichts- bzw. erkenntnisdialektischen) Gedanken des frühen Schelling hat die Einsicht zur Voraussetzung, daß Hegels Philosophie zwar von diesen Gedanken beeinflußt und angeregt war, später auch über Schelling hinausging, sich aber jene Gedanken in ihrer Gesamtheit nicht subsumierte. Die emphatische Bejahung der Schellingschen Naturphilosophie, welche den ganzen Schelling — seine Früh- und Spätphilosophie — für ein ökologisches Bewußtsein reklamiert, und die angeblich auf der unmittelbaren Erfahrung beruhende Naturphilosophie mit der das Wesen verfehlenden objektivierenden Naturwissenschaft kontrastiert, 35 setzt sich der Gefahr aus, die Rupturen zwischen der Früh- und Spätphilosophie Schellings, die unterschiedlichen, auch gegensätzlichen Anfangsgründe seiner naturphilosophischen Schriften vor der und um die Jahrhundertwende und seines Freiheitstraktats außer acht zu lassen, Schellings Naturphilosophie mit heutiger Wissenschaftskritik ä la Heidegger oder Adorno zu vermengen. Der Versuch, Schellings „intellektuelle Anschauung" gegen Hegel zu verteidigen und wiederherzustellen, führt zum Abbruch der Dialektik, zum Ansatz der Lebensphilosophie zurück. Das dialektische Wissen der absoluten Vernunft 3 6 im 35
36
Vgl. W. Schmied-Kowarzik, Zur Dialektik des Verhältnisses von Mensch und Natur. Eine philosophiegeschichtliche Problemskizze zu Kant und Schelling, in: Natur und geschichtlicher Prozeß. Studien zur Naturphilosophie F. W. J. Schellings, hg. von H. J. Sandkühler, Frankfurt am Main 1984, S. 145 ff. Zum Begriff der absoluten Vernunft vgl. M. Buhr, Absolute Vernunft —
184
Widerstreit — dies umfaßt erstens das dem dialektischen. Wissen eigentümliche Bewußtwerden der inneren Widersprüchlichkeit der Vernunft, die im absoluten Idealismus Notwendigkeit der Realität und Wissen zugleich ist; zweitens den Widerstreit zwischen dialektischem Wissen und absoluter Vernunft in demselben Idealismus; drittens den philosophischen Widerstreit um das dialektische Wissen der Vernunft. D a s materialistisch-dialektische Wissen ist nicht das der absoluten Vernunft. In Auseinandersetzung mit dem klassischen bürgerlichen Idealismus, zuallererst mit dem Hegeischen, unterzog Marx den Begriff einer weltschaffenden und weltregierenden, in der Geschichte waltenden absoluten Vernunft seiner materialistischen Kritik, wodurch sich die in jenem Vernunft-Begriff unter dem Primat der Idee vereinigten Momente — unter anderem die Dialektik v o n objektiver Geschichtsnotwendigkeit und zielsetzendem Handeln, von Wissen und Realität, v o n Erkenntnisvermögen und Erkenntnisgehalt, die Selbstreflexion der Dialektik selber — differenzierten und umwandelten. Sie fanden ihre veränderte Stellung im Zusammenhang einer neuen theoretischen Totalität, wo auch die materialistischhistorisch verstandene, vielschichtige Vernunft-Kategorie angesiedelt ist. Das Phänomen des dialektischen Wissens der absoluten Vernunft im Widerstreit ist in aufgehobener und überwundener Gestalt erhalten: E s gehört zur unmittelbaren Vorgeschichte der materialistischen Dialektik und ihres Gegensatzes zum spätbürgerlichen Idealismus. ein Oxymoron? Zum Verhältnis von absoluter und historischer Vernunft, in: M. Buhr, Vernünftige Geschichte, a. a. O., S. 111 ff.
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TOM ROCKMORE
(Québec)
Hegel und die gesellschaftliche Funktion der Vernunft Wenn die Philosophie von positiver gesellschaftlicher Bedeutung sein soll, so ist es offensichtlich notwendig, über die Forderungen nachzudenken, die in ihrem Namen erhoben werden oder erhoben werden können. Im vorliegenden Kontext wird es von Nutzen sein, den Rahmen der Diskussion in zweierlei Hinsicht zu begrenzen. Zum ersten werde ich mich auf die Rolle konzentrieren, die die Philosophie im Unterschied zu ihrer bisherigen Rolle spielen kann oder soll. Demgemäß werde ich nicht erläutern, was die Philosophie in der Vergangenheit war, bis auf einige Anmerkungen dazu, wie selten die Philosophen bereit waren, sich für ihre Überzeugungen zu opfern. Für einen jeden Sokrates oder Spinoza gibt es zu viele Kants, die es vorziehen, sich bescheiden zu unterwerfen. Ich werde auch die gegenwärtige Rolle der Philosophie nicht kommentieren, die unglücklicherweise im allgemeinen zu wenig dazu tut, die Überzeugung zu zerstören, daß sie bestenfalls gesellschaftlich irrelevant ist und schlechtestenfalls dazu dient, gesellschaftliche Veränderung zu verhindern. Zum zweiten werde ich die Diskussion auf eine einzige Auffassung von der gesellschaftlichen Funktion der Phi186
losophie, erläutert an Hegels Standpunkt, beschränken. Dieser Standpunkt ist seit mehr als hundertfünfzig Jahren Gegenstand einer Kontroverse. Diese Kontroverse war sicherlich einer der hervorstechenden Faktoren, die nach Hegels Tod zur Spaltung seiner Anhänger in gegnerische Parteien führte. Da aber dieser Standpunkt anscheinend nicht richtig verstanden worden ist, ist er gegen Kritik nicht so anfällig, wie oft angenommen wiid. Die Prämisse zur vorliegenden Diskussion ist einfach aber ausreichend, um einige der üblichen Einwände zu widerlegen, die gegen Hegels Verständnis von der gesellschaftlichen Rolle der Philosophie erhoben worden sind. Von den Anfängen der Philosophie an haben ihre Vertreter ihre Aufgabe als Verteidigung der Vernunft verstanden. Wenn die Philosophie eine gesellschaftliche Rolle und Funktion haben soll, so muß dies vermöge des Begriffs der Vernunft geschehen, den sie vertritt. Bereits im antiken Griechenland scheiden sich Plato und Aristoteles in diesem Punkt, und ihre Nichtübereinstimmung kehrt ceteris paribus im modernen Denken wieder, insbesondere in der aktuellen Diskussion des Verhältnisses von Theorie und Praxis in der Tradition der deutschen Philosophie. Dieses Verhältnis ist ein wichtiges Thema in Kants Denken, obgleich seine Darstellung widerspruchsvoll ist. Aber Hegel, nicht Kant, wird von Generationen von Kommentatoren ob eines Begriffs der Vernunft kritisiert, der seine Forderungen nach ihrem gesellschaftlichen Nutzen nicht rechtfertige. Obgleich Hegels Begriff der Vernunft, auf den sich seine Forderung nach gesellschaftlichem Nutzen der Philosophie stützen muß, allgemein bekannt ist, wird er nicht richtig verstanden. Demzufolge besteht mein Beitrag aus zwei Überlegungen. Erstens möchte ich darlegen, daß im allgemeinen die Kritik, die gewöhnlich gegenüber Hegels Auffassung von der gesellschaftlichen Rolle der Philosophie vorgebracht wird, den Begriff der Vernunft, auf dem sie
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basiert, weitestgehend ignoriert oder 2umindest nicht vollständig erfaßt. Zweitens möchte ich darlegen, daß, wenn wir Hegels Begriff der Vernunft untersuchen — vor allem die ihr innewohnende Kreisförmigkeit —, deutlich wird, daß das bekannte Auseinanderklaffen der früheren und späteren Formulierungen seiner Auffassung von der gesellschaftlichen Rolle der Philosophie nur ein scheinbares ist. Das Ergebnis soll eine interessante, von der Gesellschaft mitbestimmte Anschauung über die Rolle der Philosophie zeigen, die sich in ihrer Art beispielsweise vom Kantschen Standpunkt unterscheidet. Hegels Auffassung von der gesellschaftlichen RoJle der Philosophie ist einerseits zwar beständiges Thema seiner Schriften, andererseits aber schwer zu verstehen. Gewissermaßen an Plato erinnernd, besteht Hegel häufig auf der zentralen gesellschaftlichen Bedeutung der Philosophie. So betont er in dem bekannten frühen Brief an seinen Freund und Verleger Niethammer die Entscheidung, seine K r a f t der Theorie zu widmen, durch die Bemerkung, daß Ideen, einmal entworfen, nach ihrer eigenen Verwirklichung streben. 1 Später, in seiner Reifephase, in der „Anrede an seine Zuhörer bei Eröffnung der Vorlesungen in Berlin" (1818) betont er die gesellschaftliche Rolle der Philosophie als bedeutsam für die Kultur und als Manifestation der dem Menschen eigenen Fähigkeit in ihrer höchsten Form. 2 Der Unterschied zwischen diesen beiden Ansichten ist offensichtlich. E s ist eine Sache, den gesellschaftlichen Nutzen 1
2
„Die theoretische Arbeit, überzeuge ich mich täglich mehr, bringt mehr zustande in der Welt als die praktische; ist erst das Reich der Vorstellung revolutioniert, so hält die Wirklichkeit nicht aus." (G. W. F. Hegel, Brief an F. I. Niethammer vom 28. Oktober 1808, in: Briefe von und an Hegel, hg. von J. Hoffmeister, Hamburg 1952, S. 253.) Vgl. G. W. F. Hegel, System der Philosophie. Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, in: Sämtliche Werke, hg. von H. Glöckner, Stuttgart 1927-1940, Bd. 8, S. 31-36.
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der Theorie durch die These zu bejahen, daß sie eine positive Rolle bei gesellschaftlicher Veränderung spielen muß. Es ist jedoch etwas anderes, auf der spezifischen Rolle zu bestehen, die der Philosophie aufgrund ihres Mittels zugeschrieben wird, d. h. der reflexiven Form des Denkens, die wohl die höchste Form der Fähigkeit darstellt, die den Menschen von anderen Lebewesen unterscheidet. Wenn auch der Mensch die Fähigkeit zum Nachdenken besitzen mag, so folgt daraus nicht, daß eine solche Fähigkeit gesellschaftlich nützlich ist. Die Forderung nach einem solchen gesellschaftlichen Nutzen wird jedoch von Hegel in seinen Bemerkungen über die Relevanz der Theorie gegenüber der Praxis erhoben, sowohl im erwähnten Brief als auch an anderem Ort. 3 Gewiß, Hegel hat behauptet, daß die Philosophie gesellschaftlich nützlich ist. Aber auf Hegelschem Boden scheint diese Behauptung schwer aufrechtzuerhalten gewesen zu sein. Das belegen eine Reihe von Stellen in seinen Schriften, besonders in der Vorrede zu den „Grundlinien der Philosophie des Rechts". Aus theoretischer Sicht wird die Behauptung, daß die Philosophie nur post festum entsteht, häufig so betrachtet, als entziehe sich ihr jegliche nützliche gesellschaftliche Rolle, mit Sicherheit in bezug auf die zukünftige Form der Gesellschaft/* Denn wenn Philosophie erst nach 3
4
Vgl. z. B. G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, § 3. „Um noch über das belehren, wie die Welt sein soll, ein Wort zu sagen, so kommt dazu ohnehin die Philosophie immer zu spät. Als der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet und sich fertig gemacht hat. Dies, was der Begriff lehrt, zeigt notwendig ebenso die Geschichte, daß erst in der Reife der Wirklichkeit das Ideale dem Realen gegenüber erscheint und jenes sich dieselbe Welt, in ihrer Substanz erfaßt, m Gestalt eines intellektuellen Reichs erbaut. Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden
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der Wirklichkeit entsteht, dann erscheint sie offensichtlich zu spät auf dem Schauplatz, um das zu beeinflussen, was bereits stattgefunden hat und bereits dabei ist, Geschichte zu werden, gerade wenn es endlich erfaßt werden kann. A u s praktischer Sicht erheben seit Erscheinen der „Rechtsphilosophie" viele Kommentatoren auf verschiedene Art und Weise Einwände gegen die vermeintliche Identifizierung der Vernunft selbst mit der zeitgenössischen Realität in Hegels Denken, vor allem gegen eine beabsichtigte Identifizierung der Hegeischen Philosophie mit dem preußischen Staat. Beide Einwände können durch die Bemerkung zusammengefaßt werden, daß Hegel in seinen späteren Schriften zumindest teilweise seinen früheren Glauben an die gesellschaftliche Rolle der Philosophie aufgegeben habe. Nach dieser Interpretation hat das, was einmal eine jugendliche, progressive Denkweise war, einer konservativen, vielleicht reaktionären, jedoch realistischeren Darstellung des gesellschaftlich inkonsequenten Wesens der Philosophie Platz gemacht. Ich habe bereits meine Absicht erklärt, darzustellen, daß Hegels Auffassung v o m gesellschaftlichen Nutzen der Philosophie interessanter ist, als oft angenommen wird. Meine Darstellungen sind sicherlich wertlos, wenn sie nicht den erwähnten dagegen erhobenen Einwand widerlegen können. Dieser Einwand betrifft in allen seinen Formen das umfassendere Problem des Verhältnisses zwischen Theorie und Praxis. D a Kants Standpunkt eine frühe, widersprüchliche Version dieses Verhältnisses enthält, wird es nützlich sein, zunächst diesen zu betrachten. Die Gründe dafür sind einfach. Sie liegen in Hegels A u f fassung von der inneren Wechselbeziehung zwischen histoDämmerung ihren Flug." (G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts. Vorrede, in : Werke in zwanzig Bänden, hg. von E. Moldenhauer/ K . M. Michel, Bd. 7, Frankfurt a. M. 1970, S. 27/28.)
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rischen und systematischen Betrachtungen und des Verhältnisses seines eigenen Bemühens zur kritischen Philosophie. Es ist wohlbekannt, daß Hegel mit der Philosophie seiner Zeit unzufrieden war. Mit Ausnahme Fichtes und Schellings hielt er die zeitgenössischen Denker für Repräsentanten der Unphilosophie. Insbesondere war er unzufrieden mit der Aufnahme seines eigenen Denkens. In der Vorrede zur zweiten Ausgabe der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften" schreibt er, daß die Reaktion der Kritik auf seine Arbeit wenig Befähigung zu dieser Aufgabe gezeigt habe. Mehr als einmal hat er sich darüber beklagt, daß seine Kritiker es unterlassen hätten, sich mit den Texten auch nur bekannt zu machen. Des weiteren weist er auf das mangelnde Vertrautsein mit abstraktem Denken als ein allgemeines Hindernis hin. 5 Hegels Aufzählung der Hindernisse, die der Würdigung seines Standpunkts entgegenstanden, ist unvollständig. Sie enthält nicht den wesentlichsten Hinderungsgrund, der die Notwendigkeit aufzeigt, sich dem geschichtlichen Hintergrund zuzuwenden. Dieser Hinderungsgrund liegt in Hegels Weigerung, sich der Philosophie als einem völlig systematischen Denken, deutlich in Kants Unterscheidung zwischen der Cognitio ex datiis und der Cognitio ex principiis, zu nähern. 6 Diese Weigerung verpflichtet sowohl Hegel als auch seine Schüler zur Kenntnis der gesamten historischen Tradition. Rosenkranz' bekannte Bemerkung, Hegel reagiere auf alle seine wichtigen Vorläufer, 7 trifft die Sache nur halb. Denn er unterläßt es, Hegels Abhängigkeit von vielen unbedeutenderen Denkern, besonders unter den zeitgenössischen Philosophen, zu erwähnen. Um nur ein Beispiel anzuführen, das im vorliegenden Kontext von Bedeutung 5
Vgl. G . W . F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen
Wissenschaften
im Grundrisse, § 3. 6 Vgl. I. Kant, Kritik der reinen V e r n u n f t (B), Riga 1787 S. 868. 7
Vgl. K . Rosenkranz, Hegels Leben, Berlin 1844, S. 62.
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ist, so kann Hegels wichtigste Lehre von der Philosophie als im Wesen kreisförmig nicht ohne Reinholds Standpunkt verstanden werden, der zu ihrer Formulierung führte. Die spezifische Relevanz der kritischen Philosophie ergibt sich aus Hegels Verständnis des eigenen Denkens in bezug auf Kants Entwurf. Allgemein gesagt, Hegels Standpunkt stellt, dessen war er sich bewußt, einen Versuch dar, die philosophische Revolution, die die kritische Philosophie begonnen hatte, zu Ende zu denken. Insbesondere werden wir sehen, daß sowohl Hegels Auffassung von der gesellschaftlichen Rolle der Philosophie, als auch die hauptsächlichsten Arten der Kritik, die dagegen vorgebracht wurden, in bezug auf Kants Denken verstanden werden können. Indem er den gesellschaftlichen Nutzen der Philosophie verteidigt, tritt Hegel in eine Diskussion ein, die in der griechischen Antike begonnen hat. Nur Plato folgt Sokrates in seiner Auffassung, daß die gerechte Gesellschaft ohne Philosophie nicht existieren kann. Sein Verständnis von der Philosophie als einer notwendigerweise voraussetzungslosen Wissenschaft kann in der Behauptung zusammengefaßt werden, daß reine Theorie praktisch ist. Aristoteles jedoch unterschied zwischen reinen und praktischen Formen der Vernunft, um eine ganz andere Schlußfolgerung zu ziehen. Er stellte klar fest, daß reine Theorie ohne praktische Relevanz ist.® Nach Aristoteles ist nur praktische Theorie, die ungefähres Wissen liefert, praktisch relevant oder gesellschaftlich nützlich. Die Auseinandersetzung zwischen Plato und Aristoteles bezüglich des gesellschaftlichen Nutzens der Philosophie kehrt in der modernen Philosophie wieder, vor allem in der Diskussion des Verhältnisses von Theorie und Praxis in der deutschen Tradition. In Kants Standpunkt finden 8 Vgl. Aristoteles, Metaphysik 982 b 2 7 - 2 8 .
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wir modifizierte Neuformulierungen beider unvereinbarer Anschauungen. Das Ergebnis ist eine ungelöste Spannung, in Kants Sprache: eine Antinomie, im Kern seines Standpunkts. Einerseits führt Kant Gründe für die Unterordnung der Theorie unter die Praxis an. Sein Interesse, diese Schlußfolgerung zu beweisen, letztendlich durch die Einführung einer dritten Fakultät oder der ästhetischen Vernunft, tritt besonders in den Einleitungen zu den verschiedenen Ausgaben der „Kritik der Urteilskraft" zutage. Hier beweist er, daß die Praxis von der Vernunft, die wiederum von ersterer abhängt, unabhängig ist. Es ist kein Geheimnis, daß diese Einsicht die spätere deutsche Philosophie beeinflußt hat. Fichte hat beispielsweise beibehalten, daß die Rolle der Philosophie auf theoretischer Ebene in der Lösung der Probleme besteht, die aus dem gesellschaftlichen Kontext entstehen. Diese allgemeine Ansicht ist offenbar eine spätere Form der aristotelischen Behauptung, daß die Theorie von ihrem Gegenstand nicht unabhängig ist, sondern vielmehr durch ihn bedingt ist. Andererseits bleibt Kant dabei, daß die Theorie die Praxis subsumiert oder vollständig einschließt.9 Vielleicht besteht Kant aus diesem Grunde gelegentlich auf dem notwendigen Nutzen der Theorie als solcher, z. B. in seiner Auffassung von der Philosophie als Conceptus cosmicus, der notwendigerweise die gesamte Menschheit interessiert. 10 Diese Behauptung kennzeichnet offenbar eine bedingte Rückkehr zur ursprünglichen Auffassung Piatos von der reinen Theorie als praktisch nützlich. Kants Darstellung des Nutzens der Vernunft ist wider0
Vgl. I. Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: Gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 8, Berlin 1923, S. 273-313.
M> Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft (B), S. 868. 13
Zur Architektonik
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spruchsvoll, denn es kann nicht sein, daß die Theorie die Praxis sowohl vollständig enthält, als auch von ihr abhängt. Es folgt, daß Kant, der die Bedeutung des Zusammenhangs anerkennt, nicht in der Lage ist, entweder eine annehmbare Analyse desselben zu geben oder den gesellschaftlichen Nutzen der Philosophie zu rechtfertigen. Hegel dagegen besteht häufig auf der Einheit von Theorie und Praxis, was nicht dasselbe ist wie ihr Beweis. Es ist verbürgt, daß viele Kommentatoren Hegel seine angebliche Unfähigkeit, eine kohärente Form dieses Zusammenhanges zu schaffen, vorwarfen. An dieser Stelle möchte ich drei allgemeine Formen der verschiedenen Einwände betrachten, die gegen Hegels Auffassung vom gesellschaftlichen Nutzen der Philosophie durch die Kritik des Verhältnisses von Theorie und Praxis in seinem Standpunkt erhoben wurden. Die erste, und meiner Meinung nach schwächste Kritik wird selten direkt vorgebracht, sondern scheint hinter der Überzeugung zu stecken, daß die Theorie in bezug auf die Praxis indifferent sei. Ein Einwand dieser Art folgt direkt aus der Kantschen Aufnahme der Praxis in die Theorie, die dementsprechend ohne Belang für die Erarbeitung einer Anleitung zum Handeln ist. Offensichtlich basiert Kants ethische Theorie auf der scharfen Unterscheidung zwischen dem Sein und dem Sollen. Genauso offensichtlich ist, daß diese Unterscheidung für jemanden, der eingehend, zumindest aber mehr als oberflächlich mit Hegels Denken vertraut ist, keine angemessene Grundlage für einen Einwand gegen Hegels Denken bietet. Allgemein gesagt, kann die „Rechtsphilosophie" als eine verbesserte Form der „Politik" des Aristoteles betrachtet werden, mit einem Wort, als allgemeine Theorie des modernen gesellschaftlichen Kontexts. Hegels spezifisches Interesse an dem Verhältnis zwischen Theorie und Praxis wird an vielen Stellen in dieser und anderen Schriften erwähnt. Ein zweiter, unbequemerer Einwand liefert durch die Ver194
neinung der These, daß die Theorie, oder zumindest eine Form davon, in der Lage sei, den gesellschaftlichen Kontext oder die Praxis zu erfassen, eine dialektische Antwort auf Hegels Bejahung. Die Inspiration eines solchen Einwands durch Kant wird deutlich, wenn wir den angeblich nicht erkennbaren gesellschaftlichen Kontext durch das Ding an sich ersetzen. Es ist schwerer aufzuzeigen, daß Hegels Standpunkt unzulänglich für das Erfassen der gesellschaftlichen Realität ist, obgleich dies oft behauptet wird, in unserer Zeit in augenfälliger Weise von Georg Lukäcs in vielen Schriften. 11 Bei seinem Einwand bezieht sich Lukäcs auf eine angenommene Unterscheidung zwischen Theorien, die aufgrund einer besonderen Ansicht zum Erfassen des gesellschaftlichen Kontexts geeignet sind, und Theorien, die für diese Aufgabe prinzipiell ungeeignet sind. Der Unterschied jedoch, auf den sich diese Differenzierung bezieht, scheint zu verschwinden, zumindest nach Lukäcs' Formulierung, wenn er auf Hegel zur Anwendung kommt. Denn Lukäcs betont ganz zu recht, daß im Kontext der deutschen Philosophie Hegel der erste Denker ist, der mehr als nur vage Kenntnisse von der politischen Ökonomie hat. Diese Kenntnisse werden in einer Vielzahl Schriften deutlich, vor allem in der bedeutenden Diskussion des „Systems der Bedürfnisse" in der „Rechtsphilosophie." Der dritte Punkt, der ebenfalls von Kant beeinflußt ist, betrifft Hegels angebliche fälschliche Gleichsetzung von Sein und Sollen. Seit Veröffentlichung der Rechtsphilosophie ist dieser Gedanke von vielen Kommentatoren auf verschiedene Art und Weise formuliert worden. 1 2 Es würde zu weit 11
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Dieses Argument wird von Georg Lukäcs an vielen Stellen angeführt, insbes. in „Geschichte und Klassenbewußtsein", „Der junge Hegel" und „Ontologie des gesellschaftlichen Seins". Zu diesen Kommentatoren gehören: Feuerbach, Marx, Haym, Carritt, Hook, Ritter, Fulda, Habermas, Theunissen, Riedel und Rosen. — Zur
13*
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führen, die Vielzahl der Formen, in denen dieser Einwand vorgebracht wurde, näher zu betrachten. Es sei nur soviel gesagt, daß das Erfassen der allgemeinen Natur des Einwands den notwendigen Anhaltspunkt für eine angemessene Erwiderung bietet. In all seinen vielen Formen setzt dieser Einwand voraus, daß Hegels Verhältnis zum preußischen Staat eine unerträgliche, aber notwendige, zumindest nicht völlig nebensächliche Folge seines Standpunkts ist. Offenbar wird mit diesem Einwand beabsichtigt, Hegels Forderung nach gesellschaftlichem Nutzen der Philosophie per modus tollens zu widerlegen, d. h. als unannehmbare Folgen, zu denen sein Standpunkt führen muß und in der Tat führt. Da es aber nie bewiesen und nur behauptet wurde, daß Hegels Verhältnis zum preußischen Staat Ergebnis seines Standpunkts ist, kann diese Kritik nicht unbeanstandet bleiben. Genauer: sie kann nicht als praktische Widerlegung Hegels theoretischer Auffassung von der gesellschaftlichen Rolle der Philosophie akzeptiert werden. In der Tat genügt eine genauere Untersuchung der Details dieses Verhältnisses, um die weitverbreiteten Meinungen darüber in Zweifel zu ziehen, die in der Hegel-Diskussion häufig vorgetragen werden. 13 Ergebnis der vorliegenden Betrachtung sollen zwei Schlußfolgerungen sein. Erstens: Manche, vielleicht alle wesentliche Kritik an Hegels Auffassung von der gesellschaftlichen Rolle der Philosophie basiert zumindest lose auf der kritischen Philosophie. Zweitens: Keine dieser Kritiken ist hinreichend, diese Auffassung zu widerlegen. In gewisser Hinsicht spricht keine dieser Kritiken Hegels Auffassung eigentlich auch nur an, da keine die zentrale Frage nach dem
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gegenwärtigen Diskussion vgl. R. B. Pippin, The Rose and the Owl: Some Remarks on the Theory-Practice Problem in Hegel, in: The Independent Journal of Philosophy, 3 (1979), S. 7 - 1 6 . Vgl. S. Avineri, Hegel's Theory of the Modern State, London 1974, insbes. Kap. 6 : The Owl of Minerva and the Critical Mind, S. 115-131.
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besonderen Begriff der Vernunft, anhand dessen Hegel für diesen Standpunkt Gründe anführt, erhebt. Um das Verhältnis zwischen Hegels Begriff der Vernunft und seiner Auffassung von der gesellschaftlichen Rolle der Philosophie zu beschreiben, müssen wir uns zunächst seinem Begriff der Vernunft zuwenden. Zum Teil wird aufgrund des Ignorierens des geschichtlichen Hintergrunds dieser Begriff nur selten verstanden. Bereits in der Differenzschrift, in Hegels erster philosophischer Veröffentlichung, finden wir Grundzüge des Begriffs der Vernunft, den er später weiterentwickelt, aber nie wesentlich modifiziert oder aufgibt. Im vorliegenden Kontext genügt es, zwei Merkmale dieses Begriffs zu erwähnen, die beide deutlich in Beziehung zur kritischen Philosophie stehen. Das erste und bekanntere Merkmal ist die Fähigkeit der Vernunft zu objektiver Synthese. In seiner Darstellung der Notwendigkeit der Philosophie schreibt Hegel, daß sie aus der Dichotomie entsteht, da „Entzweiung . . . der Quell des Bedürfnisses der Philosophie" 14 ist. Und er schreibt weiter: „Solche festgewordene Gegensätze aufzuheben, ist das einzige Interesse der Vernunft." 15 So signalisiert Hegel seinen Widerstand gegen alle Formen von Dichotomie insgesamt, gegen Kants Begriff des Verstands im besonderen. In Hegels Darstellung erzeugt der Verstand nicht die gegliederte Einheit, die sich aus der Vernunft ableitet, sondern geht ihr voraus. 16 Das zweite, weniger bekannte und wenig verstandene Merkmal des Hegeischen Begriffs der Vernunft ist die ihr innewohnende Kreisförmigkeit. 17 Dieses Merkmal wird oft M
G. W . F. Hegel,
Jenaer Schriften ( 1 8 0 1 - 1 8 0 9 ) ,
Bänden, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1969, S. 20. lü
in: W e r k e in zwanzig « Ebenda, S. 21.
Vgl. z. B. G. W . F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, § 11.
17
Zur
gegenwärtigen
Diskussion
vgl. meinen Beitrag:
Hegel's Circular
Epistemology, Bloomington 1986.
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erwähnt, aber selten detailliert behandelt, obgleich es in Hegels Erkenntnistheorie ein zentraler Punkt ist. Allgemein gesagt, Hegels Bestehen auf der inneren Kreisförmigkeit der Vernunft ist Ergebnis des von Reinhold, begonnenen und von anderen fortgeführten Versuchs, die kritische Philosophie in systematischer Form neu aufzubauen. Obgleich Kant die Notwendigkeit des Systems als einzig annehmbare Form der Wissenschaft behauptete, lieferte er es innerhalb seines eigenen Denkens nicht. Die komplexe Diskussion des systematischen Neuaufbaus der Ergebnisse der kritischen Philosophie umfaßt neben Reinhold, Maimon, Bardiii, Schulze ( = Aenesidemus), Fichte, Schelling, Hegel, Fries etc. Für unsere Zwecke reicht es aus, drei Linien in der Systemdiskussion in der Tradition des deutschen Idealismus zu unterscheiden. Zum ersten: Reinholds quasi-rationalistisches Bestreben, das Wissen auf einem Anfangsprinzip zu begründen, das er in seiner Elementarphilosophie Vorstellungsvermögen nennt. Zweitens: Fichtes gegen Reinhold gerichtete Behauptung, daß ein wirkliches Anfangsprinzip nicht innerhalb eines Systems aufgestellt werden kann, dessen Aufgabe darin besteht, es zu ermitteln. Aus diesem Grunde behauptet Fichte, daß die Philosophie notwendigerweise eine kreisförmige Form annehmen muß. Die Bedeutung dieses Gedankens, die nur selten beachtet wird, wurde von Hegel unverzüglich gewürdigt. In einer dritten Phase der Diskussion folgert er, daß, obwohl die Vernunft ihrem Wesen nach kreisförmig ist, ihre Forderungen an die Erkenntnis anhand ihrer Ergebnisse gerechtfertigt werden können. Diesen Gedanken, der ihn auf eine Form von Pragmatismus vor Marx und dem Marxismus festlegt, formuliert Hegel an mehreren Stellen. Am Ende der Differenzschrift wird dieser Gedanke im Vergleich zwischen philosophischer Rechtfertigung und der Bildung eines Kreises deutlich. 18 " Vgl. G. W. F. Hegel, Jenaer Schriften (1801-1809), in: Werke in zwanzig
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In der „Enzyklopädie" ist der gleiche Gedanke im ersten Satz des ersten numerierten Abschnitts enthalten, in dem Hegel die Philosophie als eine notwendigerweise voraussetzungslose Wissenschaft definiert. 19 Durch das Fehlen der naiven griechischen Ontologie oder des kartesischen Fundamentum inconcussum legt die Annahme dieser besonderen Definition Hegel auf die Behauptung fest, daß die Rechtfertigung des Fortschreitens der Philosophie nur in dessen Ergebnis liegen kann. Hegels Beharren auf der Kreisförmigkeit der Vernunft genügt, um den Vorwurf der Inkonsequenz zu zerstreuen, die viele darin sehen, daß er in seiner frühen Phase die Vernunft als dem Ereignis vorausgehend betont, während er später erklärt, daß die Philosophie erst post festum kommt. Seine Ansicht ist, daß das Denken einer gegebenen Phase der gesellschaftlichen Entwicklung sowohl vorausgeht, als auch folgt. Offensichtlich ist die bewußte Kenntnis von Ideen für ihre spätere gesellschaftliche Realisierung von Bedeutung. Aber die richtige Einschätzung einer gegebenen Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung kann erst nach dem Faktum erfolgen. Wenn die Praxis nicht in Theorie aufgelöst werden soll, müssen wir ihr erlauben, sich zu entfalten, um sie zu begreifen. Um es zusammenzufassen: Für Hegel
19
Bänden, Bd. 2, a.a.O., S. 122: ,,[A]ls objektive Totalität begründet das Wissen sich zugleich immer mehr, je mehr es sich bildet, und seine Teile sind nur gleichzeitig mit diesem Ganzen der Erkenntnis begründet. Mittelpunkt und Kreis sind so aufeinander bezogen, daß der erste Anfang des Kreises schon eine Beziehung auf den Mittelpunkt ist, und dieser ist nicht ein vollständiger Mittelpunkt, wenn nicht alle seine Beziehungen, der ganze Kreis, vollendet sind . . ." Vgl. G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, in: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 8, Frankfurt a. M. 1970, S. 41: „Die Philosophie entbehrt des Vorteils, der den anderen Wissenschaften zugute kommt, ihre Gegenstände als unmittelbar von der Vorstellung zugegeben sowie die Metbode des Erkennens für Anfang und Fortgang als bereits angenommen voraussetzen zu können."
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liegt der gesellschaftliche Nutzen der Philosophie in einem kreisförmigen Verhältnis zum geschichtlichen Kontext, dessen Formen sie vorausgeht und ermöglicht, denen sie folgt und die sie bewertet. Unmittelbare Absicht dieses kurzen Beitrags ist es, Hegels häufig kritisierte, aber größtenteils mißverstandene Auffassung von der gesellschaftlichen Funktion der Philosophie anhand seines Begriffes der Vernunft verständlich wiederzugeben. Wir können mit einer Schlußfolgerung aus dieser Auffassung abschließen, die auf einen wesentlichen Unterschied zur kritischen Philosophie hinweist. Wie festgestellt, folgt Kant Plato, wenn er den gesellschaftlichen Nutzen der Vernunft als solchen geltend macht. Im Gegensatz dazu ist es für Hegel nicht die Vernunft als solche, die nützlich ist. Nur jene Form der Vernunft ist nützlich, die kritisch ist. Aus gesellschaftlicher Sicht heißt das: Wenn der Philosoph die Welt, in der er lebt, nicht kritisch betrachtet, um sie zu verbessern, so wird er seiner Aufgabe, der Verteidigung der Vernunft, in keiner Weise gerecht.
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VALERIO V E R R A
(Rom)
Das Unendliche der Vernunft* In einem Passus der „Wissenschaft der Logik", und zwar in dem Abschnitt, welcher der Qualität und dem Problem der qualitativen Unendlichkeit gewidmet ist, bekräftigt Hegel: „die Hauptsache ist, den wahrhaften Begriff der Unendlichkeit von der schlechten Unendlichkeit, das Unendliche der Vernunft von dem Unendlichen des Verstandes zu unterscheiden" 1 . Dieser Hinweis erweist sich als außerordentlich deutlich und wertvoll zugleich: Um den Beitrag der klassischen deutschen Philosophie zur Diskussion über das Unendliche zu begreifen, ist es erforderlich, eine Art Erkundung der Motive und der Entwicklungen dieser Gegenüberstellung von Vernunft und Verstand in bezug auf das Problem des Unendlichen vorzunehmen. Hierzu ist * Die italienische Fassung dieses Artikels ist bei dem Internationalen Kongreß „Das Unendliche in der Wissenschaft", der im Januar 1986 vom Istituto della Enciclopedia Italiana und vom Istituto Gramsci organisiert wurde, als Vortrag präsentiert worden und wird in den Berichten dieses Kongresses veröffentlicht werden. 1 G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, in: Gesammelte Werke, Hamburg 1985, Bd. XXI, S. 124. Zu den ersten Phasen der Hegeischen Abhandlung des Unendlichkeitsbegriffs vgl. M. Baum, Zur Vorgeschichte des HegelschenUnendlichkeitsbegriffs, in: Hegel-Studien, Bd. XI, 1976, S. 8 9 - 1 2 4 .
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es zweckmäßig, mit der ersten Ausgabe zu beginnen und sich zu fragen, wie und warum der Begriff oder besser: die Bedeutung des Unendlichen als „Unendliches der Vernunft" Gestalt angenommen hat; zu diesem Thema erscheint übrigens, dem Beispiel Hegels folgend, die Bezugnahme auf Kant geboten. Im Zusammenhang mit der Kantischen Kritik pflegt man im allgemeinen daran zu erinnern und oftmals besonders hervorzuheben, daß sie den Abschied von jeder Hoffnung und von jedem Anspruch der Metaphysik, als Wissenschaft angesehen zu werden, herbeigeführt hat. Nicht weniger bedeutsam, zumindest für das Verständnis der klassischen deutschen Philosophie, ist jedoch die genetisch-funktionale Wendung der metaphysischen Probleme, auf welche die Kantische Kritik die Aufmerksamkeit lenkt. In der Tat können für Kant die traditionellen metaphysischen Probleme, die nach damaliger Gewohnheit den drei Ideen der Vernunft, der psychologischen, der kosmologischen und der theologischen, zugeschrieben werden, keine positive oder negative Lösung haben, weil es der Vernunft an Rechtfertigung mangelt oder weil sie Bereiche betreffen, die jenseits der Erkenntnismöglichkeiten des Menschen liegen. Es ist jedoch gleichfalls richtig, daß Kant gerade dadurch zu diesem Schluß gelangt, daß er die regulative und somit unabdingbare und ununterdrückbare Funktion der Vernunftideen aufzeigt 2 . Anders ausgedrückt, wenn das menschliche Denken sich jahrhundertelang mit unzähligen Streitigkeiten im Bereich der Metaphysik befaßt hat, so geschah dies nicht aus reiner Willkür oder eitler Anmaßung, sondern gemäß einem Anspruch der Vernunft, den Kant, wie man weiß, in die drei Syllogismen — den kategorischen, den hypothe2
Vgl. hierzu H. Heimsoeth, Transzendentale Dialektik. Ein Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft, 4 Bde., Berlin 1966—71. Zu den Antinomien insbesondere Band II, Vierfache Vernunftantinomie; Natur und Freiheit; intelligibler und empirischer Charakter, 1967.
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tischen und den disjunktiven — gliedert, die das Gerüst zum logischen Gebrauch der Vernunft bilden. Enger verbunden sind das Geschick der Metaphysik und des regulativen Gebrauchs der Vernunft mit dem der Wissenschaft allerdings im Bereich der Kosmologie, in dem die theoretische Behandlung des Problems des Unendlichen angesiedelt ist. Insbesondere in den beiden ersten Antinomien, die Kant als mathematische bezeichnet, prüft er in der Tat die Möglichkeit, Aussagen über die räumliche oder zeitliche Unbegrenztheit der Welt und über ihre Teilbarkeit in unendlich viele Teile zu machen. Nach Kant ist jede diesbezügliche Schlußfolgerung unmöglich oder nachgerade falsch, denn die Welt in ihrer Totalität stellt keine Erfahrungstatsache dar und kann auch niemals als solche erfaßt werden. Deshalb handelt es sich jedoch keineswegs um rein willkürliche oder zufällige Probleme, da sie vielmehr aus dem Bedürfnis der Vernunft selbst entspringen, ihre Prozesse systematisch zu erweitern, was somit zu unlösbaren, aber in gewisser Weise unvermeidbaren Widersprüchen führt 3 . Nachdem die Bedeutung des Problems des Unendlichen innerhalb der Antinomien somit methodologisch und theoretisch umrissen ist, muß aber noch zumindest kurz auf ihren weiteren historisch kulturellen Horizont hingewiesen werden, der mit besonderer Klarheit aus dem im eigentlichen Sinne „modernen" Ansatz des Themas in der „Kritik der Urteilskraft" hervorgeht. Wir haben geradezu emphatisch von „modern"gesprochen, weil die Kantische Konzeption des 3
In der „Wissenschaft der Logik" (S. 40) lobt Hegel deshalb, obwohl er die dialektischen Darstellungen Kants in den Antinomien eher ablehnend beurteilt, die allgemeine Idee, die er zugrunde gelegt hat, d. h. „die Objektivität des Scheins und Notwendigkeit des Widerspruchs, der zur Natur der Denkbestimmungen gehört". Das hängt zusammen mit der allgemeinen Neubewertung der Dialektik, die Kant herbeigeführt hat, „indem er ihr den S chein von Willkür nahm, den sie nach der gewöhnlichen Vorstellung hat, und sie als ein nothwendiges Thun der Vernunft darstellte".
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Erhabenen der Interpretationslinie des Unendlichen entspricht, die mit verschiedenen und oft gegensätzlichen Valenzen den modernen Menschen charakterisiert und die als solche auch von Hegel registriert wurde. Mit der Kopernikanischen Revolution setzt sich jener Topos durch, der später existentielle, ethische und religiöse Wertigkeiten angenommen hat, wonach sich der moderne Mensch wesentlich dadurch auszeichnet, daß er den geschlossenen Horizont des geozentrischen Kosmos definitiv gesprengt hat in Richtung auf ein unendliches Universum, das nicht nur seiner Phantasie offensteht, sondern auch der Vernunft und der Wissenschaft 4 . Ein Topos, der nicht nur philosophisch, sondern auch literarisch ausführlich entfaltet wurde, und zwar mit Valenzen, die, wie bereits angedeutet wurde, nicht immer und nicht ausschließlich positiv sind, sondern bisweilen auch besorgt oder gar angstvoll; Valenzen, die sich bereits bei Kepler finden lassen und die dann in der Romantik und im Nihilismus um sich greifen, wobei letztlich ein so anspruchsvolles dichterisches und philosophisches Werk wie das Leopardis gewiß nicht vergessen werden sollte 5 . Um aber bei Kant und dem speziellen Horizont unseres Themas zu bleiben, so muß bedacht werden, daß zu der Verwirrung des Menschen angesichts des unendlichen Universums, das ihn mit seiner Weite und Macht bedroht und überwältigt, laut Kant als Gegengewicht die Gewißheit seiner Zugehörigkeit zu einer höheren Welt fungiert, die davon nicht berührt oder beschädigt werden kann. Eben aus diesem Gegensatz entspringt das Gefühl des Erhabenen, das sich nicht so sehr auf das Universum bezieht, als vielmehr auf den Geist des Menschen, der fähig ist, der furchterregen4
Vgl. hierzu die umfangreiche Arbeit von A . Koyre, F r o m the Closed World to the Infinite Universe, Baltimore 1957.
5
E s sei mir gestattet, auf m e i n e Arbeit zu verweisen: II nichilismo nel pensiero contemporaneo. 1. L e radici storiche nclla cultura europea, in: Terzoprogramma, I, 1973, S. 94—104.
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den Unermeßlichkeit des Universums das Bewußtsein seiner andersartigen übersinnlichen Bestimmung entgegenzusetzen. Diese Betrachtungen haben wir für notwendig erachtet, weil sie alles andere als ergänzend oder marginal sind, sondern vielmehr tragende Dimensionen der Polemik über das Unendliche in der klassischen deutschen Philosophie berühren. Nicht zufällig greift Hegel in seiner Kritik des quantitativen Unendlichen und des Progresses ins Unendliche diese kosmologisch-transzendcntale Begründung des Erhabenen und die sich darauf beziehenden zahlreichen „Tiraden" heftig an. Die schlechte Unendlichkeit, das ständige Erheben über die Schranke, das ständige Zurückfallen aufgrund der Ohnmacht und Unfähigkeit, sie wirklich zu überwinden, werden als etwas Erhabenes oder geradewegs als eine Art „Gottesdienst" ausgegeben. Aber diese moderne „Erhabenheit" bedeutet nicht etwa eine Stärkung oder Erweiterung des Subjekts, sondern sein unaufhörliches Erklimmen der quantitativen Leiter, die damit endet, daß man Schwindelgefühlcn und einer unendlichen Langeweile anheimfällt, wie sie von einer rein wiederholenden Tätigkeit hervorgerufen werden; die darin besteht, die Schranke immer wieder aufzurichten und verschwinden zu lassen. Auch die Versuche, das Bild der Ewigkeit mit dem Zusammentragen endloser Reihen von Zahlen, Zeiten und Welten wiederzugeben, so in den fein gedrechselten Versen des Wissenschaftlers und Dichters Albrecht von Haller, enden im Nichts, wie übrigens der genannte Dichter selbst sehr wohl bemerkte. Wir wollten das Problem der Zeit ansprechen, weil sich vielleicht gerade in diesem Kontext die Tragweite dieses Motivs, das sich durch das gesamte Zeitalter Goethes zieht, am besten ausmachen läßt, wie Friedrich Strich in seinem Werk mit dem bezeichnenden Titel „Deutsche Klassik und Romantik oder Vollendung und Unendlichkeit" deutlich hervorhebt 6 . 6 München 1928.
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Um nun den Kreis dieser Betrachtungen mit einem Verweis auf die Spannung zwischen Verstand und Vernunft, von der wir ausgegangen waren, zu schließen, mag es nützlich sein, an eine Bemerkung zu erinnern, mit der Hegel einen höchst kritischen Passus gegen den Anspruch, das Unendliche mit Hilfe von „unendlichen Zahlenreihen" zu erreichen, beendet. Auch in diesem Fall, so Hegel, wird das Wort „unendlich" nach gewöhnlicher Auffassung positiv bewertet, als ob es sich um etwas „Hohes und Hehres" handele, während man es in Wirklichkeit lediglich mit einer Art von „Aberglauben", dem „Aberglauben des Verstandes", zu tun habe. 7 Es ist allerdings nicht weniger wichtig hervorzuheben, daß diese Polemik gegen die Einseitigkeit des Verstandes, oder besser: gegen seinen metaphysischen Gebrauch, nicht als unterschiedslose Ablehnung der diskursiven oder reflexiven Verfahrensweisen verstanden werden darf, sondern im Gegenteil als ein Bemühen, die zu Unrecht verschärften Gegensätze positiv zu lösen und den rationalen Kern herauszuschälen. Um einen Schritt weiter zu kommen, erweist es sich als zweckmäßig, die Zielrichtung dieser Tendenz — wenn auch nur sehr schematisch ynd infolgedessen notwendigerweise vereinfachend — folgendermaßen zu formulieren: Mit Kant wird das Problem des Unendlichen auf theoretischer Ebene im Rahmen des kosmologischen Problems betrachtet, jedoch losgelöst von der metaphysisch-deskriptiven Dimension, was die tatsächlichen Merkmale der Welt und der Dinge angeht, weil es auf transzendentale Prozesse der Vernunft bezogen wird. Bei Hegel wird diese Tendenz noch in doppelter Hinsicht radikalisiert, weil er das Problem des Unendlichen auf spezifisch logischer Ebene betrachtet. Auf diese Weise wird seine Behandlung von jeder konditionierenden Beziehung zu besonderen Problemen wie denen des Raums, ? G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, S. 246.
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der Zeit und der Bewegung losgelöst, die bekanntlich nicht im Rahmen der Logik, sondern der Naturphilosophie zur Sprache kommen. Besonders bedeutsam erscheint uns in diesem Zusammenhang die Kritik Hegels an Kant in der zweiten Anmerkung zu dem Abschnitt über die „reine Quantität". Nachdem Hegel die Bedeutung der Kantischen Antinomienlehre als Ursache für den Sturz der vorhergehenden Metaphysik und als Hauptübergang in die „neuere Philosophie" gewürdigt, dann allerdings betont hat, daß die Form der Antinomie nicht auf eine bestimmte Anzahl von Begriffen — deren Vollständigkeit auf bloßer Vermutung beruht — beschränkt werden kann, fügt er hinzu: „Ferner hat Kant die Antinomie nicht in den Begriffen selbst, sondern in der schon konkreten Form kosmologischer Bestimmungen aufgefaßt. Um die Antinomie rein zu haben und sie in ihrem einfachen Begriffe zu behandeln, mußten die Denkbestimmungen nicht in ihrer Anwendung und Vermischung mit der Vorstellung der Welt, des Raums, der Zeit, der Materie usf. genommen, sondern ohne diesen concreten Stoff, der keine Kraft noch Gewalt dabey hat, rein für sich betrachtet werden, indem sie allein das Wesen und den Grund der Antinomien ausmachen" 8 . Aber gerade weil Hegel beabsichtigt, so auf einer streng logischen Ebene zu verbleiben, erscheint paradoxerweise seine Beschäftigung mit Entwicklungen des wissenschaftlichen Denkens um so interessanter, zumal sie nicht unabdingbar mit thematischen Notwendigkeiten verknüpft ist, sondern von der historischen Entwicklung der Wissenschaft selbst bestimmt wird. Die Berufung auf das mathematische Unendliche, das als besonders aufschlußreich eingeschätzt wird, hängt also nicht mit einer prinzipiellen oder konditionierenden Verbindung zwischen Unendlichem und kosmologischen Problemen zusammen, in denen die Mathematik 8 Ebenda, S. 180.
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zur Anwendung kommt, sondern mit der logischen Beschaffenheit der Ergebnisse, zu denen die Mathematik in der modernen Welt gelangt ist. Zu einer adäquaten Einordnung dieser Position ist es jedoch vonnöten, nochmals bei dem bereits angesprochenen Punkt zu verweilen, d. h. bei dem unterschiedlichen Platz, an den das Problem des Unendlichen in den Werken Kants und Hegels gestellt wird, wobei beide gemeinsam von der Voraussetzung ausgehen, daß ihm eine notwendige Beziehung zur Vernunft innewohnt. Während Kant das Problem des Unendlichen hauptsächlich im Zusammenhang mit dem kosmologischcn Problem und innerhalb der transzendentalen Dialektik behandelt, wird es bei Hegel in die Logik des Seins eingeordnet, die, wie bekannt, den ersten Teil der „Wissenschaft der Logik" bildet. Will man — sei es auch um den Preis einiger Vereinfachungen — die Tragweite dieses Unterschieds deutlich machen, kann man darauf hinweisen, daß die Kantische transzendentale Dialektik den Höhepunkt der gesamten Kritik darstellt; zwar gewiß nicht in bezug auf die Erkenntnisfähigkeit, aus den bekannten Gründen, welche die Möglichkeit, Metaphysik als Wissenschaft zu betreiben, ausschließen, sondern in bezug auf eine komplexe Fülle von Funktionen. Gerade in der transzendentalen Dialektik werden nämlich im Zusammenhang mit den traditionellen Problemen der Metaphysik die grundlegenden Prinzipien der Vernunft und ihre Funktion nicht nur für das Erkennen, sondern auch für das Wissen diskutiert. Die Hegeische Logik des Seins stellt hingegen die erste Sphäre der Logik dar, die sozusagen auf die „oberflächlichen" Aspekte der Rationalität beschränkt ist, d. h. die Qualität, die Quantität und das Maß. In dieser Sphäre hat man es mit Kategorien zu tun, zwischen denen ein bloßer „Übergang" stattfindet, ohne daß zwischen diesen Begriffen ein reflektierter Bezug bestünde wie in der Logik des Wesens, bzw. ohne daß sich eine Entwicklung
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vollzöge wie in der Logik des Begriffs. Lediglich als erläuternde Beispiele, denen somit notwendigerweise die dialektische Schärfe fehlt, welche die Systematik des gesamten Hegeischen Diskurses kennzeichnet, seien hier Kategorien angeführt wie Identität und Unterschied, Inneres und Äußeres, Kraft und Erscheinung, Inhalt und Form, Notwendigkeit und Möglichkeit, Substanz, Ursache und Wechselwirkung. Schließlich ist eine letzte topologische Erwägung unumgänglich, um die außerordentliche Komplexität des Problems deutlich zu machen. Innerhalb der Logik des Seins erfolgt die Behandlung des Problems des Unendlichen nicht bloß in einem der grundlegenden Unterabschnitte, sie entfaltet sich vielmehr sozusagen transversal über die beiden Ebenen oder besser gesagt: die beiden Momente der Qualität und der Quantität. Im Unterschied zu anderen Begriffen oder Kategorien also, die nur in einem einzigen sorgfältig abgegrenzten Abschnitt entwickelt werden, stellt die Unendlichkeit die dialektische Verbindung von verschiedenen Kategorien her, von denen jede eine eigene spezifische innere Gliederung besitzt. In diesem Sinne kann man sagen, daß die Unendlichkeit die Funktion hat, die Fäden in einem besonders weiten spekulativen Rahmen zusammenzuführen, und zwar vermittels der Integration der qualitativen und quantitativen Bedeutung des Unendlichen und der daraus folgenden Auflösung der Aporien, in die sich die Philosophie der Vergangenheit verstrickt hat, sowohl im qualitativen als auch im quantitativen schlechten Unendlichen. An diesem Punkt bleibt noch ein weiterer, ebenso wesentlicher Aspekt der Hegeischen Radikalisierung der Kantischen Position zu klären, d. h. die Loslösung der Behandlung des Problems des Unendlichen von jeder transzendentalen Begrenzung, als sei es lediglich an die Grenzen der menschlichen Rationalität gebunden und folglich letzten Endes etwas rein Subjektives. Kant nämlich entwickelte, befangen 14
Zur Architektonik
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in einer „zu großen Zärtlichkeit für die Welt", die Dialektik des Unendlichen auf theoretischer Ebene als etwas unabdingbar mit der Vernunft, ihren Prinzipien und ihren Funktionen — jedoch in einem rein internen Sinne — Verknüpftes, ohne die Realität in ihrem Wesen zu berühren. Die Kantische Lösung der Antinomien ist in der Tat transzendental, weil sie sich auf die Idealität des Raumes und der Zeit als Formen der Intuition gründet. Für Kant ist nicht die Welt „an ihr selbst" im Widerspruch mit sich, sie ist kein „sich Aufhebendes", sondern das Bewußtsein trägt den Widerspruch in sich und in seiner Tätigkeit wegen seiner spezifischen Anschauungsweise und wegen der Beziehungen zwischen Anschauung, Vernunft und Verstand. Für Hegel stellt eben diese Haltung wiederum eine vorläufig unangemessene Lösung des Problems des Unendlichen dar, denn sie nimmt das schlechte Unendliche, die bloße Gegenüberstellung der Termini, als endgültig an, als seien sie voneinander absolut und nicht relativ getrennt und losgelöst. Letzten Endes besteht eine Art Konvergenz und sozusagen eine tiefe Komplizenschaft zwischen der Behauptung der Unüberschreitbarkeit des transzendentalen Standpunktes und der Unmöglichkeit, die Antinomien zu lösen, und umgekehrt. Hegels Logik hingegen will in einer Region von Wesenheiten ihren Platz finden, die nicht auf eine erkenntrtistheoretische oder transzendentale Unterscheidung zwischen dem Bewußtsein und seinem Gegenstand reduzierbar ist. Eine solche Unterscheidung hat sicherlich eine Legitimation und Funktion, aber sie kann und darf nicht als vorläufig oder definitiv angenommen, sondern muß vielmehr überwunden werden, wie Hegel es in der „Phänomenologie des Geistes" vertreten hat. So wie die Antinomien nicht einfach Ergebnis der Bewußtseinstätigkeit sind, kann sich auch der Übergang vom Endlichen zum Unendlichen, vom schlechten Unendlichen zum affirmativen Unendlichen nicht durch eine Art von äußerer Macht voll210
ziehen; dieser Übergang ergibt sich vielmehr ausschließlich aus dem Inneren des logischen Prozesses und im spezifischen Falle aus der Dialektik von Qualität und Quantität und ihrer Entwicklung. Wir können natürlich nur einige sehr schematische Linien dieses Übergangs aufzeigen und müssen uns, was die Qualität betrifft, vor allem auf die doppelte Valenz des Begriffs der qualitativen Grenze konzentrieren, durch die Etwas das ist, was es ist, kraft einer bestimmten Qualität. Diese Grenze bezeichnet auf der einen Seite den Bereich, in dem das Etwas sich wandeln kann, ohne als solches zu verschwinden, und auf der anderen schließt sie das aus, was außerhalb von ihr liegt und dem gegenüber das Etwas sich unterscheidet, sich konstituiert, als solches entsteht und vergeht. Wenn nun das qualitative Verhältnis sich in diesem Schema erschöpfte, dann hätte man, wie es in der Tat im schlechten qualitativen Unendlichen geschieht, lediglich eine ständige Wiederholung des gegenseitigen und konstitutiven Ausschließens nicht nur zwischen Endlichkeiten, sondern auch zwischen Endlichem und Unendlichem. In der Tat erweist sich ein Unendliches, das bloß als Jenseits der Grenze verstanden wird, selbst als Ausgeschlossenes. und somit Endliches, weil es von dieser Ausschließung begrenzt ist. Die qualitative Endlichkeit wäre auf diese Weise absolut festgeschrieben, so wie das übrigens stets in den Philosophien des schlechten Unendlichen und des Verstandes der Fall ist und wie es seinerzeit der Triumph des Kritizismus auf der einen Seite bewiesen hat und derjenige der Glaubensphilosophien auf der anderen, die bereit und entschlossen waren, den von der Vernunft mit ihrem Ohnmachtsbekenntnis geräumten Platz zu besetzen. Aber in Wirklichkeit manifestiert sich bereits in diesem Werdegang zum Unendlichen und in seiner Widersprüchlichkeit die Richtung des Prozesses der Überwindung, der dem Begriff der gegenseitigen Wechselbestimmung zwischen 211
1
Endlichem und Unendlichem innewohnt. Diese Bestimmung erscheint nur dann ausweglos, wenn die Beziehung zwischen Endlichem und Unendlichem als real und nicht als ideell verstanden wird, oder besser gesagt, wenn sie als Beziehung zwischen diskreten, voneinander unabhängigen Teilen verstanden wird (was offensichtlich dem Begriff Unendliches widerspricht), und nicht zwischen „Momenten", die außerhalb der totalen Beziehung, von der sie konstituiert werden und die sie konstituieren, keinen Sinn haben. In dieser Hinsicht zeigt das Unendliche seinen affirmativen Charakter, weil es den Doppelsinn hat, eines der beiden Momente zu sein, oder: jenes Unendliche, das isoliert oder dem Endlichen gegenüberstehend das schlechte Unendliche wäre, und gleichzeitig das Unendliche, in dem beide — es selbst und sein Anderes — lediglich Momente sind. Wichtig ist hierbei jedoch, den dialektischen Charakter dieser Überlegungen zu erfassen, die sich nicht auf verschiedene Formen von Erkenntnis oder Bewußtsein reduzieren lassen. Im Gegenteil, es handelt sich um einen effektiven logischen Prozeß des Unendlichen selbst, das sich sozusagen „herabsetzt", nur eine seiner Bestimmungen zu sein — diejenige, dem Endlichen gegenüberzustehen und somit nur eines der Endlichen zu sein —, aber indem es andererseits den Unterschied v o n sich selbst in der Affirmation seiner selbst überwindet, ist es das wahrhaft Unendliche. Dieses ist das Unendliche der Vernunft, das zu erkennen und anzuerkennen der Verstand sich sträubt; denn er neigt dazu, die Gegensätze als isoliert, und abstrakt voneinander unabhängig zu betrachten; er ist unfähig, den zweifachen Negationsprozeß zu erfassen, dem zufolge Endliches und Unendliches nicht mehr das sind, was sie am Anfang waren, d. h. zwei bestimmte und einander gegenüberstehende Realitäten, sondern ihre beiderseitige Rückkehr v o n ihrer Negation in sich selbst, das Resultat eines Übergangs, der den anfänglichen Gegensatz aufhebt. 212
E s ist gewiß nicht schwierig, in dieser Dialektik Analogien zu theologischen Motiven auszumachen, die zum Teil von Hegel in seinen „Vorlesungen über die Philosophie der Religion" wieder aufgenommen und entwickelt worden sind. Aber es wäre irreführend, sich von solchen Analogien allzu sehr beeindrucken zu lassen, und zwar wegen einer doppelten Reihe v o n Motiven. Vor allem ist im Bereich der Hegeischen L o g i k jede Kategorie, auch die hohlste, dürftigste und unbestimmteste, mit gutem Recht eine Definition des Absoluten, weil nämlich die gesamte Entwicklung der Idee nichts weiter tut, als ihren Anfang mit Hilfe einer Reihe von fortlaufenden Entwicklungen auszudrücken, die nicht nur dem Grad, sondern auch der logischen und spekulativen Konsistenz nach vertiefende Erweiterungen sind. Nach dem Hinweis darauf, daß auch die Dialektik des Unendlichen in gewisser Weise eine Definition des Absoluten ist, bleibt nur noch zu wiederholen, daß es sich jedoch um eine Definition handelt, die innerhalb der höchst spezifischen Grenzen verbleiben muß, die zum Teil schon angesprochen wurden und die zum Teil noch in der Entwicklung des Diskurses präzisiert werden müßten. E s gibt allerdings noch eine zweite Überlegung, und sie geht dahin, daß es, um die genaue Tragweite eines logischen Übergangs zu erfassen, stets sehr wichtig ist, die Übereinstimmung mit der historischen Entwicklung des Denkens zu berücksichtigen, wie es Hegel empfohlen hat, wenn auch mit den gebotenen Vorbehalten hinsichtlich einer Übertreib u n g dieser Übereinstimmung. In diesem Sinne bleibt die Tatsache höchst bedeutsam, daß historisch gesehen die Problematik der Qualität und ihr Einmünden in die K o n zeption der Einheit als Fürsichsein erstmals im griechischen Denken und in der aus ihm erwachsenen Atomistik sowie einer monadischen Konzeption des Seins, deren K o n f r o n tation mit dem Problem der Vielfalt unumgänglich ist, in Erscheinung tritt. D a s A t o m und das Leere, von denen 213
Leukipp spricht, sind in der Tat keine sinnlich erfahrbaren Dinge, sondern sie stellen eine Idealisierung der Einheit als Fürsichsein dar, wie sie noch nicht bei Parmenides und auch nicht bei Heraklit zu finden ist; kurzum, die Entdeckung der Einheit als ideelles Prinzip, das ganz dem Gedanken angehört und dessen Dialektik sich auf der Ebene des Gedankens als Logizität entfaltet. 9 Wir können hier nicht bei der Reihe v o n Übergängen verweilen, vermittels derer die Quantität sich aus der Überwindung der Aporien ergibt, die der Beziehung zwischen Einheit und Vielfalt innewohnen. E s mag genügen, darauf zu verweisen, daß man mit der Quantität zu einer Endlichkeit gelangt, die nicht länger Ausschließung v o n heterogenen Termini ist, die sehr wohl homogen sind, was das Kriterium der Quantifizierung angeht, welches wiederum v o n ihrer Qualität absehen und ihr folglich in gewisser Weise gleichgültig sein kann und muß. Was die neue, recht komplexe Dialektik betrifft, die sich in der Quantität auftut und die sich im Übergang von der reinen Quantität zum Q u a n t u m oder zur bestimmten Quantität entfaltet, um in das quantitative Verhältnis zu münden, so wollen wir nun das herausgreifen, was wesentlich ist, um auch hier das Wiedererscheinen des Progresses ins Unendliche und seine Überwindung zu verstehen. Gerade weil die reine Quantität sich im Q u a n t u m bestimmt, ist das, was aus dem bestimmten Q u a n t u m ausgeschlossen wird, immer noch Quantität; und somit erfolgt eine beständige Änderung einer Grenze, die tatsächlich keine Grenze, keine Wasserscheide ist zwischen qualitativ unterschiedlichen Termini; denn auch jenseits von ihr befindet sich noch die Quantität und folglich das, was zuvor in die Begrenzung eingeschlossen war. A u f diese Weise hat man einen neuen Z u g a n g zum Unendlichen, wo allerdings das Unendliche 9
G . W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Bd. I, in: Sämtliche Werke, Stuttgart 1959, S. 3 8 4 - 3 8 6 .
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nicht eigentlich Negation des bestimmten Quantums ist, sondern immer seine Wiederherstellung an sich. Der unendliche quantitative Progreß ist also der Ausdruck des Widerspruchs der Quantität, nicht dessen Überwindung; denn das so konzipierte und als Aufgabe gestellte Unendliche ist nichts anderes als die Rückkehr des Endlichen, weil es in wechselseitiger Beziehung zum Prozeß der Verschiebung der quantitativen Grenze steht. Genauer gefaßt ist der Ausdruck des Widerspruchs diesmal nicht in einem bloßen Auf und Ab von Wechselbestimmungen wie im qualitativ Unendlichen zu finden, sondern in der unbegrenzten Ausdehnung der Quantität in die zweifache Richtung des Unendlichkleinen und des Unendlichgroßen. Aber das Unendlichgroße und das Unendlichkleine konstituieren keineswegs einen Prozeß der Annäherung an das Unendliche; denn der Begriff des Unendlichen behält stets einen fundamentalen qualitativen Bedeutungsgehalt, weil er das bezeichnet, was die Negation des Endlichen sein muß, und dies trifft nicht auf das zu, was sich noch als Quantität darstellt, sei sie nun eine minimale oder eine maximale. Der Progreß ins Unendliche zeugt auf diese Weise lediglich von der Ohnmacht der Negation, die gezwungen ist, zu dem zurückzukehren, was sie zu überwinden trachtet. Qualitativ Endliches und Unendliches sind in der Tat so zusammengeknüpft, daß jedes unbedingt vor dem anderen flieht, ohne ihm jedoch je entkommen zu können, denn beide sind von Anfang an als zwei Aspekte ein und derselben Quantität als bestimmte Qualität aneinander gebunden. Es ist also entscheidend, daß die bestimmte Größe verschwindet; dies kann nicht über Annäherungen erfolgen, sondern nur durch die Überwindung des Verhältnisses von Größen, die unabhängig von diesem Verhältnis als bestimmt angenommen werden und so notwendigerweise in den Progreß zum Unendlichen hineingezogen sind. Und doch ist auch im quantitativen wie bereits im qualitativen unendlichen Progreß sehr wohl die 215
Tendenzlinie vorhanden, in der sich die Überwindung des schlechten Unendlichen abzeichnet, und die nicht in der Negation dieses oder jenen Quantums, sonderndes Q u a n t u m s als solchem besteht. Nun sind gerade in diesem Zusammenhang laut Hegel die Entwicklungen der Infinitesimalrechnung außerordentlich lehrreich und haben zu Resultaten geführt, die denen des philosophischen Denkens weit überlegen sind. Erinnern wir uns einen Augenblick lang an den wesentlichen Punkt: Um zu einem adäquaten Begriff des Unendlichen zu gelangen, muß man die Quantität mit der Qualität ergänzen oder aber das Unendliche als quantitatives Verhältnis verstehen, daß nicht bloß die unendliche Wiederholung der Verschiebung einer Grenze, die effektiv keine solche darstellt, sondern infolge der Qualität etwas radikal anderes ist. Nun kann dieses Resultat gewiß nicht durch einen einfachen Annäherungsprozeß erreicht werden, mit dem die Infinitesimalrechnung bisweilen verwechselt wurde. Man hat es hingegen mit einem Verhältnis zu tun, das in seiner Art ganz neu ist und sich von dem einfachen unendlichen Prozeß grundlegend unterscheidet. Das Verhältnis dx/dy bezeichnet in der T a t nicht ein Verhältnis zwischen Quanta, sondern zwischen „Momenten", die außerhalb des Verhältnisses nicht bestimmbar sind, sondern nur in ihm bestehen und nur in ihm bestimmt werden, es sozusagen erzeugen und im Z u g e seiner E r z e u g u n g sich auflösen. So ergibt sich eine neue Konzeption der Quantität, die an und für sich qualitativ ist, denn sie negiert die Identifikation mit jedwedem unendlichen Prozeß, sei er nun qualitativ oder quantitativ. Wie Antonio Moretto in seiner breit angelegten und gründlichen Abhandlung über das mathematische Unendliche bei Hegel sehr treffend bemerkt hat, kann diese Hegeische Konzeption des Infinitesimalen als eines Qualitativen den heutigen Leser zweifellos überraschen 1 0 . 10
A. Moretto, Hegel e la „matematica dell'infinito", Pubblicationi di Veri-
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Doch wenn sowohl die spezifische Bedeutung der Hegelschen Terminologie als auch die Diskussion des mathematischen Denkens der damaligen Zeit erst einmal angemessen wiedergegeben ist, wird es möglich, deren Wurzeln in den Entwicklungen dieser Diskussion und somit auch deren Stichhaltigkeit zu identifizieren. Auch hier wären zahlreiche vorhergehende Klärungen angebracht, unter denen zumindest eine unerläßlich erscheint; sie läßt sich dahingehend zusammenfassen, daß man sich vor einer Lesart des Hegeischen Denkens, die allein auf die epistemologische und methodologische Perspektive beschränkt ist, hüten sollte. Um es sehr schematisch auszudrücken: Hegels Bestreben ist es nicht mehr so sehr, die Richtigkeit oder Unrichtigkeit bestimmter wissenschaftlicher Verfahrensweisen zu beurteilen; und noch weniger kann die Gültigkeit oder die Bedeutung seiner Positionen auf der Basis der methodologischen Impulse, die die Wissenschaften aus ihnen gewonnen haben, festgestellt werden. Das Hauptanliegen Hegels besteht vielmehr darin, die philosophische Tragweite der wissenschaftlichen Resultate fiche, n. 8, Trento 1984; zu den Verdiensten dieser Arbeit gehört — abgesehen davon, daß sie die Entwicklung des Problems im Gesamtwerk Hegels nachvollzieht — das Bemühen, die Hegeische Sprache nicht nur mit dem mathematischen Denken der damaligen Zeit zu verbinden, sondern auch mit dessen neueren Entwicklungen, so daß die Bedeutung der Hegeischen Abhandlungen nicht nur historisch, sondern auch inhaltlich zugänglich wird. Die Einleitung enthält eine nützliche Übersicht der neueren Werke zu diesem Thema (S. 12—15). Unter den älteren Publikationen verweisen wir auf C. Frantz, Die Philosophie der Mathematik. Zugleich ein Beitrag zur Logik der Naturphilosophie, Leipzig 1842; H. Schwarz, Versuch einer Philosophie der Mathematik verbunden mit einer Kritik der Aufstellungen Hegels über den Zweck und die Natur der höheren Analysis, Halle 1853. Unter den neueren Publikationen über die Hegeische Logik zum Problem des Verhältnisses Mathematik-Philosophie vgl. auch A.Lecrivain, M. Slubicki, Introduction à la lecture de la Science de la logique de Hegel, vol. I, L'être, Paris 1981, Infinité du quantum: Remarque: Le concept de l'infini mathématique, S. 169—210.
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zu erläutern, oder besser: sie zu systematisieren in bezug auf eine einheitliche Konzeption der Entwicklungen des Denkens in seiner Geschichte und im Verhältnis zu einem logischen Grundgefüge, das darin sichtbar wird. Somit geht es im spezifischen Fall der Infinitesimalrechnung darum, den Widerspruch zwischen der Fruchtbarkeit und Exaktheit ihrer Resultate und der Unzulänglichkeit der theoretischen Ausarbeitung der Verfahrensweise, mit Hilfe derer sie erzielt werden, hervorzuheben. Es genügt nämlich nicht, die Verfahrensweisen der Infinitesimalrechnung zu entschuldigen, indem man auf der einen Seite einräumt, sie enthielten Ungenauigkeiten auf der anderen aber behauptet, diese Ungenauigkeiten, könnten als irrelevant angesehen werden. Es ist vielmehr vonnöten, das Problem an der Wurzel zu packen, wie es im übrigen Newton getan hat, als er sagte, daß das Verhältnis verschwindender Größen nicht als Verhältnis, ehe sie verschwinden oder nachdem sie verschwunden sind, zu verstehen sei, sondern als Verhältnis, mit dem sie verschwinden 11 . Das läuft im logisch-dialektischen Sinne darauf hinaus, daß dieses Verhältnis die Überwindung der Quantität als vor und unabhängig von diesem Verhältnis bestimmte impliziert; und es beinhaltet zugleich die Entdeckung einer Art von Quantität, die dadurch gekennzeichnet ist, daß sie nur in ihrem Werden besteht oder in der Negation sowohl der reinen Quantität als auch der bestimmten Quantität. Wir können hier nicht bei der Bedeutung dieser Überlegungen für die gesamte Hegeische Konzeption der Dialektik verweilen, sondern wollen unterstreichen, daß auf diese Weise für Hegel auch die Motive der Inkongruenz und der Widersprüchlichkeit wegfallen, deretwegen das philosophische Denken mit Kant und bei Kant rein antinomische und negative Positionen gegenüber dem Pro« G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, S. 253.
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blem des Unendlichen bezogen hatte. Insofern Kant das Unendliche substantiell in transzendentaler Weise versteht, kann er es nur einem fortschreitenden Syntheseprozeß zuschreiben, der nie zu einem Abschluß gelangen kann und der dennoch den Terminus, auf den er sich bezieht, als abgeschlossen voraussetzt. Die Kantische Konzeption des Unendlichen drückt also lediglich den Widerspruch der Quantität als unendlichen quantitativen Prozeß aus und verläßt sich so auf Additions- und Approximationsverfahren, wobei sie im Grunde das Unendliche mit der unendlichen Reihe verwechselt. M a g auch die Infinitesimalrechnung sich dieser Mittel bedient haben, für Hegel handelt es sich um ein bloßes Hilfsmittel, das deutlich von der wahren Natur dieser Rechenart unterschieden werden muß, die ein ganz besonderes, spezifisches Verhältnis anzeigt und die sich nicht auf die Additions- und Approximationsmethoden reduzieren läßt. Die Widersprüche, durch welche die Kantischen Antinomien in ihrem Wesen bestimmt waren, verlieren somit ihre Schärfe in dem Sinne, daß gegensätzliche Termini wie diskret und kontinuierlich, qualitative Grenze und quantitative Grenze weiterhin unterschiedlich und entgegengesetzt sind, wenn auch als komplementäre Integrationsmomente in einem affirmativen Verhältnis wie dasjenige, das v o m affirmativen qualitativen und quantitativen Unendlichen und ihrer Synthese im qualitativen Verhältnis bezeugt wird. E b e n deshalb wird, wie zuvor bereits gesagt, das Problem des Unendlichen radikalisiert und in gewisser Weise nicht nur v o n der kosmologischen, sondern auch v o n der psychologischen Schlacke gereinigt; denn die L ö s u n g der Antinomien wird nicht durch den unmöglichen Versuch erreicht, Subjektives und Objektives, Form und Inhalt der Erkenntnis voneinander zu lösen, sondern durch den Nachwcis ihrer notwendigen Funktion innerhalb der L o g i k . Für Hegel geht es eher darum, in diesem Wissen weiter 219
voranzukommen, wenn er präzisiert, daß auch das Problem des Unendlichen — wie übrigens jedes authentisch rationale Problem — nicht als bloßer Satz formuliert werden kann, der auf Urteilen beruht, denen als Stütze Gegebenheiten der Vorstellung dienen. Er fragt sich, ob Zeit und Raum endlos seien oder nicht, ob die Welt einen Anfang habe oder nicht, ob die Dinge einfach seien oder unendlich teilbar und dergleichen mehr. Die Überwindung von Kants transzendentalem Ansatz erlaubt und enthält also keine Regression auf eine objektive Ebene im traditionellen metaphysischen Sinne; denn das Wesen des metaphysischen Denkens ist nicht so sehr, wie Kant glaubte, der Anspruch, einige Probleme, die ihrer Natur nach außerhalb der Reichweite der Vernunft liegen, zu lösen, sondern sie verstandesmäßig zu behandeln, gestützt auf eine Logik des Satzes als Beziehung zwischen Termini, für die vorausgesetzt wird, daß sie isoliert und in ihrer Isolation absolut mit Sinn ausgestattet sind 1 2 . Die Tatsache aber, daß das Problem des Unendlichen so die Gestalt eines typisch logischen Problems annimmt, folglich nicht zu unmittelbar physischen und metaphysischen Abhandlungen geeignet ist und noch weniger zu Verifikationen in diesem Sinne, schließt keineswegs eine sozusagen indirekte Einwirkung auf die Abhandlung derselben Probleme aus, um sie von den möglichen metaphysischen und intellektualistischen Überresten zu befreien. Auf diese Weise können das Problem des Raumes und der Zeit und ihres Verhältnisses zueinander oder auch das Problem ihres Verhältnisses zur Bewegung, wie es sich am Anfang der Naturphilosophie zeigt, nunmehr angegangen werden: es wird von der Beschäftigung mit unlösbaren Alternativen zwischen Kontinuierlichem und Diskretem, Qualitativem und QuantiMan vergleiche auch die Definition und Kritik der Verfahrensweisen der Metaphysik in der Abhandlung über die „ E r s t e Stellung des Gedankens zur Objektivität" in der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im G r u n d r i s s e " , insbesondere §§26—32.
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tativem abgesehen und vielmehr deutlich zu machen gesucht, wie diese nicht mehr als gegensätzlich angesehenen Parameter konkret wirksam werden können, um die Komplexität der zur Debatte stehenden Termini und ihrer Beziehungen zu erfassen und zu erklären. Was nun den weiteren historisch-kulturellen Rahmen angeht, von dem bereits die Rede war, so fällt für Hegel jede Legitimation fort, die authentischen Resultate des modernen Denkens zu identifizieren mit der Hingabe an das nichtige und zermürbende Spiel des schlechten Unendlichen — des Unendlichen der Imagination, auch wenn es sich pompös als Erhabenes ausgibt — oder mit dem Rückzug in eine abstrakte moralische Subjektivität, die von vornherein unfähig ist, die Widersprüche der Realität konkret in Angriff zu nehmen. Gerade aus den Anregungen des mathematischen Denkens und des mathematischen Unendlichen bezieht Hegel die überzeugendste und schlüssigste Anleitung, um den logisch-dialektischen Charakter des Verhältnisses zwischen Unendlichem und Endlichem und somit seine genaue Stellung und Funktion in der gesamten Entwicklung der Realität und der Rationalität als Unendliches der Vernunft zu erkennen. A u s dem Italienischen übersetzt von Christa Schulz.
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JAIME QUIJANO-CABALLERO
(Bogotá)
Zur neuen philosophischen Übersichtlichkeit Über die gegenwärtige Wende in Rolle und Funktion der Philosophie aus der Zukunftsperspektive des lateinamerikanischen gesellschaftlichen Menschen Auf der Suche nach einer aktuellen Vernunft die heute der Welt so not tut und die wohl für alle Philosophie, die auf Vernunft ausgeht, Gültigkeit haben soll, könnte man behaupten, daß weder Hegel noch Marx seinerzeit bekanntlich eine „vernünftige" Meinung über die Entwicklungen in Lateinamerika bezüglich der Unabhängigkeitsbewegungen auf diesem Kontinent hatten. Schon um 1830 bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts waren Stimmen in einigen lateinamerikanischen Ländern laut geworden, die sich über eine „amerikanische Philosophie", eine „Filosofía americana", Gedanken machten. So Juan Bautista Alberdi in Argentinien (1838) 2 und Andrés Lamas in Uruguay (1840) 3 , der sich in dieser Richtung über „ameri-
1
2
Vgl. M. Buhr/J. D'Hondt/H. Klenner, Aktuelle Vernunft. Drei Studien zur Philosophie Hegels, Berlin 1985. J. B. Alberdi, Fragmento preliminar al estudio des derecho, Buenos Aires 1838; ders., Ideas para presidir la confección del curso de filosofía contemporánea en el Colegio de Humanidades, Montevideo 1840.
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kanische Literatur", „literatura americana", äußerte. Ihr Ideengebäude, das unter dem Einfluß des europäischen romantischen Historizismus stand und als unmittelbarer Ausläufer der 1830 stattgefundenen Revolution in Frankreich auftrat, betrachteten sie als sozialistisch. Dasselbe geschah in Bogotá im Oktober 1850, wo sich beim Eintritt in die Freimaurerloge José Maria Samper zwei Jahre nach der Veröffentlichung des Kommunistischen Manifests durch Marx und Engels auch als Sozialist bekannte 4 — wenn auch nicht als Kommunist, so doch als antretend gegen die Oligarchie und für die Proletarier. Heute dagegen, im Zuge der Befreiungskämpfe unserer Völker, steht es auf der historischen Tagesordnung, eben eine „vernünftige" Meinung auf der Grundlage des wissenschaftlichen Materialismus in Konzeption und Anwendung einer adäquaten wissenschaftlichen philosophischen Reflexion und wissenschaftlichen Natur- und Gesellschaftskonzeption zu erarbeiten. Wenn wir uns heute auf die Ereignisse der letzten 150 Jahre besinnen und aus der lateinamerikanischen Sicht nicht nur nach Europa Ausschau halten, sondern uns die Wesenszüge der Gesamtentwicklung der sogenannten Ersten, Zweiten und Dritten Welt sowie die innere Logik der hi-. storischen Entwicklung und deren Veränderungen vor Augen halten und versuchen, die „Gesetzmäßigkeiten" dieser Veränderungen zu entdecken, das Hauptsächliche und Grundsätzliche ihrer objektiven Logik darzulegen, 5 dann steht vor uns die erneute Frage nach Rolle und Funktion der Philo3
4
5
Vgl. A. A. Roig, Teoría crítica del pensamiento latinoamericano, Mexiko 1981, S. 285ff. Vgl. A. Carnicelli, Historia de la Masonería Colombiana, Bd. 1 : 1833—1940, Bogotá 1975, S. 1 4 3 - 1 5 2 . Vgl. Politischer Bericht des Zentralkomitees der KPdSU an den XXVII. Parteitag der KPdSU, Berichterstatter: M. S. Gorbatschow, Generalsekretär des Z K der KPdSU, Moskau 1986, S. 11.
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sophie, speziell in der Gegenwart und der Zukunft. Und damit auch die Frage nach dem gesetzmäßig korrekten theoretischen Denkansatz für eine erneuerte philosophische Reflexion — nach unserem Dafürhalten — auf orthonomischer Basis. Das orthonomische Denken besteht für uns nämlich gerade darin, die Gesetze und Gesetzmäßigkeiten zu entdecken und die objektive Logik der historischen Entwicklung in Theorie und Praxis zu veranschaulichen. 6 Dies um so mehr, wenn wir uns aus derselben Sicht über das in den letzten 70 Jahren der Menschheitsgeschichte Geschehene befragen. In den letzten 50 Jahren hat sich auf weltweiter Ebene das Erkenntnisvermögen dahingehend erweitert, daß sich zwei Richtungen als Tendenzen aus einer Weltsicht erkennen und definieren lassen, in deren Grenzen sich die philosophische Reflexion unserer Epoche grundsätzlich vollzieht. Einerseits die unwiderrufliche historische Tendenz der Suche nach einer neuen Gesellschaftsformation, deren Form und Inhalt sich noch in ihren widersprüchlichen Anfängen befinden. Andererseits ermöglicht es das noch nie so dagewesene menschliche Leistungsvermögen speziell der letzten Jahrzehnte, immer tiefer in die Mikro- und Makroweit des Universums einzudringen und immer neue Grenzen der relativen und der absoluten Erkenntnis sichtbar zu machen. Diese Entwicklungen haben es ermöglicht, völlig neue Beziehungen zwischen einer wissenschaftlich fundierten philosophischen Reflexion und den allgemeinen und Einzelwissenschaften zu fördern und zu festigen. In diesem Zusammenhang wurden auch die Kategoriensysteme zur Vertiefung und Differenzierung sowie Integration des menschlichen Erkenntnisvermögens auf immer allgemeinerer 6
Vgl. J. Quijano-C., Wissenschaft, Orthonomie, Politische Ideologie in der Praxis des antiimperialistischen Befreiungskampfes, Diss. B, Berlin 1 9 8 1 ; ders., Discurso de la Ortonomia, in: Ausgewählte Werke. Sammlung über Marxismus und Orthonomie, Bd. 1.1, Bogotá 1986 (in Druck); H. K r u m pel, Dialéctica y Ortonomia, i n : Ebenda, Bd. 1.3.
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und spezifizierterer Grundlage entwickelt. Dies diente dem Ziel, neue Resultate in der Erweiterung der Kenntnisse) des Menschen und über den Menschen zu erzielen. Um in diese Sicht einzudringen, ist es zweifelsohne notwendig gewesen, eine materialistische, und zugleich dialektische Fundierung zu entdecken und in die Praxis umzusetzen. Die- dafür notwendigen Instrumentarien, d. h. der damit verbundene Weg der Erkenntnis und die dementsprechende Methodologie als Hebel des sich immer mehr befreienden Denkens, hat speziell in den letzten Jahren auch weltweit zu ganz bestimmten Überzeugungen geführt. Dadurch ist es möglich geworden, und zwar zum ersten Mal, • definierte Probleme als Globalprobleme zu erfassen, d.'h. als Probleme, die die gesamte Menschheit unmittelbar ansprechen und betreffen. Die dialektische, materialistische, historische Sicht hat,außerdem dazu>geführt, und dies¿auch zum ersten Mal,,, die Gesamtproblematik des Menschenhais ein:. System globaler Probleme unserer Zeit auffassen zu können.7.Der Übergang * zu einer neuen Gesellschaftsformation, die Einheit der Welt als Prozeß einer ständig fortschreitenden Verifikation durch die gesellschaftliche Praxis und die Vorstellung von einem System der globalen Probleme der Menschheit in unserer - Zeit führen also zu einer dreifach dialektischen Einheit. . : 7
Vgl. I. Frolow/V. Zagladin, El mundo en vísperas del Tercer Milenio: Mitos y Realidad, in: Revista Internacional, 9/1979; V. Zagladin/I. Fr'olow, 'Globale Probleme der. Gegenwart, Berlin 1982; N. Inözemtsev/L. Grómov iL. a., Problemas Globales du Nuestro Tiempo, Moskau 1981; I. Fiolow, Aprender a pensar y actuar de una manera neuva, in: Tiempos Nuevos, 27/1985, S. 23—24. Letztgenannter Artikel béxichtet über die vomJ.—6. Juli 1985 stattgefundene Konferenz: „El Socialismo y los problemas globales • de nuestra época", an der folgende Länder teilnahmen: D D R , Ungarn, Bulgarien, Polen, Vietnam, CSSR, Sowjetunion, Italien, Kanada, Frankreich, Finnland und Vertreter internationaler Organisationen. (Die Konferenz fand in Prag statt.) ' 15
Z u r Architektonik
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Nun hat man gesagt, daß die Geschichte ständige Wiedergeburt sei (Hermann Nohl, 1907). Aber jede Wiedergeburt hat ihren Ansatzpunkt ausgehend von Prinzipien, seien es nun logische oder hermeneutische Prinzipien, die verschieden von der wiedergeborenen Epoche sind. Die Frage ist dann, welches Prinzip oder welche Prinzipien werden jeweils bei der Interpretation des Wiedergeborenen angewandt. Hierbei erhält z. B. Kants These von der Kopernikanischen Wende ihre Rationalität. Bekanntlich geht Kant von dem Ansatzpunkt aus, daß man, bevor man die Erscheinungen der Welt analysieren kann, zuerst das eigene Erkenntnisvermögen untersuchen muß. Das brachte einen neuen theoretischen Denkansatz mit sich, der in seiner praktischen Umsetzung grundsätzlich neue Wege für die philosophische Reflexion eröffnete. 8 Ausgehend von dem obengenannten, nie zuvor dagewesenen widerspruchsvollen Beschleunigungsprozeß in unserer Zeit ergibt sich meines Erachtens — unter Voraussetzung der vorhergegangenen philosophischen Reflexionen in Lateinamerika 9 — ein qualitativer Wendepunkt im philosophischen Denken. Diesen Wendepunkt vergleiche ich im übertragenen Sinne mit der Kantschen These von einer Kopernikanischen Wende. Dies kommt darin zum Ausdruck, daß etwa um 1985 für die philosophischen Reflexionen in Lateinamerika und der Karibik an der Schwelle zum dritten 8 9
Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft. Vgl. R. Frondizi/J. J. E. Gracia, El Hombre y los Valores en la filosofía latinoamericana del siglo X X . Antología. Fondo de Cultura Económica, Mexiko 1975; H. Cerutti Guldberg, Filosofía de la Liberación Latino-Americana, Mexiko 1983; A. A. Roig, Teoría y Crítica del pensamiento latinoamericano, 1981; L. Zea, América en la Historia, Mexiko 1957, Madrid 1970; Sh. B. Liss, Marxist thought in Latin America. University of California Press, 1984; O. Fals Borda/G. Molina u. a., El Marxismo en Colombia, Bogotá 1983; A. Díaz/L. Fernández/D. Herrera/ J. M. Jaramillo u.a., Estudios de Historia de la Filosofía, Cali 1982.
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Jahrtausend sich auf lange Sicht neue Perspektiven eröffnen. 1 0 Aus dieser Sicht werden die vier Fragen Kants im Zeitrahmen der letzten 50 Jahre noch prägnanter in ihrer Gegenwärtigkeit: „Was kann ich wissen?", „Was soll ich tun?", „Was darf ich hoffen?", „Was ist der Mensch?" In diesem Zusammenhang kann man behaupten, daß im philosophischen Denken Lateinamerikas der Mensch immer vom Standpunkt seines eigenen Kontextes aus gedacht und analysiert wurde. Auch wenn eine Besonderheit dieser Reflexion in Lateinamerika darin bestand, die Eigentümlichkeit ihres Philosophierens zu entdecken und als „filosofía americana" zu konzipieren. 11 Die Eigentümlichkeit bestand u. a. darin, daß sich dieses philosophische Denken immer in Konfrontation mit realen Problemen des Menschen und dem Fortschritt der Völker und Nationen, die sich von Europa unabhängig gemacht haben, befand. Dies zeigte sich zum Beispiel am Einfluß des Positivismus, 12 aber auch, wenn 10 Die kubanische Revolution hat in den 25 Jahren ihrer Entwicklung nach unserer Meinung konkrete Perspektiven vornehmlich im lateinamerikanischen Raum und der Karibik eröffnet. Es kann behauptet werden, daß das Wesen der kubanischen Revolution darin besteht, die Wissenschaft in ihrer Gesamtheit in Theorie und Praxis in den Dienst des realen Humanismus gestellt zu haben. — Die kritische Bewegung der Wissenschaftsentwicklung in Lateinamerika und der Karibik (Movimiento Crítico), die vom Autor 1983 konzipiert und in Kraft gesetzt wurde, hat zum prinzipiellen Gegenstand, aus der Sicht des wissenschaftlichen Materialismus einen Vergleich zwischen den Fortschritten unter dem Sozialismus in Kuba und den Schwierigkeiten des Fortschritts im lateinamerikanischen Raum unter kapitalistischen Bedingungen anzustellen. — Vgl. I. Andréjcv, La ciencia y el progreso social, Moskau 1979; V. Keshelava, Humanismo real y humanismo fictívo, Moskau 1977. 11 Vgl. H. Ortega, La filosofía de la liberación. Tesis, Panamá 1975; Leopoldo Zea, Dependencia y Liberación en la filosifía latinoamericana, in: Dianoia. Anuario de Filosofía, Mexiko, 20/1974; A. Salazar Bondy, Existe una filosofía de nuestra América?, Mexiko 1968. 12 Vgl. A. A. Roig, Teoría y Crítica del pensamiento latinoamericano, Mexiko 1981. 15*
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philosophische Reflexion auf den Spuren und Gleisen des scholastischen Menschen der
Denkens
katholischer
und das Jenseits
autochthonen
Werte
Prägung
unter strikter
über
den
Aberkennung
präkolumbianischer
Kulturen
stattfand. Das drückte sich auch später in jüngeren Einflüssen aus, die sich innerhalb der letzten 50 J a h r e aus einem Gesamtzusammenhang herausschälten.
Dabei
traten
zwei
grundsätzliche Positionen zutage: Einmal ging es darum, den „Marxismus zu überwinden", und zum anderen darum, den „Marxismus zu verstehen". Hierbei spielte und spielt noch heute eine wesentliche Rolle, daß diverse Formen des marxistischen Denkens und der Auslegung des Marxismus als fremdländische Ideen (Ideas foráneas) ausgegeben werden. Oder es geht umgekehrt darum, wie es seit den 7Qer Jahren speziell in der Theologie der Befreiung geschehen ist, grundsätzliche
marxistische
Klassenkampfes
unserer
Prinzipien Zeit
zum
unter
Verständnis
des
lateinamerikanischen
Verhältnissen heranzuziehen und als bekräftigende Reflexion und Aktion im Zuge der Befreiungsbewegungen zu verstehen und anzuwenden. In diesem Z u s a m m e n h a n g - m u ß
ganz allgemein
unter-
strichen werden, daß bei der Marxismusrezeption in Lateinamerika, ausgehend von den 20 er Jahren dieses Jahrhunderts bis zur Gegenwart, eine in der Tendenz einseitige Entwicklung
vorherrschende
und Anwendung des kategorialen
Systems des historischen Materialismus erfolgte. Aus diesem Grunde kam es mir im Zusammenhang mit der E n t w i c k lung unserer Gesamtarbeit an der Universität I N C C A de Colombia (1955 bis 1985) darauf an, die in Latcinamprika vernachlässigte theoretische und methodologische Substanz dialektisch-materialistischen Denkens (wissenschaftliche Dialektik) zu entwickeln. Damit wurde die wesentliche Grundlage für die von mir 1983 konzipierte und in Kraft gesetzte strategische
„Kritische
Bewegung
(Movimiento
Críptico)
der Wissenschaftsentwicklung und der gegenwärtigen glo-
228
balen Probleme in Latein amerika und der Karibik" geschaffen.« An dieser Stelle möchte ich nochmals die Frage stellen: Worin liegt im Sinne eines neuen theoretischen Ansatzes für eine umfassendere und aktualisierendere philosophische Reflexion in Lateinamerika und der Karibik der schon oben erwähnte qualitative Wendepunkt? Wie die Geschichte bisher zeigte, sucht der Mensch selbst auf verschiedenen Wegen seine Vernünftigkeit. Die bisher und auch noch heute vorherrschende Betrachtung zersplitterter und vereinzelter Problematiken und Fakten, die durch die verschiedenen Strömungen und ideologischen Tendenzen, z. B. den Neopositivismus, zutage treten, verdecken die objektive Gesamtproblematik des konkreten Menschen und rufen dadurch Unübersichtlichkeit hervor. 14 Der oben erwähnte qualitative Wendepunkt in der philosophischen Reflexion in Lateinamerika entspricht dagegen einer neuen Perspektive. Dieser Wendepunkt besteht darin, daß nicht von der hier genannten Unübersichtlichkeit ausgegangen wird, sondern, dem entgegengesetzt, von dem objektiven dialektischen System der globalen Probleme, d. h. von dem konkreten sozialen gesetzmäßigen historischen Lebensprozeß der Menschen in unserer Zeit. Dies kommt u. a. in dem dialektischen Verhältnis Mensch — Natur, Mensch — Technik, Mensch — Mensch und den damit verbundenen moralischen und humanistischen Problemen zum Ausdruck. Dazu gehört auch das Prinzip der Erhaltung des Friedens auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene. Diese hier genannten objekti13
Obta del Colectivo de Autores Colombia — Cuba. Edición Inaugural de 290 Contribuciones. Resúmenes en dos tomos. Movimiento Crítico del desarrollo de la ciencia y problemas globales contemporáneos en Latinpamerica y el Caribe. Diagnóstico Complejo y Estrategia Prospectiva. Ia Conferencia Internacional — Simposio de Bogotá, Sept. 26—28/85, Universidad INCCA de Colombia, Bogotá — Colombia.
,4
V g l . J. Habermas, Die Neue Unübersichtlichkeit. Frankfurt a. M. 1985.
229
ven globalen Probleme und der damit verbundene historische Lebensprozeß widerspiegeln sich in der These, daß die Einheit der Welt in ihrer Materialität besteht. Zu diesem hier genannten Wendepunkt haben wir in einem mehr als 20 Jahre dauernden Prozeß einen konsequenten wisscnschaftstheoretischen und praktischen Beitrag geleistet. Im Mittelpunkt des hier genannten Gesamtzusammenhangs steht der konkrete Mensch und seine neue Vernünftigkeit, die er zur objektiven Lösung seiner Probleme im Sinne des gesellschaftlichen Menschen einsetzt und gebraucht. Deshalb entsteht in der Perspektive eine organische objektive Relation zwischen Philosophie, wissenschaftlicher Philosophie und Einzelwissenschaften im Sinne einer zukünftigen historisch vorausschauenden Entwicklung zu einer Wissenschaft des Menschen. Hier ist der Gedanke wichtig, daß die Wissenschaft vom Menschen nur eine einzige Wissenschaft sein kann, in der die theoretische und methodologische Verallgemeinerung der spezifischen einzelwissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit dem Menschen beschäftigen, zusammenläuft. Aus dieser Sicht erhält auch die Fragestellung über philosophische Probleme der Natur-, Technikund Sozialwissenschaften eine immer größere Vereinheitlichung, was sich u. a. in dem Anwachsen ihrer theoretischen und praktischen Gesamtbedeutung ausdrückt. Es ist eine Tatsache, daß die heutige Wissenschaftsentwicklung und die Frage nach der Lösung der konkreten Probleme des Menschen unmittelbar mit dem Begriff der friedlichen Koexistenz zwischen den beiden großen Gesellschaftssystemen unserer Zeit verbunden sind. Dabei darf Koexistenz allerdings nicht einfach als Versöhnung gedeutet werden, sondern sie ist vielmehr eine Form der Auseinandersetzung auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens. Doch diese Auseinandersetzung, die u. a. auch in den nationalen und sozialen Befreiungsbewegungen ihren Ausdruck erhält, kann nur mit einer neuen Vernünftigkeit zum Erfolg 230
geführt werden, die auf der Erkenntnis objektiv-historischer Entwicklungstendenzen und ihrer praktischen Ausnutzung beruht. Diese Situation läßt sich auch in der jüngsten Entwicklung nachweisen, wie sie in der Gegenüberstellung zwischen der sogenannten Theologie der Versöhnung und der Theologie der Befreiung auftritt. 15 15
Vgl. J. Grigulévich, L a Iglesia católica y el movimiento de liberación en América Latina, Moskau 1984.
231
LUCIEN SÈVE
(Paris)
Der Tancredi-Komplex Kultur [lat.] —eigtl.: Pflege, Ausbildung im Hinblick auf die cultura agri (Ackerbau), allgemein Pflege und Vervollkommnung eines der Verbesserung und Veredlung fähigen Gegenstandes durch den Menschen, besonders seiner eigenen Lebenstätigkeit. (Philosophisches Wörterbuch, hg. von G. Klaus und M. Buhr, 5. Aufl., Leipzig 1965)
Viele Auseinandersetzungen über Kultur und Krise erhalten immer neuen Saft und neue Kraft, zum Schluß aber auch allzu oft Unfruchtbarkeit aus der extremen Mannigfaltigkeit der möglichen Bedeutungen des Wortes „Krise" und des Wortes „Kultur". Was nennt man Kultur? Mit einer alten Intellektuellentradition nur den angehäuften Schatz an Werken des Geistes, oder vielmehr mit den modernen Ethnologen die Gesamtheit der symbolischen Systeme und Praktiken, oder eine andere Konstellation von historisch konstituierten menschlichen Tätigkeiten? Womit setzt man die Krise gleich? Mit kurzzeitigen Abbrüchen oder mit langen Zyklen, mit der Fäulnis oder mit dem Keimen oder mit deren enger Verbindung? Kombiniert man die eine oder die andere dieser Bedeutungen miteinander, so erzeugt man 232
eine Pluralität von Diskursen, die leicht in den Dialog der Tauben umschlägt. Für den einen gibt es zum Beispiel gegenwärtig keine Krise der Kultur, sondern das Versinken einer blühenden Kultur in einer Krise, die sich unheilvoll auf sie auswirkt. Dem anderen zufolge muß man im Gegenteil nicht nur die Wirklichkeit einer Kulturkrise, sondern das kulturelle Wesen der Krise anerkennen. Für einen dritten ist das, was mah fälschlich für das kulturelle Wesen der Krise hält, in Wahrheit nur das kritische Wesen der Kultur, deren dauernder Beruf seit Lascaux darin besteht, in die Luft zu sprengen, um neu zu erfinden. Ich glaube jedoch, daß es ein einfaches — und nicht vereinfachendes — Mittel gibt, alle diese Diskurse als lauter Antworten auf dasselbe Problem zu situieren, nämlich sie vom Endzweck her zu lesen und sie zu befragen, worauf sie praktisch hinauswollen: uns auf verschiedene Weisen an für schicksalhaft gehaltene gegenwärtige Schwierigkeiten anzupassen oder die Auswege aus diesen dank für möglich erkannter Umgestaltungen zu erkunden? Angesichts dieser unumwundenen Frage werden, so scheint mir, viele Dinge klar. Deswegen möchte ich gleich sagen, worauf ich für mein Teil hinauswill. Ich will hinaus auf die Entwicklung der Menseben, aller Menseben — in der Überzeugung, daß da der Schlüssel zu einem vollkommen möglichen Herausziehen aus dei materiellen Krise liegt und daß die Kultur dabei eine kapitale Rolle spielen wird. Entwicklung ist durchaus das passende Wort für ein Reden von den Menschen. Denn entgegen dem, was alle die Klubs vorgeben, deren Uhren stehengeblieben sind, sind die Fähigkeiten der entwickelten Menschheit nicht von der Ordnung der biologischen Gegebenheit, sondern von jener der sozialen Errungenschaft. Wer das heute nicht sehen will, muß es wirklich absichtlich übersehen. Wir befinden uns in der Tat an einem Zeitpunkt, wo die 233
unlängst noch sehr langsame Produktion menschlicher Fähigkeiten im Begriff ist zu starten wie eine kosmische Rakete, die während des Aufstiegs schwindelerregend beschleunigt wird. Daß sich zum Beispiel der wissenschaftliche Kenntnisstand nunmehr alle zehn Jahre verdoppelt, will sagen, daß wir ein Tausendstel von dem wissen, was man in einem Jahrhundert wissen wird, oder daß man sich dem Tag nähert, an dem der ganze Informationsgehalt der in der Nationalbibliothek aufbewahrten Millionen von Bänden in einen Speicher von Schrankgröße passen wird, oder daß das Kunstereignis wie die sportliche Glanzleistung in das Zeitalter der weltweiten Fernsehübertragung eingetreten sind — das läßt das Ausmaß der historischen Wende erahnen, in der wir uns bereits befinden. Das will sagen, daß morgen der Begriff „menschlich leben" infolge dieser Revolution im Wissen, im Können und in der Phantasie der Menschen einer Neudefinition von nahezu unvorstellbarer Radikalität zustrebt. Aber diese von der Menschheit errungenen wunderbaren Fähigkeiten werden durchaus nicht im selben Tempo zum Gut der Masse der Menseben. Sie entspringen hauptsächlich in Fachwissenschaften, in Spitzentechnologien, in höchsten Bereichen des künstlerischen Schaffens, und die ungeheure Mehrzahl der Individuen ist nicht imstande, sie zu meistern. Nur noch wahrer ist heute, was Marx im vorigen Jahrhundert sagte: „Alle früheren Eigentumsformen verdammen den größren Teil Menschheit, die Sklaven, reine Arbeitsinstrumente zu sein. Die geschichtliche Entwicklung, politische Entwicklung, Kunst, Wissenschaft etc. spielen in den höheren Kreisen über ihnen. Das Kapital aber erst hat den geschichtlichen Progreß gefangengenommen in den Dienst des Reichtums."1 Heute werden die Fähigkeiten 1
K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW, Bd. 42, Berlin 1983, S. 491/492.
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des Menschengeschlechts riesenhaft, aber ihr Wachstum wird nur sehr wenig von den Menschen und den Völkern selbst und weit mehr über ihren Köpfen von Industrien, von Politiken, von Kulturimperialismen gelenkt, die selten die gleichen Interessen haben wie sie. Und dieses Wachstum wird von den Menschen und den Völkern ebensowenig subjektiv verdaut wie objektiv gelenkt. Bei jenem außerordentlichen Start beiseite gelassen, wird die Masse der Individuen vom Kapitalismus sehr schlecht befähigt, sich die Fähigkeiten, die den Menschen von morgen gestalten, psychisch anzueignen. Sie wird — und das ist etwas ganz anderes — aufgefordert, sich mit ihren praktischen Ergebnissen vertraut zu machen und ihre Produkte zu konsumieren. Aber der Akt, der diese Fähigkeiten schafft, die sie konstituierende Rationalität und Kreativität, ihre lebendige Gedankentrajektorie — „der Gedanke ist Trajekt, ehe er Werk ist", sagte Henri Michaux —, all das, was im selben Rhythmus jede Persönlichkeit wachsen lassen müßte, bleibt für sie weitgehend unzugänglich, und dies durch Verschulden eines Systems, das die menschliche Bereicherung der Individuen nicht für rentabel hält, das eine bestürzende Unangemessenheit der Aus- und Weiterbildung, eine empörende Segregation im wirklichen Zugang zur Kultur absondert. Die Wissenschaft geht massiv in die Gesellschaft ein, aber die Gesellschaft ist stärker irrational als je. Die Kunst geht massiv ins Leben ein, aber das Leben der großen Mehrzahl ist unschöner als je. So klafft ein dramatischer Abstand zwischen den Fähigkeiten, worin sich die Vermögen der Menschheit in geometrischer Progression entäußern, und demjenigen, was die Menschen davon verinnerlichen. Hier ist ein doppeltes Desaster in Sicht, und wir erleben schon seine Prämissen. Ein Desaster für die Individuen, denn dieser historische Typ des Fähigkeitenwachstums kann, wenn er anhalten sollte, nur massenhaft neue Ungelernte der künstlichen Intelligenz, 235
Analphabeten der neuen Sprachen, Kastraten bezüglich neuer Potenzen, Sklaven von beispielloser Entfremdung produzieren. Der Menschheit droht nicht nur eine gellende nukleare Hekatombe, sondern auch eine stumme innere Atomisierung der Individualität. Und ein Desaster für ihre vergegenständlichten Fähigkeiten, diese wunderbaren Erfindungen und Kreationen unserer Zeit, die mangels genügenden Gleichtakts mit einem zusammenhängenden Wachstum der Individuen leerzulaufen, ja sich in gegen die Menschen, ihr Leben, ihre Freiheit gerichtete „Errungenschaften" zu verkehren drohen. Ich sage also, daß keinerlei theoretisches oder praktisches Herangehen an die Probleme der Kultur stichhaltig ist, das nicht die universelle Heranbildung von kultivierten Frauen und Männern in den Mittelpunkt stellt. Ich sage, daß wir tatsächlich eine Krise der Kultur durchleben, dies in dem fundamentalen und genauen Sinn, daß der wunderbare Kulturgewinn des Menschengeschlechts bei Strafe der Katastrophe eine Revolutionierung der Kulturaneignung durch alle Individuen verlangt. In -diesem Sinn zeugt jene Krise der Kultur durchaus von einer Zivilisationskrise, mehr noch: von einer Krise der Hominisierung. Denn gerade der Zyklus, der die Humanität begründet, jener des Werkzeugs und der Hand, der Sprache und der Zunge, der gesellschaftlichen Praxis und des Gehirns, der gesellschaftlichen Geschichte und der persönlichen Biographie — dieser Zyklus, der, wie dem auch sei, selbst vermittels der entsetzlichen menschlichen Vergeudungen der Klassengesellschaften, die Gattung Mensch und die Individuen gemeinsam hat groß werden lassen — dieser Zyklus wird heute von einem Abbruch mit unberechenbaren Folgen bedroht, und das just zu der Zeit, da unerhörte, aber tragisch ungenutzte Möglichkeiten für eine allseitige Entwicklung aller Menschen, für eine beispiellose Bereicherung ihrer Einzelnheit und ihrer Gemeinschaft entstehen. 236
Für uns wird es dringlich, zu einer Zeit, da wir uns dem Jahr 2000 nähern, das verheerend archaische Dogma in Frage zu stellen, wonach die Menschen zunächst variable Kosten sind, die es zu senken gilt, während in Wirklichkeit ihre allseitige Entfaltung die einzige Zukunftschance wie auch der einzige Selbstzweck der historischen Entwicklung ist. Es wird dringlich, Schluß zu machen mit der schwachsinnigen Idee von der angeblich natürlichen Unfähigkeit der großen Mehrzahl zu dieser vollständigen Entfaltung, während in Wirklichkeit die heutige Gesellschaft nur einen winzigen Bruchteil ihrer Gehirnmasse in Anspruch nimmt. Es" wird dringlich, gigantische Ambitionen für die Erneuerung der Arbeit und der Leitung, der Schule und der Berufsbildung, des Gemeinwesens und der Politik, des Ideenstreits und der ethischen Reflexion, der Forschung und des Kunstschaffens zu nähren — aller der sozialen Formen, in denen das Individuum produziert wird. Bedeutet diese Formel die Proklamation, daß die Kultur der Ausweg aus der Krise ist? Die Formel schcint verlokkend. Sie ist in Mode. Ein zusätzlicher Grund, ihr zu mißtrauen. Denn sie kann zwei scheinbar benachbarte, tatsächlich jedoch entgegengesetzte Dinge besagen und bewirken wöllen. Diese Aufwertung der Kultur kann als potentielle Diversion zu einer Krisenpolitik oder im Gegenteil als wesentliche Dimension zu einer Antikrisenpolitik gehören, als Mittel der Anpassung an gegenwärtige Schwierigkeiten oder umgekehrt als Kampffeld für das Herauskommen aus ihnen. Die erste Sichtweise hat Anhänger. Jean Daniel schreibt zum Beispiel in seinem Vorwort zu der Sammlung der Reden auf den Sorbonne-Treffen vom Februar 1983, die unter dem Titel „Der Leonardo-Komplex" erschienen ist, man müsse „die Art erforschen, in der die Kultur das Abwarten in der Not organisieren" und „uns lehren kann, in vorübergehenden Finsternissen zu leben, die neue Morgenröten vor237
bereiten". 2 So definiert er talentiert, was ich für mein Teil und auf die Gefahr hin, zu erschrecken, als das Prinzip eines Katastrophendrehbuchs betrachte. Denn die Menschheit hat durch Abwarten noch nie neue Morgenröten hervorgebracht, und jedesmal, wenn die Menschen die Arme sinken ließen, ist das Ärgste entstanden. Nein, man kann die Kulturkrise nicht lösen, indem man sich mit der materiellen Krise abfindet, indem man zum Beispiel eine Politik hinnimmt, die die Berufsbildung der Menschen zur ambulanten Behandlung der Arbeitslosigkeit macht, mit dem Effekt, daß ein Talbot-Arbeiter gerade hier vor drei Wochen gesagt hat: Wenn man den Beschäftigten von Weiterbildung erzählt, ist ihr erster Reflex, daß sie sich sagen: „Die Bude macht zu" — eine Politik, die bewirkt, daß das Schulwesen jedes Jahr 150000 Jugendliche ohne jede Qualifikation ausstößt, von ihrer Kultur ganz zu schweigen — eine Politik, in deren Namen unsere großen Geldgeber dem Forscher wie dem Filmschaffenden, dem Lehrer wie dem Fernsehkünstler antworten, daß leider das nötige Kleingeld fehle, während sie bei unendlich weniger edlen Ausgabenpositionen kolossale Vergeudungen zulassen. Man kann die Kulturkrise nicht lösen, indem man eine Krisenkultur verbreitet, deren erste Handlung zweihundert Jahre nach der Französischen Revolution darin besteht, die Not und die Finsternisse zu akzeptieren. Welche Hoffnung auf neue Morgenröten kann man in eine geistige Kultur setzen, die einem vom Marktplatz hergelaufenen Irrationalismus die Stelle reserviert, die sie der gewaltigen wissenschaftlichen Rationalität der Moderne verwehrt; in eine moralische Kultur, die den überall anschwellenden Willen, seine Verantwortung für das Verändern der Dinge zu übernehmen, abebben und auf ein schuldiges Bewußtsein zurückgehen 2
Le complexe de Léonard, Paris, Editions du Nouvcl Observateur/I. Cl. Lattès 1984, S. X X X .
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lassen möchte, das sich darüber schämt, wie wenig es hat; in eine politische Kultur, die die Wahl Reagans durch 30 Prozent der Wahlberechtigten als Triumph der Demokratie und jene der Sandinistischen Front durch fast 50 Prozent als totalitäre Manipulation ausgibt? Manche Leute, die die Zwänge und Dogmen eines außer Atem geratenen sozialen Systems nicht in Frage stellen, gaukeln den Individuen dann die betörenden Verlockungen der Freizeit vor. Und wahr ist durchaus, daß deren Zunahme eine große Mutation für die Gegenwart und die Zukunft ankündigt. Aber wozu die Freizeit, wenn sie in dieselben Zwänge und dieselben Dogmen gepfercht werden soll? Soll sie frei sein für die Basteleien des Do-it-yourself und die kurzlebigen Solidaritäten im Schatten des Königs Dollar im Dschungel der Städte? Frei für Partys und für die Küche, ohne daß man nachschauen darf, was in den Kochkesseln der Zukunft zusammengebraut wird? Frei für Mikroinformatik-Training im Familienkreis, ohne die geringste Mitsprache bei der Konstituierung der Datenbanken? Frei insgesamt für eine veränderte Lebensführung dank einer Kultur des Alltagslebens im Austausch für — und hier wird es ernst — den großen historischen Verzicht auf Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die dieses Leben bis in seine Grundfesten regieren und entfremdet gestalten? Diese Freiheit würde darauf hinauslaufen, die Kultur zur Miniaturparzelle der Tröstung über die Krise zu machen, die verheerende duale Spaltung des Lebens zwischen ausbeuterischer Ökonomie und kraftloser Kultur, vom Zwang geprägter Arbeitszeit und verkrüppelter Freizeit zu fördern, den verwüstenden Abstand zwischen vergegenständlichten Fähigkeiten und lebendigen Menschen zu vergrößern, statt ihn zu veringern, und noch mehr Detailindividuen herauszubilden, die unfähig sind, mit den gewaltigen vor sich gehenden Mutationen und dem Erfordernis einer neuen Zivilisation fertigzuwerden. 239
Ich sage nicht, daß die Analysen und Vorschläge, deren Gesamtorientierung ich energisch anfechte, überhaupt nichts für sich hätten. Ich bin willens, den anderen anzuhören, denn allein denkt man nie sehr richtig, und Großes vollbringt man nur gemeinsam. Aber ich möchte auch die Auf? richtigkcit einer starken Beunruhigung und den Realismus einer großen Ambition zu verstehen geben. Ich denke, daß Frankreich ohne seine revolutionäre Komponente nicht mehr Frankreich wäre und daß die Dürftigkeit des gegenwärtigen Ideenstreits — eine Dürftigkeit, die nicht nur bestürzend, sondern zur Stunde so großer Einsätze auch gefährlich ist — viel damit zu tun hat, was Jacques Abouchär 3 in einer bissigen Bemerkung ausdrückte: „Der Antikommunismus macht nie viel Mühe, nicht wahr?" Als Kommunist habe ich dies zu sagen, daß man aus der Krise nicht durch eine Kultur, die sie akzeptiert, herauskommen wird. Aus der Kultur eine Prothese für die Krise zu machen, hieße uns dazu zu verdammen, daß wir auf Krücken in die Zukunft gehen. Und da man schon vom Leonardo-Komplex gesprochen hat, möchte ich warnen vor dem, wie ich ihn nennen will, Tancredi-Komplex — nach jener Person aus Lampedusas „Leopard", die so hübsch vorgeschlagen hat, alles zu verändern, damit alles beim alten bleibt. 4 Nach meiner Ansicht verlangt die Zukunft der Kultur, genau entgegengesetzt vorzugehen. Materielle Krise und kulturelle Krise haben dieselbe Wurzel: die Opferung der Menschen für den Profit. Beide haben denselben Ausweg: Kapital einzusparen, um die Menschen zu entwickeln-. Und sie nicht nur utilitaristisch, stückweise, als Arbeits3
Der französische Fcrnsehjournalist Jacqucs Abouchar wurde zu einer illegalen Reportage nach Afghanistan entsandt. D o r t festgenommen, wurde er in Frankreich zum Objekt einer Kampagne f ü r seine Freilassung gemacht. Nach seiner Heimkehr gab er kritische Erklärungen über seine eigene „Angelegenheit" und über die afghanischen „Widerstandskämpfer" ab.
4
G. Tomasi di Lampedusa, Der Leopard, Berlin 1967, S. 35.
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hände zu entwickeln, sondern in einer großen, sehr großen Sicht von der Grundstufe des Bildungswesens an und während des ganzen Lebens. Denn die Zeit des Detailindividuums ist abgelaufen, es kommt die Zeit der Frauen und Männer mit allseitig entwickelten Fähigkeiten, die Produzenten und Leiter, Bürger ihres Gemeinwesens und der weiten Welt, kritische und solidarische Geister in einer sich auf die sozialistische Selbstverwaltung hin bewegenden Gesellschaft und fähig sind, gleichzeitig oder im Wechsel, über neue, neugestaltete Zeitplanlogiken und neue Abläufe einer mehr als je einmaligen Biographie, Ausgebildete und Ausbildende, Ausführende und Entscheidende, Objekte und Subjekte der Wissenszweige, Empfänger und Sender von ästhetischen Werten zu sein — menschliche Wesen künftiger Zeiten, deren Genesis, wenn man nur sehen will, bereits begonnen hat und deren Kultur ein dünnes Ornament wäre, wenn sie nicht dazu beitragen würde, alle möglichen Gestalten derselben auszuformen. Begonnen hatte ich mit dem Endzweck: der Entwicklung der Menschen. Ich ende mit einer ersten Behauptung: Die Kultur ist weit mehr als das, was in Fachkreisen unter ihr verstanden wird, sie ist die 'Entwickjung der menscblicben Fähigkeiten. Eben deswegen ist sie ein entscheidender Trumpf und ein entscheidender Einsatz des Voranschreitens, das aus der Krise heraus zu einem neuen Zeitalter der menschlichen Gesamtbewegung führt. Eben deswegen, und es würde nichts nutzen, sich das zu verhehlen, gibt es enorme nationale und internationale Kräfte, die nie mit einer vollständigen Entwicklung aller Individuen, welche diese entschieden gegen die alte Ordnung der Dinge aufbegehren läßt, einverstanden sein und alles tun werden, um sie zu behindern. Eben deswegen wird sich auch hier nichts rühren ohne Kampf, und Kampfvor allem, um der Kultur totale Freiheit des Voranschreitens zu sichern. Freiheit gegenüber allen Klassenegoismen, Parteiborniertheiten, Staatsbürokratien, Kulturimperia16
Zur Architektonik
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lismen, merkantilen Operationen, konformistischen Modellen, Mediensnobismen, ideologischen Manipulationen. Dafür gilt es schon heute zu handeln, gemeinsam auch bei unseren Meinungsverschiedenheiten, und im Vorwärtsschreiten weiter zu debattieren.
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NIKOLAI IRIBADSEAKOW
(Sofia)
„Dämmerung der Vernunft" oder: Krise der bürgerlichen Rationalität Die neue irrationale Welle in der bürgerlichen Ideologie und Kultur Im Mai 1984 fand auf der Insel Kreta ein internationaler Kongreß zum Thema „Der Mythos gestern und heute" statt. Veranstaltet wurde er vom Freiburger „Forum International", das sich zur Aufgabe gemacht hat, Konferenzen, Seminare und ähnliches zu organisieren, „die in Form und Inhalt den gegenwärtigen Wandel des mechanistisch-materialistischen Bewußtseins dokumentieren und neue Dimensionen des Bewußtseins erfaßbar machen wollen" Vom 3. bis 8. September 1984 diskutierte das Internationale Institut für: Philosophie Oxford über das Thema „Irrationalität" zu vier Unterthemen: „Irrationalität und Politik", „Irrationalität und Ethik", „Irrationalität und Wissenschaft" und „Paradoxien und Irrationalität". In zwei aufeinanderfolgenden Ausgaben, vom 29. Juni und 6. Juli 1984, veröffentlichte die große bundesdeutsche Wochenzeitung „Die Zeit" auf drei ganzen Seiten den Aufsatz „Die Aufklärung entläßt ihre Kinder. Vernunft, Gei Die Zeit, Hamburg, Nr. 27, 29 Juni 1984, S. 10. 16»
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schichte, Fortschritt werden verabschiedet: Mythos ist der neue Wert" von Fritz J. Raddatz. Und in ihrer Ausgabe vom 27. Juli 1984 brachte die gleiche Zeitung eine ganze Seite Leserbriefe zu dem erwähnten Raddatz-Artikel. Am 2. Juli 1984 begann die größte französische Tageszeitung, „Le Monde", in ihrer Beilage „Le Monde Au jourd'hui" eine „große Umfrage" unter dem Titel „Die Abenteuer der Vernunft". Diese Umfrage war wirklich groß — sowohl vom Standpunkt der Befragten als auch im Hinblick auf die gestellten Fragen. Das Blatt forderte „Wissenschaftler, Philosophen, Anthropologen, Historiker, Linguisten" auf, sich dazu zu äußern, welche Rolle die Vernunft im zeitgenössischen Denken und in der heutigen Wissenschaft spielt. „Die Kritik der großen erläuternden Systeme (wissenschaftlichen, philosophischen, politischen . . .)", heißt es im einführenden Text der Zeitung, „die von zahlreichen Disziplinen durchgemachten inneren Krisen, die neuen Probleme und die neuen Wissensgebiete, die häufige ausdrückliche Berufung auf Subjektivität oder Metaphysik, die Fragen zu den Begriffen Wahrheit, Fortschritt, Beweis, Erfahrung, Methodologie, Argumentation, Quantifizierung . . . haben zahlreiche Forscher veranlaßt, den klassischen Gebrauch der Vernunft in den Forschungen von heute wiederholt in Frage zu stellen." 2 Aus diesem Grund stellte die Redaktion vier Fragen: „In welchem Sinne wird Ihrer Ansicht nach der klassische Gebrauch der Vernunft in der zeitgenössischen Forschung in Frage gestellt? Können Sie dafür einige Beispiele anführen? Wie reihen Sie Ihre Disziplin und Ihre eigene Arbeit in diese Diskussion ein? Welche der neuen Annäherungen der zeitgenössischen Rationalität erscheinen Ihnen besonders fruchtbar?'^ 2
Le Monde Aujourd'hui, Paris, 2 Juillct 1984, Lcs aventures de la raison, p. X I V .
a
Ebenda
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Wie wir sehen, stellte diese Umfrage philosophische Grundsat2fragen zur Diskussion. Deshalb verwundert es nicht, daß unter den Befragten, deren Antworten veröffentlicht wurden, sehr bedeutende Namen zu finden sind, so die von Ilya Prigogine und Serge Pao, Alain Touraine, Jürgen Habermas, Lucien Sève und vielen anderen. In ihrem einführenden Artikel zu der Umfrage „Die Abenteuer der Vernunft" unterstreicht „ L e Monde", daß „die Diskussion hier nicht zwischen triumphierender Vernunft und irrationalem Gefasel geführt wird", sondern daß es um Gegensätze innerhalb der Vernunft gehe, um die verschiedenen Formen der Rationalität, um ihr historisches Schicksal und ihre Bedeutung für die Wissenschaft der Gegenwart. Doch „ L e Monde" leugnet auch nicht, daß es eine solche Kontroverse gibt, daß man heutzutage „immer offener" vom „ E n d e der Vernunft, der Wahrheit, der exakten Wissenschaft" und „des Fortschritts" spreche, weil diese und die „ A u f k l ä r u n g " , die sie hervorgebracht hatte, zu Ergebnissen geführt haben, die den Erwartungen entgegengesetzt seien/ 1 Die „große Umfrage" von „ L e Monde", der internationale Kongreß auf Kreta, die Diskussionen des Internationalen Instituts für Philosophie in Oxford und die erwähnten Artikel in der „ Z e i t " bezeugen eine neue Welle des Irrationalismus im ideologischen und kulturellen Leben des „bürgerlichen Westens", die v o n einigen Autoren, so v o n J . Habermas, auch „Rationalitätskritik" 5 genannt wird. Der Irrationalismus ist keine neue Erscheinung. Spätestens seit Schelling und Schopenhauer ist er in verschiedener Form und in unterschiedlichem Grade in der bürgerlichen Philosophie, Soziologie, Ethik, Ästhetik und Kunst, in
4
Ch. Dcscamps/F. Gaussen, Une Grande enquête du „Monde". Les aventures de la raison, in: Le Monde, Paris, Nr. 12264, 2 Juillet 1984, p. 1.
8
J . Habermas, Untiefen der Rationalitätskritik, in: Die Zeit, Hamburg, Nr. 33, 10. August 1984, S. 30.
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der bürgerlichen Kultur und Ideologie präsent. Zu seinen namhaftesten Vertretern nach Schopenhauer zählen E . von Hartmann, W. Dilthey, F. Nietzsche, H. Bergson, O. Spengler, Ludwig Klages und Alfred Rosenberg, J . Ortega y Gasset, N. Berdjajew, L. Schestow, N. Loski, die Vertreter des Existentialismus und viele andere. Die Höhepunkte seiner Entwicklung fallen zeitlich mit den Perioden tiefster Krisen der bürgerlichen Gesellschaft und Kultur zusammen, während derer er die dekadentesten Tendenzen zum Ausdruck brachte und bringt. Der Irrationalismus ist eine Dekadenz des Denkens, eine Selbstverleugnung der Rationalität; in der Regel hat er die Rolle einer ideologischen Waffe der konservativsten und reaktionärsten sozialen Klassen, Gruppen, politischen Bewegungen und Parteien gespielt. Deshalb hat er in der Epoche des Imperialismus den günstigsten Nährboden für seine Entwicklung gefunden. Irrationalisten wie Nietzsche, Spengler, Klages, Rosenberg haben ihren Hauptgegner stets im Marxismus, im Sozialismus, in der Demokratie, im „Aufstand der Massen" gesehen, die unter der Führung der kommunistischen Parteien zu einer eigenständigen geschichtsbildenden Kraft werden. Irrationalisten wie Gustav Le Bon und José Ortega y Gasset sind bestenfalls Prediger eines bürgerlichen Liberalismus, der von der Verachtung und dem Haß des Aristokraten gegen den „Aufstand der Massen" erfüllt ist. Deshalb ist es kein Wunder, daß sich Apologeten des zeitgenössischen Irrationalismus besonders gern auf Nietzsche und Klages, aber auch auf Ortega y Gasset berufen. Als das Bürgertum in Westeuropa noch eine fortschrittliche und revolutionäre Klasse war, verkündeten die großen Denker der Aufklärung, die die westeuropäischen bürgerlichen Revolutionen vorbereitet und geistig bewaffnet hatten, die Allmacht der menschlichen Vernunft und der wissenschaftlichen Erkenntnis, die Unbegrenzthcit des historischen Fortschritts der Menschheit, der Vervoll-
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kommnung der menschlichen Gesellschaft und der menschlichen Persönlichkeit. Die Vertreter der bürgerlichen Aufklärung waren Rationalisten, Materialisten und Atheisten, die die wissenschaftliche Erkenntnis dem religiösen Glauben und den Erkenntnisoptimismus dem Agnostizismus entgegensetzten. Descartes' „cogito, ergo sum" leitete die Existenz des Menschen von der Denktätigkeit des Verstandes her, und sogar die idealistische Philosophie Hegels akzeptierte kein anderes Wissen als das vernünftige, rationale. Das war eine regelrechte Hymne auf die Allmacht der menschlichen Vernunft, auf unbegrenzte Erkenntnismöglichkeiten des Menschen. Die Vernunft wurde zum Richter über alles Bestehende erhoben; alles, was seine Vernünftigkeit nicht beweisen konnte, hatte keine Existenzberechtigung. Damals waren die Bourgeoisie und ihre Ideologen von Vertrauen in die Vernunft, in die Notwendigkeit und Zukunft der bürgerlichen Gesellschaft und Kultur erfüllt. Das ist wohlbekannte Geschichte. Und doch muß an sie erinnert werden, weil die Theoretiker des neuen Irrationalismus alles das verleugnen, was die bürgerliche Auf* klärung für die höchsten Werte hielt, einschließlich die Vernunft selbst. Der neue Irrationalismus hat der Aufklärung^ ihren Kindern und vor allem der Vernunft im politischen Leben, in Moral und Ethik, in Philosophie, Kunst und Ästhetik, in Kultur und Weltanschauung den Krieg erklärt und versteht sich als „eine gigantische Umwertung unserer Gefühls- und Denkwelt" 6 . Im Zuge dieser „gigantischen Umwertung" verkündet er die „Dämmerung" und das „Ende" der Vernunft, das „Ende der Geschichte und des Fortschritts, der Wahrheit und der exakten Wissenschaft" und setzt an deren Stelle einen „neuen Wert" — den Mythos. 6
F. J. Raddatz, Die Aufklärung entläßt ihre Kinder. Vernunft, Geschichte, Fortschritt werden verabschiedet: Mythos ist der neue Wert, in: Die Zeit, Nr 27, 29. Juni 1984.
247
Die „neuen Dimensionen des Bewußtseins" zeigen sich angeblich nicht in einem bloßen „Wandel des mechanistischmaterialistischen Bewußtseins", sondern seien vielseitiger und tiefgreifender. Kausales Denken löse sich in den „Projektionen des Unbegreiflichen" auf, an die Stelle von Begriffen treten Bilder, die Ära von Descartes' „cogito, ergo sum" gehe zu Ende. „Das Unverständliche feiert seine Rückkehr", erklären die Verkünder des neuen Irrationalismus. Für den Gelehrten und Philosophen, für den Menschen schlechthin sei die Welt nicht mehr eine „erklärbare, machbare, gar veränderbare Welt", sondern „vielmehr ein in Urgründen verankertes Rätsel, verschlossen, magisch unauflösbar" 7 . Kein besseres Schicksal wird der Vernunft in der Sphäre der modernen Kunst zuteil, die in allen ihren Gattungen — in Theater und Film, Literatur und bildender Kunst — die „Rückkehr zum Mythos" widerspiegele und zum Ritual, zur Beschwörung „geheimnisvoller Bilder" werde. Die Dichtung wie die ganze schöngeistige Literatur laufe auf Mythologie hinaus. Als solche werde sie „wieder das . . . , was sie am Anfang war — Lehrerin der Menschheit, denn es gibt keine Philosophie, keine Geschichte mehr, die Dichtkunst allein wird alle übrigen Wissenschaften und Künste überleben" 8 . Im Gegensatz zur Aufklärung, zu den Ideologen des revolutionären Bürgertums und deren Vorstellungen von der Geschichte als einem in seiner progressiven Entwicklung durch nichts begrenzten Prozeß verleugnen die Verkünder des neuen Irrationalismus die Geschichte als solche und rufen dazu auf, „die Entwicklung des Menschen zum Vernunftwesen" 9 zurückzunehmen, „vom homo sapiens Ebenda. — Vgl. Ch. Descamps/F. Gaussen, Les aventures de la raison, a. a. O., p. 1. 8 Die Zeit, Nr. 27, 29. Juni 1984, S. 10. 9 Ebenda. 7
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zurück zum homo pictor — dem Höhlenwesen, das in Magie und Ritual, Extase und Kult eingefangen bleibt" 10 . Woraus resultiert diese „sich ausbreitende Rationalitätsmüdigkeit", diese „Krise des Bewußtseins", diese „Regredierung ins Archaische des Mythos", dieser Haß und dieser Krieg gegen die Vernunft und wissenschaftliche Erkenntnis? Die Hinwendung des modernen Denkens sowie der modernen Künste zum Mythos, erwidern die Verkünder des neuesten Irrationalismus, sei ein Ergebnis der „richtigen Erkenntnis" 11 , daß die Aufklärung die Menschheit betrogen, sie auf einen falschen Entwicklungsweg geleitet und ihr unwahrscheinliches Unheil gebracht habe. Die Aufklärung hatte versprochen, mit Hilfe der Vernunft und der wissenschaftlichen Erkenntnis die Geheimnisse des Lebens aufzudecken, die Gesellschaft und den Menschen vollkommener und glücklicher zu machen, sie hatte ewigen Frieden und eine bessere Zukunft in Aussicht gestellt. 12 Doch das Gegenteil sei eingetreten. „Die französische Revolution hat die Statuen der Heiligen Jungfrau durch die Statuen der Vernunft ersetzt"; doch „das war der Beginn des Übels" 13 . „Die Aufklärung hat die Welt zerstört, den Menschen nicht gebessert, die Revolutionen zu neuen Mordmaschinen pervertiert — vom Thermidor zum Gulag." 14 Wie wir sehen, leiten die Verkünder des neuesten Irrationalismus ihre Umwertung der Werte aus dem Begreifen des „Übels" ab, das die bürgerliche Aufklärung der Menschheit gebracht habe. Wir würden uns nicht wundern, wenn sie den Beginn des „Übels" sogar mit der griechischen Aufklärung ansetzen würden, die sich in der Auseinandersetzung 10 Ebenda, S. 9. " Die Zeit, Nt. 28, 6. Juli 1984, S. 14 . « Le Monde, 2 Juillet 1984, p. 1. 13 Die Zeit, Nr. 27, 29. Juni 1984, S. 10. 14 Die Zeit, Nr. 28, 6. Juli 1984, S. 14.
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mit der altgriechischen Mythologie herausgebildet und entwickelt hatte. Wie dem auch sei: Bekanntlich datiert das „Begreifen der Übel", die die Aufklärung der Menschheit gebracht habe, nicht erst seit gestern, wie auch die Kritik der Aufklärung und der mit ihr verbundenen Rationalität nicht erst seit gestern datiert. Hatte doch ein Vorgänger der heutigen Irrationalisten, Ortega y Gasset, schon lange Zeit vor der gegenwärtigen irrationalistischen Welle geschrieben: „Der größte Irrtum der Renaissance bis auf unsere Tage war, daß man mit Descartes glaubte, wir lebten von unserem Bewußtsein, von jenem kleinen Teil unseres Wesens, den wir deutlich sehen und in dem unser Wille wirkt. Die Behauptung, daß der Mensch vernünftig und frei ist, scheint mir einem Irrtum recht nahe zu kommen . . . In Wahrheit bewegt uns . . . ein irrationales Leben. Unzweifelhaft ist der heutige Irrationalismus der Erbe der zwei Jahrhunderte dauernden Kritik der Aufklärung und der „Rationalität", der „Sehnsucht" nach einer „neuen Mythologie". Außer Zweifel steht seine feindliche Einstellung zur bürgerlichen Aufklärung, zum fortschrittlichen Erbe der bürgerlichen Revolutionen in Westeuropa. Außer Zweifel steht aber auch, daß nicht die Verkünder des neuesten Irrationalismus und der neuesten Mythologie die „Übel" der Aufklärung als erste entdeckt haben. Deshalb liegen auch die Ursachen für die aufkommende neue Welle des Irrationalismus nicht dort, wo sie aufgezeigt werden. Der neueste Irrationalismus ist eine internationale Erscheinung. Seine wichtigsten Bastionen sind die höchstentwickelten kapitalistischen Staaten wie die USA, die BRD, Frankreich u. a. Mindestens zwei Gründe sprechen dafür, daß er nicht lediglich das Ergebnis des „Begreifens" der angeblichen Übel der Aufklärung ist und sein kann. Erstens hat die reaktionäre Bourgeoisie schon seit langem 15 Ebenda.
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die Aufklärung, deren Ideen und Werte überhaupt aufgegeben. Die imperialistische Bourgeoisie des 20. Jahrhunderts ist in allem das Gegenteil des Bürgertums zur Zeit der Aufklärung. Beide sind so verschieden wie Nietzsche und Klages, Hitler und Mussolini, R. Reagan und M. Thatcher einerseits und Holbach und Diderot, Danton und Robespierre andererseits. Zweitens. Welche Ideen die Aufklärung auch hervorgebracht hat, sie allein sind nicht imstande, jene „Übel" zu erzeugen, die ihnen die Verkünder der „neuen Mythologie" zuschreiben. Das ist eine reaktionäre, idealistische Fabel für Naive. Denn Ideen, seien sie gut oder schlecht, können weder etwas schaffen noch vernichten, geschweige denn die Welt verändern. Die Geschichte hat bewiesen, daß sie die Welt nur dann verändern können, wenn sie zur materiellen Kraft werden. Und das ist nur unter ganz bestimmten objektiven, sozialhistorischen Bedingungen möglich, in denen auch die Erklärung für das Aufkommen dieser oder jener sozialer Ideen — ideologischer, weltanschaulicher und ähnlicher — zu suchen ist. Bedingungen solcher Art sind es denn auch, aus denen sich die Entstehung und Verbreitung der neuen Welle des Irrationalismus erklärt. Nicht das Begreifen und die Erkenntnis enttäuschter Hoffnungen, die angeblich von der Aufklärung genährt worden sind, haben den neuesten Irrationalismus und die „heutige" Sehnsucht nach einer „neuen Mythologie" hervorgebracht, sondern die neuen Krisenprozesse, die die Gesellschaft der kapitalistischen Industriestaaten — ihre Wirtschaft, Kultur, Ideologie und Politik — in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre unseres Jahrhunderts erschüt^ terten und bis zum heutigen Tag andauern. Horst Kurnitzky, Verfasser eines der zahlreichen Leserbriefe zu dem angeführten Artikel von Fritz J. Raddatz in der „Zeit", schreibt: „Ihr Beitrag betraf eine Tendenz im bundesrepublikanischen Kulturbetrieb (und nicht nur 251
dort), die auch wir seit Jahren beobachten . . . Antizipiert wird die Gesellschaft nach der Katastrophe. Die Punks unten sprechen aus, was den Kulturbetrieb oben in Kultur, Philosophie, Literatur und Kunst beherrscht: no future, sowohl für das Individuum, als auch für die Gesellschaft." 16 Kurnitzkys Glaubensverlust und Pessimismus sind — obgleich sie für große Teile der Bürger kapitalistischer Staaten kennzeichnend sind — letztlich unbegründet. In allem anderen hat er jedoch recht. Die bunten Punkerschwärme sind eine anschauliche Demonstration der vom neuen Irrationalismus gepredigten Rückkehr „zur Vorgeschichte, zur Zeit vor der Vernunft", zum „homo pictor — zum Höhlenwesen, das in Magie und Ritual, Ekstase und Kult" — in Irrationalität — eingefangen bleibt. Der gegenwärtige Irrationalismus ist zutiefst in der irrationalistischen Tendenz verankert, die für die bürgerliche Philosophie, Ideologie und Kultur in der Epoche des Imperialismus kennzeichnend ist. Er ist deren direkter Ausdruck. Gleichzeitig ist er auch Folge und Ausdruck der in den fünfziger, sechziger und Anfang der siebziger Jahre unseres Jahrhunderts in den reichsten kapitalistischen Industriestaaten dominierenden „rationalistischen", szientistischen und technokratischen Ideologie der Bourgeoisie. Es war dies eine Zeit, als die bürgerlichen Ideologen, Ökonomen, Philosophen und andere Wissenschaftler, berauscht von den Errungenschaften der wissenschaftlich-technischen Revolution, ihre Theorien von der „Industriegesellschaft", der „postindustriellen" Gesellschaft und vom „Ende des Zeitalters der Ideologien" entwickelten. Sie erklärten die Wissenschaft und die auf ihr basierende Technik zu den Haupttriebkräften der sozialökonomischen Entwicklung, die wissenschaftliche Intelligenz und überhaupt die Schöpfer der wissenschaftlichen Erkenntnis zur wichtigsten sozialen »6 Die Zeit, Nr. 31, 27. Juli 1984, S. 13.
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Schicht und zum Trager des historischen Fortschritts und die Universitäten und Forschungseinrichtungen zu den wichtigsten Institutionen der „industriellen" und der „postindustriellen Gesellschaft", die den Platz und die Kommandorolle der Industriebetriebe und Banken eingenommen hätten. Sie behaupteten, daß die Entwicklung der modernen Wissenschaft in den höchstentwickelten kapitalistischen Ländern imstande sei, all jene sozialen Probleme und Aufgaben zu lösen, die der Marxismus auf dem Wege des organisierten Klassenkampfes der Werktätigen mit der Arbeiterklasse an der Spitze, auf dem Wege der sozialistischen Revolution zu bewältigen suche. Sie wollten die Welt davon überzeugen, daß die wissenschaftlich-technische Revolution ohne Klassenkampf, ohne sozialistische Revolution und ohne revolutionäre Ideologie das „Absterben der sozialen Klassen" und die Entstehung einer Gesellschaft des „allgemeinen Wohlstandes" bewirkt habe. Sie vertraten die These, daß die wissenschaftlich-technische Revolution und die von ihr heevorgebrachte „Industrie" und die „postindustriellen Gesellschaften" die Ideologien und vor allem die Ideologie des Marxismus-Leninismus nicht nur deshalb überflüssig gemacht habe, weil in der „industriellen" und „postindustriellen Gesellschaft" die Klassen und der Klassenkampf ausstürben, sondern auch, weil jede Ideologie „mythologischen", „irrationalen", „unwissenschaftlichen" und „wissenschaftsfeindlichen" Charakter besitze. Aufbauend auf diesen Argumenten wurde in jenen Jahren eine großangelegte, lautstarke Kampagne für die totale „Entideologisierung" des gesellschaftlichen Lebens, der Wissenschaft und Kunst, der Kultur schlechthin und sogar der Politik organisiert. Diese antiideologische Kampagne wurde als Kampf um deren „Entmythologisierung" dargestellt, als Bemühen, sie auf „rationale", „wissenschaftliche" Grundlagen zu stellen. Ende der sechziger und vor allem in den siebziger Jahren wurden jedoch gerade die höchstentwickelten kapitalisti253
sehen Länder von neuen „Rezessionen" im wirtschaftlichen Bereich erfaßt; sie wurden zu Schauplätzen erbitterter Klassenkämpfe, die zusammen mit der Millionenzahl von Arbeitslosen offenbarten, wie illusionär die dominierende szientistische „Antiideologie" der imperialistischen Bourgeoisie in den kapitalistischen Industriestaaten war. Der Szientismus, in den die imperialistische Bourgeoisie, insbesondere die US-amerikanische, in ihrem Kampf gegen den MarxismusLeninismus und die kommunistische Bewegung so große Hoffnungen gesetzt hatte, geriet in eine tiefe Krise. Die Begriffe „Ideologie" und „Mythologie" waren wieder „in". Man begann, zunächst in den Kreisen der politischen Parteien der imperialistischen Bourgeoisie, bald aber auch in den sozialdemokratischen Parteien, immer offener von einer Keideologisierung zu reden, von der Notwendigkeit, das entstandene ideologische Vakuum zu füllen und neue ideologische Waffen zu schmieden. Die Bühne wurde erneut frei für den Irrationalismus, als dessen Hauptmerkmal nun der Antisemitismus fungierte. Hatten die Anhänger des bürgerlichen Szientismus noch geglaubt, die wissenschaftlich-technische Revolution werde alle Probleme und Aufgaben des Kampfes um das Überleben des Kapitalismus und um die Vernichtung des Marxismus-Leninismus, der kommunistischen Bewegung und der sozialistischen Länder lösen, so lasten die Ideologen des Irrationalismus und der „neuen Mythologie" alle Übel und Gefahren, die der Menschheit heute drohen, der Wissenschaft, der Rationalität und der Vernunft an. Der neueste Irrationalismus ist eine ideologische Waffe der imperialistischen Bourgeoisie, die ihre Funktion nicht schlechter erfüllt als vor ihr die szientistische Aniideologie. Indem er der Wissenschaft, der Rationalität und der Vernunft alle Übel und Gefahren anlastet, die die Menschheit heute bedrohen, ist er eine taugliche Waffe für die Verteidigung der bürgerlichen Ordnung. Und da heute der markanteste 254
Repräsentant von Wissenschaftlichkeit und Rationalität der Marxismus ist, so richtet sich natürlich der Kampf gegen Vernunft, Rationalität und Wissenschaft in erster Linie gegen den Marxismus-Leninismus. Zugleich ist die neueste Form des Irrationalismus ein Ausdruck äußerster Degradierung der heutigen bürgerlichen Ideologie. Das wird besonders klar, wenn wir ihn mit seiner Vorgängerin, der szientistischen Antiideologie, vergleichen. Letztere trug ihren Kampf gegen den Marxismus-Leninismus sozusagen auf dem Boden der „Wissenschaft", der „Rationalität" und des „historischen Fortschritts" aus. Sie erhob den Anspruch, die einzige „wissenschaftliche", „rationale" Theorie zu sein und der Menschheit eine weitaus höhere, vollkommenere Form des gesellschaftlichen Lebens zu bieten als der Marxismus-Leninismus. Im Gegensatz dazu verneint der moderne Irrationalismus einfach Wissenschaft, Rationalität und Vernunft und ruft dazu auf, zum Unwissen, zum „Unverständlichen", zum Mythos zurückzukehren. Ihm geht es nicht mehr darum, den Marxismus-Leninismus gleichsam „zu beschämen", indem er ein vollkommeneres Modell der Gesellschaftsstruktur, als es der Sozialismus und Kommunismus ist, anbietet. Er negiert einfach den historischen Fortschritt als solchen und ruft zur Rückkehr zur Vorgeschichte der Menschheit, zur Zeit vor der Vernunft, also zu jenen primitiven Gesellschaftsformen auf, in denen die Menschheit, unberührt von den Früchten der Vernunft, des wissenschaftlichen Denkens und der Erkenntnis, voll und ganz im Banne von Magie und Mythen lebte. Der neueste Irrationalismus steht in erstaunlichem Einklang mit dem Denkstil Ronald Reagans und des reaktionärsten Teils der amerikanischen Bourgeoisie, der von ihm repräsentiert wird. Deshalb verwundert es nicht, daß das Aufkommen und Anwachsen der neuen Welle des Irrationalismus im kapitalistischen Westen zeitlich mit dem von Reagan erklärten „Kreuzzug" für die Vernichtung des Marxismus 255
und Kommunismus in der Welt zusammenfällt. Und nicht nur das. Er ist überdies eine unmittelbare Folge des von den imperialistischen Staaten initiierten atomaren Wettrüstens und der sich daraus ergebenden tödlichen Gefahr für die Existenz der Menschheit, weshalb er von den reaktionärsten imperialistischen Zentralen vom Schlage des „Forum International" bewußt gefördert, finanziert und verbreitet wird. Der Zusammenhang zwischen dem neuesten Irrationalismus und den Interessen, Zielen und Aktivitäten der reaktionärsten imperialistischen Kreise ist so eindeutig, daß er zuweilen sogar von der bürgerlichen Presse zugegeben wird. Besonders bezeichnend ist in dieser Hinsicht eine Zuschrift Christof Reichweins an „Die Zeit", in der der Autor mit Bezug auf den Artikel von F. J . Raddatz schreibt: „Auch ich beobachte in den letzten Jahren die Tendenz und die Neigung zu einer .mystischen' und irrationalen' Erklärung der Welt statt einer .kritischen' und engagiert .aufklärerischen' Haltung zu den Fragen der Zeit, die uns alle betreffen." Er macht jedoch darauf aufmerksam, daß bei der Erörterung dieser Tendenz in der bürgerlichen Presse Hinweise darauf fehlen, „daß die Erklärung des Mythos als einen neuen Wert — und einhergehend die .Verabschiedung' von Vernunft, Geschichte und Fortschritt — von ganz bestimmten Kreisen der Wirtschaft und des öffentlichen und kulturellen Lebens", wie zum Beispiel der Axel-Springer-Stiftung, forciert und finanziert wird. „Für mich", erklärt Reichwein, „sind dies deutliche Belege für das Interesse von Großunternehmern und konservativen Kreisen an einer neuen .Gegenaufklärung', die sich .Mythos' nennt." 17 Wenn wir uns das stürmische Anwachsen der Zahl religiöser Sekten sowie die weite Verbreitung von orientalischer Mystik, Parapsychologie, Astrologie und des Okkultismus, V Ebenda.
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den Vormarsch des Kreationismus gegen die Wissenschaft und ähnliche Erscheinungen vor Augen halten, kommen wir zu dem Schluß, daß der Irrationalismus im kapitalistischen Westen große Ausmaße angenommen hat und sein Einfluß weiter wächst. Dieser Prozeß der Degenerierung des ideologischen, kulturellen und politischen Lebens in den kapitalistischen Ländern ist eine Auswirkung der allgemeinen Krise, in der sie sich befinden, sowie der von den imperialistischen Staaten verfolgten Politik, welche die größten Errungenschaften der gegenwärtigen wissenschaftlich-technischen Revolution in den Dienst des atomaren Wettrüstens stellt und die reale Gefahr der Vernichtung der Menschheit heraufbeschwört. Eine Rolle spielen hier ebenfalls die großen, für die Menschheit schicksalhaften ökologischen Probleme, die durch die rücksichtslose Nutzung wissenschaftlich-technischer Entdeckungen und Erfindungen sowohl für militärische als auch für friedliche Zwecke entstanden sind und sich mehren. Alle diese Erscheinungen liefern immer wieder neue „Argumente" für den Irrationalismus und seinen Kreuzzug gegen die Wissenschaft, gegen Rationalität und Vernunft. Bewußt oder unbewußt — in den meisten Fällen jedoch bewußt — fußt die Logik dieser „Argumentation" auf einer sophistischen Verkehrung von Ursache und Wirkung. Ohne die epochalen Entdeckungen und Erfindungen der wissenschaftlich-technischen Revolution würde es weder thermonukleare Waffen noch all jene Gefahren für die Existenz der Menschheit geben, mit denen die Ideologen des neuesten Irrationalismus spekulieren, wenn sie dazu aufrufen, zur Vorgeschichte, zum Höhlenwesen usw. zurückzukehren. Eine unbestreitbare Tatsache ist jedoch ebenfalls, daß dieselben Entdeckungen und Erfindungen Quelle zahlloser Güter der Menschheit, der Gesundheit und des Wohlstandes der Menschen sein können, die sie nicht gegen die Lebensweise des Höhlenmenschen eintauschen würden. Das wirkliche Problem besteht nicht darin, ob wir die Ent17
Zur Architektonik
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deckungen und Erfindungen der wissenschaftlich-technischen Revolution von heute annehmen oder ablehnen, sondern darin, wer über sie verfügt, wer sie nutzt und wie er sie nutzt, in wessen Interesse und zu welchem Zweck sie angewendet werden. Formulieren wir das Problem so, bricht die ganze „Argumentation" des neuesten Irrationalismus gegen Vernunft, Wissenschaft, Zivilisation und Fortschritt zusammen. Wenn wir uns dabei aufmerksamer in die „Logik" des neuesten Irrationalismus, in seine „Argumente" vertiefen, werden wir feststellen, daß der bürgerliche Szientismus, auf den ersten Blick das völlige Gegenteil und die Negation des Irrationalismus, mit logischer Unvermeidlichkeit in sein Gegenteil — den absurdesten Irrationalismus und die Mythologie — umschlägt, und daß andererseits der neueste Irrationalismus, der der Vernunft, der Wissenschaft, dem Szientismus den Krieg erklärt, sich in diesem Kampf des Hauptargumentes des bürgerlichen Szientismus bedient, allerdings mit umgekehrtem Vorzeichen, daß nämlich Vernunft, Rationalität, Wissenschaft und wissenschaftliche Erkenntnis die Hauptkräfte seien, die das historische Schicksal der Menschheit bestimmen. Während die Theoretiker der industriellen und postindustriellen Gesellschaft die Rationalität als Kraft betrachten, die den historischen Fortschritt der Menschheit bestimmt und vorantreibt, ist sie für den neuesten Irrationalismus der Hauptträger allen Übels für die Menschheit, ja sogar eine Kraft, die die Welt zerstört. Auf diese Weise sind der bürgerliche Szientismus und der neueste Irrationalismus in unseren Augen eine Einheit von Gegensätzen, die sich scheinbar gegenseitig negieren, die jedoch, was ihren geschichtlich-philosophischen Standpunkt zum Problem der bestimmenden Triebkraft der historischen Entwicklung der menschlichen Gesellschaft und ihre bürgerliche Klassenparteilichkeit betrifft, zugleich innerlich miteinander verbunden sind. 258
Eine ähnliche dialektische Einheit von Gegensätzen entdecken wir auch in der Einstellung der Bourgeoisie zur Wissenschaft (Rationalität) als Produk.tivk.raft und zur Wissenschaft (Rationalität) als Ideologie. Obwohl das monopolistische Großkapital und die imperialistischen Staaten die Wiedergeburt und die Verbreitung des Irrationalismus und der „neuen Mythologie" finanzieren, stimulieren und organisieren, wenden sie zugleich immer mehr Mittel für die Entwicklung von Wissenschaft und Technik und folglich auch der Rationalität auf und werden es auch in Z u k u n f t tun. Denn ohne die Wissenschaft als Produktivkraft könnten sie nicht existieren, weil die Entwicklung der Wissenschaft als Produktivkraft und als Mittel zur Regulierung der sozialen Prozesse in der historischen Auseinandersetzung mit den sozialistischen Ländern und im Kampf gegen die kommunistische Bewegung von entscheidender Bedeutung ist. Ohne die immense und ständig wachsende Armee der wissenschaftlich-technischen Intelligenz, die keine Mythen, Magien und Zaubersprüche hervorbringt, sondern sich mit streng profilierter Forschungs- und Erfindertätigkeit für die Entwicklung der Wissenschaft als Produktivkraft beschäftigt, können sie nicht existieren. Diese Intelligenz weiß nur zu gut, daß es auf dem Gebiet der mathematischen, technischen und Naturwissenschaften keine Krise der Rationalität und der Vernunft gibt. Alle wissenschaftlichen und technischen Entdeckungen der Menschheit verdanken sich rationaler, wissenschaftlicher Arbeit und nicht Mythen, Magien und Ritualen. Auch die imperialistische Bourgeoisie weiß das. Deshalb reduziert sie auch nicht die Investitionen für die Entwicklung der Wissenschaft als Produktivkraft und als Mittel zur Regulierung und Manipulierung der sozialen Prozesse, sondern erhöht sie. In diesem Bereich läßt die imperialistische Bourgeoisie keinerlei Ermüdungserscheinungen vor der Rationalität erkennen, geschweige denn Sehnsucht nach Mythologie, 17»
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nach einer Rückkehr zumLeben des Höhlenwesens, zurVorgeschichte, zur „Zeit vor der Vernunft". In der Sphäre der Ideologie, der ideologischen Wissenschaften und der Kultur liegen die Dinge jedoch nicht so. Aus historisch bedingten Gründen ist die Bourgeoisie weder in der Lage noch daran interessiert, eine wissenschaftliche Ideologie zu schaffen. Auch hier entdecken wir erneut die tief verborgene Verwandtschaft zwischen dem neuesten Irrationalismus und seinem Vorgänger, dem bürgerlichen Szientismus. Letzterer betrachtet jegliche Ideologie als Mythologie und läßt Ideologie nicht als Wissenschaft gelten. Von dieser Auffassung von Ideologie gehen die geistigen Väter und Verkünder des neuesten Irrationalismus aus. Sie brauchen den Irrationalismus gerade als Mythologie, als Negierung der Vernunft, der Wissenschaftlichkeit, der wissenschaftlichen Erkenntnis, als Mittel zur Verdummung der Massen und als ideologische Waffe im Kampf gegen den Marxismus. Weil der Marxismus der wahre Erbe der Aufklärung, die markanteste und konsequenteste Verkörperung der Rationalität, der Wissenschaftlichkeit ist, appelliert er in erster Linie an die Vernunft der Massen, all derer, denen die Errungenschaften des historischen Fortschritts der Menschheit teuer sind und die weder die wahnsinnige Selbstvernichtung der Menschheit in einem thermonuklearen Krieg noch ihre Rückkehr zur Vorgeschichte zuzulassen gewillt sind.
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KARL-HEINZ
SCHÖNEBURG
(Potsdam-Babelsberg)
Revolutionäre Demokratie als realisierbare Vernunft Vier Thesen Es kennzeichnet Dimension und Stil des Philosophierens von Manfred Buhr, daß er schon frühzeitig und immer wieder staats- und rechtsphilosophische Themata bewußt in sein Denken einbezogen hat. Dies hat sicherlich etwas mit philosophischer Haltung zur Kategorie Totalität zu tun, mit dem Stellenwert des Politischen in einer auf Gesellschaftsveränderung verpflichteten Philosophie, also mit inhaltlicher Qualität des philosophischen Denkansatzes und Denkeinsatzes. So war es alles andere denn Zufall, daß sich Manfred Buhr anläßlich der 200. Wiederkehr des Geburtstages von Maximilien Robespierre im Jahre 1958 mit einem Beitrag über „Jakobinisches in Fichtes ursprünglicher Rechtsphilosophie" zu Wort meldete. 1 Damit ging er ein Thema an, das seitdem an theoretischem wie praktisch-politischem Interesse ständig 1
Zuerst in: Maximilien Robespierre 1758 bis 1794, hg. von W. Markov, Berlin 1961, S. 479ff.; dann abgedruckt in: M. Buhr, Revolution und Philosophie. Die ursprüngliche Philosophie J . G . Fichtes und die Französische Revolution, Berlin 1965.
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zugenommen hat: die Theorie v o m revolutionär-demokratischen Staat. Die gegenwärtige Epoche des weltrevolutionären Prozesses ist unter anderem dadurch gekennzeichnet, daß in vielfältigen Formen revolutionär-demokratische Staaten entstehen und sich entwickeln, die zu Übergangsformen (Keimformen) sozialistischer Staaten werden und somit Etappen des revolutionären Herankommens an den sozialistischen Staat markieren können. Sie sind keine Ausbeuterstaaten mehr. Die revolutionäre Überwindung überkommener Ausbeuterherrschaft, ihres Inhalts, ihrer Strukturen, ihrer Arbeitsmethoden gehört daher zu ihren Wesensmerkmalen. Sie sind jedoch auch noch keine sozialistischen Staaten, selbst dann nicht, wenn sie schrittweise Elemente der zukünftigen sozialistischen Staatlichkeit entsprechend den jeweiligen historischen Bedingungen und Möglichkeiten realisieren. Die Theorie der revolutionären Demokratie als Ausdruck objektiver historischer Notwendigkeiten, als Realisierung der Vernunft in der Geschichte gewinnt zunehmend an Gewicht — und damit die Auseinandersetzung mit revolutionär-demokratischen Staatstheorien der Vergangenheit. Revolutionär-demokratische Staatsauffassungen existieren nicht erst in unserer Epoche. Sie haben vor allem in der Vorbereitungsperiode, im Prozeß der Durchführung sowie in Verarbeitung der Ergebnisse bürgerlich-demokratischer Revolutionen im 18. und 19. Jahrhundert in Europa eine zentrale ideologische wie staatspraktische Rolle gespielt. Diese Theorien wurden zu einer der Quellen der Staatsauffassung der Arbeiterklasse. Die Entstehung und Entwicklung der Theorie v o m sozialistischen Staat durch Marx und Engels erfolgte aueb in kritischer Aufhebung revolutionär-demokratischer Staatsauffassungen des 18. und 19. Jahrhunderts (zum Beispiel der Auffassungen Rousseaus, der französischen und der deutschen Jakobiner). Im Ergebnis der Revolutionen von 1848, 262
1871 und 1905 haben dann Marx, Engels und Lenin eine Theorie der revolutionär-demokratischen Diktatur unter Führung der Arbeiterklasse als Bestandteil der Theorie von der Diktatur des Proletariats entwickelt. Im folgenden soll auf einige Aspekte der Theorie von der revolutionären Demokratie in der Geschichte des Staatsdenkens aufmerksam gemacht werden, die für die Einheitlichkeit und Widersprüchlichkeit, für die Dialektik von Kontinuität und Diskontinuität in der Geschichte, für das Aufheben vormarxistischer revolutionärer Staatsauffassungen in der marxistisch-leninistischen charakteristisch sind.
I Revolutionär-demokratische Staats- und Rechtstheorien ist gemeinsam, daß sie in Vorbereitung, Durchführung oder im Ergebnis von Volksrevolutionen entstehen und wirken. Ihnen ist gemeinsam, daß sie diese Revolutionen nicht mit der Machtergreifung von Ausbeuterklassen abschließen, beenden wollen. Da die Klassen und Schichten, die das Volk ausmachen, entsprechend den jeweiligen historischen Bedingungen unterschiedlich sind, aus Ausbeutern und Ausgebeuteten bestehen, Werktätige und Nichtwerktätige umfassen können, gibt es gravierende Unterschiede in den revolutionär-demokratischen Staatsauffassungen. Diese das jeweilige Wesen des Volkes ausmachenden Klassenkräfte, die sozialökonomische Determination und historische Aufgabe der innerhalb des Volkes eine Führungsrolle einnehmenden Klassen und Schichten sowie deren Reife bestimmen die Realität bzw. das Illusionäre revolutionär-demokratischer Staatsauffassungen im allgemeinen wie hinsichtlich der Problematik revolutionär-demokratischer Macht und Revolution im besonderen. 263
Die Französische Revolution von 1789 bis 1794 war wie keine andere bürgerliche Revolution vor Existenz des Pioletariats als Klasse Volksrevolution. Die Volksmassen verliehen ihr Schwung und Kraft, um den Feudalismus gründlich zu beseitigen. Diese Revolution hat deshalb nachhaltig die Geschichte der Theorie vom revolutionär-demokratischen Staat geprägt. Hierfür steht als Beleg in der Vorbereitungsperiode der Französischen Revolution vor allem J . J . Rousseau. Seine Auffassung von revolutionärer Demokratie reflektierte vornehmlich Interessen des revolutionären städtischen Kleinbürgertums sowie der vom Feudalstaat, vom Adel sowie von der Kirche ausgebeuteten Bauern. Folgerichtig ist die Errichtung eines revolutionär-demokratischen Staates für Rousseau gegenüber dem Feudalstaat historisch notwendig und rechtmäßig und durch Volksrevolution zu vollziehen. Der Aufstand des Volkes ist eine „rechtmäßige Handlung" 2 . Mit ihr wird Vernunft realisiert. Der im antagonistischen Gegensatz zum Feudalstaat stehende revolutionär-demokratische Staat Rousseaus soll — und darin liegt Utopismus — auf Arbeitseigentum ökonomisch gegründet sein. Die in Überwindung der feudalen Ungleichheit zu schaffende höhere Form von Gleichheit soll darin bestehen, daß der Reichtum keinem Staatsbürger die Möglichkeit verschafft, sich einen anderen zu kaufen, und daß die Armut niemanden zwingt, sich verkaufen zu müssen. Dieser Staat soll einen gesellschaftlichen Zustand zur Basis haben, in dem „alle etwas und keiner zuviel besitzt" 3 . Das unter den Bedingungen einer neuen (kapitalistischen) Gesellschaft Unmögliche dieser Konstruktion leuchtet bei Rousseau selbst auf, so wenn er davon spricht, daß „die Macht der Verhältnisse immer dazu neigt, die Gleichheit 2
3
J. J. Rousseau, Über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, Berlin 1955, S. 122. J. J . Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, Rudolstadt 1953, S. 86, 192.
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zu zerstören", und daher „die Macht der Gesetzgebung immer dazu neigen [muß], sie zu erhalten". 4 Als die französischen Jakobiner in der Praxis des revolutionären Kampfes die von Rousseau projektierte revolutionäre Demokratie zu verwirklichen suchten, wurden deren Grenzen, Illusionen, aber auch revolutionäre Potenzen sichtbar. Daraus resultierten wichtige Fortentwicklungen der Theorie der revolutionären Demokratie. Der französische Jakobinismus war bekanntlich kein Interessenausdruck einer homogenen Klasse. 5 Getragen und bestimmt von der Mehrheit des städtischen Kleinbürgertums und seiner Intellektuellen, umfaßte ihr Anhang gleichzeitig Teile der gewerblichen mittleren Bourgeoisie und der proletarischen Plebejer, der Mittel- und der Kleinbauernschaft, Als Vertreter der politisch aktiven Volksmassen bezeichneten sich die Jakobiner als Vollstrecker der volonté générale. In der revolutionären Praxis der Jahre 1793 und 1794 bricht jedoch bald das Gegensätzliche innerhalb dieses allgemeinen Willens auf. Um die bürgerliche Revolution gegen innere und äußere Feinde endgültig zum Siege zu führen, mußten die Jakobiner politische Entscheidungen treffen, die als Ausdruck der Interessen des Sansculotterie den Klasseninteressen der Bourgeoisie widersprachen; mußten sie die ganze Spannweite bürgerlicher Demokratie durchmessen und den utopischen Versuch unternehmen, menschliche Emanzipation in einer bürgerlich-demokratischen Revolution zu realisieren; mußten sie die Demokratie der mittleren Bourgeoisie in eine revolutionär-demokratische Diktatur mit einem Staatsapparat umwandeln, der qualitativ neue Züge trug; glaubten « Ebenda, S. 8 6 f . 5
Vgl. W . Markov, Grenzen des Jakobinerstaates, in : Grundpositionen der französischen Aufklärung, Berlin 1955, S. 2 0 9 f f . ; Jakobiner und Sansculotten, hg. v o n W . Markov, Berlin 1 9 5 6 ;
Maximilien Robespierre 1758 bis
1794, a. a. O . ; W . Markov, Revolution im Zeugenstand.
Frankreich 1789
bis 1799, 2 Bde., Leipzig 1982.
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sie, allein mit politischen Mitteln und Eingriffen, mit außerökonomischem Zwang kapitalistische Ausbeutung und Volkssouveränität vereinen zu können. Diese Dialektik der Revolution führt bei Marat zu ersten Einsichten über das Weitertreiben der Revolution. Im Interesse der Arbeitenden, der „Klasse der Unglücklichen", als „des gesündesten Teils der Nation" 0 kann die Revolution für ihn nicht mit der Machtergreifung der Bourgeoisie ihren Abschluß finden. Sie muß weitergeführt werden. Genauso wie das Volk den Feudalismus gestürzt und die Vorrechte der Adligen abgeschafft hat, muß es dies nunmehr mit der Bourgeoisie selbst tun: „Vernunft und Gerechtigkeit billigen diese Revolution gleichermaßen. Um die Vorrechte der Adligen abzuschaffen, haben die Plebejer das gewaltige und unwidersprechliche Argument geltend gemacht, daß allen Menschen die gleichen Rechte zustehen, weil alle Menschen gleich sind. Um die Vorrechte der Reichen zu beseitigen, werden die Unglücklichen daher dieselben Rechte geltend machen." 7 Die revolutionäre Demokratie nimmt bei den französischen Jakobinern nun deutlicher klassenmäßiges Profil an. In einer Instruktion des Revolutionskomitees für die republikanische Behörde des Departements Rhone und Loire vom 16.11.1793 hieß es: „Die Revolution geschah für das Volk, das Glück des Volkes ist ihr Ziel; die Liebe zum Volk ist der Prüfstein für die revolutionäre Gesinnung. Es versteht sich von selbst, daß unter dem Volk nicht jene durch ihre Reichtümer privilegierte Klasse zu verstehen ist, die alle Annehmlichkeiten des Lebens und alle Güter der Gesellschaft für sich in Anspruch genommen hat. Das Volk — das ist die Gesamtheit der französischen Bürger; das Volk ist vor allem die gewaltige Klasse der Armen, die Klasse, die dem Vaterland Männer gibt, Verteidiger unserer 6
J. P. Marat, Ausgewählte Schriften, Berlin 1954, S. 67, 87, 144.
? Ebenda, S. 135.
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Grenzen, die die Gesellschaft mit ihrer Arbeit ernährt, die sie durch ihre Talente verschönt, durch ihre Tugenden schmückt und zu Ansehen bringt. Die Revolution wäre ein politisches und moralisches Unding, wenn sie sich zum Ziel gesetzt hätte, das Wohlleben einiger Hundert zu sichern und das Elend von 24 Millionen Bürgern zu verewigen." 8 Der Sturz der Jakobiner-Diktatur, die Machtergreifung der französischen Großbourgeoisie, deren hemmungslose Spekulation und Profitaneignung, die damit zutage tretende Zuspitzung der Gegensätze zwischen einer Handvoll Reicher, Wucherer, Spekulanten und der zunehmenden Not der breiten Volksmassen sind die gesellschaftlichen Ursachen und Bedingungen, unter denen F. N. Babeuf die Auffassungen der Jakobiner über revolutionäre Demokratie weiterführt, jetzt Interessen des sich herausbildenden Proletariats widerspiegelnd. Im Unterschied zu den Jakobinern entsteht die Konzeption, nicht nur die Folgen und Auswüchse der kapitalistischen Herrschaft mit politischen Mitteln zu bekämpfen, sondern deren Wurzeln aufzudecken und zu beseitigen. Von diesem historischen und ideologischen Hintergrund aus begründet Babeuf die gesetzmäßige Weiterführung der bürgerlich-demokratischen Revolution über ihr kapitalistisches Ergebnis hinaus zu einer Volksrevolution mit dem Ziel, eine kommunistische Gesellschaft zu erreichen. Deshalb bestimmte der 11. Hauptartikel des Revolutionskomitees der Babeufschen Verschwörung von 1796: „Die Revolution ist nicht beendet, weil die Reichen alle Güter an sich reißen und ausschließlich herrschen, während die Armen ohne Aufhören arbeiten, schaffen und im Staate nicht gelten." In seiner glänzenden Verteidigungsrede vor dem ihn zum Tode verurteilenden Gerichtshof hat er die historische Gesetzmäßigkeit dieser Revolution begründet: „Es 8
W . Markov, Revolution im Zeugenstand, Bd. 2, a. a. O., S. 538f.
267
gibt Epochen, in denen die unerbittlich harten Entwicklungsgesetze der menschlichen Gesellschaft letzten Endes dahin geführt haben, daß die Gesamtheit des allen Menschen gehörigen Reichtums in den Händen einiger weniger zusammengeballt liegt. Der Zustand gesellschaftlichen Friedens, der naturgemäß herrscht, wenn alle glücklich sind, ist dann zwangsläufig gestört. Die Masse kann nicht mehr existieren, weil alle Güter in anderen Händen liegen; sie sieht sich einer Kaste gegenüber, die alles an sich gerissen hat und erbarmungslos festhält. Solche Verhältnisse bestimmen den Zeitpunkt der großen Revolutionen, sie lösen jene denkwürdigen . . . Epochen aus, in denen ein allgemeiner Umsturz der Eigentumsverhältnisse unvermeidbar wird, in denen die revolutionäre Erhebung der Armen gegen die Reichen eine geschichtliche Notwendigkeit ist, die durch nichts unterdrückt werden kann." 9 Aus der Gesetzmäßigkeit der Revolution folgt für Babeuf das Recht des Volkes auf Revolution als wichtigster Bestandteil der Volkssouveränität. 10 Die von Babeuf angestrebte Revolution beinhaltet für ihn notwendig die Zerschlagung des überkommenen ökonomischen, staatlichen und rechtlichen Systems der Macht: „Das alte System der Ausbeutung, der Vorurteile und des Aberglaubens nur antasten bedeutet: von vornherein auf die Früchte einer siegreichen Revolution zu verzichten. Man muß das System vernichten, sonst läuft man Gefahr, alles wieder von vorn beginnen zu müssen. Den enteigneten Grundbesitzern muß jede Möglichkeit genommen werden, sich von neuem in ihrem angemaßten Besitz festzusetzen: in ihrer selbstsüchtigen Wut und Enttäuschung darf ihnen nicht die leiseste Hoffnung mehr bleiben. Wenn ich einen Zauberstab besäße, so würde ich auf der einen Seite alles, was uns hinderlich ist, mit einem Schlag in Staub und 9
F. N . Babeuf, Ausgewählte Schriften, Berlin 1956, S. 77.
«> Ebenda, S. 98.
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Vergessenheit sinken lassen, auf der anderen Seite aber alles das aus dem Boden stampfen, was zur Errichtung einer Gesellschaft gleichberechtigter Menschen erforderlich ist." 11 Auf diesen Erfahrungen und Erkenntnissen werden dann Marx, Engels und Lenin aufbauen, als sie ab 1848 vom Standpunkt des modernen Proletariats aus revolutionär-demokratische Formen des Herankommens und des Übergangs zum sozialistischen Staat fordern und konzipieren.
II Revolutionär-demokratische Staaten wurden in der Geschichte des Staatsdenkens gefordert und projektiert als Machtorganisation und Machtinstrument unterschiedlicher Klassen und Klassenkräfte: des Kleinbürgertums und der werktätigen Bauern (so bei Rousseau, bei den französischen und deutschen Jakobinern); des sich herausbildenden Proletariats (so bei Winstanley und Babeuf); des modernen Proletariats und seiner Verbündeten. Allen diesen Theorien ist gemeinsam, daß sie Klasseninteressen reflektieren, die nicht durch Ausbeuterinteressen geprägt sind. Deshalb ist allen diesen Auffassungen über revolutionäre Demokratie zu eigen, daß sie sich gegen Ausbeuterklassen bzw. Teile von ihnen richten. Der antifeudale revolutionäre Staat des J. J. Rousseau wollte die Macht der revolutionären französischen Arbeitseigentümer konstituieren. Auf ihrer gesellschaftlichen Gleichheit als Eigentümer gründete Rousseau die politische Gleichheit als Staatsbürger, die Möglichkeit und Notwendigkeit der volonté générale, des Willens des souveränen Volkes. Auf dieser Basis kann er mit Fug und Recht die staatsbürgerliche Freiheit jedes Individuums mit der volonté générale il Ebenda, S. 108.
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dialektisch verbinden. Die Freiheit des einzelnen erhält dadurch inhaltliche Richtung und Begrenzung: „Wer dem Gemeinwillen den schuldigen Gehorsam verweigert, wird durch den Staat zum Gehorsam gezwungen; mit anderen Worten, man wird ihn zwingen, frei zu sein." 12 Volkssouveränität im revolutionär-demokratischen Staat heißt für Rousseau, daß die Staatsgewalt unveräußerlich beim Volk als Souverän liegt; nicht übertragen werden darf; nicht teilbar ist; vom Volke gegebener Gesetze als „Bedingungen der staatlichen Gemeinschaftsbildung" bedarf. 13 Diese „heroische Illusion" Rousseaus wollten die französischen Jakobiner in ihrer revolutionären Herrschaft realisieren und damit „dem Lauf der menschlichen Vernunft" (Robespierre) freie Bahn schaffen. Um die Interessen der Träger der Revolution, vor allem der plebejischen und kleinbürgerlichen sowie kleinbäuerlichen Volksmassen zu befriedigen, wurde das Recht auf Eigentum dem Recht auf Leben, auf Existenz untergeordnet. Dies erforderte die Notwendigkeit zu siegen, das Interesse der Nation. „Welches ist das oberste Ziel der Gesellschaft? Die unwandelbaren Rechte des Menschen aufrechtzuerhalten. Welches ist das vornehmste dieser Rechte? Das zu leben. Das wichtigste soziale Gesetz ist somit dasjenige, welches allen Gliedern der Gesellschaft die Existenzmöglichkeit garantiert; alle anderen Gesetze sind jenem untergeordnet; nur zu seiner Festigung wurde das Eigentum geschaffen und gewährleistet. Es ist nicht wahr, daß das Eigentum jemals in einen Gegensatz zum menschlichen Auskommen geraten kann. Die notwendigen Mittel für den Lebensunterhalt des Menschen sind ebenso heilig wie das Leben selber. Alles, was für seine Erhaltung unerläßlich ist, ist der ganzen Gesellschaft zugehörendes Eigentum. Nur das, was darüber hinausgeht, ist persönliches J. J. Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, a. a. O., S. 51. »3 Ebenda, S. 73.
12
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Eigentum und dem Gewerbefleiß der Kaufleute überlassen. Jedwede Handelsspekulation, die ich auf Kosten des Lebens meines Mitmenschen mache, ist nicht Handelsgeschäft, sondern Raub und Brudermord. Welches ist nach diesem Grundsatz das zu lösende Problem bei der Gesetzgebung über die Existenzmittel? Allen Gliedern die Nutznießung des Teiles der irdischen Erzeugnisse, der für ihre Existenz notwendig ist, zu garantieren." 14 Die politische Idee, die vertu, sollte über den kapitalistischen Reichtum triumphieren. Mit bloß politisch-juristischen Mitteln wollte Robespierre eine Ordnung schaffen, bei der durch Gesetz „alle niedrigen und grausamen Leidenschaften in Ketten liegen". 1 5 Bereits in der Jakobinerdiktatur selbst wird sichtbar, daß letztlich die Eigentumsverhältnisse sich gegenüber Recht, Moral und politischer Idee als stärker erweisen. Dies wird in der Entwicklung der Demokratieauffassung Marats deutlich. Bei ihm leuchtet bereits die Erkenntnis auf, daß die Interessen der Armen, der Plebejer und Bauern mittels Staat und Recht nur dann durchgesetzt werden können, wenn sie als Träger der Macht die tatsächliche Herrschaft des Reichtums brechen: „Wenn wir doch endlich begreifen würden, daß wir uns in einer Art Kriegszustand befinden, daß das Wohl des Volkes oberstes Gesetz ist und jedes Mittel recht ist, das sich als wirksam erweist, um uns von den Feinden zu befreien, welche die Gesetze mißachten." 1 6 Bereits 1789 hatte er davon gesprochen, welch großen Einfluß „der Reichtum auf die Gesetze ausübt" 1 7 . In allen revolutionär-demokratischen
Staatsauffassungen
M. Robespierre, Habt Ihr eine Revolution ohne Revolution
gewollt?,
Leipzig 1958, S. 243f. 15
Ebenda, S. 321.
16
J . P. Marat, Ausgewählte Schriften, a. a. O., s. 112.
ö Ebenda, S. 134.
271
ist die Dialektik von ökonomischer Macht und politischer Macht der Dreh- und Angelpunkt, der über Realisierbarkeit von Vernunft in der revolutionären Demokratie entscheidet.
III Revolutionär-demokratische Staatsauffassungen sind dadurch charakterisiert, daß sie, weil auf Realisierbarkeit von Vernunft abzielend, staatliche Strukturformen entwerfen, die vom Prinzip der Volkssouveränität bestimmt sind. Das findet in den jeweiligen Verfassungsvorstellungen deutlichen Ausdruck: insbesondere in der Kompetenz und im Charakter der Volksvertretung als oberstem Machtorgan; in Grundund Menschenrechtsforderungen als Formen der Verwirklichung von Volkssouveränität durch den einzelnen Bürger; im Widerstandsrecht des Volkes; in den Forderungen nach revolutionärer Gesetzlichkeit, um „das eiserne Gesetz der Notwendigkeit" (Robespierre) zu realisieren; in der Verantwortlichkeit des Staatsapparates vor dem Volk und dessen Repräsentanten; in der Ablehnung der konstitutionellen Monarchie, der Gewaltenteilung und des bürokratischen Zentralismus. Auch in allen diesen Fragen zeigt sich, daß Tiefe, Umfang und Klassenwesen dessen, was Volkssouveränität konkret-historisch beinhaltet, von den geschichtlichen Bedingungen und den die revolutionäre Demokratie tragenden Klassen und Schichten abhängig sind.
IV Es existiert eine Dialektik zwischen der Theorie des revolutionär-demokratischen Staates und der Theorie der Diktatur des Proletariats innerhalb des Systems wie der Geschichte 272
der marxistisch-leninistischen Staats- und Rechtstheorie. Dies ist Ausdruck der welthistorischen Mission der Arbeiterklasse, ihrer Rolle als Erbin aller progressiven Traditionen in der Staatsphilosophie und einer dadurch bestimmten weltrevolutionären Konzeption, die unterschiedliche revolutionäre Formen und Aktivitäten in einer komplexen Strategie des Übergangs von der zweiten zur dritten Großformation der Menschheitsgeschichte in sich vereinigt. Karl Marx und Friedrich Engels, zunächst selbst revolutionäre Demokraten, haben im Kommunistischen Manifest des Jahres 1848 die Notwendigkeit begründet, daß der erste Schritt in der sozialistischen Revolution die Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse, das heißt die Errichtung der Diktatur des Proletariats sein muß. Sie haben aber zugleich auch die Frage nach der Dialektik zwischen revolutionär-demokratischer und sozialistischer Revolution gestellt. Unter den Bedingungen der Vorbereitung der bürgerlichen Revolution von 1848/49, die sich-in einigen europäischen Ländern ankündigte, in denen bereits das Proletariat existierte und der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit aufgebrochen war, hieß das für Marx und Engels: Die Arbeiter „können und müssen die bürgerliche Involution als eine Bedingung der Arbeiterrevolution mitnehmen. Sie können sie aber keinen Augenblick als ihren Endzweck betrachten." 1 ? Diese Theorie fand ihren Niederschlag in den von Marx und Engels formulierten „Forderungen der kommunistischen Partei in Deutschland". .Sie zielten darauf ab, die politische Macht der Feudalklasse zu brechen und eine Staatsmacht zu errichten, die sich auf die entschieden demokratischen Kräfte der Gesellschaft, die Arbeiterklasse, die Bauernschaft, das Kleinbürgertum und Teile des. demokratischen Bürgertums stützte. Ihrem Wesen nach sollte dies eine bürgerlich-demokratische Macht sein. 18
18
K. Marx/F. Engels, Werke, Berlin 1956ff., Bd. 4, S. 352ff.; dort auch das folgende. Zur Architektonik
273
Die Konzeption der Dialektik von revolutionär-demokratischer Diktatur und Diktatur des Proletariats mußte von Marx und Engels übrigens sofort gegen die Auffassungen der „wahren Sozialisten" verteidigt werden, die eine bürgerlich-demokratische Revolution für überflüssig, fürüberspringbar hielten. Ihnen entgegneten Marx und Engels, daß das Proletariat eine bürgerliche Republik brauche „als Terrain für den Kampf um seine revolutionäre Emanzipation, keineswegs als Form dieser Emanzipation selbst". Diese Konzeption bestimmte die Haltung der Arbeiterklasse in der bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848/49 in Deutschland. In der Praxis der Revolution gewann die marxistische Theorie von der revolutionären Demokratie weiteres Profil. Die in der Revolution zu schaffende Macht mußte auf der Souveränität des Volkes basieren. Dies hat die unter Leitung des Chefredakteurs Marx agierende „Neue Rheinische Zeitung" immer wieder betont. Das Volk waren vor allem die entscheidenden Triebkräfte der Revolution, das Kleinbürgertum, die Bauern und das Proletariat, daneben die verängstigte und in gewisser Weise kompromißbereite demokratische Bourgeoisie. Es bedurfte einer auf Volkssouveränität basierenden Verfassung und eines Parlaments, das eine revolutionäre Regierung bildete und den Widerstand der reaktionären Einzelstaatsgewalten brach. Die Volksvertretung war so zu gestalten, daß in ihr das Volk sein eigenes Leben wiederfindet und so zum Zentralorgan der revolutionären Bewegung wird. 1 9 Ein revolutionäres Parlament war unvereinbar mit dem parlamentarischen Kretinismus, wie er in der Frankfurter Nationalversammlung von der kompromißbereiten Bourgeoisie und dem Kleinbürgertum trainiert wurde. 19
Vgl. dazu im einzelnen: K.-H. Schöneburg, Revolution und bürgerliches Parlament, in: Staat und Recht, Berlin, 4/1983, S. 297ff.
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Eine auf Volkssouveränität basierende neue Macht mußte den überkommenen feudalen Staatsapparat revolutionär überwinden. Dies hieß insbesondere, die in Preußen „organisierte bürokratische Hierarchie in der Verwaltung und im Militär" zu zerbrechen. Es war ein Grundfehler der liberalen Bourgeoisie, in Preußen „die alte Gesetzgebung über politische Verbrechen und die alten Gerichte in Kraft [zu belassen]. Die alte Bürokratie und die alte Armee gewannen . . . wieder Zeit, sich von ihrem Schrecken zu erholen und sich vollständig zu rekonstituieren." 20 Die von Marx und Engels für eine revolutionäre Volksvertretung entwickelten Forderungen und Wesenszüge widerspiegeln die historische Notwendigkeit, eine Staatsmacht zu errichten, die sich auf die entschieden demokratischen Kräfte in Deutschland stützt. Es wäre dies zunächst eine bürgerlich-demokratische Staatsmacht gewesen. Ihre Beziehungen zur Revolution und zu deren entscheidenden Triebkräften (Kleinbürgertum, Bauernschaft und Proletariat) hätte sie jedoch folgerichtig zu einer revolutionär-demokratischen Macht fortentwickelt. Lenin 1905: Jene Marxschen Forderungen laufen auf nichts anderes hinaus „als die revolutionär-demokratische Diktatur" 21 . In den „Reichsverfassungskämpfen" des Jahres 1849 erfolgte die revolutionäre Auseinandersetzung aufgrund des Verrats der Bourgeoisie und unmittelbar zwischen Arbeitern, Bauern und revolutionärem Kleinbürgertum einerseits und der feudalen Konterrevolution andererseits. Es ging nunmehr um die Alternative „feudale absolutistische Konterrevolution" oder „sozial-republikanische Revolution". 22 Staatstheoretisch hieß das: Entweder feudalabsolutistischcr Staat oder revolutionär-demokratische Staatsmacht ohne Hegemonie der Bourgeoisie. Damit war aber die Arbeiter=« K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 6, S. 103. 21 W. I. Lenin, Werke, Berlin 1955ff., Bd. 9, S. 123f. 22 K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 6, S. 124. 1S*
275
klasse als selbständig handelnde revolutionäre Kraft gefordert. Die Gründung einer selbständigen Arbeiterorganisation für ganz Deutschland war dazu unerläßliche Voraussetzung. In Auswertung der revolutionären Erfahrungen von 1848/49 in Deutschland und Frankreich wurde die Einsicht in die Dialektik von revolutionär-demokratischer Diktatur und Diktatur des Proletariats von Marx und Engels erheblich erweitert. In der von ihnen verfaßten „Ansprache der Zentralbehörde an denBund" vom März 1850 begründeten Marx und Engels die Notwendigkeit für die Arbeiterklasse und ihre Partei, in zukünftigen bürgerlichen Revolutionen ihre Selbständigkeit zu wahren, als selbständige revolutionäre Kraft aufzutreten und sich den kleinbürgerlichen Demokraten nicht unterzuordnen. Für zukünftigte demokratische Revolutionen wird eine organisierte, selbständig auftretende Arbeiterpartei zum unabdingbaren Erfordernis. Dies ist Voraussetzung dafür, die revolutionäre Bewegung nicht in einem Kompromiß zwischen Bourgeoisie und Feudalherren oder in der staatlichen Machtergreifung der Bourgeoisie enden zu lassen. Es ist das Interesse und die Aufgabe der Arbeiterklasse, „die Revolution permanent zu machen, so lange, bis alle mehr oder weniger besitzenden Klassen von der Herrschaft verdrängt sind, die Staatsgewalt vom Proletariat erobert und die Assoziation der Proletarier nicht nur in einem Lande, sondern in allen herrschenden Ländern der ganzen Welt so weit vorgeschritten ist, daß die Konkurrenz der Proletarier in diesen Ländern aufgehört hat und daß wenistens die entscheidenden produktiven Kräfte in den Händen der Proletarier konzentriert sind". Um dieses Ziel zu erreichen, müssen gegebenenfalls neben den bürgerlichen Staatsorganen „eigene revolutionäre Arbeiterregierungen" gebildet werden. 23 23 K Marx, F. Engels, Werke, Bd. 7, S. 247f., 250.
276
Auch die Pariser Kommune von 1871 liefert wichtige Einsichten in die Dialektik von revolutionär-demokratischer und sozialistischer Macht. Ihrem Wesen nach war die Pariser Kommune eine „Regierung der Arbeiterklasse" (Marx). Aber dieses Wesen war längst nicht ausgebildet, denn die Kommune war lediglich auf Paris beschränkt; sie hatte keine Zeit zu reifen und sich zu entwickeln; es existierte keine Arbeiterpartei, die zur bewußten Führung der Klasse imstande gewesen wäre; die Masse der Arbeiter hatte längst noch keine klaren Vorstellungen von ihren revolutionären Aufgaben; die Majorität der in den Organen der Kommune wirkenden Funktionäre war durchaus nicht sozialistisch eingestellt; die von der Kommune durchgesetzten Maßnahmen waren revolutionär-demokratischen, nicht aber proletarischen Inhalts. In diesem Sinne war die Kommune daher Keimform der Diktatur des Proletariats. Dies alles waren Erkenntnisse, auf denen Lenin fußen und — bereichert durch die Erfahrungen der russischen Revolution von 1905 — eine geschlossene, aber keinesfalls abgeschlossene Theorie des Herankommens der Arbeiterklasse an den sozialistischen Staat mittels revolutionär-demokratischer Herrschaftsformen konzipieren konnte. In ihr sind vielfältige vorproletarische Auffassungen über revolutionäre Demokratie aufgehoben. Sie ist seitdem von kommunistischen und Arbeiterparteien sowie revolutionären Bewegungen in den unterschiedlichsten Regionen unserer Erde fortentwickelt worden.
277
HERBERT HÖRZ
(Berlin)
Natur und Geschichte Zur Kritik des flachen Evolutionismus 1. Vorbemerkung Das VII. Deutschlandsberger Symposium (1985) befaßte sich mit dem Thema „Die Stellung des Subjekts in den philosophischen Naturkonzeptionen des 20. Jahrhunderts". Dabei ging es um philosophische Reflexionen zur Geschichtlichkeit der Natur und zum Naturwesen Mensch, um die historisch-konkreten Determinanten subjektiven Verhaltens zur Natur und um das Verhältnis von Natur- und Kulturgeschichte, also im Kern um die Beziehungen von Natur und Geschichte. In den Diskussionen spielte das Entwicklungsprinzip eine wichtige Rolle, sei es in den Kontroversen um die evolutionäre Erkenntnistheorie, wie sie in unterschiedlichem Maße von E. Oeser, G. Vollmer und F. Wuketits gegen das Argument verteidigt wurde, sie sei keine Erkenntnistheorie, sei es in den Debatten um das von K.-F. Wessel vorgetragene Forschungsprogramm „Der Mensch als biopsychosoziale Einheit", das statistische Gesetzeskonzeption und philosophische Entwicklungstheorie 1 als 1
Der Mensch als biopsychosoziale Einheit (Umfrage), in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Berlin, 2/3/1985.
278
konzeptionelle Grundlage hat. L. Krüger stellte in seinem Referat fest: „Unser Symposium handelt von den Naturkonzeptionen des 20. Jahrhunderts. Eine der wichtigsten von diesen, wenn nicht die wichtigste, ist durch das Stichwort .Evolution' gekennzeichnet. Zwar handelt es sich beim Prinzip der Evolution um einen wissenschaftlichen Durchbruch, der bereits im 19. Jahrhundert erreicht wurde: aber das Thema hat an Aktualität nicht verloren, ja eher gewonnen, und ist noch lange nicht fachwissenschaftlich oder philosophisch ausgeschöpft." 2 Das ist meines Erachtens deshalb so, weil die Wissenschaftsentwicklung mit dem Wandel vom Wissenschaftstyp der industriellen Revolution zum Wissenschaftstyp der wissenschaftlich-technischen Revolution den Übergang vom Struktur- und Prozeßzum Entwicklungsdenken vollzieht. Biologie und Kosmologie sowie evolutionäre Gesellschaftsauffassungen haben das Entwicklungsdenken vorbereitet, das im 19. Jahrhundert mit dem Darwinismus, aber auch mit der marxistischen Theorie von der Gesellschaftsentwicklung als Formationswandel seinen Durchbruch erzielte. Gegenwärtig zeigt das Entwicklungsprinzip seine heuristische Kraft in allen Wissenschaften bis hin zu den theoretischen Reflexionen über die Selbstorganisation der Materie. Das Thema „Evolution" verspricht nach L. Krüger „eine einheitliche begriffliche Erfassung der Natur und der menschlichen Geschichte". 3 Eine einheitliche, Natur, Gesellschaft und Bewußtsein umfassende, philosophische Entwicklungstheorie begründeten unter Berücksichtigung der Arbeiten von G. W . F. Hegel zur Dialektik bereits K . Marx und F. Engels. „Es ist also die Geschichte der Natur wie der menschlichen Gesellschaft, aus der die Gesetze der Dialektik abstrahiert werden. Sie 2
L. Krüger, Der Mensch — Naturprodukt der Evolution und Subjekt der Erkenntnis. Beitrag zum V I I . Deutschlandsberger Symposium, S. 1.
3
Ebenda
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sind eben nichts anderes als die allgemeinsten Gesetze dieser beiden Phasen der geschichtlichen Entwicklung sowie des Denkens selbst."4 Diese einheitliche philosophische Denkweise hat selbst wieder heuristische Bedeutung für die naturwissenschaftliche Erkenntnis.5 L. Krüger bezweifelt die Notwendigkeit, eine einheitliche Basistheorie anzuerkennen. „Für diese ordnende und erklärende Leistung der Theorien ist es nicht erforderlich, daß eine unter ihnen als fundamental in dem Sinne ausgezeichnet wird, daß sie im Unterschied zu den anderen die eigentliche Natur der Wirklichkeit ausdrückt, die anderen dagegen nur so etwas wie Epiphänomene."6 Damit wird meines Erachtens die Existenz philosophischer Theorien problematisiert. Dafür wäre es sicher günstig, zwischen spezialwissenschaftlichen Evolutionstheorien, logischen, mathematischen und kybernetischen Theorien und Modellen zu Entwicklungsprozessen, einschließlich der konzeptionellen Ansätze zur Erfassung der Selbstorganisation, philosophisch verallgemeinerten wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Entwicklung und einer philosophischen Entwicklungstheorie zu unterscheiden. Dabei kann die philosophische Entwicklungstheorie nicht in dem Sinne fundamental sein, daß aus ihr deduktiv alle weiteren theoretischen Ansätze abgeleitet werden können. Um das Problem zu verdeutlichen, sollen die Bedenken von L. Krüger, die auf dem Symposium diskutiert wurden, eingehender betrachtet werden. 4
5
6
K. Marx/F. Engels, Werke, Berlin 1956ff., Bd. 20, S. 348. - Vgl. dazu: M. Buhr/H. Hörz (Hg.), Naturdialektik — Naturwissenschaft. Das Erbe der Engelsschen „Dialektik der Natur" und seine aktuelle Bedeutung für die Wissenschaftsentwicklung, Berlin 1986, S. 11 ff. H. Hörz/U. Röseberg (Hg.), Materialistische Dialektik in der physikalischen und biologischen Erkenntnis, Berlin 1981. L. Krüger, Der Mensch — Naturprodukt der Evolution und Subjekt der Erkenntnis, a. a. O., S. 13.
280
2. Probleme und Argumente Mit der kritischen Haltung zu einer Basistheorie der Evolution verbindet L. Krüger die Vermutung, „daß mit dem Verzicht auf eine einzige in sich einheitliche fundamentale Theorie auch die Möglichkeit von so etwas wie einem einheitlichen Bild oder einer einheitlichen Anschauung der Realität in Frage gestellt wird" 7 . Die Plausibilitätserklärung dafür bezieht er aus der Wärmelehre. Die Temperatur kann nicht auf mechanische Größen zurückgeführt werden. Thermodynamik und klassische Mechanik stehen nebeneinander. Weitere Erkenntnis führt nicht zur Reduktion einer Theorie auf die andere, sondern zu einer Theorie neuen Typus, eben der statistischen Mechanik. Das Beispiel zeigt jedoch nur, daß die Einheit der Welt in der Materialität nicht in einer einheitlichen physikalischen Theorie erfaßt werden kann. Gründe dafür sind die Unerschöpflichkeit und die differenzierte Strukturiertheit der Materie. Die Einheit der Welt in der Materialität ist eine Einheit von koexistierenden und wechselwirkenden, niedriger und höher entwickelten Systemen, zwischen denen Genese- und Strukturzusammenhänge bestehen. Deshalb ist die Einheit der Welt in der Materialität, in der ein ewiger Formwandel besteht, theoretisch nur zu verstehen, wenn das Prinzip von der Einheit der Welt mit dem Entwicklungsprinzip verbunden wird. Das tiefere Eindringen in die materiellen Prozesse, in Natur und Geschichte, führt zu allgemeinen und zu Spezialtheorien. Allgemeine Theorien erfassen Gesetze und Modelle zur Erklärung von Prozessen, wobei der spezifische Wirkungsmechanismus der Gesetze unter konkret-historischen Bedingungen in Spezialtheorien erklärt wird. Das Problem besteht also nicht darin, entweder eine allgemeine Welttheorie anzuerkennen oder sie abzulehnen, sondern darin, ob die ' Ebenda.
281
Bedingungen der Erkenntnis für koexistierende und konkurrierende Spezialtheorien in einer philosophischen Theorie erfaßt werden können, die diese Bedingungen aus den Beziehungen von objektiver Dialektik, subjektiver Dialektik und Erkenntnisdialektik erklärt. Die Grundprinzipien der materialistischen Dialektik, das Prinzip der Unerschöpflichkeit der Materie, das Prinzip der Strukturiertheit der Materie, das Prinzip der dialektischen Determiniertheit und das Entwicklungsprinzip, sind mit wissenschaftlichen Einsichten in die Struktur, Veränderung und Entwicklung von Natur-, Gesellschafts-, Kultur, Technik- und Bewußtseinsprozessen fundiert. Als philosophische Basistheorie hat die materialistische Dialektik heuristische Bedeutung für die Entwicklung von Spezialtheorien. L. Krüger warnt vor der Gefahr, die Leistungskraft des evolutionären Ansatzes zu überschätzen. Er meint, der Theorie-Imperialismus der Mechanik liege hinter uns, der TheorieImperialismus der Evolutionstheorie stehe vor uns. Dieser Gefahr könne man nicht mit der Strategie entgehen, „den Kernbegriff .Evolution' aus der Biologie aufzunehmen und lediglich durch den Brückenschlag zum Begriff der Dialektik philosophisch zu überhöhen". 8 Es könnte sein, daß die Einbeziehung des Evolutionsbegriffs in die Dialektik „eine Einheit des Themas und der theoretischen Ansätze vortäuscht, die in Wahrheit nicht gegeben ist". 9 Ehe weiter auf dieses Argument eingegangen werden kann, denn materialistische Dialektik bezieht ihre Entwicklungsauffassung nicht allein aus der Biologie, sondern auch aus der philosophischen Tradition, besonders aus dem Entwicklungsdenken bei Hegel, soll festgehalten werden, daß die philosophische Entwicklungstheorie, so auch meine Position auf dem Symposium, wenn sie einheitliche dialektische Beziehungen von Natur und 8 Ebenda, S. 17. 9 Ebenda, S. 18. 282
Geschichte erkennen will, den flachen Evolutionismus zurückweisen muß. Sie kann gerade nicht die einzchvissenschaftliche Terminologie einfach zur philosophischen erklären, ohne den komplizierten philosophischen Erkenntnisprozeß über die Präzisierung allgemeiner philosophischer Aussagen durch das Wissen einer Zeit, über philosophische Hypothesen und deren Bestätigung und Widerlegung und über die philosophische Verallgemeinerung einzelwissenschaftlicher Erkenntnisse bis zur Erkenntnis- und Methodenkritik und zur Aufdeckung möglicher zukünftiger Beiträge der Wissenschaftsentwicklung zur Philosophie gegangen zu sein. 10 Der flache Evolutionismus anerkennt Veränderungen, ist jedoch keine philosophische Theorie, in der die Struktur von Entwicklungsgesetzen, Entwicklungsprinzipien und Entwicklungskriterien in sich konsistent dargestellt werden. Darauf ist noch zurückzukommen, denn G. Vollmer forderte berechtigt, den „flachen Evolutionismus" genauer zu bestimmen, um mit dem Terminus nicht einfach den Eindruck zu erwecken, als würde der Entwicklungsgedanke abgewertet und beschimpft. Eine Natur, Gesellschaft und Bewußtsein umfassende Entwicklungstheorie, die den Zusammenhang von Natur und Geschichte darstellt, benötigt eine einheitliche Gesetzesauffassung. Sic ist in der statistischen Gesetzeskonzeption gegeben, die den Zusammenhang von notwendiger Verwirklichung von Systemmöglichkeiten unter hinreichenden Systembedingungen mit der bedingt zufälligen Verwirklichung von Elementmöglichkciten nach einer stochastischen Verteilung verbindet. Diese Konzeption ist eine der modernen Wissenschaftsentwicklung adäquate philosophische Denkweise, die Einheit und Unterschiede von Natur- und Gesellschaftsgesetzen berücksichtigt. 11 Das Problem eines einheit10
H. Hörz, Marxistische Philosophie und Naturwissenschaften, Berlin 1976,
11
H. Hörz, Zufall. Eine philosophische Untersuchung, Berlin 1980.
S. 1 1 5 ff.
283
liehen Gesetzesbegriffs sprichtL. Krüger an, wenn er meint: „Insbesondere wäre zu fragen, ob nicht der überbrückende Begriff des Gesetzes mehrdeutig ist. Gesetze auf der Ebene der Physik und der Biowissenschaften sind doch wohl ganz anderer Art als Gesetze, wenn es solche geben sollte, die ihre Wirkung nur durch den Kopf bewußt reflektierender Wesen entfalten können." 12 Es ist berechtigt, auf den Unterschied zwischen den objektiven Gesetzen als den allgemeinnotwendigen, das heißt reproduzierbaren und wesentlichen, das heißt den Charakter der Erscheinungen bestimmenden Zusammenhängen in Natur und Gesellschaft hinzuweisen, denn es handelt sich dabei um Invarianten gegenüber menschlichem Verhalten (Naturgesetze) und Invarianten im menschlichen Verhalten (Gesellschaftsgesetze). Das hebt jedoch Gemeinsamkeiten in der Struktur dieser Gesetze nicht auf, wie sie sich im Tendenzverhalten der Systeme (dynamischer Aspekt), dem daraus sich ergebenden Möglichkeitsfeld für das Elementverhalten, das einer stochastischen Verteilung bei der bedingt zufälligen Verwirklichung von Möglichkeiten unterliegt (stochastischer Aspekt), und dem wahrscheinlichen Übergang von einem Zustand zu einem anderen (probabilistischer Aspekt) zeigen. Die mit einer philosophischen Entwicklungstheorie, die den Zusammenhang von Natur und Gesellschaft, von Natur und Geschichte herstellt, verbundenen Probleme sind weiter zu analysieren. Das soll in einigen Aspekten, verbunden mit den Kontroversen auf dem Deutschlandsberger Symposium, geschehen. 12
L. Krüger, Der Mensch — Naturprodukt der Evolution und Subjekt der Erkenntnis, a. a. O., S. 18.
284
3. Entwicklungsdenken bei Hegel und im dialektischen Materialismus Hegel
war einer der h e r a u s r a g e n d e n
Entwicklungsdenker
in der Philosophie. E r untersuchte mit der B e z i e h u n g v o n Unmittelbarkeit
und
Vermittlung,
mit
der
dialektischen
Widersprüchlichkeit des Geschehens und mit der dialektischen Negation
der
Negation
Entwicklungsmechanismen,
ohne
E v o l u t i o n , wie g e g e n w ä r t i g nicht selten geschehen, an Biolog i e zu binden. F ü r H e g e l ist der Fortschritt des
Geistes
E n t w i c k l u n g . 1 3 E r b e g r e i f t die Einheit der Welt über die Einheit der B e g r i f f e und die E n t w i c k l u n g
der Welt
als
B e g r i f f s e n t w i c k l u n g . „ D a s F o r t g e h e n d e s B e g r i f f s ist nicht mehr Ü b e r g e h e n n o c h Scheinen in A n d e r e s , s o n d e r n 'Ent-
wicklung,
indem
das
Unterschiedene
unmittelbar
zugleich
d a s Identische miteinander und mit d e m G a n z e n
gesetzt,
die B e s t i m m t h e i t als ein freies Sein des ganzen B e g r i f f e s ist."14
Von
F. E n g e l s
wird d a s g r o ß e
Verdienst
Hegels
betont, in dessen Philosophie z u m ersten M a l „ d i e g a n z e natürliche, geschichtliche und geistige Welt als ein Prozeß, d. h. als und
in
steter
Entwicklung
Bewegung,
Veränderung,
b e g r i f f e n dargestellt
und
Umbildung der
Versuch
g e m a c h t w u r d e , den inneren Z u s a m m e n h a n g in dieser Bew e g u n g und Entwicklung nachzuweisen".15 Hegel
stellte
die A u f g a b e , den E n t w i c k l u n g s p r o z e ß der Menschheit in seinen inneren
Gesetzmäßigkeiten
zu v e r f o l g e n ,
aber
er
k o n n t e — so E n g e l s — diese A u f g a b e n o c h nicht lösen. M . Buhr, der sich intensiv mit der P h i l o s o p h i e
Hegels
und mit d e m Verhältnis des M a r x i s m u s zu ihr auseinandergesetzt hat, zeigt die E i n s c h r ä n k u n g e n ,
die im
Hinblick
a u f H e g e l s Gesellschafts- und G e s c h i c h t s a u f f a s s u n g s o w i e seine dialektisch-historische D e n k w e i s e i n s g e s a m t zu machen 13 G. W. F. Hege .Werke, Frankfurt am Main 1969ff., Bd. 10, S. 234. 14 Ebenda, Bd. 8, S. 308. K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 20, S. 22f.
285
sind. Sic bezeichnen nach ihm zugleich die Kernpunkte der marxistisch-leninistischen Philosophie, in denen über den Idealismus der Philosophie von Hegel hinausgegangen wird, denn „Hegels Griff nach der Geschichte ist nur konsequent innerhalb seines idealistischen philosophischen Systems".«» Der erste Punkt betrifft das Verhältnis von Mensch und Geschichte. „Bei aller Betonung der geschichtsbildenden Kraft der Menschen durch Hegel läuft seine Philosophie doch auf eine Trennung von Mensch und Geschichte hinaus. In letzter Instanz ist es bei Hegel — so könnte man sagen — die Geschichte selber, die die Geschichte vollzieht (oder ihr zugrunde liegt) — nicht die Menschen. Die Menschen sind bei Hegel nur das Werkzeug der Geschichte, nicht deren bewußte Gestalter, eigentliche und alleinige Schöpfer. Die Geschichte wird so von Hegel zu ihrem eigenen Subjekt erhöht. Der Geschichtsprozeß verläuft bei ihm hinter dem Rücken der Menschen, besser, neben diesen." 17 M. Buhr hebt hervor, daß im dialektischen Materialismus die Einsicht in die Dialektik der Geschichte zu der Erkenntnis führt, daß die Menschen ihre eigene Geschichte machen, aber unter bestehenden Umständen, die sie erkennen, werten und gestalten. Gcschichte ist deshalb immer theoretische und praktische Aneignung von Natur und Gesellschaft durch die Menschen. Damit ist ein weiterer Punkt der Kritik an Hegel angesprochen. „Hegel schließt, obwohl er die natürlichen Voraussetzungen der Geschichte anerkennt, aus ihr das theoretische und praktische Verhalten der Menschen zur Natur aus. Daher dringt er — ungeachtet seiner richtigen Einsichten in den dialektischen Charakter des Geschehensverlaufs — nicht zu den materiellen Voraussetzungen der Geschichte vor." 1 » 16
M. Buhr, Der Mut der Wahrheit, in: M. Buhr/J. D'Hondt/H. Klenncr, Aktuelle Vernunft, Berlin 1985, S. 28.
« Ebenda.
286
« Ebenda.
Freiheitsgewinn ist für den Menschen nur möglich, wenn er die Gesetzmäßigkeiten von Natur und Gesellschaft erkennt, sich realisierbare Ziele stellt und entsprechend den sachkundigen Entscheidungen handelt. Mit der sozialistischen Revolution erfolgt der Übergang vom Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit, in dem Menschen ihre Geschichte wirklich selber machen, weil sie ein humanes Gesamtziel, die Gestaltung einer menschlichcn Gesellschaft, mit dem Gesamtwillen nach einem Gesamtplan erreichen. Die Erkenntnis der welthistorischen Rolle des Proletariats und der Notwendigkeit der sozialistischen Revolution „bedeutet zugleich die Zurückführung der Hegeischen Geschichtsdialektik auf die gesellschaftlich-historische Wirklichkeit, die weder idealistische Überhöhungen noch subjektivistische Willkür und ebensowenig distanzierte Skepsis in Sachen Geschichte verträgt". 1 9 Die kritischen Anmerkungen zu Hegel zeigen, daß der dialektische Materialismus mit seinem Entwicklungsdenken in der Tradition von Hegel steht, zugleich aber über Hegel hinausgeht. Deshalb ist materialistische Dialektik als philosophische Entwicklungstheorie nicht einfach als dialektische Überhöhung biologischen Evolutionsverständnisses zu fassen. Deshalb wäre ein Theorie-Imperialismus, der sich auf spezialwissenschaftlichc Evolutionstheorien gründet, im Interesse des wissenschaftlichen Fortschritts ebenso zurückzuweisen, wie der Versuch, den Einfluß neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse auf die Philosophie mit dem Totalitätsverständnis von Hegel zu negieren. So schrieb K. Marx an F. Lassalle über Darwins Arbeit zur Entstehung der Arten: „Sehr bedeutend ist Darwins Schrift und paßt mir als naturwissenschaftliche Unterlage des geschichtlichen Klassenkampfes. Die grob englische Manier der Entwicklung muß man natürlich mit in den Kauf nehmen. Trotz M Ebenda, S. 30.
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allem Mangelhaften ist hier zuerst der .Teleologie' in der Naturwissenschaft nicht nur der Todesstoß gegeben, sondern der rationelle Sinn derselben empirisch auseinandergelegt." 20 Philosophische Theorie, wenn sie ihr Erklärungs- und Heuristikpotential ausbauen wollen, bedürfen sowohl der Traditionspflege, als auch der ständigen Antriebe durch soziale Erfahrungen und neue wissenschaftliche Erkenntnisse. Spczialwissenschaftliche Arbeit ist ohne Philosophie konzeptionslos, während Philosophie ohne Verallgemeinerung wissenschaftlicher Erkenntnisse in wirklichkeitsferne Spekulationen abgeleitet. Damit könnte sie auch ihr Humanpotential verlieren, das Grundlage für weltanschauliche Lebensund Entscheidungshilfe ist.
4. Subjekt, Natur, Gesellschaft Eine einheitliche philosophische Entwicklungstheorie ist nur möglich, wenn nicht nur die Natur historisiert und die Gesellschaft naturalisiert gedacht wird, sondern der marxistische Gedanke verfolgt wird, daß die Industrie das wirkliche geschichtliche Verhältnis des Menschen zur Natur und zur Naturwissenschaft ist. 21 Nicht nur die Geschichte der Natur als Vorgeschichte der Menschheits- und Gesellschaftsentwicklung, sondern die Geschichte des MenschNatur-Verhältnisses steht heute im Mittelpunkt philosophischen Interesses, wie die umfangreichen Ökologiediskussionen zeigen. So reflektieren sich auch in den Subjektkonzeptionen wesentliche Unterschiede zwischen Natur und Gesellschaft. Bemerkenswert ist dabei jedoch, daß die gesellschaftliche Be- und Verwertung der Natur selbst einem historischen Wandel unterliegt, in dem das Subjekt eine unter20 K . Marx/F Engels, Werke, Bd. 30, S. 578. 21 Vgl. Philosophie und Natur, Weimar 1985.
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schiedliche Rolle spielt. Der ursprünglichen Mensch-NaturUnion entkam der Mensch immer mehr, indem er die Natur in ihren Gesetzmäßigkeiten erkannte, sie zum unerschöpflichen Ausbeutungsobjekt erklärte und so vom Naturwesen Mensch zum Feind der Natur als soziales Wesen, das die Natur seinen Zwecken dienstbar macht, wurde. Naturzerstörung für Maximalprofit im Imperialismus hat demokratische Gegenbewegungen hervorgebracht, die Aussicht auf Erfolg haben, weil der Sozialismus neue Möglichkeiten zur humanen und effektiven Gestaltung des Stoffwechsels mit der Natur bietet. Damit kann eine neue Mensch-NaturUnion entstehen, in der Erhaltung der Natur und sinnvolle Gestaltung einer menschenfreundlichen natürlichen Umwelt auf der Grundlage umweltfreundlicher Technologien eine dialektische Einheit bilden. Der Wandel von Natur und Geschichte ist zugleich Naturgeschichte des Subjekts und gesellschaftlich determinierter Übergang vom Reich der Notwendigkeit ins Reich der Freiheit. In der Diskussion um die Subjektbestimmungen auf dem Symposium in Deutschlandsberg spielten drei Positionen, die für eine philosophische Entwicklungstheorie relevant sind, eine Rolle. Erstens ging es um das objektivierte Subjekt. Physikalische Naturtheorien beziehen das Subjekt in ihre Meßtheorien ein, wie schon die Kopenhagener Deutung der Quantentheorie zeigte. Das Subjekt kann dabei auch durch Meßgeräte, Automaten und Maschinen repräsentiert werden. Teilweise wird dabei die universelle Wechselwirkung natürlicher Objekte auf die Wechselbeziehung zwischen Subjekt und Naturobjekt projiziert. Zweitens wurde die Schwierigkeit deutlich, die entsteht, wenn die Subjekt-Objekt-Beziehungen in einem Netzwerk von Ereignissen aufgelöst werden. Das 1929 von A. N. Whitehead publizierte Buch „Process and Reality" war der Anlaß, um über Prozeßtheorien nachzudenken. Theoretische Versuche, die Selbstorganisation der Materie zu erfassen, verweisen darauf, daß Strukturbildungs19
Zur Architektonik
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prozesse, relative Ziele, entstehende Wertungen u. a. im Entwicklungsgeschehen unabhängig davon erfaßt werden können, ob es sich um natürliche oder gesellschaftliche Systeme handelt. Das ist keine Kritik am philosophischen Materialismus, der die Grundfrage der Philosophie nach dem Verhältnis von Materie und Bewußtsein mit dem Hinweis auf das historische und systematische Primat der Materie gegenüber dem Bewußtsein beantwortet. Auch für Theorien der Selbstorganisation gilt, daß die Theorie sekundär gegenüber den Selbstorganisationsprozessen ist. Spielen materielle und geistige Komponenten eine Rolle, dann ist es sowohl wichtig, das gesellschaftliche Sein in seiner determinierenden Rolle für das gesellschaftliche Bewußtsein zu untersuchen, als auch die Rolle der Theorie zu beachten, die zur materiellen Gewalt werden kann, wenn sie die Massen ergreift. Dem objektivierten Subjekt und der im Prozeß aufgehobenen Subjekt-Objekt-Beziehung stand in der Debatte die dritte Position entgegen, in der das Individuum, die Persönlichkeit, das „Ich", hervorgehoben wurde. Die Frage nach den biotischgenetischen Prädispositionen menschlichen Verhaltens und nach den gesellschaftlichen Determinanten der Arbeits- und Lebensweise des Individuums verwies auf die notwendigen Bindeglieder, die theoretisch zu beachten sind. H. Götschl versuchte die veränderte Stellung des Subjekts in den philosophischen Naturkonzeptionen des 20. Jahrhunderts mit drei Realismuspostulaten zu erfassen. 22 Das erste Postulat lautet: „Das Objekt (Natur) istvom Subjekt (Mensch) unabhängig existent, vom Subjekt kategorial verschieden, nichts desto weniger vom Subjekt erkennbar." 23 Die Feststellung der Unterschiede und die Betonung der Erkennbarkeit trennt Natur und Geschichte voneinander. Sowohl 22
H. Götschl, Die veränderte Stellung des Subjekts in den philosophischen Naturkonzeptionen des 20. Jahrhunderts. Vortrag auf dem VII. Deutschlandsbcrger Symposium (Manuskript).
23 Ebenda, S. 4.
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die Geschichtlichkeit der Natur als auch die Gesellschaftlichkeit des Menschen, sowohl der Mensch als Naturwesen, als auch die Wandlung des Mensch-Natur-Verhältnisses gehen nicht in die Betrachtung ein. Das zweite Postulat stellt diese Betrachtung in Frage und verweist auf den inneren Zusammenhang von Objekt und Subjekt im Naturwesen Mensch. Es lautet: „Das Objekt (Natur) kann durch das Subjekt (Menschen) nur erkannt werden, insofern das Subjekt — in allen seinen Erscheinungsformen — als integraler Teil des Objekts (Natur) ausgewiesen werden kann." 2 ' 1 Damit soll einerseits die Einheit der Naturgeschichte und Kulturgeschichte beachtet werden, andererseits aber auch berücksichtigt werden, daß der Evolutionsbegriff nicht auf physikalischbiologische Ebenen beschränkt werden kann. Auch im zweiten Postulat ist jedoch das Entwicklungsprinzip noch ungenügend berücksichtigt. Es ergibt sich ein drittes Postulat, in dem die absolute und ewige Subjektunabhängigkeit von Realitäten, die prinzipielle kategoriale Differenz von Subjekt und Objekt und die Erkennbarkeit als Selbstgegebenheit zurückgewiesen werden. Es lautet: „Subjekt und Objekt sind als kohärente Konstrukte erkennbar. Sie sind weder kategorial verschieden, noch bilden sie eine vollständige Einheit. Nur vor dem Horizont einer Rekonstruktion der Geschichte, erscheinen Subjekt und Objekt als Einheit von Naturgeschichte und Kulturgeschichte." 2 5 Die Postúlate — über ihren erkenntnistheoretischen Platz ist sicher noch zu streiten — drücken den Erkenntnisfortschritt dadurch aus, daß sie den Übergang des philosophischen Denkens vort der Trennung von Subjekt und Objekt zur Reflexion der Objektbestimmtheit des Subjekts und dann zur Entwicklung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses in der Einheit von Natur und Gesellschaft zeigen. Sie sind somit Charakteristik der Geschichte philosophischer Reflexionen, verbunden mit « Ebenda, S. 14. Ebenda, S. 28.
».
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dem Hinweis auf erkenntnistheoretische Probleme, jedoch ohne die gesellschaftlichen Determinanten dieses Theorienwandels zu analysieren. Zugleich können sie als eine Heuristik gefaßt werden, um dem Entwicklungsprinzip als Ausdruck objektiven Entwicklungsgeschehens durch philosophische Theorien noch besser zu entsprechen. Die drei genannten Subjektpositionen werden dadurch in einen inneren Zusammenhang gebracht, der sich als Gcschichte des Subjektverständnisses manifestiert. Die philosophische Entwicklungstheorie kann den Zusammenhang zwischen Subjekt, Natur und Gesellschaft herstellen, damit auch den Platz der unterschiedlichen Subjektkonzeptionen in einer philosophischen Theorie bestimmen, wenn sie den Menschen als Naturwesen begreift, der sich historisch aus der Natur löst, um unter neuen gesellschaftlichen Verhältnissen zu einer qualitativ höheren MenschNatur-Union zu kommen. Der Mensch als gesellschaftliches Wesen gestaltet im Rahmen der Natur- und Gesellschaftsgesetze seine Beziehungen zur Natur, wobei Entwicklungszyklen sich herausbilden. Dabei ist der Mensch zwar als Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse seinem Wesen nach zu begreifen, aber in der Einheit von materiellen und ideellen, emotionalen und rationalen, unbewußten, unterbewußten und bewußten Faktoren in individueller Ausprägung. Entwicklung ist Geschichte, weshalb Entwicklungstheorie die Genese von Kosmos, Erde, Leben, Mensch (Gesellschaft) als Gcschichte der Menschwerdung untersucht, Gesellschaftsentwicklung als Formationswandel begreift und Wissenschaftsentwicklung als Typenwandel versteht, wobei in Entwicklungszyklen höhere Qualitäten entstehen, die, mit Entwicklungskriterien gemessen, die Funktionen der Ausgangsqualität qualitativ besser und quantitativ umfangreicher erfüllen.
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5. Was ist flacher Evolutionismus? Die bisherigen Ausführungen machen schon deutlich, warum eine philosophische Entwicklungstheorie sich gegen den flachen Evolutionismus verwahren muß. In seiner klassischen Form übertrug er das biologische Ausleseprinzip auf das gesamte natürliche und gesellschaftliche Geschehen sowie auf die Bewußtseins- und Wissenschaftsentwicklung. Alles ändert sich, und im Kampf ums Dasein überlebt das Überlebende. Das Geschehen selbst wurde zur Notwendigkeit erklärt, was große Bedeutung in der Auseinandersetzung mit der Teleologie hatte. Aber es gab keine Hinweise auf mögliche Entwicklungstendenzen, die sich unter konkreten Bedingungen zwar in einem bestimmten Territorium nicht durchsetzen konnten, aber in anderen sich ausbildeten. Es fehlten Auswahlkriterien für das, was überlebte, und es gab keine Erklärungen für abweichende Linien von der Hauptlinie. Entwicklung wurde nicht als Tendenz zur Höherentwicklung begriffen, die sich durch Stagnationen und Regressionen und die Ausbildung aller Elemente einer Entwicklungsphase durchsetzt. Die moderne Form des flachen Evolutionismus anerkennt zwar Veränderungen, aber nicht die Tendenz zur Höherentwicklung. Entwicklungszyklen werden nicht als dialektische Negation der Negation von der Ausgangsqualität über neue Qualitäten bis zur höheren Qualität begriffen. Deshalb werden auch keine Entwicklungskriterien für das Entstehen höherer Qualitäten in Entwicklungszyklen aufgestellt. Diesem flachen Evolutionismus entgeht die philosophische Entwicklungstheorie, die auf der Grundlage der materialistischen Dialektik die statistische Struktur von Entwicklungsgesetzen beachtet, spezifische Entwicklungskriterien für Kosmos, anorganische Materie, Leben und Gesellschaft ausarbeitet, die Zyklizität des Geschehens untersucht und so das Prinzip der Einheit der Welt in der Materiali293
tät mit dem Entwicklungsprinzip verbindet, wobei Einheit und Unterschiede im Entwicklungsgeschehen der Natur, der Gesellschaft, des Bewußtseins und der Wissenschaften beachtet werden. 26 Der flache Evolutionismus tritt in verschiedenen Formen auf. Erklärt er einfach biologisches Evolutionsdenken zum philosophischen Verständnis der Welt, dann mißachtet er schon die Existenz von Theorien dissipativer Strukturen als physikalische Rahmentheorie biotischer Evolution. Zwar wird in soziobiologischen Konzeptionen auf die Naturgeschichtc menschlichen Verhaltens verwiesen, aber der flache Evolutionismus zeigt sich darin, daß ein abstrakter Mcnsch postuliert wird, der der Natur entgegensteht und aus ihr entstanden ist. Es ist jedoch die Geschichtlichkeit des Mensch-Natur-Verhältnisses in seinen gesellschaftlichen Determinanten zu berücksichtigen. Weitere Formen des flachen Evolutionismus verschiedener Art sind die Mißachtung der natürlichen Bedingungen gesellschaftlicher Existenz, was zur Gesellschaftsgeschichte ohne Naturgeschichte führt, und die Unterschätzung der genetisch-biotischen Faktoren der Persönlichkeitsentwicklung, womit Entwicklungsbedingungen aus der Analyse ausgeschlossen werden. Die philosophische Kritik des flachen Evolutionismus muß theoretisch den Zusammenhang zwischen der Systemstruktur der materiellen Welt und ihrer Differenzierung und Vereinheitlichung im historischen Prozeß herstellen. Dabei kann die Überschätzung des Systemaspekts zu einer Totalitätsauffassung führen, in der Entwicklung als Geschichte nicht mehr begriffen wird, weil mit der Unerschöpflichkeit der Totalität Entwicklung theoretisch ausgeschlossen ist. Dagegen kann die einseitige Betonung des Differenzierungsaspekts in der Geschichte zur Vernachlässigung von Inte26
H. Hörz/K.-F. Wessel, Philosophische Entwicklungstheorie. Weltanschauliche, erkenntnistheoretische und methodologische Probleme der Naturwissenschaften, Berlin 1983.
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grationstendenzen führen. Zur Kritik des flachen Evolutionismus gehört deshalb die differenzierte Analyse der Totalität des Geschehens ebenso, wie die Synthese analysierter Wesensmomente, um die Totalität des Geschehens zu begreifen.
6. Konsequenzen Auf drei Konsequenzen der bisherigen Überlegungen soll kurz hingewiesen werden:
'Erst keine fundamentale Basistheorie in dem Sinne, daß aus ihr die spezialwissenschaftlichen Theorien deduktiv abgeleitet werden könnten. Sie ist jedoch ganzheitliche philosophische Erklärung der Entwicklung in Natur, Gesellschaft und Bewußtsein und damit Einordnung spezialwissenschaftlicher Theorien in die Weltanschauung und Heuristik für spezialwissenschaftliche Arbeiten. Soziale Erfahrungen, wissenschaftliche Einsichten und philosophische Traditionen sind ihre Voraussetzungen, die philosophisch erarbeitet, theoretische Schlußfolgerungen ermöglichen, die praktisch zu überprüfen sind. Es findet also ein ständiger Rückkopplungsprozeß statt: philosophische Theorie, philosophische Hypothesen, Wissenschaftsentwicklung, Experiment, Industrie, gesellschaftliche Praxis, philosophische Theorie. Zweitens: Naturgeschichte ist nach der Entstehung der menschlichen Gesellschaft auch, in der als Lebens- und Entscheidungshilfc wirkenden Philosophie sogar vor allem, die Geschichte des Mensch-Natur-Verhältnisses, der gesellschaftlich determinierten Naturaneignung, die den Entwicklungszyklus vom Menschen als Naturwesen über den Menschen als Gegner der Natur bis zur neuen Mensch-Natur-Union umfaßt, in der der Stoffwechsel mit der Natur rationell und human erfolgt. Mit der klassenlosen Gesellschaft wird ein neuer Entwicklungszyklus wesentlich das Mensch-Natur295
Verhältnis betreffen, weil in neuen Etappen der wissenschaftlich-technischen Revolution neue Möglichkeiten humaner Naturbeherrschung entstehen. Drittens: Der dialektische und historische Materialismus ist, wie M. Buhr betont, „mehr als der Vollzug der geschichtsphilosophischen Tradition der klassischen bürgerlichen Philosophie oder die Vollendung der Hegeischen Philosophie der Geschichte", denn „die Geschichte ist das Resultat der Tätigkeit der in Klassen organisierten und so formiert handelnden Menschen — das heißt, indem die Menschen die Geschichte machen, erkennen sie diese, also ihr Handeln, ihre Tätigkeit. Deshalb muß der Geschichte ins Angesicht geschaut werden. Wer dieses nicht tut, wer sich solches zu tun gar weigert, der verfehlt theoretisch wie praktisch die Möglichkeit der Erkenntnis und der Veränderung der Welt und der Menschen. Und indem er diese verfehlt, verfehlt er recht eigentlich sein eigenes Leben."27 27 M. Buhr, Der Mut der Wahrheit, a. a. O., S. 42.
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H U B E R T HORSTMANN
(Berlin)
Erkenntnisfortschritt als Fort-Schreiten zum Konkreten Zu den Maximen wissenschaftlichen Arbeitens, die sich Manfred Buhr ständig auferlegt (und anderen hartnäckig abverlangt), gehört neben der Verwirklichung der Einheit von Systematik und Geschichte und von Wissenschaftlichkeit, Objektivität und Parteilichkeit das „kontinuierliche Gespräch mit den .Klassikern der Philosophie', die zugleich auch .Klassiker der Wissenschaft' gewesen sind". 1 Hegel, Kant, Aristoteles werden da in der ersten Reihe genannt — als Repräsentanten der klassischen Wissenschaftstradition und als Denker, die auf vielen Gebieten zu Einsichten gelangt sind, deren wir uns sowohl bei der weiteren Ausarbeitung von Grundfragen unserer philosophischen Theorie und Weltanschauung als auch in der offensiven Auseinandersetzung mit der spätbürgerlichen Ideologie immer von neuem zu versichern haben. Das trifft voll und ganz auf das zentrale Problem jeglicher philosophischen Theorie der Wissenschaftsentwicklung, nämlich auf die Frage zu, worin denn wissenschaftlicher Fortschritt im engeren Sinne, worin das Fortscbreiten der Erkenntnis bestehe und zum Ausdruck komme. 1
M. Buht, Geschichte der Wissenschaft und der Philosophie — Fünf Thesen' in: J. Manninen/H. J. Sandkühler (Hg.), Realismus und Dialektik oder Was können wir wissen?, Köln 1984, S. 165.
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Insbesondere Hegel hat Gesichtspunkte zur Geltung gebracht, die von aktueller Bedeutung für die Beantwortung dieser Frage sind. Für Hegel ist Erkenntnisfortschritt (als Prozeß) — das „Werden des Wissens" — immer auch, und zwar wesentlich, ein Prozeß des ständigen Fortschreitens vom Abstrakten zum Konkreten, der Reproduktion des objektiv (oder, wie Hegel sagt, des „natürlich") Konkreten durch die dialektische Vernunft. In einem Brief an Duboc erklärt Hegel, er betrachte den „Fortgang . . . vom Abstrakten aus — denn aller Anfang ist dies — zum „Konkreten" als die „allein . . . wissenschaftliche Darstellung der Idee" 2 und formuliert an anderer Stelle die bemerkenswerte These, daß Wissenschaft keineswegs abstrakter, sondern „konkreter als die Anschauung" sei. 3 Bemerkenswert ist diese These schon deshalb, weil sie der positivistischen (und auch in den Einzelwissenschaften recht verbreiteten) Denktradition und Erkenntnisauffassung diametral entgegengesetzt ist. Danach ist ja gerade das Anschauliche, Einzelne, der empirische „Fakt" das Konkrete; Theoretisches dagegen — also die Allgemeinbegriffe und Gesetzesaussagen der Wissenschaft — erscheint als Abstraktes (abstrakt = nicht in der Anschauung, nur gedanklich gegeben). Von hier aus erfolgt dann die Wertung des Empirischen als „objektives" Wissen, „sicheres Fundament" der Erkenntnis und des Theoretischen als mehr oder weniger subjektive Konstruktion. Die positivistische Überzeugung, daß nur Einzeldinge objektiv existieren, Klassen hingegen lediglich ökonomische, pragmatische, arbeitshypothetische „Zusammenfassung in Gedanken" seien, impliziert diese Wertung. Bereits Kant unternahm den Versuch, den metaphysischen 2 Briefe von und an Hegel, hg. von J. Hoffmeister, Bd. 2, Berlin 1970, S. 328. G . W . F. Hegel, Werke in zwanzig Bänden, Frankfurt am Main 1969 ff., Bd. 18, S. 60.
3
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Gegensatz von Anschauung und Begriff zu überwinden. In seiner Konzeption ist „konkret" ebensowenig ein Attribut der Sinnlichkeit oder Anschauung schlechthin, wie „abstrakt" ein Attribut des Begriffs schlechthinist; die„Unterschiede von abstrakt und konkret" — führt er aus — gehen „die Begriffe selbst" überhaupt nicht an, 4 sondern sind auf das Verhältnis der Anschauung zum Begriff und des Begriffs zur Anschauung bezogen; nur daraus, daß Verstand und Sinne „sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen". 5 Die synthetisierende Tätigkeit des Bewußtseins „bringt das Sinnliche unter den Begriff" und macht „denBegriff sinnlich", im Vollzug dieser Synthese wird der abstrakte Gegensatz von Sinnlichem und Verstandesmäßigem überwunden, Bewußtsein eigentlich erst konstituiert; zugleich hebt die Synthese (als Prozeß) den Gegensatz zwischen dem Subjekt und dem Objekt der Erkenntnis auf, sie verschmelzen in der „objektivierten" Erkenntnis zur konkreten Einheit. M. Buhr hat hervorgehoben, daß bei Kant das Konkrete als „ Einheit des Mannigfaltigen" letztlich eine äußere Einheit bleibt, in der die inneren Gegensätze nicht wirklich vereinigt, sondern nur äußerlich und „abstrakt zusammengespannt" sind.0 Das Konkrete erscheint nicht als ideelle Reproduktion des Gegenstandes in seiner objektiven Widersprüchlichkeit, sondern als Konstruktion: Es bedarf stets der Tätigkeit des Bewußtseins, um die Gegensätze von Einheit und Vielheit, Einzelnem und Allgemeinem usw. zu vermitteln. Dessenungeachtet kommt Kant das Verdienst zu, die Identifizierung des Konkreten mit dem sinnlich Wahrnehmbaren überwunden, das Konkrete als Einheit des Mannigfaltigen vorgestellt, wissenschaftliches Erkennen als ein tätiges Aufsteigen vom Abstrakt-Empirischen zum Konkreten konzipiert zu haben. « I . Kant, Werke in sechs Bänden, Wiesbaden 1956 ff., Bd. 3, S. 311. 5 I . Kant, Werke in sechs Bänden, Bd. 2, S. 98. 6 M. Buhr, Immanuel Kant, Leipzig 1968, S. 96.
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Hegel bereichert den Begriff des Konkreten um neue Bestimmungen. Zunächst nimmt er eine Unterscheidung awischen dem „natürlichen" und dem „geistig" Konkreten vor. Ersteres ist der Gegenstand selbst, aber nicht so, wie er den Sinnen gegeben ist, nämlich als eine überschaubare, endliche Einheit unterschiedlicher Qualitäten (wie die anschauliche Blume als das Eine vielfacher, aber endlich vieler Qualitäten — Geruch, Geschmack, Gestalt, Farbe usf. — erscheint 7 ), sondern als ein qualitativ Unendliches: Das Konkrete „ist der unendliche Gegenstand" 8 ; das sinnlich Gegebene (und nur Endliches ist den Sinnen gegeben) ist stets, als bloßes Fragment des unendlich Vielfältigen, abstrakt. Wie schon bei Kant ist auch bei Hegel „abstrakt" kein Synonym für „unanschaulich", „nicht sinnvoll", „nur in Gedanken gegeben", sondern für „unmittelbar", „äußerlich", „einfach". Hegel faßt das Abstrakte (a) als gesondert in Erscheinung tretendes Moment des natürlichen Konkreten, (b) als ein gedanklieb Abgesondertes auf. Das geistig Konkrete ist zunächst „Einheit von unterschiedenen Bestimmungen" 9 . Aber nicht nur Einheit schlechthin, sondern notwendige Einheit, und nicht nur von Unterschiedenem schlechthin, sondern von dialektisch Gegensätzlichem. Im Konkreten sind die Gegensätze von Allgemeinem und Einzelnem, Notwendigem und Zufälligem, Wesen und Erscheinung usw. „versöhnt" und zur Einheit gebracht, das Konkrete ist die „versöhnte Einheit" von „Wesenheit, Allgemeinheit und Besonderung", 10 ein „organisches System, eine Totalität, welche einen Reichtum von Stufen und Momenten in sich enthält" 11 . In diesem Punkt, wie überhaupt in der Auffassung darüber, 7 G. W . 8 G. W . 9 G. W. W G. W. « G. W.
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F. Hegel, F. Hegel, F. Hegel, F. Hegel, F. Hegel,
Werke, Bd. 18, S. 44. Werke, Bd. 17, S. 221. Werke, Bd. 18, S. 43. Werke, Bd. 13, S. 101. Werke, Bd. 18, S. 46.
was im Prozeß der Erkenntnis als „abstrakt" und was als „ k o n k r e t " zu gelten hat, stimmen die Ansichten v o n Marx, Engels und Lenin weitgehend mit denen von Hegel überein. Der entscheidende, weltanschaulich motivierte Unterschied in den Auffassungen v o m Wesen des Konkreten besteht darin, daß H e g e i d a s Aufsteigen v o m Abstrakten zum Konkreten als den Entstehungsprozeß des Konkreten selbst auffaßt, während es für Marx „nur die Art für das Denken ist, sich das Konkrete anzueignen, es als ein geistig Konkretes zu reproduzieren" 1 2 . Legen wir die Hegel-Marxsche Bestimmung des Konkreten und seines Verhältnisses zum Abstrakten zugrunde, so können wir reale Wissenschaftsentwicklung, sowohl disziplinar als auch insgesamt gesehen, tatsächlich als einen Prozeß des Aufsteigens und Fortschreitens zum Konkreten — nämlich zur Erkenntnis des jeweiligen Gegenstandes als Einheit des Mannigfaltigen, in seiner inneren Widersprüchlichkeit und seinen Wechselbeziehungen zu anderem, in seiner Veränderung und Entwicklung — auffassen, wobei, wie insbesondere die Entwicklung der Physik lehrt, die konkretere Theorie durchaus nicht immer die „anschaulichere" sein muß. Illustrieren wir das Gemeinte an einem Beispiel. Licht als physikalischer Erkenntnisgegenstand reagiert in der Wechselwirkung mit einigen Apparaturen so, als ob es Wellencharakter, in der Wechselwirkung mit anderen Apparaturen so, als ob es korpuskularen Charakter hätte. Historisch hat die Verallgemeinerung der instrumenteil gewonnenen Daten deshalb zur Ausarbeitung einer Wellen- und einer Korpuskulartheorie des Lichts geführt, die beide, für sich genommen, einseitig und abstrakt waren, weil sie trennten und alternativ gegenüberstellten, was — wie wir heute wissen — nur in der Abstraktion getrennt werden kann. Die moderne 12
K . Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, Berlin 1974, S. 22.
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Quantenphysik zeigt, daß Welle und Teilchen zwei Erscheinungsformen ein und derselben physikalischen Realität sind, sie weist die Wellen- und Teilcheneigenschaften als sich widersprechende, aber unabdingbar miteinander verbundene Eigenschaften aus; sie ist in dieser Hinsicht konkreter und der Realität adäquater als ihre historischen Vorgängerinnen. Gibt es im historischen Prozeß der Wissenschaftsentwicklung allgemeine, für alle Wissensdisziplinen gleichermaßen gültige Merkmale oder Grundzüge dieses Fortschreitens zum Konkreten? Friedrich Engels hat einen solchen Grundzug hervorgehoben. Er bezeichnete es als den „großen Grundgedanken" der wissenschaftlichen Weltanschauung, „daß die Welt nicht als ein Komplex von fertigen Dingen zu fassen ist, sondern als ein Komplex von Prozessen, worin die scheinbar stabilen Dinge . . . eine ununterbrochene Veränderung des Werdens und Vergehens durchmachen, in der bei aller scheinbaren Zufälligkeit und trotz aller momentanen Rückläufigkeit schließlich eine fortschreitende Entwicklung sich durchsetzt". 13 Wir können die Herausbildung, Formierung und Durchsetzung des philosophischen und einzelwissenschaftlichen Entwicklungsdenkens — zunächst als Übergang von der statischen zur dynamischen Betrachtungsweise der Welt schlechthin; seit Hegel, Marx und Darwin als Entwicklungsdenken im engeren Sinne — als einen hervorstechenden Grundzug des Werdens des Wissens zum Konkreten betrachten. An der Durchsetzung des Entwicklungsdenkens haben heute nicht nur solche traditionell dem Entwicklungsgedanken verpflichteten Fachdisziplinen wie Evolutionsbiologie, Kosmologie und Kosmogonie, sondern hat zunehmend die Gesamtheit der Einzelwissenschaften bis hin zur Physik teil (Theorie der Selbstorganisation, Theorie dissipativer Strukturen). Engels fügte der oben genannten Passage hinzu, es sei « K. Marx/F. Engels, Werke, Berlin 1956 ff., Bd. 21, S. 293.
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jedoch zweierlei, den „großen Grundgedanken" nur im allgemeinen anzuerkennen oder ihn, andererseits, auf jedem Untersuchungsgebiet im einzelnen und konsequent anzuwenden. Was war damit gemeint? Gemeint war die Aufgabe, die mannigfaltigen im Mikro- und Makrokosmos, in der belebten und unbelebten Natur und in der menschlichen Gesellschaft feststellbaren Veränderungs- und Entwicklungsprozesse aus ihren inneren Ursachen, Quellen und Triebkräften, aus den immanenten Eigenschaften der Materie selbst, die Welt in ihrem Durch-sich-selbst-Sein zu erklären — ohne Rückgriff auf diverse Vitalkräfte, göttliche Anstöße, Schöpfungs- und Katastrophentheorien. Marx brachte das Anliegen auf die Formel, daß ein beliebiges Ding erst dann endgültig dem Schöpfungsgedanken enthoben sei, wenn es „auf eigenen Füßen stehe", nämlich: sein Dasein sich selbst verdanke, seinen eigenen Grund in sich habe. 14 Es geht hier also um einen weiteren Schritt der Konkretion des Wissens, um das Fortschreiten von der Anerkennung des universellen Charakters der Veränderung und Entwicklung zur Erklärung der Entwicklung aus dem „inneren Grund" der Dinge, und wir meinen, daß der gegenwärtige natur- und gesellschaftswissenschaftliche Erkenntnisfortschritt wesentlich mit der Erkenntnis dialektischer Widersprüche als der „Wurzel aller Bewegung und Lebendigkeit" (Hegel) verbunden ist. Dieser Erkenntnisfortschritt vollzieht sich auf verschiedenen Ebenen: 1. auf der Ebene des empirischen Aufweisens dialektischer Widersprüche in allen natur- und gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntnisbereichen, 2. durch den Nachweis des inneren Zusammenhangs und Systemcharakters der vielen einzelnen, empirisch aufgewiesenen Widersprüche, 3. durch die vertiefte Ausarbeitung der materialistischen Dialektik als allgemeiner philosophischer Entwicklungstheorie. Engels hat darauf aufmerksam gemacht, daß sich — ins< K. Marx/F. Engels, Werke, Erg. Bd. 1, S. 544.
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besondere in den Naturwissenschaften — die Einsicht in den dialektisch-widersprüchlichen Charakter der Wirklichkeit in der Regel über die Erkenntnis von Wechselwirkungszusammenhängen anbahnt und durchsetzt. Darin, daß alle materiellen Existenzen, vom Atom bis zu den Gestirnen, untereinander im Zusammenhang stehen, führte er aus, liegt schon einbegriffen, daß sie aufeinander einwirken und sich verändern. Wechselwirkung ist die „wahre causa finalis" der Dinge, und zwar sowohl ihrer „Existenz" — indem sie sich wechselseitig bedingen — als auch ihrer Veränderung und Entwicklung. „Weiter zurück als zur Erkenntnis dieser Wechselwirkung können wir nicht, weil eben dahinter nicht zu Erkennendes liegt." 15 Als Engels diese philosophischen Thesen über die Rolle der Wechselwirkung formulierte, konnte er sich auf eine Fülle natur- und gesellschaftswissenschaftlicher Erkenntnisse stützen, die seither eine ständige Erweiterung erfahren hat. So gelten heute die Gravitations-, die schwache, die elektromagnetische und die starke Wechselwirkung als grundlegende Bewegungszusammenhänge der unbelebten Natur und als „Basis" einer großen Vielfalt von Einzelerscheinungen. In der Teilchenphysik dominiert die Ansicht, daß sämtliche Teilchen durch Wechselwirkung eng miteinander verbunden sind und die Eigenschaften eines beliebigen Teilchens durch die anderen Teilchen bestimmt werden. Wechselwirkung ist eine Grundform des Bewegungszusammenhangs, weil sich die Dinge in der Wechselwirkung bedingen und durch Wechselwirkung verändern, Ursache ihrer selbst sind, weil Wechselwirkung das „Ding" als Einheit gegensätzlicher Seiten überhaupt erst „konstituiert". Hegel und die Klassiker des Marxismus-Leninismus haben die Wechselwirkung vor allem als ein Verhältnis des wechselseitigen Bedingens, Ausschließens und Aufeinanderwirkens, der Einheit und des Kampfes dialektischer Gegensätze K K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 20, S. 499.
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gefaßt — als Widerspruchsverhältnis. „Bedingung der Erkenntnis aller Vorgänge in der Welt in ihrer .Selbstbewegung'" — so verallgemeinerte Lenin die Marxsche Widerspruchsanalyse der kapitalistischen Gesellschaft und ein breites Spektrum zeitgenössischer Einsichten in den widersprüchlichen Charakter der unbelebten und belebten Natur — „ist die Erkenntnis derselben als Einheit von Gegensätzen, Entwicklung ist .Kampf' der Gegensätze". 16 Der natur- und gesellschaftswissenschaftliche Erkenntnisfortschritt hat diese philosophische These vollauf bestätigt und immer neue Formen der Wechselwirkung dialektischer Gegensätze zutage gefördert: zwischen Kernbindekräften und Coulombkräften im Atomkern, zwischen chemischer Dissoziation und Assoziation, Aufbau- und Abbauprozessen in lebenden Organismen, Vererbung und Anpassung, Erregung und Hemmung in der Nerventätigkeit, um nur einige zu nennen. Es zeigt sich immer deutlicher, daß der als Einheit und Kampf dialektischer Gegensätze bezeichnete Zusammenhang ein Grundphänomen, ein universelles Gesetz der Wirklichkeit, daß der dialektische Widerspruch Quelle und Triebkraft aller Veränderung und Entwicklung ist. Hegel war zutiefst davon überzeugt, daß „das Wissen nur . . . als System wirklich sei.17 Ich halte es in diesem Zusammenhang für besonders bedeutungsvoll, daß sich gegenwärtig in der einzelwissenschaftlichen Forschung, am deutlichsten auf dem Gebiet der Wissenschaften von der belebten Natur, ein Übergang vom empirischen Aufweis einer Vielheit einzelner Widersprüche %um Nachweis ihres inneren Zusammenhangs und Systemcharakters vollzieht. Der Nachweis, daß die Widersprüche einer bestimmten Bewegungsform der Materie, zum Beispiel der biotischen (Widerspruch '6 W. I. Lenin, Werke, Berlin 1955 ff., Bd. 38, S. 339. " G. W. F. Hegel, Werke, Bd. 3, S. 27. 20
Zur Architektonik
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zwischen Leben und Tod, Struktur und Funktion, Organismus und Umwelt, Vererbung und Anpassung, Assimilation und Dissimilation usw.), Systeme von allgemeinen und spezifischen, grundlegenden und abgeleiteten, inneren und äußeren Widersprüchen bilden, enthebt den einzelnen Widerspruch dem Charakter des Zufälligen. Als Teil eines umfassenden Zusammenhangs (Systems) wird er als notwendiger sichtbar. Die Aufdeckung solcher mehr oder weniger in sich geschlossener Systeme von Widersprüchen (wie sie Marx für die kapitalistische Gesellschaft geleistet hat) ist ein wichtiger Schritt zur Erkenntnis des dialektischen Charakters der Wirklichkeit und des „inneren Grundes" ihrer Veränderung und Entwicklung. Damit haben wir einige Grundzüge des Werdens des Wissens durch Fortschreiten zum Konkreten abgehoben. Unseres Erachtens sind sie nicht ohne Belang für eine philosophische Theorie vom Werden der Wissenschaft, der Wissenschaftsentwicklung überhaupt.
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JÖZSEF LUKÄCS (Budapest)
Die Zeit des Mythos Es ist nicht auszuschließen, daß man den Titel und die Aktualität dieses Aufsatzes erklären muß: Unsere Gegenwart wird, und zu Recht, auch als das Zeitalter des Verfalls des mythischen Bewußtseins, des breiten Raumgewinns des säkularen Denkens eingestuft. Mit diesem progressiven Prozeß geht jedoch eine ganze Reihe von Illusionen einher. Im Zuge des langwierigen, sich ungleichmäßig entfaltenden Prozesses der Entmythologisierung verlieren die anthropozentrischen Züge der mythischen Weltbilder zwar ihre Glaubwürdigkeit, das bedeutet aber weder, daß der traditionelle Mythos jegliche Regulierungsfunktion, jegliche Bedeutung für die menschliche Kultur verloren hätte, noch, daß man nicht einer Vielzahl relativ neu entstandener Mythen Rechnung tragen müßte. „Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden", schreibt Marx. „Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser 20*
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erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen."! Anders ausgedrückt, lautet das in der Formulierung von Pierre Bourdieu, daß die politischen Revolutionen und die von ihm symbolisch genannten Formen, welche den Zweck verfolgen, die „adäquate Sprache" zu schaffen, die zur „Vollentfaltung der (gesellschaftlichen) Revolution" nötig ist, 2 nicht symmetrisch sind. Die Mythenbildung geht, jedermann beunruhigend, bis heute auch in der Sphäre des politischen Bewußtseins vor sich. „Die Weißen in Amerika neigen dazu", liest man bei Louis Dupré, „die Geschichte ihres Landes als die sukzessive Verwirklichung des Traums von der sozialen Gleichheit und der intellektuellen Freiheit zu interpretieren . . . Das aber ist ein mythisches Modell, das unangenehme Komplikationen, wie die Frage der indianischen Urbevölkerung, der angeschleppten Sklaven und der unerwünschten Einwanderer, selektiv ausklammert. Der Mythos mag zwar als Modell eine nützliche Funktion erfüllen, wird er jedoch mit der Geschichte identifiziert, so führt das unausweichlich zu Vorurteilen und zu Unterdrückung." 3 Es ist sehr lehrreich, wenn Mircea Eliade die Aufmerksamkeit darauf lenkt, welche Wirkung die balbvergessenen Mythen haben. Schwierig wird eine solche Bewußtmachung jedoch durch die Natur des mythischen Bewußtseins selbst, das jegliche historisch geprägte Kritik von vornherein zurückzuweisen scheint. „Denn es ist, ist immer, möge des Volkes Redeweise auch lauten: Es war. So spricht der Mythus, der nur das Kleid des Geheimnisses ist; aber des Geheimnisses Feierkleid ist das Fest, das wiederkehrende, das die Zeitfälle 1 K. Marx/F. Engels, Werke, Berlin 1 9 5 6 ff., Bd. 8, S. 115. 2
Vgl. P. Bourdieu, Genèse, structure du champ religieux, in: Revue française
de sociologie, Paris 1971. 3 L Duprc, The Other Dimension, New Y o r k 1979, S. 2 1 1 f .
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überspannt und das Gewesene und Zukünftige seiend macht für die Sinne des Volks." 4 Die treffende Formulierung von Thomas Mann zeigt recht deutlich, wie der Mythos, obwohl selbst auch ein Kind der Zeit, eigentümlicherweise eben durch die Ausschaltung der Zeit der Geschichte und durch die Homogenisierung der Zukunft im Bewußtsein versucht, feste Anhaltspunkte inmitten der Stürme der Gegenwart anzubieten. Der Mythos braucht mithin die Zeit nur, um sie aufzuheben? Dieses von Ernst Cassirer formulierte Paradoxon zu durchdenken, dazu wollen wir einen Beitrag zu geben versuchen. 1. Bevor wir aber versuchen, eine Antwort auf das Problem zu finden, müssen wir zu einigen Fragen Stellung nehmen. In welchem Sinn existiert der Mythos? Schelling und Hegel wiesen bereits auf die Beschränktheit der Anschauung hin, welche im Mythos lediglich Rudimente der Unwissenheit oder bloß Phantasmen und Fiktion, bloß ein subjektives Bild erblicken wollte. Mit dieser Kritik wurden sie zu Wegbereitern für den Gedanken von Marx, wonach der Mythos, trotz seiner erkenntnistheoretischen Irrelevanz, ein konzentrierter, bewußtseinshafter Ausdruck realer Geschichtsprozesse und deren anthropomorphe Aufarbeitung mit Hilfe der 'Phantasie ist, der durch die ihm anhaftende gefühlsmäßige Bestätigung auch zu einer besonderen Seinsweise gelangt. „,Was ich mir wirklich (realiter) vorstelle", schreibt Marx bereits in seiner Doktorarbeit, „ist eine wirkliche Vorstellung für mich', das wirkt auf mich und in diesem Sinne haben alle Götter, sowohl die heidnischen als christlichen eine reelle Existenz besessen. Hat nicht der alte Moloch geherrscht! war nicht der delphische Apollo eine wirkliche Macht im Leben der Griechen? Hier heißt auch Kants Kritik [daß aus dem Begriff des Talers noch nicht dessen 4
Th. Mann, Joseph und seine Brüder, Ed. I, Berlin 1974, S. 50.
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Besitz folgt - J. L.] nichts . . . Wirkliche Thaler haben dieselbe Existenz, wie eingebildete Götter". 5 Diese haben innerhalb einer an eine bestimmte Denkweise gebundenen „Gemeinschaftsvorstellung" eine spezifische kulturelle Seinsweise, die nur dann transzendierbar ist, wenn die gesellschaftlichen Fundamente dieser Vorstellung einstürzen. Solange aber diese Seinsbedingungen vorhanden sind, spielt der Mythos eine bestimmte Rolle in der Vermittlung der Beziehungen zwischen den verschiedenen Gesellschaften und der Natur, dem Einzelmenschen und der Gemeinschaft. Der Mythos ist keine müßige Geschichte, behauptet Malinowski, sondern eine wirkende, aktive Kraft, nicht intellektuelle Erklärung oder künstlerisches Phantasieren, sondern die pragmatische Charta des primitiven Glaubens und der ethischen Lehre. Der Mythos drückt jedoch seine eigenen Seinsbedingungen auf eine Weise aus, in der er sie zugleich verhüllt, weshalb er für die, die sich auf ihn stützen, auch eine gewisse Evidenz hat, die nicht durch irgendeine rationale Argumentation bestätigt ist, sondern zu der die Menschen in einem unmittelbaren, gefühlsmäßigen, glaubensartigen Verhältnis stehen. In der treffenden Formulierung von Georg Gusdorf ist der Mythos „der vorreflektive, vormeditative Gedanke, der, zumindest in einem bestimmten Umfang, im Vergleich zum Handeln noch inhärent ist" 6 (sofern man unter Reflexion und Meditation später aufgekommene wissenschaftliche und philosophische Formen des Bewußtseins versteht). Eigentlich bewegt sich der Mythos noch in der Sphäre der Vorstellung und nicht des reinen Begriffs, auf halbem Weg zwischen sinnlicher Unmittelbarkeit und abstraktem Denken. Ursprünglich ist er der unmittelbaren alltäglichen 5 K . Marx/F. Engels, Gesamtausgabe (MEGA), Bd. 1/1, Berlin 1975, S. 90. 6
G. Gusdorf, Mythe et philosophie, in: Revue de metaphysique et de morale, Paris, 52 (1951), S. 177.
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Arbeitstätigkeit, ihrer undifferenzierten magiseb-totemistiseben Ergänzung im Bewußtsein entwachsen und bewahrt die Erinnerung an seinen Ursprung — den unmittelbaren Kontakt zwischen Theorie und Praxis — für immer. Er gibt zwar eine Erklärung für die Welt der Erscheinungen, jedoch nur insoweit, als dadurch irgendwelche Handlung unmittelbar vorangetrieben werden kann; er stellt zwar, als untergeordnetes Moment seiner selbst, eine Art Weitbild bereit, jedoch mit dem Zweck, gewisse Paradigmen und Muster des Benehmens und Verhaltens nahezulegen und zu begründen. Zugleich ist der Mythos zweifellos ein Versuch des Bewußtseins, sieb aus der Welt der unmittelbaren Praxis zu erbeben, ohne jedoch das Niveau der eigentlichen Welterklärung — die Sphäre der Philosophie, der Wissenschaft — zu erreichen. Auf seine narrative, analogische und anthropomorphe Weise drückt er dennoch die Vorstellungen der Menschen über die Struktur der Gesellschaften, über die Ordnung der Natur, sogar über die Gründe, Ursachen und Ziele der Gesellschaft aus. 2. Es stellt sich nun die zweite Frage: Welches ist das reale Verhältnis ^wischen Mythos und Geschichte? Es folgt aus dem bisher Gesagten, daß der Mythos in gewissen Zeiten, für gewisse Verhaltensweisen übergeschichtlich zu sein scheint. Das Problem des Mythos sei hoffnungslos, solange man nicht von der Frage loskomme, wie der Mythos entstanden sei, meint der Lebensphilosoph Alfred Baeumler. Eine befriedigende Antwort auf diese Frage sei nie möglich, weil sie falsch gestellt sei: der Mythos sei vollends ungeschichtlich.7 Es ist bekannt, daß bereits die Aufklärung eine ganz andere Antwort auf diese Frage gab, daß der Mythos etwa in der Auffassung von Herder eben als geschichtliches Pro7
A. Baeumler, Der Mythos vom Orient und Occident, München 1926, S. XCf. (zit. nach: G . Lukäcs, Die Zerstörung der Vernunft, Berlin 1955, S. 427).
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idukt zu verstehen sei: nichts anderes als die spezifische Denkweise der Kindheit der Kultur. Und nach Marx ist er der in der Vorstellung gegebene Ausdruck von Umständen, in ihr erscheinen „. . . die ursprünglichen Bedingungen der Produktion . . . als Naturvoraussetzungen, natürliche Existenzbedingungen des Produzenten"8, und solcherart gestattet der Mythos aufschlußreichen Einblick in die tatsächliche Natur längstvergangener Zeiten. Im Mythos machen sich die Menschen eben daher die von ihnen selbst geschaffenen sozizibistoriscben Verhältnisse als eine solche quasinatürliche Basis des Seins bewußt, mit denen sie eine noch undifferenzierte Einheit bilden; so sind also, wie sie glauben, diese Verhältnisse nicht von ihnen zustande gebracht worden. Die Invarianz, das geschlossene Universum des Mythos entspricht also der Geschlossenheit, welche für seine Entstehungsumstände — für die relative Abgeschlossenheit der noch naturwüchsigen Umstände der Gesellschaft — kennzeichnend ist. Dies ist jedoch zugleich eine Geschlossenheit, in der die Widersprücblichkeit seines Seins dem Menschen bereits bewußt wird und wo mit dem Mythos der Zweck verfolgt wird, durch ihn die Widersprüche aufzuheben, mehr noch, um die ursprüngliche Harmonie zwischen Mensch und Mensch in der Phantasie herzustellen. Aufgrund von Pseudo-Dionysius, Eckhart und Cusanus erblickt Mircea Eliade eben in der coincidentia oppositorum, im Auslöschen der zusammenfallenden Gegensätze, das Wesentliche der mythischen Sphäre. 9 Ihm bedeutet der Mythos jedoch die effektive Versöhnung jener Gegensätze, die infolge der theoretischen Reflexion entstanden sind; daher erscheint ihm die Rückkehr zur ursprünglichen Undifferenzjertbeit des Denkens und auch des Seins letzten Endes wünschenswert. Der Gedanke von Marx besagt das Gegenteil: in unserer K. Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, Berlin 1974, S. 389. 9 M. Eliade, Patterns in Comparative Religion, New York 1958, S. 419f.
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Zeit müsse man bemüht sein, die sich immer wieder aufs neue reproduzierenden Widersprüche mit Hilfe immer höherer "Reflexion, auf der Basis immer entwickelterer und differenzierterer Verhältnisse laufend bewußt zu machen und ihre Lösung herbeizuführen, während die Tilgung der Widersprüche in einer gedachten Harmonie eines vergangenen oder zukünftigen Paradieses nichts anderes als Illusion ist. Ethnologen und Religionshistoriker stehen unvermeidlich bereits entstandenen Mythen gegenüber. Methodologisch darf man jedoch den realen Prozeß der Mythopoesis keinen Augenblick vernachlässigen, in deren Verlauf die Inhalte des mythischen Dramas und dessen verbale und narrative Elemente mit der Zeit als vom Gewebe der Praxis abgesondertes „Wort", als Erzählung eine Sonderstellung erhalten und sich zu unterschiedlich interpretierten, eine eigentümliche Regulierungsfunktion versehenden mythischen Erzählungen, zu Mythen zusammenfügen. Diese Mythen integrieren sich schließlich zum spezifischen System der Mythologien. Hinter diesem Prozeß wird man Veränderungen des Reproduktionsprozesses erkennen. Nichts wäre jedoch verfehlter, als aus den Veränderungen in der Produktion unmittelbar darauf zu schließen, wie sich der Mythos artikulieren wird: die Mythenbildung ist ein Prozeß, der beachtliche Selbständigkeit und Selbstbewegung an den Tag legt. Die Erzähler, die an der Translation der Mythen teilhatten, vermochten die Inhalte des Mythos weitgehend frei zu interpretieren und den verschiedenen Mythenvarianten von den früheren abweichende Akzente zu verleihen. Eingeschränkt wird diese Freiheit nicht durch die individuellen Schranken der Erzähler, sondern durch die Logik der Reproduktion jener Gemeinschaft, die den Mythos aneignet, um die eigenen Verhältnisse mit seiner Hilfe zu festigen oder abzuändern. Wir sind, anders als der Strukturalismus oder die Phänomenologie, der Meinung, daß es 313
diese nicbtbewnßte objektive Logik ist, die die Richtung der Selektion bestimmt, welche letzten Endes die Akzeptierung gewisser Mythentypen fördert, anderer wiederum unterbindet; sie ist es, die dem Zustandekommen gewisser mythologischer Strukturen Vorschub leistet, andere dagegen hemmt. Aus dem praktisch unendlichen mythischen Angebot treffen gesellschaftlich-konkrete Bedürfnisse die „Auswahl", je nach der Adaptierbarkeit oder Nichtadaptierbarkeit des Stoffes. Innerhalb der Struktur der Kultur hat der Mythos einen geschichtlich veränderlichen Platz; dabei verändert sich nicht nur sein Verhältnis zu den verschiedenen Formen des theoretischen Bewußtseins, sondern auch zur Religion. Es ist unschwer einzusehen, daß sich die Re/igionen — im Gegensatz zu gewissen früheren marxistischen Interpretationen — nicht auf die Mythen reduzieren lassen: sie enthalten ja in ihrer Struktur auch Dogmen, Theologien, religiös geprägte sittliche Vorschriften, Riten und religiöse Institutionen. Andererseits ist es klar, daß die Religionen immer mythische Elemente enthalten und daß daran selbst ein verhältnismäßig konsequenter Entmythologisierungsvorsatz nichts ändern kann. Es ist vielleicht kein Zufall, daß eben die Repräsentanten der modernen Theologie, die sich der Irreversibilität der Säkularisierung am ehesten bewußt sind, der Überzeugung sind, daß der Mythos, die analogische Form der Wahrheitserkenntnis, aus der Religion nicht eliminieren ist. — „Wenn man davon ausgeht, daß jeder Begriff einer metaphysischen und religiösen Wirklichkeit als jenseits der unmittelbaren Erfahrung mit einer Vorstellung arbeiten muß (in ursprünglicher, nicht nachträglich künstlicher und bloß didaktischer Synthese), die nicht die ursprüngliche Erscheinung dieser Wirklichkeit, sondern anderswoher gewonnen ist, wenn man dann noch voraussetzt, diese .Vorstellung' (ohne die jeder Begriff leer, d. h. unmöglich ist; thomistisch das phantasma, 314
dem sich jede transzendentale Erkenntnis zuwenden muß) sei nicht ein statisches ,Bild\ sondern sei gegeben als dramatische, ereignishafte Vorstellung oder könne in eine solche hinein entfaltet werden und so etwas dürfe dann mythische Vorstellung genannt werden, dann ließe sich sagen: jede metaphysische und religiöse Aussage ist eine mythische oder lasse sich als solche verdeutlichen." 10 Man spreche in einem pejorativen Sinn des Wortes vom Mythos, wenn die kritische Bewußtmachung dessen fehlt oder unmöglich ist, daß in solchen Behauptungen die Bildhaftigkeit, das Verwaschen, gar die Gleichsetzung von Phantasmen und Begriffen, wenngleich in unterschiedlichem Umfang, jedoch unbedingt vorhanden ist. Die Aufgabe der Theologie wäre dementsprechend die richtige begriffliche Interpretation des Mythos. 11 Sosehr wir mit solchen Autoren einig sind, wonach sich das Phantasiehafte nicht aus der Religion ausklammern läßt, scheinen uns die Kriterien der richtigen Bestimmung des Mythos aufgrund dieser Auffassung unbestimmbar zu sein. Diese Kriterien dürfen freilich nicht mehr mythischer Natur, können aber natürlich auch noch nicht entschieden philosophisch sein: den Mythos als Bestandteil der göttlichen Offenbarung kann der Theologe höchstens mit Hilfe der analogia entis vor das Gericht des menschlichen Verstandes laden, dann kann er aber erst nur eine Meinung über seinen Gehalt haben, nicht aber seine Richtigkeit beweisen. Die Tatsache aber, daß wir die den Mythos interpretierenden jeweiligen theologischen Operationen mit gesellschaftlichhistorischen Gründen erklären, kann der Theologe höchstens als Hilfsmittel akzeptieren. Letzten Endes stehen ihm also bloß zwei Wege offen. 10
K. Rahner/H. Vorgrimler,
Kleines Theologisches Wörterbuch,
Freiburg
1965, S. 253 (Artikel „Mythos"). 11
Ebenda.
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Bestätigt wird der Mythos als Element der Offenbarung entweder durch den persönlichen Glauben (diesen Standpunkt vertritt, wie bekannt, der Protestantismus), oder sein Urteil wird von den unfalsifizierbaren Entscheidungen solcher Institutionen abhängen, die — auch dies dem persönlichen Glauben zufolge — neben dem Menschenverstand auch von Gottes Gnade gelenkt werden (diesem Modell entspricht die Struktur des Katholizismus'). Bestätigt wird der Mythos also unbedingt durch einen emotionalen affirmativen Akt: den Glauben. Die Funktion der Theologie oder der Philosophie mag höchstens darin bestehen, diesen Glauben zu erhärten. Anton Freitag stimmt mit Rahner insoweit überein, daß der Mythos auf seine analogische und anschauliche Weise die Aneignung der Transzendenz ermöglicht, doch behauptet er zugleich, die Offenbarung „als Ereignis und Wort" stehe in ausgesprochenem Kontrast zum Mythos. 12 Es fragt sich aber, wie die Transzendenz dem Menschen verständlich gemacht werden kann, wenn man die analogische Formsprache des Mythos ausklammert. Sind über die Erschaffung der Welt, über die Erbsünde oder das Jüngste Gericht nicbtmytbiscbe Behauptungen möglich, ohne über die Sphäre des religiösen Glaubens an das Übernatürliche hinauszugehen, ohne in die Regionen des theoretischen Bewußtseins umzuschlagen? Die Untersuchung dieser Frage würde sehr weit führen. 3. Nun müssen wir weiter fragen, in welchem Verständnis man von der Zeit des Mythos sprechen kann. Zwar erscheint der Mythos seinen Befolgern als der Leitstern der jeweiligen Gegenwart oder nachgerade als zeitloses Paradigma, als ewiges Fundament und Maß aller in der realen Zeit erfolgten Taten des Menschen, doch spielt sich jeder Mythos in der Zeit, zu einer unbestimmten Zeit ab. '2 Lexikon f ü r Theologie und Kirche, Bd. 7, Freiburg 1962, S. 7 4 6 f .
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Das beweist schon an sich, daß sich bereits die primitivsten Mythen als eine gewisse Bewußtwerdung der Zeit, als Aneignung des Zeitlichen darstellen. Der Wechsel von Tag und Nacht ist bekanntlich in die Selbsterhaltungs-, Ernährungsund Fortpflanzungsprozesse der Lebewesen, auch des Menschen, eingebaut worden. Im Zuge der Menschwerdung kann man jedoch sehr klar erkennen (besonders seit dem Entstehen der Viehzüchter- und der Ackerbaukulturen), daß die (in der Natur nicht direkt gegebenen) Bedürfnisse der gesellschaftlichen Produktion ebenfalls einer bewußten Gliederung der Zeit bedürfen: man beobachtet den Wechsel des Mondes und den Lauf der Sonne. Einen Abdruck dieser geschichtlichen Aneignung der natürlichen Zeit erkennt man auch an den urtümlichen Mythen: in ihrer Zeitlosigkeit kommt nicht bloß der „ansichseiende" Kreislauf der Natur zum Ausdruck, sondern auch ein gesellschaftlich determiniertes Verhältnis zu ihr: die von der Natur kaum noch losgelösten Gemeinschaften reproduzieren sich fast ebenso relativ unverändert wie die Zyklen der Natur; der Mensch kann daher in diesem kosmischen Zyklus sein soziales Selbst erkennen. Von hier ausgehend, wird es nicht absurd erscheinen, wenn der Mythos, der die Zeit aufzuheben scheint, die Zeit der Geschichte selbst dennoch auf seine eigene, spezifische Weise widerspiegelt und ausdrückt. Die Untersuchungen müssen jedoch auf zwei Ebenen vor sich gehen. Zunächst muß man berücksichtigen, daß jeder Mythos auch unbewußt immer eben den Zeitbegriff fixiert, als vorausgegeben, als Grundlage aller Zeitlichkeit hinstellt, zu dem sich seine eigene Zeit bekennt. Insoweit wiederum, als sich der Mythos in der Geschichte sukzessive aus der Welt des Geschehens der Menschen zurückzieht, als er sich immer mehr auf den Anfang und das Ende, das Alpha und das Omega sowie auf die Zirkel der Erlösung konzentriert, erfolgt eine Trennung der irdischen Geschichte von der Heilsgeschichte. 4. Die mythologische Tendenz der Zukunftsorientiertheit, 317
der linear-teleologischen Veränderung, die schließlich mit dem Erscheinen des Christentums ihren Höhepunkt erreicht, ist eine Folgeerscheinung des Zerfalls teils der ethnischen Religiosität der patriarchalen Gesellschaften, teils der regionalen Religiosität der klassischen Polis. Ist das Alte Testament eine Widerspiegelung des wechselvollen Schicksals und des Scheiterns des halbwegs noch orientalischen ethnischen Stammesbundes der Juden, so führt das Neue Testament eine Lage vor Augen, wo der antike Anspruch auf persönliche SelbstverwirkJichung, kaum eben aufgekommen, sich bereits als unrealisierbar erwies. Den Schmerz angesichts des Zerfalls der ethnischen Gemeinschaft bzw. des Verlustes der Polis, die Absage an die Selbstvcrwirklichung des Individuums im Diesseits, drückt das Christentum überwiegend durch ein Umschlagen dieser Nostalgie in eine Wunscherfüllung aus: es entsteht der Glaube an die persönliche Unsterblichkeit und an die Möglichkeit einer universell möglichen Seligwerdung. Die fachwissenschaftliche Forschung stimmt in zahlreichen Punkten mit den Ausführungen von Marx im „Kapital" übercin, wonach der universalistische christliche Monotheismus den Kult des abstrakten Menschen voraussetzt, der wiederum aus solchen geschichtlichen Umständen hervorgeht, in denen Gemeinden von neuem, bisher unbekanntem Typ nicht zustande kommen konnten. In diesen Gemeinden besteht das „. . . allgemein gesellschaftliche Produktionsverhältnis darin . . . , sich zu ihren Produkten als Waren, also als Werten zu verhalten, und in dieser sachlichen Form ihre Privatarbeiten aufeinander zu beziehn als gleiche menschliche Arbeit . . ." 13 Weder der Universalmarkt noch die formale politischrechtliche Einheit des Römischen Reichs können für die verlorenen, lebendigen Gemeinschaften entschädigen, deren aktive Konstituente das Individuum dereinst war. Der christ« K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 23, S. 93.
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liehe Monotheismus kompensierte seinerseits diesen Mangel, indem er, so Alfred Weber, die einzelnen Gläubigen im Zeichen einer Gleichheit in der Sünde und der Erlösung in seinem universellen „Polisersatz", in den illusorischen Gemeinschaften vereinte. Solcherart entstand innerhalb der ökonomischen und politischen Sphäre eine relativ selbständige religiöse Integration, die den Ansprüchen irgendwelcher regionaler oder ethnischer Einheit nicht mehr unmittelbar entspricht, die eben dadurch sich später geeignet erweisen wird, sich den recht unterschiedlichen Typen von Gesellschaftsformationen anzugleichen: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Knecht noch Freier, hier ist nicht Mann noch Weib; denn ihr seid allzumal einer in Christus Jesus", heißt es im Neuen Testament. Ebenso auch der Kernsatz: „Mein Rcich ist nicht von dieser Welt." Diese nachdrückliche Trennung der auf der Ebene der Transzendenz gedachten Einheit von den realen Verläufen in der Welt legt den religiösen Ort auch des Mythos selbstverständlich auf neue Weise fest. Die Entmythisierung der erschaffenen Natur und der Welt des Menschen ist im Neuen Testament im Vergleich zum Alten Testament sogar noch schärfer ausgeprägt; das aber gestattet auf lange Sicht einen Spielraum für das Erstarken autochthoner Wissenschaft, Philosophie und Kunst. Dennoch erscheinen den Urgrund (arebe), die Grundlage (ätia) und den Zweck (telos) des Weltgan^en betreffende entscheidende religiöse Belange nach wie vor in mythischer Form. Mehr noch: diese mythische Kontinuität organisiert sich zu einer Art transzendenter Heilsgeschichte, während sich die Geschehnisse der profanen Welt von dieser abheben und sich diesem einzig authentisch erscheinenden Veränderungsprozeß unterordnen. Mit anderen Worten: Nicht die realen Prozesse auf Erden führen zu echter Veränderung, sondern es ist die göttliche Vorsehung, die die Geschichte erfüllt; dadurch wird aber die irdische Zeit relativiert. 319
Voll und ganz muß man der Feststellung beipflichten, daß der konsequente Monotheismus der Entmythologisierung soweit, Vorschub leistet, als dies innerhalb des religiösen Bewußtseins überhaupt möglich ist. Mehr noch: der Monotheismus (wo ein einziger Gott Grundlage und Zielbestimmer, zugleich allerhöchstes Subjekt des Weltprozesses ist) fördert auch die sukzessive, wenngleich nicht konfliktlose Herausbildung einer gewissen geschichtlichen Anschauungsweise. Insoweit bedeutet das Erscheinen der zeitlichen Heilsgeschichte zugleich die relative Zersetzung der Zeitlosigkeit des Mythos. Aus den Kreisläufen der asiatischen Mythen gab es selbst in der Welt der Vorstellungen keinen Ausweg: die Zeitlosigkeit des Mythos legte die Unveränderliebkeit der Ordnung des Universums und der Gesellschaft nahe, wodurch ein geschichtlich geprägtes Denken praktisch verunmöglicht war. In der hellenischen Welt, ganz besonders aber bei den Juden ruft die stürmische Eruption der Widersprüche der mit Leid und Ungerechtigkeit erfüllten Gegenwart historisierende Tendenzen wach: die Evokation einer idealisierten Vergangenheit, des Goldenen Zeitalters, sowie prophetische Versprechen einer besseren Zukunft. Während aber diese mythische Geschichtlichkeit in Hellas in der aufeinanderfolgenden Herrschaft mehrerer Götter ihren Ausdruck findet, nimmt bei den jüdischen Propheten und in der apokalyptischen Literatur der als Garant der Einheit der Gemeinschaft begriffene einzige Gott die gesamte Geschichte als Mittel für die Verwirklichung seiner Ziele wahr: er offenbart sich nunmehr nicht bloß in der Geschichte, sondern auch durch die Geschichte.14 Nur durch Jahwe als Herr des Universums und einzig durch ihn kann sich die volkstümliche Vorstellung der Juden die nationale Erhebung aus der totalen Katastrophe, die in der Realität übrigens geschichtlich hoffnungslose Verwirklichung der Befreiung von der Unterdrückung ausmalen. Hier I'1 P Tillich, Der Widerstreit von Raum und Zeit, Stuttgart 1963, S. 1 1 6 .
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wird also durch den Monotheismus die mythische gedankliche Fixierung einer orientierten historischen Bewegung jedenfalls denkbar, jedoch ist diese Geschichtlichkeit vorerst noch ethnisch oder territorial begrenzt. Derselbe Glaube mochte den universalistischen Chiliasmus der die Parusie fiebrig erwartenden Frühchristen genährt haben, wie auch dasselbe zukunftsorientierte Hoffen auf das Reich Gottes für die mittelalterlichen Ketzersekten, für den theologischen Historismus des Giacomo da Fiore kennzeichnend ist (in denen die Geschichte als das Aufeinanderfolgen progressiver Zustände erscheint): für die radikalen Franziskaner, die Taboriten und Wiedertäufer, sogar für die Puritaner der englischen Revolution. Die Weltgeschichte wird nunmehr als ein einheitlicher Prozeß begriffen, der sich durch eine einheitliche Ratio auszeichnet, der sich auf der Ebene des Übernatütlichen, in der Sphäre der Civitas Dei entfaltet. Gurjewitsch stellt also sehr richtig fest, daß das Christentum aus der jüdischen Religion die Konzeption der Linearität und Kontinuität der Zeit zwar übernommen hatte, diese jedoch vom Partikularen zum Universalen erweiterte und aus dem Blickwinkel der Erlösungstat Christi interpretierte.1» Andererseits muß man auch bemerken, wie sehr die religiöse Unterscheidung von Transzendenz und profanem Sein die Bedeutung der göttlichen Vermittlung zwischen den beiden Sphären herausstreicht, wodurch die Mythisiermg der Vermittlung besonderen Nachdruck erhält. Zwar pflichten wir der Behauptung von Dupre nicht bei, wonach das Christentum noch reicher an mythischen Elementen sei als der Glaube Israels,16 doch ist die sehr wahrscheinlich reale, geschichtliche Gestalt Jesu notwendigerweise auch mit mythischen Ranken überwuchert, und zweifellos bewahrt der liturgische Zy15
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A. J. Gurjewitsch, Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen, Dresden 1978, S. 122f. L. Dupre, The Other Dimension, a. a. O., S. 222. Zur Architektonik
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klus, besonders in seiner katholischen Form, die Erinnerung einer intimen Beziehung zwischen Ritus und Mythos auf. An diesem Punkt schlägt die Heilsgeschichte gewissermaßen in ihr Gegenteil um. Sofern man meint, in einem besonderen Element der Vergangenheit — gegebenenfalls in der mit dem Kreuzestod Christi identifizierten Erlösung — eine letzte Entwicklung erkennen zu dürfen, worin sich der Sinn der Geschichte erfüllt hat, so kann dadurch jede wesentliche Veränderung bis zum Ende der Zeiten prinzipiell als überflüssig erscheinen. Augustin beschreibt einerseits die aufeinanderfolgenden sechs Phasen der Heilsgeschichte als den Inhalt des Erlösungsprozesses auf einer übernatürlichen Ebene, die von der chaotischen, immer wieder zu Untergang verurteilten civitas terrena scharf getrennt ist. Indem er aber die Meinung vertritt, daß die civitas Dei, das Reich Gottes, in der Kirche als Trägerin des Erlösungswerks Christi die Erfüllung erreicht hat (weshalb es eben die Kirche wäre, die inmitten der unvorhersehbaren Wendungen des irdi^ sehen Lebens die erstrangige Trägerin der wahren Geschichte, der Heilsgeschichte, sei), schließt er die Geschichte auch ab oder reduziert sie zumindest auf die Geschichte der Kirche. Dadurch werden, wie immer man es sehen mag, die dem Christentum inhärenten Entmytbisierungstenden^en in mehr als einer Hinsicht in ihr Gegenteil verkehrt, die Spannung zwischen dem absoluten göttlichen Prinzip und der realen Geschichte wird — ungewollt — zum Schaden der letzteren in mythischer Form aufgelöst. Die Tendenzen zur Überwindung des Mythos schlagen in eine Mythisierung der Zeit um, später wird die Erfüllung der Zeit als absolut betrachtet. Nicht ohne Grund bemerkt Tillich, daß, da nichts tatsächlich Neues zu erwarten sei, eine radikale Kritik der Kirche unmöglich geworden ist,17 genauso wie von diesem Gesichtspunkt aus auch keine Kritik der Mythen möglich ist. » P. Tillich, Der Widerstreit von Raum und Zeit, a. a. O., S. 117.
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Die Bemühungen des theologischen Historismus wurden von den maßgebenden Theoretikern des Mittelalters — so von Bonaventura, ebenso von Thomas von Aquin — verurteilt. Diese vertraten die Meinung, auf die Epochen des Alten und des Neuen Testaments könne keine dritte Epoche folgen. Thomas zufolge könne der Gang der Zeit höchstens ein immer tieferes Verständnis von Gottes Offenbarung mit sich bringen. 18 Dagegen ist es sicher kein Zufall, daß theoretische Repräsentanten des modernen Christentums, die dem dynamischen Geist der ersten Christen theoretische Geltung verschaffen wollen, das Prinzip der Zukunftsorientiertheit herausstreichen (Rahner), die Entwicklung des Schöpfers betonen (Teilhard de Chardin) und versuchen (wie am Beispiel von Tillichs „religiösem Sozialismus" zu erkennen ist), die Tatsache der Erlösung selbst als in der Geschichte und durch die Geschichte sich realisierendes Ereignis zu interpretieren. Bei ihnen ist die Geschichte also nicht mehr bloß ein Akzidens der Heilsgeschichte. In der Form eines „Zeitzeichens" oder des Kairos tritt das Absolute zwar in die Zeit der Geschichte ein, ohne sie jedoch aufzuheben. Mit anderen Worten: In der Auffassung dieser Denker führen die die wesentlichen Wenden in der Geschichte bewirkenden Kräfte nicht mehr dazu, daß die Erfüllung der Geschichte aus der Zeit der Geschichte ausgesperrt wird. 5. In unserem Verständnis bedeutet das folgendes: Der Sieg des Monotheismus gab dem Aufkommen der geschichtlichen Betrachtungsweise Vorschub, schuf die Voraussetzungen der Entmythologisierung der Geschichtsauffassung. Derselbe Prozeß läßt jedoch das Bild der als erstrangiges Subjekt der Geschichte begriffenen Gottheit schließlich verblassen, er steigert die Bedeutung der menschlichen Sub18
Thomas v o n Aquin, Summa Theologica, II.l, quaest. 106, art. 4 ; II. 2, quaest. 1, art. 7.
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jektivität und mag fallweise die klaren Grenzen der Transzendenz verwischen. Auf den Schcin der Zeitlosigkeit des Mythos folgte eine ethnisch beschränkte, sodann nniversell-beilsgeschichtliche Mythisierung der Zeit. In weltgeschichtlicher Siebt erwies sich jedoch auch das als Übergang auf dem Weg der sukzessiven Entfaltung der nichttranszendenten Wissenschaftlichkeit, des geschichtlichen Denkens. Bereits Pascal mußte daher behaupten, Gott habe die Welt verlassen, und um diesen Prozeß aufzuhalten, sei der totale Einsatz aller inneren religiösen Kräfte des Menschen geboten. Kaum wird man die epochale kulturelle Bedeutung der Entmythologisierung des Weltbilds in Frage stellen: dieser Prozeß ist nichts anderes als die geschichtliche Kehrseite der positiven Herausgestaltung des autonomen wissenschaftlichen Denkens, der humanistischen Kunst, der von natürlich-menschlichen Prämissen ausgehenden Philosophien und einer Ethik, die mit der Natur und den Bedürfnissen des Menschen im Einklang steht. Verdankte der Mythos seine Seinsbedingungen einer relativen Unmittelbarkeit des Verhältnisses zwischen Mensch und Außenwelt, so erblickt man hinter der Entmythologisierung einen progressiven Prozeß, der in wachsendem Umfang und beschleunigtem Tempo materielle Vermittler zwischen Individuum und Gemeinschaft, Gesellschaft und Natur einsetzt, der solcherart der einstigen Undifferenziertheit stufenweise ein Ende bereitet. Wir wissen sehr wohl: diese Vermittler mögen dem von ihnen hervorgebrachten Menschen lange Zeit als fremde Kräfte erscheinen; wir werden noch sehen, daß dieser Prozeß das Aufkommen neuer Formen eines quasimythischen Bewußtseins keineswegs ausschließt. Dennoch tritt in der Entmythologisierung die epochale geschichtliche Veränderung hervor, daß sich der Mensch aus den traditionellen Formen der naturwüchsigen Gemeinschaften befreien und sich die realen Voraussetzungen seiner Freiheit bewußtmachen kann. Die theoretische Aufgabe des Marxismus, zu der er 324
sich bekennt, besteht eben darin, daß er auf diese konkreten gesellschaftlichen Bedingungen hinweist und ihre Realisierung ideologisch durch die Unterstützung der revolutionären Aktivität fördert. Soll das heißen, daß durch die partielle Entmythologisierung der Religionen, durch die sukzessive Auflockerung der Beziehung zwischen Zeit und Mythos und die Säkularisierung des Bewußtseins überhaupt ein allgemein reales, den objektiven Bedingungen adäquates geschichtliches Allgemeindenken aufgekommen sei? Es sei wiederholt: mitnichten. Die Verdrängung der Verhältnisse persönlicher Abhängigkeit war für die ausgesprochen anthropomorphen mythischen Formen zwar ungünstig: das im Kapitalismus veränderte Verhältnis zwischen Natur und Gesellschaft hob die verschwommene Form der Beziehung zwischen Subjekt und Objekt auf und reduzierte somit die Möglichkeit, das Objekt zu personifizieren. Nun aber hat sich der Zusammenhang umgekehrt. Jetzt wird die gegenständliche, sachliche Welt zum mythischen Träger numinoser, sinnlich-übersinnlicher Eigenschaften. Marx hat das in Zusammenhang mit dem Waren- und Gcldfetisch nachgewiesen. Dieses Phänomen beeinflußt die gesamte Bewußtseinsstruktur des Kapitalismus und wirkt in praktisch allen Sphären des Bewußtseins als indirekter Erreger von Mythenersatz. In besonderer Weise werden auch die Produkte der Entmythologisicrung mythisiert: bei Comte die autonome Wissenschaft, bei Baudelaire die Kunst, und ebenso folgen auch die verschiedenen Formen des politischen Handelns dieser Logik. Es ist leicht, entsprechende Beispiele aufzuzählen, vom Mythos des Terrors in der bürgerlichen Revolution bis hin zum konterrevolutionären Terrormythos, vom Ichkult des Liberalismus und dem Geniekult der Romantik, von den Mythen des Anarchismus und des Ökonomismus bis hin zur mythischen Verherrlichung der Ungleichheit im Neukonservatismus. In diese Reihe fügt 325
sich aber auch die Schaffung nationalistischer Mythen ein, die die Illusion der Überlegenheit gewisser Nationen und Völker bzw. die Geringschätzung anderer fixieren und die Widersprüche der tatsächlich gegliederten Struktur einer nationalen Gesellschaft gedanklich aufheben. Zwecks Befriedigung der und teilweise als Reaktion auf die klassischen Mythen kapitalistischer Entfremdung und Verdinglichung gewinnen jedoch auch quasimythische Formen der romantisch-neuheidnischen Blut- und Rasscngemeinscbaft Raum — wir kennen die an totemistische Formationen gemahnenden Pseudomythen des Faschismus. Alle diese modernen Mythen und Formen von Religionsersatz machen wiederum das geschichtliche Verständnis der jeweiligen Phänomene unmöglich; scheinbar entziehen sie sich jeglicher Veränderung — genauer, sie scheinen die Grundlage jeglicher Veränderung zu sein. Gleichzeitig kritisieren sie in der Regel sehr heftig den Anthropomorphismus der tradierten Mythen, mehr noch das diesen anhaftende religiöse Harmonieprin^ip, die traditionelle Versöhnung der Widersprüche. All das kann heute wieder vielerlei Reaktionen auslösen. Zum einen verschiedene Formen des religiösen Revival, protestierende Konfrontation charismatischer Gemeinden und Persönlichkeit mit der dinglichen Welt des Fetischismus, des s zientistischen Technizismus; dann personalistiscbe Revolten der individuellen Existenz oder der Persönlichkeit, eventuell die mythische Auffassung der menschlichen Lebenskräfte — von den kultischen Zügen des Sports bis hin zu den sexuellen Mythen. Zum anderen gehen die dynamischen Veränderungen aller Zeiten nicht nur mit dem wachsenden Anspruch auf ein adäquates Bewußtsein der realen Geschichte einher, sondern häufig auch mit einem Antihistorismus, Ausdruck des Schreckens angesichts des reißenden Stroms der Geschichte; dies aber mag der Renaissance einer vom Mythos gebotenen scheinbaren Stabilität Vorschub leisten. Der heute zu beobachtende, unzweifelhafte 326
Raumgewinn verschiedener konservativer Mythen ist ein Beispiel dieses gefährlichen Prozesses. Jedoch darf man ebensowenig vergessen, daß sich auch die modernen Interpretationen der Mythen aus dem Alten und dem Neuen Testament bis auf den heutigen Tag kräftig in die Kritik der Mythen und des Religionsersatzes einschalten. Hier können wir uns nicht mit den Versuchen befassen, die die ideologisch-weltanschaulichen Dilemmata nachdrücklich auf religiöser Ebene beantworten wollen. Es geht auch um ein umfassenderes kulturelles Phänomen: um die Humanisierung des Mythos und um den Kampfeinsatz der Ergebnisse dieser Humanisierung gegen die Kräfte, die Beethovens Neunte Sinfonie noch heute zurücknehmen würden. Manierismus, Klassizismus und Aufklärung nahmen die griechisch-römische Mythologie, wie bekannt, für die eigenen ideologischen Zwecke wahr. Das gilt für die Venus des Tizian ebenso wie für Racines Phädra und für den Prometheus von Goethe, Shelley und Kleist: „. . . die in den religiösen Mythen . . . enthaltene menschliche Typik von Charakteren und Situationen [versuchen die gegenständlichen Mittel der Kunst] wieder in die diesseitige Sphäre der Menschen und menschlichen Situationen zurückzuführen", 19 schreibt Georg Lukäcs. Seit Beginn der Neuzeit, seit der Renaissance und der Reformation tritt der Anspruch auf die Säkularisierung auch der biblischen Mythen kräftig hervor. Es ist nicht schwer, die Gründe zu begreifen. Die Sagen und die Geschichten der Bibel mögen heute verstummen, ohne daß die in ihnen formulierten Fragen, die in ihr aufgezeigten Spannungen — in gewisser Hinsicht unabhängig von ihrem weltanschaulichen Hintergrund — voll und ganz überwunden wären. Die Entmythologisierung gestattet ihre Aufarbeitung und Beantwortung mit Hilfe der kritischen 19
G. Lukäcs, Ästhetik, T. 1: Die Eigenart des Ästhetischen, 2. Hbd., Neuwied/Berlin (West) 1963, S. 701.
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Mittel der heutigen Kirnst und Philosophie, des lai^isierten Ethos und des politischen Denkens. Über diesen eigenartigen Umweg kann der Mythos nicht nur zum Stoff der Mythologien, zum Ausgangspunkt ihrer theologischen Deutung werden, sondern auch zum AUttel des wissenschaftlichen, künstlerischen und philosophischen Studiums der Verhältnisse des Menschen. — So gesehen, ist der Mythos — eigenartiger Spiegel eines langen Abschnitts der Menschheitsgeschichte —, wenn er richtig interpretiert wird, eine wichtige Voraussetzung des Verständnisses der Geschichte und Bestandteil der Kultur auch in Zeiten, deren Weltbild, Philosophie, politisches Denkjen und Kunst nicht mehr auf Mythen beruhen, diese sogar einer Kritik unterziehen. Mehr noch: den widersprüchlichen, jedoch mächtigen und vielfältigen Einfluß der aus dem Schoß der Geschichte hervorgegangenen Mythen auf die Geschichte kann ganz eigentlich nur eine Historiographie verstehen, die bewußt eine dialektisch und materialistisch kritische Methode wahrnimmt, weil sie in den Mythen keine ewigwaltenden Vorbilder erblickt, sondern selbst hinter ihren anthropomorphen, glaubensähnlichen Formen die Siege und Niederlagen des Menschen im Kampf um die eigene Mündigkeit erkennt und aus ihnen Schlüsse zu ziehen vermag. Das Zustandekommen des adäquaten historischen Bewußtseins verläuft also nicht automatisch parallel mit der Verdrängung des mythischen Zeitbegriffs. Der Marxismus ist, aus seinem Wesen folgend, bemüht, jene Formen der Entfremdung und Verdinglichung theoretisch aufzudecken und praktisch zu überwinden, welche das Ursprungsgebiet der das Verständnis der Geschichte behindernden Mythen darstellen. Man muß sich jedoch im klaren sein: die Lösung dieses Problems erfolgt nicht durch einen Wink mit Prosperos Zauberstab. Die Weltanschauung des Marxismus hat einen zähen und langwierigen Kampf auszutragen gegen die Verzerrungen des theoretischen Spiegelbildes dieses Prozesses. Schließlich darf man das Vordringen des Marxismus 328
nicht als einen weltgeschichtlichen Kairos begreifen, wo die Theorie nur auf sich, auf die eigene Gegenwart als eine gewisse Erfüllung reflektiert, während Vergangenheit und Zukunft außerhalb ihres Gesichtskreises bleiben. Die Zeitlosigkeit des Mythos (oder der Mythos der Zeit) kann theoretisch nur dann transzendiert werden, wenn der Erkenntnisprozeß fähig ist, die Zeit der Geschichte in ihrer realen Qualität zu fassen. Das ist jedoch leichter zu fordern als zu verwirklichen. Nicht zuletzt, weil es sozialpsychologisch praktisch unumgänglich ist, daß das Bewußtsein der Menschen in Zeiten der Revolutionierung einerseits zu utopistischer Übertreibung der sich offenbarenden Möglichkeiten neigt. Andererseits, weil angehäufte Schwierigkeiten teilweise Beschränkung der Perspektiven mit sich bringen, wobei man sich auf das momentan Gegegebene konzentriert und darin Befriedigung findet. Diese Tatsache muß die sozialistische Politik ebenso berücksichtigen wie die wissenschaftliche Theorie. Ihre gemeinsame Verantwortung besteht nicht zuletzt eben darin, daß sie, in Kenntnis der Träume, die Aufmerksamkeit auf die realen Bedingungen ihrer Verwirklichung lenken. Nicht minder aber auch darin, in Kenntnis dieser oft recht massiven Bedingungen unverändert empfindlich und offen zu bleiben für die Zukunft, die im Schoß der Gegenwart heranreift. Eine Wissenschaft, die bereit wäre, den Schatz aus der Welt zu schaffen, der selbst nach Pandoras leichtfertiger Preisgabe des menschlichen Glücks als Restbestand in der Büchse zurückgeblieben ist, die die Elpis, das Sternenlicht der Hoffnung, aus den Augen verliert, ist keine Wissenschaft. Sie ist keine echte Wissenschaft, weil sie meint, die auf verschlungenen Wegen voranschreitende Geschichte aus dieser zukunftsschwangeren Welt ausklammern zu können. Dabei hat sie auf die Mythisierung der Zukunft nur diese Antwort parat: den moralisierenden Mythos einer „verunmittelbaren" Gegenwart oder den einer der Gegenwart aufgepfropf329
ten moralisierenden Vergangenheit. Ebensowenig hat sich von der Welt des Mythos abgewendet, wer diese Zukunft nicht als auszutragende Aufgabe begreift, sondern sie, als bereits Daseiendes, mit der Gegenwart konfrontiert — anstatt im Gewebe jener Beziehungen nach den Voraussetzungen ihrer Durchsetzung zu forschen; nach den Voraussetzungen, die die tatsächlichen, nicht nur herbeigesehnten, herbeigewünschten Inhalte der historischen Zeit sind. Die effektive Entmythologisierung des historischen Bewußtseins hängt überwiegend davon ab, ob es gelingt, unser Schiff mit Hilfe des Kompasses der wissenschaftlichen Theorie zwischen Skylla und Charybdis des fatalen Zufalls und des fatalen Schicksals zu lenken; ob wir bereit sind, auch die Funktion der Maieuke, die Geburtshilfe auf uns zu nehmen, wenn es gilt, eine menschlichere Zukunft in die Welt zu setzen.
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HERMANN HENSELMANN
(Berlin)
Baukunst und Weltanschauung Als mit dem entschiedenen Gebrauch der Vernunft wissenschaftliche Erkenntnisse auf die Produktion materieller Güter angewandt wurden, entstand die Industrie. Ein geradezu ungeheurer Produktionsüberschuß war und ist die Folge. Ebenso wuchsen die Erdbevölkerung und die durchschnittliche Lebenserwartung. Das erzeugt Widersprüche. Ihre Überwindung fordert einen anderen Modus für die Verteilung dieser Überschüsse und die soziale Organisation des Zusammenlebens der Menschen und Völker. Das ist der eigentliche Kern der politischen Kämpfe unserer Epoche. Folgerichtig wird eine qualitativ veränderte räumliche Umwelt das Ergebnis sein, innerhalb dessen, was Goethe die „vernunftbegabte Natur" nannte. Dieser revolutionäre Aspekt ist in seiner Bedeutung jenem Prozeß vergleichbar, in dem die ersten Städte entstanden. Sie wurden vor allem notwendig, weil die Dörfer trotz des fruchtbaren Bodens und der fünftausend Jahre alten Erfahrungen die wachsende Zahl ihrer Bewohner nicht ausreichend ernähren konnten. Die Leistungen der Stadt für die Entwicklung der Produktion und der menschlichen Kultur sind bekannt. In ihr und ihrem weiteren Umkreis arbeitete freiwillig oder gezwungen die Bevölkerung in einer 331
streng festgelegten Ordnung an der Erzeugung landwirtschaftlicher Produkte oder auch zunehmend handwerklich. Der erzielte Überschuß ermöglichte es, daß eine wachsende Gruppe der Stadtbewohner ernährt werden konnte, die nicht an der unmittelbaren Produktion beteiligt war. Es entstand die Schrift und damit die geschriebene Geschichte. Aus der Beobachtung des Himmels wurden die Kenntnisse der Astronomie erworben, in Zahlen und Zeichen befestigt und mit dem Fruchtbarkeitskult verbunden. Diese sinnliche Anschauung der Welt gebar eine Weltanschauung, die durch die Prägekraft der Kunst bildlich verdeutlicht oder symbolisch befestigt das bestehende Herrschaftssystem vergötterte und stützte. Über die Jahrtausende hinweg stieg die Kunst aus dem mythischen Dunkel der Opfersteine, Totempfähleund Höhlenmalereien hervor. Tiergötter wurden zu Menschenbildern in ihrer Besonderung. Sie waren himmlische — oder vielmehr irdische — Daseinsbestätigungen der gegenwärtigen Existenzform der Menschen und der Gesellschaft. So strahlen im Diadem der Baukunst am hellsten jene Werke, die Machtbewußtsein, Seinsvertrauen und Ewigkeitsanspruch ihrer Bauherren feierlich, kühn und überzeugend anschaulich machen: von den Zikkurats und Pyramiden des vorderen Orients und Ägyptens bis zu den Tempeln der Antike, den Stupas und Pagoden des Buddhismus und Hinduismus oder den Stufenpyramiden der Maya- und Toltekenkultur, den Kathedralen der Gotik, den Moscheen des Islam bis zu den Burgen, Palästen und Schlössern der Kaiser, der Könige und den hochgetürmten Zeichen der Macht von den Rathäusern der Hanse bis zu den Hochhäusern unserer Tage. Während die meisten Bewohner der Städte ihre in Jahrtausenden gewachsene räumliche Umwelt nur zögernd veränderten, wuchsen diese Werke, die zugleich auch glänzende Zeugnisse der Wagniswelt des schöpferischen Menschen 332
waren, in die Höhe und in die Breite. Ob in Lehm, wie am Beginn, in Werkstein, Mauerwerk, Holz oder im Stahl und Beton der Gegenwart. Alle diese Triumphgebilde beherrschen die Stadt oder die Landschaft. Doch die Baukunst hat im Vergleich mit allen anderen Künsten ihre Eigenart. Sie benötigt ein großes Kollektiv zur Verwirklichung und oft lange Zeiträume zur Vergegenständlichung ihrer Ideen. Sie dient immer der Huldigung und kann sich niemals kritisch geben. Ihre Schöpfer benötigen spezielle Informationen auf vielen Gebieten der Wissenschaft und Technik. Der wichtigste Inhalt der Baukunst bestand und besteht, wie Hegel ganz richtig formuliert, im „Zusammenhalt" 1 einer menschlichen Gemeinschaft. Weil das so ist, steht der Architekt notwendig auf dem Boden der Gesellschaft oder Weltanschauung, die ihm die Grundlage für seine gestaltende Vorstellung liefern. Denn Erkenntnissuche mit den Mitteln der Kunst ist in der Literatur, der bildenden Kunst und der Musik möglich — nicht aber in der Baukunst. Sie ist eine Demonstration vorhandener gemeinschaftsstiftender Ideen. Insofern ist Baukunst weltanschauliches Handeln. In Bert Brechts Gedicht „Fragen eines lesenden Arbeiters" heißt es:
„Wer baute das siebentorige Theben? In den Büchern stehen die Namen von Königen. Haben die Könige die Fclsbrockcn herbeigeschleppt? Und das mehrmals zerstörte Babylon — Wer baute es so viele Male auf? In welchen Häusern des goldstrahlenden Lima wohnten die Bauleute?" 2 1 G. W. F. Hegel, Ästhetik, Berlin 1955, S. 598. B. Brecht, Fragen eines lesenden Arbeiters, in: Gedichtc, Bd. 4, 2. Aufl., Berlin - Weimar 1978, S. 45.
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Das sind Gedanken eines A r beiters, der nach dem Ursprung der Ausbeutung fragt. Im Laufe der Jahrtausende veränderten sich die Formen der Ausbeutung und auch die Gestalt der Stadt. In dem goldstrahlenden Lima, wie der Dichter diese Stadt nennt, leben heute fünf Millionen Menschen. Ein Drittel von ihnen ist obdachlos und vegetiert in elenden Slums. Unter den übrigen gibt es nur wenige Reiche, und die wirklichen Zentren der Macht befinden sich gar nicht mehr in Perus Hauptstadt, sondern in den USA. Diese postkoloniale Form der Ausbeutung ist historisch überholt, und der Kampf gegen sie ist mit dem antiimperialistischen Kampf gegen die Unbehaustheit, den Hunger und das Analphabetentum verbunden. Natürlich haben die Könige oder sonstige Machthaber zu keiner Zeit „die Felsbrocken herbeigeschleppt". Weder für die 134 kolossalen, 23 Meter hohen Säulen des Tempels von Luksor in der Stadt Theben vor etwa dreieinhalbtausend Jahren, noch für die babylonische Prozessionsstraße mit dem Ischtartor tausend Jahre später regte sich eine Hand Pharaos oder Nebukadnezars. Gebaut haben das alles Bauleute. Doch wer erdachte diese Wunderwerke der Baukunst? Sie wurden von Menschen gestaltet, die wir landläufig Architekten nennen. Das sind nicht schlechthin Bauleute, die es verstehen, Gebäude zweckmäßig zu crrichten und ihnen eine ästhetische Form zu geben. Das liefe auf eine Mißachtung jener gewaltigen Leistung hinaus, die, wie man berechnete, allerdings nur etwa drei bis vier Prozent des gesamten Gebauten ausmacht und mit dem engeren Begriff der Baukunst bezeichnet wird. Sie dienert einem Gemeinwesen, das in der Stadt und durch die Stadt von der Kollektivpersönlichkeit ihrer Bewohner erlebt wird. Die Baukunst bildet durch ihre Werke den ideologischen Ausdruck einer ökonomischen und politischen Herrschaftsform. Das Heimatbild der Dörfer und kleinen Städte in allen Erdteilen und Kulturen wurde dagegen von einer Architektur geprägt, die gleichsam naturwüchsig ohne Archi-
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tekten entstand. Dieser Prozeß ist gleichzeitig eine faszinierende Darstellung der menschlichen Fähigkeit, den Reichtum des natürlichen Materials mit dem Reichtum an Gestaltungskraft für seine Behausung zu verbinden. Es bildeten sich die eigentümlichen Siedlungstypen heraus, ebenso wie die Haushaltsgegenstände und Trachten. So entstand das gebaute Selbstporträt der Völker auf dieser Erde. Die Hinund Rückwirkungen von Stadt und Land gehören zu dieser Entwicklung. Der Gegensatz zwischen der Volksarchitektur und jenen Gebäuden, die im wahrsten Sinne des Wortes den „Überbau" repräsentieren, bildet ein dialektisches Ganzes. Er ergibt die Eigentümlichkeit der Siedlungsfo'men und Städtebilder auch in unserer engeren Heimat. Ob im Mecklenburgischen oder im Thüringischen — die Dome, Schlösser, Burgen und Rathäuser in Verbindung mit den Marktplätzen, Zunftgassen, Stadttoren, Fachwerkhäusern oder schilfgedeckten Gehöften — sie alle prägen unser Heimatbild und sind Zeugnisse unserer Kultur. Sie entstanden aus der Eigentümlichkeit der Verhaltensweisen ihrer Bewohner im Wandel der Zeit. So sind sie es im Gewordenen und im Werdenden. Die Menschen der Gegenwart wollen beides erleben. Die Baukunst nun will jenen Enthusiasmus erzeugen, der auf die Anerkennung der gesamtgesellschaftlichen Ordnung gerichtet ist. J e spontaner das Ordnungsbild, dem die Kunstwerke einer bestimmten Epoche dienten, seinem Wesen nach war, desto strenger, unbedingter und festgefügter waren die Verhaltensnormen. Das drückte sich in den baukünstlerischen Mitteln ebenso wie in den gebräuchlichen Verkehrsformen aus. Sie alle hatten das bildhafte Denken zur Grundlage, und aus ihm entstand die Welt der Symbole. So war die Säule oft Sinnbild der Verbindung zwischen Himmel und Erde oder auch Symbol einer starken Gemeinschaft. Ihre Anwendung und ihre Form waren niemals willkürlich. Ob ägyptisch, dorisch, romanisch oder gotisch 335
— ihre Form war bis auf Einzelheiten streng gebunden. Jedoch wer sie gestaltete, wissen wir nicht. Die Treppe wiederum war Symbol seelischer und geistiger Entwicklung zu einer höheren Daseinsform, zum Beispiel in Schinkels Vorstellungen zur Kunst als dem Reich der Freiheit. So schuf er am Schauspielhaus am Platz der Akademie eine gewaltige Freitreppe als ein solches Zeichen, während der Eingang sich unter ihr befand. Auch die Stufenpyramiden in Ägypten, Babylon oder Mexiko sind Zeichen der „stufenweisen Entwicklung". Der Turm war immer Ausdruck der Macht oder des Übersteigens der Alltäglichkeit. Zu den sieben Weltwundern der Antike gehört der Turm von Pharos in Alexandria, zu Ehren des großen Alexander als Leuchtturm, Observatorium, Seewarte und Meridianstation errichtet. Er war hundertzwanzig Meter hoch und stand mehr als eintausendsechshundert Jahre. Von heute an zurückgerechnet, wäre das in unserer Zeit ein Turm, der während der Völkerwanderung gebaut wurde. Auch die gotischen Kathedralen sind Herrschaftssymbole. Die Ulmer, ihre Stadt hatte 12000 Einwohner, ließen sich von ihrem Dombaumeister Ensinger eine Kirche für 30000 Einwohner bauen. Sie vertrauten der Zukunft. Er baute ihnen einen Turm als Symbol einer Stadtkirche. Die Bischofskirche hat deren zwei. Als der berühmte Ensinger nach Straßburg geholt wurde, um das Münster zu vollenden, waren die Truppen der Ritterbünde von denen der Straßburger besiegt worden. Der Bischof wurde von der Bauleitung ausgeschlossen. Baukunst hin, Baukunst her — der eine Turm symbolisierte den Sieg der Bürger über die Hierarchie, der zweite blieb liegen. So sind die Werke der Baukunst die Darstellung der Geschichte und ihrer lebenserhöhenden Objektivierungen zugleich. Das Erstaunliche an diesen Werken der Vergangenheit ist die Sicherheit im Einsatz und der Anwendung rationaler 336
Mittel mit der Absicht, Emotionen zu erzeugen. Man wußte um die Wirkungen der Geometrie, der Zahlenverhältnisse und Proportionen auf die menschliche Wahrnehmungsund Empfindungsfähigkeit. Die erhellte Formgestaltung in der Morgendämmerung der europäischen Kultur, wie sie im sechsten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung in der Baukunst der Antike sichtbar wurde, ist undenkbar ohne die Philosophie der Antike. Kein Geringerer als Erwin Schrödinger, Nobelpreisträger für Physik, weist in seiner Schrift „Die Natur und die Griechen" darauf hin, „daß kaum einer der griechischen Philosophen dieser Zeit (der Vorsokratiker — H. H.) nicht auf irgendeinem praktischen Gebiet — sei es der Politik, des Handels, der Technik — ein Fachmann, als Denker aber im fruchtbarsten Sinne des Wortes ein Dilettant war. Die Philosophie war noch nicht, wie später bei den Sophisten, zur Schulweisheit oder gar Brotberuf geworden." 3 So führte der Umgang mit den räumlichen Körpern bis zu den geometrischen Gestalten der reinen Mathematik unmittelbar vom Tun zum Denken und Fühlen. Ludwig Curtius zitierte in diesem Zusammenhang Polyklet, neben Pheidias der berühmteste griechische Bildhauer des 5. Jahrhunderts: „Die Vollendung ergibt sich mit knapper Not aus vielen Zahlen" 4 — mit „knapper Not", damit die verstehende Erkenntnis und die fühlenden Sinne einander ergänzen. Doch die Gefühle, welche die Baukunst im Betrachter erzeugt, sind dem Wechsel derjenigen erkennenden Anschauung unterworfen, welche das geistige Fundament des Werkes bilden. Dieser Wechsel im Weltanschauungsbild ist sehr oft gleichzeitig Machtwechsel und ein Wandel der baukünstlerischen Form. Jedoch die blutigen Kämpfe um Macht und 3 4
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E . Schrödinger, Die Natur und die Griechen, Hamburg 1956, S. 130. L. Curtius, Die Antike, 2 Bände, 1928-37. Zur Architektonik
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Weltanschauung verblassen in der Erinnerung. Die Bauwerke, die einst das Gefühl der Demut erzeugten, erfüllen die Nachgeborenen häufig mit Wehmut. Daß Gotik einst ein verächtlich-herabsetzender Begriff war und Barock eine spöttische Bezeichnung für Absonderliches, ist uns nicht mehr gegenwärtig. Ja, daß die Neogotik, der Kitsch des 19. Jahrhunderts — bekämpft von den Künstlern des aufsteigenden 20. Jahrhunderts —, am Ende dieses Zeitraumes zum Objekt der Denkmalpflege wird, erinnert an das „Grinsen der Weisen", um diesen Ausdruck von Arno Schmidt zu gebrauchen. Jenem Grinsen, das dem künstlerischen Dasein im Spätkapitalismus gilt, welches in einem „lebenslänglichen Hakenschlagen . . . vor der Gefahr des Gefressenwerdens" 5 besteht. Das ist nirgendwo deutlicher ablesbar als in der Architektur und in der Baukunst. Aus Schlössern wurden Museen oder Hotels, Burgen werden als attraktive Gaststätten mit Fernblick genutzt, Kathedralen, Moscheen und Pagoden werden zu Schaustücken für ungläubige Touristen, die pittoresken Raumgebilde in der Ägäis, auf den Bahamas oder in der Südsee werden als archäologische Auffrischungen kulinarisch genossen. Kurz — es erfolgt Schritt um Schritt eine Trennung der Kunstwerke von ihrem gesellschaftlichen Bezug und ihrer liturgischen Bindung. Dagegen wäre nichts zu sagen, wenn Neues entsteht, im Sinne des „hell aus dem dunklen Vergangnen leuchtet die Zukunft hervor". Jedoch statt dessen wurden Verwaltungsgebäude von Konzernen und Banken zu gläsernen Kathedralen hinaufstilisiert. Die Gebäude der Versicherungen versprechen durch ihren perfektionierten Glanz, daß sie gegen den Tod, das Leben und sonstige Unfälle schützen. Baukunst dient der Reklame. Die Architekten 5
A. Schmidt, „Fünfzehn". Vom Wunderkind der Sinnlosigkeit, in: A. Schmidt, Vom Grinsen der Weisen. Ausgewählte Funkessays, Leipzig — Weimar 1982, S. 156.
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sind in der schwierigen Lage, zu WeiiSwäschern ihrer Auftraggeber zu werden und den „sozialen Katastrophencharakter des kapitalistischen Systems", wie Thomas Mann es im „Zauberberg" bezeichnet, durch ästhetische Gourmanderie zu überdecken. Es wäre nicht schwer nachzuweisen, daß die großen Baukünstler der Vergangenheit durchaus nicht vollkommen in das Macht- und Weltanschauungsgefüge integriert waren, das sie mit ihren Werken repräsentieren. Etwa Leonardo da Vinci oder Michelangelo verbargen ihre Reserven gegenüber den Auftraggebern ihrer Zeit sehr bewußt. Die Zeit der Medicis, die sowohl Bankiers als auch große Mäzene der Künste hervorbrachte, war durch die denkbar größten Widersprüche zerrissen. Die Baukünstler vermochten trotzdem, dem Heilsversprechen der Mächtigen durch ihre Suggestivkraft zur „Glaubenswürdigkeit" zu verhelfen. Nur Talente geben sich hinsichtlich ihrer künstlerischen Mittel prinzipiell, das Genie ist hierin im Blick auf den Drang seiner künstlerischen Selbstbcstätigung anpassungsfähig. Das religiöse Weltanschauungsbild reichte bei aller Verd ü n n u n g der Glaubensintensität mit Hilfe der Gegenreformation und sonstiger missionarischer Anstrengungen noch eine ganze Weile aus, um der Baukunst eine Art Plattform zu schaffen. Aber dann mußte sie der Zweckrationalität der Bourgeoisie das Feld überlassen. Auch das wäre für die Baukunst noch kein Unglück, wenn die Wirksamkeit des Imperialismus nicht so offensichtlich das in sich einschlösse, was einen in seiner Wortwahl so prägnanten Dichter wie Thomas Mann veranlaßt, ihr das Wort „Katastrophe" zu dedizieren. In der Geschichte der Künste gibt es zahlreiche Beispiele, wo sie eine Vorwarnfunktion innerhalb einer überholten Gesellschaftsstruktur ausübten. Im modernen Europa haben sie eine großartige Tradition und Aktualität von der Aufklärung bis heute. Doch die Baukunst besitzt diese Funktion 22'
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nicht. Wenn ihr der Nährboden entzogen ist, muß sie verkümmern. In seiner „Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie" schreibt Karl Marx einen Kernsatz des historischen Materialismus nieder: „Die Revolutionen bedürfen nämlich eines passiven Elementes, einer materiellen Grundlage. Die Theorie wird in einem Volke immer nur so weit verwirklicht, als sie die Verwirklichung seiner Bedürfnisse ist. . . . Es genügt nicht, daß der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muß sich selbst zum Gedanken drängen." 0 Die Grundbedürfnisse der Völker dieser Erde bestehen im Essen und Trinken und im Wohnen. Damit diese Existenzbedürfnisse erfüllt werden können, müssen und wollen die Menschen arbeiten. Die Katastrophe imperialistischer Machtstruktur besteht darin, daß gegenwärtig in jedem Jahr 55 Millionen Menschen an Hunger sterben und etwa 750 bis 800 Millionen unbehaust sind. Die Zahl von etwa fünf Milliarden Erdbewohnern soll sich nach übereinstimmenden Berechnungen der Demografen in 60 bis 70 Jahren auf zwölf Milliarden erhöht haben, von denen etwa nur 15 Prozent Nordamerikaner und Europäer — ohne die Sowjetunion — sein werden. Wieviel Millionen werden dann verhungern? Gegenüber diesen Zahlen stehen Milliarden von Rüstungskosten und die Drosselung der Lebensmittelproduktion. Diese Fakten können nicht mit dunkler Schicksalergebenheit hingenommen werden oder durch die uns wohlbekannte Übertünchung des Problematischen als Randerscheinung einer heilen Welt oder gar als Machenschaft der „Welt des Bösen" dargestellt werden. Diese Katastrophe ist hausgemacht in den Chefetagen der Banken und Konzerne, die Milliarden am Rüstungsgeschäft verdienen oder als Kredithaie in den Ländern auftauchen, in denen am meisten gehungert wird. 6
K. Marx, Zur Kritik der Hcgclschen M E W , Bd. 1, Berlin 1957, S. 386.
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Rechtsphilosophie, Einleitung, in:
Doch bekanntlich lebt der Mensch nicht vom Brot allein. Er sucht das, was Hegel den Zusammenhalt einer menschlichen Gemeinschaft nannte. Sie ist auch die Grundlage der Baukunst. Seit der industriellen Revolution im Verein mit der Französischen Revolution sind hervorragende Architekten auf der Suche nach den Flügeln einer Weltanschauung, die ihrem Gestaltungswillen die notwendige Schwingenbreite schaffen kann. Das ist nicht nur ein Bedürfnis der Kunst — im Sinne des „Verbiete Du dem Seidenwurm zu spinnen" —, sondern ein elementares psychisches Bedürfnis der Individuen nach Identifikation mit dem Großen und Ganzen. Dieser Trieb ließ die Menschen schon in der grauen Vorzeit Steine schleppen und Totempfähle schnitzen. Der Spätkapitalismus gibt sich gern pluralistisch, „womit man das Antagonistische pulverisiert" 7 , wie Ernst Bloch es definiert — doch gerade das entzieht der Baukunst ihre Wirksamkeit. In diesem Dilemma begeben sich viele Architekten des Spätkapitalismus auf die Suche nach einem Philosophen oder philosophieren sich die geistigen Fundamente ihrer künstlerischen Konzeption selbst zurecht. Diese finden sich dann in den Erläuterungsberichten zu ihren Entwürfen. Diese Tendenz wird besonders nach dem zweiten Weltkrieg deutlich. Dieser ist als weltgeschichtliches Ereignis unter anderem dadurch charakterisiert, daß es die erste kriegerische Auseinandersetzung der Menschheit ist, in der Städte aus der Luft massenhaft zerstört, schutzlos geworden sind, und die Kosten für die Angriffswaffen die der angerichteten Zerstörung weit übersteigen. Die Zerstörung von Städten ist vom System des Imperialismus gesehen profitabler geworden als ihr Aufbau. Es ist in diesem Zusammenhang vielleicht nützlich, Nicoiao Merkers Anregung zu folgen und Antonio Gramscis Hinweis stärker zu beachten, nämlich: „. . . 'die Aufmerksamkeit auf die anderen Seiten der Gc7
E . Bloch, Über bildende Kunst im Maschinenzcitalter, München 1965, S. 81.
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schichte der Philosophie zu lenken', das heißt, 'auf die Weltanschauungen der großen Massen, auf die der engeren Führungs- (oder Intelligenz-)Gruppen und schließlich auf die Verbindung zwischen diesen verschiedenen kulturellen Komplexen und der Philosophie der Philosophen'." 8 Viele der hervorragenden und leidenschaftlich von ihrer künstlerischen Sendung erfüllten bürgerlichen Architekten der Gegenwart zimmern sich einen pseudoideologischen Überbau aus einzelnen Aussagen von zeitgenössischen Philosophen zusammen, wobei v o n deutschen Architekten Jaspers, Heidegger und auch Ortega y Gasset bevorzugt werden. Einige schaffen sich ein verquastes Gedankengebäude wie Hans Scharoun, der erste Stadtbaurat Berlins nach 1945. Ihn beschäftigte die Struktur der Stadt und ihr Strukturwandel im Laufe der Geschichte. Er geht v o n einem vorgegebenen göttlichen dreistufigen genetischen Prozeß aus. Die Gegenwart ist dadurch charakterisiert, daß der „Heilsplan" durch einen vollständigen Wandel abgelöst wird, in dem sich die Struktur der Stadt ebenfalls ändert. E s ist die dritte Stufe dieses Plans, in welchem die künstlerische E m p findung als Teil eines organhaften Seinsvertrauens dominiert. An diesem trinitarischen Schema ist interessant, daß es in den acht Jahrhunderten seit Joachim von Fiore — immer wieder variiert — kontinuierlich auftritt. Lessing zitiert es positiv in seinem Buch über „ D i e Erziehung des Menschengeschlechts" und auch Saint-Simon greift es in diesem Sinne auf, während die deutschen Faschisten es durch ihr Reich" völligD diskreditierten. Hans Scharoun »„Drittes nun faszinierte die Finalität an diesem Gedanken. Baukunst braucht Ziel und Dauer. Er glaubte daran, durch Baukunst das Ich des Menschen erziehen zu können, bis es zum Wir 8
Zitiert nach: N . Mcrkcr, An den Ursprüngen der deutschen Ideologie, Berlin 1984. S. VIII.
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reifen würde. So wurde er ein Prophet der „Individuierung", wie er es nannte, und zum Vorbild einer ganzen Anzahl von Talenten. Sie waren wenigstens begabt genug, den rechten Winkel als „Aspekt des autonomen Denkprinzips" abzulehnen. Doch Gedachtes hin, Gedachtes her — Scharoun war ein bedeutender und anregender Baukünstler, der in seinem humanitären Verhalten als „Sozialist des Herzens" nach der Erfüllung auch der psychischen Grundbedürfnisse strebte. Jedoch seine Version des Rückzugs aus dem gesamtgesellschaftlichen Wirken im Interesse der unbeeinflußten Persönlichkeitsentwicklung erhielt den Beifall der gestelzt Anspruchsvollen, die durch eine spezifische Art der Anspruchslosigkeit charakterisiert und auf Nachahmung aus sind. Im materiell und geistig verwüsteten Deutschland gewann diese Haltung eine rückschlägige Funktion. Gefährlich für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung ist weniger die individualistische Diaspora, in die sich ein Architekt flüchtet, als jene arrivistische Korruption, die alte Fiktionen von der freien Meinungsäußerung bis zum freien Warenaustausch in einer freien Welt wieder zum Blühen bringen will. Es mehren sich Entwürfe und Bauten, die in einer Mischung von Vergangenheitsbeschwörung und Galarepräsentation versuchen, den Betrachter (weniger den Benutzer) mit der fragwürdigen Gegenwart zu versöhnen. Die Spitze hält gegenwärtig ein Entwurf für den Generalplan von Washington zur Zweihundertjahrfeier der Stadt. Der Verfasser, ein bekannter und begabter Architekt aus Luxemburg, begründet seinen Entwurf so: „Zu allen Zeiten sind die Blicke der ganzen Nation auf Washington gerichtet — eine Stadt, die nicht nur das symbolische Zentrum der Demokratie und den Sitz der Regierung verkörpert, sondern meiner festen Überzeugung nach auch zum Prüfstein und Maßstab für die Wiederbelebung von städtischem Leben und Stadtkultur, von einfacher Eleganz und eleganter Einfachheit werden kann und wird. Was für uns Venedig ist, wird Washington
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für die nächste Generation sein: das Musterbeispiel einer Stadt, die gleichzeitig Herz und Verstand, Kunst und Industrie verkörpert. Das ist Amerika sich selbst und der Welt schuldig." 9 Es wird allen Ernstes eine Art Venedig mit Gondeln und Palästen mit florentinischen Statuen usw. vorgeschlagen. Die „Blicke der Welt" — übrigens auf Berlin bezogen die Lieblingsfloskel eines gewissen Hitler — waren ein Jahrtausend lang auf die schöne Stadt Venedig gerichtet, aber auch nach ihrem äußeren Niedergang gehört sie bis auf den heutigen T a g zu den edelsten Schöpfungen der Künste. Es gibt nicht viele unter den begabten Architekten, die ihre Phantasie so melken, um das Medusenhaupt des Imperialismus kosmetisch zu bearbeiten. Die meisten nehmen die Partnerschaft der Macht in Kauf und gestalten ein Gebäude so gut wie möglich, weil sie leben wollen. So baute Mies van der Rohe das bewunderte Seagram-Haus in New York als Reklame für eine Whisky-Sorte. Man sollte aber auch nicht übersehen, daß es überall in der Welt Leistungen gibt, die knospenhaft das ankündigen, was als Baukunst im Entstehen ist. Es sind Werke, die sich mit einem humanistischen Ethos verbinden. Dazu gehören, um nur einige zu nennen, die Schöpfungen von Frank Lloyd Wright in den USA, der von der Walt Whitmanschen Vision einer von der Kolonialherrschaft befreiten Demokratie ausgeht, bis zu Kenzo Tanges schönen Olympiabauten in Tokio. Es gibt auch unter Mies van der Rohes baumeisterlichen Leistungen, vom Denkmal für Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg über den Pavillon in Barcelona bis zu seinem Museum in Berlin (West), solche von bedeutendem künstlerischem Impetus, ebenso Oscar Niemeyers blühende von lateinamerikanischer Phantasie erfüllten Raumgebilde oder von islamischen Vorstellungen und Traditionen ab9
L. Krier, Die Vollendung von Washington, in: Bertelsmann-Fachzeitschriften, Heft 7/8 - 1 9 8 6 .
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geleitete Gestaltungen von faszinierender Plastizität bis zu den skandinavisch kühleren Meisterwerken Asplunds, Aaltos und Arne Jakobsens. Daß es ebenso großartige Leistungen gibt, die im Lichte des Sozialismus entstehen, ist selbstverständlich. In jenem strengen Sinne, in dem der Begriff der Baukunst hier auf ein Bauwerk oder ein Besiedlungsgebiet angewandt wird, das dem Zusammenhalt einer menschlichen Gemeinschaft dient, muß das städtebauliche und architektonische Geschehen in der Sowjetunion und allen anderen Ländern, deren gesellschaftliche Organisation sozialistisch ist, einen veränderten Stellenwert erhalten. Verknappt ausgedrückt: Alles Bauen dieser Länder dient der Herausbildung einer menschlichen Gemeinschaft im Streben zum Kommunismus. Das setzt selbstverständlich voraus, daß alle Barrieren, welche diese Gemeinschaftsbildung und die der sozialistischen Persönlichkeit behindern, beseitigt werden. Doch dieser neue Spielraum des gesellschaftlichen Lebens in der räumlichen Umwelt benötigt nicht nur revolutionäre Ungeduld, sondern auch historische Geduld. In diesem aufregenden Zwischenraum desVorausdenkensund Nachdenkens zugleich ist der Architekt angesiedelt. Er hilft vor allem durch seine Entwürfe Bedürfnisse der Menschen zu erfüllen. Im Sozialismus geht es allerdings um die Grundbedürfnisse von Millionen und nicht von Millionären. Zu diesen Grundbedürfnissen gehört am Beginn einer Revolution nicht die Baukunst. Gebäude wurden zwar zum Symbol der Ausbeutung und deshalb erstürmt, zerstört oder auch abgerissen, doch niemals aus künstlerischen Gründen. Immer wurden sie als Zeichen der Gewalt und Unterdrückung getilgt oder in Besitz genommep. Allerdings wurden viele von ihnen als kostbare Dokumente der Schöpferkraft der Völker und Bestandteile der gewachsenen Stadtgestalt erhalten, aus Trümmern wiederhergestellt und anderen Zwecken zugeführt. 345
Es ist und bleibt das einmalige historische Verdienst der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, daß sie die Werke der Architektur von dem bisherigen Zwang befreit, ein Zeugnis der menschlichen Kultur und der Unmenschlichkeit zugleich zu sein. Das zeigt sich in den städtebauräumlichen Gliederungen ebenso wie in den Funktionen der überragenden Bauwerke — ob es nun Kulturhäuser, Bildungseinrichtungen oder Denkmale sind. In allen sozialistischen Ländern zeigt sich, daß hier im Gegensatz zur Welt des Imperialismus die Slums nicht zum ständigen bedrückenden Erscheinungsbild gehören. Ebenso bilden nicht die „Kathedralen" der Finanzoligarchie die Stadtkrone wie in Manhattan oder Frankfurt am Main. Es ist nicht schwer — ebenso wie in allen übrigen Ländern —, Herausragendes zu benennen gegenüber dem, was massenhaft entsteht. Auch im Vergleich zwischen Berlin als Hauptstadt der D D R und Berlin (West), das gewissermaßen ein Gegenmodell im Vergleich zu einem Leben unter sozialistischen Bedingungen anbietet. Es ist auch nicht schwer, Negatives zu sehen. Man kann hüben wie drüben Bauten betrachten und sie mit Geschichtsmüll bekleckert oder andersherum als Technokitsch empfinden. Entscheidend ist nicht zuerst das ästhetische Bild, sondern das Beziehungsgeflecht in den Begegnungsräumen einer Stadt. Wo gruppieren sich die Hochhäuser von Banken und die Museen in Berlin (West)? Und wo auf unserer Seite? Wer wohnt am Kurfürstendamm und wer in der Rathausstraße? Wieviel Miete müssen ihre Bewohner an einem solchen hervorragenden Standort bezahlen? Über die Architektur der Gebäude kann und soll man noch lange streiten. Aber natürlich soll auch die alltägliche Umwelt des Geschmacks, das, was „Design" genannt wird, zu ihrem Recht kommen. Unsere Gebrauchsgegenstände und sonstigen Bedürfnisse der räumlichen Umwelt sind jenem Prinzip unterworfen, wonach — wie es bekanntlich Karl Marx ausdrückt — der Mensch 346
nach den Gesetzen der Schönheit formiert. Diese Gesetze sind im Zeitalter der industriellen Massenproduktion andere als in den vorangegangenen Epochen. Sie sind den Konsumtionstrends der spätbürgerlichen Verbraucher unterworfen. An diesem Wettbewerb der Formgestaltung sind viele Architekten beteiligt. In dieser Welt des Handels und Wandels ist naturgemäß von „Ewigkeit" und „Dauer" keine Rede. Für das baukünstlerische Schaffen dagegen reichen befähigte Architekten allein nicht aus. Es fehlt der „Zusammenhalt einer menschlichen Gemeinschaft" auf der Grundlage einer Weltanschauung, die der Daseinsform der Individuen in der Entfaltung ihrer Fähigkeiten und Anlagen Sinn und Ziel gewährleistet. Dieser historisch notwendige Zusammenhalt muß in einer Zusammenschau der wissenschaftlichen Erkenntnisse und der Bedürfnisse der Gesellschaft der Menschen auf diesem Planeten bestehen. Wenn eine Klasse zur Produktion von Geschichte nicht mehr fähig ist, tut sie das, was alle Klassen getan haben, sie nennt den herrschenden Zustand endgültig. Jedoch unsere Weltanschauung muß notwendigerweise einer Welt der Prozesse gehören. Die Ewigkeitsvorstellungen der Menschheit, denen sie sich seit Jahrtausenden zuwandte, haben sich von Galilei zu Newton und von Newton zu Einstein verändert. Wir leben in einem nichtstationären Universum, das ebenfalls dem Prozeß des Werdens und Vergehens unterworfen ist. Die Astrophysik spricht von einer roten Sonne, die in eine weiße übergeht, um dann zu enden. Das ist nicht sehr erheiternd, obwohl es wohl noch einige Milliarden Jahre dauern wird, bis es auf unserem Sternchen wirklich zu unwirtlich zugeht. Dieses veränderte kosmische Weltgefühl hatte bereits während der Aufklärung viele Menschen ergriffen. Es mobilisierte die denkende Menschheit, um mit den Kräften der Vernunft ihr Dasein sicherer als bisher zu begründen. Unter diesem Einfluß entstand die „Architecturc parlant" der Fran347
zösischen Revolution. Boulées begeisterndes Projekt zu einem Kenotaph für Isaac Newton aus dem Jahre 1784 annonciert trotz der damaligen technischen Unausführbarkeit der großen Kugel — Symbol einer von der Vernunft beherrschten und menschlich geordneten Welt — in seiner dramatischen Wucht den Beginn einer neuen Epoche. Das gilt bereits für den Entwurf, den Ledoux für die Industriestadt Chaux schuf. Er wurde 1775 teilweise verwirklicht. Es ging um eine veränderte räumliche Umwelt für die vom Zunftzwang befreiten „glücklichen" Arbeiter. Das sind nur zwei Beispiele. Diese Gestaltungen beeinflußten nicht nur Utopisten wie Fourier und Owen, sondern auch formal die Architekten Europas — in Preußen waren es vor allem Gilly und Schinkel, dessen berühmte Rotunde im Alten Museum von diesem Geist beeinflußt ist —, ebenso wie die Gartenbaukunst durch die Gedankenwelt Rousseaus beeinflußt wurde. Als die moderne bürgerliche Gesellschaft konstituiert war und „ihre wirklichen Heerführer . . . hinter dem Kontortisch" 10 saßen, war natürlich auch die Stunde dieses Aufschwungs vorüber. Damit verlor das Dreigestirn des Fortschritts — Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit — mehr und mehr seinen Glanz. Die Architekten, an eine festgefügte Weltanschauung gewöhnt und höchstens in bezug auf die Geschmeidigkeit ihrer Gesinnung beansprucht, begannen mit allen möglichen Anschauungen zu dilettieren. Die Schinkelgeneration hatte noch Beziehungen — auch persönlicher Art — zu Hegel, Fichte, Goethe, Schelling und den Humboldts. Aus dem Geist der Klassik und der Frühromantik entstanden ihre Werke. Schinkel selbst philosophiert 1810 in einem Erläuterungsbericht: „Bei der fortschreitenden Erweiterung der Wissenschaft und ihrer Anwendung auf die Kunst ergab sich, daß auch mit geringerem 10
K . Marx, Der achtzehnte Brumairc des Louis Bonaparte, in; M E W , 13d. 8, Berlin 1969, S. 116.
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Aufwand von Massen die selbe Festigkeit, Größe und Ausdehnung im Bauwerke erreicht werden könne. . . . Das, was früher nur mühsam durch die Masse, welche einen großen A u f w a n d materieller K r a f t erforderte, erreicht werden konnte, entstand jetzt freier durch die K r a f t des Geistes als des Herrschers über die Materie; und indem seine Herrschaft an den Werken sichtbar wurde, erhielten dieselben den hohen Reiz, welcher zu dem Bewußtsein eigener Freiheit führt und über das Irdische weghebt. Das ist das eigentliche Wesen der Schönheit. . . . Jedem Menschen wird es Pflicht, die neue Gestaltung zu finden, welche durch die Idee nach dem Vernunftgesetze erscheinen soll, und in diesem 'Soll' liegt das Grundgesetz der Vernunft für den handelnden Menschen." 1 1 Dreißig Jahre später — nachdem er Manchester und Birmingham besucht hatte, die sozialen Zustände dort schaudernd erlebte, unter dem Eindruck der Massenproduktion des Kitsches stand und die Talfahrt der menschlichen Kultur beobachtete — fürchtete Schinkel wohl, daß seine künstlerische Phantasie ihn zu Ikarusflügen verführt hatte. „ A u f einem losen Zettel, den man 1848 in seinem Nachlaß fand, steht der Satz: 'In neuester Zeit hat der Begriff Barbarei einen ganz anderen Charakter angenommen: es ist nicht mehr vollkommene Rohheit, Mangel an aller Sitte, Grausamkeit etc. darunter verstanden, sondern überfeine äußere Bildung, die keinen Grund und Boden hat, Geschmack nach der conventionellen Weise der Zeit ohne Spur von Genie, Entfernung jeder ursprünglichen naiven Gesinnung, raffinierte Umgehung aller Gesetze der Gesellschaft zu egoistischen Zwecken'." 12 Schinkels T o d war der Abschluß einer ganzen Epoche der bürgerlichen Baukunst. Alles andere, das dann folgte, war nur ein immer schwächer werdender Aufguß des Vorhergehenden. K. F. Schinkel, zitiert nach H. Henselmann, Karl Friedrich Schinkel. Eine Studie, Berlin 1951, S. 14/15. 12 Ebenda, S. 28.
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Ein Jahr später trifft Karl Marx zum ersten Male mit Friedrich Engels zusammen und fünf Jahre später erscheint die „Deutsche Ideologie". In dieser Arbeit finden sich bekanntlich bereits Gedanken über die Ablösung der naturwüchsigen Stadtstruktur unter dem Einfluß der industriellen Massenfertigung. Die richtig erkannte Veränderung in der Qualität des Zusammenlebens der Menschen hatte natürlich Folgen im Blick auf die Fähigkeit einer Gesellschaft, Baukunst zu erzeugen. Diese Fähigkeit wird immer als Indikator für die Stabilität einer Gesellschaftsstruktur benutzt, indem sie „ihre Zwecke heiligt", wie es die „Deutsche Ideologie" charakterisiert. 13 Das hatte die Bourgeoisie auch notwendig. Denn trotz unleugbarer Fortschritte, welche sie auf vielen Gebieten des Gewerbes, des Handels und des Verkehrs erzielte, erregten die Formen ihrer Ausbeutung bekanntlich nicht nur die Empörung der Ausgebeuteten, sondern auch Besorgnis unter der übrigen Bevölkerung. Gerade diese Unsicherheit war es, die die Bourgeoisie veranlaßte, ihre Triumphe „künstlerisch" darzustellen. Ihr Drang, im Bündnis mit der militärischen und kapitalistischen Oligarchie repräsentativ aufzutreten, erzeugte im 19. Jahrhundert eine Flut von kitschigen Denkmälern. Wie ein solches Denkmal auf Fremde wirkt, schildert der französische Dichter Alphonse Daudet mit hintersinnigem Witz bei der Besichtigung des Münchener Bavaria-Dcnkmals nach dem Kriege von 1870—71: „ . . . Ich hatte die Grille, ganz hinaufzusteigen und mich einen Augenblick in den K o p f des Kolosses, einen kleinen, runden, von zwei Fenstern, welche die Augen sind, erhellten Raum zu setzen . . das hatte mir genügt, um dich kennenzulernen, o große bombastische und pathetische Bavaria! Ich hatte deine Brust ohne Herz, deine dicken, schwammigen, muskellosen Sie13 Vgl. K . Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie, in: MEW, Bd. 3, Berlin 1963, S. 274.
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gerinnenarme, dein getriebenes Metallschwert gesehen und in deinem Hohlkopf die schwere Trunkenheit und den Stumpfsinn eines Biertrinkerhirns gespürt. . . . Und wenn man bedenkt, daß unsere Diplomaten, als wir uns in diesen unsinnigen Krieg von 1870 einließen, auf dich gebaut hatten. Ach, hätten sie sich auch der Mühe unterzogen, in der Bavaria hochzusteigen!" 1 4 Die gleiche rückschlägige Dauerwirkung hatte die Flut von Bahnhöfen, Postämtern, Rathäusern, Kasernen, Kirchen und Kaufhäusern (eines davon als Heidelberger Schloß in der Leipziger Straße zu Berlin). Natürlich gab es Ausnahmen. Besonders verheerend wirkte hierbei die Geisteshaltung des Historismus. Werner Krauss' Gedanke trifft den gefährlichen Sprengstoff, der im Kern des Historismus als Ansatz für die künstlerische Gestaltung enthalten ist: „Die 'Freiheit der schöpferischen Entwicklung' durchbricht den kontinuierlichen Gang des Geschehens und läßt die Geschichte aus ihrem Prozeßcharakter in unverbundene Elemente zerfallen." 15 Weil das so ist, wird Geschichte folglich zur äußeren Dekoration und nicht zum Erlebnis. Also wird ihre Darstellung zum Kitsch. In der Mitte des 19. Jahrhunderts begann die europäische Bourgeoisie nach dem Revolutionsjahr 1848 sowohl die vereinten Kräfte des Jahrhunderts zu demonstrieren, als auch ihre Konkurrenzkämpfe untereinander besser als bisher zu organisieren. Die französische Regierung hatte zuerst die Idee einer Weltausstellung für das Jahr 1851. Als das die Engländer erfuhren, spornten sie alle Kräfte an, um ihnen zuvorzukommen. Sie schafften es. Die Eröffnung am 1. Mai 1851, morgens um zehn Uhr, war eine Weltsensation. Die „Times" schrieb in ihrem Leitartikel, es sei „der erste Morgen seit der Schöpfung, an dem A. Daudet, Montagsgeschichten, Leipzig — Weimar 1981, S. 222. 15 Philosophisches Wörterbuch, Bd. 1, Leipzig 1974, S. 522.
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die Völker aus allen Teilen der Welt sich zu einem gemeinsamen Akt des Friedens, der Liebe und der Religion" 1 6 zusammenfanden. Marx und Engels dagegen machen den wahren Charakter dieser Unternehmung deutlich, wenn sie schreiben: „Diese Ausstellung wurde von der englischen Bourgeoisie bereits im Jahre 1849, als noch der ganze Kontinent von Revolution träumte, mit der bewundernswertesten Kaltblütigkeit ausgeschrieben. . . . Diese Ausstellung ist ein schlagender Beweis von der konzentrierten Gewalt, womit die moderne große Industrie überall die nationalen Schranken niederschlägt und die lokalen Besonderheiten in der Produktion, den gesellschaftlichen Verhältnissen, dem Charakter jedes einzelnen Volks mehr und mehr verwischt." 1 7 Dieses Ereignis wäre in seiner gezielten törichten Selbstüberschätzung der Hervorhebung nicht wert, wenn es nicht eine wirkliche Weltsensatiön auf dem Gebiete des Bauwesens gewesen wäre und sogar völlig veränderte baukünstlerische Mittel anschaulich gemacht hätte: das Ausstellungsgebäude selbst. Man nannte es den Kristallpalast. Er wurde im Herzen Londons im Hydepark errichtet und umgab in seinem gläsernen und lichtdurchflossenen Inneren sogar einige alte Ulmen. Im übrigen war es ein gewaltiger Warenbasar. Es wurde alles ausgestellt, was man beherrschte, einschließlich der Produkte und Menschen aus den Kolonien. Die Sensation für das Bauwesen bestand darin, daß zum ersten Mal ein riesiges Gebäude aus Eisen und Glas industriell vollständig aus genormten Teilen vorfabriziert und auf der Baustelle montiert wurde. Der Entwurf, die Fertigung und Montage erfolgten durch ein im Eisenbahnbau geübtes Unternehmen, das den Entwurf und Kostenvoranschlag ablieferte. Obwohl traditionsgemäß ein internationaler baukünstlerischer Wettbewerb ausgeschrieben war und 240 Architekten-Entwürfe 16
Zitiert nach: Ch. Friemert, Die gläserne Arche, Dresden 1984, S. 42.
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K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 7, Berlin 1960, S. 430 f.
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eingingen und sogar prämiert wurden, erhielt dieses Projekt den Zuschlag. Es hatte die geringsten Baukosten und die kürzeste Bauzeit. Sie betrug ein Dreivierteljahr von der Erteilung des Auftrages bis zu seiner Fertigstellung. Die ausführende Firma war die gleiche, die sonst Schienenwege, Brücken, Tunnel usf. für die Eisenbahnen baute. Der geistige Vater war Paxton, ein hochbegabter Gärtner von bedeutender Gestaltungskraft, ein Organisationsgenie und einflußreicher Aktionär der englischen Eisenbahn. Die baukünstlerische Sensation bestand in der Luftigkeit und Duftigkeit des Gebäudes. Es zeigte zum ersten Mal, welche Möglichkeiten die Industrie in ihrem Schöße trägt — auch die Möglichkeit, ihre wahren Absichten hinter Klarheit und offenbarer Durchsichtigkeit zu verschleiern. Der schöne Marxsche Gedanke, daß „die Geschichte der Industrie und das gewordne gegenständliche Dasein der Industrie das aufgeschlagne Buch der menschlichen Wesenskräfte"18 ist, verführt dazu, diesen 1. Mai des Jahres 1851 und seine Folgen zu bedenken. Unser Erstaunen besteht zunächst darin, daß sich seither in einem historisch so kurzen Zeitraum von etwa 130 Jahren so viel Umstürzendes ereignet hat. Die Stadt Theben bestand immerhin etwa 1500 Jahre fast unverändert, während das moderne London, Paris, Moskau und Berlin nicht mit ihrem Zustand in der Mitte des vorigen Jahrhunderts verglichen werden können. Hegel, den Manfred Buhr in seinem Aufsatz „Der Mut der Wahrheit" den letzten großen Denker der progressiven Bourgeoisie nennt 19 , sagte von dieser Epoche: „ Es ist übrigens nicht schwer zu sehen, daß unsere Zeit eine Zeit der Geburt und des Übergangs zu einer neuen Periode ist." 20 18
K. Marx, ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, in: MEW, Ergänzungsband, Teil 1, Berlin 1974, S. 542. »» Vgl. M. Buhr, Der Mut der Wahrheit, in: M. Buhr/J. D'Hondt/H. Klenner, Aktuelle Vernunft. Drei Studien zur Philosophie Hegels, Berlin 1985, S. 19. 2° G. W. F. Hegel, Werke in zwanzig Bänden, Frankfurt am Main 1969ff., Bd. 13, S. 18. 23
Z u r Architektonik
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In der Philosophie bestand also eine ähnliche Situation wie nach Schinkels Tod in der Baukunst. Der Heilsgedanke der „Times", nach welchem sich „die Völker aus allen Teilen der Welt im Frieden, der Liebe und der Religion zusammenfinden", verwirklichte sich im „Commonwealth", dessen Begründung Disraeli in seiner berühmt gewordenen „Kristallpalastrede" 1872 — als Rechtfertigung des Imperialismus und der kolonialen Expansion — gegeben hatte. Der Kristallpalast wurde zur Büchse der Pandora. Ganz anders verhält es sich auf dem Gebiete der Bautecbnik. Hier kündigten sich tatsächlich Tendenzen an, die das gesamte Bauwesen in seiner weiteren Entwicklung beeinflussen sollten. Dem Bauwerk mit ganz erheblich verminderten Bauzeiten, das mehr und mehr das computergestützte Projekt als Grundlage für die automatische Fertigung hat, gehört die Gegenwart. Das Gebäude des Kristallpalastes steht am Beginn dieser Entwicklung. Die Gestaltung des Bauwerkes löste, wie berichtet wird, einen regelrechten „Wahrnehmungsschock" aus. Eine solche Öffnung zwischen Innen und Außen im Klima der gemäßigten Zone und im Lande des „My home is my Castle" hatte es noch nie gegeben. Doch die Industrie machte es möglich. Die Menschen waren enthusiasmiert. Aber es gab auch Gegner. Unter ihnen waren auch Architekten. Das war zu erwarten, nachdem sie ausgeschaltet waren, weil ihre Entwürfe zu teuer und die angewandten technischen Mittel zu material- und lohnintensiv waren. Ihre Kritik basierte auf rein ästhetischen Vorstellungen von Stütze und Last, von Begrenzung von Innen- und Außenraum, von Kraft und Masse, also Ewigkeit und Dauer. Doch diese Ästhetik war zu konservativ und ein halbes Jahrhundert später überholt. Ernst zu nehmen ist die Warnung von Karl Marx, daß die moderne große Industrie die lokalen Besonderheiten — 354
also die kulturellen Eigenarten der Völker — niederschlägt und dem Warencharakter ihrer Produktion unterwirft. So entstand zunächst unter dem Einfluß John Ruskins eine Architekturbewegung mit sozialreformerischen und später unter William Morris' Führung Sozialrevolutionären Zielen, die deutlich von Marx' und Engels' Gedanken ausging. Lunacarskij schreibt 1914 über William Morris: „Ja, die Kunst William Morris' und seiner Freunde war groß. Und großartig war ihr Traum, ihre Strahlen in die Wohnungen der Armen und der werktätigen Menschen hineinzutragen. Der Traum brach ab. Sie schlafen in ihren Gräbern. . . . Doch ihre Hoffnung ist keine von denen, die vergänglich sind." 21 Marchlewski urteilt: „ E r wurde zum Begründer einer neuen Kunst, der Kunst der Zukunft . . ., der sozialistische Gedanke war ihr Vater." 2 2 Aus dieser Bewegung heraus gab es in ganz Europa — vor allem in England, Rußland, Deutschland, Frankreich, den nordischen Ländern — und den U S A Anhänger der modernen Architekturbewegung. Sie verfolgte sowohl soziale Ziele durch den Bau von Gartenstädten, Arbeitersiedlungen, Fabriken und Gebrauchsgegenständen wie künstlerische Ziele durch den Kampf gegen den Kitsch der Bourgeoisie. In Deutschland wurde das Bauhaus unter der Leitung von Walter Gropius, Hans Meyer und Ludwig Mies van der Rohe bekannt, aber auch Ernst May in Frankfurt am Main oder Bruno Taut und Martin Wagner in Berlin. In demselben Jahr, in dem Lunacarskij seine optimistische Prognose über die künstlerisch-wcltanschaulichen Ziele von Morris abgab, versammelten sich in Köln die Architekten der modernen Architekturbewegung. Sie zeigten ihre Werke, die tatsächlich jene neue Ästhetik anzeigten, 21
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A. W. Lunacarskij, William Morris in Paris, zitiert nach E . Goldzamt, William Morris, Dresden 1976, S. 17. J. Marchlewski, Sezession und Jugendstil, Dresden 1974, S. 8.
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die auf der industriellen Produktion und der maschinellen Er2eugung von Gebrauchsgütern beruhte. Sie hatten zu ihrem Kongreß auch zwei Philosophen eingeladen. Es waren Friedrich Naumann und Wilhelm Ostwald. Der erstere begründete philosophisch im Sinne des Imperialismus die friedliche Eroberung der Märkte durch „Made in Germany", der andere die in der Wissenschaft übliche kollektive Zusammenarbeit. Sie sollte der industriellen Erzeugung von Typen dienen. Der erstere erhielt Beifall, der zweite von vielen Opposition. Typische Produkte ja, typisierte dagegen nein. Das war 1914. Am Ende des Kongresses brach der erste Weltkrieg aus. Während dieses Krieges schrieb Lenin in der Schweiz „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus". Reizvoll ist die Vorstellung, jene Architekten hätten sich den Philosophen Lenin eingeladen. Doch diese Bauleute waren Realisten, die nach Auftraggebern Ausschau hielten. Wer kannte 1914 schon Lenin? Woher sollten sie wissen, daß er ein sehr einflußreicher Auftraggeber werden könnte? Im Jahre 1917 kannte ihn alle Welt. Die russische Revolution wirkte in diesem Jahrhundert der schnellen Veränderungen ebenso mobilisierend wie die Französische Revolution eineinviertel Jahrhundert zuvor. Auch jetzt vollzog sich unter den führenden Architekten eine Veränderung des Bewußtseins — besonders in der Zusammenschau von erstem Weltkrieg und Revolution. Moderner Architekt — im Sinne der entschiedenen Anwendung industrieller Produktivkräfte — und politisch linke Überzeugung bildeten eine Einheit. Denn Revolution hieß für den Architekten Formneuerung, Umweltveränderung. Jetzt erneuerte sich die Hoffnung, das zu erreichen, was die Baukunst so dringend braucht wie das Wasser zum Leben: den Zusammenhalt einer menschlichen Gemeinschaft. Als viele der Kommunistischen Partei nahestehende Künstler enthusiasmiert die Kulturrevolution feierten und 356
Majakovskij, der großartige Herold, im Blick auf die künftigen Hochhäuser jauchzend ausrief: „Wir wollen den Beton in den Himmel stoßen", meinte Lenin: Aber wozu denn, wir brauchen ihn doch auf der Erde. Er verstand unter Kulturrevolution den Kampf gegen die Kopflaus und das Analphabetentum. Diese Zurückhaltung übte er auch im Blick auf die Gestaltung der Städte. Viele Architekten träumten von Kommunehäusern und neuen Städten. Der Architekt Zoltovskij, einer der beratenden Architekten, schildert seine Zusammenarbeit mit Lenin: „Lenin sprach oft davon, daß man bei der Neugestaltung der Hauptstadt die alten Baudenkmäler und überhaupt alles Wertvolle schützen müsse, was die Schöpferkraft des russischen Volkes hervorgebracht habe . . . Zugleich warnte er vor der Gefahr, daß Spießbürgerlichkeit in unsere Kunst eindringen könnte . . . Eine der ersten Arbeiten zur Verwirklichung des von Lenin gebilligten Stadtbauplanes war die Einrichtung der Landwirtschaftsausstellung im Jahre 1923. Nach dem Projekt sollte sie an die Stelle eines Schuttabladeplatzes an der Moskwa treten. Heute liegt dort der Zentrale Gorki-Park für Kultur und Erholung. Die Parkanlagen der Ausstellung waren als Glied einer grünen Kette gedacht, die von den Sperlingsbergen bis zum Kreml reichen sollte . . . Seine Ratschläge waren von der Fürsorge für die Bedürfnisse der einfachen Menschen durchdrungen und halfen uns Architekten, viele Probleme zu lösen." 2 3 Den weiteren Verlauf kennen wir. Der Hitlcrfaschismus unterschrieb sein Todesurteil, als er die Sowjetunion angriff. Die sozialistische Sowjetunion schlug den Aggressor vernichtend und befreite Europa vom Faschismus. Das feierte sie durch den Kranz von Hochhäusern in Moskau als Beispiel einer kommunistischen Baukunst. Ach, diese ungezügelte Ungeduld der Revolutionäre gegenüber dem Wachsen 23 Z i t i e r t n a c h : D i e ersten Schritte, Berlin 1982, S . 85/86.
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und Werden der Kunst! Die Literatur, die bildende Kunst, die Musik und der Tanz können die Zukunft vorwegnehmen. Aber nicht die Baukunst. Sie lebt nicht von einer utopischen Heilserwartung. Sie braucht Geduld vor der Zeit. Wie schrieb Karl Marx in seiner glänzenden Arbeit „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte" zur gleichen Zeit, als der Kristallpalast in London eröffnet war? „Die früheren Revolutionen bedurften der weltgeschichtlichen Rückerinnerungen, um sich über ihren eigenen Inhalt zu betäuben. Die Revolution des neunzehnten Jahrhunderts muß die Toten ihre Toten begraben lassen, um bei ihrem eignen Inhalt anzukommen. Dort ging die Phrase über den Inhalt, hier geht der Inhalt über die Phrase hinaus." 2 4 Was aber ist dieser Inhalt? Die Erfüllung der Bedürfnisse des Wohnens, des Essens, der Kleidung und natürlich das Recht auf Arbeit. Sie sind nach der philosophischen Einsicht unserer Klassiker „die erste geschichtliche Tat". Dieses Ziel wurde in der DDR niemals aus dem Auge gelassen. Auch der Bau der heutigen Karl-Marx-Allee ist nur zu verstehen, wenn man sie als sozialpolitische Programmerklärung gegenüber der drohenden Wiederbewaffnung Westdeutschlands begreift. Es war nicht zuerst und vor allem eine baukünstlerische Demonstration, sondern ein gebauter Aufruf, sich dem friedlichen Aufbau und nicht der Vorbereitung eines neuen Krieges zuzuwenden. Das großartige Wohnungsbauprogramm mit allen seinen Einrichtungen zur Befriedigung materieller und psychischer Bedürfnisse spricht für sich. Die Leistungen sind natürlich sehr unterschiedlich. Am Wohnungsbau für die breiten Massen waren Architekten jahrtausendelang niemals beteiligt, er war Gegenstand der Volksarchitektur. Das begann erst zögernd vor einem Jahrhundert, und da wurde es zu Bestrebungen, auch dem Proletariat durch Minimierung zu erschwinglichen 24
K. Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, a. a. O., S. 117.
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Wohnungen zu verhelfen. Diesen aufopferungsvollen Bemühungen sind wir Dank und Ehre schuldig. Doch im Sozialismus geht es nicht mehr um kleine Wohnungen für das Proletariat, sondern um Wohnungen für die gesamte werktätige Bevölkerung. Die Größe der Wohnungen steigt mit dem wachsenden Nationaleinkommen. Das bedeutet, daß die Wohnungen des Jahres 1970 größer sind als die von 1930, aber kleiner als die von 1985. So entstehen Probleme. Es kommt hinzu, daß auch die großen Wohnungen oft zu klein werden, wenn die Waschmaschine, der Kühlschrank und der Fernsehapparat und zu große Möbelstücke untergebracht werden müssen. Wenn man den beeindruckenden Beitrag des Ministers für Kultur Hans Joachim Hoffmann liest, in welchem er die unbezweifelbaren künftigen Kulturbedürfnisse schildert, dann fragt man sich doch, ob es mit den 20 bis 30 Fernsehprogrammen und den Videokassetten noch enger und noch lauter wird in unseren Wohnungen. Das Fortschreiten von Fortschritten erzeugt weitere Widersprüche. 25 Baukunst in jenem herausragenden Sinne, wie er sich in der Weltkultur ausprägt, ist der Massenwohnungsbau nicht. Er ist jedoch Bestandteil der Volkskultur und die unbedingte Voraussetzung für Baukunst. Denn hier bildet sich im Zusammenleben das gemeinschaftliche Handeln und jene Lebensweise heraus, welche die Vorbedingung für den Kommunismus und eine kommende Baukunst ist. Als Architekturaufgabe jedoch ist es eine vom Gesellschaftssystem abhängige Lösung (im Blick auf die Unbehaustheit der Millionen) von weltgeschichtlicher Bedeutung. Bei aller modernen Technik, innerhalb aller Standardisierung lehrt uns die Erfahrung, daß die Bewohner unserer Städte und Gemeinden das Alte im Neuen wiederfinden 24
H. J. Hoffmann, Wissenschaftlich-technische Revolution und kulturelle Prozesse, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft 4/1986, S. 329ff.
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möchten und das Typische im Allgemeinen. Das bedeutet nicht die äußere Dekoration mit Geschichtsmüll, aber auch nicht die Monotonie der Aufzeilung von Fertigteilen. Es ist notwendig, in diesem Zusammenhang an die Klassiker der marxistischen Weltanschauung zu erinnern. Marx' Feststellung, daß „die moderne Industrie mit konzentrierter Gewalt die nationalen Schranken niederschlägt", darf nicht vergessen werden, und ebensowenig Lenins Hinweis, „die alten Baudenkmäler und alles Wertvolle zu schützen, was die Schöpferkraft des Volkes hervorgebracht" hat. Es ist ein Zeichen staatsmännischer Klugheit, daß diese Hinweise im Großen und Ganzen berücksichtigt werden, obwohl Deutschland 1945 eine riesige Trümmerstätte war. Daß beim Aufbau der alten Baudenkmäler, die ja nicht von den Kommunisten zerstört worden waren, ein qualitativer Unterschied gemacht wurde zwischen dem Schloß der Wettiner in Dresden und dem der Hohenzollern in Berlin (während Sanssouci zugleich pfleglich behandelt wird) hat natürlich nicht vorrangig ästhetische Gründe. Selbstverständlich gibt es systembedingte Unterschiede im Bauen in der BRD und in der DDR. Dort gibt es peinliche Manhattan-Demonstrationen — nicht ganz so hoch, nicht ganz so viel, nicht ganz so abbruchbereit nach zwanzigjähriger Nutzungsdauer wie in den USA — in Frankfurt am Main oder Berlin (West). Aber es wäre dogmatisch — also unmarxistisch —, nur das Negative zu sehen. Es gibt sehr schöne Fußgängerbereiche in den Zentren von München bis Hamburg, einige schöne Einzellösungen und denkmalpflegerische Leistungen, die Freude machen. Das Wesen einer Stadt äußert sich aber nicht nur und nicht vor allem in ihren baukünstlerischen Leistungen, sondern im Verhalten ihrer Bewohner. Dieses „gebaute Leben" wird in einer Stadt der sozialistischen Lebensweise dadurch charakterisiert, daß ihre Bewohner nicht mehr nur Zuschauer sind, sondern Zuschauer und Teilnehmer zugleich. Ihre 360
Straßenräume sind auch Spielräume ihres Lebens. Die klassenmäßige Aufteilung der Stadt ist verschwunden. Die Mietskasernen von früher sind zum gesellschaftlichen Eigentum und ihre Höfe Erholungsräume geworden. Grünanlagen mit ihrem Wachsen und Blühen bieten sich — um das Vierfache gegenüber der Vergangenheit vermehrt — in den Zentren der Städte an. Eben dort, wo früher die Grundstücksspekulation ihren Einfluß am stärksten ausprägte. Doch das Wichtigste ist die Arglosigkeit der Begegnung zwischen den Menschen und ihre Furchtlosigkeit im Blick auf die Zukunft. Die uralten Legenden der Bibel — entstanden zu den Zeiten Babylons und Ninives — berichten von dem Brudermörder Kain, daß er die erste Stadt gründete. Mord und Zerstörung verbanden sich im Gedächtnis der Menschen mit der Stadt. Diese Erfahrung zieht sich durch die gesamte Geschichte des Städtebaus bis in unsere unmittelbare Gegenwart. Am Ende des zweiten Jahrtausends unserer Zeitrechnung ist es zu einer Existenzfrage der Menschheit geworden, ob es gelingt, dieses Kainsmal von ihrer Stirn zu tilgen.
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HANS HEINZ HOLZ
(Groningen)
Was sind und was leisten metaphysische Modelle? I 1. Ihren traditionellen Rang als „prima philosophia", gar als „Königin der Wissenschaften" hat die Metaphysik heute verloren. Die Proklamation ihres Niedergangs kann man, auf den Tag genau, vor etwas mehr als zweihundert Jahren datieren, als Immanuel Kant in der Vorrede zur 1. Auflage der „Kritik der reinen Vernunft", deren Widmung am 29. März 1781 ausgefertigt ist, schrieb: „Es war eine Zeit, in welcher sie die Königin aller Wissenschaften genannt wurde, und wenn man den Willen für die Tat nimmt, so verdiente sie, wegen der vorzüglichen Wichtigkeit ihres Gegenstandes, allerdings diesen Ehrennamen. Jetzt bringt es der Modeton des Zeitalters so mit sich, ihr alle Verachtung zu beweisen, und die Matrone klagt, verstoßen und verlassen, wie Hecuba: modo maxima rerum, tot generis natisque potens — nune trahor exul inops — 'Ovid', Metam." 1 Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde dann von zwei Seiten, nämlich von einem positivistischen Wissenschaftsverständnis und von einer kritischen Dialektik her, die Möglichkeit 1
Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, 1. Auflage, Riga 1781, Vorrede.
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einer Metaphysik, „die als Wissenschaft wird auftreten können", rigoros bestritten. Metaphysik, einst der Ehrentitel grundlegender und höchster philosophischer Theorie, ist seitdem fast zu einem Schimpfwort geworden; ruhmreiche Verfahren des Denkens, wie sie in den klassischen Systemphilosophien als Deduktion und Konstruktion leitend geworden waren, sind dem Verdikt des totalen Ideologieverdachts verfallen. Dennoch wird auch von den eingefleischtesten Gegnern der Metaphysik, sofern sie nur überhaupt auf philosophische Fragen sich einlassen, nicht bestritten, daß die Gegenstände der Metaphysik nicht durch die Kritik ihrer bisherigen Bebandlungsrveise erledigt sind, sondern sich dem Denken mit Notwendigkeit aufdrängen und — werden sie unbehandelt liegen gelassen — in der schlechtesten Form weltanschaulicher Vorurteile zurückkehren. Auch daraufhat Kant schon mit Sarkasmus hingewiesen: „Es ist nämlich umsonst, Gleichgültigkeit in Ansehung solcher Nachforschungen erkünsteln zu wollen, deren Gegenstand der menschlichen Natur nicht gleichgültig sein kann. Auch fallen jene vorgeblichen Indifferentisten . . . in metaphysische Behauptungen unvermeidlich zurück, gegen die sie doch so viel Verachtung vorgaben" 2 . Kants Kritik der Metaphysik läuft darauf hinaus, zwar die Unvermeidlichkeit eines Welt-Entwurfs einsehbar zu machen, aber zugleich seine Inhalte als eine „Illusion . . ., die selbst auf subjektiven Grundsätzen beruht, sie aber als objektive unterschiebt" 3 zu entlarven. Die Konsequenz Kantscher Metaphysik-Kritik war jedoch die, daß mit der Objektivität metaphysischer Erkenntnis zugleich auch die Grundlage für objektive Erkenntnis überhaupt destruiert wurde. Hegel hat gegen Kant an der Objektivität des Gedankens festgehalten und darum auch in der „Wissenschaft 2 Ebd. 3 Ebd., 2. Auflage (B), Riga 1787, S. 354.
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der Logik" eine neue Form für die metaphysische Darstellung der Totalität der wirklichen Welt finden müssen: „Die Logik fällt daher mit der Metaphysik. 2usammen, die Wissenschaft der Dinge in Gedanken gefaßt, welche dafür galten, die Wesenheiten der Dinge auszudrücken" 1 . Gedanken bleiben als bestimmte Gedanken immer endliche und besondere und sind als Gedanken eines Denkenden, eines Ich, subjektiv und dem objektiv Wirklichen entgegengesetzt5. Darum gehört für Hegel zum spekulativen Überschreiten des Endlichen auf die Wahrheit (als das Ganze) hin die Reflexion auf die Stellungen des Gedankens zur Objektivität0. Hegels Kritik der Metaphysik ist die Kritik der Beschränktheit einer besonderen Stellung des Gedankens zur Objektivität, also eine Kritik der „metaphysischen Denkweise", nicht ihrer Probleme. Hegels entscheidender Einwand gegen die metaphysische Stellung des Gedankens zur Objektivität geht dahin, daß diese das Absolute, die Totalität oder die „wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existiert" 7 , in der intentio recta wie einen einzelnen Gegenstand glaube erfassen und abbilden (reproduzieren) zu können8, daß sie also „die bloße Verstandes-Ansicht der Vernunftgegenstände" 9 gebe. „Jene Metaphysik setzte überhaupt voraus, daß die Erkenntnis des Absoluten in der Weise geschehen könne, daß ihm Prädikate beigelegt werden"10. Damit werde sowohl die Unendlichkeit der Totalität als auch ihre Bewegtheit, ihre Geschichtlichkeit in der metaphysischen Darstellung nicht repräsen4
Georg
Wilhelm
Friedrich
Hegel,
Enzyklopädie
der
philosophischen
Wissenschaften, cd. Johannes Hoffmeister, Leipzig 1949, § 24. 5
Ebd., § 25.
6 Ebd., §§ 2 6 - 7 8 . 7
Hegel, Phänomenologie des Geistes, ed. Hoffmeister, Leipzig 1949, S. 12.
8
Hegel, Enzyklopädie, a. a. O., § 26.
» Ebd., § 27. *> Ebd., § 28.
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tiert, die metaphysischen Systeme blieben ihrem Gegenstand unangemessen und dogmatisch einseitig (weshalb auch eines das andere ablöste). 2. Zu der Erfahrung, die das Denken mit sich selbst macht, gehört aber eben dies, daß dabei dauernd die Grenzen der Erfahrung denkend überschritten werden müssen; soviel können wir gerade von dem unerbittlichen Kritiker der Metaphysik, Immanuel Kant, lernen: „Wenn eine Erkenntnis als bedingt angesehen wird, so ist die Vernunft genötigt, die Reihe der Bedingungen in aufsteigender Linie als vollendet und ihrer Totalität nach gegeben anzusehen . . . Wenn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die ganze Summe der Bedingungen, mithin das schlechthin Unbedingte gegeben, wodurch jenes allein möglich war" 1 1 . Hegels Aufstieg zur absoluten Idee in der Methode der Fortbestimmung des Begriffs nimmt von hier seinen Ausgang. Alles Wissen von Einzelnem und von endlichen Teilbereichen dieser Welt impliziert die Idee der Welt im ganzen, des Gesamtzusammenhangs — und in der Reflexion auf dieses Implikat jedes Wissens können wir den Problemen der Metaphysik nicht entgehen; diese hat, wie immer das auch möglich sei, die Konstruktion der „Weltbegriffe" 1 2 zu ihrer Aufgabe. Wenn Friedrich Engels die Dialektik als die „Wissenschaft des Gesamtzusammenhangs" konzipiert 13 , so zeigt er damit zugleich an, daß sie das Erbe der Metyphysik anzutreten und auf ihre Weise zu verwalten und zu mehren habe. Sie kann dies aber nur, wenn sie zugleich die von Kant und Hegel, von den Wissenschaften und von der Ideologiekritik vorgenommene Destruktion der klassischen Meta-
Kant, a. a. O., B 388 und 436 12 Ebd., B 434. 13 Vgl. Hans Heinz Holz, Die Wissenschaft des Gesamtzusammenhangs. Friedrich Engels' Begründung der Dialektik der Natur, D I A L E K T I K 12, Köln 1986, S. 50ff.
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physik und der metaphysischen Denkweise aufnimmt und weiterführt. Wenn wir diese wissenschaftsgeschichtliche Situation und die darin explizit gewordene Abneigung gegen Metaphysik ernst nehmen und doch auf der Meinung beharren, daß mit dem Verzicht auf Metaphysik eine spezifische und wohl gerade grundlegende Funktion der Philosophie verlorengehe, so stellt sich die Frage, was Metaphysik zu leisten vermochte und vermag, sofern sie nicht als Gedankendichtung, sondern als strenge Wissenschaft Beachtung fordern will. Diese Frage nach der wissenschaftlichen Bedeutung metaphysischer Sätze muß den Kritikern der Metaphysik beantwortet werden. Eine Legitimation der Metaphysik als der Disziplin, die sich mit jenen spezifischen Gegenständen der Philosophie befaßt, die nur transempirisch bestimmt werden können, hat sich also an zwei Fronten zu bewähren. Sie muß einmal — gegen die positivistische Beschränkung von Theorie bloß auf die Verarbeitung empirisch verifizierbarer bzw. falsifizierbarer Beobachtungsdaten und ihrer Verknüpfung — den hermeneutischen und operationalistischen Wert transempirischer Systemaussagen erweisen und deren rationale Begründung versuchen, wenn anders diese nicht auf einen pragmatischen oder heuristischen Charakter relativiert werden, also gerade aus dem Bereich strenger Wissenschaftlichkeit verwiesen werden sollen. Zum anderen muß sie den Verdacht abwehren, daß die Historizität metaphysischer Systeme, ihre Interpretierbarkeit als Indizien einer — wie man will: kulturgeschichtlichen, geistesgeschichtlichen oder gesellschaftlichen — Situation den Gehalt dieser Systeme als scheinhaft begründe und diese, in Umkehrung ihres traditionellen Anspruchs, in das Reich der Doxa verbanne. Daß der Sturz der Metaphysik mit der kopernikanischen Wende in der Philosophie bei Kant zusammenhängt und daß der wissenschaftstheoretische Positivismus sich nur 366
unter der Voraussetzung des von Kant instituierten Primats der Erkenntnistheorie vor der Ontologie zum Richtherrn philosophischen Denkens aufzuschwingen vermag, kann hier nur als Randbemerkung ausgesprochen werden; wenn indessen der Positivismus die Dialektik unnachgiebig als unwissenschaftlich verwirft, so kann dieses Verdikt als eine späte Rache der Enkel an Hegel für dessen hohnvolle Behandlung Kants in der Vorrede zur „Phänomenologie des Geistes" verstanden werden. In einer merkwürdigen Koinzidenz des Entgegengesetzten schließt sich dann die Metaphysikfeindschaft einiger marxistischer Dialektiker mit der gleichen Einstellung ihrer positivistischen Widersacher zu einer widerspruchsvollen Konstellation zusammen. Der Verzicht auf die kritische Reflexion der Sachgehalte von Metaphysik zieht aber den Verlust der rationalen Begründbarkeit von weltanschaulichen Basispositionen nach sich. Die Untersuchung des Modus, in dem metaphysische Aussagen dialektisch begriffen werden können, so daß sie ihren Wahrheitsgehalt freigeben, ist daher ein unerläßlicher Beitrag zur Sicherung der Rationalität und Wissenschaftlichkeit der Weltanschauung. 3. Der erste Schritt zu einer Einschätzung der besonderen weltanschaulichen Funktion und Aussagekraft von metaphysischen Systembildungen soll hier unter Anwendung des Modell-Begriffs erfolgen. Voll entfaltet würde sie die Ausarbeitung einer Theorie der Konstruktion erfordern (die etwa am Beispiel der „Ethik" Spinozas oder der „Wissenschaftslehre" Fichtes einsichtig zu machen wäre) und in ein System spekulativer Sätze auslaufen 14 . Die Explikation der hermeneutischen und operationalistischen Leistungsfähigkeit metaphysischer Modelle ist also nur ein Aspekt einer umfänglicheren Bemühung. In sie geht das von Leibniz ausgesprochene Postulat ein, daß die Plausibilität einer 14
Vgl. Hans Heinz Holz, Natur und Gehalt spekulativer Sätze, Köln 1980.
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metaphysischen Hypothese am Grad ihrer metatheoretischen Organisation von Wissen, Erfahrung und Handeln zu messen sei. Leibniz hat, wie bekannt, seine metaphysische Lehre immer wieder eine „Hypothese" genannt15 und damit angedeutet, daß das von ihm entworfene System nicht einfach empirisch verifizierbare und falsifizierbare Aussagen über innerweltlich feststellbare Sachverhalte treffe, sondern einen von Erkanntem ausgehenden extrapolierenden Entwurf darstelle, der seinen zureichenden Grund darin finden müsse, daß er die bekannten oder erkannten Singularitäten auf möglichst einfache und widerspruchsfreie Weise zu verknüpfen gestattet. Jede Hypothese, die zur Erklärung vorgefundener Sachverhalte zusätzlich unbekannte Größen einführt, ist jeder anderen Hypothese unterlegen, die mit einer geringeren Zahl von Unbekannten auskommt oder auf solche ganz verzichten kann. Sodann wäre von zwei Hypothesen jener der Vorzug zu geben, die ein Problem mit den einfacheren Mitteln lösen kann. Es liegt auf der Hand, daß dieses Prinzip, das als „denkökonomisches" von Leibniz über Maupertuis bis zu Mach tradiert wird, primär keinen ontiseben Gehalt für sich in Anspruch nehmen kann (obschon es sekundär auch als Prinzip der Weltverfassung an sich ausgegeben wird); vielmehr ist es zunächst als ein methodologisches Postulat zu handhaben, das die operationeile Tauglichkeit einer Theorie bestimmt. Es stellt sich dann heraus, daß der operationalistische Minimalismus, demzufolge mit dem kleinstmöglichen Aufwand ein größtmögliches Ergebnis erreicht werden soll, einem hermeneutischen Maximalismus entspricht, weil die Reduktion auf ein Minimum an Mitteln 15
Vgl. dazu insbesondere das „Neue System der Natur. .." und die dazugehörigen Erläuterungsschriften, in: Gottfried Wilhelm Leibniz, Philosophische Schriften 1 (Kleine Schriften zur Metaphysik), ed. H. H. Holz, Frankfurt am Main und Darmstadt 1965, S. 191 ff.
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eine höchste relationale Dichte innerhalb des konstruierten Systems erfordert und also einen seinerseits wieder mannigfach entfaltbaren, auslegbaren Sinn konstruiert; dies nebenbei. — Ich möchte nun allerdings hinzufügen, daß dieses denkökonomische Prinzip sich bei näherem Hinsehen als ein ontologiscbes erweist, das dementsprechend auf seinen Widerspiegelungsgehalt befragt werden kann; denn es betrifft in einer formalen Bestimmtheit, die die materiale Beschaffenheit der Sache präjudiziert, die Darstellung von Seiendem, so wie es ist (also in seinem Sein) und zeichnet sich dadurch aus, daß es die Grenze dieses „So-wie-es-ist" nicht zu überschreiten erlaubt (weil ja die Einführung zusätzlicher Unbekannter verboten ist) und also den Seinsgrund von Seiendem in diesem selbst zu finden gebietet. Leibniz hat das Seiende, so wie es ist, formallogisch durch das Identitätsaxiom bestimmt: A = A, etwas ist es selbst und kein anderes, „identica sunt vera" (d. h. identische Sätze sind wahr, aber auch, was identisch ein Seiendes ist, nur das ist wahrhaft ein Seiendes16. Die Welt, das Ganze aller Seienden, wird formalontologisch durch die Verschiedenheit der vielen Seienden bedingt, ausgedrückt in dem zweiten Axiom „varia a me percipiuntur"17. Die Voraussetzung jedes möglichen Weltbegriffes ist die Identität des Einzelnen und die Verschiedenheit des Vielen; sonst gäbe es keinen Begriff von Welt, sondern nur den eines homogenen Seins, das mit dem Nichts bedeutungsgleich wäre (wie Hegel am Anfang der „Wissenschaft der Logik" dartut). Die formalontologische Qualität der Verschiedenheit impliziert real-ontologisch die Veränderung, Bewegung als primordiales Moment des Wirklichen, das darum als „Kraft" aufgefaßt werden muß18. 16 17
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Leibniz an Arnauld, ed. G. Lewis, Paris 1952, S. 69. Vgl. zu den beiden Axiomen Hans Heinz Holz, Leibniz: Die Konstruktion des Kontingenten, in: Peters/Schmidt/Holz, Erkenntnisgewißheit und Deduktion, Darmstadt und Neuwied 1975, S. 129ff. Ich entwickele hier nicht den Leibnizschen Gedanken, sondern gebe nur Zur Architektonik
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„ Nun besteht nach meiner Meinung die Natur der geschaffenen Substanz darin, sich kontinuierlich zu verändern, einer gewissen Ordnung entsprechend . . . Und dieses Ordnungsgesetz, das die Individualität jeder besonderen Substanz bewirkt, steht in einer genauen Beziehung zu dem, was in jeder anderen Substanz und im ganzen Universum geschieht . . . Und was die Bewegung angeht, so ist das, was es daran an Wirklichem gibt, die Kraft oder das Vermögen, das heißt das, was es im gegenwärtigen Zustand gibt, der in sich eine Veränderung für die Zukunft enthält" 19 . Die bewegte, sich verändernde Vielheit von unterscheidbaren Einzelseienden — diese (empirisch durch die Wahrnehmung einer Menge von Einzelseienden fundierte) Vorgabe reicht aus, um nun zu einer Systematik der Seienden fortzuschreiten, die „so viel Mannigfaltigkeit wie möglich, jedoch verbunden mit der größtmöglichen Ordnung" 2 0 enthält. Es bedarf weder eines Anstoßes von außen (was ein „Wunder" wäre, wie Leibniz immer wieder hervorhebt), noch einer Mehrzahl von Prinzipien, die ihrerseits wieder erklärungsbedürftig wären, um den größten (sich immer weiter vermehrenden) Reichtum der Formen aus dem einfachsten Ursprung abzuleiten. So führt das Prinzip der einfachsten Konstruktion dazu, eine Weltordnung zu denken, die ihren Grund in sich selbst besitzt und in der Gott nur noch als eine Chiffre für die Idee des Unendlichen und Absoluteh steht, nicht mehr aber als ein transzendentes Wesen eingebracht werden muß, um die Funktionsweise der Welt zu erklären. 4. In diesem Zusammenhang ist es lehrreich, die von Leibniz gegebene vergleichende Darstellung metaphysischer Hypothesen heranzuziehen. In der „II. Erläuterung zum abgekürzt die Parameter der Hypothesenkonstruktion an, um das Minimierungsprinzip zu verdeutlichen: Identität, Verschiedenheit, Veränderung. 19 Leibniz, Philosophische Schriften, a. a. O., S. 255 und 269. 2« Ebd., S. 465.
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Neuen System" konfrontiert er die möglichen Weisen, wie di