Vernunft, Mensch, Geschichte: Studien zur Entwicklungsgeschichte der klassischen bürgerlichen Philosophie [Reprint 2021 ed.] 9783112485002, 9783112484999


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German Pages 272 Year 1978

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Vernunft, Mensch, Geschichte: Studien zur Entwicklungsgeschichte der klassischen bürgerlichen Philosophie [Reprint 2021 ed.]
 9783112485002, 9783112484999

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Manfred Buhr Vernunft — Mensch — Geschichte

Akademie der Wissenschaften der DDR Zentralinstitut für Philosophie Schriften zur Philosophie und ihrer Geschichte 7

Manfred Buhr

Vernunft - Mensch Geschichte Studien zur Entwicklungsgeschichte der klassischen bürgerlichen Philosophie

Akademie-Verlag • Berlin 1977

Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Str. 3—4 © Akademie-Verlag Berlin 1977 Lizenznummer: 202 • 100/38/77 Gesamtherstellung: IV/2/14 VEB Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 445 Gräfenhainichen • 4851 Einbandgestaltung: Willi Bellert Bestellnummer: 753228 2 (2178/7) • LSV 0115 Printed in GDR DDR 18,- M

Inhalt

Vorbemerkung 7 Zur Funktion des Nominalismus beim Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild 9 Ursprünge des klassischen bürgerlichen Denkens in der Philosophie des Nicolaug Cusanus 13 Der historische Ort der Philosophie Francis Bacons 25 Zur Philosophie von Gottfried Wilhelm Leibniz 37 Die Schriften Immanuel Kants bis zum Jahre 1768 43 Der Denk-Einsatz der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie 57 Die philosophische Unabhängigkeitserklärung des Menschen: Immanuel Kant 74 Geschichte und Gesellschaft als Ort der Bewährung des Menschen: Johann Gottlieb Fichte 113 Die Entlassung der Philosophie aus Geschichte und Politik: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und die Entwicklungsgeschichte der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie 179 Der Übergang von der feudalen zur bürgerlichen Gesellschaft und die Philosophien Fichtes und Hegels 190 Zu Hegels Philosophie der Geschichte und ihrer Aufhebung durch Marx/Engels/ Lenin 205 Die historische Kraft der materialistischen Dialektik 217 Anmerkungen 222 Namenverzeichnis 267

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Vorbemerkung

Die nachstehenden Studien vereinigt das Ziel, die jeweiligen gesellschaftlich-historischen Voraussetzungen der Entwicklungsgeschichte der klassischen bürgerlichen Philosophie aufzuhellen und den Anspruch dieser abzuklären. Sie stoßen zur Größe (Ideologie der aufsteigenden Bourgeoisie) und Grenze (Ideologie einer Klasse, die ihren eigenen Totengräber gebiert) der klassischen bürgerlichen Philosophie vor und markieren ihren Gegensatz zur spätbürgerlichen philosophischen Entwicklung. Die Studien erschienen zu verschiedenen Anlässen. Sie werden nunmehr — überarbeitet, erweitert oder gekürzt — zusammengefaßt vorgelegt.

Zur Funktion des Nominalismus beim Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild

Der Nominalismus kann in allgemeiner Bedeutung als die oppositionelle Hauptströmung innerhalb der Scholastik1 bestimmt werden. Der Unterschied des Nominalismus zur Scholastik ist in der nominalistischen Entscheidung des Universalienproblems begründet: die Allgemeinbegriffe sind bloße Namen, die in der Realität keine Entsprechung haben (universalia sunt nomina). Dabei muß gesehen werden, daß es in den Diskussionen des Nominalismus mit den anderen Strömungen der Scholastik nicht nur um eine erkenntnistheoretische Frage ging. Der Hintergrund der Auffassung von den Allgemeinbegriffen als bloßer Namen sind gesellschaftliche Gärungs- und Umschichtungsprozesse, denen der Nominalismus durch diese Formel einen dem Zeitgeist angemessenen Ausdruck verleiht. Deshalb muß der obigen Bestimmung des Nominalismus hinzugefügt werden, daß dieser eine progressive Strömung der Philosophie des europäischen Mittelalters ist, deren gesellschaftlicher Träger die sich in den mittelalterlichen Städten herausbildenden frühbürgerlichen Elemente sind. In seinen konsequenten Ausführungen ist der Nominalismus eine Form materialistischen Denkens der Zeit, in seinen späteren Gestalten darüber hinaus eine Vorform frühbürgerlicher Weltanschauung. Hauptvertreter des Nominalismus sind im 11. und 12. Jahrhundert vor allem Roscelin und Abaelard (älterer oder früherer Nominalismus), im 14. Jahrhundert Ockham und seine Anhänger (jüngerer oder späterer Nominalismus). Die nominalistische Entscheidung des Universalienproblems findet in der Formel ihren Ausdruck, daß erstens dem Allgemeinen keine Realität (Wirklichkeit) zukommt, daß zweitens nur Einzelnes, Individuelles existiert, daß drittens die Allgemeinbegriffe nur (Sammel-)Namen nach den konkreten Dingen sind, d.h. durch Abstraktion aus diesen gewonnen werden (universalia sunt nomina post rem). Während für Roscelin die Allgemeinbegriffe nur Namen im Sinne von bloß gesprochenen Worten sind, die an sich nichts bedeuten, stellen sie für Ockham Namen im Sinne von Konzepten, Termini, Zeichen, Bedeutungsinhalten dar, die im Denken an die Stelle der konkreten Dinge treten, mit denen das menschliche Denken die konkreten Dinge bezeichnet, charakterisiert. Neben diesen beiden Ausgestaltungen gibt es eine Reihe weiterer nominalistischer Lösungsversuche des Universalienproblems, die in diesem oder jenem Punkt Roscelin oder Ockham näher- oder fernerstehen. Jedoch machen die ver9

schiedenen Varianten der nominalistischen Entscheidung des Universalienproblems nicht das Wesen des Nominalismus aus. Sie, haben für die Entwicklung des philosophischen Denkens — so scharfsinnig sie im einzelnen auch gewesen sein mögen — keine ausschlaggebende Bedeutung. Das entscheidende Neue und wirklich Vorwärtsweisende des Nominalismus war seine uneingeschränkte Betonung des Einzelnen, Individuellen (modern: des Sinnlichen, Anschaulichen; des Individuums), dem dieser allein Realität zusprach. Diese Grundthese des Nominalismus wurde — mit mehr oder weniger Entschiedenheit — von allen seinen Vertretern ausgesprochen. Durch sie ist der Nominalismus in erster Linie historisch bahnbrechend gewesen — und das in mehrfacher Hinsicht. Durch die ausnehmende Hervorkehrung des Einzelnen unter gleichzeitiger betonter Abwertung des Allgemeinen hat der Nominalismus zunächst den Bestand der mittelalterlichen katholischen Kirche untergraben. Denn aus der Verneinung der Realität des Allgemeinen folgte zwangsläufig, daß nicht die Kirche als allumfassender Verband (d. h. als Institution, die allein legitimiert ist, in Sachen Gottes auf Erden zu sprechen und für den einzelnen Menschen die einzige Vermittlung darstellt, durch die er sich Gott nähern kann — nach offizieller Lehre: darf), ihre Hierarchie und ihre metaphysischen Dogmen, die ja alle hochgradig Allgemeines beinhalten, eigentlich maßgebend sind, sondern primär ihre einzelnen Mitglieder als einzelne Menschen (Individuen). Die Kirche insgesamt war ob der nominalistischen Voraussetzungen lediglich der (Sammel-)Name ihrer einzelnen Mitglieder (oder Glieder). Waren aber die einzelnen Mitglieder der Kirche das eigentlich Entscheidende, dann war vor allem die kirchliche Hierarchie als Vermittlungsträger zwischen Gott und dem einzelnen Gläubigen überflüssig. Jedes Mitglied der Kirche war als Einzelnes Gott näher als die Kirche als Allgemeines. Die nominalistische Einstellung zum Allgemeinen impliziert so Hierarchiegegnerschaft. Die revolutionäre Mystik des 16. Jahrhunderts wird aus ihrer Hierarchiegegnerschaft, sich auf nominalistische Argumente stützend, keinen Hehl machen. Weiter folgt aus der nominalistischen Bewertung des Allgemeinen, daß die kirchlichen Dogmen dem einzelnen Menschen letzten Endes nichts sagen, bestenfalls Glaubenssache sind, niemals aber Gegenstand des Denkens, des Wissens, der Wissenschaft sein können. Die nominalistische Entscheidung des Universalienproblems war nicht nur eine Untergrabung des Bestands der katholischen Kirche, sondern ein Angriff auf das feudal-klerikale theologisch-idealistische Weltbild überhaupt. Das feudal-klerikale Weltbild war wesentlich dadurch gekennzeichnet, daß dem Menschen im Weltgeschehen ein von seinem Willen völlig unabhängiger Platz zugewiesen wurde. In dem die streng hierarchisch geordneten Beziehungen (Unter- und Überordnungsverhältnisse) der Feudalgesellschaft apologetisch verklärenden feudal-klerikalen Weltbild war für den Menschen als Einzelwesen, als Individuum kein Raum. In ihm fungiert der Mensch lediglich als ein Wesen, dessen Existenz ausschließlich in seiner Abhängigkeit von ihm übergeordneten allgemeinen Gewalten begründet ist. Indem der Nominalismus das Einzelne 10

betont, hebt er den einzelnen Menschen hervor, unterstreicht er seine Individualität, weist er auf seine selbständige Aktivität hin. Man kann sagen, daß im Nominalismus das erstemal in der mittelalterliehen Philosophie der Mensch sich seiner selbst bewußt wird. Das neue Menschenbild des Nominalismus involviert eine veränderte Naturauffassung. Im Nominalismus steht die Natur dem Menschen nicht mehr als schicksalhaft gegeben gegenüber, sondern wird als seinen Willenshandlungen durchaus zugänglich gesehen. Es ist kein Zufall, daß die Mehrzahl der bedeutenden Naturphilosophen des ausgehenden Mittelalters und der beginnenden Neuzeit Nominalisten gewesen sind oder von ihren Anschauungen stark beeinflußt waren. Im Nominalismus kündigt sich jene erkenntnisoptimistische Einstellung der klassischen bürgerlichen Philosophie von Galilei, Descartes und Hobbes bis zu Kant und Hegel an, die Welt nicht mehr als gegeben, sondern als vom Menschen (zunächst: nach dem Vorbild geometrischer Konstruktion) geschaffen, erzeugt zu betrachten. Mit dem neuen Menschenbild und der veränderten Naturauffassung durchbricht der Nominalismus die im feudal-klerikalen Weltbild festgelegte ausschließlich jenseitige Orientierung aller menschlichen Handlungen und schlägt ihrer diesseitigen Grundlegung durch das klassische bürgerliche Weltbild eine Bresche. Wie es die Nominalisten selbst formulierten: die Überlagerung der actio durch die reflectio wird aufgehoben. Die Abwertung der mittelalterlichen katholischen Kirche, die Konstituierung eines neuen Menschenbildes und einer veränderten Naturauffassung, schließlich die diesseitige Orientierung der menschlichen Handlungen durch den Nominalismus hatte die Herausbildung einer in der mittelalterlichen Philosophie sonst nicht gekannten rationalen Betrachtungsweise zur Folge, die in der weiteren Entwicklung in den verschiedenen Wissensgebieten positiv wirksam wurde: etwa in der Psychologie (anhebende Beschäftigung mit dem Menschen als Persönlichkeit, Einbeziehung des Ich in die psychologische Betrachtung, Selbstbeobachtung als Methode der Psychologie), in der Rechtswissenschaft (Betonung des Naturrechts auf der Grundlage des römischen Rechts gegenüber dem göttlichen Recht, überhaupt innerweltliche Begründung der Rechtsnormen und -Satzungen), in der Musik (Ersetzung der Messen und Oratorien durch die Oper und später durch die komische Oper als nicht metaphysisch gebundene, rein weltliche Musikschöpfungen), in der Kunst überhaupt (Darstellung der Mannigfaltigkeit der Welt ohne Beziehung auf Gott, vorwiegend Gestaltung der Einzelschicksale der Menschen) usw. Mit anderen Worten: Für den Nominalismus und die von ihm ausgehenden Folgen ist das Einzelne als Besonderes, Individuelles wesentlich und wird primär als Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung und künstlerischer Gestaltung genommen. In dieser seiner Auffassung bzw. Haltung liegt die Funktion des Nominalismus beim Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild beschlossen. Der Einfluß des Nominalismus im Spätmittelalter war weitreichend. Seine 11

einzelnen Gestalten waren unterschiedlich konsequent. Ideengeschichtlich wuchs er nicht nur aus dem Universalienstreit heraus, sondern auch aus dem lateinischen Averroismus, von dem er starke materialistische Impulse erhielt. Seine Hauptwirkungsstätte war Paris. In Deutschland wurde er besonders in Heidelberg, auch Erfurt gelehrt. Weitere nominalistische Zentren waren die Universitäten Wien und Prag. Weitverbreitet war der Nominalismus außerdem in England und Italien. Als Vertreter des Nominalismus im Spätmittelalter sind neben Ockham u. a. zu nennen: Nicolaus von Autrecourt, der eine Art Atomistik entwickelte, diese jedoch subjektiv-idealistisch umbog. D'Ailly, Wodham, J. von Mirecourt, Gregor von Rimini, Marsilius von Inghen (der erste Rektor der Universität Heidelberg), Gerson und Biel, Professor in Tübingen. Weiter: Buridan und Albert von Sachsen, die sich vornehmlich mit naturwissenschaftlichen Fragen beschäftigten, nicht zuletzt Nicolaus von Oresme, der bedeutendste Naturphilosoph des 14. Jahrhunderts, schließlich der „Verteidiger des Friedens" Marsilius von Padua und Johannes von Jandun. Der in die bürgerliche Neuzeit reichende positive Einfluß des Nominalismus ist besonders bei Galilei und im englischen materialistischen Empirismus offenkundig. „Der Nominalismus findet sich als ein Hauptelement bei den englischen Materialisten, wie er überhaupt der erste Ausdruck des Materialismus ist." 2 Die Auswirkungen des Nominalismus auf den englischen materialistischen Empirismus bezeichnen den Endpunkt seiner positiven philosophiegeschichtlichen Ausstrahlungen. Bereits bei Hume und Berkeley wird die nominalistische Leugnung des Allgemeinen zu einem Argument einerseits gegen die wissenschaftliche Erkenntnis und gegen den Materialismus, andererseits für den subjektiven Idealismus und den Agnostizismus. Die historisch bedingte Einseitigkeit des Nominalismus, die metaphysische Trennung des Allgemeinen vom Einzelnen und Besonderen, wird von Hume und Berkeley zu einer feststehenden Aussage wider den wissenschaftlichen Fortschritt benutzt, die dann von den verschiedenen Richtungen des Positivismus bis in die Gegenwart hinein kultiviert wird.

Ursprünge des klassischen bürgerlichen Denkens in der Philosophie des Nicolaus Cusanus1

Wer den philosophischen Ursprüngen des klassischen bürgerlichen Denkens von seinen Anfängen in der Renaissancephilosophie über Bacon und Descartes bis hin zu Hegel und Feuerbach nachgeht, wird in mannigfacher Beziehung immer wieder auf das philosophische Werk des Nicolaus Cusanus verwiesen. Die Philosophie des Cusanus stellt zweifellos in mehrfacher Hinsicht einen Knotenpunkt fernerer weltanschaulicher Entwicklung dar: sie ist Überkommenes (Scholastik) und seine Auflösung (Nominalismus) in einem, wiederaufnehmende Fortführung (coincidentia oppositorum) und Durchbruch (Betonung des Individuums, der Individualität), Anfang (Hervorkehrung der Wissenschaft, insbesondere der Mathematik und des Experiments) und Beginn (Diesseitigkeit des Denkens) zugleich. Daraus resultiert ihr schillernder Grundcharakter — ein Tatbestand, auf den in der Literatur oft aufmerksam gemacht wurde und der eine Beurteilung der Philosophie des Cusanus erschwert. In der Philosophie des Cusanus ist Neues durch Althergebrachtes überlagert, Vorwärtsweisendes mit Überkommenem gepaart, in die Zukunft gehende Fragestellungen sind in alte Formen eingekleidet. Heinrich Ritter, der um die Mitte des 19. Jahrhunderts auf die Bedeutung des Cusanus zuerst energisch hinwies und ihn gleichsam in die Philosophiegeschichte wiedereinführte, bekundete: „Gleich im ersten Jahre des 15. Jahrhunderts wurde ein Kind geboren, dessen Leben und Wirken, wie es in Wendepunkten der Geschichte zu geschehen pflegt, als eine Vorbedeutung alles dessen angesehen werden kann, was die folgenden Jahrhunderte bringen sollten . . . Nicolaus Cusanus steht noch auf der Scheide des Mittelalters und der neuen Zeit, aber seine Hoffnung und seine Wirksamkeit sind der letzteren zugewendet." 2 Allein, so richtig der letzte Hinweis Ritters ist, die großartigen, tiefen und vorwärtsweisenden Äußerungen und Ideen des Cusanus, die im Unterschied zum Überkommenen in seiner Philosophie ihren eigentlichen Gehalt ausmachen, stehen in einem umgekehrten Verhältnis zu ihrer philosophiehistorischen Wirkung. Die Philosophie des Cusanus überragt den Zeitgeist — und steht zugleich einsam in ihrer Zeit. Die durch sie inaugurierten Folgen sind unmittelbar schwach, mittelbar gering. Das Bekenntnis Giordano Brunos zu Cusanus in seiner Wittenberger Rede ist die einzige direkte Wertschätzung des Denkers aus Kues, die philosophiehistorisch überliefert ist: „Wo findet sich ein Mann vergleichbar jenem Cusaner, 13

der je größer um so weniger zugänglich ist? Hätte nicht das Priesterkleid sein Genie da und dort verhüllt, ich würde zugestehen, daß er dem Pythagoras nicht gleich, sondern bei weitem größer ist als dieser." 3 Gewiß, es kann eine (direkte und indirekte) Wirkungsgeschichte der Philosophie des Cusanus aufgewiesen werden. Als unmittelbare Schüler sind Faber Stapulensis, dann Carolus Bovillus bekannt. Sie waren von geringem Einfluß, und ihr Lehrer läßt sie weit hinter sich. Neben Giordano Bruno ist die Akademie des Ficino zu nennen. Von Bruno und der Akademie des Ficino gehen Wirkungen auf Leonardo da Vinci und Galilei, vielleicht auch auf Kopernikus und Kepler aus. Der französische (Neu-)Platonismus um Margarete von Navarra ist sicher cusanisch orientiert. Möglicherweise haben Cusanische Ideen Pascal und Leibniz beeindruckt. Gedankengänge des Cusanus scheinen später bei Herder und Goethe, bei Hamann, Schelling und Hegel auf, ohne daß ein direkter Rückgriff auf den Denker aus Kues festzustellen wäre. Und doch ist diese Wirkung schwach, wenn man sie an der Größe und Weite der Philosophie des Cusanus selber mißt. So ist die Philosophie des Cusanus innerhalb der Geschichte der Philosophie zwar eine Größe, innerhalb des Prozesses ihrer tatsächlichen Fortentwicklung jedoch eine Randerscheinung. Cusanus nahm viele Gedanken vorweg, die erst im 17. und 18. Jahrhundert in ihrer Eigentlichkeit gedacht und in ihrer Bedeutung für die menschliche Erkenntnis erkannt wurden. Und doch bedeutet er in keinem einzelnen Falle den wirklichen Anfang eines Gedankens. Eine Würdigung seiner Philosophie kann dergestalt nur historisch-systematisch erfolgen. I Cusanus ist seiner Herkunft nach Deutscher. Er wurde 1401 als Sohn eines Weinbauern und Moselschiffers in Kues an der Mosel geboren; daher sein Name: Nikolaus von Kues (lateinisch: Nicolaus Cusanus). Eigentlich hieß Cusanus Nikolaus Chrypffs (das heißt: Krebs). Das Leben des Cusanus verlief im Dienste der katholischen Kirche, innerhalb deren er zu höchsten Ämtern aufstieg. Das ist um so bemerkenswerter, als Cusanus Weltgeistlicher war. Die kirchliche Laufbahn des Cusanus ist bestechend: 1432 ist er auf dem Baseler Konzil, wo er zunächst leidenschaftlich die konzilare Idee gegen die Machtansprüche des Papstes vertritt, seine Ansichten in der Schrift „De concordantia catholica" (1435) niederlegt und durch sie zum geistigen Haupt der Konzilpartei wird. Als sich die Gefahr eines neuen Schismas auf dem Konzil abzeichnet, tritt er zur Partei des Papstes über, dessen Angelegenheiten er nun nicht weniger leidenschaftlich verteidigt wie vorher die Sache der Konzilpartei. Schon 1438 sehen wir Cusanus in Byzanz, um im Auftrage des Papstes für eine Union mit der Ostkirche zu wirken. 1448 wird er zum Kardinal, 1450 zum Bischof von Brixen, zugleich zum Visitator und Reformator der deutschen Klöster ernannt. In seinen letzten Lebensjahren bekleidet Cusanus als Generalvikar in Rom 14

die nächst dem Papste höchste Stellung, die die katholische Kirche zu vergeben hatte. Am 11. August 1464 stirbt er in Tondi in Umbrien. Von seiner kirchlichen Laufbahn her betrachtet, hat es den Anschein, als sei das Leben des Cusanus in Ruhe und Ausgeglichenheit verlaufen sowie von Erfolg zu Erfolg fortgeschritten. In Wirklichkeit trifft das genaue Gegenteil zu. Sein Leben war ausgefüllt von Kämpfen, gescheiterten Unternehmen, kirchlichen und politischen Mißerfolgen und persönlichem Versagen. Bei allen Ehrungen und Würden, die ihm zuteil wurden, blieb er innerhalb der katholischen Kirche eine Nebenfigur ohne besonderen Einfluß, infolge Mangels an Vermögen ohne jede wirkliche Macht, die zur Realisierung seiner Absichten unter den Bedingungen seiner Zeit notwendig gewesen wäre. Wichtiger als die kirchliche Laufbahn des Cusanus sind die Etappen seiner frühen geistigen Entwicklung. Sie sind bezeichnend und lassen Rückschlüsse auf die Herausbildung und Ausgestaltung seiner Philosophie zu. Die erste Ausbildung erhielt Cusanus mit 12 Jahren, und zwar in Deventer bei den Brüdern vom gemeinschaftlichen Leben. Dort kam er mit den Ideen des europäischen Frühhumanismus in Berührung/* 1416 ist er Student an der Universität Heidelberg, damals eine Hochburg des Ockhamismus in Deutschland. Jedoch schon 1417 setzt Cusanus seine Studien an der Universität Padua fort. Sein eigentliches Fach war die Jurisprudenz. Darüber hinaus erwarb er sich Kenntnisse in Philosophie, Mathematik, Astronomie, Physik und Medizin sowie in der griechischen und römischen Literatur. Das Studium in Padua scheint für die Richtung der geistigen Entwicklung des Cusanus entscheidend gewesen zu sein. Hier kam er mit jenen progressiven Ideen in Berührung, die später tragende Bestandteile seiner Philosophie wurden. Denn die Universität Padua zählte in damaliger Zeit zu den aufgeschlossensten und progressivsten Bildungsstätten Europas und stellte als solche ein Zentrum des Frühhumanismus dar. Bereits in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts war sie ein Sammelbecken des lateinischen Averroismus gewesen. 1423 beendete Cusanus sein Studium an dieser Universität.5 Erst nach Abschluß der weltlichen Studien in Padua begann Cusanus an der Universität Köln Theologie zu studieren. Die Matrikel des Jahres 1425 verzeichnet ihn allerdings als doctor in jure canonico. II Cusanus ist in die Geschichte der Philosophie vor allem durch den Gedanken der coincidentia oppositorum eingegangen, den Gedanken vom Zusammenfallen der sich im Endlichen ausschließenden Gegensätze im Unendlichen. Dieser Gedanke durchzieht implizit sein ganzes Werk, explizit ist er in erster Linie in den Schriften „De docta ignorantia" (1440) und „De beryllo" (1458) ausgeführt. Als Prinzip erwies er sich sowohl für die Ausgestaltung der Philosophie des Cusanus selber als auch für die weitere Entwicklung des philosophischen Denkens, insbesondere 15

für die Herausbildung des dialektischen Denkens in der klassischen bürgerlichen Philosophie, als außerordentlich fruchtbar. Was die der Sache nach gegebenen ideengeschichtlichen Bezüge des Gedankens der coincidentia oppositorum6 angeht, so ist richtig herausgestellt worden, daß Cusanus hier die in der Philosophie des europäischen Mittelalters weitgehend verschüttete Herakliteische Tradition dialektischen Denkens wieder aufnimmt, zur weiteren Entfaltung bringt und eigentlich fortführt.7 Nach Cusanus werden sich vornehmlich Giordano Bruno, Jakob Böhme, später Hamann und Herder, schließlich Schelling und Hegel der mit dem Gedanken der coincidentia oppositorum zusammenhängenden Probleme annehmen, ohne allerdings — mit Ausnahme Giordano Brunos — direkt und unmittelbar an die Gedankengänge des Cusanus anzuknüpfen. Daß der Gedanke der coincidentia oppositorum in der Philosophie des Cusanus dialektisches Denken impliziert, steht außer Zweifel. Aus dieser Tatsache jedoch, wie Erwin Metzke, den Schluß zu ziehen, daß unter dem Gesichtspunkt der coincidentia oppositorum in späterer Zeit dem Denken des Cusanus niemand nähergekommen sei als Hegel, und so gleichsam zwischen Cusanus und Hegel eine Identität zu konstruieren, ist zumindest übertrieben. Der Unterschied, wenn nicht Gegensatz zwischen Cusanus und Hegel wird schon dadurch deutlich, daß Cusanus zwar, die Gegensätze als Form alles Existierenden faßt, sie zugleich aber, indem sie sich im Endlichen ausschließen, als Zustände fixiert und sie nur im Unendlichen, d. h. in Gott, der dazu noch deus absconditus ist, „aufgehoben" sein läßt, während die Gegensätze bei Hegel Momente der ewigen Selbstbewegung alles Existierenden sind, die Prozeß ist, sich in dieser durchdringen und aufheben und ständig nach dem dialektischen Grundgesetz der Negation der Negation auf höherer Stufenleiter reproduzieren. Ganz zu schweigen davon, daß zwischen Cusanus und Hegel über 450 Jahre philosophischer und wissenschaftlicher Entwicklung liegen. Metzkes Interpretation der Philosophie des Cusanus gehorcht denn auch weniger dem tatsächlichen Gang der philosophischen Entwicklung und den philosophiehistorischen Quellen als vielmehr dem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mehr als fragwürdigen Anliegen, religiöse Offenbarung und wissenschaftliche Erkenntnis zu versöhnen und philosophiehistorisch zu stützen: „Es mag freilich Theologen wie Philosophen bedenklich erscheinen, wie unlösbar bei Nicolaus von Cues wie bei Hegel philosophische und theologische Fragen ineinander verwoben sind. Aber, so fragwürdig jedes eilfertige Harmonisieren zwischen dem Anliegen der Theologie und Philosophie sein mag, — nicht weniger ist es ein Verkennen der dem abendländischen Denken aus seiner eigenen Geschichte gestellten Aufgabe, es nun bei einer Kluft zwischen Glauben und Wissen, Offenbarung und Denken zu lassen . . .". 8 Was Metzke hier versucht, ist in der neueren bürgerlichen Cusanus-Literatur oft unternommen worden. Da die faschistischen Versuche, Cusanus als ausnahmslos deutseben und wesentlich nur von deutseben Quellen abhängigen Denker zu 16

interpretieren, nicht mehr opportun sind, wird er — in Fortführung der faschistischen Vorhaben — in die sogenannte abendländische metaphysische Tradition eingebaut. Daß es dabei, wie einst bei den faschistischen Interpretationsversuchen, nicht ohne Konstruktionen und Gewaltsamkeiten abgeht, unterstreicht Metzke mit seiner problemgeschichtlichen Identifizierung von Cusanus und Hegel. Auch Karl Jaspers hat denselben Weg beschritten: „Cusanus ist nicht erschöpft durch die Interessen seiner Zeit, die in ihm sich treffen . . . Groß ist Cusanus nur durch seine Metaphysik. Die .ursprünglichen Metaphysiker' gelangen zu einem Grundfragen, in dem alle Selbstverständlichkeit aufhört. Sie finden Antworten in bleibenden Chiffern des Gedankens . . . Cusanus aber ist einer der .ursprünglichen Metaphysiker' und nur dies."9 Metaphysik ist dann nach Jaspers alles, was außerhalb der progressiven Kultur der bürgerlichen Neuzeit liegt: Humanismus und Aufklärung, Französische Revolution und moderne Wissenschaftsentwicklung und — in der Folge — natürlich der Marxismus. Diese sind für Jaspers „die untilgbaren dunklen Kräfte"10, denen seit jeher eine Metaphysik der Chiffren entgegengesetzt worden sei und entgegenzusetzen ist. Diese Metaphysik bringe zwar noch nicht die Freiheit, wohl aber sei sie „Bedingung für das Bewußtsein der Freiheit, die auf ihrem Wege durch innere (!) Bindung erfüllt (!) wird" 11. Der Sinn solchen Interpretierens liegt auf der Hand: nicht Bloßlegung der wirklichen Ursachen der „Ungeborgenheit" des bürgerlichen Menschen unter den Bedingungen des Imperialismus, sondern Aufruf zum Verzicht auf jeden Kampf gegen die Verderbnisse einer historisch überfälligen Gesellschaftsordnung. Denn „Freiheit bewegt sich" — nach Jaspers — „im Raum der großen Metaphysik der Jahrtausende, Europas und Asiens, von der Cusanus ein Zeuge und Mitschöpfer" gewesen sei. Das wirklich Große der Philosophie des Cusanus wird dergestalt von Jaspers geleugnet und ihr teilweises Verbleiben im Überkommenen als Ausgangspunkt der Interpretation gesetzt. III Der Gedanke der coincidentia oppositorum ist eng mit den pantbeistischen Zügen der Philosophie des Cusanus verbunden. Die in der bürgerlichen Literatur seit Glossner12 viel diskutierte Frage, ob Cusanus Pantheist oder Theist gewesen sei, ist im Sinne einer Alternative unfruchtbar. Aus den Schriften des Cusanus läßt sich diese Frage, so gestellt, eindeutig nicht entscheiden, vor allem dann nicht, wenn ihre Entscheidung an Maßstäben orientiert ist, die von Spinoza hergeholt sind. Die Schriften des Cusanus geben Anhaltspunkte sowohl für eine pantheistische als auch für eine theistische Auslegung. Cusanus war weder das eine noch das andere mit Konsequenz. Dabei ist allerdings wichtig zu sehen, daß Cusanus ohne pantheistischen Ausgangspunkt kaum zu dem Gedanken der coincidentia oppositorum gelangt wäre. Das Problem ist komplizierter, als in der Regel angenommen wird. Man umgeh t 2

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die Schwierigkeiten dieser Frage nicht, wenn man, wie Metzke, einfach dekretiert, daß Cusanus und Hegel durch ihre Bestimmung des Verhältnisses von Endlichem und Unendlichem „die ganze Schematik der Theismus- und Pantheismusdebatte zurückgelassen"13 hätten. So einfach liegen die Dinge nicht. Denn Hegel identifizierte Denken (Gott) und Sein (Welt) derart konsequent, daß solches nur noch auf der materialistisch-pantheistischen Gegenseite, nämlich bei Giordano Bruno und Spinoza, zu finden ist. Andererseits deuten die ständigen Rückgriffe des Cusanus auf Dionysius Areopagita, seine Beeinflussung durch die deutsche Mystik, schließlich die Parallelauffassungen in den Werken des Cardanus, Giordano Brunos, des Paracelsus und Jakob Böhmes auf pantheistische Momente in seiner Philosophie hin. Cusanus steht am Anfang einer pantheistischen Tradition, die über die schon genannten Denker bis zu Schelling und Hegel reicht. Vor allem sind die dialektischen Momente in der Philosophie des Cusanus, unter den philosophischen und wissenschafdichen Bedingungen seiner Zeit, ohne pantheistisches Denken kaum vorstellbar. Was allerdings bei Cusanus fehlt, ist die konsequente Identität von Gott und Welt, wie wir sie von Spinoza her kennen. Die eindeutige pantheistische Formel deus sive natura ist Cusanus — auch der Sache nach — unbekannt. Zwar stellt sich für ihn das Weltganze als explicatio dei dar, doch ist in dieser der Unterschied beider nicht vollständig verschwunden. Andererseits begegnen wir bei Cusanus auch Formulierungen wie dieser: „Gott ist durch Alles in Allem, und Alles ist durch Alles in Gott."14 Um den Unterschied zwischen Gott und Welt näher zu bestimmen, bedient sich Cusanus zunächst — unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Dionysius Areopagita — der Sprache der negativen Theologie. Über Gott kann der Mensch positiv nichts aussagen. Er weiß lediglich, was er nicht ist. Gott ist weder Vater noch Sohn noch Heiliger Geist, sondern unendlich. Cusanus: „Unsere heilige Wissenschaft des Nichtwissens (sacra ignorantia) hat uns belehrt, daß Gott unaussprechlich ist, weil er größer ist als Alles, was genannt werden kann. Da dies ausgemacht ist, so werden wir von ihm richtiger auf dem Wege des Ausschließens und Negierens, gleich dem großen Dionysius, der ihn weder Wahrheit noch Vernunft, noch Licht, noch irgend Etwas, was sich aussprechen läßt, genannt wissen wollte, denken. . . Nach dieser negativen Gotteslehre ist daher Gott. . . nur unendlich."15 Nun hält Cusanus diesen Standpunkt zwar nicht für falsch, aber für einseitig. Das gleiche treffe — allerdings mit umgekehrtem Vorzeichen — auch auf die „affirmative Theologie" zu, die versucht, Gott positiv zu bestimmen, irdische Verhältnisse zum Maßstab nimmt und schließlich zum Götzendienst führt. In dieser werden Gott „die affirmativen Namen, wenn sie anders ihm zukommen, nur im Verhältnis zu den Kreaturen beigelegt . . ," 16 . Cusanus sieht in der Vereinigung beider Standpunkte die Wahrheit. Die von ihm vollzogene Vereinigung überschreitet jedoch den Ausgangspunkt beider Standpunkte im Grundsätzlichen und führt zu einer nichttheologischen, nämlich philosophisch-wissenschafdichen Betrachtung des Verhältnisses von Endlichem und Unendlichem. Cusanus 18

sieht Gott, indem er ihn im Sinne der negativen Theologie ungemein abstrakt faßt, als Unendlichkeit im Gegensatz und in Wechselbeziehung zu allem Endlichen an. Eben darin liegt der nichttheologische, schon philosophisch-wissenschaftliche und ansatzweise auch dialektische Charakter seiner Betrachtungen zum Verhältnis von Endlichem und Unendlichem. Dabei begeht Cusanus — das muß festgehalten werden — ständig Inkonsequenzen, die sich vor allem daraus ergeben, daß er in Abhängigkeit von der Scholastik das Unendliche als Absolutes auch noch für sich erhalten sehen möchte.17 In der Schrift „De docta ignorantia" versucht er nachzuweisen, daß das, was dem Verstände nichts zu sein scheine, das unbegreiflich Größte sei. Dasselbe Sein, das dem Menschen in der Welt in endlicher Gestalt entgegentrete, mache als unendliches Sein Gott aus. Die Unterschiede und Gegensätze, die im Bereich des Endlichen auftreten, gleichen sich aus im Unendlichen. Gott ist als Unendliches das Zusammenfallen (die Einheit) aller Gegensätze des Endlichen, ist coincidentia oppositorum, und erscheint als Form des Universums: „So begreifen wir, wie Gott mittels des Universums in Allem und die Vielfalt der Dinge mittels des einen Universums in Gott ist." 18 IV Von dieser Basis aus entwickelt Cusanus seine kosmologiscben Vorstellungen, mit denen er die scholastische Kosmologie überwindet und bis zu einem gewissen Grade zum Vorläufer des Kopernikus wird. Cusanus schreibt: „Die Welt h a t . . . keine Peripherie; hätte sie Zentrum und Peripherie, so hätte Sie ihren Anfang und Ende in sich selbst, die Welt wäre in bezug auf ein Anderes begrenzt, außer der Welt wäre ein anderes und ein Raum . . . Es kann somit auch die Erde, die das Zentrum nicht sein kann, nicht ohne alle Bewegung sein; . . . denn daß sie sich bewegen müsse, ist auch in dem Sinne zu fassen, daß sie sich noch unendlich weniger bewegen könnte . . . Wie die Erde nicht das Zentrum der Welt ist, so ist auch nicht die Sphäre der Fixsterne oder ein anderer Umkreis derselben, wiewohl die Erde, im Verhältnis zu dem Himmel betrachtet, mehr dem Zentrum, der Himmel mehr der Peripherie ähnlich zu sein scheint . . . am Himmel sind keine unbeweglichen und fixen Pole . . . Allein es muß sich jeder Teil des Himmels bewegen, wiewohl ungleich, im Verhältnis zu den Kreisen, welche die Sterne in ihrer Bewegung beschreiben."19 Cusanus zieht dann den für seine Zeit durchaus nicht selbstverständlichen Schluß, „daß die Erde sich bewege" und die Gestalt einer Kugel habe.20 Damit, daß er die Erde nicht als das Zentrum des Universums betrachtet, sondern nur als einen Stern unter anderen Sternen, der ebenso wie diese eine Kreisbahn beschreibt (die Erkenntnis, daß die Erdbahn elliptisch verläuft, wird erst später gewonnen), ist im Prinzip die mittelalterliche, auf Ptolemäus zurückgehende Kosmologie, die die Erde als Mittelpunkt des Universums ansah, durchbrochen und das später von Kopernikus begründete heliozentrische Weltbild spekulativ vorweggenommen. 2»

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I m Z u s a m m e n h a n g mit seinen k o s m o l o g i s c h e n Vorstellungen entwickelt Cusanus auch eine der Scholastik gegensätzliche L e h r e v o m Verhältnis v o n G o t t und Welt. D i e scholastische, insbesondere die thomistische O n t o l o g i e lehrte analog zur hierarchischen Gliederung der feudalen Gesellschaft, daß es zwischen d e m Endlichen und d e m Unendlichen, also zwischen Welt und G o t t , eine Fülle v o n vermittelnden Stufen gebe. Cusanus setzte dieser A u f f a s s u n g die T h e s e entg e g e n , daß alles Endliche im gleichen Verhältnis (Abstand) z u m Unendlichen stehe. D i e s e T h e s e führt dazu, daß er d e m Mensebenbild der Scholastik, in der der Mensch ausschließlich leidende Kreatur war, seine A u f f a s s u n g des Menschen als M i k r o k o s m o s entgegengestellt. D e r Mensch ist nach Cusanus nicht p a s s i v , leidend, sondern aktiv, schaffend, tätig, wirkend. Mit diesen Fähigkeiten n i m m t er teil an der höchsten göttlichen K r a f t , an der Schaffenskraft. „ D e r M e n s c h ist G o t t , jedoch nicht absolut, weil er Mensch ist. E r ist also menschlicher G o t t . . . G o t t in menschlicher Weise . . . In der Menschlichkeit ist alles menschlich — so wie im U n i v e r s u m universell entfaltet. D i e Welt existiert hier als menschliche . . . F ü r die tätige S c h ö p f u n g der Menschheit gibt es keine andere G r e n z e als die Menschheit s e l b s t . " 2 1 W a s für stolze W o r t e eines D e n k e r s der ersten Hälfte des 15. J a h r h u n d e r t s !

V D e r G e d a n k e der coincidentia o p p o s i t o r u m bestimmt nicht nur die k o s m o l o g i schen und ontologischen Lehren des Cusanus, sondern auch seine Erkenntnislebre. Bei d e m Versuch, den Erkenntnisprozeß in sinnliche und rationale E r k e n n t nis zu differenzieren, unterscheidet er zwischen intellectus und ratio und deutet damit an, was nachher v o r allem in der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie als Unterschied v o n Verstand u n d V e r n u n f t f ü r das E r f a s s e n des dialektischen Charakters der Erkenntnis eine ausnehmende Rolle spielen wird. Cusanus läßt den Bereich der scholastischen Schullogik hinter sich. D e n n wenn auch das Wahre als coincidentia o p p o s i t o r u m zu denken ist, dann w i r d der Satz v o m Widerspruch als absolute Regel für alles und jedes D e n k e n eingeschränkt. D e r Satz des Widerspruchs bringt nach Cusanus nicht das Wesen d e s D e n k e n s überhaupt z u m A u s d r u c k , sondern nur die A r t und Weise des rationalen Denkens, das im Vergleichen des E i n e n mit d e m Anderen das diesen G e meinsame herausstellt u n d sich in E n t g e g e n s e t z u n g e n b e w e g t . D e r Satz v o m Widerspruch bleibt zwar f ü r Cusanus als notwendige V o r a u s s e t z u n g allen E r kennens erhalten, aber er durchbricht jene A u f f a s s u n g der scholastischen Schullogik, nach der das Wahre entweder auf der Seite des Satzes oder des G e g e n satzes liegen m ü s s e . 2 2 I m weiteren greift C u s a n u s ein P r o b l e m auf, das alle Späteren noch eingehend beschäftigen und erst in der marxistischen Philosophie seine endgültige F o r mulierung und L ö s u n g erfahren w i r d : Cusanus ahnt den historischen Charakter

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der Wahrheit.-„Die Wahrheit", so stellt er fest, „ist ein nicht mehr und nicht weniger, ein gewisses Unteilbares, was von allem, das nicht die Wahrheit selbst ist, nicht präzis gemessen werden kann, so wenig, was nicht Kreis ist, den Kreis, dessen Sein in einem gewissen Unteilbaren besteht, messen kann. Unser Verstand, der nicht die Wahrheit ist, erfaßt daher die Wahrheit nie so präzis, daß nicht ein unendlich präziseres Erfassen möglich wäre . . ." Die Wahrheit „ist die absoluteste Notwendigkeit, die nicht mehr und nicht weniger ist, als sie ist, unser Verstand ist die Möglichkeit. Das Was (quidditas) der Dinge, das die Wahrheit des Seienden ist, bleibt in seiner Reinheit unerreichbar. Alle Philosophen haben es gesucht, aber keiner, wie es an sich ist, gefunden. Je gründlicher aber unsere Überzeugung von diesem Nichtwissen ist, desto mehr werden wir uns der Wahrheit selbst nähern." 23 Die Erkenntnis ist so für Cusanus ein unendlicher Prozeß, ein Weg der Mutmaßungen, wie er es selber nennt („De coniecturis", 1440). Die Wahrheit offenbart sich nicht auf einmal, sondern das Denken schreitet zu ihr im Prozeß der Erkenntnis Stück um Stück fort. In diesem Prozeß ist der Mensch durch seine Vernunft aktiv tätig: „Der sinnenverstrickte Mensch, der sich seiner schöpferischen Vernunftkraft nicht bewußt ist . . . , kann Göttliches nicht erfassen; wer aber einen darin geübten Geist hat, dem wird nicht Ersehenswertes begegnen können . . . Du (mußt) dir den Satz des Protagoras merken, daß der Mensch Maß der Dinge ist . . . Der Mensch (findet) in sich alle erschaffenen Dinge wie in einem Grunde, der ihnen das Maß gibt." 24 Dabei ist für Cusanus in diesem Zusammenhang das Göttliche nur ein anderer Ausdruck für die in der Welt vorhandenen Gegensätze. Sein Brief vom 14. September 1453 an den Abt und die Mönche von Tegernsee umreißt diesen Tatbestand und bringt zugleich das Zentralproblem der Cusanischen Erkenntnislehre wie Philosophie überhaupt zur Sprache: „Dies ist die allergeheimste Gotteslehre, zu der keiner der Philosophen vorgedrungen ist und auch nicht vordringen kann, solange der allgemeine Grundsatz aller Philosophie Bestand hat, daß zwei kontradiktorische Gegensätze nicht zusammenfallen. Daher ist es für den, der auf mystische Weise (gemeint ist die Philosophie des Dionysius Areopagita — d. Verf.) Gott sucht, nötig, über allen Verstand und über alle Vernunft, ja über sich selbst hinaus, sich in das Dunkel zu werfen. Und er wird finden, daß das, was der Verstand für unmöglich hält, nämlich daß Sein und Nichtsein gleich sind, daß dies gerade notwendig ist, ja daß, wenn dieses mächtige und dichte Dunkel der Unmöglichkeit nicht gesehen würde, die höchste Notwendigkeit nicht da wäre, die jener Unmöglichkeit widerspricht — Unmöglichkeit aber ist wahre Notwendigkeit selbst . . . Und mir will scheinen, daß jene ganze mystische Gotteslehre das Eintreten in die absolute Unendlichkeit selbst ist, denn Unendlichkeit heißt Zusammenfall von sich ausschließend Gegensätzlichem." Und in Kapitel 21 von „De beryllo" steht dann der die Philosophie des Cusanus zusammenfassende und sich umgreifende Satz: „Es ist etwas Großes, ohne Wanken festhalten zu können an der Verbindung der Gegensätze." 21

VI Um den Gedanken von der coincidentia oppositorum und damit den dialektischen Charakter des Verhältnisses von Endlichem und Unendlichem zu demonstrieren, greift Cusanus immer wieder auf mathematisches Denken zurück. Das Operieren mit Beispielen aus der Mathematik ist ein wesentlicher Grundzug seines Denkens. Es versteht sich von selbst, daß das mathematische Denken des Cusanus nur noch historisch interessant ist. Das ist in unserem Zusammenhang jedoch nicht entscheidend. Bedeutungsvoll ist die wissenschaftliche Grundeinstellung des Cusanus, die darin zum Ausdruck kommt und durch die er sein Jahrhundert übersteigt. Zur Illustration des mathematischen Denkens des Cusanus ein Beispiel, das zugleich erhellt, wie er auch in diesem Bereich menschlichen Wissens den Gedanken der coincidentia oppositorum zur Geltung bringen will. „Ich sage . . . : gäbe es eine unendliche Linie, so wäre sie ein Dreieck, Kreis und Kugel; ebenso, gäbe es eine unendliche Kugel, so wäre sie Dreieck, Kreis und Linie; das gleiche gilt vom unendlichen Dreieck und Kreis. Fürs erste erhellt, daß die unendliche Linie eine gerade ist. Denn der Durchmesser eines Kreises ist eine gerade Linie, die Peripherie eine krumme, größer als der Durchmesser. Wenn nun diese krumme Linie kleiner wird, je größer der Kreis ist, so ist die Peripherie des größtmöglichen Kreises gar nicht krumm, folglich ganz gerade; es coincidiert also das Kleinste mit dem Größten . . ." 2 5 Als Folgerung seiner mathematischen Demonstration hält Cusanus dann zusammenfassend fest: „In den göttlichen Dingen muß man in einem einfachen Begriffe, so weit es nur immer möglich ist, die Gegensätze in Eins zusammenfassen, indem man ihrem Auseinanderfallen in Gegensätze zuvorkommt . . . So darf man in den göttlichen Dingen nicht Unterscheiden und Nichtunterscheiden als zwei Gegensätze (contradicentia) auffassen, sondern muß sie a priori (antecedenter) in ihrem einfachsten Prinzip fassen, wo Unterscheiden und Nichtunterscheiden noch nicht etwas Verschiedenes sind; dann versteht man, daß Dreiheit und Einheit dasselbe sind. Denn wo Unterscheiden zugleich Nichtunterscheiden ist, da ist die Dreiheit Einheit, und umgekehrt: wo Nichtunterscheiden zugleich Unterscheiden ist, da ist die Einheit Dreiheit." 26 Das Operieren mit mathematischen Beispielen ist bei Cusanus eng mit der Betonung der Rolle des Experiments innerhalb des Erkenntnisprozesses und der Forderung, sich auch im Bereich der Philosophie am exakten Wissen zu orientieren, verbunden. Die Hervorkehrung von Mathematik, exaktem Wissen (Wissenschaft) und Experiment reißt einen Abgrund zwischen Cusanus und der scholastischen Philosophie auf. Sieht man von Roger Bacon ab, der schon«zwei Jahrhunderte vor Cusanus in eindringlicher Weise die Forderung nach einer scientia experimentalis erhob, so kündigt sich mit und durch Cusanus das Heraufkommen des mathematischen und experimentellen Denkens des 17. und 18. Jahrhunderts an. 22

Immer wieder weist Cusanus auf das Experiment als vorzügliches Mittel der Wahrheitsfindung hin. Im besonderen ist hier seine Schrift „Idiota de staticis experimentis" (1450) zu nennen. Sie gibt einen Überblick über den Entwicklungsstand des damaligen naturwissenschaftlichen und medizinischen Wissens. Sie bietet jedoch mehr als bloß einen Überblick und erlangt eben dadurch ihre Bedeutung: sie ist der Versuch, die Wissenschaften der Zeit unter einem Gesichtspunkt, dem des Wägens, somit Zählens und Messens, zu betrachten. So lesen wir: „Obschon nichts in dieser Welt die Genauigkeit27 erreichen kann, so machen wir dennoch die Erfahrung, daß das Ergebnis der Waage der Wahrheit näher kommt." 28 Am Ende der Schrift finden wir, freilich nicht in moderner Begriffssprache, einen Hinweis auf die Notwendigkeit, objektives Wissen in algorithmische Form zu bringen: „Nun hast du hinreichend die Gründe dargelegt, warum du wünschst, daß das Gewicht der Dinge, das mit Hilfe der Waage festgestellt wurde, auch in den verschiedensten Tabellen aufgeschrieben werde. Mir scheint daher, daß jenes Buch besonders nützlich sein wird und bei den Großen anzuregen ist, daß sie dies in verschiedenen Ländern aufzeichnen und in eins zusammentragen, damit wir zu vielem uns Verborgenem leichter gelangen." 29 Cusanus bringt dergestalt ein weiteres, grundsätzlich neues Moment zur Sprache. Er setzt die Quantifizierung der Erkenntnis als Notwendigkeit auf die Tagesordnung des philosophischen, wissenschaftlichen und damit auch gesellschaftlichen Fortschritts. Er orientiert auf eine selbständige Naturbeobachtung und das Experiment einschließende wissenschaftliche Forschung, die sich quantitativer Methoden bedient und exakte Maßbestimmungen für die Erscheinungen der Natur und ihre Erkenntnis ausarbeitet. Die stürmische Entwicklung der Naturwissenschaften, die sich in den folgenden Jahrhunderten vollzog und weit über diese Gedanken hinausführte, hat Cusanus nicht mehr erlebt. Das bleibende Verdienst des Cusanus ist es, in den Anfängen dieser Entwicklung ihre Notwendigkeit erkannt zu haben. VII Am Anfang seines letzten Lebensjahrzehnts schreibt Cusanus die Schrift „De pace seu concordantia fidei" (1453). In ihr nimmt er die bereits in der „Concordantia catholica" anklingende und sich durch sein Leben und seine Lehre hindurchziehende Idee der Toleranz wieder auf und gestaltet sie zu einem weltumspannenden Friedensgedanken, dem sich alle Völker und Gläubigen, gleich welcher Religion sie huldigen, anschließen sollen.30 Hierbei macht Cusanus deutlich, daß es vor allem praktisch-gesellschaftliche Gründe sind, die ihn eine solche Auffassung vortragen lassen. Ihm geht es darum, aus dem Leben der Gesellschaft den Krieg auszuschalten, dessen Ursache er in religiösen Differenzen, lokalem Glaubensfanatismus und fideistischer Intoleranz sieht. In dieser Schrift läßt er Vertreter vieler Religionen und Völker auftreten, über das Wahrheits23

problem diskutieren und zu dem Resultat gelangen, daß keine der Religionen das alleinige Recht auf Glaubensevidenz erheben dürfe, weil in seinem Blicke die „göttliche Wahrheit" eine sei und in vielen Religionsformen in Erscheinung trete.31 In der Schrift „De cribratione Alchoran" (1461) versucht er dann sogar, eine enge Wahrheitsverbindung von Koran und Evangelium nachzuweisen, um die Anhänger des Islams für eine Vereinigung mit dem Christentum zu gewinnen.32 Damit gehört Cusanus in die Reihe jener Denker, bei denen das Nebeneinander verschiedener sich befehdender Religionen, die allesamt alleinige Glaubensgewißheit beanspruchen, schon in frühen Jahrhunderten zur Frage nach der „wahren Religion" führte. Diese Frage schloß bereits die Möglichkeit zur Glaubensindifferenz und zum Unglauben in sich ein (eine Konsequenz, die sich bei Cusanus nicht findet). Von den arabischen Weisen über die Denker und Dichter der Renaissance bis zu denen der Aufklärung reizte diese Frage immer wieder zu Auseinandersetzung und künstlerischer Bewältigung, wie sie eindrucksvoll Lessing gelang. Lessing freilich — und damit ist der Unterschied von Cusanus und der Aufklärung angesprochen — entschied die Frage, ob der jüdischen, der christlichen oder der mohammedanischen Religion das Primat gebühre, indem er jeglicbe Offenbarungsreligion und orthodoxe Theologie mit der Ringparabel im Geiste humanistischer Toleranz zurückwies. VIII Das Leben des Cusanus fiel in die Zeit des Übergangs von der feudalen zur bürgerlichen Gesellschaft. Es ist eine Zeit gesellschaftlich-sozialer Gärung und Umschichtung. Sie ist der soziale Boden der Philosophie des Cusanus und ihr unverkennbar eigen. Einerseits in der Welt des Mittelalters mit ihrer christlichen Ideologie wurzelnd, ist Cusanus andererseits mit seinem Denken der kommenden bürgerlichen Entwicklung zugewandt. Die dialektischen Ansätze in seinem Denken, seine spekulative Vorwegnahme des kopernikanischen Weltbildes, seine neue Auffassung vom Menschen, die von ihm geforderte exakte Naturforschung und die von ihm entwickelte Idee der Toleranz und des Friedens — das alles sind Meilensteine, die der Denker aus Kues auf dem Wege zu einer wissenschaftlichen Weltanschauung gesetzt hat, die sich — über die Jahrhunderte hinweg — auch Nicolaus Cusanus verpflichtet weiß.

Der historische Ort der Philosophie Francis Bacons

Die Bedeutung Francis Bacons und seines Werkes für den Fortschritt der menschlichen Erkenntnis ist umstritten. Hochschätzung und Verurteilung wechseln in den Darstellungen der Geschichte der Philosophie und den Bacon gewidmeten Monographien miteinander. Über vierhundert Jahre nach der Geburt des englischen Philosophen am Beginn der bürgerlichen Ära gibt es noch immer keine einhellige Meinung zu seinen wissenschaftlichen Leistungen. Das ist kein Zufall. Die Verwirrung in den Urteilen über Bacon ist die Folge des ideologisch befangenen Herangehens der bürgerlichen Philosophiegeschichtsschreibung an die Entwicklung des philosophischen Denkens, die sie in erster Linie als geistesgeschichtliche Bewegung zu begreifen sucht, welche sich weitgehend unabhängig von den historisch-gesellschaftlichen Bedingungen vollzieht. Die daraus resultierenden Mängel wurden im Falle „des wahren Stammvaters des englischen Materialismus und aller modernen experimentierenden Wissenschaft" speziell vermehrt durch die Betroffenheit der konservativen und reaktionären ideologischen Nachfahren der einst progressiven Bourgeoisie gegenüber ihrer eigenen großen Vergangenheit, zu deren hervorragendsten Gestalten Francis Bacon gehörte. Das ist bezeichnend für die Stellungnahmen der bürgerlichen Philosophiegeschichtsschreibung zu allen materialistischen Philosophen der Bourgeoisie, obgleich in ihrer Werken nirgends der Spiegel der bürgerlichen Gesellschaft gebrochen wird. I Innerhalb der bürgerlichen Philosophiegeschichtsschreibung kommt K u n o Fischer in seinem Werk „Francis Bacon und seine Schule" 1 von Hegel ausgehend einer adäquaten Einschätzung der Baconschen Philosophie am nächsten. Fischer stellt in den Mittelpunkt seiner Darstellung den Satz des Philosophen „Die Wahrheit ist die Tochter der Zeit", begreift dergestalt sein Werk als Stufe, als Moment der Entwicklung des menschlichen Denkens und vermeidet so flache Aktualisierungen. Fischer nimmt die Philosophie Bacons als an eine bestimmte Zeit gebunden. Bacon „suchte", schreibt er, „die Wahrheit der Zeit, kein abgeschlossenes, sondern ein progressives Werk, das er selbst mit unverblendetem Urteil der Zeit unterwarf und hingab." 2 An anderer Stelle: Bacon „findet die 25

kirchliche Reformation als vollendete Tatsache vor, als öffentlichen Zustand: hier gibt es für die englische Philosophie . . . zunächst keine Arbeit . . . Ist die kirchliche Reformation in der englischen Staatskirche fest geworden, so ist dagegen die wissenschaftliche Reformation, die Erweiterung des menschlichen Welthorizontes in Fluß und Fortschritt begriffen. Hier liegt die Aufgabe und das Reich der Philosophie, diese Richtung muß sie mit vollem Bewußtsein ergreifen und ihr vorangehen. ,Die Wahrheit ist die Tochter der Zeit.' Die Zeit ist neu geworden; sie verstehen, heißt den Grund dieser umfassenden Welterneuerung durchschauen; auf dieser Einsicht die Philosophie erneuern, heißt sie zeitgemäß machen. Hier erkennt Bacon seine Aufgabe und seinen Beruf: es gilt die Erneuerung der Philosophie im Geiste des Zeitalters".3 In der Tat, Bacon hat den Sinn seines Bemühens um eine Erneuerung der Wissenschaften nie anders denn als eine Erneuerung im Geiste seines Zeitalters aufgefaßt. Das freilich gilt mit Einschränkung. Fischer ging in seiner Begeisterung für Bacon zu weit. So richtig es ist, Bacon aus seiner Zeit heraus begreifen zu wollen, so bedenklich werden Fischers Darlegungen, wenn er Hobbes, Locke, Berkeley, Hume, dazu noch den französischen Materialismus des 18. Jahrhunderts, die gesamte französische Aufklärung überhaupt als mehr oder minder einfache „Nachfolge" Bacons vorführt. Hier macht sich der Einfluß der Hegeischen Auffassung der Geschichte der Philosophie, als der kontinuierlichen Herausbildung der Grundkategorien des menschlichen Denkens, negativ bemerkbar. Um des „empirischen Prinzips" willen subsumiert Fischer Hobbes und Locke, Berkeley und Hume, Voltaire und Helvetius, je selbst Rousseau, unter den Begriff „Bacon und seine Schule". Daß dies dann in den einzelnen Fällen nicht ohne Konstruktionen und auch Gewaltsamkeiten abgeht, liegt auf der Hand. Hinzu kommt ein weiteres. In Fischers mehrbändiger Geschichte der Philosophie ist nicht nur Hegel wirksam, sondern es macht sich bereits die Weltanschauung der deutschen Bourgeoisie der Gründer jähre, der Neukantianismus, bemerkbar. Fischer hat ja in seinen philosophiehistorischen Arbeiten einen JanusKopf. Auf der einen Seite setzt er die Hegeische Tradition fort, wie gleich ihm etwa Zeller und Erdmann, auf der anderen Seite ordnet er sich der immer mehr zur Herrschaft gelangenden philosophischen Zeitströmung, dem Neukantianismus, unter. Die Philosophiegeschichte faßt der Neukantianismus wesentlich als Geschichte der Erkenntnistheorie auf, wobei Kant in diesem Zusammenhang als der Begründer der modernen und — dem Prinzip nach — einzig möglichen Erkenntnistheorie gefeiert wird, während die Entwicklung der Philosophie vor Kant als Hinführung zur „kritischen Erkenntnislehre", die Entwicklung der Philosophie nach Kant als Abirrung und Verirrung aufgefaßt werden. Das hat in unserem Falle zur Folge, daß bei Bacon nach Kategorien, zumindest nach Vorformen von Kategorien der Kantschen „Erkenntniskritik" gesucht wird. Das Ergebnis solchen Suchens ist hinsichtlich Bacons seit jeher zwangsläufig recht mager ausgefallen. Bei Fischer kommt sie vor allem dort zum Vorschein, wo er die Originalität der Gedankenleistung Bacons zu erfassen versucht. Da 26

er die Baconsche Originalität mehr im Blick auf Kant beurteilt, nimmt es nicht wunder, daß er aus Verlegenheit um wirkliche philosophische Leistungen am Ende den Wert Bacons im Künstlerisch-Rhetorischen findet und so seinem eigenen richtigen Ansatz untreu wird. Ungeachtet dessen bleibt bei Fischer das Bild Bacons als des großen Neuerers der Philosophie am Beginn der bürgerlichen Gesellschaft erhalten. Solchem Bestreben folgt auch noch Wilhelm Dilthey. In seiner Beschreibung der „Weltanschauung und Analyse des Menschen seit der Renaissance und Reformation" hält er fest: „In Bacon manifestiert sich der unbändige Lebens- und Gestaltungsdrang der Menschen der Renaissance in einer wissenschaftlichen Phantasie, welche die Herrschaft des Menschen über die gesamte Natur durch die Erkenntnis der Gesetze derselben herbeizuführen unternimmt. Diese Phantasie ist aber ganz positiv: die Imagination eines von den Realitäten erfüllten Kopfes. Er konstruiert von diesem Wirklichen aus seine Methode wie eine ungeheure Maschine, welche die Last der ganzen Erfahrung heben soll. So tritt in ihm der Typus des Menschen der Renaissance in einer neuen Modifikation auf: Es ist der Mensch, welcher seinem Willen, zu leben, zu herrschen und zu gestalten, ein Feld unbegrenzter Erweiterung durch Erkenntnis der Kräfte der Natur und durch Herrschaft über sie erobert. Die mittelalterliche Nachdenklichkeit über das Elend der Menschennatur bedarf nach ihm der Ergänzung durch das Studium der Prärogativen desselben. So betont er im Denken das schaffende Vermögen, im Willen die Verwirklichung der allgemeinen Wohlfahrt. Langsam steigen diese neuen mächtigen Beweggründe neben den kriegerischen und religiösen Affekten der feudalen Zeit auf und bemächtigen sich der Menschen. Von diesem neuen Standpunkt aus hat Bacon auch die Autonomie der moralischen Kraft und der sittlichen Erkenntnis zur Geltung gebracht." 4 Sicher — gegen Diltheys Schilderung der Gestalt Bacons gebe es manches einzuwenden. Zum Beispiel sieht er Bacons Anliegen mehr vom Psychologischen oder auch Künstlerisch-Intuitiven als von den Bewegungen der Gesellschaft der Zeit her. Dennoch wirkt bei Dilthey, gleich Kuno Fischer, Hegel und — mit Einschränkung — die gesamte klassische bürgerliche philosophische Tradition 5 noch nach, die sich etwa in der „Enzyklopädie" Diderots in dem Artikel „Genie", und zwar bezogen auf alle philosophischen und wissenschaftlichen Neuerer, Bacon ausdrücklich eingeschlossen, manifestierte. „. . . es entreißt der Finsternis ein fruchtbares Prinzip, verfolgt aber selten die Kette der Konsequenzen; es ist, um einen Ausdruck Montaignes zu gebrauchen, .sprunghaft'. Es stellt sich mehr vor, als es gesehen hat, bringt mehr hervor, als es entdeckt, und reißt mehr mit, als es führt." 6 Diese Sätze sind Bacon gleichsam auf den Leib geschrieben. Bacon hat nie die Kette der Konsequenzen verfolgt, wohl aber ein fruchtbares Prinzip der Finsternis entrissen — und das allerdings mit allen Konsequenzen. Das ist ein Widerspruch. Gewiß — wie aber als so ist der Fortschritt des menschlichen Denkens je begründet worden, wie aber als so 27

sind progressive gesellschaftliche Bewegungen je in Gang gekommen? Wir haben hier einen Tatbestand vor uns, der für die Beurteilung des Werkes von Bacon entscheidend ist und der darüber hinaus einen allgemeinen Grundsatz historischer Bloßlegung und aktueller Erhellung von großen philosophischen und wissenschaftlichen Leistungen vergangener Epochen darstellt. Bacon als Inaugurator der neuen bürgerlichen Philosophie — das ist das Thema, das Kuno Fischer und Wilhelm Dilthey abzuhandeln versuchen. Diesem Anliegen geht auch Wilhelm Windelband 7 , oft mit stärkeren Einschränkungen gegenüber den Würdigungen Bacons durch Fischer und Dilthey, noch nach. Einen Einschnitt in der Geschichte der bürgerlichen Bacon-Rezeption bildet die Stellungnahme Ernst Cassirers. 8 Cassirer ging konsequent von der neukantianischen Auffassung der Geschichte der Philosophie aus und kam zu dem Schluß, daß Bacon im allgemeinen überschätzt worden sei und entwicklungsgeschichtlich nicht an den Anfang der Philosophie der Moderne im engeren Sinne, sondern an das Ende der Renaissancephilosophie gehöre. Cassirer begründet das mit der Rückständigkeit des Baconschen Kategoriensystems. Diese Einschätzung machte Schule. Sie beherrscht bis heute mehr oder weniger fast alle bürgerlichen Philosophiegeschichten und Einzeldarstellungen der Lehre des Philosophen. Ähnlich hatte schon vor Cassirer Christoph Sigwart 9 geurteilt. Sigwart schätzt Bacon zwar als Staatsmann, Literaten, mit Einschränkung auch als Naturforscher, hält ihn aber als Philosophen für bedeutungslos. Um die gleiche Zeit wie Sigwart ließ auch Justus von Liebig 1 0 seine absolute Verurteilung Bacons erscheinen. Liebig verurteilt Bacon als Menschen, als Naturforscher und als Philosophen und geht so weit, den englischen Lordkanzler unter Jakob I. verantwortlich zu machen für die Ablehnung, auf die seine, Liebigs, Entdeckungen auf dem Gebiet der Agrikulturchemie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in England stießen. Von besonderem Einfluß war weder die Einschätzung Bacons durch Sigwart noch die durch Liebig. Innerhalb der bürgerlichen deutschen Philosophiegeschichtsschreibung blieb das Urteil Cassirers das maßgebliche. Nun hat Cassirer sicher in vielen Einzelheiten recht, worauf wir noch zu sprechen kommen werden. Allein mit seiner Bacon-Auffassung bereitete er auch jenen psychologisierenden Darstellungen den Weg, die in Deutschland seit etwa 1920 in Mode kamen. Wenn Bacon nähmlich nach Cassirer — um seine Einschätzung etwas zu überspitzen — weder philosophiegeschichtlich noch wissenschaftsgeschichtlich besonders bemerkenswert ist, dann ist er nur in einer Richtung interessant: als Persönlichkeit. So kam es, daß die Essex-Affäre, Bacons fortlaufende Geldschwierigkeiten, seine Verurteilung durch das Parlament usw. weit mehr im Zeitraum der Betrachtungen standen als die philosophischen Errungenschaften des großen Engländers. Übrigens war in gewisser Weise Helmut Heußler 1 * Cassirer vorangegangen. Von Taine beeinflußt, bezeichnete er Bacons Werk als den Endpunkt der englischen Renaissance: statt der Kunst, wie die italienischen Renaissancephiloso-

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phen, weise Bacon der Technik eine ausnehmende Rolle zu und konstruiere im Hinblick auf diese sein Weltbild. 1919 fiel dann das Wort vom „intellektuellen Machtgedanken" Bacons 12 , das wenig später der Italiener Giuseppe Furlani 13 erneut verwendete. Furlani stützte seine Behauptung durch den Nachweis einer alchimistischen Beeinflussung Bacons. Sicher hat Furlani mit letzterem recht, auch war ihm in diesem Punkte der Franzose Pierre Janet 1 4 1889 in seiner Thèse vorangegangen. Allein, mit der Feststellung des „intellektuellen Machtgedankens" war das Werk Bacons endgültig der Psychologie überantwortet worden — und es verging denn auch keine allzu lange Zeit, bis die historisierende Psychoanalyse sich Bacons und seines Werkes annahm.15 Damit war der Weg zum eigentlichen Wesen der Baconschen Philosophie versperrt worden. Was bei Kuno Fischer, Wilhelm Dilthey und zum Teil Wilhelm Windelband noch offenlag, das wurde durch die psychologisierende Betrachtungsweise im Falle Bacon in den letzten Jahrzehnten verschüttet. So steht eine gerechte und umfassende Würdigung der Baconschen Philosophie bis auf den heutigen Tag aus; dabei ist um kaum einen Philosophen leidenschaftlicher und erbitterter gestritten worden. Aus der jüngeren Vergangenheit kann man eigentlich nur zwei Bücher aus dem Bereich der deutschen bürgerlichen Philosophiegeschichtsschreibung nennen, die das Bemühen, Bacon gerecht zu werden, erkennen lassen: Walter Frost: „Bacon und die Naturphilosophie" und Hellmut Bock: „Staat und Gesellschaft bei Francis Bacon".16 Wir haben bei weitem nicht alle Bacon-Beurteilungen hier angeführt. Wir beschränkten uns im wesentlichen auf die deutsche Literatur, und aus dieser haben wir nur einige charakteristische Bücher herangezogen. Aber bereits die wenigen von uns genannten Werke machen deutlich, welch divergierende Meinungen über Bacon allein in der deutschen Literatur im Umlauf sind. Die Gründe hierfür sind nicht Unzulänglichkeiten der Verfasser der Bacon-Darstellungen oder mangelhafte Material- oder Quellenkenntnis, sondern vielmehr, wie eingangs vermerkt, die unzureichende Methodik der bürgerlichen Philosophiegeschichtsschreibung, besonders — und im Falle Bacons als materialistischen Philosophen verstärkt — weltanschauliche Aspekte. II Stellen wir uns die Fragen, nachdem wir die angeführten Bacon-Einschätzungen mehr oder minder als unzulänglich bezeichnen mußten: Was wollte Bacon eigentlich? Was bezweckte er mit seiner Philosophie? Was war das Charakteristische der Zeit Bacons, von der Kuno Fischer richtig ausging, zu deren Wesen aber auch er nicht vordrang? Gehen wir bei der Beantwortung von Cassirers Feststellung aus, daß Bacon mit seiner Philosophie dem Weltbild der bürgerlichen Neuzeit eigentlich nichts Neues hinzugefügt habe. In der Tat, wenn man den Maßstab vom mathematisch29

mechanistischen Weltbild des 17. und 18. Jahrhunderts oder in der Folge von Kant anlegt, erscheint das Baconsche Kategoriensystem als rückständig. Bacon hat weder die universelle Anwendung der Mathematik proklamiert noch Wissenschaftlichkeit und Gewißheit einzig in der Beweisform der euklidischen Geometrie gesehen. Bacon führt auch nicht mechanistisch alles Geschehen auf Bewegungen qualitativ gleichartiger Körper zurück. Und schließlich kennt Bacon auch nicht den Grundgedanken der mathematischen Naturwissenschaft und der an ihr orientierten Philosophie von der mechanischen Erklärung der Organismen. Verglichen mit der mathematisch-mechanistischen Philosophie ist Bacons kategorieller Apparat zweifellos viel mehr dem Überkommenen verbunden, als dem Neuen zugewandt. Cassirer hat das richtig herausgefunden. Dazu kommt Bacons Ablehnung vieler zukunftsträchtiger Entdeckungen und Theorien seiner Zeit. Er stellte sich sowohl gegen Kopernikus als auch gegen Galilei und Kepler. Auch gegen Gilbert und Harvey nahm Bacon Stellung. 1617 schreibt er in einem Brief an einen Freund den bezeichnenden Satz: „Ich wollte lieber, die Astronomen Italiens [gemeint ist Galilei] hielten sich etwas mehr an die Erfahrung und Beobachtung, anstatt uns mit chimärischen und verrückten Hypothesen [gemeint ist die kopernikanische Weltansicht] zu unterhalten." Solche und ähnliche Äußerungen brachten Bacon die sarkastische Bemerkung Harveys ein: „Bacon spricht von der Philosophie wie ein Lordkanzler." Allein, so richtig Cassirers Hinweis auf die Rückständigkeit des Baconschen kategoriellen Apparates ist und sosehr dieser durch eine Fülle von Belegen, nicht zuletzt eben durch Bacons negative Bemerkungen zu den repräsentativen Naturforschem seiner Zeit, unterstrichen wird, sowenig trifft er in letzter Instanz das Wesen und den Charakter der Philosophie des großen Engländers. Man muß in diesem Zusammenhang vor allem fragen, inwieweit es richtig ist, Bacon vornehmlich vom „Novum Organon" her einzuschätzen. Denn auf der isolierten Einschätzung des „Novum Organon" beruht im wesentlichen Cassirers Stellungnahme. Das „Novum Organon" aber war für Bacon niemals Zweck, sondern nur Mittel zum Zweck und Teil eines größeren Ganzen. Die isolierte Betrachtung des „Novum Organon" führte im überwiegenden Teil der Bacon-Literatur immer wieder zu dem Fehler, Bacon als gescheiterten Reformator der Logik darzustellen und sein gesamtes Wirken auf das „Organon" zu beziehen. Bacon als Reformator der Logik — das war die, oft stillschweigende, Voraussetzung fast aller bisherigen Bacon-Literatur. Aber gerade diese Voraussetzung ist falsch. Bacon wollte kein Reformator der Logik, sondern ein Reformator der menschlichen Gesellschaft sein. „Das wahre und gesetzte Ziel der Wissenschaften ist einfach dies", so schreibt er, „daß das Leben der Menschen durch neue Entdeckungen und Kräfte reicher werde." Diesem Ziel ordnete er alle seine Bemühungen unter, seine wissenschaftlichen und auch seine politischen, staatsmännischen, die von dieser Warte aus zu erklären sind und insofern eine ganz andere Beurteilung erfahren müssen, als sie bisher erfahren haben. In diesen Bemühungen ist das „Novum Organon" nur ein Teilstück. Denn Bacons erklärte 30

Absicht war: das Los des Menschengeschlechts zu verbessern helfen — in erster Linie durch Erweiterung unseres Wissens von der Natur und in der Folge durch Ausweitung der Herrschaft des Menschen über die Natur. Erst auf dieser Basis stellt Bacon dann die weitgehende Frage nach den konkreten Mitteln zui Verwirklichung dieses Zieles, und es entsteht bei ihm der Gedanke einer neuen Grundlegung der Wissenschaften. Bacon wollte nie eine Logik als Lehre vom richtigen Denken begründen, sondern eine Wissenschaft der Erfindung ausarbeiten, gleichsam eine Logik der Erfindung. Nur in dieser Beziehung ist das Wort „Logik" bei Bacon angebracht. Und Bacon war fest davon überzeugt, daß die Wissenschaft der Erfindung „selbst wieder Fortschritte machen wird im Gefolge der immer neuen Erfindungen". Jürgen Kuczynski schreibt in einem bemerkenswerten Aufsatz zu Bacons Schrift „Die Weisheit der Antike" richtig: „Die Aufgabe, die Bacon sich stellt, . . . ist, gewissermaßen eine Wissenschaft der Entwicklung der Produktivkräfte, eine Kunst der technischen Erfindungen, eine Logik der Hebung der Produktivität auszuarbeiten — die entscheidende Aufgabe für einen Wissenschaftler der kapitalistischen Bourgeoisie zu Beginn ihrer Herrschaft." 17 Marx war der erste, der diese Zusammenhänge, die Absicht Bacons klar erkannte und ihn richtig in den fortschreitenden Prozeß der menschlichen Erkenntnis einzuordnen wußte. „Die heilige Familie" vermerkt: „Der wahre Stammvater des englischen Materialismus und aller modernen experimentierenden Wissenschaft ist Baco. Die Naturwissenschaft gilt ihm als die wahre Wissenschaft und die sinnliche Phjsik als der vornehmste Teil der Naturwissenschaft . . . Nach seiner Lehre sind die Sinne untrüglich und die Quelle aller Kenntnisse. Die Wissenschaft ist Erfabrungswissenschaft und besteht darin, eine rationelle Metbode auf das sinnlich Gegebene anzuwenden. Induktion, Analyse, Vergleichung, Beobachtung, Experimentieren sind die Hauptbedingungen einer rationellen Methode. Unter den der Materie eingeborenen Eigenschaften ist die Bewegung die erste und vorzüglichste, nicht nur als mechanische und mathematische Bewegung, sondern mehr noch als Trieb, Lebensgeist, Spannkraft, als Qual — um einen Ausdruck Jakob Böhmes zu gebrauchen — der Materie. Die primitiven Formen der letztern sind lebendige, individualisierende, ihr inhärente, die spezifischen Unterschiede produzierende Wesenskräfte. In Baco, als seinem ersten Schöpfer, birgt der Materialismus noch auf naive Weise die Keime seiner allseitigen Entwicklung in sich . . . Die aphoristische Doktrin selbst wimmelt dagegen noch von theologischen Inkonsequenzen." 18 Marx umreißt mit wenigen Worten präzis Bacons Stellung innerhalb der Geschichte des menschlichen Denkens. Und obwohl er mit seiner Einschätzung nicht darauf aus war, Kernsätze einer Bacon-Interpretation zu entwickeln, sind solche in nuce doch in seinen Ausführungen enthalten. Marx arbeitet vier Momente heraus, die die Grundlage einer Beurteilung der Philosophie Bacons darstellen: Bacons Begründung des modernen englischen Materialismus, Bacons Forderung nach einem soliden Bündnis von Philosophie und Naturwissenschaft und nach einer rationellen Forschungsmethode, Bacons all31

seitige, das heißt noch nicht mechanistisch verengte Auffassung der Materie, und schließlich Bacons theologische Inkonsequenzen. Diese vier Momente bestimmen sowohl die Größe als auch die Grenzen Bacons. Die theologischen Inkonsequenzen finden ihren Ausdruck darin, daß Bacon zwischen der Erkenntnis der Natur und der Erkenntnis Gottes unterscheidet und beide Erkenntnisarten gleichberechtigt nebeneinanderstellt. Es handelt sich hierbei um eine Auffassung, die Bacon mit allen materialistischen Philosophen der frühbürgerlichen Entwicklung teilt und die, so fraglich und inkonsequent sie heute auch erscheinen mag, dennoch einen großen Fortschritt in der damaligen Zeit bedeutet. Verglichen mit dem Abhängigkeits- und Unterordnungsverhältnis, in dem sich die Philosophie gegenüber der Theologie im Mittelalter befand, ist die Souveränitätserklärung der Philosophie durch Bacon, seine konsequent durchgeführte Trennung von Philosophie und Theologie, ein großer Schritt vorwärts zur atheistischen Konsequenz des französischen bürgerlichen Materialismus im 18. Jahrhundert. Im „Kapital" ergänzt Marx seine in der „Heiligen Familie" gegebene Einschätzung der Baconschen Philosophie durch Hinweise auf die Beziehungen zwischen dieser und der Herausbildung des Kapitalismus in England am Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts. Er macht darauf aufmerksam, daß Bacon einer Illusion unterliegt, wenn er annimmt, daß „eine veränderte Gestalt der Produktion und praktischen Beherrschung der Natur durch den Menschen als Resultat der veränderten Denkmethode" anzusehen sei.19 Diese Feststellung ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Als erstes weist Marx nach, daß die Proklamierung einer neuen Denkmethode noch lange keine Veränderung in der materiellen Produktion nach sich zieht, was Bacon annimmt, sondern hierzu ganz andere Voraussetzungen vorhanden sein müssen; ja, daß in der Umkehrung der Baconschen Annahme die Wahrheit zu suchen ist. Zugleich macht dieser Sachverhalt jedoch deutlich, daß es Bacon nicht nur um die Schaffung einer neuen Denkmethode, sondern um Veränderungen innerhalb der gesellschaftlichen Verhältnisse ging. Die neue Denkmethode war für Bacon nur ein Mittel, mit dessen Hilfe er die für notwendig befundenen Änderungen durchsetzen wollte. Weiter bringt Marx an dieser Stelle Bacon mit Descartes in Zusammenhang und führt aus, daß sowohl Bacon als auch Descartes, die beiden eigentlichen Inauguratoren der bürgerlichen Philosophie, denselben Ausgangspunkt haben und Descartes Bacons Illusion vom unmittelbar praktischgesellschaftlichen Niederschlag einer neuen Denkmethode teilt. Bemerkenswert ist Marx' gleichzeitiger Bezug auf Descartes und Bacon auch deshalb, weil ein großer Teil der bürgerlichen Philosophiehistoriker zwar Descartes die Rolle eines bahnbrechenden Denkers am Beginn der Neuzeit einräumt, Bacon dagegen diese Rolle streitig macht. Und schließlich erhellt Marx hier die Abhängigkeit der Lehre Bacons von einer ganz bestimmten Entwicklungsstufe der bürgerlichen Gesellschaft, der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals. Es ist deshalb kein Zufall, daß er im 24. Kapitel des „Kapitals" noch einmal auf Bacon zurück32

kommt und ihn zustimmend zitiert.20 Denn Bacons Philosophie ist zweifellos in einem ganz spezifischen Sinne das Produkt jener Zeit, in der sich das Vorspiel der großen Umwälzung vollzog, die die Grundlage der kapitalistischen Produktionsweise schuf. Die Hinweise von Marx sind die Grundlage jeder wissenschaftlichen BaconInterpretation. Viele Schwierigkeiten in der Bewertung der Baconschen Philosophie und der Persönlichkeit Bacon, mit denen die bürgerliche Philosophiegeschichtsschreibung nie recht fertig wurde, beheben sich, geht man von Marx aus.21 Hierfür zwei Beispiele. Wie wichtig es ist, Bacons Philosophie im Zusammenhang mit der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals zu sehen, zeigen seine „Essays". Die „Essays" bieten ja zumindest dadurch interpretatorische Schwierigkeiten, daß in ihnen die Frage nach dem Wesen des Menschen oder dem Sinn des Lebens keine Rolle spielt. Verglichen mit der französischen Moralphilosophie dieser Jahrzehnte ist das eigenartig, worauf in der Bacon-Literatur aufmerksam gemacht wurde. Hält man sich jedoch vor Augen, daß das Leben Bacons in jene Zeit fällt, in der in England die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals ihren Höhepunkt erreicht, so hat man den Schlüssel zur Erklärung dieses Tatbestandes. Bacon lag jeder Idealismus und jede Theorie in Fragen der Moral fern, ihn interessiert die möglichst widerspruchsfreie Ausgestaltung seiner neuen Denkmethode, die, von ihm nicht als Selbstzweck gefaßt, ihrerseits eine neue Naturauffassung begründet und welche — das ist das entscheidend Neue, was Bacon in die Philosophie und Naturforschung einführte — eine ausgesprochen praktische Zielsetzung hat. „Wissen und menschliches Können ergänzen sich insofern, als ja Unkenntnis der Ursache die Wirkung verfehlen läßt. Die Natur nämlich läßt sich nur durch Gehorsam bändigen; was bei der Betrachtung als Ursache erfaßt ist, dient bei der Ausführung als Regel." Diese von Bacon geforderte praktische Zielsetzung der Naturforschung ist aber genau der Trend der Zeit. Bacon ist sein Dolmetscher. Er bildet sich heraus auf der Grundlage der Bestrebungen nach Rationalisierung des Handwerks und des Wunsches nach Erweiterung der Kenntnisse in ganz bestimmten, mit der Industrie der Zeit eng verbundenen Wissenszweigen, wie der Festungsbaukunst, der Nautik, bestimmten Bereichen der Chemie und Mechanik. Den „Rittern der ursprünglichen Akkumulation" ging es nicht um Wissen schlechthin, ihnen war es relativ gleichgültig, ob Kopernikus sich im Recht oder Unrecht befand, sondern ihnen ging es um Wissen, das sich unmittelbar praktisch bewährte. Ihnen war weniger an geschlossenen Theorien als vielmehr an Teilkenntnissen gelegen, die sofort und unmittelbar, ohne Umwege in der industriellen Praxis verwertet werden konnten. Um ein Höchstmaß an praktischer Verwertbarkeit wissenschaftlicher Ergebnisse zu erreichen, mußten weitgehend alle „bloß" theoretischen Fragen aus der Wissenschaft ausgeschaltet werden. Dazu gehörte auch die Frage nach dem Wesen des Menschen. Bacon wäre den Intentionen seines eigenen Denkens und dem Geist seiner eigenen Zeit, deren bewußter Sohn er war, untreu geworden, hätte er diese Frage auch nur aufgewor3 Buhr

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fen, geschweige zu beantworten versucht. Das ist der Grund, warum Bacon in seinen „Essays" die Frage nach dem Wesen des Menschen nicht reflektiert und sich seine Psychologie in der Sammlung von Beobachtungen über das menschliche Verhalten erschöpft. Auch eine andere, viel diskutierte Frage ist von Marx aus zu beantworten: Bacons Sturz als Lordkanzler und seine Verurteilung durch das Parlament. Man kann die Antwort auf diese Frage nicht in Bacons Persönlichkeit finden. Es muß gesehen werden, daß die Zeit Bacons nicht nur der Höhepunkt der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals in England war, sondern als solche auch, wie Marx bemerkt, der „Prolog der englischen Revolution". Die Stellungnahme des Parlaments gegen Bacon war nicht bloß die Verurteilung eines ihrer repräsentativsten Mitglieder wegen Bestechung im Amt, was übrigens unter den englischen königlichen Beamten der damaligen Zeit an der Tagesordnung war, sondern die Verurteilung des ersten Beamten der absolutistischen Krone, die nach vorübergehender Förderung der bürgerlichen Elemente ein Hemmschuh für ihre weitere Entwicklung geworden war. Bacon war somit eines der ersten prominenten Opfer der englischen bürgerlichen Revolution. Die Verurteilung Bacons durch das Parlament muß im Zusammenhang mit dem Heranreifen einer revolutionären Situation in England gesehen werden. Inwieweit Bacon das Urteil wegen Bestechung im Amt trifft oder nicht und inwieweit seine Verfehlungen aus seinem Charakter resultieren, ist dabei von sekundärer Bedeutung. Bacon selber hatte von diesen Zusammenhängen eine Ahnung, wenn er sagte: „Der erste Blitz trifft den Kanzler, der zweite wird die Krone treffen." Wie sehr t i damit recht hatte, offenbarte die Geschichte wenig später. 1649 traf die englische Krone im buchstäblichen Sinne der Blitz, das Beil des Henkers. Dabei ist es nur eine Ironie der Geschichte, wenn Bacon ein Opfer jener Kräfte wurde, für die er auf theoretischem Felde so unendlich viel geleistet hat. III Für die Gesamteinschätzung des Baconschen Werkes gilt ein Satz von Henry Thomas Buckle über Descartes. Buckle, einer der letzten progressiven Historiker der bürgerlichen Gesellschaft, sieht den Beitrag Descartes' zur Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft weniger in theoretischen Neuschöpfungen als vielmehr im Abbau alter, überkommener Denkgewohnheiten. „Die Nachwelt ist ihm [Descartes]", schreibt Buckle, „nicht so sehr für das, was er aufgebaut, als für das, was er niedergerissen, verpflichtet. Sein ganzes Leben war ein einziger glücklicher Feldzug gegen die Vorurteile und Überlieferungen der Menschen. Er war groß als Schöpfer, aber bei weitem größer als Zerstörer, er war der große Reformator und Befreier des europäischen Denkens." 22 Dasselbe kann von Bacon behauptet werden, ja die Feststellung Buckles trifft eigentlich in weit größerem Ausmaß auf ihn zu. Bacon war sicher groß als Schöpfer, allein, er war bei weitem größer als Zerstörer. Der Bruch, den er als Ideologe des aufstrebenden Bürger34

tums mit der geistigen Vergangenheit, d. i. mit der ideologischen Tradition der feudalen Gesellschaft, vollzog, war tief und scharf. Besonders die Zerstörung hergebrachter Meinungen und Vorurteile sowie des Glaubens an Autoritäten war Bacons geschichtliche Leistung. Die feudale Ideologie war ja wesentlich ein Denken für und in Autoritäten. Ein solches Denken war für die neue bürgerliche Klasse unannehmbar, weil es ihren ureigensten Interessen zuwiderlief. Ihren geistigen Wortführern mußte daher, nicht zuletzt als Folge der gesellschaftlichen Stellung der Bourgeoisie in der feudal-absolutistischen Gesellschaft, als einer zwar aufstrebenden, aber noch unterdrückten, noch nicht zur politischen Herrschaft gekommenen Klasse, daran gelegen sein, den Beweis zu erbringen, daß der Mensch frei und unabhängig von jeder Autorität, gleich welcher Art, ist. Insofern geht es dem bürgerlichen Denken zwangsläufig zunächst darum, niederzureißen, den Glauben an Autoritäten zu erschüttern und aus ihm resultierenden Vorurteilen den Kampf anzusagen. Die Lösung dieser Aufgabe war für die erste Generation der bürgerlichen Denker eine Lebensfrage ihrer Klasse. Und es ist ein Kennzeichen für den Grad bürgerlicher Interessenvertretung eines Denkers, inwieweit der Kampf gegen Autoritäten und Vorurteile in seiner Lehre eine Rolle spielt. Wer aber hätte den Kampf gegen Autoritäten und Vorurteile mehr auf seine Fahnen geschrieben als Bacon: „Die Wahrheit ist die Tochter der Zeit", so schreibt er, „und nicht der Autorität, und es wäre eine Schande für die Menschheit, wenn die Gebiete der materiellen Welt, die Länder, Meere, Gestirne in unseren- Zeiten unermeßlich erweitert und erleuchtet werden, die Grenzen der intellektuellen Welt dagegen in der Enge des Altertums oder Mittelalters festgebannt blieben." Bacons Idolenlehre ist nichts anderes als eine scharfe Kampfansage gegen Autöritätsgläubigkeit und Vorurteile. In dieser Lehre, die immer wieder unterschätzt wurde, war er bahnbrechend. Die Unterschätzung der Idolenlehre resultiert zunächst aus dem Ausgeführten, daß nämlich in der Regel der Maßstab zur Beurteilung Bacons von der mathematischen Naturwissenschaft und der an ihr orientierten Philosophie und in der Folge von Kant hergeholt und so zwangsläufig Bacon ausschließlich unter der erkenntnistheoretischen Fragestellung betrachtet wurde. Abgesehen davon, daß ein solches Herangehen das mathematisch-mechanistische Denken verabsolutierte, statt es als Moment, als Durchgangsstufe der menschlichen Erkenntnis zu fassen, wird der Reichtum der Baconschen Philosophie so schon im Beurteilungsansatz verarmt, indem von vornherein das Ergebnis auf die Erkenntnistheorie, dazu noch auf eine ganz bestimmte, zugeschnitten erscheint. Gewiß liegt Bacons Stärke nicht auf erkenntnistheoretischem Gebiet im engeren Sinne. Aber Bacon war groß auf einem anderen Gebiet, das jeder Erkenntnistheorie, soll und will sie es wirklich sein, vorhergeht, auf dem Gebiet der Ideologienkritik. Mit seiner Lehre von den Idolen schuf er eine Vorform der Ideologienkritik. Wir sprechen absichtlich von einer Vorform der Ideologienkritik, weil er in ihr nicht das Verhältnis von gesellschaftlichem Sein und gesellschaftlichem Bewußtsein behandelt, 3*

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sondern zu eliminierende negative Auswirkungen überkommener Begriffe, Vorurteile, falscher Methoden usw. im Bereich der Naturforschung. Cassirer nennt nicht unzutreffend Bacons Lehre von den Idolen „eine Pathologie des Vorstellens und Urteilens" 23. Mit ihr streute er den Samen, der so fruchtbringend in der Vorbereitungszeit der französischen bürgerlichen Revolution aufgehen sollte. Helvetius und Holbach vor allem werden sich ihrer annehmen, sie konsequent ausgestalten und vom Gebiet der Naturforschung, wo sie bei Bacon zunächst ihren Ort hatte, auf das Gebiet der Gesellschaftslehre übertragen. Sieht man die Lehre von den Idolen im Zusammenhang mit ihrer späteren Ausgestaltung und politischen Wirkung in der Vorbereitungszeit der französischen bürgerlichen Revolution, so erscheint sie als ein Kernstück des „Novum Organon", in dessen erstem Teil sie niedergelegt ist. Daß die Idolenlehre, trotz vorzüglicher Darstellungen ihres Inhalts in der Literatur, in ihrer eigentlichen Bedeutung nie richtig gewürdigt wurde, hat, neben der Verabsolutierung des mathematischmechanistischen Denkens, primär weltanschauliche Gründe. In ihrer radikalen Ausgestaltung war die Idolenlehre ein vorzügliches Mittel der jungen Bourgeoisie zur Bekämpfung der politischen und kirchlichen Institutionen des feudal-absolutistischen Staates. Allein, was die aufstrebende Bourgeoisie als ideologisches Kampfinstrument gegen die feudal-absolutistisch-klerikalen Gewalten entwikkelte, warf die herrschende Bourgeoisie über Bord, sobald sich ihre Frontstellung gegen das Proletariat verkehrte. So kam es, daß nicht einmal die historische bürgerliche Forschung der Idolenlehre besonderes Interesse entgegenbrachte. IV Bacon war der Sohn einer Zeit, in der eine neue Produktionsweise auf den Plan trat, deren Herausbildung und Entwicklung begleitet war von der Entdeckung neuer Erdteile, von epochemachenden Erfindungen, von Erkenntnissen, die den Grundstein zur stürmischen Entwicklung der Wissenschaften für ganze Jahrhunderte legte. Bacon war es nicht vergönnt, an einer dieser großen wissenschaftlichen Erfindungen oder Entdeckungen teilzuhaben. Im Grunde bestand seine Absicht auch gar nicht darin, diese oder jene Erfindung zu machen, sondern bloßzulegen, wie man erfindet und wie man entdeckt und schließlich, wie man denken muß, um erfinden und entdecken zu können. Von dieser Fragestellung ausgehend, gelang es ihm wie keinem zweiten, den Geist der Zeit zu erfassen, die Philosophie auf die Höhe der Zeit zu bringen und den Zeitgeist dem allgemeinen Bewußtsein zugänglich zu machen. Darin liegt sein unbestreitbares Verdienst. Und letzten Endes dienten alle seine Bestrebungen dem großen humanistischen Ziel, „zu versuchen, ob . . . festere Grundlagen für die menschliche Macht und Größe gelegt und deren Grenzen weiter ausgedehnt werden können". Mit dieser Forderung begab sich Bacon unter die Besten der Menschheitskultur, auf deren Erbe wir uns zu besinnen haben.24 36

Zur Philosophie von Gottfried Wilhelm Leibniz

In seiner „Geschichte der neuern Philosophie, Darstellung, Entwicklung und Kritik der Leibnizschen Philosophie" schreibt Ludwig Feuerbach: „Die gehaltvollste Erscheinung auf dem Gebiete der neuern Philosophie nach Cartesius und Spinoza ist — ungeachtet der allerdings höchst empfindlichen Lücken und Mängel seiner Philosophie — Leibni Die Entwicklungsfähigkeit ist das Zeichen dessen, was Philosophie ist. Locke z. B. ist keiner Entwicklung fähig, keiner bedürftig. Was Locke wollte und dachte, ist jedem bekannt, der irgendeine Geschichte der neuern Philosophie gelesen hat, nicht, was Leibniz. Locke kann im wesentlichen nicht mißverstanden, nicht oberflächlich behandelt werden, aber Leibniz. Locke hat den Sinnenscbein — etwas anderes ist Erfahrung — für sich, Leibniz gegen sich. Die Ansicht, daß die Sonne sich bewegt, bedarf keiner Entwicklung aus Gründen, wohl aber die, daß die Erde sich bewegt. Zwischen Locke in dieser und Locke in jener Geschichte kann daher auch nur ein formeller Unterschied stattfinden; nicht so bei Leibniz." 1 Diese Feststellung von Ludwig Feuerbach am Eingang seiner Leibniz-Darstellung markiert jene Grundschwierigkeit, der jede Beschäftigung mit dem Schaffen von Leibniz, insbesondere mit seinem philosophischen, ausgesetzt ist. Sie resultiert wesentlich aus drei Momenten: Erstens: Leibniz war zwar seinen philosophischen sowie wissenschaftlichen Zeitgenossen und unmittelbaren Vorgängern (Descartes, Gassendi, Hobbes, Locke, Spinoza, der neuen Naturwissenschaft: Pascal, Huygens . . . Newton) verpflichtet, zugleich aber brachte er — weit mehr als diese und umfassend — die philosophische Überlieferung (griechische Philosophie: Piaton, Aristoteles, Atomistik; mittelalterliche Scholastik, jüdische Mystik) in sein Denken ein. Es ist geradezu die Signatur seines Denkens, daß es in schöpferischer Verbindung mit der europäischen philosophischen und wissenschaftlichen Entwicklung von der griechischen Antike bis in seine Gegenwart hinein stand. Philosophische und wissenschaftliche Tradition vereinen sich bei Leibniz mit der philosophischen und wissenschaftlichen Gegenwart zu außerordentlicher Fruchtbarkeit. Dies ist ein charakteristisches Merkmal des philosophischen und wissenschaftlichen Werkes von Leibniz, das in solcher Intensität in der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte höchst selten aufgetreten ist. Mit Leibniz sind in diesem Zusammenhang vielleicht noch Aristoteles und Hegel, dann Marx/Engels/Lenin zu nennen. Auf 37

diesem Sachverhalt beruht der immer wieder hervorgehobene und nur schwer zu fassende, weil großartige Ideenreichtum des Denkens von Leibniz, wie ebenso darauf, daß es zum Quell nicht nur der Fortführung, sondern mehr noch der Anregung geworden ist. Wie auf vielen anderen Gebieten, so vor allem auf dem der Physik, Mathematik und Geschichtsschreibung, war Leibniz auch in der Philosophie Entdecker und in noch größerem Maße Anreger. Insofern war Leibniz' philosophisches Denken ungleich tiefer als das seiner Zeitgenossen und unmittelbaren Vorgänger, andererseits war es aber auch ungleich zurückhaltender, bescheidener, inkonsequenter und bruchstückhafter. Dieser Tatbestand ist der tiefere Grund dafür, daß Leibniz in der Geschichte der Philosophie bis auf den heutigen Tag immer wieder überschätzt und zugleich unterschätzt worden ist. Leibniz' wirkliches Verdienst etwa, die eigentliche Grundlegung der philosophischen Entwicklung über Kant, Fichte und Schelling zu Hegel und Feuerbach 2 , wurde weitgehend vernachlässigt, während Keime seines Denkens, neue Fragestellungen, Aphorismen — in der Auseinandersetzung mit der philosophischen Tradition und der Entwicklung der neuen Naturwissenschaft hingeworfen — zum Leibnizschen philosophischen System, was es strenggenommen gar nicht gegeben hat, stilisiert wurden. Zweitens: Leibniz stand vor der Schwierigkeit, seine Gedanken in Begriffen und mit Hilfe von Kategorien zu formulieren, die vornehmlich aus der Philosophie Piatons, Aristoteles' und der Scholastik stammten. Er war also auf eine philosophische Form angewiesen, die dem Inhalt nicht adäquat war, der zum Ausdruck gebracht werden sollte. Und da jede Form den Inhalt beeinflußt, so trat der in überlieferter philosophischer Form formulierte Inhalt nicht selten inkonsequent und widerspruchsvoll bei Leibniz hervor. Manches Mißverständnis, dem das Leibnizsche Denken ausgesetzt war (und ist), beruht auf diesem Tatbestand. Doch ist dies nur die eine Seite. Leibniz war der philosophischen Tradition so bewußt verbunden — und das heißt: er erkannte vorzüglich ihre Bedeutung für den weiteren philosophischen und wissenschaftlichen Fortschritt —, daß er mit ihrer Form zwar neue Sachverhalte — meist im Zusammenhang mit Problemstellungen und Ergebnissen der neuen Naturwissenschaft — formulierte, dennoch aber deren ursprünglichen Inhalt nicht restlos verdrängt wissen wollte, um die Kontinuität des philosophischen Gedankens zu bewahren. Das Denken von Leibniz wäre in der Tat um manche fruchtbare Idee und an Bedeutung ärmer, wenn dieser einen anderen Weg beschritten hätte. Drittens: Leibniz nahm die Entwicklung der neuen Naturwissenschaft in sein Denken auf, versicherte sich aber nicht wie die meisten seiner Zeitgenossen unbesehen deren Methodologie, sondern wußte sehr wohl um den Unterschied zwischen philosophischer und einzelwissenschaftlicher Methodologie, insbesondere um die Schwierigkeit, philosophische Prinzipien mit Hilfe der damals bekannten Gesetze der Mechanik zu demonstrieren. Im Grunde kommt hier die eigentliche Größe des Denkens von Leibniz zum Aufschein. Bei aller Orientierung an den Erfolgen der neuen Naturwissenschaft, 38

an deren Entwicklung er selbst nicht unwesentlich beteiligt war, wußte er doch die Spezifik der Philosophie zu wahren. Leibniz war vorschnellen philosophischweltanschaulichen Verallgemeinerungen von naturwissenschaftlichen Sätzen oder gar ihrer bloßen Umformulierung in philosophische abhold. Für ihn war die Mechanik noch nicht die Philosophie, die Mathematik noch nicht die neue philosophische Methode und die neue Naturwissenschaft noch nicht das neue philosophische Weltbild, die neue Weltanschauung. In dieser Beziehung ist dem Leibnizschen Denken eine unverlierbare Aktualität eigen, deren man sich philosophiegeschichtlich und wissenschaftshistorisch immer wieder versichern sollte. Denn das Fortschreiten der Einzelwissenschaften ist nicht gleich dem Fortschritt der Philosophie und umgekehrt. Zwischen beiden findet Wechselwirkung statt. Das ist mehr als bloße Übernahme von Ergebnissen der Einzelwissenschaften in die Philosophie. Die Einzelwissenschaften sind für die Philosophie keine Pfandleihe oder gar eine Rückversicherung. Ebensowenig ist die Philosophie für die Einzelwissenschaften ein weltanschauliches Leihhaus. 3 Philosophie ist immer auf Totalität aus, deren grundlegende Bestimmung der historische Prozeß ist. Das Fortschreiten der Einzelwissenschaften, besser: jeweils einzelner Wissenschaften ist nur ein Teil davon. Selbst die Summierung dieses Fortschreitens macht noch nicht den historischen Prozeß aus, dem sich große Philosophie seit eh und je verpflichtet wußte und dem sich Philosophie zu verpflichten hat. Leibniz war sich der hier angerissenen Problematik — und darin liegt mit seine Größe beschlossen — wie kaum eine andere Persönlichkeit aus der Geschichte des Denkens und der Wissenschaften bewußt. Und darin ist auch das eigentlich Philosophische seines Schaffens zu erblicken. Die Philosophie von Leibniz ist weitgehend identisch mit dieser Einstellung, mit diesem Vorgehen, mit dieser Art zu denken — erst in zweiter Linie mit seinem Substanzbegriff, seiner Lehre von den Monaden oder dem Lehrstück von der prästabilierten Harmonie, so bedeutungsvoll diese, vor allem sein Substanzbegriff, für die Geschichte der Philosophie sonst auch gewesen sind. Für diese Leibniz eigene Art zu denken, die eine echte philosophische war, zwei Zeugnisse: In einem Brief an Remond vom 10. Januar 1714 bekannte er über seine eigene Entwicklung: „Der Schule entwachsen, lernte ich die Modernen kennen, und ich erinnere mich, wie ich als Fünfzehnjähriger in einem Gehölz bei Leipzig mit dem Namen Rosendal spazierenging und darüber nachsann, ob ich an den substantiellen Formen festhalten solle. Schließlich gewann die mechanische Theorie Oberhand und veranlaßte mich, mich mit der Mathematik zu befassen. Mit deren tiefsten Geheimnissen wurde ich aber erst im Umgang mit Herrn Huygens in Paris vertraut. Doch als ich die letzten Gründe der mechanischen Anschauungen und gar die Gesetze der Bewegung suchte, entdeckte ich zu meiner Überraschung, daß es unmöglich sei, sie in der Mathematik zu finden, und daß man zur Metaphysik zurückkehren müsse. Das führte mich zu den Entelechien und vom Stofflichen zum Gestalthaften zurück." Und in einer der wenigen philosophischen systematischen Abhandlungen, die 39

aus der Feder von Leibniz stammen und zu seinen Lebzeiten gedruckt wurden, stellt er fest: „Obwohl ich zu denen gehöre, die viel mathematisch gearbeitet haben, habe ich doch auch von Jugend an philosophisch nachgedacht; denn es schien mir immer, daß es möglich sein müßte, hier durch klare Beweise etwas Gediegenes festzustellen. Ich war schon sehr tief in das Land der Scholastiker eingedrungen, als mich die Mathematik und die modernen Schriftsteller noch als sehr jungen Menschen wieder herausholten. Ihre schöne Art, die Natur mechanisch zu erklären, entzückte mich, und ich verachtete mit Recht die Methode derer, die nur mit Formen oder Vermögen operieren, durch die man nichts lernt. Als ich aber danach versucht hatte, die Prinzipien der Mechanik selbst zu vertiefen, um die Naturgesetze, die die Erfahrung zu erkennen gab, zu begründen, bemerkte ich, daß die bloße Betrachtung einer ausgedehnten Masse nicht genügt, und daß man den Begriff der Kraft hinzunehmen mußte, der sehr wohl verständlich zu machen ist, obwohl er ins Gebiet der Metaphysik gehört." 4 Beide Zeugnisse offenbaren sehr charakteristisch die Art und Weise des Leibnizschen Denkens. Leibniz unterstreicht jeweils, daß sein Ausgangspunkt zunächst die Wissenschaftsentwicklung der Zeit war. Gerade diese aber — weil er sie wirklich ernst und nicht oberflächlich nahm, eben nicht als nacktes Resultat, nicht als Leichnam betrachtete (Hegel) — führte ihn zur Metaphysik, das heißt zur Philosophie. Ihm genügte — gleich Pascal — die „logique raison" (die „Logik der Vernunft") nicht, die vom „esprit de géométrie" (vom „Geiste der Geometrie) beherrscht wird. So sehr er sich dem „esprit de géométrie" verbunden fühlte, wußte er doch um die Bedeutung des „esprit de finesse" (des intuitiven Erfassens des jeweils Ganzen, der Totalität) und damit der „logique de cœur" (der „Logik des Herzens"). Es wäre falsch, darin einen irrationalen Zug im Denken Leibniz' erblicken zu wollen. Im Gegenteil. Der „esprit de finesse" bewahrte ihn davor, dem mathematisch-mechanistischen Weltbild der Zeit Natur, Gesellschaft und Denken gleichermaßen und unterschiedslos unterzuordnen. Zugleich implizierte dieser Sachverhalt das Heraufdämmern dialektischen Denkens in der Philosophie von Leibniz. Leibniz steht am Beginn einer Entwicklung des dialektischen Denkens, die mit und durch Hegel ihren vorläufigen Höhepunkt und Abschluß finden wird, denn Leibniz versuchte, das Ganze der Natur als einen unendlichen Wirkungszusammenhang aufzufassen. Dies war der oberste Grundsatz seines Denkens. Dadurch hielt er sein Denken offen für dialektische Zusammenhänge. So ist denn seinem Philosophieren auch durchgängig, daß nichts in der Welt isoliert voneinander betrachtet werden kann, weil alles mit allem zusammenhängt und aufeinander einwirkt. Nach Leibniz spiegelt jeder Teil der Welt die Welt als Ganzes wider (repraesentatio mundi), und alle Dinge der Welt machen eine aufeinander wirkende Ganzheit aus (prästabilierte Harmonie). Die Welt ist dergestalt für Leibniz Einheit und Vielheit, Kontinuität und Diskontinuität, Allgemeines und Einzelnes, Absolutes und Relatives, Unendliches und Endliches zugleich, wobei das innere Prinzip der so aufgefaßten Welt die Kraft ist. 40

Leibniz: „So gibt es nichts Ödes, nichts Unfruchtbares, nichts Totes im Universum, kein Chaos, keine Verwirrung außer dem Anschein nach; etwa in demselben Sinne, wie es bei einem Teiche scheinen kann, den man in einer gewissen Entfernung betrachtet, in der man sozusagen nur eine verworrene Bewegung und ein Gewimmel von Fischen sieht, ohne die Fische selbst zu unterscheiden . . . Daher kommt es auch, daß es, strenggenommen, niemals vollständige Neuerzeugung oder vollkommenen Tod gibt, der in der Trennung der Seele vom Körper besteht. Was wir Erzeugung nennen, ist nur Entwicklung und Wachstum, wie das, was wir Tod nennen, nur Rückbildung und Schwund ist." 5 Leibniz gehört zu den großen Gestalten der Geschichte der Dialektik. Sein Philosophieren ist ein Musterbeispiel dialektischen Denkens. Die Philosophie von Leibniz erschöpft sich sicher nicht in dieser Feststellung. Doch wird diese seinem philosophischen Grundanliegen wie seiner eigentlichen Wirkung und Bedeutung am ehesten gerecht. Leibniz war darüber hinaus ein Denker von außerordentlicher Empfindsamkeit und Aufgeschlossenheit allem Neuen gegenüber, ein Philosoph mit großartigem Problembewußtsein. Wenn Diderot in seiner „Enzyklopädie" Leibniz neben Piaton, Descartes, Malebranche und Bacon unter das Stichwort „Genie" einreihte, so traf er damit einen wesentlichen Zug Leibnizschen Philosophierens. Denn Genie ist nach Diderot alles, was „die Fortschritte der Philosophie durch die glücklichsten und am wenigsten erwarteten Entdeckungen" beschleunigt. Im Zusammenhang: „Das Genie beschleunigt indes die Fortschritte der Philosophie durch die glücklichsten und am wenigsten erwarteten Entdeckungen. Mit Adlerflug erhebt es sich zu einer leuchtenden Wahrheit, einer Quelle von tausend Wahrheiten, zu denen später die vorsichtige Menge der klugen Beobachter gewissermaßen auf allen vieren gelangt. Aber neben dieser leuchtenden Wahrheit errichtet das Genie die Gebäude seiner Einbildungskraft: es ist nicht fähig, den vorgeschriebenen Weg zu gehen und alle Etappen Schritt für Schritt zurückzulegen, sondern es geht von einem Punkt aus und stürmt auf das Ziel los; es entreißt der Finsternis ein fruchtbares Prinzip, verfolgt aber selten die Kette der Konsequenzen; es ist, um einen Ausdruck Montaignes zu gebrauchen, .sprunghaft'. Es stellt sich mehr vor, als es gesehen hat, bringt mehr hervor, als es entdeckt, und reißt mehr mit, als es führt. Genie hat Menschen wie Piaton, Descartes, Malebranche, Bacon, Leibniz beseelt. Je nachdem bei diesen großen Männern die Einbildungskraft mehr oder weniger vorherrschte, brachte es glänzende Systeme hervor oder führte zur Entdeckung großer Wahrheiten." 6 Eben deshalb gilt für Leibniz, für seine philosophische wie wissenschaftliche Tätigkeit, ein Satz aus einem der erhabensten Bücher der Geschichte des Denkens, das am Ende einer philosophischen Entwicklung geschrieben wurde, die er selbst mit inaugurierte: „Das Bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt. Es ist die gewöhnlichste Selbsttäuschung wie Täuschung anderer, beim Erkennen etwas als bekannt voraus zu setzen, und es sich ebenso gefallen zu lassen; mit allem Hin- und Herreden kommt solches Wissen, ohne zu wissen wie 41

ihm geschieht, nicht von der Stelle . . . Die kraftlose Schönheit haßt den Verstand, weil er ihr dies zumutet, was sie nicht vermag. Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes." 7 Dieses Leben des Geistes, das heißt: der Philosophie hatLeibniz ohne Einschränkung ertragen und durchschritten sowie mit fruchtbarer, noch heute anhaltender Unruhe erfüllt.

Die Schriften Immanuel Kants bis zum]Jahre 1768

Die erste Schaffensperiode Kants, die seine Schriften bis zum Jahre 1768 umfaßt, ist durch die kritische Sichtung des vorgefundenen Gedankenmaterials gekennzeichnet. Während dieser Periode entwickelt Kant in kritischer Auseinandersetzung mit den naturwissenschaftlichen und philosophischen Theorien der Zeit langsam die Prinzipien seiner eigenen Philosophie, die er das erste Mal in der Dissertation von 1770 „De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis" (Von der Form der Sinnen- und Verstandeswelt und ihren Gründen) andeutet, dann ausführlich in der „Kritik der reinen Vernunft" (1781) vorträgt. Die Schriften Kants bis zum Jahre 1768 haben jedoch durchaus eigenständige Bedeutung, und zwar sowohl für die weitere philosophische Entwicklung Kants selber als auch in philosophie- und wissenschaftsgeschichtlicher Hinsicht. In ihnen gelangt Kant zu philosophischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, deren Wert dem der drei Kritiken nicht nachsteht. I Die erste Schrift Kants erschien 1747. Kant hatte damals gerade sein Universitätsstudium abgeschlossen und war dreiundzwanzig Jahre alt. Sie trägt den Titel „Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte und Beurteilung der Beweise, deren sich Herr von Leibniz und andere Mechaniker in dieser Streitsache bedient haben, nebst einigen vorhergehenden Betrachtungen, welche die Kraft der Körper überhaupt betreffen". Mit ihr schaltet sich Kant in die Diskussion über die Berechnung der Kraft ein, in der Descartes und Leibniz mitsamt ihren Anhängern entgegengesetzte Standpunkte vertraten. Descartes und seine Schüler wollten die Kraft nach der einfachen Geschwindigkeit (m • v) berechnen, Leibniz und seine Anhänger dagegen nach dem Quadrat der Geschwindigkeit (m • v1). Kants vorgeschlagene Lösung des Streits war ebenso einfach wie verfehlt: Die tote Kraft ist im Sinne von Descartes, die lebendige Kraft aber im Sinne von Leibniz zu berechnen. Zweifellos hat sich Kant in diesem Fall selber überfordert, ganz abgesehen davon, daß d'Alembert bereits 1743 — also vier Jahre zuvor — fn * v^ mit der Formel —-— die richtige Lösung des Problems gegeben hatte. Bemerkenswert an den „Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen 43

K r ä f t e " sind jedoch K a n t s Grundhaltung den philosophischen Autoritäten der Zeit gegenüber sowie seine Untersuchungsmethode. Gleich in den ersten Sätzen der Vorrede der Schrift stellt er die Forderung nach Wahrheit der Berufung auf Autoritäten gegenüber: „Ich glaube, ich habe Ursache, v o n dem Urteile der Welt, dem ich diese Blätter überliefere, eine so gute Meinung zu fassen, daß diejenige Freiheit, die ich mir herausnehme, großen Männern zu widersprechen, mir vor kein Verbrechen werde ausgelegt werden. E s war eine Zeit, da man bei einem solchen Unterfangen viel zu befürchten hatte, allein ich bilde mir ein, diese Zeit sei nunmehr vorbei, und der menschliche Verstand habe sich schon der Fesseln glücklich entschlagen, die ihm Unwissenheit und Bewunderung ehemals angelegt hatten. Nunmehr kann man es kühnlich wagen, das Ansehen der N e w t o n s und Leibnize vor nichts zu achten, wenn es sich der Entdeckung der Wahrheit entgegensetzen sollte, und keinen andern Überredungen als dem Z u g e des Verstandes zu gehorchen." 1 Diese Haltung den philosophischen Autoritäten der Zeit gegenüber wird K a n t bis zu seinem Lebensende bewahren. E i n wesentlicher Teil der bleibenden Einsichten seiner Philosophie resultiert aus ihr. Im Hinblick auf die fernere philosophische Entwicklung K a n t s im engeren Sinne müssen aus den „Gedanken v o n der wahren Schätzung der lebendigen K r ä f t e " zwei Momente festgehalten werden: K a n t bekennt sich in ihnen einmal zu einer im Prinzip materialistischen Erklärung (Kant sagt: natürlichen Erklärung) der Naturerscheinungen, zum anderen zu den Grundsätzen einer dynamischen Naturbetrachtung. E r führt aus: E s ist „zu einem Grundsatz in der Naturlehre geworden, daß keine Bewegung in der Natur entstehe, als vermittelst einer Materie, die auch in wirklicher Bewegung ist; und daß also die Bewegung, die in einem Teil der Welt verlorengegangen, durch nichts anders, als entweder durch eine andere wirkliche Bewegung, oder die unmittelbare Hand Gottes könne hergestellt werden. Dieser Satz hat denjenigen jederzeit viel Ungelegenheit gemacht, die demselben Beifall gegeben haben. Sie sind genötigt worden, ihre Einbildungskraft mit künstlich ersonnenen Wirbeln müde zu machen, eine Hypothese auf die andere zu bauen, und anstatt daß sie uns endlich zu einem solchen Plan des Weltgebäudes führen sollten, der einfach und begreiflich genug ist, u m die zusammengesetzten Erscheinungen der Natur daraus herzuleiten: so verwirren sie uns mit unendlich viel seltsamen Bewegungen, die viel wunderbarer und unbegreiflicher sind, als alles dasjenige ist, zu dessen Erklärung selbige angewandt werden sollen." 2 Denn „der Weg der Natur ist nur ein einziger W e g , und am E n d e wird doch diejenige Meinung die Oberhand behalten, welche die Natur, wie sie ist, das ist einfach und ohne unendliche Umwege, schildert" 3 .. In dem Gedanken einer Naturdynamik liegt die eigentliche Bedeutung der Kantschen Erstlingsschrift, weil sie im K e i m das enthält, was zehn Jahre später hervortritt: eine dialektische Naturanschauung. Denn der Gedanke einer Naturdynamik, der sich mit fortschreitender Gedankenentwicklung K a n t s immer mehr als Idee v o m K a m p f entgegengesetzter materieller Kräfte vorstellt, wird zu einem Hauptpunkt seiner Philosophie. Verfolgt man die Genesis dieses Gedankens bei 44

Kant, so zeigt sich eine klare Entwicklungslinie, die von den „Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte" (1746) zur „Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels" (1755) und dem „Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen" (1763), über die „Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft" (1768) bis hin zum „Opus postum" reicht und auch die geschichtsphilosophischen Schriften tangiert. Kants erste Schrift ist so, zumindest andeutungsweise, programmatisch für alle seine Arbeiten der nächsten Zeit. Für die in ihr ausgesprochene Überzeugung, daß nur von einer natürlichen und dynamischen Erklärung der Naturerscheinungen Fortschritte zu erhoffen seien, mußte der genauere Beweis erbracht werden. Diesen lieferte Kant in der Tat ein knappes Jahrzehnt nach dem Erscheinen der „Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte". Und zwar derart, daß allein diese Schrift, nämlich die „Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprünge des ganzen Weltgebäudes, nach Newtonschen Grundsätzen abgehandelt", seinen Namen unauslöschlich in die Reihe der Größten der Wissenschaftsgeschichte eingereiht hat. II Newton hatte, das Werk des Kopernikus und Keplers fortführend, den Bestand der Welt nach den Gesetzen der Mechanik erklärt. Er schreckte davor zurück, den Ursprung der Welt aus eben denselben Gesetzen herzuleiten. In der „Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels" unternimmt Kant eine Erklärung der Entstehung der Welt nach mechanischen Gesetzen, Newton so gleichsam nach rückwärts ergänzend. Kant verwirft die Grenzlinie, die Newton zwischen der Natur und dem Finger Gottes stehengelassen hatte, und bemerkt, daß es „für einen Philosophen eine betrübte Entschließung (sei), bei einer zusammengesetzten und noch weit von den einfachen Grundgesetzen entfernten Beschaffenheit die Bemühungen der Untersuchung aufzugeben und sich (wie Newton) mit der Anführung des unmittelbaren Willens Gottes zu begnügen" 4 . Mit ungewöhnlich scharfer Polemik gegen diese Art Resignation macht Kant seinen Anspruch geltend: „Wenn man sich also eines alten unbegründeten Vorurteils und der faulen Weltweisheit entschlagen kann, die unter einer andächtigen Miene eine träge Unwissenheit zu verbergen trachtet, so hoffe ich, auf unwidersprechliche Gründe eine sichere Überzeugung zu gründen: daß die Welt eine mechanische Entwicklung aus den allgemeinen Naturgesetzen zum Ursprünge ihrer Verfassung erkenne." 5 Newton hatte auf die Frage, welches die materielle Ursache des Umlaufs der Planeten unseres Sonnensystems in ihrer jetzigen Form sei, keine ausreichende Antwort zu geben vermocht und auf ein unmittelbares Eingreifen und Lenken Gottes verwiesen. Kant beginnt nun gerade die „Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels" mit der Forderung: „Das Systematische, welches die 45

großen Glieder der Schöpfung in dem ganzen Umfange der Unendlichkeit verbindet, zu entdecken, die Bildung der Weltkörper selber und den Ursprung ihrer Bewegung aus dem ersten Zustand der Natur durch mechanische Gesetze herzuleiten." 6 Als fiktiven Anfangszustand des Sonnensystems — als den einfachsten Zustand der Natur, „der auf das Nichts folgen kann" 7 — setzt Kant den einer allgemeinen Zerstreuung der Materie: „Ich nehme die Materie aller Welt in einer allgemeinen Zerstreuung an und mache aus derselben ein vollkommenes Chaos." 8 In diesem Urzustand sind der Materie lediglich gewisse Dichtigkeitsunterschiede entsprechend der Verschiedenheit der Elemente eigen, in die sie aufgelöst ist. Zugleich ist die Wirksamkeit entgegengesetzter materieller Kräfte anzunehmen: die Wirksamkeit der Attraktion und Repulsion. „Die Verschiedenheit in den Gattungen der Elemente trägt zu der Regung der Natur und zur Bildung des Chaos das Vornehmste bei, als wodurch die Ruhe, die bei einer allgemeinen Gleichheit unter den zerstreuten Elementen herrschen würde, gehoben wird." 9 Denn „bei einem auf solche Weise erfüllten Raum dauert die allgemeine Ruhe nur einen Augenblick. Die Elemente haben wesentliche Kräfte, einander inBewegung zu setzen, und sind sich selber eine Quelle des Lebens. Die Materie ist sofort in Bestrebung, sich zu bilden. Die zerstreuten Elemente dichterer Art sammeln vermittelst der Anziehung aus einer Sphäre rund um sich alle Materie von minder spezifischer Schwere; sie selber aber zusamt der Materie, die sie mit sich vereinigt haben, sammeln sich in den Punkten, da die Teilchen von noch dichterer Gattung befindlich sind, diese gleicher Gestalt zu noch dichteren und so fortan". 10 Außer den attraktiven Kräften sind in der Natur noch die repulsiven Kräfte wirksam, „welche sich vornehmlich äußern, wenn die Materie in feine Teilchen aufgelöst ist, als wodurch selbige einander zurückstoßen und durch ihren Streit mit der Anziehung diejenige Bewegung hervorbringen, die gleichsam ein dauerhaftes Leben der Natur ist" n. Durch die Wirksamkeit der Anziehung und Abstoßung kommt Bewegung in das ursprüngliche Chaos, beginnt die Weltbildung und wird ihr weiterer Verlauf bestimmt: „Ich sehe nach den ausgemachten Gesetzen der Attraktion den Stoff sich bilden und durch die Zurückstoßung ihre Bewegung modifizieren." An dieser Stelle fügt Kant hinzu: „Ich genieße das Vergnügen ohne Beihilfe willkürlicher Erdichtungen unter der Veranlassung ausgemachter Bewegungsgesetze sich ein wohlgeordnetes Ganzes erzeugen zu sehen, welches demjenigen Weltsystem so ähnlich sieht, das wir vor Augen haben, daß ich mich nicht entbrechen kann, es für dasselbe zu halten." 12 Im Verlauf eines langen Entwicklungsprozesses erreicht das Planetensystem schließlich den uns bekannten, gegenwärtigen Zustand, in dem sich die im Urzustand in allgemeiner Zerstreuung befindliche Materie infolge des Kräfteantagonismus (Attraktion und Repulsion) zu den um die Sonne als Mittelpunkt elliptisch kreisenden Massen, den Planeten und ihren Satelliten, zusammengeballt hat. Das Bedeutsame an der „Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels" ist, daß Kant in ihr die entscheidenden Fragen der Kosmogonie — unge-

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achtet zahlreicher Verbeugungen vor der Religion — in letzter Instanz von einem materialistischen Standpunkt aus beantwortet. „Ich will endlich aufhören", so betont er, „eine Sache von so überzeugender Deutlichkeit, als die Entwicklung des Weltgebäudes aus den Kräften der Natur ist, auf mehr Beweistümer zu gründen. Wenn man imstande ist, bei so vieler Überführung unbeweglich zu bleiben, so muß man entweder gar zu tief in den Sesseln des Vorurteils liegen oder gänzlich unfähig sein, sich über den Wust hervorgebrachter Meinungen zu der Betrachtung der allerreinsten Wahrheit emporzuschwingen." 13 Und an anderer Stelle schreibt er den stolzen Satz: „Gebt mir Materie, ich will eine Welt daraus bauen I Das ist, gebt mir Materie, ich will euch zeigen, wie eine Welt daraus entstehen soll. Denn wenn Materie vorhanden ist, welche mit einer wesentlichen Attraktionskraft begabt ist, so ist es nicht schwer, diejenigen Ursachen zu bestimmen, die zu der Einrichtung des Weltsystems, im Großen betrachtet, haben beitragen können." 14 III Mit der Hervorhebung ihres materialistischen Grundcharakters ist die Bedeutung der „Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels" jedoch noch nicht erschöpft. Kant deckt hier nicht nur die materielle Ursache der Weltentstehung auf, sondern begreift diese Weltentstehung darüber hinaus als historischen Prozeß. Unser Planetensystem, das ist die Überzeugung Kants, ist das Produkt eines natürlichen geschichtlichen Vorgangs. Seine jetzige Gestalt hatte es nicht von Ewigkeit her, sondern erhielt sie im Verlauf einer langen Entwicklung — und wird sie nicht bis in alle Ewigkeit haben, weil dieser Prozeß zu keinem Stillstand kommt. Kants entwicklungsgeschichtliches Denken schließt also nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Zukunft ein. „Es ist vielleicht eine Reihe von Millionen Jahren und Jahrhunderten verflossen, ehe die Sphäre der gebildeten Natur, darin wir uns befinden, zu der Vollkommenheit gediehen ist, die ihr jetzt beiwohnt; und es wird vielleicht ein ebensolanger Periodus vergehen, bis die Natur einen ebensoweiten Schritt in dem Chaos tut . . . Die Weltentstehung hat zwar einmal angefangen, aber sie wird niemals aufhören. Sie ist immer geschäftig, mehr Auftritte der Natur, neue Dinge und neue Welten hervorzubringen." 15 Dieser unendliche Entwicklungsprozeß der Materie vollzieht sich auf der Grundlage des Kampfes entgegengesetzter materieller Kräfte: „Ich habe, nachdem ich die Welt in das einfachste Chaos versetzt, keine anderen Kräfte als die Anziehungs- und Zurückstoßungskraft zur Entwicklung der großen Ordnung der Natur angewandt, zwei Kräfte, welche beide gleich gewiß, gleich einfach und zugleich gleich ursprünglich und allgemein sind." 16 Das Wechselspiel von Attraktion und Repulsion oder, wie Kant sagt, der „Streit zwischen den beiden Grundkräften der Materie" ist die Grundlage aller Entwicklung, garantiert „gleichsam ein dauerhaftes Leben in der Natur". 17 Kant stellt noch eine weitere Frage: „Wenn nun alle Welten und Weltordnung 47

dieselbe Art ihres Ursprungs erkennen . . . sollten nicht alle Weltgebäude gleichermaßen eine beziehende Verfassung und systematische Verbindung untereinander angenommen haben . . . " 1 8 Es ist der Gedanke des Gesamtzusammenhangs aller Naturerscheinungen, den Kant im Auge hat. Und er gibt auch sofort seine Antwort: In der Tat kann nicht in Zweifel gezogen werden, daß unser Planetensystem nur ein Teil eines noch größeren Systems ist. In diesem System, von dem unser Planetensystem nur ein Teil ist, sind dieselben Gesetze wirksam wie in unserer Planetenwelt. Was von dieser gilt, das gilt auch von allen Fixsternsystemen, von den Milchstraßensystemen und allen anderen kosmischen Gebilden. Sie alle stehen in einem universellen Zusammenhang und müssen als ein einziges, großes, nach ein und denselben Gesetzen sich bewegendes System aufgefaßt werden. „Je näher man die Natur wird kennenlernen, desto mehr wird man einsehen, daß die allgemeine Beschaffenheit der Dinge einander nicht fremd und getrennt sind. Man wird hinlänglich überführt werden, daß sie wesentliche Verwandtschaften haben, durch die sie sich anschicken, einander in Errichtung vollkommener Verfassungen zu unterstützen, durch Wechselwirkung der Elemente zur Schönheit der materialistischen und doch auch zugleich zu den Vorteilen der Geisterwelt, und daß überhaupt die einzelnen Naturen der Dinge in dem Felde der ewigen Wahrheiten schon untereinander, so zu sagen, ein System ausmachen, in welchem eine auf die andere beziehend ist; man wird auch alsbald innewerden, daß die Verwandtschaft ihnen von der Gemeinschaft des Ursprungs eigen ist, aus dem sie insgesamt ihre wesentlichen Bestimmungen geschöpft haben." 1 9 Thematisch eng verbunden mit der „Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels" sind eine Reihe von Aufsätzen, die Kant unmittelbar vor oder kurz nach der Himmelsmechanik veröffentlicht. Ging es Kant in der „Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels" vor allem um die Entstehung des Weltgebäudes als Ganzes, so geht es ihm in diesen um den dem Menschen nächstliegenden Teil des allgemeinen Weltsystems: die Erde. Kant spielte überhaupt mit dem Gedanken — als Gegenstück und zur Ergänzung seiner Kosmogonie —, eine Naturgeschichte der Erde sowie eine Naturgeschichte der Menschheit zu schreiben. Leider hat er seine Absicht nicht verwirklicht, obwohl er noch während der Arbeit an der „Kritik der reinen Vernunft" auf die Möglichkeit der Durchführung eines solchen Vorhabens hoffte, wie aus einem Brief des Verlegers Breitkopf vom 21. März 1778 an Kant und aus Kants Antwort vom 1. April 1778 hervorgeht. Was die „Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels im großen oder vielmehr unendlichen ist", das sollte die „Historie der Erde im kleinen werden". 20 Bereits ein Jahr vor dem Erscheinen der „Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels", 1754, veröffentlichte Kant zwei kleine Abhandlungen (wovon die erste Kants Antwort auf eine Preisfrage der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin ist), deren Thematik die Erdgeschichte betrifft: „Untersuchung der Frage, ob die Erde in ihrer Umdrehung um die Achse, wodurch sie die Abwechslung des Tages und der Nacht hervorbringt, einige Verände-

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rungen seit den ersten Zeiten ihres Ursprungs erlitten habe und woraus man sich ihrer versichern könne" und „Die Frage, ob die Erde veralte, physikalisch erwogen". Ihnen folgen 1756 drei Aufsätze zum gleichen Fragenkomplex, deren unmittelbarer Anlaß die Erdbebenkatastrophe von Lissabon war: „Von den Ursachen der Erderschütterungen bei Gelegenheit des Unglücks, welches die westlichen Länder von Europa gegen Ende des vorigen Jahres betroffen hat"; „Geschichte und Naturbeschreibung der merkwürdigen Vorfälle des Erdbebens, welches am Ende des 1755sten Jahres einen großen Teil der Erde erschüttert hat"; „Fortgesetzte Betrachtung der seit einiger Zeit wahrgenommenen Erderschütterungen". Danach behandelte Kant das Thema auch in einer Vorlesung, die er 1757 in einer kleinen Schrift ankündigt: „Entwurf und Ankündigung eines Collegii der physischen Geographie". Ihr folgt 1765 die „Neue Anmerkung zur Erläuterung der Theorie der Winde". Schließlich kommt er gegen Ende seines Schaffens, in den Abhandlungen „Über die Vulkane im Monde" (1785) und „Etwas über den Einfluß des Mondes auf die Witterung" (1794), noch einmal auf diesen Gegenstand zurück. Seine Gedanken zu einer Naturgeschichte der Menschheit hat Kant in der „Rezension zu Moscatis Schrift: Von den körperlichen Unterschieden zwischen der Struktur der .Tiere und Menschen" (1771) und in der kleinen Schrift „Von den verschiedenen Rassen der Menschen" (1775) niedergelegt. In diesen kleinen Schriften und Abhandlungen begegnen wir den gleichen Grundgedanken wie in der „Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels": dem Entwicklungsgedanken, der Idee des Kampfes entgegengesetzter materieller Kräfte, auf dem alle Entwicklung beruht, dem Gedanken des Gesamtzusammenhangs der Naturerscheinungen, und auch hier ist es Kants Absicht, die Naturerscheinungen natürlich zu erklären, ihre materialistischen Ursachen zu finden. 21 „Ich (halte) es für unzulässig", schreibt er am Ende des Aufsatzes „Über die Vulkane im Monde", „bei einer Naturbeschaffenheit, z. B. der Hitze der Sonne, die mit Erscheinungen, deren Ursache wir nach sonst bekannten Gesetzen wenigstens mutmaßen können, Ähnlichkeiten hat, stehen zu bleiben, und verzweifelter Weise die unmittelbare göttliche Anordnung zum Erklärungsgrund herbeizurufen . . . Bei jeder Epoche der Natur . . . sind wir darum von der Verbindlichkeit nicht befreit, unter den Weltursachen zu suchen, so weit es uns möglich ist, und ihre Kette nach uns bekannten Gesetzen, solange sie aneinanderhängt, zu verfolgen." 22 Und in der „Fortgesetzten Betrachtung der seit einiger Zeit wahrgenommenen Erderschütterungen" stellt er die Forderung auf: „Lasset uns also nur auf unserem Wohnplatze selber nach der Ursache fragen, wir haben die Ursache unter unsern Füßen." 23 IV Worin liegt die philosophische Bedeutung der bisher angeführten Schriften? Erstens in der materialistischen Grundhaltung Kants, die in diesen Schriften durchgängig zum Ausdruck kommt. Gewiß, Kant macht in ihnen Konzessionen an 4

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die Religion; diese bestimmen oder beeinträchtigen jedoch in keiner Weise die Untersuchung und ihr Ergebnis. Gott wird lediglich die Rolle zugestanden, die Materie irgendwann einmal, zu einem weit zurückliegenden Zeitpunkt, erschaffen zu haben. Von da an war die Materie auf sich allein gestellt und bedurfte Gottes nicht mehr, weil sie von Anfang an mit Kräften ausgestattet war, die ihre Bildung zu einem Weltsystem einschlössen. Die Bedeutung dieser Kantschen Schriften liegt ferner in den in ihnen ausgesprochenen dialektischen Gedanken: Kant sieht in der Natur ein System, einen Gesamtzusammenhang, in dem alle Naturerscheinungen miteinander stehen, voneinander abhängen und einander bedingen. Die Weltbildung selber beschreibt er als einen natürlichen historischen Prozeß. Der Entwicklungsgedanke, den Kant konsequent durchführt, ist das eigentlich Große an der „Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels" und den Abhandlungen zur Erdgeschichte. Als Ursache der Entwicklung betrachtet Kant den Kampf entgegengesetzter materieller Kräfte. Die Welt wird „ganz offenbar bloß durch den Streit der Kräfte in einem regelmäßigen Laufe erhalten". Von diesen zwei Momenten her gesehen — der materialistischen Grundhaltung und den dialektischen Gedanken, vor allem dem Entwicklungsgedanken — wird die Einschätzung von Friedrich Engels verständlich, die er über diese Kantschen Schriften abgibt. Engels stellt heraus, daß „in Kants Entdeckung der Springpunkt alles fernem Fortschritts" lag — und in der Tat, war, wie Kant in der „Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels" und in den Aufsätzen zur Erdgeschichte lehrte, das Sonnensystem und mit ihm die Erde „etwas Gewordenes, so mußte ihr gegenwärtiger geologischer, geographischer, klimatischer Zustand, mußten ihre Pflanzen und Tiere ebenfalls etwas Gewordenes sein, mußte sie eine Geschichte haben-nicht nur im Raum nebeneinander, sondern auch in der Zeit nacheinander". Gerade das letzte aber verneinte die auf Kant überkommene Naturanschauung entschieden, sie war ihrem Wesen nach metaphysisch (undialektisch). In diese, wie Engels sagt, „verrsteinerte Naturanschauung" schlug Kant mit seinen Schriften die erste Bresche — darin liegt sein großes und unbestreitbares Verdienst. „Die Kantische Theorie von der Entstehung aller jetzigen Weltkörper aus rotierenden Nebelmassen war der größte Fortschritt, den die Astronomie seit Kopernikus gemacht hatte. Zum ersten Male wurde an der Vorstellung gerüttelt, als habe die Natur keine Geschichte in der Zeit." Und Engels steht nicht an festzustellen: „Hätte die große Mehrzahl der Naturforscher weniger von dem Abscheu vor dem Denken gehabt, den Newton mit der Warnung ausspricht : Physik, hüte dich vor der Metaphysik! — sie hätten aus dieser einen genialen Entdeckung Kants Folgerungen ziehn müssen, die ihnen endlose Abwege, unermeßliche Mengen in falschen Richtungen vergeudeter Zeit und Arbeit ersparte." 24

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V 1755 habilitierte sich Kant. Die Habilitationsschrift „Principium primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio" (Neue Erhellung der ersten Grundsätze metaphysischer Erkenntnis) ist die erste Schrift Kants, die philosophischen Fragen im engeren Sinne gewidmet ist. Ihrer Intention nach erinnert sie an die „Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte". Kant ist auch in ihr bemüht, eine Streitfrage der Zeit zu entscheiden, nämlich die von Wolff und Crusius geführte Diskussion über die absolute Gültigkeit der ersten metaphysischen Prinzipien: des Satzes vom Widerspruch und des Satzes vom zureichenden Grunde. Seine Untersuchung gipfelt in der Negation: „Einen einzigen, unbedingt ersten, allgemeinen Grundsatz für alle Wahrheiten gibt es nicht." 25 Diese negative Feststellung impliziert bereits seine spätere positive Forderung, neue Grundlagen der Philosophie zu entwickeln, damit sie denCharakter einer Wissenschaft erhalte. Die in der Habilitationsschrift begonnene Kritik der rationalistischen Philosophie seiner Zeit wird in einer Reihe von Schriften fortgeführt und vertieft, die Anfang der sechziger Jahre erschienen: „Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren" (1762), „Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen" (1763) und „Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes" (1763). Schließlich die „Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und Moral" (1764), die er auf die Preisfrage der Berliner Akademie der Wissenschaften aus dem Jahre 1763 einreichte und wofür er den zweiten Preis erhielt (mit dem ersten Preis wurde Moses Mendelssohn für die „Abhandlung über die Evidenz in den metaphysischen Wissenschaften" ausgezeichnet). In der Einleitung der zuletzt genannten Abhandlung spricht Kant unmißverständlich die mit allen diesen Schriften verfolgte Absicht aus. E s komme darauf an, „statt des ewigen Unbestands der Meinungen und Schulsekten eine unwandelbare Vorschrift der Lehrart zu geben, die die denkenden Köpfe zu einerlei Bemühungen vereinbaren; so wie Newtons Methode in der Naturwissenschaft die Ungebundenheit der physischen Hypothesen in ein sicheres Verfahren nach Erfahrung und Geometrie veränderte" 26 . Seine Kritik der rationalistischen Philosophie faßt Kant dann in dem Satz zusammen: „Die Metaphysik ist ohne Zweifel die schwerste unter allen menschlichen Einsichten; allein es ist noch niemals eine geschrieben worden." 27 Die bedeutungsvollste Arbeit dieser Schriftengruppe ist der „Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen". Kants Ausgangspunkt ist ein Vergleich der Philosophie mit der Mathematik: „Ich weiß, daß es viele gibt, welche die Weltweisheit in der Vergleichung mit der höheren Mathesis sehr leicht finden. Allein diese nennen alles Weltweisheit, was in den Büchern steht, welche diesen Titel führen. Der Unterschied zeigt sich durch den Erfolg. Die philosophischen Erkenntnisse haben mehrenteils das Schicksal der Meinungen und sind wie die Meteoren; deren Glanz nichts für ihre Dauer verspricht. Sic 4»

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verschwinden, aber die Mathematik bleibt."28 Diesem Zustand der Philosophie müsse ein Ende bereitet werden. Das sei aber nur zu erreichen, wenn sie sich an der Mathematik orientiere. Nur dann könne sie zu einer ebenso sicheren und exakten Wissenschaft werden wie die Naturwissenschaft. Denn die unbestreitbaren Erfolge der Naturwissenschaft beruhten auf dem Bündnis, das sie mit der Mathematik eingegangen sei. Dabei ginge es weniger um die Nachahmung der mathematischen Methode als vielmehr um die Fruchtbarmachung der Ergebnisse der Mathematik innerhalb der Philosophie. VI Ein Beispiel der Fruchtbarmachung mathematischer Ergebnisse innerhalb der Philosophie will Kant in seinem „Versuch" geben: „Ich habe für jetzt die Absicht, einen Begriff, der in der Mathematik bekannt genug, allein in der Weltweisheit noch sehr fremde ist, in Beziehung auf diese zu betrachten. Es sind diese Betrachtungen nur kleine Anfänge, wie es zu geschehen pflegt, wenn man neue Aussichten eröffnen will, allein sie können vielleicht zu wichtigen Folgen Anlaß geben."29 Dieser mathematische Begriff, den Kant in Beziehung auf die Metaphysik betrachten will, ist der der negativen Größe. In der Mathematik ist „eine Größe in Ansehung einer anderen negativ, insofern sie mit ihr nicht anders als durch die Entgegensetzung kann zusammengenommen werden, nämlich s o , . . . daß + a und — a eines die negative Größe der andern sei". Dieser Sinn, den die Mathematiker dem Begriff der negativen Größe beilegen, ist auch für die Philosophie maßgebend, „wobei man gleichwohl nicht aus der Acht lassen muß, daß diese Benennung nicht eine besondere Art Dinge ihrer inneren Beschaffenheit nach, sondern dieses Gegenverhältnis anzeige, mit gewissen andern Dingen, die durch + bezeichnet werden, in einer Entgegensetzung zusammengenommen zu werden" 30. Betrachtet man unter diesem Gesichtspunkt die Natur, dann wird man überall auf Entgegensetzungen (Realentgegensetzungen) dieser Art stoßen. So können die attraktiven und repulsiven Kräfte als positive und negative Größen angesehen werden. Auf diese Weise kann man auch die magnetischen und elektrischen Pole mit den positiven und negativen Größen vergleichen, und es ist auch zu vermuten, „daß die Verschiedenheit der Pole und die Entgegensetzung der positiven und negativen Wirksamkeit durch eine geschickte Behandlung ebensowohl bei den Erscheinungen der Wärme dürften bemerkt werden"31. Kant ist in diesem Zusammenhang fest davon überzeugt, daß der Realgegensatz ein allgemeines Gesetz aller Naturerscheinungen ist. Es sei zwar sicher, daß unsere Kenntnis von der Natur zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht hinreiche, um in jedem einzelnen Fall .den Realgegensatz nachzuweisen. Allein ebenso sicher sei es, daß mit dem weiteren Fortschreiten unseres Wissens in künftigen Zeiten die Richtigkeit dieses Gesetzes immer mehr bewiesen werde. „Die schiefe Fläche des Galilei, 52

der Perpendikel des Huygens, die Quecksilberröhre des Torricelli, die Luftpumpe des Otto Guericke und das gläserne Prisma des Newton haben uns den Schlüssel zu großen Naturgeheimnissen gegeben. Die negative und positive Wirksamkeit der Materien, vornehmlich bei der Elektrizität, verbergen allem Ansehen nach wichtige Einsichten, und eine glücklichere Nachkommenschaft, in deren schöne Tage wir hinaussehen, wird hoffentlich davon allgemeine Gesetze erkennen, was uns für jetzt noch in einer zweideutigen Zusammenstimmung erscheint." 3 2 Mehr noch: der Realgegensatz ist überhaupt ein allgemeines Gesetz des gesamten Geschehens. Denn man kann die Verabscheuung eine negative Begierde, den Haß eine negative Liebe, die Häßlichkeit eine negative Schönheit, den Tadel einen negativen Ruhm nennen. Und so ist das Nehmen ein negatives Geben, eine Widerlegung ein negativer Beweis, sind Irrtümer negative Wahrheiten, Untugenden negative Tugenden, Verbote negative Gebote, Strafen negative Belohnungen. 33 VII Mit den im „Versuch" entwickelten Gedanken entfernte sich Kant am weitesten von den Anschauungen der rationalistischen Metaphysik. Nicht zufällig beschließt er deshalb die Vorrede dieser Schrift mit dem bezeichnenden Satz: „Was die metaphysischen Intelligenzen von vollendeter Einsicht anlangt, so müßte man sehr unerfahren sein, wenn man sich einbildet, daß zu ihrer Weisheit noch etwas könnte hinzugetan oder von ihrem Wahne etwas könnte hinweggenommen werden." 3 4 Mit Recht empfanden weiterblickende Zeitgenossen die Gedanken des „Versuchs" als Entdeckung. Mendelssohn, der die Kantsche Schrift in den Literaturbriefen rezensierte, wußte zu sagen: „Mein Geist hat mehr Nahrung in dieser kleinen Schrift gefunden als in manchen großen Systemen." 3 5 Mit den Anfang der sechziger Jahre erschienenen Schriften vollzieht sich eine Wendung in Kants Gedankenarbeit. Sie findet äußerlich ihren Ausdruck in der jetzt überwiegenden Beschäftigung mit erkenntnistheoretischen Fragen. Dabei überzeugt sich Kant immer mehr davon, daß die rationalistische Metaphysik, insbesondere in ihrer Wölfischen Ausgestaltung, untauglich ist, der Philosophie ihren Charakter als Wissenschaft zu bewahren. Diese Überzeugung führt ihn dazu, den Begriff der Erkenntnis neu zu formulieren und zu untersuchen. Eine Aufgabe, die er schon beim Abfassen des „Versuchs" gelöst zu haben glaubte: „Ich habe über die Natur unseres Erkenntnisses in Ansehung unserer Urteile von Gründen und Folgen nachgedacht, und ich werde das Resultat dieser Betrachtungen dereinst ausführlich darlegen . . . Bis dahin werden diejenigen, deren angemaßte Einsicht keine Schranken kennt, die Methoden ihrer Philosophie versuchen, bis wie weit sie in dergleichen Fragen gelangen können." 3 6 Doch das ausführlich dargelegte Resultat, von dem Kant hier spricht, erscheint erst zwanzig Jahre nach dem „Versuch". Es ist die „Kritik der reinen Vernunft". Sie bringt die Neuformulierung des Erkenntnisbegriffs und seine Untersuchung. 53

Eine Art Ausläufer der erkenntnistheoretischen Schriften Anfang der sechziger Jahre sind die „Träume eines Geistersehers, erläutert durch die Träume der Metaphysik" (1766). In ihnen erreicht die Kritik Kants an der rationalistischen Metaphysik ihren Höhepunkt: „Wenn alles dasjenige, was von Geistern der Schulknabe herbetet, der große Haufe erzählt und der Philosoph demonstriert, zusammengenommen wird, so scheinet es keinen kleinen Teil von unserm Wissen auszumachen. Nichtsdestoweniger getraue ich mich zu behaupten, daß, wenn es jemand einfiele, sich bei der Frage etwas zu verweilen: was denn das eigentlich vor ein Ding sei, wovon man unter dem Namen eines Geistes so viel zu verstehen glaubt, er alle diese Vielwisser in die beschwerlichste Verlegenheit versetzen würde. Das methodische Geschwätz der hohen Schulen ist oftmals nur ein Einverständnis, durch veränderliche Wortbedeutungen einer schwer zu lösenden Frage auszuweichen, weil das bequeme und mehrenteils vernünftige: Ich weiß nicht, auf Akademien nicht leicht gehöret wird. Gewisse neuere Weltweise, wie sie sich gerne nennen lassen, kommen sehr leicht über diese Frage hinweg. Ein Geist, heißt es, ist ein Wesen, welches Vernunft hat. So ist es denn also keine Wundergabe, Geister zu sehen; denn wer Menschen sieht, der sieht Wesen, die Vernunft haben." 3 7 Der äußere Anlaß der „Träume" war das Auftreten des schwedischen Theosophen Emanuel Swedenborg, dem visionäre Erfolge nachgesagt wurden. Swedenborg war ein namhafter Naturforscher gewesen; in seinem Alter rühmte er sich der Hellseherei und des Verkehrs mit der Geisterwelt. Kant hörte von den spiritistischen Leistungen des Schweden und wollte der Sache auf den Grund gehen. E r versuchte, mit Swedenborg in Briefwechsel zu treten. Dieser beantwortete jedoch die von Kant gestellten Fragen nicht, sondern ließ ihm lediglich durch einen Mittelsmann mitteilen, daß er die Fragen des Philosophen in seinem nächsten Werk ausführlich beantworten werde. Kant interessierte die Angelegenheit so sehr, daß er sich unter Aufwendung nicht unbeträchtlicher finanzieller Mittel das Werk Swedenborgs, die „Coelestia arcana" (Geheimnisse des Himmels), aus London beschaffen ließ. Kant las das Werk des Schweden und war enttäuscht. E r gestand freimütig, „acht Quart-Bände voll Unsinn" eingeheimst zu haben, und beschloß, in einer Schrift gegen Swedenborg aufzutreten: „Er bekennt mit einer gewissen Demütigung, daß er so treuherzig war, der Wahrheit einiger Erzählungen . . . nachzuspüren. E r fand — wie gemeiniglich, wo man nichts zu suchen hat — er fand nichts. Nun ist dieses wohl an sich selbst schon eine hinlängliche Ursache, ein Buch zu schreiben; allein es kam noch dasjenige hinzu, was bescheidenen Verfassern schon mehrmalen Bücher abgedrungen hat, das ungestüme Anhalten bekannter und unbekannter Freunde. Überdem war ein großes Werk gekauft und, welches noch schlimmer ist, gelesen worden, und diese Mühe sollte nicht verloren sein. Daraus entstand nun die gegenwärtige Abhandlung, welche, wie man sich schmeichelt, den Leser nach der Beschaffenheit der Sache völlig befriedigen soll, indem er das Vornehmste nicht verstehen, das andere nicht glauben, das übrige aber belachen wird." 3 8

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Kant begnügte sich in den „Träumen" nicht damit, die unbilligen Behauptungen Swedenborgs zurückzuweisen, sondern nahm die Gelegenheit beim Schöpfe, um die visionären Leistungen des Schweden mit den spekulativen Leistungen der rationalistischen Metaphysik zu vergleichen, um zwischen beiden mit viel Witz und Ironie Parallelen festzustellen: „Wenn indessen die Vorteile und Nachteile in einander gerechnet werden, die demjenigen erwachsen können, der nicht allein vor die sichtbare Welt, sondern auch vor die unsichtbare in gewissem Grade organisiert ist (wofern es jemals einen solchen gegeben hat), so scheint ein Geschenk von dieser Art demjenigen gleich zu sein, womit Juno den Tiresias beehrte, die ihn zuvor blind machte, damit sie ihm die Gabe zu weissagen erteilen könnte. Denn . . . die anschauende Kenntnis der andern Welt (kann) allhier nur erlangt werden, indem man etwas von demjenigen Verstände einbüßt, welchen man vor die gegenwärtige nötig hat. Ich weiß auch nicht, ob selbst gewisse Philosophen gänzlich von dieser harten Bedingung frei sein sollten, welche so fleißig und vertieft ihre metaphysischen Gläser nach jenen entlegenen Gegenden hinrichten und Wunderdinge von daher zu erzählen wissen, zum wenigsten mißgönne ich ihnen keine von ihren Entdeckungen; nur besorge ich: daß ihnen irgendein Mann von gutem Verstände und wenig Feinsinnigkeit eben dasselbe dürfte zu verstehen geben, was dem Tycho de Brahe sein Kutscher antwortete, als jener meinte, zur Nachtzeit nach den Sternen den kürzesten Weg fahren zu können: Guter Herr, auf den Himmel mögt ihr euch wohl verstehen, hier aber auf der Erde seid ihr ein Narr." 39 Das Ergebnis der „Träume" ist den erkenntnistheoretischen Schriften Anfang der sechziger Jahre parallel, nämlich die Forderung, in der Philosophie aller Spekulation zu entsagen und entgegen der Behauptung der rationalistischen Metaphysik nur solchen Prinzipien zu vertrauen, die aus der Erfahrung hergeleitet werden können. „Laßt uns unser Glück besorgen, in den Garten gehen, und arbeiten" — beschließt Kant die „Träume" mit Voltaires „Candide". So wie sich Kant in den sechziger Jahren immer weiter von der theoretischen Philosophie der rationalistischen Metaphysik entfernt, wendet er sich in dieser Zeit auch von der rationalistischen Ethik ab. In den „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen" (1764), einer leicht verständlichen und in einem glänzenden Stil geschriebenen Schrift ästhetisch-moralisch-anthropologischen Inhalts, führt Kant alle Moral auf ein „Gefühl von der Würde und Schönheit der menschlichen Natur" zurück. Die Aufnahme von Gedanken Hutchesons, der in der Nachfolge Shaftesburys alle moralischen Erscheinungen auf einen angeborenen „moralischen Sinn" gründet, ist in den „Beobachtungen" unverkennbar. Von wirklich nachhaltigem Einfluß in dieser Zeit blieb Kants Begegnung mit Rousseau. In seinem Handexemplar der „Beobachtungen" hat er durch einen handschriftlichen Vermerk darüber, wie sonst selten in solchen Fällen, Rechenschaft gegeben: „Ich bin selbst aus Neigung ein Forscher. Ich fühle den ganzen Durst nach Erkenntnis und die begierige Unruhe, darin weiterzukommen. E s war eine Zeit, da ich glaubte, dieses alles könnte die Ehre der Menschheit machen, 55

und ich verachtete den Pöbel, der von nichts weiß. Rousseau hat mich zurecht gebracht. Dieser verblendete Vorzug verschwindet; ich lerne die Menschen ehren und würde mich viel unnützer finden als die gemeinen Arbeiter, wenn ich nicht glaubte, daß diese Betrachtung allen übrigen einen Wert geben könnte, die Rechte der Menschheit herzustellen." 40 In diesem Bekenntnis Kants ist unschwer der Primat der praktischen Vernunft zu erkennen, der seine eigentliche Philosophie später weitgehend bestimmen wird: Die These, daß die Vernunft allein in der praktischen Philosophie gesetzgebendist, während sie sich a.u{theoretischem Felde bescheiden muß — nur regulativ ist. Die letzte bemerkenswerte Schrift aus Kants erster Schaffensperiode ist die Arbeit „Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Räume" (1768). Sie bedeutet durch ihre Fragestellung gleichsam den Übergang zur kritischen Philosophie. Denn in der Frage Kants, ob nicht „ein evidenter Beweis zu finden sei, daß der absolute Raum unabhängig vom Dasein aller Materie und selbst als der erste Grund der Möglichkeit ihrer Zusammensetzung eine eigene Realität habe'"51, ist die subjektiv-idealistische Antwort: der Raum ist eine Form der Anschauung, die die objektive Realität erst konstituiert, insofern hat der Raum keine eigene Realität, schon eingeschlossen.

Der Denk-Einsatz der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie

I Der Prozeß der Entfaltung der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie von Kant zu Hegel und Feuerbach ist Teil, Höhepunkt und Abschluß der Entwicklungsgeschichte der klassischen bürgerlichen Philosophie insgesamt.1 Unter klassischer bürgerlicher Philosophie verstehen wir die Entwicklung des philosophischen Denkens von Bacon und Descartes bis auf Hegel und Feuerbach — jene philosophische Bewegung also, welche die Interessen und Forderungen der progressiven Bourgeoisie ausspricht, von diesen vorangetrieben wird, sie im Kampf gegen die feudal-klerikale Ideologie fixiert und in einer eigenen Weltanschauung zu systematisieren und theoretisch zu begründen versucht. Im Zentrum der neuen bürgerlichen Weltanschauung steht der Begriff der Vernunft. Wie verschiedenartig die Ausgestaltungen der einzelnen Systeme der klassischen bürgerlichen Philosophie auch sein mögen, sie alle gehen auf diese oder jene Weise vom Begriff der Vernunft aus und führen zu ihm hin. „Vernunft" wird dabei als das ursprüngliche kritische Vermögen des Menschen gefaßt, sich vom Überlieferten und Überkommenen zu emanzipieren. Sie erscheint in den Systemen der klassischen bürgerlichen Philosophie als diejenige Kraft, welche die überlieferte Ideologie und die überkommene Gesellschaftsordnung des Feudalabsolutismus im Sinne des bürgerlichen Denkens und einer bürgerlichen gesellschaftlichen Entwicklung umzugestalten vermag. An der französischen Aufklärungsbewegung des 18. Jahrhunderts, die — besonders in Gestalt des französischen Materialismus — zweifellos den Höhepunkt des klassischen bürgerlichen Denkens vor der Entfaltung der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie darstellt, hob Friedrich Engels hervor: „Die großen Männer, die in Frankreich die Köpfe für die kommende Revolution klärten, traten selbst äußerst revolutionär auf. Sie erkannten keine äußere Autorität an, welcher Art sie auch sei. Religion, Naturanschauung, Gesellschaft, Staatsordnung, alles wurde der schonungslosesten Kritik unterworfen; alles sollte sein Dasein vor dem Richterstuhl der Vernunft rechtfertigen oder aufs Dasein verzichten. Der denkende Verstand wurde als alleiniger Maßstab an alles angelegt." Dies u . . . zuerst in dem Sinn, daß der menschliche Kopf und die durch sein Denken gefundenen Sätze den Anspruch machten, als Grundlage aller menschlichen Handlung und Vergesellschaftung zu gelten; dann aber später auch in dem weitern Sinn, daß die Wirklichkeit, die diesen Sätzen widersprach, in der 57

Tat von oben bis unten umgekehrt wurde. Alle bisherigen Gesellschafts- und Staatsformen, alle altüberlieferten Vorstellungen wurden als unvernünftig in die Rumpelkammer geworfen; die Welt hatte sich bisher lediglich von Vorurteilen leiten lassen; alles Vergangne verdiente nur Mitleid und Verachtung. Jetzt erst brach das Tageslicht, das Reich der Vernunft an; von nun an sollte der Aberglaube, das Unrecht, das Privilegium und die Unterdrückung verdrängt werden durch die ewige Wahrheit, die ewige Gerechtigkeit, die in der Natur begründete Gleichheit und die unveräußerlichen Menschenrechte." 2 Diese Charakterisierung von Engels trifft nicht nur auf die französische Aufklärung zu. Sie wird durch die gesamte Entwicklungsgeschichte des klassischen bürgerlichen Denkens bestätigt. Die klassische bürgerliche Philosophie steht und fällt mit dem Begriff der Vernunft. Schon bei Hobbes ist zu lesen: „Die wahre Weisheit ist nun aber die Kenntnis der Wahrheit in allen Dingen. Sie entspringt aus der durch feste und bestimmte Namen erweckten Erinnerung an die Dinge und ist nicht das Werk eines heftigen Geistes und einer plötzlichen Aufwallung, sondern das Werk der rechten Vernunft, das heißt der Philosophie."3 Und Diderot formuliert: „Die Vernunft bedeutet für den Philosophen, was die Gnade für den Christen bedeiftet. Die Gnade bestimmt den Christen zum Handeln, die Vernunft bestimmt den Philosophen."4 Für die klassische bürgerliche Philosophie sind „Vernunft" und „Philosophie" gleichbedeutend. Auffallend ist, daß sich die klassische bürgerliche Philosophie kaum um eine eindeutige und umfassende Bestimmung des Begriffs der Vernunft bemüht. Sie setzt ihn einfach voraus. Zwar wird in ihren Systemen sehr viel von der Vernunft gesprochen, doch man begegnet in ihnen keiner wirklich kritischen Reflexion über ihren Begriff; und zwar auch dort nicht, wo es zunächst, wie etwa bei Kant, durchaus den Anschein hat. Darüber dürfen die mannigfaltigen Versuche der klassischen bürgerlichen Philosophie, den Begriff der Vernunft zu bestimmen, nicht hinwegtäuschen. Diese sind jeweils nur allgemein auf ein kritisches Denken und — zum Teil — Handeln hin ausgerichtet, das dann mit „Vernunft" umschrieben wird. Insofern ist es durchaus berechtigt, von einem Vernunftglauben der klassischen bürgerlichen Philosophie zu sprechen. Dieser Sachverhalt ist keineswegs zufällig. Denn was die klassische bürgerliche Philosophie mit „Vernunft" meint, weist über den Bereich bloßen kritischen Denkens und auch angestrebten Handelns hinaus. Es überschreitet vor allem die Bereiche der Logik und der Erkenntnistheorie. Der Begriff der Vernunft des bürgerlichen Denkens der Neuzeit geht auf das Zentralproblem der Epoche: den Übergang von der feudalen zur bürgerlichen Gesellschaft. Die klassische bürgerliche Philosophie entwickelt daher die Formel der Herrschaft des Menschen über Natur und Gesellschaft, und zwar kraft der Vernunft. Dieser Aspekt. Begriff der Vernunft hat dergestalt einen gewollten gesellschaftskritischen Diese Einsicht ist unabdingbar für das Verständnis der Entwicklungsgeschichte der klassischen bürgerlichen Philosophie. Ihr darf nicht entgegengehalten werden, daß sich die Diskussionen um den Begriff der Vernunft innerhalb der Philo58

sophie des progressiven Bürgertums meist nur in erkenntnistheoretischen Fragestellungen bewegten (etwa während des Streits um die angeborenen Ideen zwischen Descartes, Leibniz und Locke). Auch in diesen Auseinandersetzungen ging es um die historisch-gesellschaftliche Grundproblematik der Zeit aus der Sicht der progressiven Bourgeoisie. Sie wurden nur aus immanent philosophischen (ideengeschichtlichen) und wissenschaftshistorischen Gründen erkenntnistheoretisch formuliert. Das zeigt sich schon in den Anfängen des bürgerlichen Denkens. Als dieses am Beginn seiner Entwicklung betont im Namen der Vernunft auftrat, waren die Vertreter des überlieferten Denkens schockiert. Denn es kritisierte das, was man bislang als Ausdruck der Vernunft und deshalb als Autorität schlechthin genommen hatte. Mehr noch: Indem es die Autorität kritisierte, griff es die herrschende Gewalt an, die ihre Legitimität von eben dieser Autorität herleitete. Zugleich aber setzte dieses neue Denken etwas voraus, was eigentlich erst begründet werden müßte: die Vernunft. Eine französische Quelle aus dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts vermerkt: „In Anbetracht dessen, daß seit einiger Zeit eine Unbekannte, die sich Vernunft nennt, es unternommen hat, mit Gewalt in die Hörsäle der Universitäten einzudringen, daß sie mit Hilfe gewisser obskurer Spaßvögel, die sich Gassendisten, Cartesianer, Malebranchianer benamsen, von ganz dunklen Existenzen, Aristoteles nachprüfen und vertreiben will . . ." Paul Hazard, der dieses Zeitdokument anführt, kommentiert: „Das stimmte: Die Vernunft erschien tatsächlich voll Angriffslust auf dem Plan und wollte nicht allein Aristoteles nachprüfen, sondern jeden, der jemals gedacht oder geschrieben hatte. Sie maßte sich an, mit allen früheren Irrtümern aufzuräumen und das Leben von neuem zu beginnen. Sie war keine Unbekannte, denn man hatte sie zu allen Zeiten immer angerufen, aber sie hatte ein neues Gesicht." 5 In der Tat: Die Vernunft war keine Unbekannte, aber ihrem Begriff wurde durch das beginnende bürgerliche Denken ein Inhalt unterschoben, der ihn radikal von der „Vernunft" der Tradition unterscheidet. Insofern mußte die Vernunft des neuen bürgerlichen Denkens allen an der überlieferten Ideologie hängenden Geistern als Unbekannte erscheinen. Die Vernunft war zwar als Vermögen menschlichen Denkens, insbesondere eines, das am göttlichen teilhaben sollte, von der Tradition her überliefert. Aber gerade die Teilhabe am göttlichen Denken machte sie ja zu einer passiven, für die Ideologen der progressiven Bourgeoisie unannehmbaren Vernunft. Das sich herausbildende bürgerliche Denken setzt sie als aktive Vernunft. Und im Laufe der Entwicklung wird sie für die klassische bürgerliche Philosophie gleichsam alles — vor allem Subjekt, Aktivität, Tätigkeit, schließlich Tätigsein; Mittel der Kritik des Bestehenden, Vermögen der Naturbeherrschung und der Gesellschaftsgestaltung. Sie wird als jene Kraft ausgegeben, die den Menschen in die Lage versetzt, sich von der überlieferten Ideologie frei zu machen, die Natur zu beherrschen und die überkommene gesellschaftliche Ordnung zu verändern. Und darin war eingeschlossen, daß sich der Mensch selber, in Unab59

hängigkeit von jedweder Autorität und jedem Gegebenen oder „Positiven", das heißt völlig autonom, kraft der Vernunft in den Griff bekommt. Die klassische bürgerliche Philosophie setzt deshalb Vernunft mit bürgerlichem Denken und bürgerlicher gesellschaftlicher Entwicklung gleich. Insofern war diese Vernunft gleichbedeutend mit dem Anspruch, Natur und Gesellschaft rational zu beherrschen. Dieser Anspruch konnte aber nur verwirklicht werden, wenn im Namen der Vernunft alles das angegriffen wurde, was ihm entgegenstand. „So mußte die Vernunft sich denn zunächst ans Aufräumen machen. All diese unzähligen Irrtürmer zu zerstören, war ihre Sendung, und sie beeilte sich, diese Sendung zu erfüllen, die sie aus sich selbst herleitete, aus der Würde ihres eigentlichen Wesens."6 Das blieb der Denk-Einsatz der klassischen bürgerlichen Philosophie von Bacon und Descartes bis zu Hegel und Feuerbach, die ihre Forderungen ungeteilt im Namen der Vernunft vortragen und zugleich in ihrem Namen alles Bestehende kritisieren. Und sie wird alle ihre Bestrebungen voraussetzungslos als in der Vernunft begründet ausgeben. „Indessen müssen wir auf dieser Welt mit Hilfe [der] Vernunft urteilen", und es ist „der Stimme der Vernunft zu folgen", heißt es lapidar bei Holbach.7 Und wenn Kant die Vernunft als das Vermögen bestimmt, „von dem Allgemeinen das Besondere abzuleiten und dieses letztere . . . nach Prinzipien und als notwendig vorzustellen", so meint er das nicht nur erkenntnistheoretisch. Das „nach Prinzipien und als notwendig vorzustellen" heißt bei ihm: verbindlich für alle Menschen, vor allem im praktischen (gesellschaftlichen) Bereich. Schon der nächste Satz gibt darüber Aufschluß: „Man kann [die Vernunft] auch durch das Vermögen, nach Grundsätzen zu urteilen und (in praktischer Rücksicht) zu bandeln, erklären."8 Hegel wird später davon sprechen, daß „der einzige Gedanke, den die Philosophie mitbringt, . . . der einfache Gedanke der Vernunft [ist], daß die Vernunft die Welt beherrsche" 9. Und der bewußte Einsatz seines Denkens wird von der Einsicht getragen: „Was der Mensch sein Ich nennen kann, und was über Grab und Verwesung erhaben ist, . . . ist fähig, sich selbst zu richten. Es kündigt sich als Vernunft an, deren Gesetzgebung von nichts mehr sonst abhängig ist, der keine andere Autorität auf Erden oder im Himmel einen anderen Maßstab des Richtens an die Hand geben kann."10 In Hegels Philosophie wird sich noch einmal die unerschütterliche Überzeugung der Repräsentanten der progressiven Bourgeoisie von der Kraft und der Mächtigkeit der Vernunft in großartiger und zugleich tragischer Weise manifestieren. Diese ihre Überzeugung war derart intensiv, daß Robespierre noch am 7. Mai 1794, nach fast fünfjähriger Revolutionserfahrung und nur kapp drei Monate vor seinem Sturz und seiner Hinrichtung, im Konvent erklären konnte: „Alle Erdichtungen schwinden vor der Wahrheit dahin, und alle Narrheit zerfällt vor der Vernunft."11 Das klassische bürgerliche Denken wird vom Glauben an die Vernunft vorangetrieben. Seine besten Köpfe sehen zugleich, daß die Wirklichkeit in sich vernünftig sein muß, wenn die Vernunft in ihr herrschen soll. Ihr Bestreben ist 60

deshalb darauf gerichtet, Brücken von der Vernunft zur Wirklichkeit und umgekehrt zu schlagen. Denn das Grundproblem der klassischen bürgerlichen Philosophie ist, die Möglichkeit rationaler Herrschaft des Menschen über Natur und Gesellschaft philosophisch zu begründen. Daß es ihr trotz ihrer mannigfachen Anstrengungen nicht gelingt, den Begriff der Vernunft eindeutig und umfassend zu bestimmen, hängt mit der historischen Funktion jener Klasse zusammen, deren Weltanschauung sie ist: der Bourgeoisie. Der Prozeß des Übergangs von der feudalen zur bürgerlichen Gesellschaft ist ein Vorgang, in dem zwar eine alte durch eine neue, fortgeschrittenere Gesellschaftsordnung ersetzt wird; aber beide Gesellschaften, die alte feudale wie die neue bürgerliche, sind Ausbeuterotdnungen. In diesem Prozeß konstituiert sich die Bourgeoisie nicht nur zur herrschenden, sondern auch zur unterdrückenden und ausbeutenden Klasse der neuen Gesellschaft. Der beim Begriff der Vernunft in der Theorie auftretende Mangel ist ein Vor-Reflex der antagonistischen Klassenstruktur der bürgerlichen Gesellschaft. Die Vernunft, vom klassischen bürgerlichen Denken immer als allgemein-menschliche gesetzt, entlarvt sich nach Etablierung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung als bürgerliche Vernunft. Die mit der Vernunft theoretisch begründete bürgerliche Gesellschaft verwirklicht sich als höchst unvernünftige Ordnung in der Welt. Und die allgemein-menschliche Vernunft des klassischen bürgerlichen Denkens selber scheitert als eben bürgerliche Vernunft an der Mehrwertrate. 12 Die Ideologen der etablierten bürgerlichen Klasse werden diesen Sachverhalt als selbstverständlich hinnehmen und ihn als naturgegeben betrachten. Ihr Denken will dann nicht mehr vernünftig, sondern positiv sein. Das heißt: es ist mit den antagonistischen kapitalistischen Verhältnissen ausgesöhnt. Und nur eine kurze Zeit wird vergehen, bis das bürgerliche Denken seinen einstigen Anspruch, die Wirklichkeit im Sinne der Vernunft zu gestalten, ganz aufgeben wird, um nunmehr einer apologetischen Unvernunft zu frönen. Friedrich Engels schreibt an der oben schon herangezogenen Stelle weiter, wobei die Geltung auch dieser Sätze über das 18. Jahrhundert hinausreicht: „Wir wissen jetzt, daß dies Reich der Vernunft weiter nichts war als das idealisierte Reich der Bourgeoisie . . ." Und er fährt fort: „So wenig wie alle ihre Vorgänger konnten die großen Denker des 18. Jahrhunderts hinaus über die Schranken, die ihnen ihre eigne Epoche gesetzt hatte." 13 Die Entfaltung des Begriffs der Vernunft in den Systemen der klassischen bürgerlichen Philosophie gehört in das Kapitel der „heroischen Illusionen" der progressiven Bourgeoisie. Die progressive Bourgeoisie brauchte den Begriff der Vernunft für ihren Eintritt in die Geschichte. Sie bedurfte der Vernunft als allgemein-menschlicher vor allem, „um den bürgerlich beschränkten Inhalt ihrer Kämpfe sich selbst zu verbergen und ihre Leidenschaft auf der Höhe der großen geschichtlichen Tragödie zu halten". 14 Das klassische bürgerliche Denken verbarg so, vom Ergebnis des historischen Prozesses her gesehen, den eigentlichen Inhalt des Übergangs von der feudalen zur bürger61

liehen Gesellschaft, nämlich seihe Bestimmung, von einer Ausbeuterordnung zu einer anderen überzuleiten.15 Insofern die aufstrebende Bourgeoisie infolge ihrer Klassensituation immer nur nach einer Seite hin fortschrittlich ist, gegenüber dem Feudalismus, seinen Institutionen und seiner Ideologie, kann sie sich des gesellschaftlichen Fortschritts als eines unteilbaren Ganzen nicht bemächtigen.16 Es ist deshalb ein durchaus objektiv begründeter Vorgang, wenn nach der Herausbildung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung die bürgerlichen Ideologen der Vernunft Und allen aus ihr abgeleiteten Forderungen abschwören, sie zumindest nicht mehr als für alle Menschen geltende wahrhaben wollen. Das Thema der Vernunft geht denn auch ein in die Ideologie jener Klasse, die als Antipode der Bourgeoisie dazu berufen ist, durch ihre Befreiung die Befreiung der gesamten Menschheit von Ausbeutung und Unterdrückung zu bewerkstelligen: in die wissenschaftliche Weltanschauung des Proletariats. II Die klassische bürgerliche Philosophie hebt mit Bacon und Descartes an. Ihr Denken unterscheidet sich grundlegend von der überkommenen Ideologie der feudalen Gesellschaft: Bacon und Descartes betrachten die objektive Realität nicht mehr, wie das feudal-klerikale Denken, als von Gott gegeben und auf ihn hin bezogen, sondern als vom Menschen selber beherrschbar und gestaltbar.17 Bacon formulierte: „Der Menschen Herrschaft über die Dinge beruht allein auf den Künsten und Wissenschaften . . . Mit eherner Notwendigkeit wird daraus eine Verbesserung der menschlichen Verhältnisse und eine Erweiterung [des Menschen] Macht über die Natur folgen." 18 Und Descartes fordert eine Philosophie, „die vom größten Nutzen für das Leben [ist] . . . , durch die wir die Kräfte und Wirkungen des Feuers, des Wassers, der Luft, der Gestirne, des Himmels und überhaupt aller uns umgebenden Körper ebenso deutlich kennenlernen, wie uns die verschiedenen Kunstgriffe unserer Handwerker bekannt sind; wir könnten sie also ebensogut in allen geeigneten Fällen anwenden und uns so zu Herren und Meistern der Natur machen" 19 . Mit dieser Forderung haben Bacon und Descartes die weitere Entwicklung der klassischen bürgerlichen Philosophie bis Hegel und Feuerbach weitgehend vorgezeichnet. Ihr Denken wird immer wieder um jene Frage kreisen, die Bacon und Descartes als erste gestellt haben: Wie kann der Mensch Natur und Gesellschaft rational beherrschen? Die theoretische Begründung einer solchen Fragestellung impliziert zunächst das Bild eines erkennenden Menschen, der keinerlei irgendwie gearteten Beschränkungen unterliegt. In der Tat geht es dem klassischen bürgerlichen Denken in Frontstellung gegen das Menschenbild der feudal-klerikalen Ideologie darum, daß der Mensch — jetzt: das Individuum — frei ist von jeder äußeren Bindung. Proklamiert wird die Unabhängigkeit des Menschen von jedweder Autorität. 20 Das Individuum wird vom bürgerlichen 62

Denken als Ich, als Subjekt, das tätig und aktiv, zu selbständigen Handlungen und Entscheidungen befähigt ist, eingeführt. Kant formuliert diesen Sachverhalt am Anfang seiner „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht" so: „Daß der Mensch in seiner Vorstellung das Ich haben kann, erhebt ihn unendlich über alle andere auf Erden lebende Wesen. Dadurch ist er eine Person und, vermöge der Einheit des Bewußtseins, bei allen Veränderungen, die ihm zustoßen mögen, eine und dieselbe Person, das ist ein von Sachen, dergleichen die vernunftlosen Tiere sind, mit denen man nach Belieben schalten und walten kann, durch Rang und Würde ganz unterschiedenes Wesen."21 Diese veränderte Auffassung vom Menschen impliziert für die klassische bürgerliche Philosophie die Aufgabe, seine „wahre Natur" zu ergründen. Sie will den Menschen denn auch „natürlich" erklären, nicht „übernatürlich", das heißt, nicht von Gott her gesehen und auf ihn hingeordnet, wie das feudal-klerikale Denken. Bei Thomas von Aquin ist der Mensch „gleichsam zwischen Gott und das Irdische gestellt" 22 . Die Philosophie der bürgerlichen Neuzeit dagegen führt den Menschen als autonomes Wesen, als Subjekt vor. Daraus folgt der gesellschaftskritische Charakter des Menschenbildes der klassischen bürgerlichen Philosophie. Er schließt die Forderung ein, die überkommene gesellschaftliche Ordnung in Übereinstimmung mit der „wahren Natur" des Menschen zu bringen. Mit dem neuen Menschenbild der klassischen bürgerlichen Philosophie geht eine andere Bewertung der Außenwelt (Natur) einher; sie wird innerhalb ihrer Systeme immer mehr zu etwas rein Äußerlichem. Je mehr die bürgerlichen Elemente die Gesellschaft durchdringen und in ihr bestimmend werden, desto stärker wird die Außenwelt von der klassischen bürgerlichen Philosophie als störend, dem Menschen gegenüberstehend und sein Tun einschränkend betrachtet : Sie wird in ihren verschiedenen Manifestationen zu einer dem Menschen fremden Außenwelt. Die klassische bürgerliche Philosophie begegnet diesem Sachverhalt mit Erkenntnisoptimismus. Ihr Denk-Einsatz ist die These von der Möglichkeit rationaler Herrschaft des Menschen über Natur und Gesellschaft kraft seiner Vernunft. Der Versuch, diese These in immer neuen Anläufen philosophisch zu begründen, wird zu ihrem durchgängigen Grundproblem. Sie bestimmt zugleich das Herangehen der klassischen bürgerlichen Denker an die objektive Realität. Am augenscheinlichsten tritt das in der rationalistischen Entwicklungsstufe der klassischen bürgerlichen Philosophie (und auch noch im französischen Materialismus) hervor. Diese nimmt die objektive Realität nach dem Vorbild der mathematischen Erzeugung und geometrischen Konstruktion als geschaffen, als von der Vernunft erzeugt, als ihr Produkt — wodurch sie eben vom Menschen beherrscht werden könne. Hobbes spricht diesen Gedanken das erste Mal konsequent aus, indem er diktiert: nur solche Gegenstände sind erkennbar, die von der menschlichen Vernunft erzeugt sind. Spinozas Proklamation der Identität von Denken und Sein, die Leibnizsche Harmonie der Monaden und Kants „koper63

nikanische Wendung" des Erkenntnisproblems sind weitere Versuche der klassischen bürgerlichen Philosophie, die objektive Realität als vom Menschen beherrschbar nachzuweisen. Kant formuliert die „kopernikanische Wendung" des Erkenntnisproblems in der Vorrede zur zweiten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft": „Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche, über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zunichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserer Erkenntnis richten, welches so schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer Erkenntnis derselben a priori zusammenstimmt, die über Gegenstände, ehe sie uns gegeben werden, etwas festsetzen soll." 23 Dies ist einer der vielen von der klassischen bürgerlichen Philosophie unternommenen Versuche, die These von der rationalen Herrschaft des Menschen über Natur und Gesellschaft zu begründen und dadurch ihr Grundproblem zu bewältigen. Dieser Gedanke klingt das erste Mal bei Bacon und Descartes an und kehrt in der gesamten klassischen bürgerlichen Philosophie immer wieder. Wir verweisen auf Hobbes, Spinoza, Leibniz und Kant. Selbst Berkeleys Leugnung der Existenz der Außenwelt liegt dasselbe Problem zugrunde wie der von Holbach aufgestellten Hypothese, daß die Materie die Fähigkeit zu denken besitze.24 Und auch Fichtes Theorie vom autonomen Ich, das das Nicht-Ich setzt, um zum Bewußtsein seiner selbst zu kommen, ist eine Antwort auf dieses Problem, ebenso wie Schellings Lehre von der intellektuellen Anschauung oder Hegels Auffassung des Inhalts der Logik als der „Darstellung Gottes . . ., wie er . . . vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist" 25 . Die verschiedenen Lösungsversuche des Grundproblems der klassischen bürgerlichen Philosophie innerhalb ihrer Entwicklungsgeschichte entsprechen dem Prozeß der Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft. Dieser ist der allgemeine historisch-gesellschaftliche Rahmen, in dem sich die Entfaltung der klassischen bürgerlichen Philosophie vollzieht. Die historisch aufgetretenen Gestalten des klassischen bürgerlichen Denkens reflektieren die jeweils erreichte Entwicklungsstufe der bürgerlichen Gesellschaft, und zwar ökonomisch, gesellschaftlich, ideologisch und politisch. Dieser Fortgang war kein geradliniger. Er konnte es gar nicht sein, weil der Prozeß des Übergangs von der feudalen zur bürgerlichen Gesellschaft genausowenig ein geradliniger war. Insofern war die philosophische Bewältigung des Problems der bürgerlichen Gesellschaft kein theoretischer Vorgang, der sich etwa von Stufe zu Stufe oder von System zu System kontinuierlich vollzogen hätte. Rationale Beherrschung von Natur und Gesellschaft war zwar die Forderung, die der Entwicklung der klassischen bürgerlichen Philosophie insgesamt zugrunde lag. Doch die Art und Weise der philosophischen Besinnung darüber bei den einzelnen Denkern war abhängig 64

vom Stand der Herausbildung und Etablierung der bürgerlichen Gesellschaft in den verschiedenen europäischen Ländern und von der Reife jener bürgerlichen Schichten, deren Sprecher sie jeweils waren. 26 III In diesem Sinne sind die der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie vorangegangenen philosophischen Strömungen in Frankreich und England, nämlich Rationalismus sowie Materialismus und Empirismus, Lösungsversuche des Grundproblems des klassischen bürgerlichen Denkens unter dem Eindruck und der Einwirkung unterschiedlicher gesellschaftlicher Bedingungen: des erreichten Entwicklungsstandes der englischen und französischen Gesellschaft im 17. und 18. Jahrhundert. Der Unterschied beider Gesellschaften kann in einem Satz zusammengefaßt werden: Die französische Bourgeoisie steht vor der bürgerlichen Revolution, die englische hat diese hinter sich gebracht. Hieraus resultiert der unterschiedliche Charakter, den die französische und englische Philosophie dieser Jahrhunderte annehmen, und wie er zunächst im Rationalismus 2 7 und Empirismus seine jeweilige Ausprägung findet. Beide philosophischen Strömungen sind ideologische Schöpfungen der progressiven Bourgeoisie — aber nicht der progressiven Bourgeoisie schlechthin, sondern der französischen und der englischen, woraus das ihnen Gemeinsame wie das sie Trennende sich erklären. Dem Rationalismus und Empirismus gemeinsam sind jene Momente, durch welche die klassische bürgerliche Philosophie insgesamt zur Weltanschauung der progressiven Bourgeoisie geworden ist: diesseitiges Denken, kritisches Herangehen an das Überlieferte und das Überkommene, Hervorkehrung des Individuums und seiner autonomen Rolle in der Gesellschaft (bürgerlicher Individualismus) und — damit zusammenhängend — die Forderung nach Freiheit und rechtlicher Gleichheit. Der Unterschied beider Strömungen kommt vor allem in der Grundhaltung ihrer Vertreter der gesellschaftlichen Wirklichkeit gegenüber zum Vorschein. Der französische Rationalismus nimmt diese Wirklichkeit als unvernünftig oder noch nicht vernünftig, das heißt als nicht oder noch nicht übereinstimmend mit seinen Forderungen, denen der progressiven Bourgeoisie. Sein Denken wird durch den Anspruch vorangetrieben, die Wirklichkeit im Sinne der Vernunft zu gestalten. Diese Einstellung des französischen Rationalismus kennzeichnet ihn als Weltanschauung des noch um politischen Einfluß und um Durchsetzung seiner Forderungen ringenden französischen Bürgertums. Der Rationalismus ist ein ideologisches Kampfmittel der aufstrebenden französischen Bourgeoisie gegen die überkommene Gesellschaft des Absolutismus, ihre Institutionen und ihre feudal-klerikale Ideologie. Im Zentrum seiner Bemühungen steht die Vernunft. An dieser wird alles gemessen, nach ihren Prinzipien sollen Gesellschaft und Staat eingerichtet werden. 5

Buhr

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Der englische Empirismus hingegen ist die Philosophie einer schon weiterentwickelten Bourgeoisie, die ihre Ziele — wenn auch nicht ohne einen Kompromiß mit den alten Kräften — weitgehend erreicht hat und konservativ zu werden beginnt. Der Empirismus nimmt daher die gesellschaftliche Wirklichkeit, so wie sein Träger, das englische nachrevolutionäre Bürgertum, als gegeben — das heißt, wie sie ist, nicht als unvernünftig oder noch nicht vernünftig, wie der französische Rationalismus und später der französische Materialismus, sondern als natürlich und darum als dem Menschen am besten angemessen. Freilich, auch der Empirismus stellt Unzulänglichkeiten innerhalb der bürgerlichen Verhältnisse Englands fest. Der Hinweis Humes etwa, daß dem Bewohner eines anderen Planeten die Erde als ein Tollhaus erscheinen müsse, unterstreicht das. Doch diese „Tollhaus"-Aspekte der bürgerlichen Gesellschaft betrachtet der englische Empirismus als bloß notwendiges, nicht aber als notwendig zu überwindendes Übel. Das Maß der gesellschaftlichen Wirklichkeit ist für ihn nicht mehr die Vernunft, sondern die Faktizität seiner Gesellschaft, derer er sich umfassend zu versichern sucht. Das unterschiedliche Herangehen der rationalistischen und empiristischen Philosophen an die gesellschaftliche Wirklichkeit — ihnen von der jeweiligen Struktur ihrer, nämlich der französischen und englischen Gesellschaft der Zeit aufgegeben — fand in ihren Theorien seinen Niederschlag. Der französische Rationalismus unterstrich die uneingeschränkte Mächtigkeit der Vernunft. Die Begriffe, Prinzipien und Ideen der Vernunft galten ihm als allgemeingültige und notwendige. Mit ihrer Hilfe versuchte er, ebenso allgemeingültige und notwendige Gesetze zu formulieren. Diese gab er dann als aus der Vernunft selber hergeleitete Gesetze aus. Sie waren für ihn zugleich — und darauf kam es ihm an — verbindlich für jeden und für alle Menschen. Der englische Empirismus stellt nun solches gerade in Abrede. Er behauptete, daß kein Begriff, kein Prinzip und keine Idee der Vernunft als je allgemeingültig und notwendig angesehen werden dürfe. Die auf ihrer Grundlage formulierten Gesetze seien weder verbindlich für alle Menschen noch in der Vernunft begründet. Was gemeinhin als allgemeine Begriffe (Prinzipien, Ideen) oder als Vernunft selber ausgegeben werde, sei nichts anderes als Gewohnheit, Übung oder Sitte. Nur Einzeldinge, einzelne Tatsachen seien wirklich. Sie machten als solche das Gegebene (erkenntnistheoretisch: die Erfahrung) aus. An dieses aber hätten sich Philosophie und Wissenschaft allein zu halten. Locke: „Das Allgemeine und das Universale [gehören] nicht zur realen Existenz der Dinge. Sie sind vielmehr nur Erfindungen und Schöpfungen des Verstandes, die dieser für seinen eigenen Gebrauch gebildet hat, und betreffen nur Zeichen, seien es Wörter oder Ideen, Wörter sind . . . allgemein, wenn sie als Zeichen allgemeiner Ideen dienen und ohne Unterschied auf viele Einzeldinge anzuwenden sind. Ideen sind allgemein, wenn sie als Repräsentanten vieler einzelner Dinge aufgestellt werden. Universalität kommt jedoch nicht den Dingen selbst zu; denn die Dinge sind in ihrer Existenz sämtlich einzeln . . . Wenn wir somit die Einzeldinge bei66

seite lassen, so sind die Generalia, die übrigbleiben, nur Schöpfungen, die von uns selbst stammen." 2 8 Und für Hume „repräsentieren" die Allgemeinbegriffe jeweils nur das Besondere, das für ihn immer Einzelnes ist, niemals das Allgemeine oder ein Allgemeines. Das Allgemeine sei nur ein Produkt der „Gewohnheit oder Übung", „Wirkungen der Gewohnheit, nicht der Vernunfttätigkeit" — wie überhaupt die „Gewohnheit die große Führerin im menschlichen Leben" ist. 29 Schließlich: „Die Vernunft, weil kühl und uninteressiert, ist kein Motiv zum Handeln . . . " 3 0 Mit diesen Anschauungen untergrub der englische Empirismus zunächst die metaphysischen Aspekte der Lehren des französischen Rationalismus und schärfte das erkenntnistheoretische Denken. Der französischen Materialismus des 18. Jahrhunderts wird an die sensualistische Erkenntnistheorie des englischen Empirismus (vor allem an die Lockes) anknüpfen und sie konsequent mechanisch-materialistisch weiterführen. Allein das ist die eine, die positive Seite der Angelegenheit. Die andere Seite: indem der englische Empirismus das menschliche Denken ausschließlich auf das Gegebene festlegte, war er darauf aus, der Philosophie der progressiven Bourgeoisie ihre gesellschaftskritische Spitze abzubrechen. Denn seine Forderung, sich nur ans „Gegebene" zu halten, schloß die Aufforderung ein, das bestehende — eben das „gegebene" — soziale Schema zu akzeptieren und unangetastet zu lassen. Seine Orientierung auf das Einzelne führte zwangsläufig zum Verzicht, sich des Allgemeinen dieses Einzelnen zu versichern. In erkenntnistheoretischer Hinsicht liefen die Lehren des englischen Empirismus auf den Skeptizismus (Hume) hinaus, in gesellschaftspolitischer Beziehung redeten sie dem Konformismus das Wort. Schon bei Locke hieß es: „Wir Menschen haben allen Anlaß, mit dem zufrieden zu sein, was Gott für uns passend gefunden hat, weil er uns . . . alles, was für die Bequemlichkeit des Lebens und zum Unterricht in der Tugend erforderlich ist, gegeben und erkennbar gemacht hat." 3 1 Der englische Empirismus stieß so die Vernunft, gesellschaftlicher Stolz und ideologische Waffe aller progressiven Bourgeoisie, gleichsam von ihrem Thron. Er zwang sie, abzudanken. In der philosophischen Diskussion der Zeit brachte er das Thema der Vernunft zum bloßen Formelspiel, bestenfalls zu einem Wort des guten Tons herunter. 32 Humes Ansicht vom Geist als einer „Art Theater, auf dem verschiedene Perzeptionen nacheinander auftreten, kommen und gehen, und sich in unendlicher Mannigfaltigkeit der Stellungen und Arten der Anordnung untereinander mengen" 3 3 , ist ebenso beredt wie seine Feststellung: „Es erscheint einleuchtend, daß die letzten Zwecke der menschlichen Handlungen sich nie und nimmer durch die Vernunft erklären lassen, sondern daß für sie ausschließlich Gefühle und Neigungen der Menschen, ganz unabhängig von ihren intellektuellen Fähigkeiten, maßgebend sind." 34 Die Lehren des englischen Empirismus waren ihrem Wesen nach ein Angriff auf die Vernunft. Innerhalb der Entwicklungsgeschichte des klassischen bürgerlichen Denkens waren sie der erste und einzige Angriff, der gegen die Vernunft s»

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vorgetragen wurde. Der Empirismus blieb in der Geschichte der Philosophie von Bacon und Descartes bis zu Hegel und Feuerbach eine Episode. In der nachklassischen Entwicklung der bürgerlichen Ideologie wird er jedoch auf den Thron gehoben. Seine Absage an die Vernunft wird durch die spätbürgerliche und imperialistische Philosophie in Gestalt des Positivismus und der ihm in dieser Beziehung verwandten verschiedenen irrationalistischen Strömungen kultiviert und zu einer permanenten Ideologie gesteigert. 35 Freilich, die Philosophie des Empirismus war den Interessen der englischen nachrevolutionären Bourgeoisie angemessen. Sie war in ihren Konsequenzen jedoch unannehmbar für eine Bourgeoisie wie die französische, die ihre Revolution noch vor sich hatte. Den bürgerlichen Ideologen im rückständigen Deutschland mußte sie darüber hinaus geradezu verhängnisvoll und gefährlich erscheinen. Für sie bedeutete der Angriff des englischen Empirismus auf die Vernunft die Aufgabe der Hoffnung auf ein vernünftiges Fortschreiten des Menschengeschlechts. Es war deshalb kein Zufall, daß Kant — und nach ihm Fichte und Hegel — die Lehren des englischen Empirismus als verhängnisvoll und gefährlich betrachtete.36 Gleich auf den ersten Seiten der „Kritik der reinen Vernunft" stellt Kant mit aller Deutlichkeit fest: „In neueren Zeiten schien es . . ., als sollte allen . . . Streitigkeiten [um die Macht der Vernunft] durch eine gewisse Physiologie des menschlichen Verstandes (von dem berühmten Locke) ein Ende gemacht . . . werden; es fand sich aber, daß, obgleich die Geburt jener vorgegebenen Königin [die empiristische Philosophie] aus dem Pöbel der gemeinen Erfahrung abgeleitet wurde und dadurch ihre Anmaßung mit Recht hätte verdächtigt werden müssen, dennoch, weil die Genealogie ihr in der Tat fälschlich angedichtet war, sie ihre Ansprüche noch immer behauptete, wodurch alles wiederum in den veralteten wurmstichigen Dogmatismus und daraus in die Geringschätzung verfiel, daraus man die Wissenschaft hatte ziehen wollen." 37 Diese Einsicht bewog Kant zunächst dazu, die Philosophie in theoretischer Sicht neu zu begründen, um die Einwände des englischen Empirismus gegen die Vernunft zurückweisen zu können. Daß es Kant dabei jedoch um weit mehr ging, unterstreicht folgender, ebenfalls in der „Kritik der reinen Vernunft" stehender Passus: „Eine Verfassung von der größten menschlichen Freiheit nach Gesetzen, welche machen, daß jedes Freiheit mit der andern ihrer zusammen bestehen kann (nicht von der größesten Glückseligkeit, denn diese wird schon von selbst folgen), ist doch wenigstens eine notwendige Idee, die man nicht bloß im ersten Entwürfe einer Staatsverfassung, sondern auch bei gegenwärtigen Hindernissen abstrahieren muß, die vielleicht nicht sowohl aus der menschlichen Natur unvermeidlich entspringen mögen, als vielmehr aus der Vernachlässigung der echten Idee bei der Gesetzgebung. Denn nichts kann Schädlicheres und eines Philosophen Unwürdigeres gefunden werden, als die pöbelhafte Berufung auf vorgeblich widerstreitende Erfahrung, die doch gar nicht existieren würde, wenn jene Anstalten zu rechter Zeit nach den Ideen getroffen würden, und an 68

deren statt nicht rohe Begriffe, eben darum, weil sie aus der Erfahrung geschöpft worden, alle gute Absicht vereitelt hätten." 38 Kants in diesem konkreten Zusammenhang geprägter Satz: „Denn nichts kann Schädlicheres und eines Philosophen Unwürdigeres gefunden werden, als die Berufung auf vorgeblich widerstreitende Erfahrung" wird gleichsam zu einem Leitmotiv der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie werden. Hegel wird den englischen Empirismus im Zusammenhang mit dem Begriff der Freiheit rundweg als eine „Lehre der Unfreiheit" abtun.39 Die Auseinandersetzungen zwischen Rationalismus und Empirismus im 17. und 18. Jahrhundert und der folgende Kampf der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie gegen den Empirismus und ihre durch ihn angeregte scharfe Kritik am Rationalismus waren in der Tat kein bloßer Streit um nur erkenntnistheoretische Fragen. Diese Auseinandersetzungen wurden auf dem Hintergrund des historisch-gesellschaftlichen Zentralproblems der französischen und deutschen Gesellschaft der Zeit geführt: des Übergangs von der feudalen zur bürgerlichen Gesellschaft. Auf philosophischer Ebene ging es dabei um den Bestandteil der Philosophie selber und um ihre Rolle bei der Herstellung der bürgerlichen Gesellschaft. IV Die klassische bürgerliche Philosophie war vom Anbeginn ihrer Herausbildung mit dem Anspruch aufgetreten, Mittel zur rationalen Herrschaft über Natur und Gesellschaft bereitzustellen. Sie wollte Wege weisen, wie Natur und Gesellschaft vom Menschen beherrscht bzw. verändert werden können. Den zureichenden Grund solchen Unterfangens fand sie in der Vernunft und — insofern sie sich mit dieser identifizierte — in sich selbst. An der Möglichkeit der Verwirklichung ihres Anspruchs und damit an der „Macht der Vernunft" 40 hat die klassische bürgerliche Philosophie bis zum Emporkommen des englischen Empirismus nie gezweifelt. Die Erfolge in der Naturerkenntnis (mathematische Naturwissenschaft), die Fortschritte in der Wissenschaftsentwicklung insgesamt und in der Philosophie selber schienen dem klassischen bürgerlichen Denken die Richtigkeit des von ihm eingeschlagenen Weges zur Realisierung seines Anspruchs zu beweisen und die uneingeschränkte Mächtigkeit der Vernunft zu unterstreichen. Diese Erfolge und Fortschritte waren für die klassische bürgerliche Philosophie zugleich Beweis genug, daß dereinst, das heißt nach Überwindung der feudal-absolutistischen Gewalten und der sie stützenden Ideologien, auch in der vernünftigen Gestaltung der Gesellschaft Fortschritte zu erhoffen seien. Allein die Verwirklichung rationaler Herrschaft über Natur und Gesellschaft war für die klassische bürgerliche Philosophie von der Konstituierung allgemeiner Begriffe, Prinzipien, Ideen-Gesetze und ihrer Bewährung in der Erkenntnis von Natur und Gesellschaft abhängig. Die Philosophie „eröffnet den Weg von der Betrachtung der einzelnen Dinge zu den allgemeinen Gesetzen", stellte Hobbes fest. 41 Allgemeine Begriffe, Prinzipien, Ideen-Gesetze, das aber war für die 69

klassische bürgerliche Philosophie gleichbedeutend mit Begriffen, Prinzipien, Ideen-Gesetzen der Vernunft. Doch gerade deren Gültigkeit bestritt der englische Empirismus. Er beschwor dadurch eine Situation herauf, in der die Vernunft — der Bestand und Fortbestand der Philosophie und Wissenschaft — in Frage gestellt wurde. Mit dieser Situation war die klassische bürgerliche deutsche Philosophie am Beginn ihrer Entwicklung konfrontiert. Sie stand vor der Aufgabe, der Herausforderung des englischen Empirismus als Philosophie zu begegnen. Ihre Auseinandersetzung mit dem englischen Empirismus war dergestalt ein Kampf um die Philosophie als solche.42 Kants Bemühungen müssen zunächst als Zurückweisung des Angriffs des englischen Empirismus auf die Vernunft und damit auf Philosophie und Wissenschaft gesehen werden. Sie laufen zugleich auf die Erneuerung des ursprünglichen Anspruchs der klassischen bürgerlichen Philosophie hinaus, Mittel zur rationalen Herrschaft über Natur und Gesellschaft bereitzustellen. Kants Größe liegt darin, daß er den Ernst der durch die Lehren des englischen Empirismus heraufbeschworenen Lage für die Philosophie erkannte, diese aber nicht nur als eine immanent philosophische oder gar bloß erkenntnistheoretische Problematik verstand, sondern ebensosehr als historisch-gesellschaftliches Anliegen, von dessen theoretischer Durchdringung der weitere Fortschritt des Menschengeschlechts abhängt. Dieser Sachverhalt ist in Kants Bestreben augenscheinlich, die theoretische mit der praktischen Vernunft zu verknüpfen, und in der Rolle, die er in seinem System der praktischen Philosophie einräumt (Primat der praktischen Vernunft). Gerade in diesem Punkt sind Fichte und Hegel Kant weitgehend verpflichtet. Sie folgen Kant hierin, ungeachtet aller sonstigen Kritik, die sie an ihm üben. Der Denk-Einsatz der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie entspricht so der Problematik der Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft. Diese Einsicht ist für das Verständnis der philosophischen Entwicklung von Kant zu Hegel in Deutschland unerläßlich. Sie ist insbesondere unabdingbar für den Stellenwert der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie als theoretischer Quelle des Marxismus. Die klassische bürgerliche deutsche Philosophie muß deshalb von ihren Beziehungen zum Entwicklungsprozeß der bürgerlichen Gesellschaft, genauer: von der Problematik des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus im Deutschland der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert her begriffen werden. In ihr findet sowohl die internationale Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft als auch die nationale Problematik des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus ihren Niederschlag. Die Philosophien Kants, Fichtes (Schellings) und Hegels bezeichnen Stufen versuchter theoretischer Bewältigung des Problems der bürgerlichen Gesellschaft unter internationalen und nationalen Aspekten in Deutschland um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Der Entwicklungsprozeß der bürgerlichen Gesellschaft kulminierte zur Zeit der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie in der Französischen Revolution — ihrer unmittelbaren Vorbereitung, ihrem akuten Stadium und ihren 70

unmittelbaren Folgen. Dieses Zusammenhangs ihrer Philosophien mit der Französischen Revolution waren sich insbesondere Fichte und Hegel bewußt. In einem 1795 geschriebenen Brief bekundet Fichte, daß ihm die ersten Winke und Ahnungen der Wissenschaftslehre bei der Niederschrift des „Beitrags zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die Französische Revolution" gekommen seien.43 Dieses Selbstzeugnis Fichtes geht mit jener Einschätzung Hegels in den „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie" konform, in der die Systeme Kants, Fichtes und Schellings als Philosophien beschrieben werden, in denen „die Revolution als in der Form des Gedankens niedergelegt und ausgesprochen" sei. Nach dieser Charakterisierung der Philosophien seiner unmittelbaren Vorgänger unterstreicht Hegel dann die welthistorische Bedeutung der Französischen Revolution, „dieser großen Epoche der Weltgeschichte, deren innerstes Wesen begriffen wird in der Weltgeschichte" 44 . Und eben in den „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte" bezeichnet Hegel die Französische Revolution dann als „herrlichen Sonnenaufgang", weil sie das seit Anaxagoras in der Philosophie waltende Prinzip der Vernunft zum ersten Male praktisch zu verwirklichen unternommen hätte, woraus folge, daß die Vernunft der Französischen Revolution als identisch mit der Vernunft der überlieferten Philosophie zu denken sei.45 Erinnert man sich, daß für Hegel die Vernunft der überlieferten Philosophie die Einheit aller Philosophie darstellt, daß „das Absolute, wie seine Erscheinung die Vernunft, ewig Ein und dasselbe . . . [und] zu allen Zeiten dieselbe ist . . so daß „in Rücksicht aufs innere Wesen der Philosophie . . . es weder Vorgänger noch Nachgänger" gibt, dann wird deutlich, in welch enger Beziehung Hegel seine eigene Philosophie und die seiner unmittelbaren Vorgänger zur Französischen Revolution und damit zum Entwicklungsprozeß der bürgerlichen Gesellschaft brachte.46 In der Tat ist das Denken der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie vom Entwicklungsprozeß der bürgerlichen Gesellschaft nicht zu trennen. Für ihre Beurteilung liefert die Bemerkung1 Hegels einen Schlüssel, daß in den Philosophien Kants, Fichtes und Schellings — und wir dürfen hinzufügen: auch Hegels — „die Revolution als in der Form des Gedankens niedergelegt und ausgesprochen ist". Dieser Ansatz Hegels zur Darstellung der Systeme Kants, Fichtes und Schellings trifft sich im Kern mit dem Vergleich Heinrich Heines von Kant und Robespierre im Dritten Buch „Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland". Er geht aber auch mit der von Marx und Engels mehrfach getroffenen Feststellung konform, daß die politische Revolution Frankreichs von einer philosophischen Revolution in Deutschland begleitet wurde 47 , und daß dergestalt die Erkenntnis der Beziehungen zwischen der revolutionären Umwälzung in Frankreich und der ideologischen Bewegung in Deutschland am Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts für die Erklärung der verschiedenen ideologischen Erscheinungsformen dieser Zeit, vorweg der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie und Literatur, unabdingbar sind.48 71

Die Beziehungen der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie zum Entwicklungsprozeß der bürgerlichen Gesellschaft sind auch dort vorhanden, wo ihr Denken in der Form bloßer philosophischer Diskussionen verläuft. Diese sind das unumgängliche, vom vorgefundenen Gedankenmaterial her aufgegebene Beiwerk jeder ideologischen Erscheinung, die gesellschaftliche Prozesse reflektiert, an diesen teilhat und teilhaben will. Der Fortschritt der Epoche artikuliert sich auch — und nicht zuletzt — in diesem Beiwerk. So steht etwa Kants „transzendentale Synthesis der Apperzeption" durchaus im Zusammenhang mit seiner Lehre vom „Endzweck der Rechtslehre innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft": dem „höchsten politischen Gut", dem „ewigen Frieden". 49 Fichtes Lehre vom „autonomen Subjekt" ist die Voraussetzung für seine Formulierung des Rechts auf Existenz durch Arbeit. 50 Und Hegels „Idee der Vernunft" ist die Bedingung seiner Feststellung, daß die bürgerliche Gesellschaft in ihren „Gegensätzen und ihrer Verwirklichung das Schauspiel ebenso der Ausschweifung, des Elends und des beiden gemeinschaftlichen physischen und sittlichen Verderbens" darstellt. 51 Und alle diese Lehren, Forderungen und Ansprüche der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie gehen auseinander hervor und werden bis zu jenem Punkt vorangetrieben, von dem aus die Entwicklung der Gesellschaft insgesamt als gesetzmäßiger Prozeß erscheint und gleichzeitig die Schranken der bürgerlichen Gesellschaft markiert werden können. „Ihren Abschluß fand [die] neuere deutsche Philosophie im Hegeischen System, worin zum erstenmal — und das ist sein großes Verdienst — die ganze natürliche, geschichtliche und geistige Welt als ein Prozeß, d. h. als in steter Bewegung, Veränderung, Umbildung und Entwicklung begriffen, dargestellt und der Versuch gemacht wurde, den innern Zusammenhang in dieser Bewegung und Entwicklung nachzuweisen. Von diesem Gesichtspunkt aus erschien die Geschichte der Menschheit nicht mehr als ein wüstes Gewirr sinnloser Gewalttätigkeiten, die vor dem Richterstuhl der jetzt gereiften Philosophenvernunft alle gleich verwerflich sind und die man am besten so rasch wie möglich vergißt, sondern als der Entwicklungsprozeß der Menschheit selbst, dessen allmählichen Stufengang-durch alle Irrwege zu verfolgen und dessen innere Gesetzmäßigkeit durch alle scheinbaren Zufälligkeiten hindurch nachzuweisen jetzt die Aufgabe des Denkens wurde." 52 Freilich, diese Aufgabe hat weder die klassische bürgerliche deutsche Philosophie insgesamt noch ihre letzte große Gestalt, die Philosophie Hegels, umfassend gelöst. Sie war im Bannkreis einer Philosophie, die auf die bürgerliche Gesellschaft abzielte und deren Kategoriensystem bildete, nicht zu bewältigen. Es bedurfte dazu der Negation dieser Philosophie qua Philosophie, das heißt der Zurückführung der philosophischen Problematik auf ihre ökonomisch-sozialen und historisch-gesellschaftlichen Ursprünge. Und erst auf dieser Grundlage konnte die Negation der Philosophie zugleich zu ihrer positiven Aufhebung werden: zur Neuformulierung des Inhalts der Philosophie, nämlich Weltanschauung des Proletariats und damit Artikulierung des historisch-gesellschaftlichen Prozesses 72

selber zu sein. Als solche zielt Philosophie nicht mehr auf die bestehende (— bürgerliche) Gesellschaft ab, sondern auf ihre Überwindung, ihre Kritik und ihre Abschaffung. Sie bezieht ihr Kategoriensystem nicht mehr auf die Gegenwart und legitimiert es nicht mehr mit der Vergangenheit, sondern gewinnt ihren Bezug und erheischt ihre Legitimation aus der Zukunft: der welthistorischen Rolle der fortgeschrittensten Klasse der Epoche und ihrem geschichtlichen Auftrag, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist" 53 . So gesehen kann die sozialistische Revolution deshalb „ihre Poesie nicht mehr aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft. Sie kann nicht mit sich selbst beginnen, bevor sie allen Aberglauben an die Vergangenheit abgestreift hat". Die bürgerliche Revolution bedurfte „der weltgeschichtlichen Rückerinnerungen, um sich über ihren eigenen Inhalt zu betäuben". Die sozialistische Revolution „muß die Toten ihre Toten begraben lassen, um bei ihrem eignen Inhalt anzukommen. Dort ging die Phrase über den Inhalt, hier geht der Inhalt über die Phrase hinaus" 54 . Der Denk-Einsatz der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie läßt sie dergestalt zugleich zur theoretischen Quelle des Marxismus werden. Das war deshalb der Fall, weil ihre theoretischen Bemühungen vom gesellschaftlichhistorischen Prozeß, von der gesellschaftlichen Grundproblematik der Zeit gespeist sind und darauf abzielen. Die klassische bürgerliche deutsche Philosophie als theoretische Quelle des Marxismus — das aber heißt, den Anspruch der Vernunft als welthistorische Rolle des Proletariats zu sehen und die aus ihm resultierenden kritischen Tendenzen als aufgehobene Momente der Weltanschauung der Arbeiterklasse zu begreifen.

Die philosophische Unabhängigkeitserklärung des Menschen: Immanuel Kant

Erstens: Die Herausbildung und Entfaltung der Philosophie Immanuel Kants1 ist durch den Prozeß des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus im Deutschland der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bestimmt. Dieser ist der allgemeine gesellschaftlich-soziale Rahmen, aus dem sie hervorgeht und in dem sie sich bewegt. Kant versucht, diesen Prozeß auf der Grundlage und in Auseinandersetzung mit dem vorgefundenen Gedankenmaterial, der Newtonschen Naturwissenschaft und der ihm vorangegangenen rationalistischen und empiristischen Philosophie, weltanschaulich zu bewältigen. Aus der gesellschaftlich-sozialen Grundproblematik der Zeit gewinnt Kant die Überzeugung der (bürgerlichen) Freiheit und menschlichen Würde. Für diese gibt er in seiner Philosophie eine den Interessen des deutschen Bürgertums entsprechende, gegen die Privilegien der feudal-klerikalen Klassen gerichtete theoretische Grundlegung. Aus dem vorgefundenen Gedankenmaterial, insbesondere aus der Newtonschen Naturwissenschaft, gewinnt Kant die Einsicht, daß die objektive Realität von einer durchgängigen Gesetzmäßigkeit (Naturnotwendigkeit) beherrscht ist, die es zu erkennen gilt. Kant bemüht sich, beide Momente — Freiheit und menschliche Würde, Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit — in Übereinstimmung zu bringen. Freiheit und (Natur-)Notwendigkeit, Freiheit oder (Natur-)Notwendigkeit — das sind die Pole, um die das Denken Kants kreist. Über diese Problemlage seiner Philosophie ist sich Kant im klaren gewesen. In einem Brief an Christian Garve hat er sich dazu ziemlich bestimmt geäußert. Garve hatte angenommen, daß Kant von den typisch metaphysischen Problemen, dem Dasein Gottes, der Unsterblichkeit der Seele usw., ausgegangen und im Verfolg der Lösung dieser Probleme zu seiner Lehre gelangt sei.2 Kant wandte dagegen ein: „Nicht die Untersuchung vom Dasein Gottes, der Unsterblichkeit der Seele etc. ist der Punkt gewesen, von dem ich ausgegangen bin, sondern die Antinomie der r. [einen] V.[ernunft]: ,Die Welt hat eihen Anfang — sie hat keinen Anfang etc. bis zur vierten: Es ist Freiheit im Menschen — gegen den: es ist keine Freiheit, sondern alles ist in ihm Naturnotwendigkeit'; diese war es, welche mich aus dem dogmatischen Schlummer zuerst aufweckte und zur Kritik der reinen Vernunft selbst hintrieb, um den Skandal des scheinbaren Widerspruchs der Vernunft mit ihr selbst zu beheben." 3 74

In der Tat war Kant mit seiner Philosophie bemüht, neben der objektiven Gesetzmäßigkeit des Naturgeschehens, der der Mensch als Teil der Natur unterliegt, für die Freiheit des menschlichen Willens Raum zu schaffen. Die daraus resultierende Fragestellung war jenes Moment, durch welches Kant seine ersten Anhänger gewann. 4 Nicht zuletzt ist hiervon neben Schiller vor allem Fichte angeregt und zum Vertreter der Kantschen Philosophie geworden. 5 Wir haben es hier zweifellos mit dem Grundanliegen der Kantschen Lehre zu tun. Dieses ist zwar unter dem Eindruck des vorgefundenen Gedankenmaterials formuliert, doch es bringt weit mehr als eine neue philosophische Fragestellung zum Ausdruck. Es ist zugleich die theoretische Fixierung des historisch-gesellschaftlichen Grundproblems der Epoche. Kants Bemühen, neben der objektiven Gesetzmäßigkeit des Naturgeschehens für die Freiheit des menschlichen Willens Raum zu schaffen und beide, das menschliche Dasein gleichermaßen bestimmenden Momente in Übereinstimmung zu bringen, führt auf den gesellschaftlichen Tatbestand der ökonomischen und politischen Aktivität der progressiven Bourgeoisie innerhalb der feudal-absolutistischen Gesellschaft zurück und ist auf seine philosophische Begründung gerichtet. Daß Kant diese Problematik in seiner Philosophie umfassend zur Sprache bringt, läßt ihn zum Beginn der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie werden. Der weitere philosophische Fortschritt in Deutschland bewegt sich in jenem Rahmen, den Kant durch seine Fragestellung abgesteckt hat, die das Spiegelbild der gesellschaftlich-sozialen Dynamik der Zeit war. Nur in diesem Zusammenhang ist der Übergang von Kant zu Fichte und die immanente Entwicklung der Fichteschen Philosophie, zumindest bis zur Jahrhundertwende, zu begreifen. Beides vollzieht sich im Hinblick auf das historisch-gesellschaftliche Geschehen der letzten anderthalb Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts. Da Fichte unmittelbarer Zeitgenosse der Französischen Revolution war, ist dieser Sachverhalt in seiner Philosophie augenscheinlicher als im Denken Kants, der seine Philosophie in der vorrevolutionären Periode der Bourgeoisie entwickelte. Um dem Grundproblem der Epoche — für Fichte nunmehr das der bürgerlichen Revolution — gerecht zu werden, eliminiert Fichte aus der Kantschen Philosophie jede Gebundenheit des Denkens an das Objekt, weil er in der gegebenen historischgesellschaftlichen Situation nur so den notwendigen Raum zur philosophischen Begründung der menschlichen Aktivität gewinnen konnte. 6 Daß Fichte das Problem von seinem subjektiv-idealistischen Standpunkt aus nicht lösen konnte, steht auf einem anderen Blatt. Dieser Vorgang war jedoch die Bedingung der weiteren Entwicklung der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie vom Standpunkt Fichtes über Schelling zur Philosophie Hegels. 7 Die historisch-gesellschaftliche Grundproblematik der Zeit, um deren Bewältigung Kant bemüht war, ist identisch mit der Lösung des Grundproblems der klassischen bürgerlichen Philosophie. Diese unternimmt Kant, ausgehend von der mathematischen Naturerkenntnis und in Abgrenzung gegenüber der rationalistischen und empiristischen Philosophie seiner Vorgänger, auf theo75

retischem Gebiet vor allem in der „Kritik der reinen Vernunft", auf praktischem zunächst in der „Kritik der praktischen Vernunft". Seine Philosophie zerfällt dergestalt in zwei Teile: die theoretische und die praktische Philosophie. In der theoretischen Philosophie entwickelt Kant in erster Linie seine Erkenntnistheorie, in der praktischen Philosophie führt er seine Ethik, Ästhetik, Geschichts-, Staats-, Rechts- und Religionsphilosophie aus. Näher erscheint Kants Lösungsversuch des Grundproblems der klassischen bürgerlichen Philosophie als das Bemühen um wirklich gesicherte wissenschaftliche Erkenntnis und als Suchen nach wirklich sicheren wissenschaftlichen Kriterien für die ethischen Werte. Dabei spielen Gesichtspunkte der praktischen Philosophie in die theoretische hinein, wie umgekehrt Momente der theoretischen Philosophie die praktische Philosophie durchdringen. Wenn es bei Kant selber auch den Anschein hat, als beabsichtige er, beide Teile seiner Philosophie grundsätzlich voneinander zu scheiden, so tendiert sein Denken doch darauf, diese zu vereinigen. Kants Philosophie muß mithin als ein großangelegter Versuch angesehen werden, das menschliche Dasein in seinen mannigfaltigen Erscheinungen, Verästelungen und Beziehungen als Totalität zu fassen. Insofern ist es möglich, Kants Lösungsversuch des Grundproblems der klassischen bürgerlichen Philosophie sowohl von seiner theoretischen wie von seiner praktischen Philosophie her zu umschreiben. In der theoretischen Philosophie löst Kant das Grundproblem der klassischen bürgerlichen Philosophie, die rationale Herrschaft des Menschen über Natur und Gesellschaft zu begründen, dadurch, daß er die Kategorien als Verstandesformen einführt, die absolut und uneingeschränkt für jeden Bereich der Erfahrung und jede einzelne Erfahrung, nicht aber für das „absolute Ganze" der Erfahrung gelten, daß er der menschlichen Erkenntnis alle Erscheinungen prinzipiell zugänglich, die Dinge an sich dagegen unzugänglich sein läßt. In der praktischen Philosophie geht Kant analog vor: In der gesellschaftlichen Wirklichkeit ist das Individuum ein „gesellig-ungeselliges Wesen", das jeder realen Übereinstimmung mit der Welt und der Gesellschaft entbehrt — diese erfolgt im Formalen, ist anzustrebende Idee und gehört zu den „ewigen Aufgaben" der Vernunft, die das Individuum seinen Handlungen immer zugrunde legen soll. Zweitens: Entscheidend wird Kants Begegnung mit der mathematischen Naturwissenschaft in ihrer Newtonschen Gestalt. Sie gibt ihm die Überzeugung, daß die objektive Realität durchgängig von einer Gesetzmäßigkeit (Naturnotwendigkeit) beherrscht ist. Daß es erkennbare naturgesetzliche Wahrheit gibt, ist für Kant unabdingbare Voraussetzung jeder Wissenschaft. Dabei gilt ihm die Naturwissenschaft der Zeit als Wissenschaft schlechthin, ihre Methode als Muster und Vorbild. Kant befindet sich hierin in vollem Einklang mit der Tradition, vor allem mit der rationalistischen Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts, die ihren Erkenntnisbegriff aus der neuen Naturwissenschaft bzw. in engster Anlehnung an sie gewinnt. 8 76

Ja, in Kant erreicht diese Entwicklung ihren Höhepunkt. Für Kant sind wahre Wissenschaft und mathematische Naturwissenschaft — wobei er immer an die Newtonsche Naturwissenschaft denkt — identisch. Alles, was nicht mathematische Naturwissenschaft ist oder zumindest nicht nach ihren Prinzipien in ein System gebracht werden kann, verdient den Namen Wissenschaft nicht, ist keine „eigentliche Wissenschaft", sondern „nur uneigentlich so genanntes Wissen". In jeder Wissenschaft, schreibt Kant in den „Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft", ist „nur so viel eigentliche Wissenschaft . . . als darin Mathematik anzutreffen ist" 9 . Wissenschaft steht und fällt bei Kant mit der mathematischen Naturerkenntnis. Diese Auffassung hat für das Kantsche Denken seine Folgen. In der mathematischen Naturwissenschaft nahm „die elementarste Naturwissenschaft, die Mechanik der irdischen und himmlischen Körper, den ersten Rang ein, und neben ihr, in ihrem Dienst, die Entdeckung und Vervollkommnung der mathematischen Methoden" 10 . Die anderen Naturwissenschaften (Biologie, Chemie, Geologie) waren über die ersten Anfänge noch nicht hinausgekommen. Die Enge des Blickfeldes, die noch sehr beschränkten Kenntnisse vieler — vor allem der organischen — Naturbereiche führten zwangsläufig zu einer statischen und unhistorischen, nämlich undialektischen Naturanschauung. Engels, der in der „Dialektik der Natur" eine gedrängte Skizze der Entwicklung der Naturwissenschaft seit der Renaissance gibt, beschreibt diesen Sachverhalt folgendermaßen: „Was diese Periode . . . besonders charakterisiert, ist die Herausarbeitung einer eigentümlichen Gesamtanschauung, deren Mittelpunkt die Ansicht von der absoluten Unveränderlicbkeit der Natur bildet. Wie auch immer die Natur zustande gekommen sein mochte: einmal vorhanden blieb sie, wie sie war, solange sie bestand . . . Die anfangs so revolutionäre Naturwissenschaft stand plötzlich vor einer durch und durch konservativen Natur, in der alles noch heute so war, wie es von Anfang an gewesen, und in der — bis zum Ende der Welt oder in Ewigkeit — alles so bleiben sollte, wie es von Anfang an gewesen." 11 Da die Philosophie die Naturwissenschaft in ihrem damaligen Entwicklungsstand und ihrer undialektischen Denkweise als Muster und Vorbild nahm, konnte es nicht ausbleiben, daß das undialektische Denken auch in ihr zur allgemeinen Herrschaft gelangte. Denken überhaupt und metaphysisches (undialektisches, unhistorisches) Denken sind für die Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts ein und dasselbe.12 Und auch Kant unterscheidet sich in diesem Punkt durchaus nicht von seinen Vorgängern, auch er setzt metaphysisches Denken und Denken überhaupt in eins. Doch eine Grenze erkennen, heißt — sie überschreiten. In Kant erreicht die Entwicklung jener Philosophie, die sich an der mathematischen Naturwissenschaft methodisch orientiert, nicht nur ihren Höhepunkt, sondern auch ihren Abschluß. Während seine Vorgänger von der Allmacht der mathematischen Naturerkenntnis fest überzeugt sind, spricht Kant die Überzeugung aus, daß ihre Leistungsfähigkeit auf prinzipielle Schranken stößt. 77

Allerdings brachte ihn diese Einsicht nicht dazu, nach einer anderen Erkenntnisart zu suchen, vielmehr verabsolutierte er diese Schranken zu solchen der menschlichen Erkenntnis überhaupt. K a n t hält nämlich am Begriff der Erkenntnis fest, wie ihn die Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts in Anlehnung an die neue Naturwissenschaft entwickelt hatte. J a , sein ganzes Streben ist darauf gerichtet, diesen Erkenntnisbegriff tiefer zu begründen, rein zu erhalten und gegen jeden Angriff zu verteidigen. D o c h andererseits deutet sich in der Kantschen Philosophie schon jener Fortgang an, in dem die mathematische Naturwissenschaft nicht mehr als die Wissenschaft schlechthin erscheint und die von ihr auf den Thron gehobene metaphysische Denkweise sich als zu eng erweist, für alle Probleme der wissenschaftlichen Forschung absolute Geltung zu besitzen. M a g K a n t auch selber noch auf dem Standpunkt stehen, daß die mathematische Naturwissenschaft identisch sei mit Wissenschaft überhaupt, daß die eigentliche Wissenschaft dort am E n d e ist, w o die mathematische Konstruktion aufhört — so überschreitet doch seine Philosophie mit ihren Problemstellungen bereits jenen Rahmen einer allgemeinen Theorie und Methode der Erkenntnis, den sie darstellen soll und der eine Übertragung der Prinzipien der mathematischen Naturwissenschaft auf die Probleme der Philosophie bedeutet. D i e Kantsche Philosophie bringt somit das v o m weiteren philosophischen und wissenschaftlichen sowie gesellschaftlichen Fortschritt gestellte Problem auf den Begriff: die Überwindung der metaphysischen und die Entwicklung der dialektischen Denkweise. K a n t s Stellungnahme zur mathematischen Naturwissenschaft ist ein Grundelement seines philosophischen und methodischen Denkens. Sie schwingt in allen seinen Bemühungen mit und darf bei der Interpretation seiner Philosophie nicht außer acht gelassen werden. Sie ist für seine Untersuchungen u m so bedeutsamer geworden, als sie einmal die Grundlage seines Wissenschaftsbegriffs abgibt, zum anderen aber sein Denken zu einer gewissen Zwiespältigkeit verführt, die zu einem Knotenpunkt des ferneren philosophischen Fortschritts innerhalb der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie werden wird. Drittens: Die Entwicklung der klassischen bürgerlichen Philosophie vor K a n t ist durch die Herausbildung, Entfaltung und Vorherrschaft der rationalistischen und empiristischen Philosophie gekennzeichnet, deren vornehmste Repräsentanten Descartes, Spinoza und Leibniz (Wolff) sowie Locke, Berkeley und H u m e waren. Rationalismus und Empirismus sind im wesentlichen — philosophiehistorisch gesehen — das Gedankenmaterial, das K a n t in seiner Zeit vorfindet und an das er anknüpft. Diese offenkundige Tatsache bedeutet nicht, daß K a n t das rationalistische und empiristische Denken seiner Vorgänger „vereinigt" und zu einer „großen Synthese" zusammengefaßt hätte. Diese Auffassung, die man in aller neukantianisch beeinflußten und v o n ihr abhängigen Literatur finden kann, ist ein Vorurteil. Denn K a n t s Anknüpfen an das vorgefundene Gedankenmaterial ist kein aufhebendes Sowohl-als-auch der Unterschiede und Gegensätze der rationalisti78

sehen und empiristischen Philosophie. Kants Kategorien sind zwar rational, aber nicht rationalistisch-, und die Verbindung, die Kant zwischen den Kategorien (Verstand) und der Erfahrung (Sinnlichkeit) herstellt, ist zwar empirisch, aber nicht empiristisch. Gewiß, Kant hat sich selber gelegentlich als den Vereiniger von Rationalismus und Empirismus ausgegeben.13 Und sicher ist, daß sich in seiner Philosophie sowohl rationalistische als auch empiristische Denkelemente ohne weiteres aufzeigen lassen. Bestimmte Sätze aus der „Kritik der reinen Vernunft" etwa sind durchaus im Sinne des Empirismus formuliert: „Daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel; denn wodurch sollte das Erkenntnisvermögen sonst zur Ausübung erweckt werden."14 Oder: „Alles Denken . . . muß sich, es sei geradezu (directe), oder in Umschweife (indirecte) . . . zuletzt auf Anschauung, mithin, bei uns, auf Sinnlichkeit beziehen, weil uns auf andere Weise kein Gegenstand gegeben werden kann." 15 Ebenso könnten Sätze angegeben werden, die von Kant ganz im Sinne des Rationalismus formuliert worden sind. Dennoch kann von einer Vereinigung oder von einer Synthese des Rationalismus und Empirismus bei Kant nicht gesprochen werden. Kant überschreitet mit seiner Philosophie sowohl die Fragestellung als auch die gegebenen Lösungsversuche des Rationalismus und des Empirismus. Sein Begriff der Erfahrung z. B. ist ganz anderer Art als der des Empirismus, ohne deshalb rationalistisch zu sein. Der zitierte Satz: „Daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel" — wird von Kant sofort durch den Hinweis ergänzt: „Wenn aber gleich alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anhebt, so entspringt sie darum noch nicht eben aus der Erfahrung."16 Dieser Hinweis überschreitet die Fragestellung des Rationalismus und Empirismus und zielt auf eine qualitativ neue Formulierung des Erkenntnisproblems ab. Die Rede von der Synthese von Rationalismus und Empirismus im Hinblick auf Kant ist nahegelegt durch die vornehmliche Orientierung der neukantianischen Philosophiegeschichtsschreibung auf die Entwicklung der Erkenntnistheorie und durch ihre These, daß Kant der Philosoph der neueren Philosophie gewesen sei, dem gegenüber Fichte, Schelling und Hegel oder Feuerbach — die nachkantische Entwicklung der Philosophie überhaupt — nur Verfall und Abbau echten philosophischen Denkens bedeuteten. Diese Rede verfehlt darüber hinaus den entscheidenden Zugang zur Philosophie Kants und vernachlässigt andere Momente, die für ihre Entstehung und Entfaltung bedeutsam geworden sind, wie etwa die mathematische Naturwissenschaft oder Rousseau, die gesamte westeuropäische Aufklärungsbewegung. Vor allem aber wird durch die Rede von der großen Synthese jene Tatsache verdunkelt, die charakteristisch für die Philosophie Kants und für ihre Fortentwicklung sowie Überwindung innerhalb der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie entscheidend ist — die Tatsache, daß die Kantsche Philosophie insgesamt einen Kompromiß darstellt, der Kant durch seine besondere Stellung 79

innerhalb der Entwicklungsgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft und der klassischen bürgerlichen Philosophie aufgezwungen wird: Kant knüpft an ein Gedankenmaterial an, das eine relativ hohe Entwicklungsstufe der bürgerlichen Klassen in anderen Ländern reflektiert — in einem Land, in dem das Bürgertum noch weit entfernt von dieser Entwicklungsstufe ist. Und eben deshalb wird die Rede von der Kantschen Philosophie als der Synthese von Rationalismus und Empirismus falsch, weil sie die Frage nach ihren historisch-gesellschaftlichen Voraussetzungen ausschließt und sich bei ihrer Erklärung ausschließlich auf das philosophiehistorische Gedankenmaterial im engeren Sinne beschränkt. Damit wird von uns durchaus nicht geleugnet, daß jeder Denker an vorgefundenes Gedankenmaterial anknüpft, von diesem in gewisse Bahnen gelenkt und durch dieses angeregt — ja, daß dadurch der Aktionsradius seines Denkens abgesteckt wird. „. . . als bestimmtes Gebiet der Arbeitsteilung hat die Philosophie jeder Epoche ein bestimmtes Gedankenmaterial zur Voraussetzung, das ihr von ihren Vorgängern überliefert worden und wovon sie ausgeht." 17 Natürlich ist das auch bei Kant so. Aber das Anknüpfen an das vorgefundene Gedankenmaterial geschieht nicht willkürlich oder zufällig, sondern vollzieht sich unter bestimmten Bedingungen und Voraussetzungen: wie etwas und was aus dem vorgefundenen Gedankenmaterial aufgenommen wird, welche neue Form es durch die Bearbeitung erhält und welche Momente als relevant oder irrelevant betrachtet werden — das alles ist bestimmt durch die sozial-ökonomische Lage und die Klassenkampfsituation, in die ein Denker versetzt ist. Seine Fragen und Probleme sind, soweit es sich um einen wirklich großen Denker handelt, was bei Kant außer jedem Zweifel steht, die Fragen und Probleme seiner Zeit, das heißt: die seiner Gesellschaft und seiner Klasse. Was Kant mit dem rationalistischen und empiristischen Denken verbindet oder von diesen Denkweisen trennt, das sind die Grundprinzipien der Philosophie der progressiven Bourgeoisie überhaupt bzw. die Art und Weise ihrer philosophischen Begründung. Das Grundproblem Kants ist das der gesamten klassischen bürgerlichen Philosophie: aufzuzeigen, wie rationale Herrschaft des Menschen über Natur und Gesellschaft möglich ist. Daß Kant bei der Lösung dieses Problems vom rationalistischen und empiristischen Denken ausgeht und an dieses anknüpft, ist mehr als selbstverständlich. Dabei steht Kant vor ganz anderen Schwierigkeiten als etwa Descartes und Bacon am Anfang der Entwicklung der klassischen bürgerlichen Philosophie: die Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft hat, international gesehen, eine relativ hohe Entwicklungsstufe erreicht, in welcher der widerspruchsvolle Charakter der neuen Ordnung bereits offenbar zu werden beginnt und von der Philosophie der englischen Bourgeoisie, dem Empirismus, auch reflektiert wird — wozu jene Schwierigkeiten kommen, die aus den Besonderheiten der kapitalistischen Entwicklung in Deutschland (Rückständigkeit) resultieren. Kants Philosophie ist sein Beitrag zur philosophischen Besinnung der Bourgeoisie über ihre Gesellschaft im Namen des deutschen Bürgertums. 80

Die vorgefundene historisch-gesellschaftliche Situation drängt Kant — wie die gesamte klassische bürgerliche deutsche Philosophie — dazu, das Problem der rationalen Herrschaft über Natur und Gesellschaft nicht bloß „dogmatisch" zu demonstrieren, wie der Rationalismus, oder ihm „skeptisch" zu begegnen, wie der Empirismus, sondern es tragfähig und zureichend gegen „dogmatische" und „skeptische" Lösungen abzusichern und zu begründen. Für Kant ist die Frage nicht mehr, daß rationale Herrschaft des Menschen über Natur und Gesellschaft überhaupt möglich ist. Daran hat er nie gezweifelt. Das setzte er durch seine Vorgänger als genügend begründet voraus, und die mathematische Naturwissenschaft war ihm hierfür Richtschnur. Wichtiger war für Kant — und die klassische bürgerliche deutsche Philosophie — die Frage, wie rationale Herrschaft des Menschen über Natur und Gesellschaft unter den Bedingungen der Widersprüche der bürgerlich-kapitalistischen Ordnung möglich ist. Kants Bemühungen sind deshalb darauf gerichtet, die Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft optimistisch zu deuten, den dem kapitalistischen Produktions- und Reproduktionsmechanismus ausgelieferten Menschen harmonisch in seine natürliche und gesellschaftliche Umwelt einzubeziehen.18 Fichte und Hegel werden Kant in diesem Vorhaben folgen. Fichte wird unter dem unmittelbaren Eindruck der Französischen Revolution diesen Optimismus in seiner Wissenschaftslehre umfassend, uneingeschränkt und auch rücksichtslos philosophisch zu begründen versuchen. Und er wird zugleich die Harmonie des Menschen durch die Wissenschaftslehre erzwingen wollen. Hegel, der in seine Philosophie bereits die Erfahrung des Thermidors und seiner Folgen einbringt, wird diesen Optimismus zwar beibehalten und zu bewahren sich anschikken. Dieser wird sich jedoch bei ihm mit der Erkenntnis mischen, daß die Faktizität der bürgerlichen Gesellschaft der Harmonie des Menschen entgegensteht. Die theoretische Philosophie: Betonung der aktiven Rolle des Subjekts innerhalb des Erkenntnisprozesses I Das Hauptwerk der theoretischen Philosophie Kants ist die „Kritik der reinen Vernunft" (1781, zweite Auflage 1787). Kant selber bezeichnet es als einen „Traktat der Methode". Das heißt: Kant will mit der „Kritik der reinen Vernunft" kein in sich geschlossenes philosophisches System entwickeln, sondern die Bedingungen und die Möglichkeiten der Erkenntnis einer kritischen Prüfung unterziehen. Insofern lautet die Hauptfrage der theoretischen Philosophie: wie ist wissenschaftliche Erkenntnis, wie ist Wissenschaft überhaupt möglich? — in der Sprache der „Kritik der reinen Vernunft": wie sind synthetische Urteile apriori möglich? 6

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Die Methode der Prüfung der Bedingungen und der Möglichkeiten der Erkenntnis nennt Kant kritische oder transzendentale Metbode. Durch diese Bezeichnung will Kant sein eigenes Vorgehen sehr bestimmt von allen Methoden bisheriger Philosophie unterschieden wissen. Diese beschäftigten sich mit der Erkenntnis von Gegenständen. Das hält Kant für falsch (kopernikaniscbe Wendung). Ehe man zur Erkenntnis von Gegenständen vordringen kann, ist es notwendig — so argumentiert er —, die Gesetzmäßigkeiten (Bedingungen und Möglichkeiten) der Erkenntnis zu ergründen. Eben deshalb ist die transzendentale Methode nicht auf die Erkenntnis von Gegenständen, sondern auf die Erkenntnis (Erkenntnisart von Gegenständen) selber gerichtet: „Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, sofern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt." 19 Diese Bestimmung der transzendentalen Methode durch Kant muß festgehalten werden. Sie ist der subjektiv-idealistische Ausgangspunkt seiner Philosophie, insbesondere ihrer Erkenntnistheorie. Denn diese Bestimmung der transzendentalen Methode impliziert, daß sich die Erkenntnis nicht nach den Gegenständen, sondern sich die Gegenstände nach unserer (— menschlichen) Erkenntnis richten müssen, wobei die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der Erkenntnis für Kant zugleich allgemeine Naturgesetze sind. Die transzendentale Methode Kants geht allerdings nicht auf jede mögliche Art von Erkenntnis, auf die Erkenntnis schlechthin, sondern nur auf jene Erkenntnisart, die a priori möglich sein soll. Unter apriorischer Erkenntnis versteht Kant die von aller Erfahrung unabhängige, durch die Vernunft ermittelte Erkenntnis. Im engeren Sinne ist für Kant jedoch jede eigentliche Erkenntnis a priori, das heißt: rein, ausschließlich aus den Formen der Anschauung (Raum und Zeit) und des Verstandes (Kategorien) sowie der Vernunftbegriffe (Ideen) gewonnen. Sie stammt nicht aus der Erfahrung, ermöglicht aber erst Erfahrungserkenntnis, indem sie ihr notwendigen und allgemeingültigen Charakter verleiht. Sie geht sachlichlogisch jeder Erfahrung voraus (liegt vor aller Erfahrung, ermöglicht erst eigentliche, das heißt wissenschaftliche Erfahrung), zeitlich-psychologisch gesehen folgt sie ihr jedoch nach. Kant bestreitet damit nicht, daß alle Erkenntnis mit der Erfahrung anhebt und durch die Sinne vermittelt wird. Er entwickelt jedoch die These, daß zu jeder Erkenntnis ein logisches oder transzendentales — apriorisches Moment hinzukommen muß: das Formale in Gestalt der reinen Anschauungsformen (Raum und Zeit) und der reinen Verstandesbegriffe (Kategorien), welche die durch die Erfahrung gegebene Materie der Erkenntnis erst zu eigentlicher, wissenschaftlicher, eben notwendiger und allgemeingültiger (nicht nur für den Einzelfall geltender) Erkenntnis gestalten. Erkenntnis a priori führt „durch und durch apodiktische Gewißheit, d. i. absolute Notwendigkeit, bei sich", beruht „also auf keinen Erfahrungsgründen", ist „mithin ein reines Produkt der Vernunft, überdem aber durch und durch synthetisch" (die Erkenntnis erweiternd). 20 82

II In der Erkenntnisgewinnung unterscheidet Kant analytische und synthetische Urteile. Die analytischen Urteile sind solche, deren Prädikat bereits im Subjekt enthalten ist (z. B. alle Körper sind ausgedehnt). Die Bestimmung des analytischen Urteils ist Zerlegung oder Analysis — in ihm wird durch das Prädikat nur das expliziert, was im Subjekt implizit schon mitgedacht ist. Zum Unterschied von den analytischen Urteilen fügen die synthetischen Urteile dem Subjektbegriff ein neues Prädikat hinzu (z. B. alle Körper sind schwer). Durch sie wird eine Aussage über den Zusammenhang, die Beziehung von Subjekt und Prädikat formuliert. Die Bestimmung des synthetischen Urteils ist Verknüpfung, Synthesis. Die analytischen Urteile sind nur von geringem Erkenntniswert, weil sie auf die bloße Verdeutlichung von schon Bekanntem hinauslaufen. Wirklicher Erkenntniswert kommt nur solchen Urteilen zu, die eine Aussage über den Zusammenhang, die Beziehung von verschiedenen, entgegengesetzten Vorstellungen geben. Das ist ausschließlich bei synthetischen Urteilen der Fall, und zwar zunächst bei jenen Urteilen, die auf tatsächlichen Vorstellungsverknüpfungen beruhen, die durch Wahrnehmung gewonnen werden — also bei Erfahrungsurteilen. Diese Art von synthetischen Urteilen sind die Grundlage der gesamten Erkenntnistätigkeit. Sie sind aber nicht ihr Endzweck. Die Erkenntnistätigkeit darf bei ihnen nicht stehenbleiben, weil sie des wichtigsten Moments wirklicher Erkenntnis ermangeln: des allgemeingültigen und notwendigen Charakters. Als Erfahrungsurteile kann sich ihre Geltung nur auf den Bereich der Erfahrung erstrecken, aus dem sie gewonnen wurden. Kants Aufmerksamkeit richtet sich deshalb auf eine andere Art von Urteilen: auf Urteile, die zwar synthetisch, zugleich aber auch allgemeingültig und notwendig sind. Allgemeingültig und notwendig können aber — nach Kant — nur Urteile sein, die nicht aus der Erfahrung, sondern aus reiner Vernunft gewonnen werden, a priori sind, das heißt: von vornherein allgemeingültigen und notwendigen Charakter bei sich führen. Alle analytischen Urteile sind solche Urteile a priori, denn um sie zu fällen, bedarf es in keinem Fall der Erfahrung — sie beruhen ausschließlich auf einem Verstandesakt. Allein sie erweitern unsere Erkenntnis nicht. Eine Erkenntniserweiterung ist nur von synthetischen Urteilen zu erwarten. Aber diesen fehlt der allgemeingültige und notwendige Charakter. Wahrhaft echte Erkenntnis wird demnach nur von solchen Urteilen zu erwarten sein, die allgemeingültig und notwendig sind und zugleich unsere Erkenntnis erweitern: synthetische Urteile a priori. Im synthetischen Urteil a priori glaubt Kant das Ideal wirklicher Erkenntnis gefunden zu haben. Dieses Ideal stellt er an die Spitze der erkenntnistheoretischen Untersuchungen in seiner theoretischen Philosophie. Auf die Beantwortung der Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori, das heißt auf die Frage, wodurch und inwieweit es möglich ist, durch reine Vernunft (a priori) zur Er6»

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kenntnis von objektiv-realen Gegenständen zu gelangen, richtet er im folgenden sein Hauptaugenmerk. Dabei ist die Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori identisch mit der Frage nach dem Grund der Synthesis, denn „bei synthetischen Urteilen [muß] ich außer dem Begriffe des Subjekts noch etVas anderes (x) haben . . worauf sich der Verstand stützt, um ein Prädikat, das in jenem Begriffe nicht liegt, doch als dazugehörig zu erkennen".21 Es wird notwendig sein, fügt Kant programmatisch hinzu, „mit gehöriger Allgemeinheit den Grund der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori aufzudecken, die Bedingungen, die eine jede Art derselben möglich machen, einzusehen, und diese ganze Erkenntnis (die ihre eigene Gattung ausmacht) in einem System nach ihren ursprünglichen Quellen, Abteilungen, Umfang und Grenzen . . . zu bestimmen".22 III Die Lösung der gestellten Aufgabe — den Grund der Möglichkeit apriorischer Synthesen aufzudecken und sie nach ihren ursprünglichen Quellen zu bestimmen — beginnt Kant mit der Betrachtung der „zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis . .., die vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel entspringen, nämlich Sinnlichkeit und Verstand".23 Sinnlichkeit und Verstand sind ihrer Funktion im Erkenntnisprozeß nach entgegengesetzt. Der entscheidende Zug der Sinnlichkeit ist Reyeptivität. Sie ist die Fähigkeit, die Gegenstände wahrzunehmen. Die Sinnlichkeit ist die passive Seite der Erkenntnis. Demgegenüber ist der Verstand durch Spontaneität gekennzeichnet. Er ist die Fähigkeit, die Gegenstände zu denken. Der Verstand ist die aktive Seite der Erkenntnis. „Unsre Erkenntnis entspringt aus zwei Grundquellen des Gemüts, deren die erste ist, die Vorstellungen zu empfangen (die Rezeptivität der Eindrücke), die zweite das Vermögen, durch diese Vorstellungen einen Gegenstand zu erkennen (Spontaneität der Begriffe); durch die erstere wird uns ein Gegenstand gegeben, durch die zweite wird dieser . . . gedacht. Anschauung und Begriffe machen also die Elemente aller unserer Erkenntnis aus."24 . Der Unterschied von Sinnlichkeit und Verstand ist gleichbedeutend mit dem von Inhalt und Form der Erkenntnis. Die Sinnlichkeit liefert den Erkenntnisinhalt, der Verstand verleiht diesem die Form. Die Sinnlichkeit ist, indem sie den Inhalt der Erkenntnis gibt, die erste Bedingung jeder Erkenntnis. Um aber zu wirklicher Erkenntnis zu gelangen, muß zu dieser ersten Bedingung eine zweite hinzutreten, der Verstand, der den von der Sinnlichkeit gelieferten Inhalt verarbeitet, zusammenfaßt, verknüpft, ordnet — ihm erkenntnismäßige Form verleiht. Was die Sinnlichkeit gibt und immer nur geben kann, das ist das Material der Erkenntnis. Das, was dieses — noch rohe — Material zu Erkenntnis verbindet, liefert der Verstand, nämlich die Form. „Unsre Natur bringt es so mit sich, daß die Anschauung niemals anders als 84

sinnlich sein kann, d. i. die Art enthält, wie wir von Gegenständen affiziert werdenDagegen ist das Vermögen, den Gegenstand sinnlicher Anschauung denken' der Verstand. Keine dieser Eigenschaften ist der andern vorzuziehen. Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe blind . . . Beide Vermögen, oder Fähigkeiten, können auch ihre Funktionen nicht vertauschen. Der Verstand vermag nichts anzuschauen, und die Sinne vermögen nichts zu denken." 25 IV Nachdem Kant Sinnlichkeit und Verstand als die zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis festgehalten hat, stellt er die Frage ihrer — notwendigen — Vereinigung im Erkenntnisprozeß. Bei der Beantwortung dieser Frage geht er von dem — idealistischen — Grundsatz aus, daß jede Erkenntnis begriffliche (verstandesmäßige) Voraussetzungen zur unumgänglichen Bedingung hat. In jeder Erkenntnis begegnen wir, so argumentiert er, gewissen begrifflichen Operationen, die der Verstand an ihr vollzogen hat und ohne die wir bestimmte Gegenstände gar nicht ausmachen könnten. Denn wenn der Verstand nicht gewisse Einheitsformen zum sinnlichen Erkenntnismaterial hinzutun würde, bliebe die Erkenntnis an dem bloß Mannigfaltigen der sinnlichen Anschauung haften. Dabei handelt es sich nicht um ein zeitliches Hinzukommen, sondern um ein sachliches oder logisches. In dem Augenblick, in dem wir einen Gegenstand wahrnehmen, sind auch diese Einheitsformen vorhanden. Die Möglichkeit der Erkenntnis (Erfahrung) überhaupt beruht so nach Kant auf bestimmten begrifflichen Voraussetzungen, die ihren Ursprung in der Spontaneität des Denkens haben und welche die besonderen Formen der Selbsttätigkeit des Verstandes sind. Diese begrifflichen Voraussetzungen nennt Kant reine Verstandesbegriffe, Begriffe a priori oder Kategorien. Die Kategorien sind die Einheitsformen, die der Verstand zu dem Mannigfaltigen der sinnlichen Anschauungen hinzutut, um daraus Erkenntnis zu machen. Kant gibt ihre Zahl mit zwölf an und faßt sie unter die Obertitel von Quantität, Qualität, Relation und Modalität zusammen. Die Kategorien der Quantität sind Einheit, Vielheit und Allheit, die fax Qualität — Realität, Negation und Limitation, die der Delation — Substanz und Akzidenz, Ursache und Wirkung und Wechselwirkung, die der Modalität — Möglichkeit, Dasein und Notwendigkeit. Dabei offenbaren die Kategorien in ihrem Verhältnis zueinander dieselbe Gesetzmäßigkeit, auf die wir bei aller Erkenntnis stoßen, nämlich die der Sjntbesis, die das allgemeine Grundgesetz jeder Erkenntnis ist. Die erste Kategorie jeder Gruppe geht auf die Einheit, die zweite auf die Vielheit (Mannigfaltigkeit), die dritte auf die Synthesis von Einheit und Vielheit. Mit der Aufstellung der Kategorien meint Kant „alle Momente des Verstandes erschöpft" zu haben. Die Kategorien sind die Formen des Verstandes, machen 85

das reine Denken aus. Was und wie der Verstand auch denkt, er kann nicht anders als in diesen Formen denken. Alle möglichen Vorstellungsverknüpfungen lassen sich auf diese Formen zurückführen, sie sind die Gesetze des Verstandes, in und nach denen er sich bewegt. Die das reine Denken ausmachenden Begriffe sind darüber hinaus zugleich die Formen der synthetisierenden Tätigkeit des Verstandes. Die Frage lautete, wie vollzieht sich im Erkenntnisprozeß die Vereinigung von Sinnlichkeit und Verstand? Kant antwortet: durch Anwendung der reinen Verstandsbegriffe, der Kategorien, auf den durch die Sinnlichkeit gegebenen Erkenntnisinhalt. Durch seine kategorialen Formen verbindet der Verstand die sich in der Anschauung darbietende Mannigfaltigkeit (Vielheit) zur (synthetischen) Einheit und verwandelt dadurch die bloße Anschauung in eine Erkenntnis: „Die Spontaneität unseres Denkens erfordert es, daß [das in der Anschauung gegebene] Mannigfaltige zuerst auf gewisse Weise durchgegangen, aufgenommen, und verbunden werde, um daraus eine Erkenntnis zu machen." Diese Handlung des Verstandes nennt Kant Synthesis: „Ich verstehe aber unter Synthesis in der allgemeinsten Bedeutung die Handlung, verschiedene Vorstellungen zueinander hinzuzutun, und ihre Mannigfaltigkeit in einer Erkenntnis zu begreifen." 26 Erst die Synthesis eines Mannigfaltigen bringt Erkenntnis hervor und ist „das erste, worauf wir acht zu geben haben, wenn wir über den ersten Ursprung unserer Erkenntnis urteilen wollen". Erkenntnis in eigentlicher Bedeutung ist nach Kant immer Verbindung, Verknüpfung — Synthesis.27 Allein der Begriff der Synthesis erfordert einen höheren Begriff der Verbindung, gleichsam eine Synthesis zweiter Potenz. Denn die Synthesis ist die kategoriale Einheitsform. Sie „ist die Vorstellung der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen" 28. Als solche ist sie noch nicht Selbstbewußtsein oder ursprüngliche synthetische Einheit. Diese Einheit, die noch über der kategorialen Einheitsform steht, ist die ursprünglich-synthetische Apperzeption oder, wie Kant auch sagt, das Ich denke, die reine Apperzeption, das Selbstbewußtsein, das Bewußtsein überhaupt. „Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte, welches ebensoviel heißt, als die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nicht sein . . . Also hat alles Mannigfaltige der Anschauung eine notwendige Beziehung auf das: Ich denke, in demselben Subjekt, darin dieses Mannigfaltige angetroffen wird." Und weiter: Die „durchgängige Identität der Apperzeption, eines in der Anschauung gegebenen Mannigfaltigen, enthält eine Synthesis der Vorstellungen, und ist nur durch das Bewußtsein in dieser Synthesis möglich . . . Diese Beziehung geschieht also dadurch noch nicht, daß ich jede Vorstellung mit Bewußtsein begleite, sondern . . . daß ich ein Mannigfaltiges gegebener Vorstellungen in einem Bewußtsein verbinden kann, ist es möglich, daß ich mir die Identität des Bewußtseins in diesen Vorstellungen selbst vorstelle." 29 Das Kantsche Bewußtsein überhaupt (Selbstbewußtsein) ist so nicht nur 86

Synthesis, sondern vollziehende Synthesis. Es gibt sich, wie Kant sagt, als dauerndes Durchlaufen und Zusammennehmen, Durchgehen, Aufnehmen und Verbinden — oder, um es von Hegel her zu formulieren: das Kantsche Bewußtsein überhaupt ist Prozeß.30 V Kants Bewußtsein überhaupt als das Eine, welches die synthetische Einheit produziert, konstituiert sich erst beim Vollzug der synthetischen Einheit. Da nun das Bewußtsein überhaupt die Vielheit (Mannigfaltigkeit) zur unumgänglichen Bedingung hat, die nach der einen Seite immer Mannigfaltiges bleibt, nach der anderen Seite aber von ihm als Einheit gesetzt wird, ist es Beziehung. Das Bewußtsein überhaupt ist die allgemeinste Beziehung, die besonderen Beziehungen sind die Kategorien. Für sich sind die Kategorien leer, sie erlangen ihre Bedeutung nur durch ihre Anwendung auf den gegebenen Stoff der sinnlichen Anschauung. Erst eine solche Verbindung des durch die Sinnlichkeit gegebenen Stoffs mit den Kategorien macht — nach Kant — Erfahrung, wissenschaftliche 'Erfahrung aus, und erst das ist eigentliche Erkenntnis. Kant meint mit „Erfahrung" nicht das, was der Empirismus darunter verstanden hat. Für Kant ist Erfahrung nicht bloße Impression, sondern gedankliche Einheit der durch den Verstand gelieferten Form und des durch die Sinnlichkeit gelieferten Inhalts der Erkenntnis. Erfahrung „ist eine Erkenntnisart, die Verstand erfordert" 31 . Die Erfahrung enthält „zwei sehr ungleichartige Elemente . . nämlich eine Materie zur Erkenntnis aus den Sinnen, und eine gewisse Form, sie zu ordnen, aus dem innern Quell des reinen Anschauens und Denkens, die bei Gelegenheit der ersteren, zuerst in Ausübung gebracht werden, und Begriffe hervorbringen" 32 . Würden wir, argumentiert Kant, auf die Spontaneität des Verstandes verzichten und versuchen, nur mit der Rezeptivität der Sinnlichkeit zu Erkenntnis zu gelangen, so würden wir lediglich zu einem Gewühl von Empfindungen kommen. Weder allgemeine Gesetze festzustellen noch das Bewußtsein einer objektiv-realen Außenwelt wäre uns vergönnt. Ohne die Tätigkeit des Verstandes „würde es möglich sein, daß ein Gewühl von Erscheinungen unsre Seele anfüllte, ohne daß . . . daraus jemals Erfahrung werden könnte. Alsdann fiele aber auch alle Beziehung der Erkenntnis auf Gegenstände weg, weil ihr die Verknüpfung nach allgemeinen und notwendigen Gesetzen mangelte, mithin würden sie zwar gedankenlose Anschauung, aber niemals Erkenntnis, also für uns soviel als gar nichts sein" 33 . Die Erfahrung, die durch die Anwendung der Kategorien auf den Stoff der sinnlichen Anschauungen zustande kommt, ist nach Kant jene allgemeingültige und notwendige Erkenntnis, um die es ihm in erster Linie zu tun ist und die in synthetischen Urteilen a priori formuliert wird. Allgemeingültig und notwendig wird eine Erfahrung (Erkenntnis) dann, wenn der Erkenntnisinhalt unter kategoriale Formen gebracht ist, denn Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit führen 87

nur die Kategorien bei sich, und jene sind nicht — das sagt Kant gemeinsam mit Hume gegen Locke — in der Wahrnehmung anzutreffen. Während aber Hume Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit überhaupt leugnet, wendet sich Kant nur gegen die Behauptung ihres objektiven Charakters im Sinne von „außerhalb des Bewußtseins" und findet sie im Bewußtsein selber. Durch Anwendung der besonderen Beziehungsformen des Bewußtseins überhaupt, der Kategorien, auf den Stoff der sinnlichen Anschauungen werden die durch Erfahrung (im Sinne des Empirismus) gewonnenen Urteile allgemeingültig und notwendig, verlieren die Wahrnehmungsurteile, wie Kant sie nennt, ihren subjektiven Charakter und nehmen den Charakter von objektiven, das heißt allgemeingültigen und notwendigen Urteilen an. VI In der Kantschen Darstellung des Erkenntnisprozesses ist unschwer eine Vorform der Hegeischen Lehre vom Begriff zu finden. Hegel sieht deshalb diesen Teil der theoretischen Philosophie Kants als ihren Kernpunkt an: „Der Begriff, den Kant in den synthetischen Urteilen a priori aufgestellt hat, — der Begriff von Unterschiedenem, das ebenso untrennbar ist, einem Identischen, das an ihm selbst ungetrennt Unterschied ist, gehört zu dem Großen und Unsterblichen seiner Philosophie."34 In der Tat hat Kant in der Lehre von den synthetischen Urteilen a priori (der Synthesis) den dialektischen Charakter der menschlichen Erkenntnis festgehalten: die Erkenntnis wird in ihr als Prozeß dargestellt, in dem sich die gegensätzlichen Momente durchdringen und zur Einheit werden. Kant hat jedoch die Schwierigkeiten, die sich aus der dialektischen Fassung des Erkenntnisprozesses ergeben, nicht bewältigt. Die Gegensätze, die er als notwendige Momente des Erkenntnisprozesses feststellt, werden bei ihm abstrakt zusammengespannt: Sinnlichkeit und Verstand, Anschauung und Begriff, Inhalt und Form, Vielheit (Mannigfaltigkeit) und Einheit sind absolut voneinander getrennt und haben nichts Gemeinsames. Die Vereinigung der gegensätzlichen Momente des Erkenntnisprozesses erfolgt nur im Bewußtsein und durch dessen Tätigkeit. Der ganze Erkenntnisprozeß wird so eine ausschließlich subjektive Angelegenheit. Mit diesem subjektiv-idealistischen Herangehen konnte Kant die selbstgestellte Aufgabe, die Gesetze der Erkenntnis zu formulieren, nicht bewältigen. Was Kant ausschließlich dem Subjekt zuschreibt und zu einem selbsttätigen Akt des Bewußtseins macht — das ist bereits dem Objekt der Erkenntnis eigen. Wie eine Polemik gegen die Kantsche Lehre von den synthetischen Urteilen a priori hören sich die Marxschen Worte aus der „Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie" an: „Das Konkrete ist konkret, weil es die Zusammenfassung vieler Bestimmungen ist, also Einheit des Mannigfaltigen. Im Denken erscheint es daher als Prozeß der Zusammenfassung, als Resultat, nicht als Ausgangspunkt, obgleich 88

es der wirkliche Ausgangspunkt und daher auch der Ausgangspunkt der Anschauung und der Vorstellung ist. Im ersten Weg wurde die volle Vorstellung zu abstrakter Bestimmung verflüchtigt; im zweiten führen die abstrakten Bestimmungen zur Reproduktion des Konkreten im Weg des Denkens." 3 5 Die Einheit ist nicht bloße Angelegenheit des Subjekts, die Mannigfaltigkeit nicht ausschließlich Sache des Objekts, sondern Einheit und Mannigfaltigkeit sind im Objekt, das im Erkenntnisprozeß vom Bewußtsein nicht konstituiert, sondern widergespiegelt wird. 36 VII Kants Darstellung des Erkenntnisprozesses führt zur Problematik der Grundfrage der Philosophie. Diese stellt sich in erkenntnistheoretischer Hinsicht als die Frage nach dem Verhältnis von Subjekt und Objekt, genauer: nach dem Verhältnis von erkennendem Subjekt (Menschen) zum zu erkennenden Objekt (objektive Realität) dar.37 In seiner ganzen Tragweite wurde das Subjekt-Objekt-Problem erst von der klassischen bürgerlichen Philosophie erfaßt. Die gesellschaftlich-historische Voraussetzung dafür ist die Entstehung, Herausbildung und Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise. In dieser erscheinen die natürlichen und gesellschaftlichen Beziehungen einmal als vom Menschen beherrscht, berechenbar und durchschaubar, das andere Mal aber als von ihm nicht beherrscht, nicht'berechenbar und nicht durchschaubar. Dieser Widerspruch ist mit Notwendigkeit kein bloß gedanklicher, sondern ein in der gesellschaftlichen Realität selbst begründeter. Denn die kapitalistische Produktionsweise kann zwar in ihren einzelnen Bereichen, aber nicht als Ganzes rational bewältigt werden. Die Reproduktion des Kapitalismus als Totalität ist nur unter dauernden Krisen möglich. Das klassische bürgerliche Denken hat das Problem der Totalität immer wieder aufgeworfen. Das Nebeneinander von Vernunft und Glauben im gleichen Gedankensystem oder die letztliche Bindung an metaphysische Autoritäten bei gleichzeitiger Betonung der individuellen Freiheit sind Folgen seiner vergeblichen Versuche, das Totalitätsproblem zu lösen. Erkenntnistheoretisch läuft das Problem der gedanklichen Durchdringung der Totalität auf die Subjekt-Objekt-Problematik hinaus. Bei Kant erscheint sie als Frage der Beziehung von Ding an sich und Erscheinung. Die Position, die Kant bei der Beantwortung dieser Frage einnimmt, offenbart einerseits den widerspruchsvollen und inkonsequenten Charakter seiner Philosophie, in der sich sowohl idealistische als auch materialistische Elemente finden 38 , deren Grundcharakter aber in letzter Instanz idealistisch ist, andererseits jedoch zeigt sich hierin auch die Konsequenz des Kantschen Denkens. Wenn nämlich die bürgerliche Gesellschaft als Totalität rational nicht zu bewältigen ist, dann ist die Vernunft, in deren Namen die Bourgeoisie vom ersten Tage an aufgetreten war, um ihre Verwirklichung gebracht und muß sich in ihren Ansprüchen be89

scheiden — erkenntnistheoretisch: die Totalität als Ding an sich ist unerkennbar. Und zu keinem anderen Ergebnis als diesem — hier konsequenter als seine Vorgänger — kommt Kant. Kant entwickelt dergestalt eine agnostizistische Erkenntnistheorie. Sein Agnostizismus ist dadurch gegeben, daß er an die von ihm gegebene Analyse des Erkenntnisprozesses — die Erkenntnis enthält „zwei sehr ungleichartige Elemente . . ., nämlich eine Materie zur Erkenntnis aus den Sinnen, und eine gewisse Vorm, sie zu ordnen, aus dem inneren Quell des reinen Anschauens und Denkens"39 — das Resultat knüpft: die Erkenntnis erfaßt nur Erscheinungen und nicht Dinge an sich, der menschlichen Erkenntnis zugänglich (erkennbar) sind nur Erscheinungen von Dingen; die Dinge, wie sie an sich selber sind, bleiben ihr dagegen unzugänglich (unerkennbar). „Der Verstand a priori [kann] niemals mehr leisten . . ., als die Form einer möglichen Erfahrung überhaupt zu antizipieren, und, da dasjenige, was nicht Erscheinung ist, kein Gegenstand der Erfahrung sein kann, daß er die Schranken der Sinnlichkeit, innerhalb denen uns allein Gegenstände gegeben werden, niemals überschreiten könne."40 Kant meint damit, daß kein Gegenstand jemals als Gegenstand an sich, das heißt: als Gegenstand außerhalb des Bewußtseins, erkannt werden könne. Jede Erkenntnis ist für Kant immer nur Erkenntnis von Erscheinungen — von Gegenständen, wie sie uns erscheinen. „Wir haben . . . hinreichend bewiesen: daß alles, was im Räume oder der Zeit angeschaut wird, mithin alle Gegenstände einer möglichen Erfahrung, nichts als Erscheinungen, d. i. bloße Vorstellungen sind, die, so wie sie vorgestellt werden, als ausgedehnte Wesen, oder Reihen von Veränderungen, außer unseren Gedanken keine an sich gegründete Existenz haben."41 Kants Behauptung der Unerkennbarkeit der Dinge an sich schließt jedoch nicht die Leugnung ihrer Existenz ein. Im Gegenteil: „Es folgt . . . natürlicher Weise aus dem Begriffe einer Erscheinung überhaupt: daß ihr etwas entsprechen müsse, was an sich nicht Erscheinung ist. . ., d. i. ein von der Sinnlichkeit unabhängiger Gegenstand sein muß" 42 : das Ding an sich. Mit dem Begriff „Ding an sich" will Kant die Grenze der menschlichen Erkenntnis markieren: „Der Begriff eines Noumenon, d. i. eines Dinges, welches gar nicht als Gegenstand der Sinne, sondern als ein Ding an sich selbst (lediglich durch einen reinen Verstand) gedacht werden soll . . . ist . . . notwendig, um die sinnliche Anschauung nicht bis über die Dinge an sich selbst auszudehnen, und also, um die objektive Gültigkeit der sinnlichen Erkenntnis einzuschränken (denn das übrige, worauf jene nicht reicht, heißen eben darum Noumena, damit man dadurch anzeige, jene Erkenntnisse können ihr Gebiet nicht über alles, was der Verstand denkt, erstrecken)."43 Bei näherem Zusehen erweist sich die von Kant abgesteckte Grenze der menschlichen Erkenntnisfähigkeit als bloße Konstruktion. Das Problem ist schon erkenntnistheoretisch falsch gestellt.44 Die schroffe Gegenüberstellung von Ding an sich und Erscheinung schließt seine wirkliche Lösung aus. Hegel hat darauf hin90

gewiesen, daß Kants Ding an sich eine „leere Abstraktion" sei.45 „Die Dinge heißen an sich", so führt er aus, „insofern von allem Sein-für-Anderes abstrahiert wird, das heißt überhaupt, insofern sie ohne alle Bestimmung, als Nichtse gedacht werden. In diesem Sinn kann man freilich nicht wissen, was das Ding-an-sicb ist. Denn die Frage: was? verlangt, daß Bestimmungen angegeben werden; indem aber die Dinge, von denen sie anzugeben verlangt würde, zugleich Dinge-an-sicb sein sollen, daß heißt eben ohne Bestimmung, so ist in der Frage gedankenloserweise die Unmöglichkeit der Beantwortung gelegt, oder man macht nur eine widersinnige Antwort." 46 Daß Kants Lehre vomDing an sich theoretisch eine Gedankenlosigkeit zugrunde liegt, wurde unmittelbar nicht erkannt. Dagegen wurde sehr schnell gesehen, daß Kant mit der Ding-an-sich-Lehre kein Problem gelöst, sondern eines zur Lösung aufgegeben hat. Fichtes Weiterbildung der Kantschen Philosophie wird zunächst an den Unzulänglichkeiten ihrer Lehre vom Ding an sich ansetzen. VIII Die rationalistische Philosophie bis zu Kant war der Ansicht, daß die Prinzipien der mathematischen Naturerkenntnis absolute und schlechthinnige Gültigkeit hätten, mithin auch für die typisch metaphysischen Bereiche, daß sie ebenso auf das psychologische, theologische und kosmologische Zentralproblem, also auf das Problem der „Seele", „Gottes" und des „Weltganzen" angewendet werden könnten. Kant spricht — worauf wir oben im Zusammenhang mit der Erwähnung der mathematischen Naturwissenschaft schon hingewiesen haben — dagegen die Überzeugung aus, daß solches unmöglich sei. Gewiß sprengt Kant dadurch noch nicht den Rahmen des überkommenen metaphysischen Denkens — im Gegenteil: er schränkt ihn so ein, daß die freigewordenen Bereiche sich als neue Probleme auftun. Wenn nämlich von den ausgesprochen „transzendenten", das heißt theologisch-religiösen Problemen (Unsterblichkeit der Seele, Gott) abgesehen wird, die zum Arsenal der alten Metaphysik gehörten und von Kant mit guten Gründen aus der Wissenschaft verbannt und in das Gebiet des Glaubens verwiesen werden, dann bleibt das Problem des Weltganzen, das die Metaphysik bis Kant zwar zu den ihren zählte, das — nach Lage der Dinge — aber in das Gebiet wissenschafdicher Naturerkenntnis gehört. Für dieses Gebiet menschlichen Wissens hatte Kant in der ersten Abteilung der „Kritik der reinen Vernunft", in der transzendentalen Analytik, die allgemeine philosophische Grundlegung gegeben. Und es liegt nahe, die Kategorien, die für jede einzelne Naturerkenntnis bestimmend sind, auch auf das absolute Ganze der Natur, auf die „Welt als Ganzes", anzuwenden. Doch Kant verneint eine solche Konsequenz. Die Kategorien — argumentiert er — gelten zwar für jede einzelne Erfahrung, aber nicht für das „absolute Ganze der Erfahrung". Kants Schlußfolgerung, in der Ding-an-sich-Lehre vorweggenommen, lautet deshalb: Fragen wie die nach dem Weltganzen übersteigen die Leistungsfähig91

keit „unseres" Denkens. Das allerdings muß heißen: sie übersteigen die Leistungsfähigkeit des metaphysischen Denkens, das Kant immer mit Denken überhaupt identifiziert. Denn die von Kant in der Ding-an-sich-Lehre behaupteten Schranken menschlichen Erkennens erweisen sich am Ende nur als solche des metaphysischen, undialektischen Denkens. Kants Feststellung, daß Fragen wie die nach dem Weltganzen die menschliche Erkenntnisfähigkeit übersteigen, bedarf des Beweises. Und obwohl Kant nie an der Richtigkeit seiner Entscheidung zweifelt, geschehen dort, wo er sich um einen solchen Beweis bemüht (in der zweiten Abteilung der „Kritik der reinen Vernunft", in der transzendentalen Dialektik), sonderbare Dinge. Kant spricht hier von einer „Dialektik des Scheins", die trotz ihres Scheins der Vernunft „unhintertreiblich anhängt" und „notwendig" ist, er spricht von „notwendigen Widersprüchen" und einer „Antinomie der reinen Vernunft", kurz: von Dingen, die über den Rahmen metaphysischen Denkens hinausweisen, diesen sprengen und zu einem Ausgangspunkt der Entwicklung der dialektischen Methode innerhalb der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie werden. Die von Kant entwickelten Erkenntnisprinzipien reichen also — nach eigenem Eingeständnis — für alle Probleme wissenschaftlichen Erkennens nicht hin. Sie sind vor allem unzureichend für das Problem des Weltganzen, der Totalität und — wie noch zu zeigen sein wird — für das Organismusproblem47, die beide eng miteinander verflochten sind. Sie bedürfen deshalb, meint Kant, der Ergänzung. Kant findet diese ergänzenden Erkenntnisprinzipien in den Ideen, den Prinzipien der Vernunft. Die Ideen kommen zu den konstitutiven Prinzipien des Verstandes, den Kategorien, hinzu. Zum Unterschied von den Kategorien sind aber die Ideen nicht konstitutiv (Gegenstände bestimmend), sondern regulativ, das heißt: lediglich richtunggebend, die Erkenntnis zu ihrem Ziel hinleitend. 48 Aus dieser Funktion der Ideen erhellt, daß Kant sein in Anlehnung an die Naturwissenschaft der Zeit entwickeltes Kategoriensystem nicht qualitativ zu erweitern oder gar umzubauen gedenkt. Das unterstreicht die Rolle, die Kant den Ideen beim Zustandekommen der Erkenntnis einräumt. Die Kategorien, die für Kant zugleich die Bedeutung von allgemeinen Naturgesetzen haben, begründen die Möglichkeit der wissenschaftlichen Erfahrung. In der Sprache Kants: Die Kategorien dienen dazu, „Erscheinungen zu buchstabieren, um sie als Erfahrung lesen zu können" 4 9 . Solche Erfahrung (Erkenntnis) ist aber immer nur Erkenntnis von Erscheinungen, nicht von Dingen an sich. Bei diesem ausgesprochen negativen Ergebnis kann Kant nicht stehenbleiben. Denn die Wissenschaft begnügt sich nicht damit, gegebene Erscheinungen, die ja immer J5/»^/erscheinungen sind, zu erklären, sondern geht ebensosehr, und das ist ihr Ziel, auf den Gesamtzusammenhang aller Erscheinungen, auf „die kollektive Einheit der ganzen möglichen Erfahrung", „auf das absolute Ganze aller möglichen Erfahrung" 5 0 . Über das letzte ist aber nichts auszumachen, wenn das Ding an sich weiterhin in der negativen Beziehung zum Erkennen bleibt, in der es in der transzendentalen Ana92

lytik steht. In der transzendentalen Dialektik bringt Kant deshalb das Ding an sich in eine „positive" Beziehung zur Erkenntnis, und zwar dadurch, daß er das Ding an sich jetzt als Idee bestimmt. Als Idee ist das Ding an sich identisch mit dem Unbedingten, Absoluten, Unendlichen. Allerdings rüttelt Kant damit keinesfalls an der überspannten Trennung von Ding an sich und Erscheinung. Das wäre Preisgabe seines transzendental-idealistischen Standpunkts. Im Gegenteil: Die „positive" Beziehung, die Kant zwischen Ding an sich und Erkennen herstellt, vollzieht sich gerade auf der Grundlage dieser abstrakten Zweiteilung. Kant läßt den subjektiv-idealistischen und agnostizistischen Charakter seiner Erkenntnistheorie unangetastet. Zwangsläufig muß dadurch auch die Idee zur bloßen leeren Form ohne jeden Inhalt werden — gleich dem Ding an sich der transzendentalen Analytik. Kant beharrt auf der Negation und Abgrenzung: der Unerkennbarkeit des Dinges an sich. Im einzelnen argumentiert Kant wie folgt: Jedes Erfahrungsobjekt ist Erscheinung. Jede Erscheinung ist ihrem Wesen nach bedingt, niemals unbedingt. Wenn keine Erscheinung unbedingt ist, so kann das Unbedingte nicht Erscheinung und damit Gegenstand einer möglichen Erfahrung sein. Dasselbe ist vom Ding an sich gesagt worden, also fällt das Ding an sich unter diesem Gesichtspunkt mit dem Unbedingten zusammen. Das Unbedingte bestimmt Kant als Vernunftsbegriff (Idee), um damit anzuzeigen, daß das Unbedingte et) kein Objekt der Erfahrung und b) kein Verstandesbegriff (Kategorie) ist. Was der Vernunftsbegriff des Unbedingten beinhaltet, ist nicht gegeben, sondern aufgegeben, ist Ziel und Zweck, soll erreicht werden. Deshalb ist das Unbedingte auch nicht durch den Verstand zu fassen, sondern verlangt ein höheres, dem Verstand überlegenes Erkenntnisvermögen: die Vernunft. „Ich verstehe unter der Idee einen notwendigen Vernunftsbegriff, dem kein kongruierender Gegenstand in den Sinnen gegeben werden kann." Ideen „sind Begriffe der reinen Vernunft", die „alle Erfahrungserkenntnis als bestimmt durch eine absolute Totalität der Bedingungen" betrachten.51 Die Ideen sind Ausdruck der Tendenz der Vernunft, von der bedingten zur unbedingten, von der unvollständigen oder relativen zur vollständigen oder absoluten Erkenntnis aufzusteigen. Die Vernunft gibt durch ihre Ideen dem an das Bedingte gebundenen Verstand gleichsam die Richtung in seiner Tätigkeit: Richtung auf das Unbedingte, Absolute, Unendliche. „Ob wir nun gleich von den transzendentalen Vernunftbegriffen sagen müssen: sie sind nur Ideen, so werden wir sie jedoch keineswegs für überflüssig und nichtig anzusehen haben. Denn, wenn schon dadurch kein Objekt bestimmt werden kann, so können sie doch im Grunde unbemerkt dem Verstände zum Kanon seines ausgebreiteten und einhelligen Gebrauchs dienen, dadurch er zwar keinen Gegenstand mehr erkennt, als er nach seinen Begriffen erkennen würde, aber doch in dieser Erkenntnis besser und weiter geleitet wird." 5 2 An anderer Stelle bezeichnet Kant die Idee als „ewige Aufgabe", vor die die 93

Vernunft stets von neuem gestellt ist. Sie stellt der Vernunft die immerwährende Aufgabe, nach vollständiger, unbedingter, absoluter Erkenntnis zu streben. Eine Aufgabe, um deren Lösung sich zu bemühen die Vernunft nie aufhören soll und kann, die sie aber nie restlos zu lösen vermag. 53 Als regulative Begriffe dienen die Ideen zur Verarbeitung und Systematisierung des durch die Kategorien bestimmten Erfahrungsmaterials. Die Ideen sind die Regeln des auf die Totalität aller möglichen Erfahrung gehenden Erkenntnisprozesses, und erst sie ermöglichen einen systematischen Erfahrungsgesamtzusammenhang. Dieser kann durch die Kategorien nicht erreicht werden, denn der Gebrauch der Kategorien geht nach Kant immer auf Einzelnes, die Kategorien haben es nur mit einzelnen Urteilen, einzelner Erfahrung, Teilerkenntnis zu tun. Demgegenüber bringen die Ideen den Gesichtspunkt der Totalität in den Erkenntnisprozeß. Ihnen obliegt es, „zu den bedingten Erkenntnissen des Verstandes das Unbedingte zu finden, womit die Einheit desselben vollendet wird" 5 4 . Die Ideen „betrachten alle Erfahrungserkenntnis als bestimmt durch die absolute Totalität der Bedingungen" 5 5 . Seine Auffassung vom Ganzen, von der Totalität entwickelt Kant näher im Zusammenhang mit der Darstellung des Organismusbegriffs. Für die im Prinzip undialektisch vorgehende Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts — von Leibniz einmal abgesehen, obwohl auch er im Hinblick auf das Organismusproblem an die Fragestellung Kants nicht heranreicht — ist jedes Ganze die bloße Summe seiner Teile und als solche ihre rein äußerliche Zusammenfassung. Die Teile verhalten sich zum Ganzen gleichgültig; ihm selbst fehlt jede innere, jede wirkliche Einheit. Dort, wo man nicht umhin konnte, das Ganze nicht nur als bloß äußerliche Zusammenfassung der Teile vorzuführen, wie etwa beim Universum, hielt man sich an ein außerhalb des Ganzen liegendes Prinzip, in dem das Ganze seine „Einheit" fand. Kant verwirft diese Auffassung. Der Organismus — so argumentiert er — läßt sich nicht begreifen, wenn er als ein „Ganzes" gefaßt wird, das die bloße Summe seiner Teile sein soll. Der Organismus kann im Gegenteil nur so erklärt werden, daß man ihn als ein Ganzes setzt und von diesem her seine Teile (Organe) nach der Funktion, die sie im Dienst des Ganzen ausüben, bestimmt. Eine solche Erklärung des Organismus läßt sich nach Kant allerdings nur nach der Art der Teleologie oder Naturzweckmäßigkeit vollziehen, die für ihn die „zusammenhängende Auffassung" des Ganzen ist. Und ihr Wert ist unmittelbar nur für die „organisierte Materie" ausgemacht. Sie eignet sich nicht für die Erkenntnis des Weltganzen als „einheitliche" oder „absolute Totalität". Diese verlangt als Erkenntnisprinzip die Idee. Allein die Erkenntnis nach Maßgabe der Ideen ist der teleologischenBetrachtungsweise des Organismus sehr ähnlich, weil das Grundproblem beim Organismus wie beim Weltganzen das gleiche ist. Auch das Weltganze kann — ebenso wie der Organismus — nicht als bloße Summe seiner Teile begriffen werden. Kant gelangt so vom Begriff der Naturzweckmäßigkeit zur Idee des Weltganzen: „Es ist also nur die Materie, sofern sie 94

organisiert ist, welche den Begriff von ihr als einem Naturzwecke notwendig bei sich führt. Aber dieser Begriff führt nun notwendig auf die Idee der gesamten Natur als eines Systems nach der Regel der Zwecke; welcher Idee nun aller Mechanism der Natur nach Prinzipien der Vernunft . . . untergeordnet werden muß . . ., weil uns die . . . Idee [des Zwecks] schon, was ihren Grund betrifft, über die Sinnenwelt hinausführt: da denn die Einheit des übersinnlichen Prinzips nicht bloß für gewisse Spezies der Naturwesen, sondern für das Naturganze, als System, auf dieselbe Art als gültig betrachtet werden muß."56 Die in diesem Zusammenhang von Kant entwickelte neue Fragestellung wird besonders deutlich, wenn man die Philosophie des 17. und die vorkantische des 18. Jahrhunderts nach ihrem Organismusbegriff befragt. Diese sah zwischen Mechanismus und Organismus keinen nennenswerten Unterschied. Der Begriff des Organismus wird in ihr von dem des Mechanismus umfaßt. Noch Leibniz hat den Organismus vom Mechanismus nur graduell unterschieden.57 Treffend bringt Tetens die damalige Auffassung zum Ausdruck: „Die Organisation ist ein unendlich zusammengesetzter Mechanismus. Allein dieser Unterschied, so unendlich groß er ist, kann doch als ein Unterschied von Größe und Vielheit betrachtet werden."58 Demgegenüber erhält der Begriff des Organismus durch Kant eine neue, für die weitere philosophische Entwicklung bedeutungsvolle Umprägung. Er entwickelt seinen Organismusbegriff bewußt im Gegensatz zur eben wiedergegebenen überkommenen Fassung. In der „Kritik der Urteilskraft" bestimmt er: „Dinge, als Naturzwecke, sind organisierte Wesen" — und führt weiter aus: „Zu einem Dinge als Naturzwecke wird . . . erfordert, daß die Teile (ihrem Dasein und der Form nach) nur durch ihre Beziehung auf das Ganze möglich sind", und „daß die Teile desselben sich dadurch zur Einheit eines Ganzen verbinden, daß sie voneinander wechselseitig Ursache und Wirkung ihrer Form sind." Denn „ein organisiertes Wesen ist . . . nicht bloß Maschine . . . , die lediglich bewegende Kraft [hat], sondern es besitzt in sich bildende Kraft, und zwar eine solche, die es den Materien mitteilt, welche sie nicht haben (sie organisiert): also eine sich fortpflanzende bildende Kraft, welche durch das Bewegungsvermögen allein (den Mechanismus) nicht erklärt werden kann". Nicht zuletzt „und nur dann und darum wird ein solches Produkt, als organisiertes und sich selbst organisierendes Wesen, ein Natur^weck genannt werden können", wenn in ihm „ein jeder Teil, so, wie er nur durch alle übrige da ist, auch als um der andern und des Ganzen willen existierend, d. i. als Werkzeug (Organ) gedacht" wird.59 Das Neue an der Kantschen Bestimmung des Organismus ist offenkundig: Im Gegensatz zur überkommenen Auffassung, die zwischen Mechanismus und O rganismus keine nennenswerte Verschiedenartigkeit feststellte, faßt Kant den Unterschied beider als spezifischen, generellen. Während es das Wesen des Mechanismus — wie Hegel im Einklang mit Kant später feststellt — ausmacht, daß „welche Beziehung zwischen Verbundenem stattfindet, diese Beziehung ihnen eine fremde ist, welche ihre Natur nichts angeht, und wenn sie auch mit dem Schein eines 95

Eins verbunden ist, nichts weiter als Zusammensetzung, Vermischung, Haufen usf. bleibt'' 60 , macht es das Wesen des Organismus aus, daß das Ganze den Teilen vorhergeht und die Teile nur in Beziehung auf das Ganze möglich, nur um dessentwillen da sind und sich wechselseitig und aus eigener Kausalität hervorbringen. Diese Bestimmung des Organismus ist dialektisch. Und eigentlich müßte Kant von hier aus zu einer Relativierung seines Kategoriensystems kommen. Doch nichts dergleichen. Dialektische Einsicht und vorgefaßtes Kategoriensystem stehen sich bei Kant unvermittelt gegenüber. Das ist auch der Grund, warum Kant zur Erklärung des Organismus den Begriff der Naturzweckmäßigkeit (oder objektiven Zweckmäßigkeit) einführt, dessen Gültigkeit er andererseits sofort einschränkt, indem er ihn als Hil/spiiazip vorführt. Seine Anwendung darf nur dort geschehen, wo die Erkenntnis auf die Grenzen des Kategoriensystems der transzendentalen Analytik stößt — was bei den organischen Naturformen der Fall ist. „Die Befugnis auf eine bloß mechanische Erklärungsart aller Naturprodukte auszugeben, ist an sich ganz unbeschränkt; aber das Vermögen damit allein auszulangen, ist, nach der Beschaffenheit unseres Verstandes, sofern er es mit Dingen als Naturzwecken zu tun hat, nicht allein sehr beschränkt, sondern auch deutlich begrenzt." 61 Die Einführung des Begriffs der Naturzweckmäßigkeit hat jedoch nichts zu tun mit der Handhabung der Teleologie nach der Art der Wölfischen Schule, die, wie Kant sagt, das „Ruhebett der faulen Vernunft" ist. Die Naturzweckmäßigkeit im Sinne Kants ist ein Prinzip der „Beurteilung", niemals ein Prinzip der Ableitung oder Erklärung, sie ist — wie die Ideen — regulativ, nicht konstitutiv, und trägt „vorläufigen Charakter". Vorläufig deshalb, weil durch sie in der Wissenschaft nicht das letzte Wort gesprochen wird und — was noch wichtiger ist — auch nicht gesprochen werden darf. Kant läßt durchaus offen, ob nicht dereinst auch die Erklärung der Organismen ohne den Begriff der Naturzweckmäßigkeit möglich sei. Ja, er fordert von der wissenschaftlichen Forschung, nicht vor den Schwierigkeiten bei der Erklärung der organischen Naturformen zu kapitulieren. Um über den Sinn seiner Forderung keinen Zweifel aufkommen zu lassen, markiert Kant sofort auch den Punkt, von dem aus er eine wissenschaftliche Erklärung der Organismen erhofft: von einer Entwicklungslehre. In diesem Sinn schreibt Kant in der „Kritik der Urteilskraft": „Es ist rühmlich, vermittelst einer komparativen Anatomie die große Schöpfung der organisierten Naturen durchzugehen, um zu sehen: ob sich daran nicht etwas einem System Ähnliches, und zwar dem Erzeugungsprinzip nach, vorfinde; ohne daß wir nötig haben, beim bloßen Beurteilungsprinzip (welches für die Einsicht ihrer Erzeugung keinen Aufschluß gibt) stehen zu bleiben, und mutlos allen Anspruch auf Natureinsicbt in diesem Felde aufzugeben." 62 Und an anderer Stelle: Die „Analogie der Formen, sofern sie bei aller Verschiedenheit einem gemeinschaftlichen Urbilde gemäß erzeugt zu sein schei96

nen, verstärkt die Vermutung einer wirklichen Verwandtschaft derselben in der Erzeugung von einer gemeinschaftlichen Urmutter, durch die stufenartige Annäherung einer Tiergattung zur andern, von derjenigen an, in welcher das Prinzip der Zwecke am meisten bewährt zu sein scheint, nämlich dem Menschen, bis zum Polyp, von diesem so gar bis zu Moosen und Flechten, und endlich zu der niedrigsten uns merklichen Stufe der Natur, zur rohen Materie: aus welcher und ihren Kräften, nach mechanischen Gesetzen . . ., die ganze Technik der Natur, die uns in organisierten Wesen so unbegreiflich ist, daß wir uns dazu ein anderes Prinzip zu denken genötigt glauben, abzustammen scheint" 63 . In der „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht" äußert Kant schließlich den Gedanken, daß „ein Orang-Utan, oder ein Schimpansen die Organe, die zum Gehen, zum Befühlen der Gegenstände und zum Sprechen dienen, sich zum Gliederbau eines Menschen ausbildete, deren Innerstes ein Organ für den Gebrauch des Verstandes enthielte und durch gesellschaftliche Kultur sich allmählich entwickelte"6'«. Die Belege aus Kants Werken, die eine positive Stellungnahme zur Frage der Entwicklung in der organischen Welt zum Inhalt haben, könnten beliebig vermehrt werden. Aber ebensoviele Stellen können angeführt werden, in denen der Entwicklungsgedanke als für die organische Welt unmöglich dargetan wird. In der „Kritik der Urteilskraft" findet sich auch jener für Kants Grundposition charakteristische Satz: „Es ist für Menschen ungereimt, auch nur einen solchen Anschlag zu fassen, oder zu hoffen, daß noch etwa dereinst ein Newton aufstehen könne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde: sondern man muß diese Einsicht den Menschen schlechterdings absprechen." 65 Diese Stellungnahme ist in doppelter Hinsicht charakteristisch: einmal durch die Anrufung Newtons, der Kant zeit seines Lebens als klassisches Vorbild strenger Wissenschaftlichkeit gilt, und zum anderen, weil sie Kants Verhaftetsein in der Denkweise der mathematischen Naturwissenschaft erneut in aller Deutlichkeit demonstriert. Da ist sicher das erste Moment, das zur Begründung dafür angeführt werden muß, daß Kant, obwohl er den Begriff des Organismus — und in diesem Zusammenhang das Problem der Totalität — dialektisch bestimmt und eine Entwicklungslehre für den organischen Bereich der Natur als Möglichkeit ins Auge faßt, keine Schlußfolgerungen für seine Erkenntnistheorie daraus zieht. Ein weiterer Grund sind die transzendental-idealistischen Grundlagen seiner Philosophie. In dieser Beziehung wirkt sich vor allem die undialektische Trennung von Sinnlichkeit und Verstand, der künstliche Gegensatz von Rezeptivität und Spontaneität auch hier verhängnisvoll aus. Denn seine einseitige Bestimmung sowohl der Sinnlichkeit als nur Rezeptivität als auch des Verstandes als nur Spontaneität, die bei ihm unwandelbar, ein für allemal fertig sind und demzufolge jede Veränderung oder Entwicklung ausschließen66, erfordern eine nur fixe und verhindern eine dynamische Fassung der Kategorien. Ein dialektisches In7

Buhr

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einander-Übergehen der Kategorien muß Kant deshalb in Abrede stellen. Wenn man hinzufügt, daß Spontaneität nur vernünftigen Wesen, das heißt den Menschen zukommt, dann wird deutlich, warum für Kant darüber hinaus der Gedanke einer Höherentwicklung der Materie „ungereimt" ist.67 IX Der transzendental-idealistische Standpunkt Kants ist auch der Grund dafür, daß er den Widerspruch zwar als Zentralproblem der Philosophie markiert und auf die Notwendigkeit der Dialektik hinweist, diesen aber nichtsdestoweniger als Scheinwiderspruch behandelt und die Dialektik als „Logik des Scheins" bestimmt. Kant ist jedoch ein zu tiefer Denker, als daß für ihn das Problem des Widerspruchs und in der Folge das der Dialektik überhaupt damit erledigt wäre, daß der Widerspruch nichts als Schein und die Dialektik bloße ¿¿¿«'»dialektik wären. Das menschliche Erkennen verstrickt sich nach Kant notwendig immer dann in einen Widerspruch und wird dialektisch, wenn es das Problem der Unendlichkeit, des Unbedingten, der Totalität zu bewältigen versucht. Die Ursachen hierfür liegen in der Vernunft selber. Sobald sie die Totalität (das Unbedingte, Unendliche, Absolute) als Gegenstand denkt, gerät sie in „Widerstreit mit sich selbst", wird sie „dialektisch". Solches läßt sich nicht vermeiden, weil die Vernunft die Totalität „nicht anders denken [kann], als daß sie ihrer Idee zugleich einen Gegenstand gibt, der aber durch keine Erfahrung gegeben [ist]; denn Erfahrung gibt niemals ein Beispiel vollkommener systematischer Einheit". 68 „Es gibt . . . " — resümiert Kant — „eine natürliche und unvermeidliche Dialektik der reinen Vernunft, nicht eine, in die sich etwa ein Stümper, durch Mangel an Kenntnissen, selbst verwickelt, oder irgendein Sophist, um vernünftige Leute zu verwirren, künstlich ersonnen hat, sondern die der menschlichen Vernunft unhintertreiblich anhängt, und selbst, nachdem wir ihr Blendwerk aufgedeckt haben, dennoch nicht aufhören wird, ihr vorzugaukeln und sie unablässig in augenblickliche Verirrungen zu stoßen, die jederzeit gehoben zu werden bedürfen." 69 Der „Widerstreit der Vernunft mit sich selbst", die „Antithetik derselben" tritt dort offen zutage, wo die „Welt als Ganzes" zum Gegenstand der Untersuchung gemacht wird. Und zwar nicht erst — wie bei der Idee der Seele und der Idee eines höchsten Wesens — beim Überschreiten der räumlich-zeitlichen Welt, sondern bereits, wenn von der Erscheinung auf die Welt der Erscheinung, auf die Welt als Ganzes, als Inbegriff aller Erscheinungen, geschlossen wird. Allein die Welt der Erscheinung ist niemals Objekt der Erfahrung, sondern Idee, kosmologische Idee — die Idee der Welt. Der Begriff der „Welt als Ganzes" liegt unserer gesamten Erkenntnis zugrunde, reguliert sie. Zwangsläufig werden dadurch alle Vernunftschlüsse, die auf die Welt als Totalität gehen, dialektisch, nehmen notwendig die Form von Antinomien an. 98

Antinomien sind nach Kant Widersprüche, in die sich die Vernunft bei dem Versuch, die Welt als Totalität (Unbedingtes, Absolutes, Unendliches) zu erkennen, verwickelt. Sie bestehen aus zwei Sätzen (Thesis und Antithesis) gleichen Inhalts über den selben Gegenstand. Eine wirkliche Antinomie darf allerdings nicht nur behauptet werden, sondern „sowohl Satz als Gegensatz [müssen] durch gleich einleuchtende klare und unwiderstehliche Beweise dargetan werden können". 70 Das letzte ist bei allen kosmologischen Sätzen der Fall. Das, was sie aussagen, ist in sich widerspruchsvoll, und zwar begründet: Die kosmologischen Sätze sind durchweg antinomisch. Entsprechend den vier kosmologischen Objekten (Weltgröße — vollständige Zusammensetzung aller Erscheinungen, Weltinhalt — vollständige Teilung der Materie, Weltordnung — vollständige Reihe der Ursachen, Weltexistenz — vollständige Abhängigkeit des Daseins) gibt es nach Kant vier Antinomien, die er in der „Kritik der reinen Vernunft" wie folgt vorträgt: „1. Die Welt hat einen Anfang in der Zeit, und ist dem Raum nach auch in Grenzen eingeschlossen. — Die Welt hat keinen Anfang, und keine Grenzen im Räume, sondern ist, sowohl in Ansehung der Zeit, als des Raums unendlich. 2. Eine jede zusammengesetzte Substanz in der Welt besteht aus einfachen Teilen, und existieret überall nichts als das Einfache, oder das, was aus diesem zusammengesetzt ist. — Kein zusammengesetztes Ding in der Wel^ besteht aus einfachen Teilen, und es existiert überall nichts Einfaches in derselben. 3. Die Kausalität nach Gesetzen der Natur ist nicht die einzige, aus welcher die Erscheinungen der Welt insgesamt abgeleitet werden können. Es ist noch eine Kausalität durch Freiheit zu Erklärung derselben anzunehmen notwendig. — Es ist keine Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur. 4. Zu der Welt gehört etwas, das, entweder als ihr Teil, oder ihre Ursache, ein schlechthin notwendiges Wesen ist. — Es existiert überall kein schlechthinnotwendiges Wesen, weder in der Welt, noch außer der Welt, als ihre Ursache." 71 Kant sagt nun, daß auf dem Wege der Erfahrung weder Unendlichkeit noch Endlichkeit der Welt dargetan werden können, auf die die Beweisgründe der Antinomien zurückführen. Insofern gehen diese nicht aus der Erfahrung, sondern aus der reinen Vernunft selber hervor. Das bedeutet aber, daß wir es bei den Antinomien mit konkreten Fällen eines „Widerstreits der reinen Vernunft mit sich selbst" zu tun haben. Denn die Vernunft gerät, sobald sie die Welt unter dem Gesichtspunkt der. Unendlichkeit (Totalität) zu beurteilen unternimmt, in die Lage, über ihren Gegenstand entgegengesetzte Sätze auszusagen — und nicht nur das, sie kann sie auch beweisen. Zweifellos ist es richtig, daß das menschliche Erkennen, sobald es sich über das Endliche hinaushebt und dem Unendlichen zuwendet, auf Widersprüche stößt, denn „es ist schon ein Widerspruch", wie Engels hervorhebt, daß „eine Unendlichkeit aus lauter Endlichkeiten zusammengesetzt" ist.72 Daß der Widerspruch aber nur der Vernunft eigen sein soll, ist ein subjektiv-idealistisches 7»

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Vorurteil, weil nicht bloß die Vernunft es ist, die zum Widerspruch kommt, sondern die Wirklichkeit selber voller Widersprüche ist. „Es ist dies eine zu große Zärtlichkeit für die Welt", stellt Hegel fest, „von ihr den Widerspruch zu entfernen, ihn dagegen in den Geist, in die Vernunft zu verlegen und darin unaufgelöst bestehen zu lassen." 73 Kant gelingt es dergestalt nicht, das Problem zu lösen. Er erblickt in der Unlösbarkeit des Problems den Kern der Sache. Er beweist auf der einen Seite das eine, auf der anderen das Entgegengesetzte, läßt es dabei bewenden „und setzt darin gerade die Antinomie, den unlösbaren Widerspruch, daß das eine ebenso beweisbar ist, wie das andere".74 Zu mehr kann Kant allerdings mit den methodischen Mitteln und erkenntnistheoretischen Voraussetzungen seiner Philosophie auch gar nicht kommen, anders hätte er die Grundprinzipien seines transzendentalen Idealismus aufgeben müssen. Doch das Entscheidende ist: die Kantsche Antinomienlehre führt an die Schwelle der Dialektik. Kant stellt in ihr den Widerspruch als Zentralproblem der Philosophie heraus, was das Bleibende und eigentlich Große an ihr ist. Und dieser Widerspruch ist notwendig, womit die Dialektik von ihm ebenfalls als notwendig gesetzt wird. Hegel: „Dieser Gedanke, daß der Widerspruch, der am Vernünftigen durch die Verstandesbestimmungen gesetzt wird, wesentlich und notwendig ist, ist für einen der wichtigsten und tiefsten Fortschritte der Philosophie neuerer Zeit zu achten." 75 Die praktische Philosophie: Proklamierung der Autonomie des Subjekts I Die praktische Philosophie ist für Kant das eigentliche Gebiet der Vernunft. In ihr ist die Vernunft nicht nur regulativ, zu Erkenntnissen hinleitend, wie in der theoretischen Philosophie, sondern gesetzgebend. „Reine, an sieb praktische Vernunft ist . . . unmittelbar gesetzgebend." 76 Und: „In der Verbindung . . . der reinen spekulativen mit der reinen praktischen Vernunft zu einem Erkenntnisse führt die letztere das Primat, vorausgesetzt nämlich, daß diese Verbindung nicht etwa zufällig und beliebig, sondern a priori auf der Vernunft selbst gegründet, mithin notwendig sei . . . Der spekulativen Vernunft . . . untergeordnet zu sein . . . kann man der reinen praktischen gar nicht zumuten, weil alles Interesse zuletzt praktisch ist, und selbst das der spekulativen Vernunft nur bedingt und im praktischen Gebrauche allein vollständig ist." 7 7 Damit setzt Kant die Vernunft in der praktischen Philosophie absolut. Sie wird von ihm als das Vermögen des Menschen vorgeführt, sein Schicksal allein von sich selber abhängig zu machen. Kants praktische Philosophie impliziert die Unabhängigkeitserklärung des Menschen von jedweder Autorität. Es ist 100

deshalb kein Zufall, daß Kants Wirkung auf seine Zeitgenossen und Nachfolger zunächst von seiner praktischen Philosophie ausging. Hegel stellte fest: „Die Hauptwirkung, welche die Kantische Philosophie gehabt hat, ist gewesen, das Bewußtsein [der] absoluten Innerlichkeit erweckt zu haben, die, ob sie um ihrer Abstraktion willen zwar aus sich zu nichts sich entwickeln und keine Bestimmungen, weder Erkenntnisse noch moralische Gesetze, hervorbringen kann, doch schlechthin sich weigert, etwas, das den Charakter einer Äußerlichkeit hat, in sich gewähren und gelten zu lassen. Das Prinzip der Unabhängigkeit der Vernunft, ihrer absoluten Selbständigkeit in sich, ist von nun an als allgemeines Prinzip der Philosophie, wie als eines der Vorurteile der Zeit, anzusehen." 78 Der unbedingte Charakter der praktischen Vernunft resultiert für Kant daraus, daß diese nicht, wie die theoretische, von den Erscheinungen abhängig ist, sondern in eigener Vollkommenheit und absoluter Unabhängigkeit auf das Ziel unbedingt geltender ethischer Normen ausgeht. Das deshalb, weil der Mensch nicht bloß ein denkendes Wesen (reines Erkenntnissubjekt), sondern auch — und nicht zuletzt — ein soziales Wesen ist, das nicht isoliert, sondern nur in der Gesellschaft, also nur mit anderen Menschen gemeinsam, existieren kann. Die Gesellschaft stellt aber fortlaufend Anforderungen an den einzelnen Menschen, denen er als soziales Wesen genügen muß. Als vernunftbegabtes Wesen will der Mensch allerdings sein Leben (Handeln) in der Gesellschaft (Gemeinschaft) nach klar umrissenen (erkannten) Regeln einrichten. Insofern ist zu klären, ob es auch im Bereich der praktischen Philosophie allgemeingültige und notwendige Gesetze des Wollens (der Ethik) nach der Art der allgemeingültigen und notwendigen Gesetze des Erkennens (der Erkenntnistheorie) in der theoretischen Philosophie gibt. Kant bejaht diese Frage uneingeschränkt. Sein Streben in der praktischen Philosophie geht auf das Auffinden allgemeingültiger und notwendiger ethischer Gesetze, durch welche die menschlichen Handlungen bestimmt werden. Die Hauptfrage der praktischen Philosophie ist deshalb: Gibt es allgemeingültige und notwendige Gesetze der praktischen Vernunft und worauf gründet sich ihr Geltungsanspruch? Oder: Was ist Moral und wie ist sie als Wissenschaft möglich? Kant bemüht sich zunächst um die Entwicklung einer Theorie der Moral. Die theoretische oder reine Ethik beantwortet das Wie? der menschlichen Handlungen, das heißt die Frage, unter welchen allgemeingültigen und notwendigen Gesetzen die menschlichen Handlungen ablaufen sollen. Nach der Herausarbeitung der theoretischen Grundlagen der Ethik gibt Kant Beispiele ihrer Anwendung in den verschiedenen Bereichen des menschlichen Lebens (Geschichte, Staat, Recht, Erziehung, Politik, Religion, auch Ästhetik). Dieser Teil der praktischen Philosophie ist die angewandte oder praktische Ethik. Sie beantwortet das Was? der menschlichen Handlungen, den jeweils konkreten Fall, und zwar auf der Grundlage der in der theoretischen Ethik formulierten moralischen Grundgesetze.79 101

Folgt man dem Gang der Kantschen Systematik, so scheint es, als sei die praktische Philosophie Ausfluß der theoretischen. Zahlreiche Aussagen Kants lassen einen solchen Schluß zu. In Wirklichkeit jedoch macht Kant die praktische Philosophie, die Moral, nicht nur zur Krone seiner Weltanschauung, sondern sein Denken hebt mit moralischen Fragestellungen an, die er dann erst auf die Probleme der Erkenntnis ausdehnt. Im Mittelpunkt der Kantschen Philosophie steht der Mensch, seine Würde und sein Schicksal. Kants „kopernikanische Wendung" des Erkenntnisproblems muß näher von diesem Vorgang her gesehen werden. Nicht nur aus erkenntnistheoretischen Erwägungen macht Kant das Subjekt zum Zentralpunkt der Philosophie. Kant ist vor allem daran gelegen, das Sein als Produkt der schöpferischen Freiheit des Menschen, als Akt seiner Tätigkeit, gleichsam als Postulat der praktischen Philosophie vorzuführen. Das wird deutlich, wenn man sich die Bestimmung der Philosophie durch Kant vor Augen hält: „Philosophie . . . ist. . . die Wissenschaft der Beziehung alles Erkenntnisses und Vernunftgebrauchs auf den Endzweck der menschlichen Vernunft, dem, als dem obersten, alle andern Zwecke subordiniert sind und sich in ihm zur Einheit vereinigen müssen." Und weiter: „Das Feld der Philosophie in dieser weltbürgerlichen Bedeutung läßt sich auf folgende Fragen bringen: 1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen? 4. Was ist der Mensch? Die erste Frage beantwortet die Metaphysik, die zweite die Moral, die dritte die Religion, und die vierte die Anthropologie. Im Grunde könnte man aber alles dieses zur Anthropologie rechnen, weil sich die drei ersten Fragen auf die letzte beziehen." 80 Kant faßt das Sein nicht in seiner Faktizität, nicht als ein Gegebenes, sondern als Material des Subjekts. Hegel: Die Philosophie Kants ist „der Standpunkt der Absolutheit; aufgeschlossen in seiner Brust ist dem Menschen ein Unendliches. Das ist das Befriedigende an der kantischen Philosophie, es ist wenigstens an's Gemüt gelegt; ich anerkenne nur, was meiner Bestimmung gemäß ist". 81

II In diesem Sinne sucht Kant in seiner praktischen Philosophie nach ethischen Normen, die nicht nur für den einzelnen Fall und das Handeln des Individuums, sondern unabhängig von jeder gegebenen Situation für alle überhaupt möglichen Fälle und alle Menschen gelten sollen. Dabei kann nicht das Streben des einzelnen Menschen die allgemeinverbindliche ethische Norm sein. Allgemeingültige und notwendige ethische Normen müssen solche sein, die von allem subjektiven Streben und von allen aus der Erfahrung hergeleiteten Glücksvorstellungen unabhängig sind, aber allen menschlichen Handlungen als höchste und letzte moralische Gesetze die Richtung weisen. 102

Derartige Gesetze können aber zwangsläufig auch nicht auf das Triebleben des Menschen gegründet werden. Das Triebleben des Menschen ist ein Naturvorgang und insofern ein Sonderfall der allgemeinen Naturgesetzlichkeit (Notwendigkeit). So verbleibt nur die Vernunft selber als Grund der moralischen Gesetze. Und eben in dieser Hinsicht ist die theoretische oder reine Vernunft zugleich praktische Vernunft. Kant postuliert: „Reine Vernunft ist für sich allein praktisch, und gibt [dem Menschen] ein allgemeines Gesetz, welches wir das Sittengesetz nennen." 82 Das aus der praktischen Vernunft hervorgehende Sittengesetz [allgemeingültige und notwendige ethische Norm] unterscheidet sich grundlegend vom Naturgesetz• Das Naturgesetz gibt an, was unter bestimmten Bedingungen geschehen muß und tatsächlich auch geschieht. Das Sittengesetz dagegen verlangt, was unter allen möglichen Bedingungen geschehen soll, ganz gleich, ob es im konkreten Fall immer mit letzter Vollkommenheit geschieht. Das Naturgesetz ist eine Aussage über eine Tatsache und ist auf ein Sein bezogen; durch das Sittengesetz wird eine Forderung formuliert, die sich auf ein Sollen bezieht. Moralische Gesetze sind deshalb niemals Erkenntnisse im theoretischen Sinne, sondern Aussagen über das Verhältnis, in dem sich der Mensch als Urteilender zu dem jeweils zu beurteilenden Gegenstand befindet, wobei es unerheblich ist, ob sich die Beurteilung von einem Tun (Handeln) oder einer diesem Tun zugrunde liegenden Gesinnung herleitet. Das Sittengesetz oder, wie Kant auch sagt, das Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft lautet: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne." 83 Das Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft ist die einzige verbindliche ethische Norm, auf der alle Handlungen der Menschen beruhen sollen. Sie ist zugleich die allgemeinste Formulierung des Sittengesetzes. Kant nennt sie auch den kategorischen Imperativ, weil ihre Geltung unbedingt ist. „Es ist niemand, selbst der ärgste Bösewicht, wenn er nur sonst Vernunft zu brauchen gewohnt ist, der nicht, wenn man ihm Beispiele der Redlichkeit in Absichten, der Standhaftigkeit in Befolgung guter Maximen, der Teilnehmung und des allgemeinen Wohlwollens . . . vorlegt, nicht wünsche, daß er auch so [nach dem kategorischen Imperativ] gesinnt sein möchte." 84 Der kategorische Imperativ ist eine allgemeingültige und notwendige ethische Norm, weil er aus der praktischen Vernunft selber abgeleitet ist. Er hat keinen konkreten Inhalt außer der bei jeder menschlichen Handlung gegebenen Forderung: Du sollst. Der kategorische Imperativ ist aber vor allem deshalb das höchste und letzte Sittengesetz, weil der Mensch nur als Zweck existiert und niemals als ein bloßes Mittel angesehen oder gar gebraucht werden darf. „Der Mensch, und überhaupt jedes vernünftige Wesen, existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen seinen, sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit z«g^icb als Zweck betrachtet werden." 85 103

Man hat Kant im Hinblick auf den kategorischen Imperativ oft den Vorwurf gemacht, daß er in seiner Ethik einem Formalismus huldige. Der kategorische Imperativ, so wird argumentiert, sei lediglich eine leere Formel sittlichen Verhaltens, die für den konkreten Fall menschlichen Handelns nichts hergebe. Kant hat auf diesen Vorwurf in der Vorrede zur „Kritik der praktischen Vernunft" selbst geantwortet: „Ein Rezensent, der etwas zum Tadel dieser Schrift [der .Grundlegung zur Metaphysik der Sitten'] sagen wollte, hat es besser getroffen, als er wohl selbst gemeint haben mag, indem er sagt: daß darin kein neues Prinzip der Moralität, sondern nur eine neue Formel aufgestellt worden. Wer wollte aber auch einen neuen Grundsatz aller Sittlichkeit einführen, und diese gleichsam zuerst erfinden? gleich als ob vor ihm die Welt, in dem was Pflicht sei, unwissend, oder in durchgängigem Irrtume gewesen wäre. Wer aber weiß, was dem Mathematiker eine Formel bedeutet, die das, was zu tun sei, um eine Aufgabe zu befolgen, ganz genau bestimmt und nicht verfehlen läßt, wird eine Formel, welche dieses in Ansehung aller Pflichten überhaupt tut, nicht für etwas Unbedeutendes und Entbehrliches halten." 86 Kants ethischer Formalismus hängt zunächst — als theoretischer Vorgang — mit seiner Lehre vom apriorischen Charakter der Erkenntnis zusammen. Nach Kant liegen ja jeder Erkenntnis bestimmte Einheitsfunktionen zugrunde bzw. gehen ihr voraus. Sie sind es, welche die Mannigfaltigkeit der Sinneseindrücke ordnen und dadurch zu Erkenntnis verarbeiten. Sie sind zugleich die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der Erkenntnis. So auch in der Ethik. Jede Handlung des Menschen ist, unabhängig von dem, was gewollt wird, in letzter Instanz bestimmt durch die vom Sittengesetz aufgegebene Grundrichtung des Willens.87 Allerdings ist damit noch nicht alles erklärt, sondern nur die immanent theoretische Seite der Angelegenheit. Denn Kant entwickelt seine Ethik im Hinblick auf eine bestimmte ökonomische Gesellschaftsformation, im Hinblick auf die bürgerlich-kapitalistische Welt. 88 Und letztlich ist es die Art der zwischenmenschlichen Beziehungen im Kapitalismus, die Kant seinen ethischen Formalismus aufzwingen. Nicht die Kantsche Ethik ist primär formalistisch, sondern die zwischenmenschlichen Beziehungen im Kapitalismus erschöpfen sich im Formalen, denn sie unterliegen den Gesetzen der Konkurrenz, moralisch: der Selbstsucht und des Egoismus. Durch die Erklärung der absoluten Verbindlichkeit des kategorischen Imperativs für alle Menschen will Kant im Einklang mit den humanistischen Idealen der Aufklärung der Selbstsucht und dem Egoismus der bürgerlich-kapitalistischen Welt Einhalt gebieten, um wenigstens formal die bürgerliche Gesellschaft als Gemeinschaft zu postulieren.89 III Zum kategorischen Imperativ in Widerspruch geraten kann der Mensch durch seine Neigungen, die bei den einzelnen Menschen ja immer auf individuelle Glückseligkeit gerichtet sind. Unter diesem Aspekt steht der Mensch deshalb immer 104

zwischen Pflicht und Neigung. Durch seinen Willen entscheidet er frei, und zwar so, daß er der Pflicht nachkommt, das heißt, dem kategorischen Imperativ gehorcht und nur in diesem Rahmen seinen Neigungen freies Spiel läßt. Voraussetzung einer solchen Entscheidung ist für Kant die Freiheit, die für ihn die Fähigkeit des Menschen zur Befolgung des kategorischen Imperativs ist und „als Eigenschaft des Willens aller vernünftigen Wesen vorausgesetzt werden" muß. 90 Die Möglichkeit einer solchen Befolgung des kategorischen Imperativs beruht auf dem Gesetz der praktischen Vernunft: Du kannst, denn du sollst. Der formale Charakter des kategorischen Imperativs (überhaupt jedes Sittengesetzes) weist die Richtung, nach welcher der Wert eines bestimmten Verhaltens des Menschen, sein moralischer Wert, beurteilt werden kann. Nach Kant ist für die Beurteilung allein die Form des Verhaltens eines Menschen ausschlaggebend, nicht sein Inhalt. Nicht das ist wichtig, was ein Mensch tut, sondern aus welcher Gesinnung sein Tun hervorgeht. „Eine Handlung aus Pflicht hat ihren moralischen Wert nicht in der Absiebt, welche dadurch erreicht werden s o l l . . ." Deshalb ist „Pflicht . . . die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz"91. Und so entscheidet nicht der Erfolg über eine Handlung, sondern allein der Wille, diese Handlung in Übereinstimmung mit dem Sittengesetz oder kategorischen Imperativ zu vollziehen. Kant: „Es liegt also der moralische Wert der Handlung nicht in der Wirkung, die daraus erwartet wird, also auch nicht in irgendeinem Prinzip der Handlung, welches seinen Bewegungsgrund von dieser erwarteten Wirkung zu entlehnen bedarf." 92 Von hier aus sind Kants tiefe, aber auch oft mißverstandene Worte zu verstehen, mit denen er die „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" einleitet: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille."& Diese Funktion des Willens ist es auch, die nach Kant die Autonomie der praktischen Vernunft begründet, das heißt: ihre Selbstbestimmung durch Selbstgesetzgebung, ihre Unabhängigkeit von jedweder Autorität, ihre Abhängigkeit nur von sich selber. Kant: „Der schlechterdings gute Wille, dessen Prinzip ein kategorischer Imperativ sein muß, wird also, in Ansehung aller Objekte unbestimmt, bloß die Form des Wollens überhaupt enthalten, und zwar als Autonomie, d. i. die Tauglichkeit der Maxime eines jeden guten Willens, sich selbst zum allgemeinen Gesetze zu machen, ist selbst das alleinige Gesetz, das sich der Wille eines jeden vernünftigen Wesens selbst auferlegt, ohne irgendeine Triebfeder und Interesse derselben als Grund unterzulegen." 94 IV Die Neigung, die den menschlichen Willen antreibt und deren „Triebfedern" (Motive) in der empirischen Welt zu suchen sind, macht den Menschen zu einem Sinnenwesen (Naturwesen, empirischen Wesen), das dem Gesetz der Kausalität, 105

der Naturnotwendigkeit überhaupt unterliegt. Um nun für die Freiheit Raum zu schaffen, teilt Kant in der praktischen Philosophie — analog der Zweiteilung der Welt in der theoretischen Philosophie in Ding an sich und Erscheinung — den Menschen in zwei Wesen: als empirisches Wesen oder Sinnenwesen unterliegt er der strengen Naturnotwendigkeit, als intelligibles oder geistiges Wesen ist er der Freiheit teilhaftig. „Das vernünftige Wesen zählt sich als Intelligenz zur Verstandeswelt, und, bloß als eine zu dieser gehörige wirkende Ursache, nennt es seine Kausalität einen Willen. Von der anderen Seite ist es sich seiner doch auch als eines Stücks der Sinnenwelt bewußt, in welcher seine Handlungen, als bloße Erscheinungen jener Kausalität, angetroffen werden." 95 „Und so sind kategorische Imperativen möglich, dadurch, daß die Idee der Freiheit mich zu einem Gliede einer intelligiblen Welt macht, wodurch, wenn ich solches allein wäre, alle meine Handlungen der Autonomie des Willens jederzeit gemäß sein würden, da ich mich aber zugleich als Glied der Sinnenwelt anschaue, gemäß sein sollen, welches kategorische Sollen einen synthetischen Satz a priori vorstellt, dadurch, daß über meinen durch sinnliche Begierden affizierten Willen noch die Idee ebendesselben, aber zur Verstandeswelt gehörigen, reinen, für sich selbst praktischen Willens hinzukommt, welcher die oberste Bedingung des ersteren nach der Vernunft enthält." 96 Aus dieser Zweiteilung des Menschen resultiert Kants Begriff der Freiheit als Idee der Vernunft, die keine Realität hat. „Freiheit ist kein Erfahrungsbegriff . . . Freiheit [ist] nur eine Idee der Vernunft, deren objektive Realität an sich zweifelhaft ist, Natur aber ein Verstandesbegriff, der seine Realität an Beispielen der Erfahrung beweiset und notwendig beweisen muß." 97 Wenn für Kant die Verwirklichung der Idee der Freiheit in der Welt der Erscheinungen nicht gegeben ist, so meint er damit nicht, daß ihr überhaupt keine praktische Bedeutung zukommt. Im Gegenteil. Kant bringt mit der Idee der Freiheit den Fortschritt des gesamten Menschengeschlechts in Zusammenhang. Denn nach Kant fordert das moralische Gesetz, sowohl für das Individuum wie für das Menschengeschlecht insgesamt die Idee der Freiheit in allen Handlungen fortlaufend anzustreben. Moralische Vervollkommnung und immer größere Freiheit sind für Kant identisch. Ja, Kant geht so weit, den natürlichen Tod dem Menschen nur als Naturwesen zuzuschreiben, um auf diese Weise seine These von der fortschreitenden moralischen Vervollkommnung des Menschengeschlechts als unbedingt vorführen zu können. Für den Menschen als Vernunftwesen postuliert die praktische Vernunft nach Kant eine in die Ewigkeit fortdauernde moralische Vervollkommnung. In diesem Sinne — als Vernunftwesen, als moralische Existenz — ist der Mensch dem Untergange (durch den natürlichen Tod) entzogen, gleichsam unsterblich. „Dieser unendliche Progressus ist aber nur unter Voraussetzung einer ins Unendliche fortdauernden Existenz und Persönlichkeit desselben vernünftigen Wesens (welche man die Unsterblichkeit der Seele nennt) möglich. Also ist das höchste Gut, praktisch, nur unter der Voraussetzung der Unsterb106

lichkeit der Seele möglich; mithin diese, als unzertrennlich mit dem moralischen Gesetz verbunden, ein Postulat der reinen praktischen Vernunft (worunter ich einen theoretischen, als solchen aber nicht erweislichen Satz verstehe, so fern er einem a priori unbedingt geltenden praktischen Gesetze unzertrennlich anhängt)." 98 Kants praktische Philosophie ist von einem geradezu heroischen Glauben an die moralische Vervollkommnung des Menschen durchzogen, der das Gegenstück zum Vernunftglauben in der theoretischen Philosophie ist. Das Sittengesetz ist für Kant genauso verbindlich wie das Naturgesetz. Deshalb konnte er den Kern seiner Philosophie und die mit ihr verfolgte Absicht in dem Satz niederlegen: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmenden Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt : Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz ' n Beide darf ich nicht in Dunkelheiten verhüllt, oder im Überschwenglichen, außer meinem Gesichtskreise, suchen und bloß vermuten; ich sehe sie vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewußtsein meiner Existenz." 99 V Kants unbedingter Glaube an die moralische Vervollkommnung des Menschen wird besonders in seiner praktischen Ethik augenscheinlich. Diese entwickelt er unter dem Titel „Metaphysik der Sitten" vor allem als Tugend-, Rechts- und Staatslehre, wobei das Sittengesetz die allgemeine. Grundlage seiner Argumentation abgibt. Näher entwickelt Kant seine praktische Ethik als Lehre von den Pflichten. Er unterscheidet die juridischen Pflichten von den ethischen Pflichten. Die Erfüllung der juridischen Pflichten, die Gegenstand der Rechtslehre sind, kann durch äußere Nötigung erzwungen werden, die ethischen Pflichten, Gegenstand der Tugendlehre, unterliegen dagegen dem freien Willen des Menschen. Deshalb nennt Kant das Vermögen des Menschen, den ethischen Pflichten gemäß zu handeln, Tugend. „Tugend ist die Stärke der Maxime des Menschen in Befolgung seiner Pflicht. — Alle Stärke wird nur durch Hindernisse erkannt, die sie überwältigen, kann: bei der Tugend aber sind diese die Naturneigungen, welche mit dem sittlichen Vorsatz in Streit kommen können, und, da der Mensch es selbst ist, der seinen Maximen diese Hindernisse in den Weg legt, so ist die Tugend nicht bloß ein Selbstzwang (denn da könnte eine Naturneigung die andere zu bezwingen trachten), sondern auch ein Zwang nach einem Prinzip der innern Freiheit, mithin durch die bloße Vorstellung seiner Pflicht, nach dem formalen Gesetz derselben.100 Die ethischen Pflichten unterteilt Kant in Pflichten gegen sich selbst (vollkommene Pflichten) und Pflichten gegen andere, die in schuldige und verdienstvolle Pflichten gegliedert werden können. 101 Die Pflichten gegen sich selbst gebieten vor allem Achtung vor sich selber. Ihnen stehen Lüge, Geiz und Kriecherei entgegen. 102 Die Pflichten gegen andere gebieten vor allem Achtung vor dem anderen Menschen. Sie äußern sich in Wohltätigkeit und Dankbarkeit, Mitfreude und 107

Mitleid, teilnehmender Empfindung und Menschenliebe überhaupt, die Kant „eine große moralische Zierde der Welt" nennt.103 Ihnen stehen entgegen der Hochmut, das Afterreden und die Verhöhnung, schließlich Neid, Undankbarkeit und Schadenfreude, welche die „der Menschenliebe gerade entgegengesetzten Laster des Menschenhasses" ausmachen.104 Denn: „Ein jeder Mensch hat rechtmäßigen Anspruch auf Achtung von seinem Nebenmenschen, und wechselseitig ist er dazu auch gegen jeden anderen verbunden. Die Menschheit selbst ist eine Würde; denn der Mensch kann von keinem Menschen (weder von anderen noch so gar von sich selbst) bloß als Mittel, sondern muß jederzeit zugleich als Zweck gebraucht werden und darin besteht eben seine Würde (die Persönlichkeit), dadurch er sich über alle andere Weltwesen, die nicht Menschen sind, und doch gebraucht werden können, mithin über alle Sachen erhebt". Der Mensch „ist verbunden, die Würde der Menschheit an jedem anderen Menschen praktisch anzuerkennen, mithin ruht auf ihm eine Pflicht, die sich auf die jedem anderen Menschen notwendig zu erzeigende Achtung bezieht"105. Kant begründet seine praktische Ethik rein innerweltlich, das heißt ohne Zuhilfenahme religiöser Vorstellungen oder göttlicher Gebote. „In der Ethik, als reiner praktischer Philosophie der inneren Gesetzgebung", so beschließt er die „Metaphysischen Anfangsgründe der Tugendlehre", sind „nur die moralischen Verhältnisse des Menschen gegen den Menschen für uns begreiflich . . . : was aber zwischen Gott und dem Menschen hierüber für ein Verhältnis obwalte, die Grenzen derselben gänzlich übersteigt und uns schlechterdings unbegreiflich ist; wodurch dann bestätigt wird . . . : daß die Ethik sich nicht über die Grenzen der wechselseitigen Menschenpflichten erweitern könne."106 Zu den „wechselseitigen Menschenpflichten" gehören nicht nur die ethischen, sondern ebensosehr die juridischen Pflichten, die von Kant näher in der Rechtsund Staatslehre bestimmt werden. In seiner Staats- und Rechtslehre versucht Kant die rationale Grundlage für alles positive Recht festzulegen. Kants Staatsund Rechtslehre (Rechtsphilosophie) behandelt deshalb nicht, was als Recht jeweils gilt, sondern was als Recht immer und überall gelten soll. Dabei läßt Kant die Rechtspflichten, wie schon die Tugendpflichten, aus der Natur des Menschen als eines Vernunftwesens hervorgehen. Kant begründet das Recht in Übereinstimmung mit dem Naturrecht der Aufklärung auf Vernunftprinzipien. Recht ist nach Kant „der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann"107. Sinn allen Rechtes ist demnach, die Übereinstimmung der Freiheitsansprüche der Individuen zu erzwingen. Dem Wesen des Rechts entsprechend kann es nach Kant Rechte und Rechtspflichten nur zwischen Menschen geben. Kant nimmt also das Recht als eine gesellschaftliche Erscheinung. Er stellt die sozialen Erscheinungen des Eigentums, der Ehe, des Staates usw. als Beziehungen zwischen Individuen dar. Sie sind für Kant Beziehungen zwischen freien Subjekten, und zwar vom Menschen bewußt und freiwillig eingegangene Beziehungen. Damit ist das theoretisch progressive Prinzip 108

der Gesellschaftsauffassung des klassischen Naturrechts in der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie verankert. Recht ist eine Beziehung von freien Personen. Recht ist nicht, was der Staat setzt. Alle rechtlichen, moralischen, politischen Erscheinungen werden von Kant ihres sachlichen Scheins entkleidet. In den Mittelpunkt seiner Betrachtungen rückt er ihre Genesis aus dem freien Vernunftsentschluß des Menschen. Den Gipfelpunkt der praktischen Ethik Kants stellt die Idee vom ewigen Frieden dar. „Die Vernunftidee einer friedlichen, wenn gleich noch nicht freundschaftlichen, durchgängigen Gemeinschaft aller Völker auf Erden, die untereinander in wirksame Verhältnisse kommen können, ist nicht etwa philantropisch (ethisch), sondern ein rechtliches Prinzip."108 Denn „die moralisch-praktische Vernunft in uns [spricht] ihr unwiderstehliches Veto aus: Es soll kein Krieg sein; weder der, welcher zwischen mir und dir im Naturzustande, noch zwischen uns als Staaten, die, obzwar innerlich im gesetzlichen, doch äußerlich (in Verhältnis gegen einander) im gesetzlosen Zustande sind; — denn das ist nicht die Art, wie jedermann sein Recht suchen soll. Also ist nicht mehr die Frage: ob der ewige Friede ein Ding oder Unding sei, und ob wir uns nicht in unserem theoretischen Urteile betrügen, wenn wir das erstere annehmen, sondern wir müssen so handeln, als ob das Ding sei, was vielleicht nicht ist, auf Begründung desselben, und diejenige Konstitution, die uns dazu die tauglichste scheint (vielleicht den Republikanism aller Staaten samt und sonders) hinwirken, um ihn herbei zu führen, und dem heillosen Kriegführen, worauf, als den Hauptzweck, bisher alle Staaten, ohne Ausnahme ihre innere Anstalten gerichtet haben, ein Ende zu machen".109 Die Grundideen der praktischen Philosophie, die Ideen von der Würde des Menschen und vom ewigen Frieden, deuten an, worauf es Kant mit seiner Philosophie insgesamt ankam: „die Rechte der Menschheit herzustellen." 110 VI Das Gegenstück zu Kants Idee vom ewigen Frieden ist seine These vom beständigen Fortschreiten des Menschengeschlechts, die den Grundgedanken seiner Geschichtsphilosophie ausmacht. Kants Geschichtsphilosophie hat zwei Momente zur unabdingbaren Voraussetzung, die sich aus seiner wissenschaftlichen und philosophischen Grundeinstellung unmittelbar herleiten: die Überzeugung, daß es in der Geschichte genauso gesetzmäßig zugehe wie in der Natur, und eben die These, daß sich die Menschheit, ungeachtet aller Rückfälle und Stagnationen, in einem beständigen Fortschreiten zum Besseren befinde. Die Geltung dieser These nimmt Kant für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in Anspruch. In diesem Sinne laufen Kants geschichtsphilosophische Bemühungen darauf hinaus, die Gesetze des beständigen Fortschreitens der Menschheit zu immer höheren Formen zu entdecken. Kant: „Was man sich auch in metaphysischer Absicht für einen Begriff von 109

der Freiheit des Willens machen mag: so sind doch die Erscheinungen desselben, die menschlichen Handlungen, eben so wohl als jede andere Naturbegebenheit, nach allgemeinen Naturgesetzen bestimmt. Die Geschichte, welche sich mit der Erzählung dieser Erscheinungen beschäftigt, so tief auch deren Ursachen verborgen sein mögen, läßt dennoch von sich hoffen: daß, wenn sie das Spiel der Freiheit des menschlichen Willens im großen betrachtet, sie einen regelmäßigen Gang derselben entdecken könne; und daß auf die Art, was an einzelnen Subjekten verwickelt und regellos in die Augen fällt, an der ganzen Gattung doch als eine stetig fortgehende obgleich langsame Entwicklung der ursprünglichen Anlagen derselben werde erkannt werden können." 111 Dabei ist es Kants Überzeugung, „daß der Mensch alles, was über die mechanische Anordnung seines tierischen Daseins geht, gänzlich aus sich selbst herausbringe, und keiner anderen Glückseligkeit, oder Vollkommenheit, teilhaftig werde, als die er sich selbst, frei von Instinkt, durch eigene Vernunft, verschafft hat". 112 Die Grundlage allen Fortschritts in der Geschichte ist für Kant „der Antagonism . . . in der Gesellschaft, so fern dieser doch am Ende die Ursache einer gesetzmäßigen Ordnung derselben wird". Zur Erklärung dieses Satzes fügt Kant an: „Ich verstehe unter dem Antagonism die ungesellige Geselligkeit der Menschen; d. i. den Hang derselben, in Gesellschaft zu treten, der doch mit einem durchgängigen Widerstande, welcher diese Gesellschaft beständig zu trennen droht, verbunden ist. Hiezu liegt die Anlage offenbar in der menschlichen Natur. Der Mensch hat eine Neigung, sich zu vergesellschaften-, weil er in einem solchen Zustande sich mehr als Mensch, d. i. die Entwickelung seiner Naturanlagen, fühlt. Er hat aber auch einen großen Hang, sich zu verein^elnen (isolieren); weil er in sich zugleich die ungesellige Eigenschaft antrifft, alles bloß nach seinem Sinne richten zu wollen, und daher allerwärts Widerstand erwartet, so wie er von selbst weiß, daß er seiner Seits zum Widerstande gegen andere geneigt ist." 113 In Kants Geschichtsphilosophie begegnen wir denselben humanistischen Anliegen, die seine praktische Philosophie insgesamt durchziehen. Kant strebt eine allgemeine Moralisierung (Höherentwicklung, Vervollkommnung) der Menschheit an — die Gesellschaft soll ein „moralisches Ganzes" werden. Dabei ist der Prozeß der Moralisierung der Menschheit höher anzusetzen als alle Kultivierung und Zivilisierung des Menschen. Mit anderen Worten: Kant will mit seinen Bemühungen der Vernunft in allen Bereichen des menschlichen Lebens zum Durchbruch verhelfen, um sie zur schließlichen Herrschaft gelangen zu lassen. Das wirksamste Mittel zur Moralisierung der Menschheit sieht Kant in der Aufklärung: „ A u f k l ä r u n g ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung." 114 Und Kant fügt hinzu: „Zu dieser 110

Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit-, und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlich Gebrauch zu machen." 115 Kant wußte, daß seine geschichtsphilosophischen Gedanken eher Hypothesen und praktisch-moralische Aufforderungen waren als wissenschaftlich begründete und durch die Erfahrung bestätigte, aus dem empirischen Verlauf der Geschichte selbst gewonnene Aussagen. Insofern suchte er in der Weltgeschichte nach Begebenheiten und Zeugnissen, die seine geschichtsphilosophischen Ansichten beweisen könnten. In seinem hohen Alter gelangte er zu der Überzeugung, daß aus der jüngsten Geschichte zumindest ein Ereignis angeführt werden kann, das die These vom beständigen Fortschreiten des Menschengeschlechts und damit seine geschichtsphilosophische Grundeinsicht glänzend und unwiderlegbar bestätigte: die Französische Revolution. In seinem letzten Werk, im „Streit der Fakultäten", nennt er die Französische Revolution „eine Begebenheit. . ., welche [die] moralische Tendenz des Menschengeschlechts beweiset" 116 . Damit schließt sich der Kreis. Kants Altersbekenntnis zur Französischen Revolution ist kein Zufall. Es markiert noch einmal die Problematik seiner Philosophie, hält ihren Ausgangs- und Zielpunkt fest. Denn Kants Stellungnahme zur Französischen Revolution steht im Einklang mit den Grundprinzipien seiner Philosophie und weist über diese zugleich hinaus. Sein Bestreben, die Autonomie des Subjekts, nämlich Freiheit und Würde des Menschen, theoretisch fest zu begründen, das heißt gegen alle nur denkbaren Einwände, insbesondere gegen solche des englischen Empirismus, führt auf das Grundproblem der Epoche: den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus. Indem Kant in seiner Philosophie dieses gesellschaftlich-historische Anliegen der Zeit als Totalität reflektiert, konnte diese — wie Marx bemerkt — zur „deutseben Theorie der Französischen Revolution" werden.117 In der Tat gelingt es Kant, eine dem deutschen Bürgertum seiner Zeit adäquate Freiheitslehre zu entwickeln. „Die charakteristische Form, die der auf wirklichen Klasseninteressen beruhende französische Liberalismus in Deutschland annahm, finden wir bei K a n t . . . , [der] die materiell motivierten Bestimmungen des Willens der französischen Bourgeoisie zu reinen Selbstbestimmungen des ,freien Willens', des Willens an und für sich" macht.118 Das heißt, Kant, der, beeinflußt von der französischen Aufklärung (Rousseau) und in Übereinstimmung mit der gesamten europäischen Aufklärungsbewegung, in seiner praktischen Philosophie die Frage: Ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei? betont humanistisch und ohne jede Einschränkung bejahend beantwortet, sieht die Realisierung der von ihm ausgesprochenen bürgerlichen Forderungen nicht in veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen, sondern lediglich im geistigen Fortschritt. Die von ihm vertretenen und im Sinne der aufstrebenden Bourgeoisie theoretisch gerechtfertigten und begründeten Ideen der Freiheit, der Gleichheit und der Gerechtigkeit, der menschlichen Würde, des ewigen Friedens usw. sind im Rahmen seiner Philosophie vom Menschengeschlecht zwar ständig anzustre111

bende Ideen, aber nie ganz zu verwirklichende Zustände. Sie sind Forderungen im Sinne von bloßen Postulaten. Dennoch hat Kant die in der praktischen auf der Grundlage der theoretischen Philosophie entwickelten progressiven bürgerlichen Ideen als unabdingbare humanistische Forderungen der Existenz des weiteren Fortschritts des gesamten Menschengeschlechts hingestellt. Die von ihm am Schluß des achten Satzes der „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" ausgesprochene Hoffnung, „daß, nach manchen Revolutionen der Umbildung, endlich das, was die Natur zur höchsten Absicht hat, ein allgemeiner weltbürgerlicber Zustand, als Schoß, worin alle ursprünglichen Anlagen der Menschengattung entwickelt werden, dereinst einmal zustande kommen werde"119, ist der Punkt, an dem Fichte die Wahrheit des Erbes Kants suchen wird.120

Geschichte und Gesellschaft als Ort der Bewährung des Menschen: Johann Gottlieb Fichte

I Johann Gottlieb Fichte gehört zu den hervorragendsten Denkern, die das deutsche Bürgertum in seiner progressiven Entwicklung hervorgebracht hat. Seine Geburt fällt mit zwei historischen Ereignissen in eins, die — sieht man sie als Momente des geschichtlichen Gesamtprozesses — symbolisch für seine Entwicklung sind. Er ist 1762 geboren. Im gleichen Jahr erscheint Rousseaus Contrat social, und der Siebenjährige Krieg geht seinem Ende entgegen. Die Ideen vom Gesellschaftsvertrag werden das Denken Fichtes weitgehend beeinflussen, ihre praktische Manifestation im Jakobinerstaat wird seine durch sie bestimmte revolutionär-demokratische Überzeugung festigen. Doch der unter dem Einfluß Rousseaus und der Folgen kühn anhebende Gedankenflug der Philosophen wird durch jene „deutschen Zustände" und ihre ideologischen Verklärungen beschnitten werden, in deren Rahmen der Siebenjährige Krieg nur Ereignis einer Kette historischer Anachronismen der deutschen Geschichte des 18. Jahrhunderts ist. Fichte wurde am 19. Mai 1762 als Kind armer Eltern in Rammenau bei Bischofswerda geboren. Not und Elend stehen an seiner Wiege und begleiten mehr oder minder seinen ferneren Lebensweg bis zu seinem Tode am 29. Januar 1814. Sein Leben ist ausgefüllt von Kämpfen und Auseinandersetzungen mit der feudalen Reaktion. Durch einen Zufall den Bildungsmöglichkeiten seiner Zeit zugeführt, überschreitet er bald deren Schranken und entwickelt sich zu einem der bedeutendsten deutschen Denker am Ausgang des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts. Im philosophischen Dreigestirn der deutschen Klassik steht er in der Mitte: Seine Philosophie ruht in hohem Maße auf den Schultern Kants und leitet zu Hegel über. Fichtes Wirken fällt in eine Zeit, in der entscheidende Veränderungen innerhalb des europäischen Kräfteverhältnisses zwischen Feudalismus und Kapitalismus vor sich gehen. Fichte ist auf der einen Seite Zeuge der revolutionären Umwälzung in Frankreich, auf der anderen Seite aber ein Kind der „deutschen Zustände", die Engels in dem Satz zusammenfaßte: „Das ganze Land war eine lebende Masse von Fäulnis und abstoßendem Verfall." 1 In Fichtes Werk treten beide Seiten in Erscheinung. Es erfaßt einmal die Problematik der bürgerlichen Gesellschaft auf einer bestimmten Stufe ihrer Herausbildung unter dem Eindruck ihrer klassischen Revolution, zum anderen widerspiegelt es diese Problematik unter den 8 Buhr

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Bedingungen der deutschen anachronistischen gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Folge hiervon ist, daß, wie Marx bemerkte, die klassischen bürgerlichen deutschen Philosophen — darunter auch Fichte — nicht erkannten, daß ihren theoretischen Gedanken materielle Interessen zugrunde lagen. 2 Die Widersprüche, Inkonsequenzen, die idealistischen Verstiegenheiten und pessimistischen Stellen im Werk Fichtes sind Erscheinungen dieser Tatsache. Diesen Seiten stehen in Fichtes Werk vorwärtsweisende und zukunftsträchtige Aussagen, Erkenntnisse und Forderungen gegenüber. Zu dem progressiven Grundgehalt des Fichteschen Denkens findet man den Zugang — in Übereinstimmung mit der tatsächlichen Gedankenentwicklung Fichtes — von der gesellschaftlich-historischen Grundproblematik der Zeit her, der die Französische Revolution ihren stärksten Ausdruck verlieh. Der Prozeß des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus war das gesellschaftliche Grundproblem der Epoche, in der Fichte lebte. Fichte gehört zu denjenigen deutschen Denkern, die diesen Prozeß als das Grundproblem der Zeit erkannten und von diesem in ihrem Schaffen ausgingen. 3 Darauf beruht seine Größe. Aber Fichte war in seinem Schaffen zugleich abhängig von gesellschaftlichen und sozialen Bedingungen sowie von geistigen Traditionen, die der durch die Französische Revolution erreichten Entwicklungsetappe der bürgerlichen Gesellschaft bei weitem nicht entsprachen: den „deutschen Zuständen". E s ist der Widerspruch zwischen der nationalen und internationalen Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft selber, der Fichtes Werk immanent ist. Aus diesem sind sowohl dessen positive Errungenschaften sowie seine negativen Momente zu erklären. Eine Betrachtung des Werkes von Fichte hat deshalb nicht bei der „öden und stets öderen Zerfahrenheit" der Entwicklung im Deutschland der Zeit anzusetzen, sondern bei der „objektiven Logik" des Prozesses des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus in Frankreich 4 , von der der Philosoph selber ausging, deren Sinn er zu erfassen versuchte und unter deren Blickwinkel er die von historischen Anachronismen durchzogene deutsche Wirklichkeit seiner Zeit kritisch betrachtete. Was für Fichte gilt, ist der gesamten klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie eigen. Die klassische bürgerliche deutsche Philosophie ist undenkbar ohne die fruchtbare Auseinandersetzung mit dem französischen Vorbild. Ihre Beziehungen zu diesem sind eines ihrer tragenden und herrschenden Motive, und deren Kenntnis ist für ihr Verständnis und ihre Erklärung unabdingbar. Die Verfälschung der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie durch die bürgerliche Geschichtsschreibung begann seit jeher mit der Leugnung oder Verniedlichung dieser Beziehungen. Insofern die klassischen bürgerlichen Denker sich dieses Zusammenhangs bewußt waren, befanden sie sich im Einklang mit dem historischen Prozeß. In einem hervorragenden Maße trifft das für Fichte zu. Fichte vertritt mit seinem Denken die Interessen der fortgeschrittenen Klassenfraktionen des deutschen Bürgertums seiner Zeit, besonders die des demokratischen Kleinbürgertums, und darüber hinaus die von plebejisch-bäuerlichen 114

Schichten des Volkes, denen er entstammte. Diese Interessen spricht Fichte im Rahmen eines subjektiv-idealistischen philosophischen Systems aus. Trotzdem kommt in seinem Denken ein realistischer Zug zur Geltung. Diese nicht ohne weiteres einleuchtende Tatsache resultiert daraus, daß Fichtes Denken tief im historischen Prozeß der Zeit, der in der Französischen Revolution und ihren Auswirkungen auf die europäischen Staaten seinen Gipfel erreichte, wurzelt, diesem verbunden bleibt und auf diesen im Sinne einer Umgestaltung der in Deutschland vorhandenen feudal-absolutistischen Gesellschaftszustände abzielt. Fichtes Denken und Wirken ist so eingebettet in die geschichtliche Bewegung. Diese ist es, die seine Philosophie und seine Handlungen in erster Linie bestimmt und seine Persönlichkeit vornehmlich formt. Die Philosophie Fichtes hatte ihre Schicksale und war nicht selten Mißverständnissen ausgesetzt. Zunächst wurden die subjektiv-idealistischen Überspitzungen seiner Lehre immer wieder als Hauptsache und Ausgangspunkt der Interpretation gesetzt, obwohl sie Folge eines Versuchs — freilich eines von vornherein zum Scheitern verurteilten Versuchs — waren, dem Menschen im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft ein menschenwürdiges Dasein zu garantieren. Es wurden weiter die Illusionen, denen Fichte im Verlaufe seiner Entwicklung unterlegen ist, zum Gegenstand der bloßen Kritik und des Spottes gemacht, obwohl sie ideologisch verbrämte Verhüllungen unfertiger, historisch-anachronistischer Zustände sind. Und da wurden schließlich die Eigenheiten und Eigenwilligkeiten der Persönlichkeit Fichtes zum Anlaß psychologisierender Betrachtungen genommen, obwohl sie, indem sie von Fichte als allgemeinmenschliche Normen gesetzt wurden, auf den in der bürgerlichen Gesellschaft nicht zu lösenden Widerspruch von Citoyen und Staatsbürger hindeuten. An den Mißverständnissen scheint Fichte selbst die Schuld zu haben. Über weite Strecken ist das sicher so. Aber ein Blick in die überkommene Fichte-Literatur zeigt, daß diese Mißverständnisse nicht auf ihre Voraussetzungen zurückgeführt und von da aus erklärt, sondern als Tatbestände angesehen worden sind. Das resultiert daraus, daß vorwiegend versucht wurde, Fichte aus der Geschichte der Philosophie, d. h. aus der bloßen geistigen Bewegung der Zeit zu erklären. Im Unterschied zu einem solchen Vorgehen wird hier der Versuch unternommen, Fichte nicht aus der Geschichte der Philosophie, sondern aus der Geschichte zu erklären. Dabei werden die für Fichtes Entwicklung bedeutungsvollen philosophiehistorischen Momente, etwa der Einfluß Kants, von uns durchaus nicht in Abrede gestellt. Aber sie werden nicht als allein maßgeblich für die Entstehung, Entwicklung und Entfaltung der Fichteschen Philosophie betrachtet. Die energische Hinwendung zur Geschichte ist im Falle Fichte deshalb geboten, weil seine Philosophie ein Moment des historischen Prozesses ist, weil sie die Theoretisierung eines geschichtlichen Bewußtseins darstellt, wie Hegel einmal treffend bemerkte. Dieses Moment ist dem Denken Fichtes weitaus stärker eigen als den Philosophien Kants oder Hegels. Fichtes Bemühungen laufen in letzter Instanz darauf hinaus, von der Spekulation über das absolute Ich einen Übergang 8*

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zum handelnden Ich, das sich in der Welt der Erscheinungen entfalten und bewähren soll, zu finden. Was unsere Arbeit zu geben beabsichtigt, sind Ansätze eines marxistischen Fichte-Bildes. Wir haben die Ausführung des Themas auf Fichtes Entwicklung bis zur Jahrhundertwende beschränkt. Weiteren Forschungen muß es vorbehalten bleiben, die von uns herausgearbeiteten Beziehungen in Fichtes späterer Entwicklung sichtbar und in einer Gesamtdarstellung des Denkens und Wirkens des Philosophen augenscheinlich werden zu lassen. Insofern die Fichtesche Philosophie vornehmlich von der Geschichte her zu erklären ist, war es gegeben, zunächst ihr Verhältnis zu dem historischen Ereignis der Zeit, der Französischen Revolution, zu untersuchen. II Von Fichte ist behauptet worden, daß er „nur zur Hälfte Philosoph, zur anderen vielleicht größeren Hälfte opponierender Charakter" gewesen sei.5 In der Tat: Denken und Handeln sind für Fichte nur zwei Aspekte einer im Grunde identischen Sache, wobei für ihn das Handeln in letzter Instanz die Voraussetzung und den Zielpunkt alles Erkennens darstellt. Es ist daher kaum möglich, von dem Denker Fichte ein richtiges Bild zu entwerfen, ohne den Menschen Fichte mit zu berücksichtigen. Immer schwingt in Fichtes Denken, auch dort, wo es sich auf der Höhe äußerster Abstraktion befindet, sich anscheinend im Reich reiner Gedanken bewegt, der Charakter und damit das revolutionäre Zeitalter Fichtes mit, das diesen prägte und exponierte. „Ich verzweifle fast", gestand Heinrich Heine, „von der Bedeutung dieses Mannes einen richtigen Begriff geben zu können. Bei Kant hatten wir nur ein Buch zu betrachten. Hier aber kommt außer dem Buche auch ein Mann in Betrachtung, in diesem Manne sind Gedanke und Gesinnung eins, und in solcher großartigen Einheit wirken sie auf die Mitwelt. Wir haben daher nicht bloß eine Philosophie zu erörtern, sondern auch einen Charakter, durch den sie gleichsam bedingt wird." 6 Zweifellos gehört Fichte zu den ganz wenigen deutschen bürgerlichen Ideologen am Ausgang des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts, für die Gedanke und Gesinnung, Denken und Handeln eins waren. Nicht in der bloßen Reflexion, sondern im tätigen Denken, im vom tätigen Denken her bestimmten Handeln sieht Fichte Aufgabe und Sendung seiner selbst und jedes vernunftbegabten Wesens: „Handeln! Handeln! das ist es, wozu wir da sind" — so lautet seine erste Maxime, der er zeit seines Lebens die Treue halten wird und deren Kenntnis gleichsam die Voraussetzung für das Verständnis von Fichtes Werk und Wirken ist. Noch 1812 wird Fichte in seinen Vorlesungen an der Berliner Universität 7 als Wesen und Aufgabe der Philosophie nicht die „trockne Spekulation", sondern die Einwirkung auf die Welt vorstellen. „Die Philosophie ist nicht trockne 116

Spekulation, und Kramen in leeren Formeln,. . . sondern sie ist die Umschaffung, Wiedergeburt und Erneuerung des Geistes in seiner tiefsten Wurzel: die Einsetzung eines neuen Organs, und aus ihm einer neuen Welt in die Zeit." 8 Gewiß, die Beziehungen sind hier idealistisch verkehrt. Der eigentliche Ausgangspunkt wird als Folge gesetzt, der Geist zum Schöpfer „einer neuen Welt" gemacht. Allein das Grundmotiv von Fichtes Denken, sich mit der gegebenen Wirklichkeit nicht abzufinden, sondern umgestaltend auf sie einzuwirken, ist auch in seiner letzten Schaffensperiode gegenwärtig. Bereits 1790 schrieb Fichte an seine Braut: „Den Stand des Gelehrten kenne ich; ich habe da wenig neue Entdeckungen zu machen. Ich selbst habe zu einem Gelehrten von Métier so wenig Geschick als möglich. Ich will nicht bloß denken. Ich will handeln . . . Ich habe nur eine Leidenschaft, nur ein Bedürfnis, nur ein volles Gefühl meiner Selbst, das: außer mir zu wirken. Je mehr ich tue, je glücklicher scheine ich mir." 9 Zwischen diesem Bekenntnis und der Feststellung über Wesen und Aufgabe der Philosophie aus dem Jahre 1812 ist in Richtung und Absicht von Fichtes eigentlichem Bestreben kein Unterschied vorhanden. Der 1790 angeschlagene Ton bleibt erhalten. Zugleich ist augenscheinlich der Widerspruch zwischen Fichtes ehrlichem Wollen, nämlich mit Hilfe seiner Philosophie und durch sie zu ändern und zu verändern, und den von ihm ersonnenen unzureichenden philosophischen Prinzipien als Ausgangspunkt des Änderns und Veränderns. Diesen Widerspruch hat Fichte nie zu lösen vermocht. Allein, es gehört zu den großartigsten Seiten seiner Persönlichkeit, sein Denken und Tun dennoch nicht der elenden politischen und sozialen Wirklichkeit seiner Zeit angeglichen, sondern dieser Wirklichkeit und den sie ausmachenden dunklen Gewalten den Kampf angesagt zu haben. Diese Haltung Fichtes führt darüber hinaus zum Kern seiner Philosophie. Die Problematik von Denken und Handeln, von Spekulation und Tun durchzieht wie ein roter Faden sein gesamtes Werk. Fichte sucht ständig nach neuen Ansätzen, nach immer neuen Zugängen, sein Denken zu verwirklichen. Besonders in der „praktischen Philosophie" Fichtes ist das ganz deutlich sichtbar, und insofern ist der „praktische Teil" seiner Philosophie von zentraler Bedeutung für ihre Gesamteinschätzung. Die Knotenpunkte der Entwicklung der Fichteschen Philosophie sind deshalb zunächst weniger die zahlreichen — veröffentlichten und leider zum Teil noch immer unveröffentlichten — Darstellungen der Wissenschaftslehre 10 , sondern die geschichtsphilosophisch-rechtsphilosophischen Werke im weiteren Sinne und die politischen Dokumente. Jene Werke und Dokumente also, in denen Fichte zu den hervorragenden gesellschaftlich-historischen Ereignissen seiner Zeit Stellung nimmt und in denen er diese philosophisch zu durchdringen und zu verallgemeinern sucht: der „Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die Französische Revolution" (1793) 11 , die „Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre" (1796), insbesondere ihr zweiter Teil 12 , „Der geschlossene Handelsstaat" (1800) 13 , die Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten (1794, 1805, 1811)14, die Rezension zu Kants 117

Schrift „Zum ewigen Frieden" (1796), die Universitätspläne 15 , die „Reden an die deutsche Nation" (1808)16, das Gespräch „Der Patriotismus, und sein Gegenteil" ( 1 8 0 7 ) d a s Nachlaßstück „Die Republik der Deutschen" (1806/07)18, schließlich die Vorlesung „Über den Begriff des wahrhaften Krieges" (1813) 19 und der Vortrag bei Abbrechung der Vorlesungen über die Wissenschaftslehre (1813) 20 . Diese im weiteren Sinne geschichtsphilosophisch-rechtsphilosophischen Werke und politischen Dokumente sind es vornehmlich, die die Knotenpunkte der Fichteschen Entwicklung repräsentieren. Von ihnen aus sind die jeweiligen Neuformulierungen der Wissenschaftslehre anzugehen, ihre Wandlungen sind von diesen her zu begreifen. Sie sind Zeugnisse jener historisch ereignisreichen Zeit, in die Fichte hineingeboren wurde, und sie stellen als solche die philosophische Durchdringung und Verarbeitung des revolutionären Zeitalters dar, in dem Fichte wirkte. Nur wenn der Zusammenhang, und zwar der unmittelbare Zusammenhang, zwischen diesen Werken und den verschiedenen Entwürfen der Wissenschaftslehre gewahrt bleibt, wird man zum eigentlichen Wesen von Fichtes Philosophie vordringen können. Denn Fichtes fortlaufende Bemühungen um eine immer bessere Ausgestaltung der Wissenschaftslehre sind nichts anderes als der ständig erneuerte Versuch, sein Denken in der gesellschaftlichen Praxis fruchtbar zu machen. Jene Erfahrungen, die Fichte als Universitätslehrer, freier Schriftsteller und Redner sowie bei der Anwendung der Prinzipien der Wissenschaftslehre auf die praktischen Bereiche der Philosophie (Recht, Moral, wirtschafts- und sozialpolitische Fragen) gewann, werden von ihm dabei im Hinblick darauf berücksichtigt, einen erfolgversprechenden theoretischen Ansatz zur Verwirklichung seiner Philosophie zu finden. Handeln ist so für Fichte die Grundvoraussetzung jedes wahrhaften Philosophierens, und zwar dergestalt, daß das Handeln der spekulativen Beschäftigung voranzugehen hat und diese auf das Handeln bezogen wird und bleibt und zu ihm hinstrebt. Deshalb hat Fichte die Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten an jeder Universität vorgetragen, an der er wirkte, in Jena, in Erlangen und in Berlin. Deshalb bemühte er sich, seine Philosophie nicht nur in einem abstrakten Gewände, sondern auch in allgemeinverständlichen und populären Schriften, wie etwa in der „Bestimmung des Menschen", auszuführen, mit dem Ziel, einen möglichst breiten Publikumskreis anzusprechen und zu gewinnen. 21 Kuno Fischer leitet seine Fichte-Darstellung durchaus richtig mit der Feststellung ein: „Fichte ist unter den Philosophen der neuen Zeit eine Charaktererscheinung einzig in ihrer Art, denn es vereinigen sich in ihm zwei Faktoren, die sonst einander abstoßen: die nach innen gekehrte Liebe zur Spekulation und ein feuriger, auf den Schauplatz der Welt gerichteter Tatendurst." 22 Nun brauchen diese „Faktoren" durchaus keine Gegensätze zu sein. Im Gegenteil. In der Geschichte sind jene Denker als um.so größer anzusehen, bei denen beide „Faktoren"eine Einheit bilden oder von denen der Versuch unternommen wurde, diese zu vereinigen. Fichtes Werk und Wirken war ein großangelegter, wenn auch 118

mißlungener Versuch, beide „Faktoren" zur Einheit werden zu lassen, wobei die v o n Fischer getroffene Feststellung, daß Fichte einer „nach innen gekehrten Liebe zur Spekulation" anhing, nur zum Teil richtig ist. Fichtes Ideal war es, Spekulation und Handeln in Einklang zu sehen. U n d wenn es die historische Situation erforderte, der Spekulation das Nachsehen zu geben, dann war Fichte sofort bereit, auf sie Verzicht zu tun, um so dem Z u g der Zeit, der ein unmittelbar praktisches Handeln erforderte, ganz zu gehorchen. E s darf nicht sein, so schärft Fichte seinen Studenten bei Abbruch seiner Vorlesungen über die Wissenschaftslehre am 19. Februar 1813 ein, „daß jeder ohne Ausnahme nur als Massenkraft wirke; es gibt ja da so viele andere Geschäfte; nur dies scheint gefordert zu werden, daß jeder, mit Beiseitsetzung weit aussehender Zwecke, seine K r ä f t e dem dargebotenen großen Momente widme, zu jedem, wozu sie in diesem Momente am tauglichsten sind" 2 3 . Und Fichte fährt fort: „ E m s t h a f t e und tiefe Beschäftigung mit der Wissenschaft bedarf der Ruhe, der äußeren, in den Umgebungen, der inneren in den Gemütern. Bis jetzt ist es mir für meine Person gelungen, die letztere über mich zu erhalten. Sie werden es nicht als Tadel ansehen — wie unbillig wäre dieser! — sondern bloß als Geschichtserklärung . . ., daß sie durch alle die Bewegungen, die in uns vorgegangen sind, in den letzten Stunden doch einige Male ein wenig unterbrochen worden ist. In der Zukunft, nachdem so viele unserer geliebten Freunde und Bekannten abgegangen sind, . . . nachdem auf alle Fälle entscheidende V o r g ä n g e vorfallen müssen, . . . wie könnten wir die zu dieser Abstraktion der Wissenschaftslehre nötige Fassung behalten? Ich selbst wenigstens . . . traue es mir nicht zu. Dies ist die entscheidende Betrachtung, die mir den schweren Entschluß abgenötigt hat, dermalen diese Betrachtung zu unterbrechen. Schon einmal, im Jahre 1806, bin ich durch den K r i e g genötigt worden, eine sehr glückliche Bearbeitung der Wissenschaftslehre abzubrechen. — Jetzt hatte ich von neuem eine Klarheit errungen, wie noch nie, und ich hoffte diese in der Mitteilung an Sie . . . zur allgemeinen Mitteilbarkeit zu erheben. E s tut mir weh, diese Hoffnungen weiter hinauszuschieben. Aber wir müssen alle der Notwendigkeit gehorchen, und dieser muß denn auch ich mich f ü g e n . " 2 4 S o hielt es Fichte immer. Wenn es die historische Stunde erforderte, „seine K r ä f t e dem dargebotenen großen Momente" zu widmen, war er bereit, auf jede spekulative Beschäftigung zu verzichten. „ D i e Philosophie wirkt", so stellt Fichte in anderer Beziehung fest, „auf unsere praktische Gesinnung, auf Übereinstimmung mit uns selbst im Denken und Hand e l n . " 2 5 Und im Zusammenhang mit dem „Atheismusstreit" wirft er einmal die Frage auf: „Was soll denn nun die Philosophie und wozu bedarf es der spitzfindigen Zurüstungen derselben, wenn sie gesteht, daß sie für das Leben nichts Neues sagen, ja dasselbe nicht einmal als Instrument bilden kann, daß sie nur Wissenslehre, keineswegs Weisheitsschule ist?", u m zu antworten: „Ihr Hauptnutzen . . . ist negativ und kritisch . . . Mittelbar, d. i. inwiefern ihre Kenntnis mit der Kenntnis des Lebens sich vereinigt, hat sie aber auch einen positiven Nutzen: sie ist für das unmittelbar Praktische pädagogisch in weitester Bedeutung

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dieses Worts. Sie zeigt aus den höchsten Gründen, eben weil sie den ganzen Menschen begreifen lehrt, wie man die Menschen bilden müsse, um moralische und religiöse Gesinnungen auf die Dauer in ihnen zu bilden und nach und nach allgemein zu machen . . . Ihr Einfluß auf die Gesinnung des Menschengeschlechts überhaupt aber ist darin zu finden, daß sie ihm Kraft, Mut und Selbstvertrauen beibringt, indem sie zeigt, daß es und sein ganzes Schicksal lediglich von ihm selbst abhange, — indem sie den Menschen auf seine eigenen Füße stellt." 26 Zu dieser Auffassung der Philosophie, als einer auf praktische Obliegenheiten hinführenden wissenschaftlichen Disziplin, gesellt sich Fichtes Drang, seinen „Platz in der Menschheit durch Taten zu bezahlen", wie er in jungen Jahren einmal an seineBraut schrieb. „Ich habe große, glühende Projekte, — nicht für mich . .. Mein Stolz ist der, meinen Platz in der Menschheit durch Taten zu bezahlen, an meine Existenz in die Ewigkeit hinaus für die Menschheit, und die ganze Geisterwelt Folgen zu knüpfen: ob ich's tat, braucht keiner zu wissen, wenn es nur geschieht."27 Solchen und ähnlichen Formulierungen begegnen wir immer wieder in Fichtes Werken und Briefwechsel. „Ich wünschte zu wirken, so viel ich nur irgend konnte" 28 , heißt es ein anderes Mal, und 1798 bekennt Fichte in einem Brief an Franz Wilhelm Jung: „Ich möchte wirken, so lange ich es vermag, durch Wort und Schrift: dies ist der Zweck meines Lebens. Wo ich den besseren Wirkungskreis finde, da bin ich am liebsten." 29 Aus diesen Zeugnissen, die beliebig vermehrt werden könnten, spricht eine Persönlichkeit, für die Denken nicht nur Spekulation, sondern Voraussetzung und Folge praktischer Tätigkeit sein soll. Freilich, in letzter Instanz unterliegt Fichte der Spekulation, verfällt er ihr, auch dort, wo er sich am praktischsten dünkt, wo der Anlaß seiner Ausführungen unmittelbare historische Begebenheiten sind, wie etwa in den „Reden an die deutsche Nation" — doch ist dies kein Beweis dafür, daß Fichte seinem Wollen je untreu geworden wäre, sondern dafür, daß der Ansatzpunkt seines Denkens und damit der Ausgangspunkt seines Wirkens ein verkehrter war. Die Geschichte brach nicht den Stab über die zu Handlungen drängende Persönlichkeit Fichte, sondern über die von ihr entwickelte subjektiv-idealistische Philosophie. Die für Fichte charakteristische, auf praktische Wirksamkeit ausgehende Haltung wird besonders an einem Vergleich mit Kant deutlich. Während in Fichtes akademischer Tätigkeit die Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten immer wiederkehren und so gleichsam den Tenor seiner Wirksamkeit an der Universität ausmachen, ist Gleiches bei Kant mit den Vorlesungen über physische Geographie der Fall. Fichte identifizierte sich mit jedem seiner Werke, ja, jedem seiner Worte, er betrachtete jeden Angriff auf seine Schriften als gegen seine Person gerichtet, er kämpfte, stritt und — wenn es sein mußte — litt für sein geschriebenes und gesprochenes Wort, besonders, wenn der Angriff auf dieses von den staatlichen Gewalten geführt wurde, wie sein Verhalten in dem von der feudal-klerikalen Reaktion in Szene gesetzten „Atheismusstreit" nachdrücklich unterstreicht. 120

Kant betrachtete dagegen seine Werke als bloße literarische Produkte, auf die man verzichten kann, wenn die Obrigkeit es verlangt. Kant resignierte in der Regel. Ein Angriff auf seine Anschauungen von Seiten der staatlichen Gewalten veranlaßte ihn immer zum Nachgeben. Seine Reaktion auf das königliche Handschreiben vom 1. Oktober 1794 zeigt dies sehr deutlich. Dieses Handschreiben machte Kant zum Vorwurf, seine Philosophie „zur Entstellung und Herabwürdigung mancher Haupt- und Grundlehren der Heiligen Schrift und des Christentums mißbraucht" zu haben, und befahl, sich künftighin nichts dergleichen zuschulden kommen zu lassen. Der Anlaß zu diesem Schreiben war die gegenüber der „Kritik der reinen Vernunft" mehr als zahme, kompromißlerische Schrift „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" von 1793.30 Kant wich zurück. Seine Haltung gibt eindrucksvoll eine im Zusammenhang mit dem königlichen Handschreiben gemachte Notiz wieder. Kant vermerkte: „Widerruf und Verleugnung seiner inneren Überzeugung ist niederträchtig; aber Schweigen in einem Fall wie der gegenwärtige, ist Untertanenpflicht; und wenn alles, was man sagt, wahr sein muß, so ist darum nicht auch Pflicht, alle Wahrheit öffentlich zu sagen." 31 Noch mehr Aufschluß gibt ein Brief Kants aus dieser Zeit. In ihm heißt es: „Wenn die Starken in der Welt im Zustande eines Rausches sind, er mag nun von einem Hauche der Götter oder einer Mufette herrühren, so ist einem Pygmäen, dem seine Haut lieb ist, zu raten, daß er sich ja nicht in ihren Streit mische, sollte es auch durch die gelindesten und ehrfurchtsvollsten Zureden geschehen; am meisten deswegen, weil er von diesen doch gar nicht gehört, von andern aber, die die Zuträger sind, mißgedeutet werden würde . . . Und auf den gemeinen Haufen? Das wäre verlorene, ja wohl gar zum Schaden desselben verwandte Arbeit. In diesem Reste eines halben Lebens ist es Alten wohl zu raten das ,non defensoribus istis tempus eget' und sein Kräftemaß in Betrachtung zu ziehen, welches beinahe keinen anderen Wunsch, als den der Ruhe und des Friedens übrig läßt." 32 Soweit Kant. Der Zug des Philosophen zur Resignation und Kompromißbereitschaft ist offensichtlich. Resignation und Kompromißbereitschaft sind in der Tat ein Grundzug von Kants Charakter, aber auch seiner Philosophie.33 Es ist dies ein Punkt der Kantschen Philosophie, den Fichte als eine ihrer Schwächen schnell erfaßt hat. Fichte versucht denn auch, die „kritische Philosophie" von dieser Schwäche zu befreien, sie aus dem Gebiet der Spekulation, in dem sie bei Kant selber vornehmlich verblieb, wegzuführen und in das Gebiet praktischer Handlungen hinüberzuleiten. Fichte hat sich deutlich darüber ausgesprochen, wie er zu seiner Auslegung der Philosophie Kants gekommen ist. Als er durch einen Zufall mit der Lehre Kants 1790 bekannt wurde, nahm er diese sofort an. Es war der Versuch Kants, die Freiheit des Willens theoretisch zu begründen, der Fichte mit Begeisterung erfüllte, und zwar deshalb, weil er glaubte, aus der Kantschen Freiheitslehre soziale Schlußfolgerungen ziehen zu können.34 „Es ist mir sehr einleuchtend"', stellt er in einem Brief an Achilles fest, „daß aus dem . . . Satz der Notwendigkeit aller 121

menschlichen Handlungen sehr schädliche Folgen für die Gesellschaft fließen, daß das große Sittenverderben der sogenannten besseren Stände größtenteils aus dieser Quelle entsteht." Und zusammenfassend erklärt Fichte dann: „Da ich das außer mir nicht ändern konnte, so beschloß ich, das in mir zu ändern."35 Fichte wollte die gesellschaftlich-sozialen Verhältnisse seiner Zeit umgestalten, indem er das Bewußtsein der Menschen zu verändern trachtete. Das Fehlen realer gesellschaftlicher Kräfte, die eine Veränderung der feudal-absolutistischen Verhältnisse durch revolutionäre Aktionen in Deutschland hätten durchsetzen können, verführte Fichte dazu, dem Bewußtsein eine ausnehmende Bedeutung beizumessen. Er unterlag der Illusion, daß seine Philosophie die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse umgestalten könnte. In einem Brief an Baggesen aus dem Jahre 1795 stellt er die Behauptung auf, daß die französische Nation durch die Revolution den Menschen zwar von den äußeren Ketten losgerissen habe, daß seine Philosophie aber den Menschen von den „Fesseln der Dinge an sich", d. h. von der Gebundenheit und Abhängigkeit des Subjekts vom-Objekt, befreie. Mit anderen Worten: Fichte meint, daß durch seine Philosophie der Mensch keinerlei gesellschaftlichen Notwendigkeiten mehr unterliege, insofern er diese durch Annahme der Wissenschaftslehre in den Griff bekomme. In letzter Instanz ignoriert Fichte dergestalt die objektiven historischen Gesetze. Daß Fichtes Versuch, die Kantsche Philosophie in eine die gesellschafdichsoziale Sphäre aktiv verändernde Lehre umzugestalten, nicht gelungen ist, von den Grundprinzipien der Kantschen Philosophie her, auch in seiner Zeit und vom Standpunkt seiner Klasse aus gar nicht gelingen konnte, schließlich mit den subjektiv-idealistischen Konsequenzen, die er aus der „kritischen Philosophie" zog, nicht zu bewältigen war, steht auf einem anderen Blatt. Wichtig bleibt bei dieser Gelegenheit festzuhalten, daß Fichte den Übergang von der „kritischen Philosophie" zur Wissenschaftslehre nicht als bloß spekulativen Vorgang verstanden wissen wollte, sondern als Bemühung, den tiefsten Intentionen der Kantschen Philosophie, die von ihm als richtig empfunden wurden, eine praktische Note zu verleihen. Dieser Bemühung stand Kant verständnislos gegenüber. Die um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert zwischen Kant und Fichte geführte unglückselige Polemik hat ihre Ursache in Kants Verständnislosigkeit gegenüber diesem Fichteschen Vorhaben.36 Resignation und Kompromißbereitschaft waren für Fichte eines Philosophen unwürdige Verhaltensweisen und widersprachen darüber hinaus dem Wesen seiner Philosophie. Scheu vor jeder Verwicklung in die „Welthändel", wie Kant sie hatte, war ihm fremd — so fremd, daß er vielen seiner Zeitgenossen rätselhaft erschien, sie durch seine Handlungen mehr als einmal zu Kopfschütteln veranlaßte, ihnen andererseits wieder Bewunderung abrang und oftmals auch Schaudern bei ihnen erzeugte. Mehrfach haben Fichtes Zuhörer darauf hingewiesen, daß er seine Vorlesungen nicht als die Erledigung übernommener öffentlicher Verpflichtungen ansah, sondern als eine Art Mission betrachtete, die er, Fichte, zu erfüllen berufen sei. Karl Forberg z. B. zeichnete auf: „. . . der Grundzug seines [Fichtes] 122

Charakters ist die höchste Ehrlichkeit. Ein solcher Charakter weiß gewöhnlich wenig von Delikatesse und Feinheit. . .: sein Trefflichstes hat immer den Charakter der Größe und der Stärke. Der Ton, in welchem er gewöhnlich spricht, ist schneidend und beleidigend. Auch spricht er eben nicht schön, aber alle seine Worte haben Gewicht und Schwere. . . . Seine Grundsätze sind streng, und wenig durch Humanität gemildert. Gleichwohl verträgt er . . . Widerspruch, und versteht . . . Scherz. Sein Geist ist ein unruhiger Geist; er dürstet nach Gelegenheit, viel in der Welt zu handeln. — Fichtens öffentlicher Vortrag . . . rauscht daher, wie ein Gewitter, das sich seines Feuers in einzelnen Sätzen entladet. Er rührt nicht, . . . aber er erhebt die Seele . . . Fichtens Auge ist strafend, und sein Gang ist trotzig . . . Fichte will durch . . . [seine Philosophie] den Geist des Zeitalters leiten: er kennt dessen schwache Seite, drum fasset er ihn von Seiten der Politik." 37 Ein anderer Zuhörer, Johann Georg Rist, gibt seinen Eindruck, den Fichte in Jena auf ihn machte, in seinen „Lebenserinnerungen" mit folgenden Worten wieder: „Das Rücksichtslose und Imperative seiner [Fichtes] Deduktionen und Sätze sagten mir wohl zu; aber dem eisernen Zwang, der um der Folgerichtigkeit willen sich über alle Verhältnisse des Lebens legen wollte, konnte sich wieder mein freier Sinn nicht fügen. Fichte war wirklich ein gewaltiger Mensch; ich habe ihn oft scherzend den Bonaparte der Philosophie genannt, und viele Ähnlichkeit ließ sich an beiden auffinden. Nicht ruhig wie ein Weltweiser, sondern gleichsam zornig und kampflustig stand der kleine, breitschultrige Mann auf seinem Katheder, und ordentlich sträubten sich seine schlichten braunen Haare um das gefurchte Gesicht . . . Wenn er stand auf seinen stämmigen Beinen, oder hinschritt, so war er festgewurzelt in der Erde, wo er ruhte, und im Gefühl seiner Kraft sicher und unbeweglich. Kein sanftes Wort ging über seine Lippen und kein Lächeln; er schien der Welt, die seinem Ich gegenüberstand, den Krieg erklärt zu haben, und durch Herbigkeit den Mangel an Anmut und Würde zu verbergen." 38 Selbst in den Urteilen von Fichte feindlich gesinnten Zeitgenossen, wie Anselm Feuerbach, wird, wenn auch mit negativem Vorzeichen, Fichtes unruhiger Hang zu Tätigkeit und Wirkenwollen hervorgehoben. Feuerbach charakterisierte Fichte einem Freunde gegenüber mit folgenden Sätzen: „Ich bin ein geschworener Feind von Fichte, als einem unmoralischen Menschen, und von seiner Philosophie, als der abscheulichsten Ausgeburt des Aberwitzes, die die Vernunft verkrüppelt und Einfälle einer gärenden Phantasie für Philosophie verkauft . . . Daß du von diesem Urteile über Fichte nichts bekannt werden lässest, bitte ich dich angelegentlichst. Er ist ein unbändiges Tier, das keinen Widerstand verträgt und jeden Feind seines Unsinns für einen Feind seiner Person hält. Ich bin überzeugt, daß er fähig wäre, einen Mahomet zu spielen, wenn noch Mahomets Zeit wäre, und mit Schwert und Zuchthaus seine Wissenschaftslehre einzuführen, wenn sein Katheder ein Königsthron wäre." 39 Schließlich noch ein Urteil Hölderlins. Im November 1794 schreibt er an Neuffen „Fichte ist jetzt die Seele von Jena. Und gottlob! daß ers ist. Einen Mann von solcher Tiefe und Energie des Geistes kenn' ich sonst nicht. In den entlegen123

sten Gebieten des menschlichen Wissens die Prinzipien dieses Wissens, und mit ihnen die des Rechts aufzusuchen und zu bestimmen, und mit gleicher Kraft des Geistes die entlegensten kühnsten Folgerungen aus diesen Prinzipien zu denken und trotz der Gewalt der Finsternis sie zu schreiben und vorzutragen, mit einem Feuer und einer Bestimmtheit, deren Vereinigung mir Armen ohne dies Beispiel vielleicht ein unauflösliches Problem geschienen hätte." 40 Kurze Zeit später spricht Hölderlin in einem Brief an Hegel von Fichte „als einem Titanen, der für die Menschheit kämpfe und dessen Wirkungskreis gewiß nicht innerhalb der Wände des Auditoriums bleiben werde." 4 1 Hölderlins Urteil ist sicher nicht frei von Übertreibung. Es wird noch getragen von jener Begeisterung, die er als junger Student des Tübinger Stifts gemeinsam mit Hegel und Schelling für die Französische Revolution empfand. Er sah auf der Grundlage dieser Begeisterung folgerichtig in Fichte eine Persönlichkeit, die in Wort, Schrift und Tat den Idealen der Französischen Revolution in Deutschland Ausdruck verlieh. Und er hatte damit gar nicht so unrecht. Von dieser Warte aus mußte ihm Fichte als ein „Titan" erscheinen, der „für die Menschheit" kämpfte. Denn Fichte überragte in dieser Hinsicht in der Tat die Mehrheit seiner Zeitgenossen. Seine positive Stellungnahme zur revolutionären Umwälzung jenseits des Rheins war nicht vorübergehender Art. Daß die Geschichte an Hölderlins Urteil, wie auch an den anderen, manches korrigiert hat, liegt auf der Hand. Doch kommt es darauf nicht an, sondern auf die Tatsache, daß Fichte im Unterschied zu der Mehrheit der deutschen Ideologen seiner Zeit gesonnen war, mit seiner Philosophie in den Gang der Geschichte einzugreifen, mit ihr praktisch wirksam zu werden. 42 Es ist über diese Haltung Fichtes viel gespottet worden, und man hat ihretwegen mit Vorwürfen gegen ihn nicht gespart. Sicher in vielen Fällen zu Recht. Allein, dieser Aspekt seiner Persönlichkeit ist nicht bloß psychologisch bemerkenswert, sondern in erster Linie deshalb von Bedeutung, weil er einen wesentlichen Zugang zu Fichtes Philosophie darstellt, wenn er ihre Beurteilung auch erschwert. Denn zwangsläufig mußten für eine auf unmittelbar praktische Wirksamkeit ausgehende Persönlichkeit die großen historischen Ereignisse der Zeit eine vorrangige Bedeutung erhalten. In der Tat empfängt Fichte von ihnen jeweils nachhaltige Eindrücke und legt auf ihre theoretische Durchdringung großes Gewicht. Das gilt in ausnehmendem Maße von dem historischen Ereignis der Zeit, der Französischen Revolution. Ihre Anliegen, ihre Errungenschaften und ihre Folgen stehen in Fichtes Bemühungen an zentraler Stelle, zumindest bis zum Jahre 1800 ist das so. Aber auch danach bleibt Fichtes Denken der Revolution verbunden, was nur deshalb der Fall sein konnte, weil die Revolution gleichsam den Ursprung darstellt, aus dem dieses Denken herausgewachsen ist. Ein Hörer von Fichtes letzten Vorlesungen in Berlin berichtet über deren Grundidee: „Die Grundidee Fichtes in seinen Vorlesungen war, zu demonstrieren, daß Napoleon, durch Unterdrückung des in der Französischen Revolution errungenen Gedankens der Freiheit, die Welt um dieses hohe Gut betrogen habe . . . Er erkennt 124

der Französischen Revolution eine welthistorische, und was noch mehr sagen will, eine sittliche Berechtigung zu; daß Napoleon die Sache der Revolution verraten, erklärt er für seine schwerste Schuld." 43 Dieses Zeugnis rührt an den Nerv der Fichteschen Philosophie. Man kann ihr darum kaum gerecht werden, wenn man ihre Beziehungen zur Französischen Revolution außer acht läßt. Die Französische Revolution als „reiches Gemälde über den großen Text: Menschenrecht und Menschenwert" 44 durchdringt Fichtes Philosophieren von den Anfängen bis zum Ende, vom „Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die Französische Revolution" bis zur letzten Berliner Vorlesung, wie das angeführte Zeugnis unterstreicht. III Die bürgerliche Forschung konnte nicht an der Tatsache vorbeisehen, daß Fichte mit seiner Verteidigung der Französischen Revolution die Bühne der literarischen Öffentlichkeit betreten hat. Allerdings werden von ihr die in Fichtes Einsatz augenscheinlich vorhandenen Beziehungen zur Französischen Revolution nicht weiterverfolgt. Die bürgerliche Literatur beschränkt sich in der Regel bei der Darstellung der ferneren Entwicklung Fichtes auf die Anführung der unumgänglichen Fakten, so daß die Beziehungen der Fichteschen Philosophie zur Französischen Revolution in ihr — soweit sie auf diese überhaupt Rücksicht nimmt — einen zufälligen Charakter annehmen. Was der Ursprung und die Grundlegung eines der repräsentativsten und folgenreichsten philosophischen Systeme der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie war, wird von der bürgerlichen Forschung auf eine Episode im Leben Fichtes mit bestenfalls biographischem Wert reduziert. Die Betroffenheit der ideologischen Nachfahren der einst progessiven Bourgeoisie ihrer eigenen großen Vergangenheit gegenüber, zu deren vornehmsten Gestalten Fichte gehört, war so groß, daß sie für die von ihnen über die Beziehungen des Philosophen zur Französischen Revolution angeführten lückenhaften Tatsachen nach Erklärungsgründen psychologischen Charakters suchten, um diese als für die Herausbildung, Entwicklung und Ausgestaltung der Fichteschen Lehre unerheblich abzutun. So erscheint in der bürgerlichen Literatur Fichtes konsequentes Eintreten für die Revolution im Jahre 1793 als bloße Jugendsünde ohne Folgen für seine theoretische Philosophie. Die in gleicher Richtung gehenden Zeugnisse aus Fichtes Briefwechsel werden aus einer Verstimmung des Philosophen im Zusammenhang mit dem „Atheismusstreit" erklärt. Die von Fichte mehrfach vorgenommene Begründung des Rechts auf Revolution, seine rechtsphilosophischen Überlegungen zum Problem des Gebrauchs revolutionärer Gewalt oder seine in der Auseinandersetzung mit der Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung des Jakobinerstaates entwickelten fortschrittlichen sozialen Anschauungen, etwa seine Ausführungen zum Recht auf Arbeit oder zum Zwangsrecht auf Unterstützung, werden unerwähnt gelassen 125

oder nur am Rande vermerkt, auf alle Fälle aber ihrem theoretischen Gehalt und ihren theoretischen Folgen nach im Hinblick auf die Aus- und Umgestaltung der Wissenschaftslehre als wenig belangvoll ausgegeben. Dergestalt hat die bürgerliche Philosophiegeschichtsschreibung weder die Tatsachen, die Fichtes positive Stellungnahme zur Französischen Revolution belegen, lückenlos zusammengestellt noch die Bedeutung dieser Tatsachen für die Entwicklung der Fichteschen Philosophie aufgezeigt. 45 Um ein der historischen Wirklichkeit gemäßes Fichte-Bild zu gewinnen, muß die von der bürgerlichen Philosophiegeschichtsschreibung in der Regel geübte Fragestellung umgekehrt werden. Was in ihr als Randerscheinung rangiert, das ist zum Ausgangspunkt zu erheben. Fichtes Philosophie ist zunächst nicht aus der Geschichte der Philosophie, sondern aus der Geschichte zu erklären. Dadurch wird der latenten Gefahr einer Verzerrung der wirklichen Entwicklung Fichtes und seiner Philosophie entgangen — eine Gefahr, der die bürgerliche Forschung insgesamt mehr oder weniger erlegen ist 46 . Und damit wird zugleich der methodische Ansatz einer energischen Hinführung der Fichte-Interpretation an den historischen Prozeß gegeben. Insofern ist mit der Frage der Beziehungen Fichtes und der Fichteschen Philosophie zur Französischen Revolution zu beginnen. Nur durch ein solches Herangehen kann die Fülle des vorhandenen Quellenmaterials sachgerecht angegangen werden, das heißt, Fichte wird als der dargestellt werden können, der er wirklich war: als einer der progressivsten Denker, die das deutsche Bürgertum in seiner aufstrebenden Epoche hervorgebracht hat. IV Daß zwischen der Französischen Revolution und den verschiedenen und unterschiedenen ideologischen Strömungen der Zeit in Deutschland, im Guten wie im Schlechten, ein Zusammenhang besteht, ist oft hervorgehoben worden und stand den bewußteren Zeitgenossen schon klar vor Augen, wie zahlreiche Selbstzeugnisse unterstreichen.47 Marx und Engels haben wiederholt darauf hingewiesen, daß die Berücksichtigung der Beziehungen zwischen der revolutionären Umwälzung in Frankreich und der ideologischen Bewegung in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts eine jener Voraussetzungen ist, die für das Verständnis und die Erklärung der verschiedenen ideologischen Erscheinungsformen dieser Zeit, insbesondere der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie und Literatur, unabdingbar sind.48 „Die politische Revolution Frankreichs wurde von einer philosophischen Revolution in Deutschland begleitet" 49 , bemerkte Friedrich Engels im Anschluß an Heinrich Heine.50 Die deutsche Philosophie am Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts empfängt in der Tat die entscheidenden Anregungen von und entwickelt sich im engsten Zusammenhang mit der Revolution in Frankreich. Ruhm und Größe der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie sind undenkbar ohne die fruchtbare Auseinandersetzung ihrer Vertreter mit den Problemen, die das 126

große Ereignis in Frankreich aufwarf: dies sowohl im Stadium seiner ideologischen Vorbereitung als auch in dem seines Verlaufs und dem seiner Folgen. War für die französische Aufklärung die englische Revolution von bedeutendem Einfluß und kann man gemeinhin vom bestimmenden Englanderlebnis aller aufgeklärten Franzosen sprechen, so ist für die deutschen Ideologen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert die Französische Revolution der Bezugs^ punkt ihres Denkens. Die jeweilige Bedeutung der einzelnen deutschen Denker dieser Periode besteht wesentlich darin, inwieweit die revolutionären Klassenkämpfe in Frankreich und ihre Ausstrahlung auf Deutschland im Mittelpunkt ihrer Interessen und Betrachtungen stehen. Innerhalb der Bewegung der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie ist das Werk Johann Gottlieb Fichtes am unmittelbarsten und nachhaltigsten vom Gang des revolutionären Ereignisses in Frankreich und seinen Folgen beeinflußt. Fichtes Entwicklung steht, zumindest bis 1800, ganz im Banne der akuten Klassenkämpfe jenseits des Rheins. Schon rein äußerlich ist Fichte in der vordersten Front derjenigen deutschen Denker im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts zu finden, die am entschiedensten für die revolutionäre Umwälzung in Frankreich Stellung beziehen. Seine ersten Schriften 51 sind, neben der gedanklichen Durchdringung des Problems der Revolution, wie es sich ihm als deutschem Ideologen der kleinbürgerlichen Schichten in der Epoche der klassischen bürgerlichen Revolution 52 gibt, offene Bekenntnisse, leidenschaftliche und mutige Parteinahmen für die Revolution in Frankreich und die Rechtsmäßigkeit einer Staatsumwälzung überhaupt. Obwohl die Bedeutung der Französischen Revolution für Fichtes Schaffen, durch zahlreiche Selbstzeugnisse und Tatsachen53 unterstrichen, auf der Hand liegt, findet man in der Literatur kaum etwas darüber 54 . Auch die größeren, speziell die Entwicklung von Fichtes ursprünglicher Staats- und Rechtsphilosophie behandelnden Werke von Strecker, Metzger, Wallner und Walz, also jenes Teils von Fichtes Lehre, in dem die Beziehungen seines Schaffens zur Französischen Revolution am handgreiflichsten sind, erschöpfen sich in allgemeinen Hinweisen meist biographischen Charakters. Es ist nicht so, daß die Fichtesche Philosophie nur ganz allgemein die revolutionsschwangere Luft der Epoche atmet, den politischen Aktivismus der Zeit reflektiert, ihn ins Reich der Gedanken transponiert und zum philosophischen Prinzip erhebt — nein, die Beziehungen der Philosophie Fichtes zur Französischen Revolution gehen tiefer, sind konkreter und betreffen einen ganz bestimmten Abschnitt der Revolution: den der revolutionär-demokratischen Diktatur der Jakobiner. Diese Beziehungen, die die Nachwelt meist nicht sah oder nicht sehen wollte, obwohl ihre Kenntnis für eine adäquate Interpretation des Werkes Fichtes unabdingbar ist, sahen seine tieferblickenden Zeitgenossen dagegen ziemlich eindeutig. So schrieb Körner an Schiller über Fichtes Werk „Der geschlossene Handelsstaat": „Indessen wird diese politische Ketzerei wenig schaden. Solche 127

Einschränkungen als er vorschlägt, könnten allenfalls unter Robespierres Schreckenssystem gewagt werden.55 Und Benjamin Constant vermerkt in seinen Tagebuchaufzeichnungen über die deutsche Kultur, daß Fichte im „Handelsstaat" Prinzipien entwickelte, die sich in vielem mit der Wirtschaft- und Sozialpolitik Robespierres decken.56 Sicher ist das in der Absicht geschrieben, Fichte zu verunglimpfen, genauso wie Constant Rousseau und Mably verunglimpfte57 — aber war es nur das? Steckt dahinter nicht vielmehr ein objektiver Wahrheitsgehalt, in den — über den „Handelsstaat" hinaus — weitere Werke Fichtes einbezogen sind? In der Tat. Beziehungen, Berührungspunkte zwischen Fichte und Robespierre (den Jakobinern) sind nicht nur im „Handelsstaat" gegeben, sondern bei Fichte von Anfang an vorhanden: im „Beitrag" von 1793, bei der rechtlichen Begründung der Anwendung revolutionärer Gewalt gegenüber konterrevolutionären Bestrebungen, und dann im „Naturrecht" von 1796/97, bei der Formulierung des Rechts auf Revolution und in den sozialen Fragen gewidmeten Abschnitten des Werkes, Von hier aus gehen sie als konstitutive Bestandteile auch in Fichtes theoretische Philosophie ein und bestimmen ihre Entwicklung bis mindestens zur Jahrhundertwende.58 Das Ausgeführte bedarf der Präzisierung. Zweifellos ist mit der Feststellung, daß zwischen der Philosophie Fichtes — der gesamten klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie — und der Französischen Revolution Beziehungen bestehen, eine Tatsache ausgesprochen. Diese allerdings muß konkretisiert werden, wenn sie Wahrheit bleiben soll. Und sie bleibt es nur, wenn die Unterschiede und Besonderheiten der einzelnen Denker, ihres Schaffens und ihrer Entwicklung berücksichtigt werden. Denn der Zusammenhang der Kantschen, Fichteschen und Hegeischen Philosophie mit der Französischen Revolution ist, so ausgedrückt, nur das generell Gemeinsame. Die Reaktionen der einzelnen klassischen Denker auf die revolutionäre Umwälzung jenseits des Rheins sind unterschiedlich und die vorhandenen Beziehungen immer konkret und spezifisch. Dies folgt schon daraus, weil es die Französische Revolution niemals gegeben hat, wie es ebensowenig die klassische bürgerliche deutsche Philosophie gab. Die Französische Revolution war, wie jedes historische Ereignis, eine komplexe Erscheinung, und ihre Ausstrahlungen und Auswirkungen auf andere Nationen und Länder, auf einzelne Denker und ganze gesellschaftliche Schichten waren nicht weniger komplex. Das heißt, die Französische Revolution besteht als komplexe Erscheinung aus Etappen, Stufen, Entwicklungsphasen, die wesentlich bestimmt und geprägt werden durch die jeweils zur Herrschaft gelangte Klasse (besser: Klassenfraktion oder Klassenteilströmung) und ihre gesellschaftlichen Bündnispartner oder Antipoden. Das letztere muß im Hinblick auf eine Untersuchung bestimmter, im Zusammenhang mit der Französischen Revolution stehender ideologischer Erscheinungen um so mehr beachtet werden, als die neuere Revolutionsgeschichtsschreibung die Tatsache der Komplexität und die damit im Zusammenhang stehenden Verästelungen des Revolutionsgeschehens mit Erfolg reflektiert 128

hat. 59 Wir denken etwa — um nur die wichtigsten herauszugreifen — an die hervorragenden Studien und Abhandlungen von Georges Lefebvre und Albert Soboul60 von französischer, Walter Markov 61 von deutscher und — nicht zuletzt, obwohl schon einige Jahre zurückliegend — J. M. Sacher und E. W. Tarle 62 von sowjetischer Seite. Sie alle förderten Material in erster Linie zur Phase der revolutionär-demokratischen Diktatur der Jakobiner bzw. zum „einmaligen Gebilde Jakobinerstaat', d. h. der Synthese von bürgerlicher Revolutionsregierung und bäuerlich-plebejischer Volksbewegung" 63 zutage, das nicht nur für die adäquate Darstellung und Durchdringung der Französischen Revolution von Wichtigkeit ist, sondern das auch für die Beurteilung im Zusammenhang mit der Revolution stehender ideologischer Strömungen außerhalb Frankreichs allergrößte Bedeutung hat. Die Philosophiegeschichtsschreibung ist verpflichtet, sich dieser Ergebnisse zu versichern, diese bei ihren Forschungen zu berücksichtigen und für sie fruchtbar zu machen. Die Pauschalbetrachtungen und Pauschalabhandlungen, in denen der Einfluß der Französischen Revolution auf das deutsche Geistesleben64 untersucht wird, wirken angesichts der Tatsache, daß die neuere Revolutionsgeschichtsschreibung inzwischen ein im großen und ganzen adäquates, historisch-materialistisch fundiertes Bild der Französischen Revolution als komplexer Erscheinung gezeichnet hat, anachronistisch. Für Untersuchungen von der Französischen Revolution her gespeister ideologischer Erscheinungen in Deutschland bedeutet das, daß die etwa Anfang 1793 in bezug auf die Revolution einsetzende schärfere Differenzierung der verschiedenen ideologischen Strömungen, die engstens mit der Dynamik des revolutionären Geschehens in Frankreich verknüpft ist, mehr beachtet und konkret erforscht werden muß. Das Ergebnis dieses Differenzierungsprozesses war, wie Joachim Streisand in diesem Zusammenhang richtig hervorhebt, nicht „ein schematisches Abbild der Klassenfronten, wie sie in Frankreich bestanden". Man darf keinen Vereinfachungen unterliegen und muß beachten, daß „im zurückgebliebenen Deutschland . . . die Auseinandersetzungen oft in mehr oder minder theoretisch-abstrakter Form, ja ideologischer Verhüllung geführt (wurden)" 65 . Ungeachtet dessen aber ist dieser Differenzierungsprozeß immer in Verbindung mit der Weiterentwicklung der Revolution in Frankreich zu sehen. Er läuft zwar nicht zeitlich, aber doch sachlich der Aufspaltung der französischen Bourgeoisie, die ihren sichtbarsten Ausdruck im Übergehen der Staatsmacht in die Hände einer jeweils anderen Fraktion des Bürgertums am 10. August 1792 und 2. Juni 1793 findet, mehr oder weniger parallel, wobei die in Deutschland vorhandenen rückständigen politischen und sozialen Bedingungen als Hinderungsgrund nicht nur praktisch-gesellschaftlicher Betätigungen, sondern auch freier ideologischer Entfaltung in Rechnung zu stellen sind. Für Fichte wurde oben seine Beziehung zur Französischen Revolution schon konkreter, nämlich als Beziehung zur letzten Phase der Revolution, zur revolu9 Buhr

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tionär-demokratischen Diktatur der Jakobiner, festgehalten. Wir hoffen, diese Feststellung im folgenden näher belegen zu können. Allgemein gewinnt man den Zugang zu diesem Tatbestand auch von einer anderen Seite: dem Zeitpunkt des Eintretens Fichtes für die Revolution. Fichte sah noch 1791 in der Französischen Revolution eine Bewegung, die den breiten Volksmassen kaum Nutzen bringt, daher wenig zweckvoll ist, und richtete seine ganze Hoffnung auf eine Verbesserung der Lage des Volkes, die er in seinen politischen Bestrebungen letzthin immer im Auge hatte, durch Reformen von oben. Das ging so weit, daß er die Religionsedikte unter Friedrich Wilhelm II. verteidigte, wie mehrere Nachlaßstücke beweisen.66 Anfang 1793 tritt in dieser Beziehung ein Wandel ein, und Fichte wird zu einem enthusiastischen Bejaher der Revolution. Über diesen Umschwung in Fichtes Haltung zur Französischen Revolution ist in der Literatur, soweit darauf eingegangen wurde, viel orakelt worden. Der um die Fichte-Forschung verdienstvolle Xavier Léon liefert u. E. den Schlüssel für eine zureichende Erklärung dieses Sachverhalts, indem er in seinem materialreichen Buch, durch Quellen erhärtet, darauf hinweist, daß Fichte erst in dem Augenblick seine Stimme für die Revolution erhebt, als sich diese immer mehr mit demokratischem Inhalt zu füllen beginnt; präzisierend möchten wir hinzufügen: als die revolutionären kleinbürgerlichen Schichten im Jakobinerstaat — wenigstens vorübergehend — zum Zuge'kommen. Allerdings muß einem Irrtum vorgebeugt werden. Wenn hier von einer Beziehung der Philosophie Fichtes zu einer bestimmten Phase der Französischen Revolution, eben der revolutionär-demokratischen Diktatur der Jakobiner, gesprochen wird, so kann das niemals bedeuten, daß Fichte selbst jemals Jakobiner gewesen wäre. Was uns berechtigt, Fichte in diese Beziehung zu bringen, ist allein die Tatsache der Übereinstimmung und des Gleichklangs bestimmter Theoreme von Fichte mit denen der jakobinischen Spitzen. Insofern ist es immer nur gerechtfertigt, von „Jakobinischem" in Fichtes Philosophie zu sprechen, niemals vom Jakobiner Fichte. Das schon deshalb nicht, weil es sich weder bei Fichte noch bei all den anderen Wortführern des sogenannten Jakobinertums außerhalb Frankreichs67 um tatsächliche Jakobiner, „Jakobiner mit dem Volke"68, gehandelt hat, insofern ihnen allen „das unentbehrliche Korrelat Sansculotten fehlt"69. V Das erste öffentliche Eintreten Fichtes für die Französische Revolution erfolgt Anfang 1793 mit der in Form einer Rede gehaltenen Schrift „Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europens, die sie bisher unterdrückten"70 und dann vor allem, ebenfalls 1793, mit dem „Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die Französische Revolution"71 — zu einer Zeit also, während der in Deutschland fast ausnahmslos alles vom Gang der Revo130

lution in Frankreich abrückt 72 , die preußische Regierung die schon 1788 erlassenen Wöllnerschen Religionsedikte mit aller Schärfe praktiziert 73 und in Frankreich mit dem zweiten Eingriff der Pariser Volksmassen in das Revolutionsgeschehen (10. August 1792), dem Sturz der Monarchie und der Bildung des Konvents die Revolution in eine höhere Phase hinüberwächst, die zehn Monate später in der revolutionär-demokratischen Diktatur der Jakobiner ihre Krönung erfahren wird. Gerade die letzten französischen Ereignisse hatten in Deutschland bewirkt, daß die 1789 allenthalben vorhandene Begeisterung für die Revolution zu schwinden begann und Sympathie in Antipathie umschlug. Es zeigte sich, daß die Anteilnahme der deutschen Ideologen am Geschehen in Frankreich mehr oder weniger nur den allgemeinen Ideen der Revolution galt 74 , daß sie aber in dem Augenblick erlosch, als zur konkreten Verwirklichung dieser Ideen geschritten wurde oder besser: als die revolutionäre Wirklichkeit diese Ideen korrigierte. Es setzte in Deutschland jener Differenzierungsprozeß ein, von dem oben schon die Rede war und der im engsten Zusammenhang mit der veränderten revolutionären Situation in Frankreich steht. Die öffentliche Meinung war 1793 in Deutschland derart, daß sie einer Verurteilung der Revolution gleichkam. Schuld an diesem Umschlag war nicht zuletzt die übertriebene und bewußt falsche Berichterstattung der reaktionären Presse über das französische Geschehen und der von Tag zu Tag zunehmende Umfang der gegenrevolutionären Literatur, dem zwar eine Menge prorevolutionärer Bücher, Zeit- und Flugschriften gegenüberstand, deren Wirksamkeit aber durch die bestehenden Zehsurverhältnisse weitgehend gemindert war. 75 In dieser Situation fühlte sich Fichte berufen, einzugreifen 76 — die öffentliche Meinung umzustimmen, der reaktionären Berichterstattung und gegenrevolutionären Beurteilung entgegenzutreten.77 Daraus ergibt sich die Aufgabe, die er mit folgenden Worten umreißt: Eine „Untersuchung über die Rechtmäßigkeit der Revolution überhaupt, und mithin jeder einzelnen" zu geben und in diesem Zusammenhang darzutun, „daß das Recht eines Volkes, seine Staatsverfassung zu verändern, ein unveräußerliches, unverlierbares Menschenrecht" ist. 78 Und das Ergebnis, sein „Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die Französische Revolution" wird tatsächlich zur Verteidigung der Umwälzung in Frankreich und allgemeinen Begründung des Rechts auf Revolution. Mit welcher Leidenschaft und Konsequenz Fichte an seine Aufgabe herantritt, zeigt der einleitende Abschnitt der „Zurückforderung der Denkfreiheit", den Goethe und viele andere Zeitgenossen mit Kopfschütteln zur Kenntnis nahmen. Kein Wunder, daß die „Zurückforderung" sofort nach Erscheinen auf die Liste verbotener Bücher der kursächsischen Regierung gesetzt wurde. „Die Zeiten der Barbarei sind vorbei", so ruft Fichte seiner Generation zu, „die Zeiten der Barbarei sind vorbei, ihr Völker, wo man euch im Namen Gottes anzukündigen wagte, ihr seiet Herden Vieh, die Gott deswegen auf die Erde gesetzt habe, um einem Dutzend Göttersöhne zum Tragen ihrer Lasten, zu 9*

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Knechten und Mägden ihrer Bequemlichkeit und endlich zum Abschlachten zu dienen ; daß Gott sein unbezweifeltes Eigentumsrecht über euch an diese übertragen habe und daß sie kraft eines göttlichen Rechts und als seine Stellvertreter euch für eure Sünden peinigten : ihr wißt es oder könnt euch davon überzeugen, wenn ihr es noch nicht wißt, daß ihr selbst Gottes Eigentum nicht seid, sondern daß er euch sein göttliches Siegel, niemandem anzugehören als euch selbst, mit der Freiheit tief in eure Brust eingeprägt hat." 79 Wieviel Selbstgewißheit und Begeisterung, für die gerechteste Sache der Welt in die Schranken zu treten, spricht aus diesem Satz! Die Kraft, solche Worte seiner Zeit zuzurufen, schöpft Fichte aus der Tatsache der Französischen Revolution. Wie alle revolutionären Neuerer in der heroischen Periode der bürgerlichen Gesellschaft beruft sich Fichte bei der Durchführung seines Unternehmens auf Autoritäten, auf Gewährsmänner80, deren Gedankengut er zur Untermauerung seiner eigenen Anschauungen heranzieht. Das um so mehr, als Fichte mit allen Ideologen des progressiven Bürgertums vor und zu seiner Zeit an einen unumstößlichen Nexus ursprünglicher allgemeiner Grundnormen gesellschaftlicher Beziehungen und natürlicher Rechte des Menschen glaubt, die durch Mißbrauch und Gewaltakte der Herrschenden nur entstellt und durch die lange Zeit der Barbarei aus dem Bewußtsein der Völker geschwunden sind. Alle, denen Menschenrecht und Menschenwert am Herzen liegen, stehen vor der Aufgabe, diese ursprünglichen allgemeinen Grundnormen menschlichen Zusammenlebens und die natürlichen Rechte des Menschen wieder ins Bewußtsein der Völker zu heben und zum Allgemeingut ihrer öffentlichen Meinung zu machen. Neben den für die Ideologen der Jugendjahre der bürgerlichen Gesellschaft „obligatorischen" antiken Schriftstellern und Montesquieu, auf die gelegentlich Bezug genommen wird, sind es Rousseau und Kant, die Fichte als Gewährsmänner ausdrücklich nennt und als Autoritäten mit allgemeingültigen Aussagen hervorkehrt. 81 Dabei geht Fichte von der für ihn feststehenden Tatsache aus, daß die Revolution in Frankreich die praktische Verwirklichung der Lehren Rousseaus und Kants ist. In erster Linie ist es jedoch Rousseau mit seinen Lehren vom Gesellschaftsvertrag und vom volonté générale, den Fichte zur Voraussetzung seiner Theorie macht. Was ihm dabei vorschwebt, ist: den Contrat social zu vollenden, indem er die Lehren Rousseaus von den ihnen anhaftenden Widersprüchen befreien will. „Wir werden den Widerspruch lösen", schreibt er, „wir werden Rousseau besser verstehen, als er selbst sich verstand, und wir werden ihn in vollkommener Übereinstimmung mit sich selbst und mit uns antreffen." 82 Das „Rousseau besser verstehen" und „ihn in vollkommene Übereinstimmung mit sich selbst"-Bringen erfolgt bei Fichte wesentlich durch eine Präzisierung der Auslegung. Fichte betont mit Nachdruck, daß es bei Rousseau niemals um Fakten, sondern immer nur um Grundsätze, um Rechte — ums Recht schlechthin geht. Rousseau, stellt er fest, sucht „im ganzen Buche [dem Contrat social] nach dem Rechte, nicht nach der Tatsache"83. Konkret: Rousseau lehrt, daß 132

der Gesellschaftsvertrag kein in der Geschichte bisher vorgekommener Fakt ist, sondern ein Grundsatz, ein individuelles Recht jedes Menschen und kollektives Recht der gesamten Menschheit, das es zu verwirklichen gilt. 84 Diese Feststellung läuft darauf hinaus, Rousseau rationalistisch zu interpretieren85, wodurch Fichte den notwendigen Raum zur Verwirklichung seiner Absicht, der Begründung des Rechts auf Revolution, freilegt. In der Tat kann die Begründung des Rechts auf Revolution, genauer: die Begründung des Rechts auf bürgerliche Revolution vom Standpunkt der Bourgeoisie aus, gleich welcher Schicht oder Fraktion, nur mit Hilfe rationalistischer Konstruktionen vollführt werden. Eine Berufung auf die Geschichte und auf Tatsachen wirkt bei diesem Vorhaben störend und hemmend, weil sich das aufstrebende Bürgertum in seinem Kampf gegen die feudal-absolutistische Gesellschaft und ihre Institutionen vorausset^ungslos als Sachwalter der Interessen der gesamten Nation — bis zur bürgerlichen Revolution und in dieser selbst auch mit Recht — ausgibt und fühlt. Das Recht auf Revolution konnte daher nicht durch Berufung auf historische Erfahrung begründet werden, sondern nur, wenn man es — unter Verzicht auf alle weiteren Prämissen — als göttliches Recht oder Naturrecht vorführte. Fichte ist sich dieser Sachlage durchaus bewußt — daher seine scharfe, aber auch übertriebene und nicht immer überzeugende Polemik gegen alle, die sich bei der Beurteilung der Französischen Revolution auf die Geschichte und auf Tatsachen berufen. Den vom Standpunkt der historischen Erfahrung aus urteilenden Kritikern Rousseaus hält er entgegen: „. . . trotz eurem Geschrei [ist] manches wirklich geworden, indes ihr euch seine Unmöglichkeit beweiset. — So rieft ihr vor nicht gar langer Zeit einem Manne zu, der unseren Weg ging, und bloß den Fehler hatte, daß er ihn nicht weit genug verfolgte: proposez nous donc ce qui est faisable — das hieße proposez nous ce qu'on fait, antwortete er euch sehr richtig. Ihr seid seitdem durch die Erfahrung, das einzige, was euch klug machen kann, belehrt worden, daß seine Vorschläge doch nicht so ganz untunlich waren. Rousseau, den ihr noch einmal über das andere einen Träumer nennt, indes seine Träume unter euren Augen in Erfüllung geben, verfuhr viel zu schonend mit euch, ihr Empiriker; das war sein Fehler. Man wird noch ganz anders mit euch reden, als er redete. Unter euren Augen, und ich kann zu eurer Beschämung hinzusetzen, wenn ihr es noch nicht wißt, durch Rousseau geweckt, hat der menschliche Geist ein Werk vollendet, das ihr für die unmöglichste aller Unmöglichkeiten würdet erklärt haben, wenn ihr fähig gewesen wäret, die Idee desselben zu fassen: er hat sich selbst ausgemessen."86 Mit dieser Korrektur der Lehre Rousseaus — der Gesellschaftsvertrag ist kein Faktum, sondern ein Recht — gelingt es Fichte, das Recht auf Revolution konkret zu begründen. Sie war notwendig, um den im Contrat social vorhandenen Pessimismus zu eliminieren, das Problem des faux pas auszuschalten87, aus dem möglichen Vorwärts oder Zurück Rousseaus ein eindeutiges Vorwärts zu machen. „Rousseau", führt Fichte aus, „wollte nicht in Absicht der geistigen 133

Ausbildung, sondern bloß in Absicht der Unabhängigkeit von den Bedürfnissen der Sinnlichkeit den Menschen in den Naturstand zurückversetzen . . . Vor uns also liegt, was Rousseau unter dem Namen des Naturstandes, und jene Dichter unter der Benennung des goldenen Zeitalters, hinter uns setzen."88 Dazu kommt ein weiteres Moment, das Fichtes Grundhaltung angeht und von vornherein — im Unterschied zu Rousseau — bewußt auf die Veränderung der vorgefundenen gesellschaftlichen Verhältnisse abzielt und insofern revolutionäre Inhalte einschließt. Fichte macht Rousseau den Vorwurf, daß er sich auf das Aufzeigen der Verderbnisse der Gesellschaft beschränkt, aber nicht an die Kraft der Vernunft appelliert, die diesen Verderbnissen ein Ende bereiten kann. Rousseau schildert, so schreibt er, „durchgängig die Vernunft in der Rübe, aber nicht im Kampfe-, er schwächt die Sinnlichkeit, statt die Vernunft ^u stärken. — Hierin fehlte Rousseau. Er hatte Energie; aber mehr Energie des Leidens, als der Tätigkeit; er fühlte stark das Elend der Menschen; aber er fühlte weit weniger seine eigene Kraft, demselben abzuhelfen; und so, wie er sich fühlte, so beurteilte er andere-, wie er sich zu diesem seinem besonderen Leiden verhielt, so verhielt nach ihm die ganze Menschheit sich zu ihrem gemeinsamen Leiden. Er berechnete das Leiden; aber er berechnete nicht die Kraft, welche das Menschengeschlecht in sich hat, sich zu helfen. „Demgegenüber komme es darauf an, zu handeln — den Leiden der Menschheit abzuhelfen. „Handeln! Handeln! das ist es, wozu wir da sind." 8 9 Diese auf die Veränderung des gegebenen sozialen Schemas ausgehende Haltung ist eine Ursache dafür, daß Fichte, obwohl zunächst von einem konsequenten liberalen Standpunkt ausgehend, zu einem Ergebnis kommt, das revolutionär-demokratische Züge trägt und ihn bestimmten Anschauungen Robespierres und anderer Spitzen , des jakobinischen Flügels der Französischen Revolution nähert. VI An den Anfang der eigentlichen Abhandlung seines Themas stellt Fichte — wie könnte es bei einem Anhänger Rousseaus und eines der in der übrigen Tradition der Aufklärung fest verwurzelten Denker anders sein — das Individuum, das allen Gewalten gegenüber, vor allem der staatlichen, freie leb. „Der Mensch kann weder ererbt, noch verkauft, noch verschenkt werden; er kann niemandes Eigentum sein, weil er sein eigenes Eigentum ist und bleiben muß. Er trägt tief in seiner Brust einen Götterfunken, der ihn über die Tierheit erhöht und ihn zum Mitbürger einer Welt macht, deren erstes Mitglied Gott ist — sein Gewissen. Dieses gebietet ihm schlechthin und unbedingt — dieses zu wollen, jenes nicht zu wollen; und dies frei und aus eigener Bewegung, ohne allen Zwang außer ihm." 90 In dieser Beziehung, das Individuum an den Anfang der Untersuchung zu stellen, ruht Fichte nicht nur auf den Schultern Rousseaus und der Aufklärung im engeren Sinne, sondern gibt er sich als Erbe der gesamten weltanschaulichen 134

Entwicklung der bürgerlichen Neuzeit. Diese beginnt mit der Betonung des freien, bindungslosen Individuums, der Hervorkehrung der Vernunft als Richterin über alle Dinge und der Kampfansage an jedwede Autorität. Damit setzt sich das "neue bürgerliche Denken in schroffen Gegensatz zur überkommenen mittelalterlichen Philosophie, Staats- und Rechtstheorie. Im Unterschied zum anfänglichen, aber auch zum gesamten klassischen bürgerlichen Denken, wie es sich von Descartes bis Hegel herausbildete und entwickelte, war ja die Ideologie der Feudalgesellschaft wesentlich ein Denken in und für Autoritäten. Ein solches Denken ist für die neue bürgerliche Klasse unannehmbar, denn ihren geistigen Wortführern ist als Folge der gesellschaftlichen Stellung der Bourgeoisie in der feudal-absolutistischen Gesellschaftsordnung, als einer zwar aufstrebenden, aber noch unterdrückten, noch nicht zur politischen Herrschaft gekommenen Klasse, daran gelegen, den Beweis zu erbringen, daß der Mensch, jetzt: das Individuum frei ist von jeder äußeren Bindung und Autorität. Insofern geht es dem bürgerlichen Denken zunächst darum, niederzureißen, den Glauben an Autoritäten zu erschüttern, den hieraus resultierenden Vorurteilen den Kampf anzusagen. Der progressiven Tradition der Bourgeoisie noch verbundene bewußtere Historiker der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, wie etwa Henry Thomas Buckle, sehen darin noch voller Stolz den Beitrag ihrer Vorfahren zur Befreiung des Denkens von feudal-klerikaler Bevormundung, zur Herausbildung und Entwicklung der natürlichen, d. i. bürgerlichen Gesellschaft und zur Weltkultur überhaupt. Über Descartes urteiltBuckle: „Die Nachwelt ist ihm nicht so sehr für das, was er aufgebaut, als für das, was er niedergerissen, verpflichtet. Sein ganzes Leben war ein einziger glücklicher Feldzug gegen die Vorurteile und Überlieferungen der Menschen. Er war groß als Schöpfer, aber bei weitem größer als Zerstörer, er war der große Reformator und Befreier des europäischen Denkens.91" In der Tat, geht man die Repräsentanten des klassischen bürgerlichen Denkens durch, so sind ihnen jene Kennzeichen, die Buckle an der eben herangezogenen Stelle für Descartes festlegt, allen gemeinsam. Jedem einzelnen von ihnen geht es in letzter Instanz um den Nachweis, daß das Individuum von keiner wie auch immer gearteten Autorität abhängig ist.92 Das „Ich" hat selbständig, unabhängig zu sein, auch unabhängig und ohne jeden Bezug auf das „Wir", auf die Gemeinschaft.93 Kant wird formulieren: „Daß der Mensch in seiner Vorstellung das Ich haben kann, erhebt ihn unendlich über alle anderen auf Erden lebenden Wesen. Dadurch ist er eine Person und vermöge der Einheit des Bewußtseins bei allen Veränderungen, die ihm zustoßen mögen, eine und die selbe Person, d. i. ein von Sachen . . . durch Rang und Würde ganz unterschiedenes Wesen." 94 Und Locke verkündete: „Die Vernunft muß unser höchster Richter und Führer in allen Dingen sein . . . " 9 5 Schließlich faßte Kant das Wesen der neuen bürgerlichen Ideologie in dem Satz zusammen: „Sapere aude! Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen." 96 Aus dieser geistigen Atmosphäre heraus erwächst auch Fichtes Philosophie. 135

Auch in ihr ist jedweder Autorität der Kampf angesagt, wird das freie, bindungslose Individuum als Träger des gesellschaftlichen Geschehens hingestellt und die Vernunft zur Richterin aller Dinge, vor allem der bestehenden Zustände gemacht. „Wer auf Autorität hin handelt, handelt notwendig gewissenlos", wird Fichte 1798 feststellen und hinzufügen: Dies ist „ein sehr wichtiger Satz, dessen Aufstellung in aller seiner Strenge höchlich not tut" 97 . So ist Fichte eins mit den besten Vertretern der neuen bürgerlichen Ideologie, ist er eins mit Descartes und Kant, Locke und Rousseau, der englischen und französischen Aufklärung. Auf das Gebiet der Staats- und Rechtstheorie übertragen — und in Fichtes ersten Schriften geht es um Probleme des Staates und des Rechts —, heißt das, daß jede Untersuchung, die das Individuum, wie es die Ideologie der bürgerlichen Moderne faßt, zum Ausgangspunkt hat, zwangsläufig liberalen 98 Charakter annehmen muß. In der Tat ist auch Fichtes Staatsauffassung, wie er sie in der „Zurückforderung" und im „Beitrag" entwickelt, im Ansatzpunkt und über weite Strecken der Ausführung liberal, eigentlich radikal-liberal. „Freiheit von jedem staatlichen Zwang für das Individuum" und „Jeder Mensch ist von Natur frei, und niemand hat das Recht, ihm ein Gesetz aufzuerlegen, als Er selbst" — diese Sätze aus dem „Beitrag" könnte man als Motto für die Fichteschen Gedanken über Staat und Recht von 1793 wählen. Die radikal-liberale Staatsauffassung Fichtes kommt sofort zum Vorschein: Den Staat konstruiert Fichte so, daß er eine aus Individuen und nur aus Individuen bestehende Institution ist, wobei es jedem Einzelwesen freisteht, durch Vertrag dem Staatsverband beizutreten oder nicht. Aber selbst wenn ein Individuum dem Staatsverband beigetreten ist, unterliegt es keinerlei Beschränkungen. Es steht auch als Staatsbürger nur unter seiner eigenen Gesetzgebung, unterliegt nur, wie Fichte im Sinne von und mit Kant sagt, dem SittengesetUnd das Sittengesetz drückt nach Kant nichts anderes aus „als die Autonomie der reinen praktischen Vernunft, d. i. der Freiheit . . . " " Inhaltlich genau damit übereinstimmend formuliert Fichte: „Durch das Sittengesetz in mir wird die Form meines reinen Ich unabänderlich bestimmt: ich soll ein Ich, ein selbständiges Wesen, eine Person sein — ich soll meine Pflicht immer wollen; ich habe demnach ein Recht, eine Person zu sein, und meine Pflicht zu 1vollen. Diese Rechte sind unveräußerlich, und aus ihnen entspringen keine veräußerlichen Rechte, weil mein Ich in dieser Rücksicht gar keiner Modifikation fähig ist." 100 An anderer Stelle fragt Fichte: „Wer legt mir nun in diesem Vertrage [dem Staatsvertrag] das Gesetz auf?" und antwortet: „Offenbar ich selbst." Als Erläuterung und zur Bekräftigung fügt er dann hinzu: „Kein Mensch kann verbunden werden, ohne durch sich selbst: keinem Menschen kann ein Gesetz gegeben werden, ohne von ihm selbst. Läßt er durch einen fremden Willen sich ein Gesetz auflegen, so tut er auf seine Menschheit Verzicht und macht sich zum Tiere; und das darf er nicht." 101 Fichte will seinem Individuum keine, auch nicht die geringste Beschränkung auferlegen. „Es ist ein unveräußerliches Recht des Menschen", stellt er fest, 136

„auch einseitig, sobald er will, jeden seiner Verträge aufzuheben; Unabänderlichkeit und ewige Gültigkeit irgendeines Vertrages ist der härteste Verstoß gegen das Recht der Menschheit an sich."102 Die Beziehungen zwischen Individuum und Individuum, zwischen Individuum und der Gesamtheit aller Individuen, die den Staatsverband ausmachen, reguliert allein das Sittengesetz, das in dieser Beziehung fordert: „Hemme niemandes Freiheit, insofern sie die deinige nicht hemmt." Sehen wir Fichte hier noch zu einem bestimmten Kompromiß bereit, dem Individuum wenigstens gewisse, vom Sittengesetz her gebotene Beschränkungen in seinem Verhalten anderen Individuen gegenüber aufzuerlegen, so ist dies nicht mehr der Fall, sobald die Sprache auf die Funktion des Staates kommt. „Das Leben im Staate gehört nicht unter die absoluten Zwecke des Menschen", dekretiert er in den Jenaer Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten, „sondern es ist ein nur unter gewissen Bedingungen stattfindendes Mittel zur Gründung einer vollkommenen Gesellschaft." Und sofort wird anschließend betont, das Sittengesetz gebiete, daß der Staat als Institution auf seine eigene Vernichtung auszugehen hat und der Zweck einer Regierung darin bestehe, sich selber „überflüssig zu machen"103. In einem Punkt läßt Fichte allerdings mit sich reden und weist dem Staat eine positive Funktion zu: Durch die Jahrhunderte dauernde Barbarei sind die Völker daran gewöhnt, nicht dem Endzweck des Individuums entsprechend zu leben — und in dieser Beziehung kann der Staat eine positive Bedeutung gewinnen, wenn er dazu beiträgt, das Individuum bei der Verwirklichung seiner Bestimmung, die in der Entwicklung des Menschengeschlechts und mithin jedes einzelnen Menschen zu Kultur und Freiheit liegt, zu unterstützen. Aber auch hier macht Fichte sofort eine Einschränkung: Eine solche Funktion des Staates kann nur vorübergehender Natur sein. Denn gerade dadurch, daß er jedes Individuum in seinen Kultivierungsbestrebungen unterstützt, macht er sich mit der Zeit, bei genügend zu verzeichnendem Kulturfortschritt, überflüssig. Im übrigen aber, so setzt Fichte hinzu: „Niemand wird kultiviert, sondern jeder hat sich selbst zu kultivieren. Alles bloß leidende Verhalten ist das gerade Gegenteil der Kultur; Bildung geschieht durch Selbsttätigkeit, und zweckt auf Selbsttätigkeit ab."104 Fichte ist sich bei seinen Ausführungen über die Bestimmung und Funktion des Staates durchaus im klaren, daß er, wenn die Mehrzahl der europäischen Staaten seiner Zeit zum Vergleich herangezogen werden, ins Utopische kommt; denn dort treten Herrscher und Regierungen mit absoluten Ansprüchen auf, treiben eine „halbbarbarische Politik", und von der Herrschaft, selbst der Möglichkeit einer Entfaltung des Sittengesetzes in ihnen ist wenig zu spüren.105 Aber Fichte strapaziert nicht ohne Absicht seinen Standpunkt, weil er von ihm aus um so leichter den Zugang zum eigentlichen Anliegen des „Beitrags" gewinnt : der Begründung des Rechts auf Revolution. Das Recht auf Revolution folgt bei Fichte logisch aus den von ihm festge137

stellten Zielen und Zwecken des Staates. Widerspricht ein Staat diesen: der Beförderung des Individuums zu Humanität und Freiheit, womit er zugleich dem Sittengesetz entgegensteht, dann ist eine Veränderung der Staatsverfassung notwendig. Das Recht auf Verfassungsänderung hat sowohl jedes Volk als Ganzes als auch jedes einzelne Individuum oder eine Gruppe von Individuen, die sich zum Zwecke der Revolution zusammenschließen.106 Daß Fichte auch jedem Individuum das Recht auf Revolution einräumt, mag übertrieben erscheinen, folgt aber konsequenterweise aus seinem radikalen liberalen Ausgangspunkt. Denn bloß dadurch, argumentiert er, „daß wir selbst es uns auflegen, wird ein positives Gesetz verbindlich für uns. Unser Wille, unser Entschluß, der als dauernd gefaßt wird, ist der Gesetzgeber und kein anderer. Ein anderer ist nicht möglich. Kein fremder Wille ist Gesetz für uns."107 Wir werden sehen, daß Fichte die hier entwickelte Staatsanschauung nicht aufrechterhalten kann und im weiteren Verlauf seiner Untersuchung eine Wendung vollzieht, die das Ergebnis hat, daß er immer mehr von dieser zurücknimmt, bis er sie — in den folgenden Werken — ganz aufgibt. Fichte kommt bei der Durchführung und dem Konsequent-zu-Ende-Denken seiner Absicht mit seiner liberalen Staatsanschauung auch gar nicht aus — die Sache selbst treibt ihn dazu, über sie hinauszugehen. Sie reicht aus oder mag ausreichen, das Recht auf Revolution allgemein mehr oder weniger begründet zu formulieren, sie reicht nicht mehr hin, sobald nach dem konkreten Wie? und Was? dieses Rechts gefragt wird. Hier würde Fichtes anfänglicher Standpunkt zur Anarchie führen. Denn wenn jedes Individuum schon als Individuum das Recht auf Staatsumwälzung als Naturrecht sein eigen nennen kann, so besitzt es in der Konsequenz auch jeder Konterrevolutionär. Das unterirdische Koblenz könnte sich dann in seinen Aktionen gegen den Konvent und die revolutionäre Bewegung in Frankreich überhaupt ebenso auf dieses Naturrecht berufen108, wie die revolutionäre Bourgeoisie in ihrem Kampf gegen die feudalklerikalen Institutionen sich auf dieses Recht berief. VII Mit seiner Schrift über die Französische Revolution erregte Fichte nicht geringen Anstoß, zumal er sie 1795, damals schon Professor in Jena, „um nichts verändert", in zweiter Auflage erscheinen ließ. Aus den zahlreichen Urteilen über sie, die sich meist in Anfeindungen und Verleumdungen ergehen, sei eines hier angeführt, weil es ungeachtet der darin enthaltenen Verfälschungen der Fichteschen Gedanken doch richtig — in welcher Absicht, das sei dahingestellt — auf die Gleichartigkeit der Anschauungen Fichtes mit denen der jakobinischen Spitzen, Robespierres vor allem, aufmerksam macht, zumindest davon etwas ahnt. Ein Tatbestand, den die überkommene bürgerliche FichteForschung, wie bemerkt, unberücksichtigt ließ, obgleich er auf der Hand liegt und zum Teil schon aus dem gemeinsamen Bekenntnis Fichtes und der Jakobiner zu Rousseau folgt. 138

Nun hat Fichte mit der Deklarierung des Rechts auf Staatsumwälzung als „unveräußerliches, unverlierbares Menschenrecht" nichts unbedingt Neues gegeben. Das haben andere vor und mit ihm ebenfalls getan.109 Was Fichte jedoch aus der Masse der Anhänger des Rechts auf Revolution seiner Zeit heraushebt, ist, daß er über das bloß allgemeine Formulieren dieses Rechts hinausgeht und alle damit zusammenhängenden Fragen konkret zu beantworten sucht. Und hier eben ist der Punkt, an dem er seine ursprünglich radikale liberale Staatsauffassung ins Revolutionär-Demokratische umbiegt, umbiegen muß — sie durch revolutionär-demokratische Züge bereichert. Es ist dieses Moment, das ihn 1793 zu Robespierre in Beziehung setzt. Das erwähnte Urteil setzt gerade dieses Moment ins Zentrum der Kritik. Wir führen es etwas ausführlicher an, weil es in seiner Art charakteristisch ist und sich — der darin enthaltenen Beschimpfungen, Verdrehungen, Unterstellungen und Verfälschungen ungeachtet110 — bei seinem In-Verbindung-Bringen von Fichte und Robespierre nicht allzuweit vom Tatsächlichen entfernt. Es befindet sich in der Zeitschrift „Eudämonia"111, dem Organ der kursächsischen Reaktion112, und ist als Rezension der zweiten Auflage des „Beitrags" gedacht. Es beginnt mit den Worten: „Ein berüchtigter Metaphysiker ist öffentlich als Verfasser derselben genannt worden, und er hat, so viel ich weiß, sich nicht dagegen gereget. Vielleicht bringt ihn dieser Aufsatz dazu. Eine kleine Parallele zwischen Robespierre, infamen Andenkens, und seinen Grundsätzen, und den Grundsätzen des Verfassers dieser Schrift, soll hoffentlich bestätigen, daß Knigge — wenigstens als politischer Schriftsteller — ein sehr moderater Revolutionsmann gegen diesen Menschen sei." Dann werden die — wie der anonyme Verfasser der Rezension meint — Grundsätze Robespierres und Fichtes gegenübergestellt, wie: „Robespierre eignete sich und seiner Schwefelbande Staats-, Kirchen- und Privatgüter zu, und der Berichtiger sagt: jeder Mensch habe dies Recht. Robespierre glaubt nicht ar> die Kirche, und errichtete Vernunfttempel. Der Berichtiger sagt: für den, der nicht an sie glaubt, ist sie nichts. Robespierre erklärte das Eigentum anderer ehrlicher Leute, die nicht zu seiner Bande gehörten, für Schimäre, und eignete es sich und ihr zu. Der Berichtiger sagt: was keinem gehört, ist Eigentum des ersten besten, der sich desselben rechtskräftig für die Welt der Erscheinungen zueignet . . . Robespierre brach einseitig alle Verträge. Der Berichtiger lehret: jeder Mensch habe das Recht, sich von einem Vertrage loszumachen, und einen anderen einzugehen . . . Robespierre, und alle Schurken in Frankreich und Deutschland, unter dem Kollektiv-Brandmal: Jakobiner, behaupteten, ihr blutiges Revolutionssystem sei rechtmäßig. Der Berichtiger sagt: Jede (also auch die Robespierresche) Revolution sei rechtmäßigü!" Schließlich endet das Ganze mit einer Morddrohung: „Robespierre starb eines infamen Todes, und der Berichtiger — geht. . . ungestört in Deutschland herum."113 Einige Zeit später kommt dieselbe Zeitschrift, unter dem Titel: „Beweis, daß alle Menschen geborene Könige sind"11'', noch einmal auf Fichtes „Beitrag" 139

zurück, geht ähnlich vor und zieht den Schluß: „Hier ist mehr als Cloots, Marat und Jourdan! Diese handelten aus wilder und aufgebrachter Leidenschaft, blind, und befanden sich also nicht im Zustande der Freiheit des Verstandes und Willens . . . Dieser Schriftsteller [Fichte] aber macht auf dieselbe Anspruch . . . Sollte man nicht einem jeden Deutschen zu rufen: Brutus, und du kannst schlafen, während dem ein philosophischer Jourdan sein Kopfabschneider-Evangelium predigt?" 115 Und schließlich auch hier die Morddrohung: „Wenn übrigens das Naturrecht, das der Verfasser aufstellt, wie er einräumen muß, das Naturrecht aller Menschen sein soll, so wundert es mich, daß seine Mitbürger es abwarten, ob er sie nicht zum Opfer desselben macht. Warum kommen sie dem Manne nicht %uvor, und behandeln ihn nach seiner Lehre von der Heiligkeit der Verträge? (Er hat sich ja durch seine eigene Philosophie schon vogelfrei gemacht!!)"!^ Wie gesagt, dieses Urteil entfernt sich in seiner prinzipiellen Einschätzung nicht allzuweit vom Tatsächlichen, insofern Fichte über ein bloß allgemeines Formulieren des Rechts auf Revolution hinausgeht. Fichte erweitert vor allem das Recht auf Revolution zur Pflicht auf Evolution. Widerspricht nämlich ein Staat ganz offensichtlich seinem Endzweck, dann hat ein Volk nicht nur das Recht, sondern die Pflicht zur Verfassungsänderung. „Alle Staatsverfassungen", stellt Fichte fest, „die den völlig entgegengesetzten Zweck der Sklaverei Aller und der Freiheit eines Einzigen, der Kultur Aller für die Zwecke dieses Einzigen und der Verhinderung aller Arten Kultur, die zur Freiheit mehrerer führen, zum Endzwecke haben, (sind) der Abänderungen nicht nur fähig . . . , sondern müssen wirklich abgeändert werden." Denn: „Keine Staatsverfassung ist unabänderlich, es ist in ihrer Natur, daß sie sich alle ändern. Eine schlechte, die gegen den notwendigen Endzweck aller Staatsverbindungen streitet, muß abgeändert werden; eine gute, die ihn befördert, ändert sich selbst ab. Die erstere ist ein Feuer in faulen Stoppeln, welches raucht, ohne Licht noch Wärme zu geben; es muß ausgegossen werden. Die letztere ist eine Kerze, die sich durch sich selbst verzehrt, so wie sie leuchtet, und welche verlöschen würde, wenn der Tag anbräche." 117 Eben dieser Tatbestand, daß die Staatsverfassungen dem Endzweck des Staates widersprechen, ist in den meisten der gegenwärtigen europäischen Staaten gegeben. „Man sieht es ja freilich unseren Staatsverfassungen und allen Staatsverfassungen, die die bisherige Geschichte kennt, an", so stellt Fichte fest, „daß ihre Bildung nicht das Werk einer verständigen kalten Beratschlagung, sondern ein Wurf des Ohngefähr oder der gewaltsamen Unterdrückung war. Sie gründen sich alle auf das Recht des Stärkeren; wenn es erlaubt ist, eine Blasphemie nachzusagen, um sie verhaßt zu machen." 118 Vor allem aber widersprechen jene europäischen Staaten der Gegenwart ihrem Endzweck, in denen es privilegierte Stände gibt und die katholische Kirche ein Teil der Sinnenwelt ist. Alle Verträge mit dem Adel und der katholischen Kirche — Adel und katholische Kirche betrachtet Fichte als Staaten im 140

Staate — können nicht nur, sondern müssen aufgekündigt werden, erst ein solcher Akt schafft die Voraussetzungen zu einem rechtmäßigen, d. i. dem Sittengesetz entsprechenden und mit ihm übereinstimmenden Staat. Allein mit dieser Antwort ist das Problem noch nicht erschöpft. Wie nämlich, wenn sich die Begünstigten (Adel und Geistlichkeit) der rechtmäßigen Aufkündigung der Verträge wiedersetzen? Hier kommt Fichte zur Beantwortung der entscheidendsten Frage jeder Theorie, die das Phänomen Revolution behandelt: der Frage nach dem Gebrauch revolutionärer Gewalt. Mit seiner Antwort steht Fichte Robespierre näher als ihrem gemeinsamen geistigen Stammvater, Rousseau. Das Recht auf Revolution beinhaltet ja zunächst nur, daß der Staatsvertrag aufgekündigt werden kann und in bestimmten Fällen aufgekündigt werden muß, was konkret bedeutet, daß als erstes alle Privilegien des Adels abzuschaffen und die Kirchengüter zu säkularisieren sind. Beides geschieht durch Aufkündigung aller Verträge mit dem Adel und der Kirche. Das Recht auf Revolution bedeutet jedoch sofort mehr und schließt den Gebrauch revolutionärer Gewalt ein, wenn Adel und Geistlichkeit dem rechtmäßigen Akt der Abschaffung aller Privilegien und der Säkularisierung des kirchlichen Grundbesitzes entgegentreten ; dann tritt jene Situation ein, in der es rechtmäßig ist — hier spricht Fichte nicht mehr als Rechtstheoretiker, sondern als Politiker —, gegen Adel und Geistlichkeit — der bloßen Theorie nach — unrechtmäßig, d. i. revolutionär, vorzugehen. Denn die Aufkündigung aller Verträge mit dem Adel und der Kirche ist ein unveräußerliches Menschenrecht, das alle, auch die negativ von ihm Betroffenen, zu respektieren haben. Wer diesem Recht entgegentritt, seine Wirksamkeit zu verhindern trachtet, der stellt sich jenseits der Gesellschaft und ist als Feind der Menschheit zu behandeln. Fichte stellt die Frage nach dem Gebrauch revolutionärer Gewalt, wie auch die Revolutionsregierung von 1793/94 bei ihrer Begründung des Terrors 119 , als Problem des Straftechts. An sich ist jede Todesstrafe Mord, weil der Mensch Selbstzweck und nicht 'Mittel für einen seinem Wesen fremden Zweck ist. Doch liegen in diesem Fall die Dinge anders. Widerstand gegen ein unveräußerliches Menschenrecht können nur Feinde der Menschheit leisten, die als solche außerhalb jedes bürgerlichen Gesetzes stehen. „Beileidigt der Bürger an der Gesellschaft unveräußerliche Menschenrechte (nicht bloße Vertragsrechte), so ist er nicht mehr 'Bürger, er ist Feind-, und die Gesellschaft läßt ihn nicht büßen-, sie rächt sich an ihm, d. h. sie behandelt ihn nach dem Gesetze, das er aufstellte." 120 Ein solches Verhalten Feinden der Menschheit gegenüber, obwohl der Theorie nach unrechtmäßig, ist in der politischen Praxis mehr als rechtmäßig, denn Adel und Geistlichkeit waren als Begünstigte bereits vor der Aufhebung aller Verträge mit ihnen nicht Bürger. Mit der Aufkündigung der Verträge gibt ihnen die Gesellschaft die Chance, es zu werden — wenn sie diese Chance nicht wahrnehmen, so sind für die Folgen allein sie selber verantwortlich. Der Einwand moralischer Art, die Aufkündigung der Verträge wäre ungerecht, weil viele 141

aus dem „größten Überflusse plötzlich in einen weit mittelmäßigeren Zustand herabsinken 121 , an den sie nicht gewöhnt sind, ist nicht stichhaltig. 122 „Kein Mensch auf der Erde hat das Recht, seine Kräfte ungebraucht zu lassen und durch fremde Kräfte zu leben'r, begegnet Fichte diesem Einwurf, und gleichsam zur Bekräftigung fügt er hinzu: „Wer nicht arbeitet, soll nicht essen."123 Wenn also einzelne Angehörige oder ganze Gruppen der ehemals Begünstigten den neuen, aus der Revolution hervorgegangenen Zustand nicht anerkennen, wenn sie heimlich oder offen gegen den neuen, nunmehr rechtmäßigen Staat Aktionen vorbereiten oder unternehmen, so ist dieser berechtigt, mit Gewaltmaßnahmen124 bis zur physischen Vernichtung gegen diese vorzugehen. „Führen sie, öffentlicht oder heimlich, Krieg gegen den Staat, dann . . . bekommt dieser ein Recht auf ihre persönliche Freiheit, nicht als auf Bürger, sondern als auf Menschen, nicht vermöge des Bürgervertrages, sondern vermöge des Naturrechts, nicht das Recht, sie zu strafen, sondern das Recht, sie zu bekriegen. Er wird gegen sie in den Fall der Notwehr versetzt." 125 In diesem Punkt, in der Begründung des Gebrauchs revolutionärer Gewalt, des Terrors gegen konterrevolutionäre Bestrebungen, treffen sich in der Tat Fichte und Robespierre. Mag das Anwendungsgebiet des Terrors während der revolutionär-demokratischen Diktatur der Jakobiner weiter gefaßt, breiter sein — was es tatsächlich auch war, vor allem in der Zeit der Großen Terreur 126 —, so ist das ein Unterschied, der aus der revolutionären Praxis resultiert, die Motive aber und die ins Feld geführten Argumente sind bei Fichte und Robespierre127 die gleichen. Interessant in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, daß nicht nur die Ideologen der feudalen Reaktion ihre Angriffe in erster Linie gegen Fichtes Begründung der Anwendung revolutionärer Gewalt richten, sondern daß auch die Vertreter des gemäßigten staatsrechtlichen Liberalismus gerade diesen Punkt des „Beitrags" der Kritik unterziehen. Als Beispiel das Urteil des Vorgängers von Fichte auf dem Jenenser Lehrstuhl, die Stellungnahme Karl Leonhard Reinholds zum „Beitrag". Unter dem 31. Januar 1794 schreibt Reinhold, der sonst seinem Nachfolger in Jena mit Wohlwollen und Sympathie gegenübersteht, an Jens Baggesen: „Die Beiträge dieses starken Geistes — im guten Sinne des Wortes sei es gesagt — haben mich, mitten im Beifall, den sie mir abnötigten, an das alto adagium: Summum jus, summa injuria, das man sonst nur gegen die positive Rechtslehre gebrauchte, erinnert; und seine Invectiven gegen die Klugheit haben mich nicht vergessen gemacht, daß Weisheit nicht bloße Sittlichkeit, sondern sittliche Klugheit ist. Die Realität des Sittengesetzes in dieser Welt der Erscheinungen hängt von der Anwendung desselben auf das, was uns in den selbstischen und sympathischen Neigungen gegeben ist, ab, und der menschliche Wille ist mir nur als Selbstbestimmung zur Befriedigung oder Nichtbefriedigung eines Begehrens denkbar. Kein einziges besonderes, unter dem Allgemeinen, das die bloße Gesetzmäßigkeit als solche dem Willen zur Vorschrift macht, stehendes, und folglich nicht ohne eine sinnliche Bedingung denkbares, auf die Sinnenwelt 142

angewendetes Gesetz gilt daher ohne Einschränkung, ohne die Bedingung seiner Subsumtion, die sich nicht aus den allgemeinen Gesetzen ableiten, nicht durch praktische Vernunft bestimmen läßt, sondern die durch Klugheit beurteilt werden muß: ob sie unter den vorhandenen Umständen stattfinde oder nicht. Du sollst nicht töten gilt keineswegs ohne Ausnahme, und zwar nicht ohne solche Ausnahme, die sich keineswegs allein a priori aus dem reinen Sittengeset% bestimmen läßt. Der Satz: der Staat muß mir meine Menschenrechte zusichern, gilt nur unter Ausnahmen, unter denen eine der ersten ist: so weit er dies ohne seinen eigenen Untergang vermag. Ich bin daher Kant's und nicht Fichte's Meinung: daß man im Staate gegen das Oberhaupt kein Zwangsrecht habe, weil die Verzichtleistung auf dieses Zwangsrecht, zum Besten der Erhaltung des Staats, in dem bürgerlichen Contract notwendig miterhalten sein muß. Noch weiter bin ich von Fichte in dem Satze entfernt: daß ein Vertrag durch den Willen auch nur Eines der Contrahenten aufgehoben werden könne; denn meine Freiheit ist, sobald ich den Contract eingegangen habe, nicht mehr bloß durch sich selbst, sondern auch durch die Freiheit des Anderen gebunden, der ich zu nahe trete, wenn ich einseitig den Contract aufhebe, der nur zweiseitig entstanden ist." 128 Soweit Reinhold. Wir haben aus diesem Brief etwas länger zitiert, weil das darin enthaltene Urteil über Fichtes „Beitrag" in doppelter Hinsicht aufschlußreich ist. Einmal ist die Feststellung Reinholds, daß Fichte Unrecht zu Recht mache, von der Theorie her gesehen durchaus zutreffend. Fichte erhebt im „Beitrag'' in der Tat das Summum jus, summa injuria zum Grundsatz. Reinhold hat das richtig herausgefunden. Denn bloß verfassungsrechtlich geurteilt, ist jede einseitige Aufhebung eines Vertrages ohne Schadenersatzpflicht unrechtmäßig. Aber — und das übersieht Reinhold bzw. will er als Anhänger des staatsrechtlichen Liberalismus nicht wahrhaben — Fichte urteilt in diesen Partien seiner Revolutionsschrift nicht als Rechtstheoretiker, sondern als Politiker und in dieser Eigenschaft als Anwalt der kleinbürgerlichen Schichten, die sich von der bürgerlichen Revolution eine Gesellschaft mit maximaler Vermögensgleichheit versprechen. Ebenso richtig ist Reinholds Einwurf gegen Fichtes Ansicht, daß das Recht auf Revolution jedem Individuum als Menschenrecht zuzubilligen sei. Doch kann diese Kritik dahingestellt bleiben, weil Fichte diese Anschauung, wie gesehen, selber nicht aufrechterhält, gar nicht aufrechterhalten kann. Zum anderen aber ist dieser Brief eine gute Illustration dafür, wie die Theoretiker des staatsrechtlichen liberalen Denkens vor den Folgerungen ihrer eigenen Naturrechtstheorie zurückschrecken, wenn aus ihr alle Konsequenzen gezogen werden, was Fichte tut. Denn die naturrechtliche Vertragstheorie führt an sich zu revolutionären Schlußfolgerungen, sobald sie mit der gesellschaftlichen Praxis konfrontiert und mit dem gegebenen sozialen Schema in Beziehung gesetzt wird — wenn nicht, wie bei Kant, entwicklungsgeschichtliches Denken als Moment der Beurteilung des politischen und sozialen Status quo hineingebracht wird.129 Wir sahen, daß Fichte dieses Moment im „Beitrag" von vornherein aus143

schaltet. Dadurch ist zwar ein Rückschritt gegenüber Kant in der Überwindung des. ahistorischen Denkens des Aufklärungsrationalismus gegeben, doch gewinnt Fichte gerade dadurch den notwendigen Raum zur konkreten Begründung des Rechts auf Revolution, das — wir wiederholen — von der Warte des Bürgertums aus konsequent nur mit Hilfe rationalistischer Konstruktionen vorgeführt werden kann. VIII Der „Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die Französische Revolution" ist unvollendet geblieben. Den beabsichtigten zweiten Teil, die „Weisheit" der Revolution betreffend m , hat Fichte nicht mehr erscheinen lassen; das Manuskript hierzu muß, wenn ein solches überhaupt existiert hat, als verloren angesehen werden. Aber schon in der „Rechtsphilosophie" von 1796/97 kommt Fichte auf die Hauptanliegen des „Beitrags" zurück, führt dessen Grundgedanken weiter, systematisiert sie. Doch die Behandlung erfolgt nicht in der gleichen Weise, und das Ergebnis ist nicht dasselbe. Fichte vollzieht während der Weiterführung der Grundgedanken des „Beitrags" in seinem „Naturrecht" eine Wendung, die in der Schrift von 1793 schon angelegt war: Die radikal-liberalen Elemente seiner Staatstheorie, die in der Revolutionsschrift gegen das Ende hin stark abgeschwächt werden, verschwinden in der Rechtsphilosophie von 1796/97 ganz. Zwei Punkte aus der „Grundlage des Naturrechts" sind für unser Anliegen von Interesse: Fichtes erneute Begründung des Rechts auf Revolution und seine hier entwickelten sozialen Anschauungen. In beiden Fällen steht er — trotz anderer mannigfacher Unterschiede — mit Robespierre und den Jakobinern in einer Front. Zunächst das Recht auf Revolution. In den Debatten und Kämpfen um die französische Konstitution während der Revolutionszeit spielt die Frage nach dem Recht auf Revolution eine außergewöhnlich große Rolle. Die beiden wohl interessantesten Verfassungsentwürfe im akuten Stadium der Revolution, der der Girondisten und der der Jakobiner, beantworten diese Frage jeder auf seine Art, d. h. entsprechend den Forderungen und Bedürfnissen der Klasse oder Klassenfraktion, deren Spiegelbild sie sind und deren Aktionsradius juristisch durch sie — in Abgrenzung gegenüber den anderen Klassen und Klassenfraktionen — ausgemessen wird. Condorcet, der den girondistischen Verfassungsentwurf entwickelt, anerkennt das Recht auf Revolution als Menschen- und Bürgerrecht. 131 Diese Anerkennung ist jedoch eine rein formale, denn Condorcet ist sofort bemüht, das Recht auf Revolution zu beschneiden, ja in der politischen Praxis durch verfassungsrechtliche Klauseln unwirksam zu machen. Das geschieht dadurch, daß er gesetzliche Mittel vorschreibt, in deren Rahmen das Recht auf Widerstand Anwendung finden kann, und es auf bestimmte Fälle festlegt. Artikel 31 seines Verfassungsentwurfs sagt: „Die in einer Gesellschaft vereinigten Men144

sehen müssen ein gesetzliches Mittel haben, der Unterdrückung Widerstand zu leisten." Mit anderen Worten: Condorcet will Institutionen begründen, die nach ihrer Maßgabe über alle verfassungsrechtlichen Streitigkeiten eine Entscheidung herbeiführen und — sie damit erledigen. Das bedeutet in der politischen Praxis, daß ein Volk niemals das Recht auf Insurrektion, sondern bloß auf Petition und Anrufung hat. Im Artikel 32 legt Condorcet dann das Recht auf Widerstand auf drei mögliche Fälle fest. Er formuliert: „Unterdrückung liegt vor, wenn ein Gesetz die natürlichen, bürgerlichen und politischen Rechte verletzt, für welche es Bürgschaft leisten sollte. Unterdrückung liegt vor, wenn das Gesetz durch die öffentlichen Beamten bei einer Anwendung desselben auf einzelne Tatsachen verletzt wird. Unterdrückung liegt vor, wenn ein willkürliches Verfahren die Rechte der Bürger, dem Buchstaben des Gesetzes zuwider, verletzt." Und zur erneuten Bekräftigung des Artikels 31 wird als Schlußsatz hervorgehoben: „Unter einer freien Regierung muß die Art des Widerstandes gegen diese verschiedenen Handlungen der Unterdrückung durch das Gesetz bestimmt werden." Unter solchen Umständen bleibt von dem Menschen- undBürgerrecht auf Revolution am Ende bei Condorcet und den Girondisten nicht mehr viel übrig, vor allem, wenn man die Frage stellt: Hat ein Volk das Recht auf Revolution? Demgegenüber bejahen die Jakobiner konsequent das Recht auf Revolution, machen allerdings in ihrem Verfassungsentwurf die „Einschränkung", daß das Recht auf Widerstand nur dem ganzen Volk zukomme 1 3 2 — für das Individuum gilt dieses Recht nur, wenn in seinem Fall, d. i. im Einzelnen das Ganze, also das Gesamtinteresse eines Volkes verletzt wird. 133 Nach gesetzlichen Mitteln und bestimmten Fällen, in deren Rahmen das Recht auf Revolution zur Geltung kommen kann, zu fragen, wie Condorcet, kommt den Jakobinern nicht in den Sinn. Das hat seinen Grund darin, daß sich Robespierre und seine Mitkämpfer als Ausschuß, als Sachwalter des Gesamtinteresses der ganzen Nation betrachten und fühlen. 134 Sie selber sind ja nach ihrer Meinung die Revolution, die sie im Auftrag aller guten Bürger weiterführen, auf eine höhere Stufebringen wollen und die für sie nichts anderes ist als „Krieg der Freiheit gegen ihre Feinde". Deshalb nimmt auch das Recht des Volkes auf Revolution in ihrer Verfassung, obwohl sie es prinzipiell und konsequent bejahen und vertreten, einen untergeordneten Platz ein. Als natürliche Rechte werden „Freiheit, Gleichheit, Sicherheit, Eigentum" an den Anfang der Verfassung gestellt, das Recht auf Widerstand folgt erst im Artikel 33 als „Folge aus den übrigen Rechten des Menschen." Eigentlich wird das Recht auf Insurrektion, nachdem die Tugend — das Gesetz selber in Gestalt der Revolutionsregierung — zur Herrschaft gelangt ist, überflüssig, denn das Gesetz „kann nicht verordnen, was nicht gerecht und für die Gesellschaft von Vorteil ist, es kann nichts verbieten, was ihr nicht schädlich ist". Deutlich kommen die dieser Argumentation zugrunde liegenden Gedanken 10

Buhr

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in der Diskussion Ende 1793 im Jakobinerklub bei der Behandlung des Verbots der Sektionsgesellschaften zum Ausdruck. Momoro tritt gegen das Verbot der Gesellschaften auf, weil der Mensch das unveräußerliche Recht habe, sich in Organisationen zu vereinen; ihm entgegnet Robespierre, daß das öffentliche Wohl dieses Verbot fordere, „was aber das öffentliche Wohl gebietet, entspricht ohne jeden Zweifel den Prinzipien". Noch deutlicher spricht sich Robespierre in seiner Rede zur Begründung der Suspension der Verfassung darüber aus: „Die Tempel der Götter sind kein Asyl für Verbrecher. Und die Konstitution soll nicht Verschwörer schützen, die sie zerstören wollen. Auf das Wohl des Volkes, dieses heiligste aller Gesetze, stützt sich die revolutionäre Regierung, ihre Grundlage ist die Notwendigkeit. Erhaltung ist der Zweck einer konstitutionellen, Gründung der einer revolutionären Regierung. Revolution ist Krieg der Freiheit gegen ihre Feinde." Im Grunde genommen hätten die das Recht des Volkes auf Revolution festlegenden Artikel der jakobinischen Verfassung denselben Nachsatz wie Artikel 7 erhalten können, der das Recht auf Versammlungsfreiheit, auf Pressefreiheit und auf freie Kultusausübung beinhaltet: „Die Notwendigkeit, diese Rechte ausdrücklich zu formulieren, setzt entweder das Dasein oder die frische Zurückerinnerung des Despotismus voraus." Für Robespierre und seine Kampfgefährten ist das Recht auf Revolution eine Selbstverständlichkeit, genauso wie die im Artikel 7 formulierten Rechte eine Selbstverständlichkeit sind, deshalb bedarf es gar keiner ausgiebigen verfassungsrechtlichen Festlegung dieses Rechts. Aber ebenso ist es für die jakobinischen Spitzen eine Selbstverständlichkeit, daß das Recht des Volkes auf Revolution in dem Moment eine bloße Angelegenheit der Vollständigkeit der Konstitution wird, in dem die Sachwalter des Gesamtinteresses des Volkes das Wohl der Nation in die Hand nehmen, was bedeutet, daß das Volk selber seine Geschicke in die Hand nimmt — und das Volk kann gegen sich selber keine Revolution machen, wird Fichte in seiner Rechtsphilosophie von 1796/97 formulieren. 135 Fichte setzt genau an diesem Punkt an. An sich ist die Formulierung des Rechts auf Revolution, wenn nicht überflüssig, so eine Sache der Vollständigkeit der Konstitution, weil jeder Staat nach dem Grundsatz: das Recht soll herrschen136 einzurichten ist,137 weil die Handlungen einer Regierung dem Wohl des ganzen Volkes entsprechen müssen, die Regierung gleichsam der konzentrierte Ausdruck des Volkswillens zu sein hat. Deshalb kann auch nicht jedes Individuum (als Privatperson) das Recht auf Widerstand in Anspruch nehmen, sondern nur ein Volk als Ganzes.138 Der einzelne, der gegen eine Regierung aufsteht, ist immer Rebell 139 und als solcher zu behandeln. Aber ein Volk als Ganzes, das gegen seine Bedrücker aufsteht, kann nie Rebell sein, sondern nimmt nur seine sittliche Pflicht wahr. „Das Volk" — zu „Volk" macht Fichte die Anmerkung: „Man verstehe wohl, daß ich vom ganzen Volke rede" — „ist nie Rebell, und der Ausdruck Rebellion, von ihm gebraucht, ist die höchste Ungereimtheit, die je 146

gesagt worden; denn das Volk ist in der Tat und nach dem Rechte die höchste Gewalt, über welche keine geht, die die Quelle aller anderen Gewalt, und die Gott allein verantwortlich ist. Durch seine Versammlung verliert die exekutive Gewalt die ihrige, in der Tat und nach dem Rechte. Nur gegen einen Höheren findet Rebellion statt. Aber was auf der Erde ist höher denn das Volk! Es könnte nur gegen sich selbst rebellieren, welches ungereimt ist. Nur Gott ist über das Volk; soll daher gesagt werden können: das Volk habe gegen seinen Fürsten rebelliert, so muß angenommen werden, daß der Fürst ein Gott sei, welches schwer zu erweisen sein dürfte." 140 Der Gleichklang der Gedanken Fichtes und Robespierres zur Begründung des Rechts des Volkes auf Revolution ist offensichtlich. Beide gestehen nur dem ganzen Volk das Recht auf Widerstand zu, beide sind der Auffassung, wenn die „ideale Konstitution" (Fichte) vom Volke verabschiedet und auf ihrer Grundlage regiert wird oder die republikanische Bürgertugend in Gestalt der revolutionären Regierung (Robespierre) zur Herrschaft gelangt ist, dann ist das Insurrektionsrecht eine Frage der Vollständigkeit der Verfassung, nicht mehr unbedingt der politischen Praxis, weil diese durch die aus dem Volk hervorgegangene und nur in dessen Auftrag handelnde Regierung in den Bahnen des Gesamtinteresses des Volkes gehalten wird. Und beide erliegen schließlich der Illusion, daß ein einheitlicher Wille des Volkes in der bürgerlichen Gesellschaft zur Geltung kommen könne, als dessen bloßer Sachwalter sich eine Regierung zu betrachten habe (Fichte), sich die Revolutionsregierung von 1793/94 betrachtet hat (Robespierre). Das letztere hat seinerseits eine weitere, von Rousseau genährte Illusion zur Grundlage. Fichte wie Robespierre gehen von der Annahme aus, daß sich innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft die verhältnismäßige Gleichheit der Vermögen aller Bürger herstellen läßt, ja sie sehen darin geradezu den Sinn der neuen Gesellschaft. Diese Illusion von der verhältnismäßigen Gleichheit der Vermögen ist der Ausgangspunkt der sozialen und wirtschaftlichen Anschauungen Fichtes, die er im zweiten Teil der „Grundlage des Naturrechts" und in dem als Anhang zu diesem geschriebenen „Geschlossenen Handelsstaat" entwickelt. Im „Beitrag" spielen soziale und wirtschaftspolitische Fragen keine besondere Rolle, diese kommen 1793 nur am Rande vor und werden in unsystematischer Form vorgetragen. Um so größere Bedeutung mißt ihnen Fichte jetzt im „Naturrecht" und im „Handelsstaat" zu. Dabei ist es nicht uninteressant, die biographische Tatsache zu vermerken, daß zwischen dem „Beitrag" und dem „Handelsstaat", zwischen 1793 und 1800 also, eine Periode liegt, in der sich Fichte eingehend mit sozialen und wirtschaftspolitischen Fragen beschäftigt hat. Insbesondere scheint Fichte seine Aufmerksamkeit der Wirtschafts- und Sozialpolitik des Konvents zugewandt 141 und die ihm greifbaren Nachrichten über die Verschwörung Babeufs 142 studiert zu haben. Jedenfalls sprechen ganze Partien des „Naturrechts" und des „Handelsstaates" relativ begründet für diese Annahme. 10«

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Seit der Studie von Marianne Weber über Fichte ist in der Literatur immer wieder die Frage angegangen worden, inwieweit Fichte mit den Anschauungen Babeufs vertraut war und ob eine Beeinflussung Fichtes durch Babeuf stattgefunden hat. Marianne Weber schrieb: „Fichtes einziger wirklicher Vorläufer ist . . . Babeuf, und da in technischen Einzelheiten Analogien zwischen beiden bestehen, erscheint es uns nicht unmöglich, daß Fichte von der Verschwörung der Gleichen und Babeufs kommunistischer Theorie gewußt hat." 143 Vor Marianne Weber war schon Anton Menger zu dieser Auffassung gelangt. Menger stellte fest, ohne jedoch für seine Behauptung Belege anzuführen: „Viel weiter . . . geht Fichte in seinem geschlossenen Handelsstaat..., zu welchem das Regierungssystem der französischen Republik während der terroristischen Periode (1792 bis 1794) mit den Assignaten und dem Maximum, dann vielleicht auch die Pläne der Babeufschen Verschwörung (1796) die Grundlage geliefert haben." 144 Wenn die Forschung bislang auch noch keine handgreiflichen Tatsachen zutage fördern konnte, so scheint uns doch gesichert zu sein, daß Fichte mit den Anschauungen Babeufs vertraut war. Außer den Berichten der „Minerva" über Babeuf, die Fichte sicher gekannt hat, konnte er „über Schweizer Freunde ganz gut 1795 in den Besitz des .Tribun du Peuple* gelangt sein und einen bestimmten Eindruck daraus gewonnen haben" 145 . Aus diesem Sachverhalt kann u. E. jedoch nicht der Schluß gezogen werden, daß Fichte durch Babeuf beeinflußt worden bzw. von Babeuf in bestimmten Gedankengängen abhängig sei. Solange keine weiteren Fakten zu einer direkten Beweisführung zur Verfügung stehen, ist ein solcher Schluß nicht gerechtfertigt. Die zahlreichen gleichklingenden Partien in der babouvistischenLiteratur und dem „Naturrecht" und „Handelsstaat" beweisen im Hinblick auf eine Beeinflussung Fichtes durch Babeuf noch gar nichts. Einmal steht fest, daß Babeuf und Fichte zum Teil von gleichen Quellen ausgegangen sind, so daß die vorhandenen Analogien in der babouvistischen Literatur und Fichtes „Naturrecht" und „Handelsstaat" nicht aus einer Beeinflussung Fichtes durch Babeuf zu resultieren brauchen, sondern ihren Ursprung in von beiden benützten Quellen haben können. Die Quelle Rousseau steht für beide zuverlässig fest, als mögliche weitere literarische Vorlagen kommen die Sozialutopien der letzten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts in Frage. Weiter läßt sich leicht nachweisen, daß jene Gedanken in den Werken Fichtes von 1795—1800, die ob ihres Gleichklangs mit den Anschauungen Babeufs als Beweis für die Beeinflussung Fichtes durch Babeuf herangezogen werden können, im Ansatz im „Beitrag" und in noch früheren Dokumenten auffindbar sind.146 Die Frage der Beeinflussung Fichtes durch Babeuf muß als direkte Frage deshalb vorerst unentschieden bleiben — so lange unentschieden bleiben, bis durch subtile Untersuchungen alle Parallelstellen zwischen der babouvistischen Literatur und dem „Naturrecht" und „Handelsstaat" verzeichnet, auf ihre theoretischen Vorlagen hin geprüft und konkrete biographische Fakten dieses Zusammenhangs an den Tag gebracht worden sind, die über das bis jetzt Bekannte hinaus148

gehen. Hinzu kommt, daß jedes vorschnelle Urteilen im Fall Fichte besonders fehl am Platz ist. Fichte war eine zu komplexe Erscheinung, als daß man seine Philosophie mit Abhängigkeits- und Beeinflussungstheorien oder der Suche nach literarischen Belegen adäquat zu erfassen vermag. Geschieht das vorwiegend, dann kommt man leicht zu Fehlschlüssen oder Behauptungen, deren zweifelhafter politischer Sinn offenliegt — etwa zu der getroffenen Feststellung, daß Fichtes Staatstheorie als Beispiel für rote wie für schwarze Diktaturen dienen könne.147 Was uns jedoch trotz des Angeführten berechtigt scheint, ist, von BabeufMotiven in Fichtes „Naturrecht" und „Handelsstaat" zu sprechen, und zwar in genau dem gleichen Sinn, wie wir oben von „Jakobinischem" in Fichtes Philosophie sprachen. Allerdings muß hinzugefügt werden, daß das letzte Wort über die möglichen Beziehungen Fichtes zu Babeuf noch nicht gesprochen ist, da es durchaus im Bereich des Möglichen liegt, daß in dem noch nicht verwerteten Quellenmaterial Hinweise zu finden sind, die diese Frage erneut zur Diskussion stellen.148 Fichte war mit dem „Beitrag" bald selbst nicht mehr zufrieden, wie uns eine Selbsteinschätzung zeigt. An Theodor von Schön, der ihm mitgeteilt hatte, daß sich Kant über die Revolutionsschrift nicht gerade beifällig geäußert habe, schreibt Fichte: „Daß dem alt und bedenklich werdenden Kant mein Beitrag nicht behagt, kann ich sehr wohl glauben: der Grund aber, den er dafür angibt, daß ich mich nicht dazu melde, ist nicht der rechte. Ich bin allerdings mit dem meisten nicht mehr zufrieden, was ich darin gesagt: aber nicht, weil ich weit, sondern darum, weil ich nicht weit genug gegangen. Das Natur- und Staatsrecht muß, so wie die ganze Philosophie, noch eine ganz andere Umkehrung erfahren." «9 Was meint Fichte damit, wenn er schreibt, er sei in der Schrift zur Französischen Revolution „nicht weit genug gegangen" ? Wir bemerkten oben, daß Fichte im „Beitrag" seine anfangs eingenommene liberale Haltung zum Staat dort mehr oder weniger aufgibt, wo er sich der konkreten Frage nach dem Gebrauch revolutionärer Gewalt zuwendet. Der Staat wird bei dieser Gelegenheit von Fichte — der Sache nach — mit Machtbefugnissen ausgestattet, die zu allem anderen als zum Wesen des liberalen Nachtwächterstaates gehören, der doch auf Grund seiner anfänglichen Argumentation als Ergebnis stehen müßte. Fichte formuliert das zwar nicht so scharf, wie wir eben — aber wem anders soll der Gebrauch revolutionärer Gewalt an die Hand gegeben werden als einer starken Staatsgewalt? Die Revolutionsschrift ist so durchgängig von einer latenten Spannung beherrscht: Freiheit — Einschränkung der Freiheit. Im „Naturrecht" und im „Geschlossenen Handelsstaat" ist diese Spannung zugunsten des Moments der Einschränkung aufgehoben. Im Ergebnis der Entwicklung, um etwas zu übertreiben, erscheint Fichte, der sich 1793 über weite Strecken als Vertreter extremer liberaler Anschauungen vorstellt, 1800 als Vertreter ebensolcher extremer — nun aber etatistischer Gedanken. 149

Diese „Wandlung" Fichtes ist nicht zufällig, sie setzt eine Auffassung voraus, die für das staatsrechtliche Denken — und nicht nur für dieses — der Theoretiker der kleinbürgerlichen Schichten in der aufsteigenden Epoche des Kapitalismus charakteristisch ist. Die zugrunde liegende Problematik durchzieht das Werk Rousseaus, spielt in den Debatten des Konvents eine erhebliche Rolle und wird schließlich von Fichte erneut in die Reflexion einbezogen. Sie hat ihre Ursache in der sozialen Zwischenstellung der Mittelgruppe der bürgerlichen Gesellschaft, in dem Bestreben nach gesellschaftlicher Abgrenzung nach oben und unten; ihre beiden Pole sind: Freiheit für das Individuum von jedem staatlichen Zwang auf der einen — Betonung und Hervorkehrung der Staatsräson auf der anderen Seite. Bei Rousseau ist diese Problematik durch seine beiden Werke Emile und Contrat social festgelegt. Der 'Emile proklamiert die Freiheit als Angelegenheit des Gemüts jedes Individuums und als unabhängig von allen möglichen Formen der Staatsgewalt. Im Contrat social dagegen wird das im Emile betont vertretene und proklamierte Recht auf Freiheit eingeschränkt.150 Ganz deutlich ist diese Umstellung an einem Problem zu beobachten, dem des Eigentums. Im Emile wird unter dem Recht auf Freiheit in erster Linie das Recht auf Eigentum verstanden, im Contrat social dagegen steht an erster Stelle das Recht auf Existenz, dem das Recht auf Eigentum und damit — allgemein — auf Freiheit untergeordnet ist. Robespierre formuliert das später, dabei von Rousseau ausgehend, schärfer und konsequenter. 151 „Was ist das vornehmste Ziel der Gesellschaft? Es ist die Wahrung unveräußerlicher Menschenrechte. Was ist das erste dieser Rechte? Das Recht auf Existenz. Das vornehmste gesellschaftliche Gesetz ist demnach das Gesetz, das allen Mitgliedern der Gesellschaft die Existenzmittel sichert; alle anderen sind diesem Gesetz untergeordnet ! Das Eigentum ist nur deshalb eingerichtet oder bestätigt worden, um dieses Gesetz zu besiegeln. Man besitzt Eigentum, um leben zu können . . . Welches Problem muß nach diesem Grundsatz in bezug auf die Gesetzgebung über den Lebensunterhalt erkannt und gelöst werden? Es ist folgendes: Allen Gliedern der Gesellschaft müssen wir den Genuß des Anteils der Früchte der Erde sichern, der für ihre Existenz notwendig ist." 152 Genau an diesem Punkt — wir gebrauchen absichtlich dieselben Worte — setzt auch Fichte mit seinen sozialpolitischen Reflexionen ein. Bei Fichte erhält das Recht auf Existenz Prioritätscharakter allen anderen Grundrechten gegenüber, und erst nach diesem kommt das Recht auf Eigentum und damit auf Freiheit. Geradezu an Marat erinnernd: „Bevor wir an die Freiheit denken, müssen wir daran denken zu leben" — formuliert Fichte im zweiten Teil des „Naturrechts": „Der höchste und allgemeine Zweck aller freien Tätigkeit ist . . . der, leben zu können. Diesen Zweck hat jeder; und wie daher die Freiheit überhaupt garantiert wird, wird er garantiert. Ohne seine Erreichung würde die Freiheit, und die Fortdauer der Person, gar nicht möglich sein." Und ganz im Sinne der eben zitierten Robespierre-Stelle führt er wenige Zeilen weiter aus: „Alles Eigentums150

recht gründet sich auf den Vertrag aller mit allen, der so lautet: wir alle behalten dies auf die Bedingung, daß wir dir das deinige lassen. Sobald also jemand von seiner Arbeit nicht leben kann, ist ihm das, was schlechthin das Seinige ist, nicht gelassen, der Vertrag ist also in Absicht auf ihn völlig aufgehoben, und er ist von diesem Augenblick an nicht mehr rechtlich verbunden, irgendeines Menschen Eigentum anzuerkennen."153 Damit aber nicht genug. Fichte fordert für die Einhaltung des Eigentumsvertrags, der vom Recht auf Existenz jedes Staatsbürgers her bestimmt wird, Garantien — Garantien im Hinblick auf seine Aufhebung, die zur Einhaltung gehört, wenn Staatsbürger von ihrem Eigentum nicht leben können oder sogar überhaupt keines besitzen. Die Garantien, jedem das Notwendige zum Leben zu geben, sind durch die Staatsgewalt vorhanden, denn „die exekutive Gewalt ist darüber so gut als über alle anderen Zweige der Staatsverwaltung verantwortlich". Und als Nachsatz — er ist in seiner Schärfe kaum noch zu überbieten: „Der Arme . . . hat ein absolutes Zwangsrecht auf Unterstützung." 154 Hier kommt der — in letzter Instanz — revolutionär-demokratische und die Volksinteressen zum Ausdruck bringende Charakter von Fichtes Soziallehre zum Vorschein. Fichte begründet seine sozialen Forderungen vom Recht auf Existenz her. Die ausschlaggebende Garantie des Rechts auf Existenz sieht Fichte — das kommt erweiternd hinzu — in der Einführung des Rechtes auf Arbeit und in seiner Verwirklichung in jedem Staate. Präziser müßte in diesem Zusammenhang daher eigentlich nicht vom Recht (bloß) auf Existenz, sondern immer vom Recht auf 'Existenz durch Arbeit bei Fichte gesprochen werden. Fichte betrachtet das vom Recht auf Existenz aus garantierte Eigentum eines Staatsbürgers nicht schon als Mittel zur Erhaltung seiner Existenz, sondern sieht in der Möglichkeit z u arbeiten dasjenige Mittel, welches die Existenz des Menschen erhält. Dabei versteht es sich von selbst, daß Fichte als Ideologe kleinbürgerlicher Schichten natürlich im Eigentum diejenige Voraussetzung erblickt, die die Verwirklichung des Rechtes auf Arbeit erst möglich macht. Das heißt, Fichte fordert für jeden Staatsbürger ein solches Eigentum, das die Möglichkeit (und die Pflicht) zu arbeiten in sich einschließt. „Jeder muß von seiner Arbeit leben können . . . Das Lebenkönnen ist sonach durch die Arbeit bedingt." 155 Fichtes energische Bemühungen, Möglichkeiten zu finden und in Vorschlag zu bringen, die bei ihrer Verwirklichung das Arbeitenkönnen jedes Mitgliedes eines Staatsverbandes garantieren, sind in diesen Beziehungen zu sehen. Die Sicherung der Existenz durch Arbeit ist für Fichte ein Hauptanliegen im „Naturrecht", im „System der Sittenlehre" und im „Handelsstaat". In der theoretischen Durchdringung dieses Problems ist Fichte konsequent — so konsequent, daß man bei genauerem Hinsehen nicht wenige Verstiegenheiten in seinen Ausführungen zu diesem Thema entdeckt. Auch der Vorwurf, daß Fichte in diesen Abschnitten seiner Lehre manchen Illusionen erlegen sei, der in der Literatur ziemlich früh gegen ihn erhoben wurde, 156 ist nicht von der Hand zu weisen. Aber hierbei handelt es sich um Illusionen, denen mehr oder minder 151

alle bürgerlichen Ideologen in der aufsteigenden Etappe ihrer Gesellschaft erlegen sind. Drei Forderungen stellt Fichte auf: 1. kann ein Mitglied des Staatsverbandes von seinem Eigentum nicht leben, so ist es rechtlich nicht verpflichtet, das Eigentum anderer zu respektieren, 2. Staatsbürger, die überhaupt kein Eigentum besitzen, haben ein Zwangsrecht auf Eigentum (Arbeit — Unterstützung), 3. der Staat hat das Recht und die Pflicht, jedem Staatsbürger seine Existenz zu sichern. Alle drei Forderungen leitet Fichte von dem Grundsatz jeder vernünftigen Staatsverfassung ab157, zu gewährleisten, daß alle Mitglieder eines Staatsverbandes ihre Existenz durch Arbeit erhalten können.158 Um diese Forderungen zu garantieren, muß Fichte den Staat mit Machtbefugnissen ausstatten, die mit liberalen staatsrechtlichen Grundsätzen nichts mehr zu tun haben. Doch das Problem ist für Fichte nicht die Konstruktion eines idealen Staatsgebildes, sondern die Fruchtbarmachung der Tatsache „Staat" zur Durchsetzung des Grundrechts auf Existenz durch Arbeit. Allein von hier aus muß Fichtes Argumentation interpretiert werden. Sieht man diese, wie es die bürgerliche Literatur immer wieder getan hat, unter dem Gesichtspunkt des Grades der Staatsverneinung oder Staatsbejahung des Philosophen in seinen verschiedenen Entwicklungsperioden, so wird am Kern des Fichteschen Problems vorbeigegangen. Fichte untersucht in seinen Darlegungen nicht zufällig nur die rechtlichen Verhältnisse im Staate, sondern leitet aus ihnen handgreifliche wirtschaftliche Forderungen ab. Und der „Geschlossene Handelsstaat" ist von Fichte ebensowenig zufällig als „Anhang zur Rechtslehre" bezeichnet worden. Gerade das enge Verhältnis von Recht und Wirtschaft in Fichtes „Naturrecht" und „Handelsstaat" unterstreicht, daß es dem Philosophen um ganz andere Dinge zu tun war als um eine ideale Staatskonstruktion. Zugleich unterstreicht dieses Verhältnis den Zug Fichtes nach Erfüllung seines Denkens in der Wirklichkeit. Wie anders sonst könnte Fichte dem Staat die Verwirklichung wirtschaftlicher Aufgaben zusprechen. Dabei hat die Verwirklichung dieser wirtschaftlichen Aufgaben nach Fichte immer im Hinblick auf die Durchsetzung des Rechts auf Existenz durch Arbeit zu erfolgen, d. h., sie hat der Herstellung menschenwürdiger Verhältnisse im Staate zu dienen, denn: „Es ist nicht ein bloßer frommer Wunsch für die Menschheit, sondern es ist die unerläßliche Forderung ihres Rechts, und ihrer Bestimmung, daß sie so leicht, so frei, so gebietend über die Natur, so echt menschlich auf der Erde lebe, als es die Natur nur irgend verstattet. Der Mensch soll arbeiten; aber nicht wie ein Lasttier, das unter seiner Bürde in den Schlaf sinkt, und nach der notdürftigen Erholung der erschöpften Kraft zum Tragen derselben Bürde wieder aufgestört wird. Er soll angstlos mit Lust und mit Freudigkeit arbeiten, und Zeit übrig behalten, seinen Geist und sein Auge zum Himmel zu erheben, zu dessen Anblick er gebildet ist . . . Dies ist sein Recht, darum weil er nun einmal ein Mensch ist." 159 Wie ernst es Fichte mit seinem Anliegen ist, zeigt die Tatsache, daß er das Recht auf Arbeit im engsten Zusammenhang mit dem Recht auf Revolution 152

behandelt. Beide Grundrechte bedingen sich in den Fichteschen Ausführungen gegenseitig. Zum Teil folgt das Recht auf Revolution in diesem Zusammenhang schon aus Fichtes Forderung, daß, wer seine Existenz durch seine Arbeit nicht erhalten kann, rechtlich nicht gebunden ist, eines anderen Eigentum anzuerkennen. „Jeder besitzt sein Bürgereigentum nur insofern und auf die Bedingung, daß alle Staatsbürger von dem Ihrigen leben können; und es hört auf, inwiefern sie nicht leben können, und wird das Eigentum jener." 1 6 0 Und im „System der Sittenlehre" stellt Fichte fest: „Jeder zum Vernunftgebrauche emporgewachsene Mensch soll ein Eigentum haben . . . Wer keins hat, hat auf das der anderen nicht Verzicht getan; und er nimmt es mit seinem vollen Rechte in Anspruch." 1 6 1 Allerdings ist Fichte jetzt weit davon entfernt, jedem Staatsbürger, der kein Eigentum hat, das Recht zuzusprechen, sich welches zu verschaffen, indem er selbständig Eingriffe in die bestehenden Eigentumsverhältnisse vornimmt. Eine Schlußfolgerung, die Fichtes Einstellung zum Staat von 1793 nahelegt. Doch im „Naturrecht" ist für eine gerechte Eigentumsverteilung zur Sicherung der Existenz jedes Staatsbürgers die Staatsgewalt verantwortlich. Die Verteilung des Eigentums erfolgt, wie Fichte feststellt, „immer nach dem bestimmten Urteil der Staatsgewalt" 1 6 2 . Oder an anderer Stelle: Sie „Sorge nun, daß jedermann ein Eigentum habe, kommt zuvörderst dem Staate zu". Daraus allerdings folgt: „Der Strenge nach ist in einem Staate, wo auch nur Ein Bürger kein Eigentum hat . . . überhaupt kein rechtmäßiges Eigentum. Denn jedem gehört sein Eigentum nur, inwiefern es alle anderen anerkannt haben; sie können es aber nicht anerkannt haben, ohne daß er von seiner Seite auch das ihrige anerkannt habe; sie müssen sonach eins haben." 1 6 3 Aus dem letzten begründet Fichte erneut das Recht auf Revolution. Fichte ist zwar, was wir oben schon ausführten, nicht mehr, wie zum Teil 1793, bereit, das Recht auf Revolution jedem einzelnen zuzugestehen, aber er hält an der These fest, daß das Recht auf Revolution ein unveräußerliches und unverlierbares Menschenrecht ist. Diese These ist für Fichte kein abstrakter Rechtsgrundsatz, sondern sie hat in seiner Rechtslehre eine höchst praktische Bedeutung. Fichte bringt das Recht auf Revolution ins Spiel, um seine sozialen Forderungen zu betonen. Oftmals ist das Recht auf Revolution auch eine Drohung gegen die herrschenden Gewalten seiner Zeit. Als erstes jedoch spricht Fichte dem Staat die Funktion eines Wohltäters des Volkes zu. Im „Geschlossenen Handelsstaat" schreibt er: „Die Regierung des [von Fichte] beschriebenen Staates hat selten zu strafen, selten gehässige Untersuchungen anzustellen. Die Hauptquelle der Vergehungen von Privatpersonen gegen einander, der Druck der wirklichen Not, oder die Furcht der zukünftigen ist gehoben . . . Verbrechen gegen den Staat, Aufwiegelung und Aufruhr ist ebensowenig zu befürchten. E s ist den Untertanen wohl, und die Regierung ist die Wohltäterin gewesen." 1 6 4 Doch wenn es eine Staatsgewalt unterläßt, die zur Errichtung des Vernunftstaates notwendigen Maßnahmen einzuleiten 153

und durchzuführen, dann ist das Volk berechtigt, diese Maßnahmen durch revolutionäres Vorgehen gegen die Regierung zu erzwingen. Fichte wird nicht müde, diese Möglichkeit den Herrschenden seiner Zeit als Grundrecht des Volkes vor Augen zu führen: „Man sage nicht, daß ich hier aus nicht zugestandenen philosophischen Grundsätzen den Regierungen ein Geschäft anmute, das sie nimmermehr als das ihrige anerkennen werden", sie müssen es tun „in der klaren Aussicht auf die Gefahren eines Aufruhrs von Volkshaufen, denen die äußerste Not nichts übrig läßt, das sie noch zu schonen hätten." 1 6 5 E s ist somit ein Vorurteil, wenn behauptet wird, daß sich Fichte als Ratgeber der Monarchen aufgespielt habe und sie vor den Folgen einer revolutionären Umwälzung bewahrt wissen wollte. Eine solche Auslegung geht fehl. Fichte tritt nirgends als Ratgeber der Monarchen, sondern als Interessenvertreter des Volkes auf. Sein erklärtes Ziel ist es, die Grundsätze des von ihm entworfenen Vernunftstaates verwirklicht zu sehen, entweder mit Hilfe der bestehenden Staatsgewalten oder gegen sie, d. h. mit revolutionären Mitteln. Bei allem Eintreten Fichtes dafür, den Vernunftstaat auf friedlichem Wege herbeizuführen, ist ihm das Ziel, die Herstellung des Vernunftstaates, das weitaus wichtigere. Wenn die Staatsgewalt diesem Ziel im Wege steht, wenn sie sich den zur Verwirklichung dieses Zieles notwendigen Maßnahmen widersetzt, dann muß revolutionär gegen sie vorgegangen werden. Der friedliche Weg ist für Fichte so nur Mittel, niemals Zweck — und das bedeutet für einen an Kant geschulten Denker viel, sehr viel. Das letzte wird auch durch den Sachverhalt erhellt, daß Fichte die Staatsgewalt in seiner Rechtslehre nicht in einem luftleeren Raum schweben läßt, sondern ihr konkrete, fest umrissene Pflichten zuweist, über deren Erfüllung allein die Wirklichkeit des staatlichen Lebens selber entscheidet. Das heißt, eine Staatsgewalt ist nach Fichte danach zu beurteilen, inwieweit sie die Grundsätze des Vernunftstaates in ihrem Machtbereich durchführt oder nicht. Im ersten Fall ist eine revolutionäre Ablösung der Staatsgewalt nicht notwendig, im zweiten Fall jedoch mehr als notwendig. Gewiß, das Setzen von Instanzen zwischen Volk und Staatsgewalt durch Fichte — das Ephorat, die Einführung der Volksabstimmung, die öffentlichen Verhandlungen über wichtige Staatsangelegenheiten nach antikem Vorbild 1 6 6 — ist im Hinblick auf den Thermidor in Frankreich etwas zu leutselig. Aber man darf nicht übersehen, daß in dieser Argumentation ein ideengeschichtliches Erbe, der deutschen Protestantismus, wirksam ist, das Fichte, wie vorher Kant und nachher Hegel, zu der Illusion verführt, die Deutschen seien, indem sie durch die Reformation hindurchgegangen sind, reifer als die Franzosen, die ihre Revolution ohne vorherige Reformation wagten. Eine Frage allerdings beantwortet Fichte nicht, die Frage nach dem Träger der revolutionären Gewalt, nach ihrem gesellschaftlichen Vollstrecker. Einmal spricht er in diesem Zusammenhang abstrakt vom Volk, dann vom Staat, dann wieder von der Gesellschaft. In dieser Hinsicht erweist sich Fichte als typischer Denker des demokratischen Kleinbürgertums unter gesellschaftlich rückständigen 154

Bedingungen.Fichte sagt wohl, was besser werden muß, er führt aus, wie ersieh die gesellschaftlich-sozialen Verhältnisse in dem von ihm geforderten Vernunftstaat vorstellt, über den konkreten Weg dahin allerdings sagt er nichts. Wenn Fichte auf dieses Problem zu sprechen kommt, gleitet der sonst so realistische Denker ins Utopische, ja ins Illusionäre ab, bringt er bestenfalls seine Wissenschaftslehre ins Spiel. Fichte suchte die Kraft zur Durchsetzung seiner sozialen Forderungen in der Vernunft, nicht in den realen gesellschaftlichen Klassenkräften. Andererseits kennt Fichte jedoch in seiner Rechtslehre den Fall des Hochverrats einer Regierung. In dieser Beziehung steht er nicht nach, für den Fall des Hochverrats einer Staatsgewalt nicht nur Gesetze, sondern Zwangsgesetze festzulegen, damit es der „höchsten Staatsgewalt . . . unmöglich sei, irgend etwas anderes zu bewirken, als das Recht"167. Insofern ist ganz richtig festgestellt worden, daß sich bei Fichte „die Proklamierung des Rechtes auf Arbeit als ökonomische Untermauerung des Rechtes zur Revolution, wie andererseits das Recht zur Revolution als politische Garantie des Rechtes auf Arbeit" erweist.168 Was Fichte in diesen Partien des „Naturrechts", der „Sittenlehre" und des „Handelsstaates" entwickelt, ist nicht nur eine Staatskonzeption schlechthin, sondern eine revolutionäre, revolutionär-demokratische Staatskonzeption. Inhaltlich stimmt sie in ihren Grundlagen mit den Jakobinerstaat überein. Oder anders gesagt: Die von Fichte in den Jahren 1796—1800 entwickelte Staatsauffassung entspricht in ihren Grundzügen der Staatsauffassung der Revolutionsregierung von 1793/94. Mit dem in der Lehre Rousseaus, in den Konventsdebatten und — wie wir eben darlegten — in der praktischen Philosophie Fichtes von 1796—1800 zu beobachtenden Vorgang, das Recht auf Existenz in den Vordergrund zu schieben und gegenüber allen anderen Grundrechten vorrangig zu behandeln, der sich den Theoretikern der kleinbürgerlichen Schichten zwangsläufig aufgibt, sobald sie über die soziale Stellung jener gesellschaftlichen Gruppen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, deren Bedürfnisse sie aussprechen, reflektieren, geht in der engeren staatsrechtlichen Sphäre ein anderes Moment einher, das als Verwerfen aller Bestrebungen der Großbourgeoisie zur Liberalisierung des gesellschaftlichen Lebens umschrieben werden kann. Die Folge hiervon ist die schließliche Betonung der Staatsräson. Denn das Recht auf Existenz ist nicht freisteigend gesichert, sondern will organisiert und geschützt sein . . . — organisiert und geschützt aber von wem? Hier konnte es nur eine Antwort geben: organisiert und geschützt von einer mit Machtbefugnissen ausgestatteten Staatsgewalt. Innerhalb des in der Zeit der Aufklärung aufkommenden staatsrechtlichen Liberalismus stand das eine Problem: Wie ist es zu erreichen, daß die Staatsgewalt ihre Machtbefugnisse nicht ausweitet oder gar mißbraucht?169 — eine Staatsgewalt, als deren Hauptaufgabe angesehen wird, das natürliche Recht auf Freiheit (= Eigentum) zu garantieren. Die klassische Lösung gab Montesquieu mit 155

der Gewaltenteilung. Aber seine Theorie beruhte auf dem Bestreben nach gesellschaftlichem Ausgleich. Und wird sie der praktischen Politik zugrunde gelegt, so kommt man zu — bestenfalls — Reformbestrebungen, zu Kompromissen auf jeden Fall. Der erste Abschnitt der Französischen Revolution zeigt dies sehr deutlich. Die Theorie der Gewaltenteilung eignet sich zur staatsrechtlichen Begründung der konstitutionellen Monarchie ebenso wie zur Begründung der parlamentarischen Demokratie. Im Esprit des lois ist das Bestreben nach gesellschaftlichem Ausgleich als eines der Hauptmotive des Buches wie der dort entwickelten Theorie der Gewaltenteilung eindeutig: „Überall spürt man", schreibt Werner Krauss, „die Sicherung und Ausmittelung der persönlichen Freiheit als das Hauptproblem dieses Denkens . . . Montesquieus Furcht vor dem Machtverlangen der jungen Bourgeoisie ist viel stärker als seine geistige Verachtung gegenüber dem überalterten Feudaladel." 170 Eine solche Theorie war für die kleinbürgerlichen Schichten unannehmbar, weil das Problem für sie anders stand. Ihr Grundrecht, das Recht auf Existenz, konnte nicht dem Zufall überlassen, sondern mußte organisiert und geschützt werden. Das aber konnte nur eine Staatsgewalt, die weder im Sinne Montesquieus geteilt noch im Sinne Pufendorfs limitiert war — eine Staatsgewalt, die einen einheitlichen Willen verkörperte, sich als Verkörperung dieses einheitlichen Willens empfand, und die — wenn notwendig — berechtigt war, zu unumschränkten Machtmitteln, zumindest einschränkenden Maßnahmen zu greifen. Diese Konsequenz ziehen Robespierre und seine Anhänger in ihrer praktischen Politik durch Errichtung der revolutionär-demokratischen Diktatur, und sie zieht Fichte theoretisch in seiner Rechtslehre von 1796—1800, vor allem im „Geschlossenen Handelsstaat", der von dieser Seite als Entwurf eines Systems kleinbürgerlicher Diktatur %ur Durchsetzung einer Gesellschaft kleiner Eigentümer mit maximaler Vermögensgleicbbeit erscheint. Mit Sozialismus, abgeschwächter: Staatssozialismus, hat dies nichts gemein, wie das im Anschluß an Schmoller 171 von Marianne Weber betont behauptet worden ist 172 — auch nicht im Sinne der Inspiration.. Der bürgerliche Spiegel wird im „Geschlossenen Handelsstaat" nirgends gebrochen, das Verhältnis von ökonomischer Basis und staatlicher Institution nur umgekehrt, das wirtschaftliche System des Kapitalismus in eine dienende Rolle gegenüber der erhofften Staatsform versetzt — ganz gleich der Verkehrung des Rapports zwischen Kapitalismus und Demokratie im Jakobinerstaat. 173 Zieht man solche Schlußfolgerungen aus Fichtes Darlegungen im „Handelsitaat" wie Marianne Weber und anerkennt man sie als eine mögliche Interpretation, dann ist der Spekulation Tür und Tor geöffnet — einer Spekulation, die nur allzuoft fragwürdige Ziele verfolgte. Dann muß man nämlich in der Konsequenz auch jene Schlußfolgerungen als mögliche Interpretationen zulassen, die beinhalten, daß Fichte der Vater der Bismarckschen Sozialgesetzgebung17/1, der Vorläufer des faschistischen Erbhofgesetzes 175 oder der Inspirator der Politik des Kriegskommunismus im Sowjet-Rußland nach der sozialistischen Oktoberrevo156

lution I7G gewesen sei, um nur wenige in der Literatur tatsächlich vorgenommene Auslegungen wiederzugeben. Es ist einsichtig, daß mit Hilfe dieser Art von Spekulation Fichte von jeder Form politischer Restauration und Reaktion ausgenützt werden kann. Aber weder das eine noch das andere trifft Fichtes wirkliche Intentionen. Die juristischen Einzelheiten staatlicher Machtbefugnisse begründet Fichte auch im „Geschlossenen Handelsstaat" vom Recht auf Existenz her, unter ausdrücklicher Ablehnung Montesquieuschen Gedankenguts: „Man hat in unseren Tagen die Meinung, daß der Staat unumschränkter Vormünder der Menschheit für alle ihre Angelegenheiten sei . . . , zur Genüge widerlegt; aber man hat, wie mir es scheint, von der anderen Seite die Pflichten und Rechte des Staats wiederum zu eng beschränkt. Es ist zwar nicht geradezu unrichtig und läßt einen guten Sinn zu, wenn man sagt: der Staat habe nichts mehr zu tun, als nur jeden bei seinen persönlichen Rechten und seinem Eigentume zu erhalten und zu schützen: wenn man nur nicht oft in der Stille vorauszusetzen schiene, daß unabhängig vom Staate ein Eigentum stattfinde, daß dieser nur auf den Zustand des Besitzes, in welchem er seine Bürger antreffe, zu sehen, nach dem Rechtsgrunde der Erwerbung aber nicht zu fragen habe. Im Gegensatze gegen diese Meinung würde ich sagen: es sei die Bestimmung des Staats, jedem erst das Seinige zu geben, ihn in sein Eigentum einzusetzen, und sodann erst, ihn dabei zu schütten."177 Die Eigentumseinsetzung durch den Staat kann aber auf der Grundlage nur des einen Prinzips erfolgen: „Der Zweck aller menschlichen Tätigkeit ist der, leben zu können; und auf diese Möglichkeit zu leben haben alle, die von der Natur in das Leben gestellt werden, den gleichen Rechtsanspruch. Die Teilung muß daher zuvörderst so gemacht werden, daß alle dabei bestehen können. Leben qnd leben lassen!" Es ist „die Bestimmung des Staates", wiederholt Fichte zur Bekräftigung, „jedem das Seinige zu geben" 178 . Hier ist das Trennende wie Gemeinsame von Robespierre und Fichte zugleich vorhanden. Was bei Robespierre und den Jakobinern praktische Politik, zum Teil von der Theorie her (Durchsetzung der republikanischen Bürgertugend), zum überwiegenden Teil realpolitische Notwendigkeit (Rettung der Nation, Maximum) war, ist bei Fichte ausschließlich Theorie, moralische Theorie (Freilegung des Sittengesetzes) — das ist der Unterschied. Das Gemeinsame aber ist, daß beide, Fichte und Robespierre, die gesellschaftliche Wirklichkeit ihrer Zeit verfehlten und so in letzter Instanz scheiterten — an der Unaufhebbarkeit der Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Epoche scheiterten. Beide suchten in der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft nicht die Freisetzung des „unverschämten Bourgeoiserwerbs" (Marx), sondern die Idealform gesellschaftlichen Zusammenlebens. Damit übersprangen sie jedoch die Möglichkeiten der historischen Stunde. Die Geschichte mußte ihr Urteil sprechen, und sie hat es gesprochen: Kobespierre zerbrach an den Widersprüchen der gesellschaftlichen Praxis, die er und seine Mitkämpfer nicht aufzuheben vermochten, nicht aufheben konnten; Fichte erlag der Undurchführbarkeit seiner 157

Theorie in der Gesellschaft seiner Zeit und jeder Gesellschaft überhaupt, deren Entwicklungstendenzen im Widerspruch zu dieser standen — und immer stehen werden. IX Mit unseren Ausführungen zu Fichtes Rechtslehre der Jahre 1796 bis 1800 haben wir vorgegriffen. Denn das Phänomen der Revolution beschäftigt Fichte nicht nur in seiner ursprünglichen, d. h. bis zum Jahre 1800 entwickelten Staats- und Rechtsphilosophie; nicht nur in ihr werden die im „Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die Französische Revolution" gestellten Probleme erneut aufgeworfen, neu durchdacht, abgewandelt und weitergeführt: Die Fragen der Französischen Revolution sind für Fichte auch in der theoretischen Philosophie das Grundproblem. Schon allein deshalb sind die „Zurückforderung der Denkfreiheit" und der „Beitrag" keine bloßen Gelegenheitsschriften des mit Begeisterung für die Französische Revolution erfüllten, zum „akademischen" Proletariat seiner Zeit gehörenden jugendlichen Fichte. Zwar bringen diese Schriften zunächst die politisch-rechtsphilosophischen Überzeugungen des jungen Philosophen zum Ausdruck, darüber hinaus aber bilden ihr Grundtenor, ihre Grundgedanken die Basis seiner theoretisch-philosophischen Reflexionen. Ein indirekter Beweis für unsere These ist der Tatbestand, daß sich an Fichtes Haltung zur Französischen Revolution auch nach seiner Berufung als Professor an die Universität Jena (1794) nichts ändert. Abgesehen davon, daß er ungeachtet aller damals schon einsetzenden Anfeindungen und Verleumdungen 1795 den „Beitrag" in „zweiter um nichts veränderter Auflage" erscheinen läßt, sind seine Vorlesungen an der Universität vom revolutionären Geist der Epoche getragen, die er geschickt zu einem indirekten Bekenntnis für die Revolution in Frankreich zu gestalten versteht, Aus der Fülle der Dokumente, die Fichtes revolutionsfreundliche Gesinnung an der Jenenser Universität belegen, eine Tagebuchaufzeichnung: „An Fichte wird geglaubt, wie niemals an Reinhold geglaubt worden ist . . . Ich und NichtIch sind jetzt das Symbol der Philosophen von gestern, wie es ehemals Stoff und Form waren. An der Rechtmäßigkeit, Verträge einseitig aufzuheben, wird eben so wenig mehr gezweifelt, als ehemals an der Mannigfaltigkeit des Stoffes. Die bessern Köpfe disputieren jetzt nur noch darüber untereinander, wie man jene Lehre auf die bestehenden Verhältnisse der Staaten am verwirrendsten anzuwenden habe . . . "Fichte ist wirklich gesonnen durch seine Philosophie auf die Welt %u wirken. Der Hang zu unruhiger Tätigkeit, der in der Brust jedes edlen Jünglings wohnt, wird von ihm sorgfältig genährt und gepflegt, damit er zu seiner Zeit Früchte bringe. Er schärft bei jeder Gelegenheit ein, daß Handeln! Handeln! die Bestimmung des Menschen sei, wobei nur zu fürchten steht, daß die Majorität der Jünglinge, die dies zu Herzen nehmen, eine Aufforderung zum Handeln für nichts besseres, als für eine Aufforderung zum Zerstören ansehn dürfte."* 79 So urteilt Forberg bereits im Dezember 1794 über Fichtes Vorlesungstätigkeit. 158

Forberg hat im Prinzip recht. Denn mit welch anderer Absicht sollten folgende Sätze in den Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten von Fichte vom Katheder herab gesagt worden sein? „ . . . gemeinschaftliche Vervollkommnung, Vervollkommnung seiner selbst durch die frei benutzte Einwirkung anderer auf uns, und Vervollkommnung anderer durch Rückwirkung auf sie, als auf freie Wesen, ist unsere Bestimmung in der Gesellschaft." Und nachdem der Jenaer Philosophie-Professor die gesellschaftliche Bedingtheit des Menschen mit diesen Worten umrissen hatte, bekräftigte er: „Ich kenne wenig erhabenere Ideen, meine Herren, als die Idee dieses allgemeinen Einwirkens des ganzen Menschengeschlechts auf sich selbst, dieses unaufhörlichen Lebens und Strebens, dieses eifrigen Wettstreites zu geben und zu nehmen, das edelste, was dem Menschen zu Teil werden kann, dieses allgemeinen Eingreifens zahlloser Räder ineinander, deren gemeinsame Triebfeder die Freiheit ist, und der schönen Harmonie, die daraus entsteht." 180 Gerade das letzte, Fichtes Eintreten für die Französische Revolution, und die von ihren Ideen her geübte Kritik an den sozialen und politischen deutschen Zuständen durch ihn während seiner Lehrveranstaltungen an der Universität, wenn auch beides unter dem Druck der Gegebenheiten oft indirekt erfolgte, wird ihm bald Schwierigkeiten bringen und ist der eigentliche Grund für seinen später von der kursächsischen Reaktion erzwungenen Weggang aus Jena. Der sogenannte „Atheismusstreit" war für diese nur der längst gesuchte Anlaß, endlich auch die offiziellen Stellen gegen den ihr unbequemen „Demokraten und Jakobiner" in Bewegung zu setzen und zu Handlungen und Maßnahmen gegen Fichte zu veranlassen.181 Es zeugt von Fichtes politischem Weitblick, wenn er den eigentlichen Grund der gegen ihn erhobenen Anklage des Atheismus klar erkannte. In der gerichtlichen Verantwortungsschrift stellte er 1799 fest: „Hier bedarf es keiner Mutmaßungen und keines Ratens. Die Triebfeder ist klar, sie ist notorisch; nur daß keiner den Namen des Dinges aussprechen will. Ich bin überhaupt nicht gemacht, um hinter dem Berge zu halten; und ich will es besonders hier nicht; indem ich dieser Angriffe nunmehr müde bin . . . Ich also will es sein, der den Namen dieses Dinges ausspricht. leb bin ihnen ein Demokrat, ein Jakobiner; dies ist's. Von einem solchen glaubt man jeden Greuel ohne weitere Prüfung. Gegen einen solchen kann man gar keine Ungerechtigkeit begehen. Hat er auch dieses mal nicht verdient, was ihm widerfährt, so hat er es ein andermal verdient. Recht geschieht ihm auf jeden Fall; und es ist politisch, die das wenigste Aufsehen erregende, die populärste Anklage zu ergreifen, um seiner habhaft zu werden. Daß ich ihnen das bin, dieser sträfliche Demokrat und Jakobiner, und daß ich ihnen deswegen unaussprechlich verhaßt bin, ist notorisch. . . . es ist mir ein bei der gegenwärtigen Gelegenheit geschriebener Brief eines kursächsischen Ministers bekannt, in welchem von unserem vermeinten Atheismus geradezu gesprochen wird als von einer neu erfundenen Maßregel dieser Demokraten . . . Es ist nicht mein Atheismus, den sie gerichtlich verfolgen, es ist mein Demokratismus. Der erstere hat nur die 159

Veranlassung hergegeben . . .'