Wie der Mensch zur Welt kommt: Beiträge zur Geschichte der Selbstwerdung 9783495820513, 9783495490495


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Table of contents :
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Inhalt
Vorwort
Kapitel 1. Affektives Betroffensein
Kapitel 2. Atmosphären als Mächte über die Person
Kapitel 3. Recht und Unrecht des Rationalismus
Kapitel 4. Das Christentum als Religion ohne Metaphysik
Kapitel 5. Leib und Körper
Kapitel 6. Die Entstehung der Zeit aus der Ankunft des Neuen
Kapitel 7. Die Füllung der Zeit
Kapitel 8. Die Richtungen der Zeit
Kapitel 9. Die regelmäßigen Gegenwarten und die spontane Gegenwart
Kapitel 10. Wie der Mensch zur Welt kommt
Personenregister
Sachregister
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Wie der Mensch zur Welt kommt: Beiträge zur Geschichte der Selbstwerdung
 9783495820513, 9783495490495

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Hermann Schmitz

Wie der Mensch zur Welt kommt Beiträge zur Geschichte der Selbstwerdung

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495820513

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Hermann Schmitz Wie der Mensch zur Welt kommt

VERLAG KARL ALBER

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https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

Hermann Schmitz

Wie der Mensch zur Welt kommt Beiträge zur Geschichte der Selbstwerdung

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

Hermann Schmitz How the Human Being enters the World Contributions to the History of Individuation This book deals with the individuation or self-realisation of the human being and the moments that are pivotal in this regard: affectivity presents the bearer of consciousness already during prepersonal experiences so much autonomy so that only he is capable of expressing the contents of his affective states (if he desires to confess), even though others as well he himself are, of course, able to speak about those states. How far those early experiences of subjectivity continue to have their effect, is revealed in the fact that a person can only find himself when he is in an affective state. Affectivity is always bodily. This is why the living body (in German Leib) is here analysed according to its relationship with the body (in German Körper). Time is essential in this interpretation for two reasons. First, passing duration carves a hole into the equilibrium and this hole, or fissure, allow us to transcend and observe what is. Second, time is, in opposition to the otherwise smooth surface of the world and to the duration time of events, the wound that lets see the ground of primitive presence as the root of individuation. The tenth and final chapter of the book, »How the Human Being enters the World,« traces the history of individuation by observing the various transitions and steps from selflessness in the continuum up until the entry of the individual into the world as the reservoir of individuation.

The Author Hermann Schmitz was born in Leipzig (Germany) in 1928. He achieved his Ph.D. in philosophy in 1955 and afterwards successfully finished his habilitation in 1958. He taught as a regular professor of philosophy at the German University of Kiel from 1971 to 1993. He is the founder of the philosophical branch called New Phenomenology and author of numerous books and essays.

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Hermann Schmitz Wie der Mensch zur Welt kommt Beiträge zur Geschichte der Selbstwerdung In diesem Buch geht es um die Selbstwerdung (Individuation) des Menschen und dafür maßgebliche Momente: Das affektive Betroffensein beschert dem Bewussthaber schon im präpersonalen Erleben so viel Selbstständigkeit, dass höchstens er in der Lage ist, die Sachverhalte seines affektiven Betroffenseins auszusagen (wenn er will, zu bekennen), obwohl die anderen ebenso wie er in der Lage sind, darüber zu sprechen. Wie weit diese frühe Subjektfähigkeit reicht, zeigt sich daran, dass auch die Person nur im affektiven Betroffensein sich selbst finden kann. Das affektive Betroffensein ist immer leiblich; deshalb wird der Leib in seinem Verhältnis zum Körper erörtert. Die Zeit passt in diesen Zusammenhang aus zwei Gründen. Erstens bohrt die vergehende Dauer in das Gleichmaß des Kontinuums ein Loch oder einen Spalt, die dafür ausreichen, dass etwas in hinlänglicher Anschauung sich als sich selbst abheben kann. Zweitens aber ist die Zeit in der sonst glatten Oberfläche der Welt und ihrer Dauer in der geschichteten Lagezeit gleichsam die Wunde, die bis zum Grund der primitiven Gegenwart als der Wurzel der Individuation durchsehen lässt. Im 10. und letzten Kapitel, »Wie der Mensch zur Welt kommt«, wird schließlich die Geschichte der Selbstwerdung durch verschiedene Übergänge und Stufen von der Selbstlosigkeit im Kontinuum bis zum Eintritt des Einzelnen in die Welt als das Sammelbecken der Vereinzelung nachgezeichnet.

Der Autor Hermann Schmitz, geb. 1928 in Leipzig, promoviert 1955, habilitiert für Philosophie 1958; 1971 bis 1993 ordentlicher Professor für Philosophie an der Universität Kiel. Begründer der Neuen Phänomenologie. Autor zahlreicher Bücher und Aufsätze. Zuletzt im Verlag Karl Alber erschienen sind: Phänomenologie der Zeit (2014), Gibt es die Welt? (2014), Atmosphären (2014), selbst sein (2015), Ausgrabungen zum wirklichen Leben (2016), Epigenese der Person (2017), Wozu philosophieren (2018).

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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2019 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49049-5 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82051-3

https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

Inhalt

Vorwort

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

1. Affektives Betroffensein . . . . . . . . . . . . . . . .

13

2. Atmosphären als Mächte über die Person . . . . . .

37

3. Recht und Unrecht des Rationalismus . . . . . . . .

51

4. Das Christentum als Religion ohne Metaphysik . . .

57

5. Leib und Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

6. Die Entstehung der Zeit aus der Ankunft des Neuen

73

7. Die Füllung der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83

8. Die Richtungen der Zeit

. . . . . . . . . . . . . . .

89

9. Die regelmäßigen Gegenwarten und die spontane Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

10. Wie der Mensch zur Welt kommt . . . . . . . . . .

97

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Sachregister

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

7 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

Vorwort

Wenn ein Autor, der seit sechzig Jahren eine philosophische Konzeption auf- und ausbaut und in diesem Zusammenhang gegen fünfzig Bücher mit etwa vierzehntausend Druckseiten und zahlreiche Artikel geschrieben hat, im 91. Lebensjahr auf die geleistete Arbeit zurückblickt, wird er eher das schon Vorliegende vornehmen und zu verbessern suchen, als ein ganz neues Feld zu beschreiten. Demgemäß habe ich drei wichtige Themen der Neuen Phänomenologie wieder vorgenommen, nämlich dass affektive Betroffensein (Kapitel 1– 4), den Leib (Kapitel 5) und die Zeit (Kapitel 6–9). Nachdem ich das 10. Kapitel über den Zugang zur Welt hinzugefügt hatte, fiel mir auf, dass ich einen Leitfaden des Zusammenhangs für das ganze Buch besaß. In diesem Kapitel verfolge ich nämlich die Geschichte der Selbstwerdung (Individuation) durch verschiedene Übergänge und Stufen von der Selbstlosigkeit im Kontinuum bis zum Eintritt des Einzelnen in die Welt als das Sammelbecken der Vereinzelung. Ich stellte fest, dass auch die drei vorigen Themen in diesen Zusammenhang passten. Das affektive Betroffensein beschert dem Bewussthaber schon im präpersonalen Erleben so viel Selbstständigkeit, dass höchstens er in der Lage ist, die Sachverhalte seines affektiven Betroffenseins auszusagen (wenn er will, zu bekennen), obwohl die anderen ebenso wie er in der Lage sind, darüber zu sprechen. Wie weit diese frühe Subjektfähigkeit reicht, zeigt sich daran, dass auch die Person nur im affektiven Betroffensein sich selbst finden kann. Das affektive Betroffensein ist immer leiblich; deshalb gehört hierhin ein Kapitel über den Leib, das dessen Verhältnis zum Kör9 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

Vorwort

per betrifft, das mir mehrfach als problematisch vorgehalten worden ist. Die Zeit passt in diesen Zusammenhang aus zwei Gründen. Erstens bohrt die vergehende Dauer in das Gleichmaß des Kontinuums ein Loch oder einen Spalt, die dafür ausreichen, dass etwas in hinlänglicher Anschauung sich als sich selbst abheben kann. Zweitens aber ist die Zeit in der sonst glatten Oberfläche der Welt und ihrer Dauer in der geschichteten Lagezeit gleichsam die Wunde, die bis zum Grund der primitiven Gegenwart als der Wurzel der Individuation durchsehen lässt. Der junge Schopenhauer hat sich, wie er berichtet, oft gefragt: »Warum ist dieses Jetzt gerade jetzt?« Er meint das Paradox, dass zwar jedes Datum der Lagezeit seine Gegenwart hat, die das mit ihm Gegenwärtige zu einer Schicht zusammenfasst, dass aber zusätzlich die eigentliche Gegenwart dessen, was ist, als nicht mehr noch nicht und noch nicht nicht mehr Seiendes unvermittelt auf ein Datum der Lagezeit fällt. Diese und andere Merkwürdigkeiten zeigen, dass unter der geregelten Folge der Gegenwarten in der Lagezeit die primitive Gegenwart hindurchwirkt. So bezeugt die Zeit die Geschichte der Selbstwerdung. Daher schien es mir angemessen, alle Beiträge des Buches unter diesem Titel zusammenzufassen. Mit großer Freude stelle ich fest, dass ich bald nach meinem vorigen Buch Wozu philosophieren? ein neues zustande gebracht habe, nachdem ich jenen Zweifel geäußert hatte, ob ich nach meiner partiellen Erblindung noch ein Buch zustande bringen würde. Ich danke Andreas Kuhlmann, Kiel, für beständige Einsatzfreude und seine unentbehrliche Hilfe, die dieses Buch erst ermöglicht haben.

10 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

Vorwort

Ein weiterer Anlass zur Freude besteht darin, dass Guido Rappe, ein früherer Schüler von mir, jetzt Professor an einer Universität in Osaka, ein Buch unter dem Titel Einführung in die moderne Phänomenologie (projektverlag, Bochum/ Freiburg 2018) veröffentlicht hat, in dem er meine Philosophie in gebührender Stellung in die Entwicklung der Phänomenologie einordnet und dabei die Gesamttendenz meiner philosophischen Bestrebungen treffend zusammenfasst. Er stellt dabei den Leib in den Vordergrund. Wenn es sich dabei nur um eine Analyse der Ausdehnung und Dynamik des spürbaren Leibes handeln sollte, wäre damit zwar ein wichtiges, aber nicht das ausschlaggebende Thema meiner Bemühungen getroffen. Wenn aber an die Perspektiven gedacht wird, die durch die Entdeckung des Leibes zwischen Seele und Körper geöffnet werden, gebe ich ihm Recht. Es war immer mein Bemühen dem Versuch der Philosophie, einschließlich des von ihr weitgehend dominierten Christentums, entgegenzutreten, das Interesse an Macht schon über die eigenen unwillkürlichen Regungen (Platon) und später über die Natur (Descartes) in den Vordergrund zu stellen und ein entsprechendes Weltbild den Menschen einzuschärfen. Mein Interesse ist es dagegen, diese Verdeckung zu beseitigen und aus der unwillkürlichen Lebenserfahrung die Reserven der Empfänglichkeit wieder freizulegen, wozu die leibliche Kommunikation, die Empfänglichkeit für Gefühle als Atmosphären, das Gestoßenwerden auf sich im affektiven Betroffensein, das Wohnen als Kultur der Gefühle im umfriedeten Raum und anderes mehr gehören. Es ist paradox, dass ich fast bis zum 90. Geburtstag auf eine solche Würdigung warten musste. Andererseits ist die Darstellung von Guido Rappe nicht frei von Anlässen zur Beanstandung. Das betrifft besonders meine philosophische Entwicklung, die ich in der Vorrede meines Buches Ausgrabungen zum wirklichen Leben dargestellt habe. Der Grund für diese Un11 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

Vorwort

zulänglichkeit liegt vermutlich darin, dass meine Entwicklung nur bis zum 2001 erschienenen Buch Gibt es die Welt? behandelt wird und meine späteren Arbeiten, die erst die Teleologie meiner philosophischen Entwicklung zusammenfassen, unberücksichtigt bleiben. Das ist wahrscheinlich durch die Druckgeschichte erklärbar. Hermann Schmitz

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Kapitel 1 Affektives Betroffensein

Affektives Betroffensein findet statt, wenn jemand von etwas heimgesucht wird, wenn ihm etwas nahe geht, so dass er davon getroffen, berührt, gepackt wird oder wie man es ausdrücken will. Alle diese Umschreibungen sind noch zu verschwommen. Eine präzise Begriffsbestimmung ist diese: Jemand ist affektiv betroffen von etwas, wenn er davon so betroffen wird, dass er nicht umhin kann, dabei sich selbst zu spüren und in diesem Sinne auf sich selbst aufmerksam zu werden, selbst wenn er darüber gar nicht nachdenkt, gar nicht reflektiert, sondern wie ein Tier oder ein Säugling ganz naiv ist. Diese Definition beinhaltet also eine gewisse Notwendigkeit, dass nämlich im affektiven Betroffensein immer der mitgegeben ist, dem es nahe geht, denn man kann nicht betroffen sein, ohne sich als den so Betroffenen zu spüren. Das ist natürlich anders als bei einem Betroffensein, das nicht affektiv ist, wenn man zum Beispiel nur in seinem Vermögensstand oder juristisch betroffen ist, das sind Äußerlichkeiten, von denen kann man sich distanzieren. Ganz anders ist es beim affektiven Betroffensein, wenn einem etwas nahe geht. Hierdurch unterscheiden sich die Tatsachen des affektiven Betroffenseins von allen Tatsachen, die ich objektiv nenne, und zwar sind objektiv solche Tatsachen, die jeder aussagen kann, wenn er genug weiß und genug sprechen kann. Alles das, was zu einem Menschen gehört, abgesehen von den Tatsachen des affektiven Betroffenseins, ist in dieser Weise eine objektive Tatsache, zum Beispiel alles das, was in seiner Biographie aufgezeichnet werden kann, was zu seinen 13 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

Affektives Betroffensein

Lebensumständen und seiner Herkunft gehört, sofern es sich um solche objektiven Tatsachen handelt, denen aber das affektive Betroffensein fehlt, denn das kann nicht so distanziert werden. Man erkennt diese Zufälligkeit aller objektiven Tatsachen für jemand daran, dass jede solche objektive Tatsache auch einem Andern eigen sein könnte, sei es eine Eigenschaft oder eine Relation. Dadurch, dass ich in Leipzig 1928 geboren bin, wird nicht ausgeschlossen, dass es auch anderen so geht. Ebenso ist es für alle die einzelnen Tatsachen des Lebens, und nicht nur die einzelnen Tatsachen sind mir in diesem Sinne zufällig, dass zu ihnen nicht gehört, dass gerade ich es bin, um den es sich handelt. Das sieht man so: Wenn ein Unglücklicher, dem es in seinem Leben nicht mehr gefällt, sich in ein anderes Leben hineinträumt, in dem er zum Beispiel reich, schön, angesehen, klug und so weiter wäre, was ihm jetzt abgeht, dann ist das zwar undurchführbar, er kann sein Leben nicht wechseln. Aber es ist überhaupt kein Widerspruch darin, und es ist nichts Unmögliches, dass er ein anderes Leben hätte. Denn bei diesem Versuch, sich in ein anderes Leben hineinzudenken und hineinzuwünschen, fehlt jede Spur eines merkbaren Widerspruchs, das kann man ohne weiteres tun, ohne dass irgendwie die Absurdität auffällt, die darin läge, dass ein Mensch, der in gewisser Hinsicht besonders schwächlich, besonders wenig angesehen ist, dass er in derselben Hinsicht besonders stark und besonders angesehen wäre. Das kann ja unmöglich zusammenpassen, und das wäre aber der Fall, wenn der Mensch, der sich das wünscht, identisch wäre mit den objektiven Tatsachen, die etwa in seiner Biographie und seinen sonstigen Lebensumständen darauf sich beziehen. Denn dann müssten ja diese Tatsachen mit den unverträglichen, die er für sich herbeiwünscht, zusammen bestehen in einem einzigen Leben. Das ist logisch unmöglich. Mit anderen Worten: Der Mensch hat eine hinlängliche Distanz von all dem, was ihm widerfährt, dass die 14 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

Affektives Betroffensein

sämtlichen Umstände seines Lebens, die in objektiven Tatsachen aufgehoben sind und so beschrieben werden können, wie objektive Tatsachen beschrieben werden können, dass alle diese Umstände seines Lebens für ihn zufällig sind, dass es nicht zu diesen Umständen gehört, dass es gerade seine Umstände sind. Das ist anders bei den Tatsachen des affektiven Betroffenseins. Zu denen gehört notwendig, dass sie tatsächlich die seinen sind. Hieraus nun ergibt sich sofort eine weitere und sehr wichtige Bestimmung des affektiven Betroffenseins. Das affektive Betroffensein ist nämlich von der Art, dass jeweils nur einer im eigenen Namen es aussagen kann von sich, obwohl die anderen sehr wohl in der Lage sein können, darüber zu sprechen, so gut wie er, indem sie nämlich Kennzeichnungen und Namen gebrauchen, die darauf passen und sich damit auf dieses sein affektives Betroffensein beziehen. Aber in Satzform aussprechen können sie dieses sein affektives Betroffensein nicht, denn zu diesem affektiven Betroffensein gehört ja, dass er er selbst ist, auf den sich diese Tatsachen beziehen. Das ist ein Bestandteil der Tatsachen selbst und nicht etwas nur zufällig Hinzugesetztes. Dass er er selbst ist, kann tatsächlich nur er selbst sagen. Wenn ein Anderer das sagt, dann spricht er von etwas anderem, denn er ist ja nicht der Andere selbst, wenn er sagt »Ich bin traurig« oder »derjenige, der ich bin, der ist traurig«, dann ist das eben nicht für den Anderen gesagt, sondern für sich selbst gesagt. Also die Tatsachen des affektiven Betroffenseins kann jeweils nur einer im eigenen Namen aussagen und dadurch unterscheiden sich diese Tatsachen von allen objektiven Tatsachen. Diese Tatsachen sind nicht objektive Tatsachen, sondern subjektive Tatsachen, wie ich sie nenne, solche, die höchstens einer im eigenen Namen aussagen kann. Diese subjektiven Tatsachen bestehen nun aber nicht etwa darin, dass der Mensch sich in seine Subjektivität irgendwie zurückzöge und dass er eine private Innenwelt aufbaute, wie 15 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

Affektives Betroffensein

die Tradition das wohl meint, wenn sie von Subjektivität spricht, Subjektivität als einer Privatsache des Einzelnen. Darum geht es jetzt nicht, sondern im Gegenteil sind diese subjektiven Tatsachen diejenigen, in denen man tatsächlich auf die Wirklichkeit gestoßen wird, denn sie enthalten dieses, dass einem etwas nahe geht, tatsächlich mich persönlich trifft und mir nicht bloß vorschwebt, so dass hier unmittelbar der Kontakt mit dem Wirklichen stattfindet, während dieser Kontakt von den objektiven Tatsachen nur gespiegelt wird. Wenn man sich bloß an diese objektiven Tatsachen hält, wie ein Schauspiel gewissermaßen, ohne dass dieses vorkommt, dass etwas Wirkliches als Wirkliches mir nahe geht, und so ist also damit, dass ich selbst es bin, nicht nur Sache der subjektiven Tatsachen und nur durch sie gesichert, sondern eine ganze Fülle der Wirklichkeit. Die Subjektivität von einer Tatsache für mich ist also keineswegs eine Absperrung gegenüber der Welt oder gegenüber allem in meiner Umgebung oder gegenüber dem, was es sonst noch gibt. Sondern es ist gerade der Zugang zu dem Getroffenwerden von ihr im Gegensatz zu dem Draußenstehen eines bloßen Beobachters. Was übrig bleibt, wenn man von den subjektiven Tatsachen die Subjektivität abschält, ist nur noch die Objektivität objektiver Tatsachen. Die subjektiven Tatsachen sind also in vieler Hinsicht reicher als die objektiven Tatsachen. Goethe drückt das in seinem Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre einmal so aus durch den Mund von Wilhelm Meister, dass Wilhelm Meister von seinen ganz unschuldigen Jugenderlebnissen erzählt, in denen ihm zuerst die Möglichkeit von geschlechtlicher Liebe und von Freundschaft zu einem Mann aufgegangen ist. Er fügt folgende Bemerkung hinzu: »Und wenn ich hier noch eine Bemerkung hinzufügen darf, so muss ich sagen, dass dieses erste Aufblühen der Außenwelt mir die eigentliche Originalnatur zu sein scheint, gegen die alles, was sonst noch später hinzugekommen war, wie reich es auch 16 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

Affektives Betroffensein

sein mag, doch des ursprünglichen Geistes und Sinnes entbehrt und nur noch Kopien zu enthalten scheint.« Diese Bemerkung bezieht sich einfach darauf, dass die subjektiven Tatsachen eben sehr viel reicher sind, auch schon wegen ihrer Subjektivität. Denn beim ersten Aufblühen der Außenwelt für den jungen Menschen ist diese Subjektivität aller Tatsachen noch völlig unversehrt, während sie im weiteren Leben durch viele Erfahrungen, die den Menschen gleichsam abbrühen, die ihn zur Reflexion veranlassen, die ihn veranlassen, überlegen Distanz zu nehmen von dem, was ihm passiert, verloren geht. Es bleiben nur noch Kopien, weil die eigentliche Fülle der Subjektivität verloren gegangen ist, die eben nicht eine Abgrenzung des Subjekts bedeutet, sondern den Kontakt des Subjekts mit dem Seienden, und zwar mit der Wirklichkeit des Seienden. Hieraus ergibt sich auch noch eine weitere wichtige Folgerung, nämlich diejenige, dass die subjektiven Tatsachen in keiner Weise aus objektiven Tatsachen aufgebaut werden können durch irgendeinen Zusatz zu ihnen. Das ergibt sich aus der inhaltlichen Übereinstimmung der subjektiven Tatsachen mit den entsprechenden objektiven, also im Bereich des affektiven Betroffenseins. Der subjektiven Tatsache, dass ich glücklich oder traurig bin, entspricht natürlich die objektive, dass Hermann Schmitz glücklich oder traurig ist oder sonst irgendetwas. Das ist eine Tatsache, die inhaltlich ja völlig übereinstimmt mit der Tatsache, dass ich selbst dieser Mensch bin, wie es mir mein unmittelbares affektives Betroffensein zeigt. Aus dieser inhaltlichen Übereinstimmung ergibt sich, dass durch keinen Zusatz zu dem Inhalt der objektiven Tatsachen eine subjektive Tatsache erreicht werden kann. Denn die subjektive Tatsache hat ja genau denselben Inhalt, es kann also keinen Übergang geben, um von den objektiven Tatsachen die subjektiven zu erreichen. Der Unterschied ist bei völlig gleichem Inhalt an Eigenschaften und Relationen und so weiter nur dieser, dass 17 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

Affektives Betroffensein

es sich um Tatsachen ganz verschiedener Art handelt. Tatsachen ganz verschiedener Art, subjektive und objektive Tatsachen unterscheiden sich durch ihre Milieus als Tatsachen, aber nicht durch ihren Inhalt, der kann sogar völlig übereinstimmen. Daher ist es zum Beispiel auch unmöglich, durch Zusatz einer Kausalfunktion zu den objektiven Tatsachen die subjektiven Tatsachen zu erreichen. Hier ist ein absoluter Sprung in ein anderes Milieu, und nicht eine Veränderung, ein Zusatz an Inhalten, an Relationen oder Eigenschaften. Während also die subjektiven Tatsachen von den objektiven Tatsachen aus unerreichbar sind, ist es umgekehrt natürlich durchaus möglich, von den subjektiven Tatsachen aus die objektiven zu erreichen. Denn diese objektiven stecken ja in den subjektiven drin, man braucht nur die Subjektivität abzuschälen. Man braucht also nur von mir selbst, mit alledem, was ich als affektiv Betroffener bin, überzugehen zu Hermann Schmitz. Es bleibt derselbe Inhalt, nun aber in Form von objektiven Tatsachen übrig. Dieser Abstieg von den subjektiven zu den objektiven Tatsachen ist ein vollkommen unentbehrliches Merkmal der Reifung der Lebenserfahrung, wodurch der erwachsene Mensch über seine Kindlichkeit hinauswächst. Der erwachsene Mensch braucht diesen Abstand, er braucht die Neutralisierung subjektiver Tatsachen, damit er sich ein gut begründetes Urteil bilden kann, um etwa als Richter zwischen entgegengesetzten Meinungen und Parteien unabhängig zu sein und gerecht sein zu können. Er braucht ebenso, um sich im Leben zurechtzufinden, zunächst ein neutrales, objektives Bild der Umwelt, das sich mit Hilfe objektiver Tatsachen gewinnen lässt. Dieser Übergang ist in der Tat unerlässlich für die Reifung des Menschen, aber er ist eben zwiespältig. Es fällt die ursprüngliche Fülle der subjektiven Tatsachen ihm zum Teil zum Opfer. Man kann den Unterschied zwischen den subjektiven Tatsachen des affektiven Betroffenseins und den objektiven Tatsachen 18 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

Affektives Betroffensein

mit einem Bild beschreiben, das der antike Dichter Lukrez im Anfang des 2. Buches seines Epos De rerum natura vom epikureischen Philosophen entwirft. Der epikureische Philosoph ist wie ein Spaziergänger am Strand, der das, was dort auf dem Meere geschieht, nur als ästhetisches Schauspiel genießen kann, während die Schiffer, die tatsächlich auf dem Meere sind, gepackt werden von dem, was dort geschieht, indem sie mit dem Untergang kämpfen müssen und in all den wirklichen, echten Kämpfen des Lebens stehen, statt sie nur gespiegelt zu sehen. So ist nicht nur die Position des ästhetischen Betrachters nach Lukrez, sondern es ist ebenso auch die Position des bloßen Protokollanten, der, wenn er bloß protokolliert, was er vorfindet, überhaupt nicht mehr sich selbst finden kann. Das ist nicht nur Hume so gegangen, und man hat in der Philosophie des sogenannten Empiriokritizismus bei Avenarius und Mach daraus ein Dogma gemacht, weil man sich selbst nicht mehr bloß in neutraler Einstellung vorfinden kann. Wittgenstein hat es auch noch in seinem Tractatus logico philosophicus in eine Geschichte gepackt. »Wenn ich ein Buch schriebe«, so sagte er etwa, »die Welt, wie ich sie vorfand, so wäre darin alles Mögliche enthalten, auch über meine Glieder und die Art, wie sehr sie meinem Willen unterstehen oder auch nicht, aber ich selbst als das Subjekt, das dies alles erlebt, dem das alles vorschwebt, das wäre nicht mehr darin enthalten.« Das ist nach seiner Meinung ein wichtiges Indiz dafür, dass es dieses Subjekt gar nicht gibt, denn in dem Buch könnte von ihm nicht die Rede sein, so Wittgenstein. Es ist ganz deutlich, dass Wittgenstein nur einfach in die falsche Richtung gesehen hat, nämlich auf das, was im bloßen Vorfinden zu finden ist, und das ist nicht die Stelle, wo man sich selbst finden könnte, sondern dazu gehört das affektive Betroffensein. Das ist ebenso der Fehler aller Positivisten, die die Subjektivität nicht zum Zuge kommen lassen, weil sie bloß in der Weise 19 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

Affektives Betroffensein

sachlich sein sollen, dass sie lediglich sich auf die Rolle des Protokollanten beschränken. Durch die positivistische und Wittgenstein’sche Aufspaltung des Subjekts in einen Beobachter, der das, was er beobachtet, in ein Buch schreibt und andererseits das, was ihm vorschwebt, unter anderem als sich selbst vorschwebt, als erlebender und leidender Mensch erfährt, entsteht eine paradoxe Spaltung der Persönlichkeit. Auf der einen Seite steht ein bloß zuschauendes Subjekt, das ebenso bei Kant vorkommt als transzendentales Subjekt, bei Wittgenstein als metaphysisches Subjekt. Das aber mit einem Blick von Nirgendwo, wie der amerikanische Philosoph Thomas Nagel gesagt hat. Diesem transzendentalen Subjekt steht dann gegenüber man selbst, wie man tatsächlich in seiner vollen Lebensfülle als affektiv betroffener Mensch existiert, und das erscheint dann irgendwie auch in dem Bild, aber in stark verkürzter Weise, nämlich objektiviert, so dass es mit bloß objektiven Tatsachen beschrieben werden kann. Darunter ist eben niemals die Tatsache, dass man es selber ist, um den es sich handelt, sondern – wie es Hume passierte – es bleiben dann bloße Empfindungen und Zustände aller Art, während aber tatsächlich diese Zusammenfassung fehlt, dass das meine Zustände sind. Auf diese Weise zerfällt das wirkliche Subjekt, der Erlebende und betroffene Bewussthaber, in zwei verschiedene Personen, nämlich ein erscheinendes beobachtetes Subjekt mit objektiven Tatsachen als seinen Eigenschaften und ein von außen zusehendes, protokollierendes Subjekt, das dann irgendwie ins Metaphysische gehoben wird, so dass ihm gleichsam eine höhere Existenz zuerkannt wird, wie etwa von Kant, der dieses metaphysische Subjekt, das transzendentale Subjekt, sogar noch mit vielen weiteren Fähigkeiten wie der Weltkonstruktion durch Synthesis und dergleichen ausstattet. Das ist ganz paradox, denn dieses Subjekt, das es nur mit einem abgezogenen Schattenbild, einer Silhouette 20 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

Affektives Betroffensein

der Welt, zu tun hat, nach Abzug des affektiven Betroffenseins, dieses metaphysische Subjekt, das soll nun gewissermaßen über dem empirischen Subjekt mit der ganzen Fülle seiner Lebendigkeit stehen. Diese Verdoppelung entsteht nur durch das Missverständnis, dass man zwei Personen macht, ein empirisches und ein transzendentales Subjekt, aus demjenigen, was in Wirklichkeit zwei Schichten der Tatsächlichkeit sind, die in jeder Tatsache enthalten sind, die dem Menschen irgendwie nahe geht und ihn affektiv betroffen macht. Diese beiden Schichten sind erstens die Subjektivität und alle subjektiven Tatsachen, sofern sie erfüllt von dieser Subjektivität sind. Andererseits ist es die darin enthaltene bloße Objektivität, die beobachtend und protokollierbar ist in der Weise, dass sie Platz findet in objektiven Tatsachen, die jeder aussagen kann, wenn er genug weiß und gut genug sprechen kann. Diese Verwechslung der Möglichkeit, auf ein anderes Niveau der Tatsächlichkeit herab zu steigen, mit der Verdoppelung der Person ist also die Ursache aller möglichen idealistischen Erkenntnistheorien. Diesen Blick von Nirgendwo gibt es gar nicht, sondern es gibt nur die Versachlichung durch Absehen von dem, was gerade meine Perspektive ist, insofern alles das, was mich selber betrifft und dass es sich um mich selber handelt, von den subjektiven Tatsachen meines affektiven Betroffenseins abhängt, von denen eben abstrahiert wird, wenn man sie mit Hilfe bloß objektiver Tatsachen fixiert. Die Subjektivität als Eigenschaft der subjektiven Tatsachen des affektiven Betroffenseins wird also vollständig missverstanden, wenn man sie im Sinne der Tradition mit einer abgeschlossenen Subjektivität in irgendeiner Innenwelt identifiziert, wie es noch Kierkegaard geschehen ist und in unserem Jahrhundert Michel Henry, einem französischen Philosophen. Diese Subjektivität hat mit einer abgeschlossenen Innerlichkeit gar nichts zu tun, sondern ist im Gegenteil 21 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

Affektives Betroffensein

das Stoßen auf die Wirklichkeit, auf das wirkliche Betroffensein, was tatsächlich nur im affektiven Betroffensein stattfindet. Die Subjektivität der subjektiven Tatsachen besteht nur darin, dass höchstens einer, das Subjekt selbst, sie im eigenen Namen aussagen kann, wenn auch andere darüber so gut wie er sprechen können, und zwar deshalb, weil nur dies die Tatsachen sind, die ihm in der Tat nahe gehen, so dass in ihrem Inhalt schon es selbst enthalten ist als das, dem sie nahe gehen, während bei allen objektiven Tatsachen dieser Umstand fehlt und sie um ihn herumflattern als Tatsachen, die ihm zufällig sind, die auch einem andern zustehen können als nur gerade ihm. Diese Subjektivität besteht also nur darin, dass man selbst es ist, der von der Wirklichkeit getroffen wird und nicht darin, dass man sich innerhalb dieser Welt, in der man lebt, in einem kleinen, engen Kreis abschließen könnte, wie zum Beispiel in einer Seele, die die Tradition dem affektiven Betroffensein reserviert hat, um es in Obhut zu nehmen, in Quarantäne zu nehmen, weil es so gefährlich ist, und durch die Vernunft beherrschen und beobachten zu lassen im Untergeschoss eines Hauses, in dessen Obergeschoss die Vernunft als Herr im Haus wohnt. Das war die Konzeption Platons, die seither die Menschen dazu verführt hat, ihr affektives Betroffensein und die ergreifenden Mächte, die auf dieses einwirken, in ihrer privaten Seele unterzubringen. Aber tatsächlich ist diese Seele ganz überflüssig, und Platon hat sich ihrer gewissermaßen geschämt, man hat sie aufgegeben im Gefolge von Hume und Kant und beschäftigt sich jetzt nur noch mit einer Psychologie ohne Seele, wie Friedrich Albert Lange im 19. Jahrhundert sagte, deren Fehler nur darin besteht, dass die Psychologie diese Tatsachen des affektiven Betroffenseins gleichsam versteinert, weil sie ja nicht anders als von objektiven Tatsachen über sie sprechen kann. Zweitens eben darin, dass ihr gewissermaßen das zusammenhaltende Band verloren geht, die Einheit, die die verschiede22 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

Affektives Betroffensein

nen psychischen Phänomene dadurch erhalten, dass es eben jemand ist, der mit seinem Betroffensein auf alles das reagiert, was ihn betroffen macht. Diesen selbst findet man nicht mit einer bloß objektivierenden Einstellung. Zum Ersatz der suspekt gewordenen Seele hat man manchmal das Bewusstsein genommen, als eine Art Sammelbecken, in dem sich die Welt gewissermaßen spiegelt. Eine Zwischenzone zwischen dem wirklich erlebenden Subjekt und der Außenwelt, die dann zunächst im Bewusstsein sich abspiegelt und irgendwie dann dem Subjekt, wenn es nicht selbst das Bewusstsein ist, zur Kenntnis kommen soll. Aber dieses Bewusstsein ist auch nur ein Erbe, ein Resultat, ein Degenerationsprodukt der Seele, denn es gibt keinen solchen Schlauch, der zwischen dem Erlebenden und dem, was ihm zustößt, in der Mitte aufgestellt werden kann, sondern das Seiende kann unmittelbar wenigstens im affektiven Betroffensein an das Subjekt herantreten, ohne dass es vermittelt werden muss durch eine Zwischenzone, die mehr oder weniger als Ersatz der Innerlichkeit dient. Wir brauchen kein solches Reservat für das Subjekt, sondern es steht selbst mitten im Wirklichen, in der Umgebung, von der es getroffen wird und von der es in Anspruch genommen wird. Wir benötigen nicht die ganze Tradition, die sich dann in der Neuzeit über das Bewusstsein entwickelt hat aus der bis dahin herrschenden Vorstellung der Seele. Diese ganze Vorstellung kann über Bord geworfen werden. Deswegen sind auch alle die Deutungen des affektiven Betroffenseins unzulässig, die es irgendwie als eine Reaktion der Seele auffassen, zum Beispiel eine Reaktion der Seele auf irgendwelche Widerfahrnisse mit Lust und Unlust. Ich habe das auch speziell dadurch widerlegt, dass ich auf den feierlichen Ernst hingewiesen habe, der ein mächtiges Gefühl ist, aber ganz ohne Lust und Unlust. Die Quellen des affektiven Betroffenseins sind im Wesentlichen von zwei Arten. Nämlich erstens die Gefühle, die als 23 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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Atmosphären den Menschen in seinem spürbaren Leib heimsuchen und eventuell noch personal beantwortet werden, und zweitens die bloßen leiblichen Regungen, die nicht Gefühle transportieren, sondern wie etwa Angst, Schmerz, Hunger, Durst, Ekel, Frische, Müdigkeit, Wollust, leibliches Behagen und dergleichen den Menschen heimsuchen und ihm zu schaffen machen, ebenso wie die Gefühle. Diese beiden Seiten des Betroffenseins betrachte ich nun der Reihe nach und zwar zunächst die Gefühle, die Atmosphären sind, die durch den Menschen hindurch den Leib ergreifen. Die Atmosphären sind Gefühle, die durch den Leib den Menschen ergreifen und dann eventuell seine personale Stellungnahme auf sich ziehen. Dass diese Beschreibung richtig ist, merkt man an der Weise, wie sich ein Gefühl des Menschen bemächtigt. Es ist zunächst eine Atmosphäre da. Ich spreche von Atmosphären als einer Metapher, die an sich vom Wetter gezogen ist. Aber das Wetter ist unter sehr vielen Umständen selbst eine solche Atmosphäre, die den Menschen leiblich heimsucht und ihm ein solches Gefühl eingibt. Man denke nur an schönes Wetter, das den Menschen heiter und fröhlich stimmt mit seiner eigenen Heiterkeit, und an trauriges, feucht-kühles, unbehagliches, kühles Wetter, das den Menschen im Gegenteil traurig stimmt und seinem eigenen Eindruckscharakter nach deprimiert. So ein Wetter ist selbst ein Gefühl und damit der Anlass dafür, die Rede von Atmosphären auf Gefühle zu erweitern. Viele Gefühle sind in der Tat Atmosphären, zumal als gemeinsame Gefühle von Vielen. Wie etwa der schon erwähnte feierliche Ernst einer einsamen, weiten Landschaft wie auch des nächtlichen Sternenhimmels oder eben das Feierliche einer besonderen Gelegenheit des Zusammenseins, das eben einen solchen feierlichen Ernst besitzt. Das Gegenteil des feierlichen Ernstes ist nun die Ausgelassenheit und Albernheit aller Art, die in der Tat einen sehr suggestiven Charakter hat, dem man sich nur 24 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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schwer entziehen kann, so dass Goethe etwa im Vorspiel zum Berliner Theater im Jahre 1825 davon spricht, »dass der Gebildete zuletzt erschrickt, wenn ihn Absurdes fesselt und entzückt«. Er ist auf die Albernheit hereingefallen und schämt sich dann hinterher als Person und leistet diesem Affekt Widerstand. Es gibt ganz besondere Veranstaltungen, zum Beispiel etwas legere und fröhliche Feste, zum Beispiel im Karneval oder bei ähnlichen Veranstaltungen, für die ein Übergang typisch ist aus einer anfänglichen Unsicherheit und Gespanntheit der Situation durch einen plötzlichen Ruck, den zum Beispiel irgendwelche Vortänzer geben können oder irgendein ähnliches Ereignis. Dann ist der Bann gleichsam gebrochen, und es entsteht eine allgemeine Atmosphäre des Überschwangs, in der die Menschen Gelegenheit haben, sich ganz anders gehen zu lassen und aus sich herauszugehen als im täglichen Leben und auch dazu aufgefordert werden. Das ist ein Eintauchen in eine solche Atmosphäre und ebenso gibt es gefühlsmäßige Atmosphären der Gespanntheit, zum Beispiel in Erwartung eines kritischen Ereignisses, etwa vor und in einer Schlacht und in vielen anderen Umständen. Es gibt die Atmosphäre der gemeinsamen Erregung des Zorns. Der Zorn hat eine solche expansive, aber konzentriert treibende Atmosphäre um sich. Ebenso hat die Scham eine solche Atmosphäre, die nicht den Betroffenen selbst trägt, sondern im Gegenteil ihn einschüchtert, so dass der Beschämte sich in sich zurückzieht, zum Beispiel die Augen sinken lässt und am liebsten vor sich selbst verschwinden möchte. Er wird von einer Atmosphäre, die übermächtig und feindselig beschämend eben auf ihn eindringt, in Schach gehalten. So ist es mit sehr vielen anderen Atmosphären des Gefühls, zum Beispiel auch etwa der Situation des Schuldigen, der sich schuldig fühlt. Hendrik G. Stoker spricht in seiner Monographie über das Gewissen von 1925 von einer ontischen Allbekanntheit der Schuld, also dem 25 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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Schuldigen ist es so, als ob alles von seiner Schuld wüsste und ihn mit diesem Wissen anblickte, so dass er den Dingen nicht mehr richtig ins Auge zu blicken wagt. Das ist eine solche Atmosphäre der Schuldigkeit und des Schuldgefühls. Ebenso gibt es eine Atmosphäre des Ärgers, die darin besteht, dass alle Dinge den Menschen gewissermaßen picken, ihm lästig fallen, so dass sie seinen Ärger auf sich ziehen, nicht nur der besondere Anlass des Ärgers. In dieser und anderer Weise sind die Gefühle ursprünglich Atmosphären, die eben jetzt den Menschen leiblich ergreifen. Dass sie ihn leiblich ergreifen, sieht man daran, dass sie ihm Bewegungsimpulse und Haltungsimpulse eingeben. Der Fröhliche etwa weiß beschwingt zu gehen, vielleicht sogar zu springen. Er weiß mit lachenden Augen zu blicken, mit beschwingter, rascher Rede zu sprechen und entsprechende weitere Symptome nachzubringen. Das ist ein gar nicht so leicht nachahmbares physiognomisches Bild, das aber dem Fröhlichen ohne weiteres gelingt, während es ziemliche Mühe eines guten Schauspielers verlangt oder eines Parodisten, um das genau wiederzugeben. Und ebenso ist es beschaffen mit der Trauer. Der Traurige weiß zu starren, schlaff dazusitzen und den Blick auf den Boden zu richten, auch ohne dass man ihm sagen müsste, wie man so etwas macht. Der Beschämte weiß den Blick zu senken, in sich selbst zurückzuziehen, starr zu werden. Der Zornige weiß mit blitzenden Augen und schneidender Stimme und geballten Fäusten vorzugehen. Alles dies sind ganz bestimmte ganzheitliche Typen des Benehmens und der Physiognomie, die auch dem völlig Ungeschickten und Ungeübten ohne weiteres eingegeben sind, während er sich sonst sehr darum bemühen müsste, sie exakt nachzustellen. Die Gefühle ergreifen den Leib mit Bewegungssuggestionen, und dadurch werden sie zu seinen Gefühlen, dass sie in dieser Weise ihn spürbar ergreifen. Ich spreche jetzt vom spürbaren Leib, nicht vom sichtbaren und tastbaren Kör26 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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per, obwohl diese physiognomischen Unterschiede natürlich durch Vermittlung des spürbaren Leibes am Körper sichtbar werden. Wenn also eine solche Atmosphäre den Menschen leiblich ergreift, dann wird sie zu einem Gefühl. Aber es kommt in vielen Fällen, wenn auch nicht in allen Fällen, noch hinzu eine personale Stellungnahme zu dem Gefühl. Aus dieser personalen Stellungnahme, nämlich durch Preisgabe oder Widerstand gegen das Gefühl, bildet sich allmählich ein personaler Stil des Fühlens. Der personale Stil des Fühlens ist eine wichtige Seite der Fassung, die ich unter vielen Gesichtspunkten ausführlich erörtert habe, wobei die Hauptsäule der Fassung die Aufgabe des Ausgleichs zwischen personaler Emanzipation und personaler Regression ist. Diese von mir anderswo genau erörterten Begriffe erläutere ich jetzt nicht. Es handelt sich aber tatsächlich um den Abstand der Person von ihrem affektiven Betroffensein, den sie durch Abschälung der Subjektivität von Tatsachen, die dadurch objektiv werden, gewinnt. Diesen Abstand gilt es ständig in Verbindung zu halten mit der Rückkehr in das affektive Betroffensein, aus dem die Person allein lernt, wer sie überhaupt ist, indem sie sich kennenlernt. Dazu dient natürlich in erster Linie der Stil des Fühlens, der erworben wird durch Erfahrungen mit Reaktionen auf das Gefühl in Hingabe oder Stellungnahme. Die personale Stellungnahme zum Gefühl kann aber auch ausfallen, dann überschwemmt das Gefühl einfach den Menschen. Aber auch dann ist eine elementare Aktivität im Betroffensein vom Gefühl enthalten, nämlich die Aktivität dessen, der das Gefühl aufnimmt, sich ihm preisgibt, sich ihm stellt und eine Stellung zum Gefühl nimmt. Ich nenne das die Gesinnung. Das ist die aktive Seite des Gefühls, dieses aktive Empfangen des Gefühls, was ja schon beim primitiven Tier vorhanden ist. Man sieht das an der Angst. Die Angst vollendet sich als Angst nur durch den Fluchtdrang als die 27 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

Affektives Betroffensein

zugehörige Gesinnung, denn wenn der Fluchtdrang fehlt, dann wäre die Angst nicht mehr Angst, und auf höherem Niveau etwa in Gestalt der Fassung, wenn der personale Stil des Fühlens sich gebildet hat, wird diese Gesinnung, diese schon elementare Gesinnung weiter gebildet und differenziert, zum Beispiel als Einstellung zum Hunger auf viele Weisen, zum Beispiel aggressiv, mürrisch oder weinerlich und dergleichen. Zu jedem affektiven Betroffensein gehört deshalb schon diese urtümliche, aber bildungsfähige Aktivität, die dann noch ergänzt wird durch die spezifisch personale Aktivität des Stellungnehmens. Die persönliche Stellungnahme zum Gefühl hat eine besondere Eigenschaft als Weise des affektiven Betroffenseins gegenüber anderen solchen Weisen, und zwar ist diese persönliche Stellungnahme in einem gewissen Sinne immer nur nachträglich möglich. Wer das Gefühl gleich bei seinem Eintritt mit Preisgabe oder Widerstand empfängt, der ist entweder nur von einem flüchtigen Anflug betroffen oder er fühlt nicht echt, sondern er tut nur so. Wer zum Beispiel zornig wird, der muss erst einmal in Zorn geraten sein, und dann erst kann er dazu aktiv Stellung nehmen. Deswegen ist es so schwierig, des Jähzorns im Anfang Herr zu werden. Ganz ähnlich verhält es sich mit all den Gefühlen, die mehr schleichend als stürmisch eintreten, wie der Neid oder die Liebe. Man merkt erst, wenn man schon betroffen ist, dass man sich mit ihnen auseinandersetzen muss. Diese eigentümliche Nachträglichkeit führt zu besonderen Eigenschaften des affektiven Betroffenseins vom Gefühl, dass ich deswegen als Ergriffenheit vom Gefühl bezeichne, nämlich einer ständigen Nachträglichkeit. Man ist dem Gefühl immer auf der Spur, man kann nicht so leicht davon Abstand nehmen, wie etwa von bloßen leiblichen Regungen, weil man schon längst dem Gefühl zum Opfer gefallen ist und sich herauswinden muss, um gewissermaßen seiner Herr zu werden. Das ist möglich durch personale 28 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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Emanzipation, indem man sich dem ergreifenden Gefühl entzieht. Aber daraus folgt insbesondere auch die erschwerte Beobachtbarkeit von Gefühlen, wie zum Beispiel Zorn, Freude, Trauer und dergleichen, verglichen mit leiblichen Regungen. Die leiblichen Regungen kann man gleich bei ihrem Aufsteigen beobachten, man kann die dazu nötige Distanz zu ihnen haben, wenn die leiblichen Regungen nicht zu heftig und zu plötzlich kommen, wie etwa heftiger Schmerz. Dagegen ist es kaum möglich, das Gefühl von Anfang an und auch im Fortgang so neutral zu beobachten, wenn man tatsächlich ergriffen ist. Diese Besonderheit der Gefühle und die Weisen dessen, was affektiv betroffen macht, beruht darauf, dass die Gefühle Dialogpartner des betroffenen Menschen sind, die in seinen Leib aufgenommen werden, aber ursprünglich Atmosphären sind, die über ihn kommen. Denn der Zusammenhang mit den Gefühlen hat zunächst nicht den Charakter einer Relation, einer Beziehung von etwas zu etwas, einer gerichteten Beziehung, sondern ist das, was ich einen unspaltbaren Zusammenhang nenne. Der Mensch ist vom Gefühl zunächst in einem unspaltbaren Zusammenhang ergriffen und lernt erst später, diesen Zusammenhang so aufzulösen, dass daraus Beziehungen von etwas zu etwas werden. Dann erst kann er nachträglich zu dem Gefühl Stellung nehmen. So etwas findet sich ja oft immer dann, wenn der Mensch befangen ist in irgendeiner Verstrickung, von der er sich nicht so leicht lösen kann. Da gibt es immer einen unspaltbaren Zusammenhang, und zwar unspaltbar in Beziehungen, der erst durch gerichtete Beziehungen aufgelöst werden muss, um dem Menschen ein Urteil zu erlauben. Es ist die Aufgabe zum Beispiel der Psychoanalyse, solche Komplexe und solche Bindungen des Menschen, etwa an seinen Psychoanalytiker, die sogenannte Übertragung so zu analysieren, dass aus den unspaltbaren Zusammenhängen Beziehungen werden. Dies ist eine wesentliche Aufgabe der per29 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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sonalen Emanzipation dem ergreifenden Gefühl gegenüber. Die leiblichen Regungen haben die Aufgabe, Gefühle zu vermitteln, indem sie sie in den Leib aufnehmen. Alle diese leiblichen Regungen können den Menschen in der Weise heimsuchen, dass er genötigt ist, zu ihnen Stellung zu nehmen, ganz besonders etwa der Schmerz, dem man sich nicht entziehen kann und in dem man auch nicht aufgehen kann wie in der Angst, sondern er bleibt immer nicht nur ein eigener Zustand, sondern auch ein eindringender Widersacher. Aber das gilt ebenso auch von anderen leiblichen Regungen, mit denen man sich auseinandersetzen muss. Die Gefühle transportieren nicht nur Atmosphären, sondern auch in Atmosphären gebundene Situationen. So transportieren die leiblichen Regungen auch Dinge, die nicht selbst leibliche Regungen sind, aber mit leiblichen Regungen den Menschen angreifen, wie die von mir beschworenen Halbdinge, deren genaue begriffliche Charakteristik ich hier nicht anzuführen brauche, wie etwa der Wind, die niederreißende Schwere und der Schmerz. Das sind Dinge, die leiblich über den Menschen kommen, und zwar als Schmerz dem Menschen angehören, aber nur zwiespältig, weil der Schmerz auch ein eindringendes Halbding ist. Die Gefühle können sich zentrieren zu besonderen Situationen, die nicht ein einziges einfaches Objekt haben, sondern gruppiert sind um eine Konstellation von Verdichtungsbereich und Verankerungspunkt. Die Gefühle entstehen aus Situationen und können sich ebenso gut an Explikate von Situationen hängen, an einzelne Bedeutungen, die Sachverhalte, Programme oder Probleme sind, aber dann meistens auch umkleidet von besonderen Situationen. Wenn ich von Gefühlen als Quellen von Situationen spreche, dann meine ich dabei immer auch solche Situationen, die von Gefühlen erfüllt sind. Aber es gibt außerdem natürlich auch situationsfreie Gefühle wie sämtliche Stimmungsschwankungen der Zyklothymiker, die zwischen 30 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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freudiger Erregung und Traurigkeit, zwischen Aufbruchstimmung und Niedergedrücktheit hin- und herschwanken. Diese Stimmungen haben sehr oft gar keinen Hintergrund in Situationen, sondern sind ganz unmittelbar als bloße Atmosphären da, wofür besonders das Gedicht von Eduard Mörike »Verborgenheit« ein sehr deutliches und klassisches Zeugnis gibt. Das Gefühl greift insofern weiter aus als die bloße leibliche Regung, aber beides sind Quellen des affektiven Betroffenseins. Die Atmosphären des Gefühls und der Leib haben nicht nur eine Affinität, eine Verwandtschaft zueinander, sondern gleichen sich ganz besonders auch in der Form ihrer Räumlichkeit. Und zwar ist diese Form der Räumlichkeit völlig verschieden von der Form, die wir für gewöhnlich unserer Raumvorstellung zugrundelegen, wenn wir uns an die Geometrie oder Physik halten, also einer Räumlichkeit, die durch Flächen, Längen, Breite, Punkte, dreidimensionale Körper und ferner durch Lagen und Abstände und Orte bestimmt ist, die zu sagen gestatten, wo sich etwas befindet und wohin es sich bewegt. Von dieser Raumvorstellung müssen wir absehen, wenn wir an den Leib und an die Atmosphären des Gefühls denken. Dies liegt daran, dass sie beide zu den flächenlosen Räumen gehören. Das Wesentliche, die Fläche ist wahrscheinlich überhaupt erst bei der Entwicklung des Menschen, der Person, aufgetaucht. Erst von der Fläche aus ist die höchste Unterscheidung räumlicher Dimensionen vom Punkt bis zum Körper möglich. Erst in der Fläche sind umkehrbare Verbindungen möglich, auf denen die Möglichkeit beruht, darüber Lagen und Abstände einzuführen und über diesen Lagen und Abständen die einander gegenseitig bestimmenden relativen Orte, die zu sagen gestatten, wo etwas ist. Das alles sind Errungenschaften einer Raumvorstellung, die von der Fläche ausgeht. Dagegen ist der Leib und sind die Atmosphären so flächenlos wie etwa der Schall. 31 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

Affektives Betroffensein

Auch der Schall hat seine Räumlichkeit, die übrigens nicht nur in der Entfernung der Schallquelle vom Hörer besteht, sondern wozu auch die Richtungen der Höhe und Tiefe der Töne gehören. Alle die Gestaltverläufe, die sich in der Musik entfalten, und ebenso die Nähe und Ferne, das Echo und das Zudringen des Schalls sind alles räumliche Eigenschaften des Schalls. Aber jedenfalls hat der Schall keine Punkte, Linien und Körper, man kann in ihm keine Abstände abmessen. Wohl aber ist der Schall fähig, sekundär in den Ortsraum eingefügt zu werden, nämlich durch Beziehung zur Schallquelle. Aber man kann von der Schallquelle auch weghören und etwa als Musik den Schall unverkürzt empfangen. Von dieser Art des Schalls sind nun sehr viele Räume; dazu gehören etwa die Räume der Stille, des Windes, der reißenden Schwere, die einen niederzieht, der sich entfaltenden Gebärde, des Wetters, das man auf der Haut spürt, noch ohne sich umgesehen zu haben, wenn man aus einer stickigen Stube ins Freie tritt, oder etwa der Raum des Wassers, wie ihn der Schwimmer erlebt, wenn er sich vorwärts kämpft oder ruhig tragen lässt. In all diesen flächenlosen Räumen, zu denen nun auch der Raum des Leibes sowohl wie der Raum des Gefühls, der Atmosphären des Gefühls, gehört, zu diesen flächenlosen Räumen gehören keine Lagen und Abstände, keine räumlichen Dimensionen geometrischer Art, wohl aber ein dynamisches Volumen aus Engung und Weitung, die miteinander konkurrieren wie im vitalen Antrieb des menschlichen Leibes. Ebenso gehören Richtungen dazu, Weite und Enge, wobei der Engepol auch in Räumen, die keine Ortsräume sind, als ein absoluter Ort vorkommt, der aber nicht als relativer Ort durch Beziehung zu anderen Orten bestimmt wird. Diese große Schicht der Räumlichkeit unterhalb der Flächen ist unentbehrlich, und ich habe bewiesen, dass sie zur zirkelfreien Einführung der Ruhe und damit auch der Geschwindigkeit in den Ortsraum unentbehrlich ist. Die32 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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se Ruheerfahrung macht man schon in flächenlosen Räumen. Man darf also sich nicht von der Geometrie verführen lassen. Wohl aber kann sowohl der Schall als auch der eigene Leib an den Ortsraum angebunden werden, und zwar der Schall eben durch die Schallquellen also kausal angebunden werden, der Leib dagegen lokal. Die Atmosphären des Gefühls werden zu Gefühlen der betroffenen Person, indem sie ihren spürbaren Leib in Mitleidenschaft ziehen. Der spürbare Leib hat eine spezifische Dynamik, die ich herausgearbeitet habe. Die Achse dieser Dynamik ist der vitale Antrieb, in dem sich die beiden Tendenzen der Engung und der Weitung zueinander in Dialog versetzen, indem sie einander sowohl antreiben als auch zurückhalten. Die Bindungsform dieser beiden Tendenzen im vitalen Antrieb erlaubt drei wichtige Modifikationen, die auch für die Empfänglichkeit für Gefühle von Bedeutung sind. Die beiden Tendenzen von Engung und Weitung können leicht spaltbar sein, so dass Anteile der Engung als privative Engung etwa im Schreck, und Anteile der Weitung als privative Weitung wie in Erleichterung und wohltätiger Müdigkeit abgespalten werden können. Ferner kann die Bindung der beiden Tendenzen rhythmisch sein, so dass auf ein Übergewicht der Engung ein solches der Weitung und wieder ein Übergewicht der Engung in rhythmischem Wechsel folgt. Schließlich kann die Bindung der beiden Komponenten zäh sein, so dass sie nur schwer auseinander kommen und aneinander haften, sehr wohl aber ihre Gewichte auch in diesem Aneinanderhaften verschieben können. Ich nenne das eine kompakte Bindung. Diese drei Typen lassen sich schon bei einzelnen leiblichen Regungen im Augenblick verfolgen. So ist etwa Angst und Wollust im wesentlichen rhythmisch, der Schmerz aber kompakt. Ebenso sind diese drei Richtungen unterscheidbar bei den leiblichen Dispositionen der Person, die aus den aktuellen leiblichen Regungen hervorgehen, 33 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

Affektives Betroffensein

und hier ergeben sich drei charakteristische Menschentypen, die ich mit den Ausdrücken von Kretschmer und Veit benannt habe, ohne mich irgendwie an deren verschwommenen Konstitutionsbegriff halten zu wollen. Die spaltungsfreudige Bindung des vitalen Antriebs ist schizothym, die rhythmische Bindung des vitalen Antriebs nennen sie die zyklothyme. Die kompakte Bindung des vitalen Antriebs ist das, was Veit den bathmothymen Typ nennt, also den stufenförmigen. Damit hat es folgende Bewandtnis: Die Belastbarkeit der Bathmothymiker ist lange Zeit relativ gleichmäßig, weil die beiden Tendenzen von Engung und Weitung schwer auseinanderkommen. Aber in Krisenzeiten ist sie der Anpassung nicht gewachsen, weil weder das Schwingen im Rhythmus noch das Spalten gelingt, und insofern ist dann der Bathmothymiker vor einer Wand angekommen, er muss ein neues Niveau erklimmen, daher heißt dieser Konstitutionstyp Bathmothymie, die Stufenmütigkeit. Das Niveau steigt dann nach oben für Erregung oder fällt nach unten zur Erschöpfung, je nachdem. Diese drei Menschentypen haben eine spezifische Eignung oder Nichteignung zum affektiven Betroffensein, insbesondere von Gefühlen. Denn die Gefühle setzen mit ihrem Einwirken auf den Leib ganz besonders beim vitalen Antrieb an. Danach unterscheiden sich die Reaktionen der drei Typen auf die einwirkenden Atmosphären des Gefühls, und zwar ist der Schizothymiker einerseits gefährdet, durch Absturz in die Engung durch abspaltende Engung bis zum Schreck, also durch eine Neigung zur Bestürzung. Andererseits aber hat er die Chance einer Weitung, die ihm Gelegenheit gibt, sich über die jeweilige aktuelle Situation zu stellen, mit ihr strategisch oder spielerisch oder ironisch oder ästhetisch oder in anderer Form umzugehen und dadurch seine Bestürzbarkeit im Augenblick zu kompensieren. Der Zyklothymiker, der Mensch mit der rhythmusfreudigen leiblichen Disposition, ist am besten geeignet, sich 34 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

Affektives Betroffensein

den Impulsen des Gefühls hinzugeben, die seinen vitalen Antrieb je nachdem mit Engung oder Weitung in rhythmischer Weise aufrütteln und aufwiegeln können, so dass er tatsächlich am besten geeignet ist, mit Gefühlen mitzugehen. Dagegen ist das beim Bathmothymiker natürlich ganz anders. Der Bathmothymiker ist den Gefühlen wenig offen, er wird zunächst einmal gleichmütig darauf reagieren oder jedenfalls dem Neuen nicht gleich gewachsen sein. Ihm fehlt eben die Anpassungsfähigkeit wegen der zähen Bindung der beiden Komponenten des vitalen Antriebs in ihm. Wenn aber eine Anpassung erfolgreich ist, dann wird auch der Bathmothymiker sich gleichsam öffnen können, nämlich auf dem neuen Niveau, und wird dann in ganz anderer Form auf das Gefühl eingehen können, indem sein eventuell gestärkter vitaler Antrieb dann dem Gefühl entgegenkommt und offen steht, während er vorhin gesperrt war. Es gibt eine von Ferdinand Ludwig Clauß geschilderte und in Fotos sehr gut charakterisierte Reaktionsweise des fälischen Bauern auf eine überraschende Anrede von draußen. Der Bauer stellt sich mit beiden Beinen breit, legt den Kopf zur Seite und sagt gewissermaßen: »He! Was soll denn das?« Also hier hat man diese typische Sperrung, dass der Bathmothymiker nicht sofort die nötige Anpassung zustande bringt, weil er die beiden Komponenten seines vitalen Antriebs weder schwingen noch spalten kann. Aber wenn das einmal gelungen ist und er den vitalen Antrieb wieder angepasst hat, dann ist er auch zu Kontakt mit den ergreifenden Atmosphären in der Lage. Dies sind also drei Möglichkeiten, die sich aus der Bindungsform des vitalen Antriebs ergeben für die Empfänglichkeit des Menschen für Gefühle.

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Kapitel 2 Atmosphären als Mächte über die Person

Gefühle sind in der philosophischen Tradition hauptsächlich in zwei Rubriken eingeordnet. Die eine Auffassung vom Gefühl lehnt sich etwa an Kant an und besteht darin, das Gefühl als Lust und Unlust aufzufassen, womit die Seele auf irgendwelche äußeren oder inneren Reize reagiert. Die andere Auffassung ist die der älteren Phänomenologen um Brentano, Husserl und Scheler. Diese fassen die Gefühle als intentionale Akte auf, die sich auf einen Gegenstand richten, den sie mit Gefühlsqualitäten umkleiden. Beide Auffassungen halte ich für falsch. Gegen die Auffassung des Gefühls als Lust und Unlust habe ich auf den feierlichen Ernst verwiesen, ein starkes Gefühl, das weder Lust noch Unlust ist. Auf die Schwächen der Intentionalitätstheorie habe ich kürzlich eingehend hingewiesen. 1 Beide Auffassungen können in phänomenologisch haltbarer Weise berichtigt werden, wenn man sich überlegt, wie ein Gefühl vom Menschen Besitz ergreift. Diese Besitzergreifung hat eine passive und eine aktive Seite. Die passive Seite besteht darin, dass Atmosphären, wie zum Beispiel das Wetter und viele andere Atmosphären, die vom Wetter her metaphorisch so heißen, vom Menschen in leiblich spürbarer Weise, das heißt durch seinen spürbaren Leib hindurch Besitz ergreifen. Die aktive Seite, die aber auch fehlen kann, besteht darin, dass der Mensch, nachdem er vom Gefühl ergriffen ist – aber erst nach einer gewissen Weile –, Hermann Schmitz: Zur Epigenese der Person, Freiburg/München 2017, S. 122–136: »Bewusstsein von etwas« (Über Intentionalität)

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Atmosphären als Mächte über die Person

als Person zu dieser Ergriffenheit Stellung nehmen kann, und zwar entweder sich ihr hingebend oder ihr widerstehend, wodurch dann sein Gefühl auf die Dauer einen gewissen Stil annimmt, mit dem er dann tatsächlich fühlt, das heißt auf die von ihm empfangenen Gefühle eingeht. Auf der passiven Seite sind es also die Atmosphären. Dass eine Atmosphäre in einem am Wetter abgelesenen Sinne den Menschen heimsucht und dadurch zu seinem Gefühl wird, ist eine allbekannte Tatsache. Das Wetter selbst ist von dieser Art, es ist gewissermaßen selbst ein Gefühl, indem es nämlich entweder heiter und freundlich den Menschen entsprechend heiter, gehoben und beschwingt stimmt oder aber als trübes, drückendes Wetter den Menschen entsprechend deprimiert. Das Wetter nimmt damit als Atmosphäre den Menschen emotional mit sich, indem es ihm ein entsprechendes Gefühl eingibt. Viele andere Atmosphären reihen sich dann an, die in ähnlicher Weise wie das Wetter Gefühle sind oder Gefühle induzieren, je nachdem, wie man sich ausdrücken will. Ich habe etwas provokant immer gesagt, Atmosphären sind Gefühle; aber wenn man die Gefühle lediglich dem Menschen vindizieren will, dann kann man ebenso gut sagen, die Atmosphären induzieren beim Menschen Gefühle, indem sie ihn leiblich ergreifen, und zwar mit affektivem Betroffensein. Es gibt eine ganze Menge von Erfahrungen so wirksamer Atmosphären, außer dem Wetter noch etwa der feierliche Ernst, der einen Menschen etwa in einer erhabenen, stillen, weiten Landschaft erfasst, etwa unter dem nächtlichen Sternenhimmel. Ebenso bei einem feierlichen Anlass oder auch in einer Kirche, die eine derartige Gestimmtheit suggeriert. Es gibt im Gegenteil eine ganz entgegengesetzte Atmosphäre, die den Menschen mit sich nimmt, das ist die Ausgelassenheit, die fröhliche Hingabe an eine alberne Stimmung, von der Goethe in dem Vorspiel zur Eröffnung des Berliner Theaters im Jahre 1825 die Muse beklagen lässt, dass »der Gebildete 38 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

Atmosphären als Mächte über die Person

zuletzt erschrickt, wenn ihn Absurdes fesselt und entzückt«, also der Gebildete wird in diese alberne Stimmung hineingezogen. Ebenso geschieht es zum Beispiel auf sogenannten Partys, Karnevalveranstaltungen und ähnlichen lustigen und bewegten Festen, wobei zunächst eine Atmosphäre der Hemmung, der Verlegenheit und Verstimmtheit vorhanden ist, die dann mehr oder weniger mit einem plötzlichen Ruck – wenn es gelingt, in diese neue Atmosphäre hineinzukommen – umschlägt in eine ausgelassene Stimmung, eine Party, die den Menschen in ganz anderer Weise als im gewöhnlichen Leben Gelegenheit gibt, aus sich herauszugehen und auch einmal etwas mehr oder weniger Unvernünftiges zu machen. Es gibt da eine große Reihe weiterer Atmosphären, die man etwa unter Menschen erleben kann, je nachdem, ob die Atmosphäre unter Menschen gespannt ist oder ob sie entspannt und fröhlich ist. Die Atmosphäre einer Wohnung, die Atmosphäre einer Landschaft, etwa einer Gewitterlandschaft oder einer Landschaft im Hochgebirge, überall können wir hier von Atmosphären sprechen, die den Menschen so ergreifen, dass sie ihn nach sich stimmen und insofern selbst Gefühle sind. Auch Gefühle im ganz gewöhnlichen Sinne haben diesen Charakter als Atmosphären, zum Beispiel Freude ist eine Atmosphäre, die den Menschen spürbar hebt, so dass er leicht wird, dass er erleichtert wird, dass er sich leichter bewegt, eventuell sogar etwas springt oder jedenfalls besonders beschwingt bewegt. Und diese erleichternde Atmosphäre betrifft nicht den Körper, als ob der Körper besonders leicht würde, sondern den spürbaren Leib, und da sehr deutlich und gerade auch dann, wenn man keineswegs aus einem Kraftgefühl es leicht hat, in die Höhe zu streben, sondern sich etwa bei der Erleichterung von einer schweren Sorge in die Freude fallen lässt, und die Freude trägt und hebt einen dann nicht weniger. Ebenso ist die Trauer, der Kummer ein drückendes, ein nach unten ziehendes Gefühl, in das man sich 39 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

Atmosphären als Mächte über die Person

fallen lässt und das einen keineswegs hebt. Und es ist ebenso die Scham eine aggressive Atmosphäre, die den Menschen gewissermaßen in sich verkriechen lässt mit dem äußerlich sichtbaren Symptom, dass er die Augen sinken lässt. Es ist der Zorn eine flammende Atmosphäre, die den Menschen aufreizt und aggressiv werden lässt. Es ist zum Beispiel das Schuldbewusstsein eine Atmosphäre, die es dem Menschen verbietet, den Menschen und sogar den Dingen gerade in die Augen zu sehen, weil er irgendwie von der Ahnung besessen ist, sie wüssten etwas von dieser Schuld und würden ihn damit anblicken. Hendrik G. Stoker in seiner Monographie über das Gewissen spricht in diesem Sinne von der Allbekanntheit der Schuld als einer Atmosphäre des Schuldigen. Ärger ist eine Atmosphäre, die gewissermaßen die gesamte Umwelt vergiftet dadurch, dass sie dem Verärgerten hinderlich wird und seinen Widerstand provoziert. Das alles sind spürbare Atmosphären, die selbst an Gefühlen haften, die dadurch entstehen, dass der Mensch von solchen Gefühlen heimgesucht wird und dass er davon leiblich irgendwie umgestimmt wird. Das sind einleuchtende Beschreibungen, die aber begrifflich noch sehr unklar sind, denn wir müssen uns jetzt darüber Rechenschaft geben, was eine Atmosphäre ist und was hier Leib heißt. Das lässt sich überhaupt nur bestimmen, wenn man zunächst auf den Raum eingeht. Das Charakteristische für Atmosphären ist eine gewisse Räumlichkeit, die von der gewohnten Räumlichkeit abweicht. Das für unser Denken gewohnte Raumverständnis betrachtet den Raum als ein dreidimensionales Gebilde mit Punkten, Linien, Flächen und Körpern, ein Gebilde, das von Orten besetzt ist, die dem Menschen gestatten zu sagen, wo etwas ist, und es dort zu finden. Diese Orte ihrerseits sind bestimmt durch an ihnen befindliche Objekte, die durch Lage und Abstandsbeziehungen zueinander orientiert sind, also sich gegenseitig 40 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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bestimmen, und zwar so, dass gewisse Standardobjekte den Anhalt bieten, um an diesen Objekten Maß zu nehmen für die Abstände und Lagen der anderen Objekte. Das geht aber nur, wenn die Objekte, an denen die Standardorte gemessen werden, ihrerseits ruhen. Denn wenn sie sich bewegten, dann würden sich auch die Lage- und Abstandsbestimmungen ändern, und man hätte den Eindruck, die Objekte, die an diesen anderen Orten tatsächlich ruhen, hätten sich bewegt. Ruhe und Bewegung wären nicht mehr unterschieden. Das ist ein wichtiger Gesichtspunkt: Wir können Ruhe und Bewegung nicht definieren, indem wir uns auf Orte in diesem Ortsraum im normalen Sinn – einem aus Orten zusammengesetzten Raum – beziehen, sondern wir müssen unser Verständnis der Ruhe und dann auch der Bewegung aus tieferen Schichten des Raumes schöpfen, wenn wir diese Begriffe zirkelfrei einführen wollen. Das führt uns auf die flächenlosen Räume. Das Raumverständnis in gewöhnlichem Sinn, mit relativen, sich gegenseitig bestimmenden Orten, hängt von Lagen und Abständen ab mit Hilfe der Fläche; Lagen und Abstände kann man nur an umkehrbaren Verbindungen ablesen. Dagegen sind die Verbindungen, die den Flächen vorausgehen, die leiblich spürbaren Verbindungen, nicht umkehrbar. Ich komme gleich darauf. Aber an der Fläche können umkehrbare Verbindungen, etwa als Linien zwischen Punkten, abgelesen werden. Und daraus kann dann weiterhin durch Zusammensetzung von Flächen die Vorstellung dreidimensionaler Körper entstehen. So kommt es zu einer Raumvorstellung mit Punkten, Linien, Flächen, Körpern und Orten, die durch Lagen- und Abstandsbeziehungen miteinander verbunden sind. Das ist die übliche Raumvorstellung, die sich nur mit Hilfe des Auftretens der Fläche bilden lässt. Nun ist aber die Fläche ihrerseits leibfremd. Am eigenen Leib kann man keine Flächen spüren. Der eigene Leib ist etwa so zu verstehen, dass 41 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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zum Beispiel das Hungern und das Dürsten leibliche Regungen sind, wogegen die entsprechenden Veränderungen im Körper, die anatomischen Beschaffenheiten des Körpers und die physiologischen Veränderungen körperlich sind. Man hat sehr lange sich dabei aufgehalten, Hunger und Durst, diese leiblichen Regungen ebenso wie die anderen leiblichen Regungen, zum Beispiel auch Angst, Schmerz, Wollust, Müdigkeit, Frische, Wohlbehagen, Erleichterung und vieles dergleichen mehr, als bloße Akzidentien, bloßes Zubehör der betreffenden körperlichen Beschaffenheiten und Veränderungen anzusehen, gewissermaßen als Reflex, den diese Veränderungen in der Seele zurücklassen. Aber das ist eine vollkommen willkürliche Vorstellung, den Menschen mit einer solchen Seele als Spiegel des Körpers auszustatten. In der Tat handelt es sich um leibliche Regungen mit einer ganz besonderen Räumlichkeit, und zwar ist diese Räumlichkeit des Leibes flächenlos. Am eigenen Leib kann man keine Flächen spüren, daher den Leib auch nicht durch Flächen einteilen, etwa schneiden. Daher sind die leiblichen Regungen in diesem Sinne unteilbar, weil unzerschneidbar in der räumlichen Ausdehnung. Diese leiblichen Regungen sind aber verteilt auf Leibesinseln, wie ich gezeigt habe, also nicht kontinuierlich zusammenhängend, nur von Zeit zu Zeit stellt sich eine Kontinuität her. Außerdem ist diese Kontinuität hintergründig durch ganzheitliche leibliche Regungen, die hinter den teilheitlichen Regungen aus einzelnen Leibesinseln stehen. Der Leib selbst ist organisiert durch eine Dynamik, die in der Dimension von Enge und Weite beruht auf dem Zusammenspiel dieser Komponenten, dem sogenannten vitalen Antrieb, in dem Engung und Weitung verschränkt sind, mit verschiedener Gewichtsverteilung und verschiedenen Arten und Weisen der Mischung. Zweitens gibt es ebenso die Trennung von Engung und Weitung, privative Engung und privative Weitung. Dann gibt es die leibliche Richtung, 42 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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die aus der Enge in die Weite führt. Und es gibt auch noch das Verhältnis von protopathischer und epikritischer Tendenz, aber davon will ich jetzt nicht sprechen. Das ist die Dynamik des Leibes. Aber hier sind wir erst bei der Ausdehnung des Leibes, und diese Ausdehnung des Leibes ist flächenlos; weder an den bloßen leiblichen Regungen kann man Flächen spüren, noch kann man sie spüren an denjenigen leiblichen Regungen, mit denen Gefühle empfangen werden wie etwa die traurige Verstimmung von einer Atmosphäre der Traurigkeit. Ebenso wenig flächenhaft sind die leiblichen Regungen vom Typ der Bewegung, etwa einer ausladenden Handbewegung, die den Raum durchmisst, ohne durch irgendwelche Punkte und Linien sich zu ergehen, wenn es auch Richtungen dabei gibt. Ebenso wenig sind die bloßen leiblichen Richtungen, wie etwa der Blick, von Flächen durchsetzt. Sie sind flächenlos. Der Blick durchläuft einen Raum ohne Flächen, daher auch ohne Linien und Punkte, obwohl er in Punkten gewissermaßen enden kann, auf Punkte sich zusammenziehen kann, aber erst nach einem Zwischenraum, den er ohne solche Gliederung nach Art eines Ortsraumes durchläuft. Also am eigenen Leib kann man keine Flächen spüren, wenn man sie auch am eigenen Körper beobachten und betasten kann. Der leibliche Raum, der Raum des Leibes, gehört zu den flächenlosen Räumen, von denen es sehr viele Bespiele gibt. Das einfachste, abgesehen vom Leib, ist der Raum des Schalls, in dem es Enge, Weite und Richtung gibt, und zwar Richtung nicht nur als Richtung, die auf die Schallquelle zuführt, sondern auch als Richtung des Ansteigensund Abschwellens etwa, man spricht von hohen und tiefen, von schweren und leichten Tönen, von scharfen, spitzen Tönen, sich weit ausbreitenden Tönen. Miteinander führen sie durch Bewegungssuggestionen viele, sowohl zeitliche als auch räumliche Figuren auf, die dann als Bewegungssuggestionen etwa auf tanzende und marschierende Leiber über43 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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greifen und zu dort wirklichen Bewegungen führen. Das alles sind die Formen, in denen der Schall räumlich ist, aber ohne jede Fläche. Dasselbe gilt ebenso von solchen plötzlich auf den Menschen einstürmenden Mächten wie dem Wind oder der reißenden Schwere, die den Menschen niederzwingt, wenn er sich nicht gegen sie stemmt. Das sind räumlich ausgedehnte, eingreifende Mächte, die den Menschen heimsuchen. Das sind Halbdinge, wie ich sie nenne, etwa die Stille mit Weite, Gewicht und Dichte, wie der Psychiater Minkowski sagte. Ein solches Halbding ist ebenso das Wetter, das Wetter etwa, das man unmittelbar am eigenen Leibe spürt, ohne in die Ferne zu blicken, und zwar als erlebte, befreiende Weite, wenn man etwa aus stickiger Luft mit einem tiefen Atemzug ins Freie tritt. Das sind solche flächenlos räumlich ausgedehnten Gebilde, und von dieser Art sind auch sowohl der Leib mit seinen Regungen als auch die Gefühle, wie zum Beispiel eben das Wetter. Sie sind Atmosphären: Die Atmosphären sind flächenlos ausgedehnt in einem Raum, der mit dem leiblichen Raum übereinstimmt; einem leiblichen Raum, der aus Enge und Weite, Engung und Weitung in ihrem Zusammenhang und Richtungen zwischen ihnen gebildet wird, zusätzlich aber noch bereichert ist durch die von mir so genannten abgründigen Richtungen, die aus der Weite, ohne erkennbaren Ursprung kommen, wie etwa die niederziehende Schwere oder der Wind oder auch die Gefühle als Erregungen, wie etwa Freude und Trauer oder die Schwermut oder die Bangnis als zentripetale Erregung. Das sind solche flächenlos ausgedehnten räumlichen Mächte. Ebenso ist der Leib durch die von mir anderswo 2 genauer beschriebene Einleibung als leibliche Kommunikation eingespannt in eine Menge von Bewegungssuggestionen, die auf 2 Siehe z. B. Hermann Schmitz, Ausgrabungen zum wirklichen Leben, Freiburg/München 2016, Sachregister: Einleibung

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ihn zukommen, mit denen er sich auseinandersetzen muss, etwa im Ausweichen, im Zugreifen und dergleichen. Das sind Richtungen, die auf den Leib einstrahlen, aber mit bestimmten Ausgangspunkten, im Gegensatz zu den abgründigen Richtungen. So ist der Raum, bevor er zum Ortsraum wird, organisiert. Diese Beschaffenheit bestimmt auch den Charakter des Leibes und der Atmosphären mit einer Ausdehnung, die nicht im Ortsraum mit Hilfe von Lagen und Abständen definiert werden und keine Figuren bilden kann, Figuren, die durch Flächen um Körper entstehen oder durch Linien um Flächen und dergleichen. Das ist hier unmöglich. Diese Art von Ausdehnung, worin sich Atmosphären des Gefühls und der spürbare Leib gleichen, führt zu einer Koordination zwischen ihnen. In welcher Weise der Leib in dieser Art eng und weit ist, das habe ich anderswo genau bezeichnet. Dass auch die Gefühle in dieser Weise räumlich sind, lässt sich an der Grundschicht der Stimmungen, der reinen Stimmungen ablesen, die von vornherein Weite suggerieren, und zwar als erfüllte und leere Stimmung: Erfüllte Stimmung im Sinne einer Zufriedenheit, die nicht etwa Wunscherfüllung bedeutet, sondern ein gewisses Getragensein, ein gewisses Beruhen in der Weite des Raumes, das einen nicht allein lässt, und zwar etwa begründet in der Liebe eines Mitmenschen oder in einer harmonischen Familie oder im ruhigen, stolzen Selbstvertrauen oder in mystischer Frömmigkeit und dergleichen. Das ist eine erfüllte Stimmung. Die leere Stimmung ist so, als ob man in ein Loch fiele; sie ist charakterisiert durch eine qualvolle Beengung, die aber nicht bedrückend ist wie bei der Melancholie, sondern in einer Ortlosigkeit, in einer Unfähigkeit sich irgendwo zu halten besteht, wie schon bei den Wüstenvätern des Altertums, die, weil sie nicht mehr einsahen, warum sie in ihrer Zelle bleiben sollten, in der Mittagszeit herumirrten. Das ergab dann die sogenannte Acedia, ein solches reines leeres Gefühl, und das 45 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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wird auch sonst vielfach beschrieben, bei den Franzosen heißt es Ennui, eine mit Ekel gemischte Langeweile. Dieses Gefühl kommt sehr oft in der Dämmerung vor, und in schmutzigen Großstädten. Das habe ich anderswo 3 näher ausgeführt. Das reine leere und das reine erfüllte Gefühl als Grundschicht aller Gefühle bezeugen ihre Weite, während das Gefühl den Menschen zwar beengt, aber nicht selbst als Atmosphäre Enge besitzt. In dieser Weise stehen sich Gefühle und leibliche Regungen sehr nah, und sie gehen auch ineinander über, denn die Gefühle beruhen auf Atmosphären oder sind selbst Atmosphären, wie man es auch immer nennen will. Diese Atmosphären, die Gefühle sind, und also unbegrenzte Weite haben und aus nicht örtlich eingeschränkten Herkunftsstellen über den Menschen kommen, diese Atmosphären des Gefühls, die in unbestimmter Weite wurzeln oder aus ihr hervorgehen, denen entsprechen Atmosphären des Leibes, die aber örtlich viel besser bestimmt sind, die den Leib gewissermaßen umhüllen, etwa als die heitere, beschwingte Morgenstimmung oder auch die verstimmte Morgenstimmung, wenn man nicht richtig aufgewacht ist und mühsam aus dem Bett kommt. Das sind beides ganzheitliche Atmosphären, die den Leib umgreifen, zwar viele Komponenten in einzelnen teilheitlichen leiblichen Regungen haben, aber darüber hinausgehen durch ihre Integrationskraft. Diese leiblichen Atmosphären treten ebenso kollektiv durch Einleibung in dem von mir beschriebenen Sinne auf, zum Beispiel in dem gemeinsamen Eifer, den gemeinsamen Wallungen, gemeinsamem Zorn, der zunächst ein gemeinsamer, viele Leiber umfassender vitaler Antrieb aus Engung und Weitung ist, aber sehr nahe steht den entsprechenden Gefühlen, die sich ihm auflagern, zum Beispiel als Zorn und in einer entsprechenden Massenhysterie oder Massenaufregung oder als 3

Wie Anmerkung 2, Sachregister: Raum, flächenloser

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Panik. Das sind Gefühle als Atmosphären, die keineswegs auf einzelne Menschen bezogen sind, sondern die Atmosphären sind ebenso überpersönlich und beziehen ebenso ganze Massen ein wie einzelne Menschen, etwa auch als Jubel, in den die Menschen begeistert einstimmen oder als zornige Erregung und so weiter. Diese begrenzten Atmosphären des Leibes und die aus unbegrenzter Weite herkommenden Erregungen des Gefühls gehen an dieser Stelle ineinander über. Jetzt aber will ich zu dem eigentlichen Thema kommen, nachdem erklärt worden ist, in welchem Sinne Atmosphären räumlich sind: Ich will nun auf die Macht der Atmosphären über den Leib eingehen. Dass die Atmosphären den Menschen leiblich ergreifen, ergibt sich daraus, dass sie ihm ganz bestimmte Bewegungen eingeben, die der Betreffende sofort beherrscht, ohne sich darum bemühen zu müssen. Der Fröhliche weiß sich leicht und beschwingt zu bewegen, vielleicht ein wenig zu hüpfen, um seiner Begeisterung Ausdruck zu geben. Er kann mit lachenden Augen blicken, kann mit leichter, gehobener Stimme sprechen, und seine Körperbewegungen haben sämtlich diesen Charakter. Das ist ein Bewegungsbild, das gar nicht so leicht bewusst nachzustellen ist, wenn man nicht groß im Nachstellen ist. Aber der Fröhliche schafft das ohne weiteres und ebenso der Bekümmerte, und sei er noch so ungeschickt, schafft es, schlaff und wie gebrochen dazusitzen, den Kopf sinken zu lassen, sich – als wäre er an der Stelle festgewurzelt – nur mühsam zu bewegen, schlaff und ohne Feuer zu blicken. Das ist ein motorisches Vermögen, das ihm vom Gefühl selbst eingegeben wird. Ähnlich geht es beim Beschämten, ähnlich beim Erzürnten und in vielen anderen Formen. Das heißt, das Gefühl verrät sich als eine den Leib ergreifende Macht durch die Bewegungssuggestionen, mit denen es selbst den eigenen Impuls dem Ergriffenen eingibt. Hier zeigt sich die besondere Macht der Atmosphären als Induktoren, als Einführer von Gefühlen in den Leib. Denn 47 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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es gibt ja, wie ich schon sagte, beim Gefühl eine passive und eine aktive Seite. Diese aktive Seite kann auch fehlen. Dann ist der Mensch, ohne selbst Stellung zu nehmen, dem Gefühl hingegeben. Aber wenn er tatsächlich personal Stellung nimmt, dann geschieht diese Stellungnahme mit einer gewissen Verzögerung. Das ist anders als bei bloßen leiblichen Regungen wie Angst, Schmerz und so weiter. Die kann man schon, wenn sie nicht ganz plötzlich kommen und ganz heftig sind, bei ihrem ersten Auftreten genau beobachten. Dagegen dem Gefühl muss man sich erst einmal überlassen, wenn es echt ist. Wer ein Gefühl gleich an der Schwelle seines Eintritts mit einer bestimmten Stellungnahme begrüßt, der war entweder nur von einem flüchtigen Anflug gestreift oder er fühlt nicht echt, sondern tut nur so. Aber das wirkliche Ergriffensein vom Gefühl geschieht nur so, dass man einfach hineingerät, stürmisch oder auch schleichend, ohne dass man es merkt, wird man von dem Gefühl befallen, und dann erst kann man Stellung nehmen. Das ist diese besondere Macht des Gefühls über den Menschen, zum Beispiel des Zorns. Erst muss man wirklich in Zorn geraten, und dann kann man dazu Stellung nehmen und zum Beispiel den Zorn in überlegener Haltung abschieben. Die Kunst der Bewältigung solcher Gefühle besteht darin, diese Zwischenzeit möglichst kurz zu gestalten; deswegen kann man auch Gefühle viel weniger beobachten als leibliche Regungen, weil man immer schon in das ergreifende Gefühl verwickelt ist. Es hat schon seine Macht bewiesen über den Leib, bevor man in der Lage ist, als Person dazu Stellung zu nehmen. Dies ist charakteristisch für Gefühle und unterscheidet die Atmosphären, die Gefühle sind, von den leiblichen Regungen. Die Atmosphären, die Gefühle sind, wird der Mensch deswegen nicht los, weil sie ihn immer schon besetzt haben, wenn er sich mit ihnen auseinandersetzt. Er ist insofern ihnen gegenüber nie ganz frei, aber er kann sie mehr oder weniger ab48 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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arbeiten, und wenn ihm das ganz gelungen ist, ist er tatsächlich nicht mehr ergriffen. Das ist dann nur noch ein Scheingefühl, wie Nietzsche es sich zuschrieb, wenn er sagte, dass er auf seinen Gefühlen reitet wie auf Pferden oder besser noch wie auf Eseln und ihrer Herr werden könnte. Das war eine etwas übermütige Darstellung. Das echte Gefühl hat aber immer den Charakter der Unterwerfung, weil es gegenüber diesen ergreifenden Mächten nachträglich ist. Das beruht auf einer Art und Weise des Verhältnisses zum Gefühl, und zwar sind die Gefühle, wenn sie den Menschen ergreifen, unspaltbare Verhältnisse, wie ich es sage, also Verhältnisse, die nicht gerichtet sind, die nicht ordinal sind. Die gewöhnliche Verbindung ist eine Beziehung; eine Beziehung ist gerichtet von etwas zu etwas hin, auch wenn sie mehrstufig, mehrstellig ist. Die Beziehung hat also diesen ordinalen Charakter, dass ein erstes und ein zweites Glied in ihr ist. Und das ist bei den Verhältnissen nicht der Fall, die sind kardinal organisiert, also zum Beispiel wenn zwei Kräfte sich gegenseitig aufhalten an einer Grenzlinie, dann ist weder eines das Erste noch eines das Zweite. Dieses kardinale Verhältnis ist also bezeichnend für sehr viele Zustände, in denen der Mensch sich normalerweise befindet, aus denen er erst als Person mehr oder weniger herauskommt. In diesem Verhältnis ist er gewissermaßen hilflos, weil er keine gerichtete Beziehung zum Gefühl aufnehmen kann, sondern er steht zu ihm in einem ungespaltenen Verhältnis, er ist ihm gewissermaßen ausgeliefert. Die Aufgabe, dieses Verhältnis zu spalten und dadurch seiner Herr zu werden, eine Aufgabe, der zum Beispiel die Psychoanalyse sich widmet, ist die Ursache dafür, dass der Mensch den Gefühlen zunächst unterworfen ist: dass die Atmosphären, die Gefühle sind oder Gefühle induzieren, in ungespaltenem Verhältnis zu dem Empfänger, der menschlichen Person (oder auch der noch nicht personalen Menschen) stehen. Das ist die spezifische Macht der Atmosphären als Gefühle 49 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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über den Menschen. Mit der muss man sich abfinden, ihnen erlag zum Beispiel der Fußballspieler, der im Finale einer Weltmeisterschaft seine Karriere glänzend beenden wollte und dann von einem heimtückischen Gegner durch Beleidigung seiner Schwester so in Rage geriet, dass er dem Betreffenden einen Kopfstoß versetzte, und damit war dann sein Abgang als glänzender Fußballspieler schwer beschädigt. Davon wird man nicht herunterkommen, man ist in dem Gefühl ganz anders befangen als bei bloßen leiblichen Regungen.

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Kapitel 3 Recht und Unrecht des Rationalismus

Rationalismus im schlechten Sinn liegt vor, wenn man mit rein rationalen Argumenten versucht, die Menschen in ihrer Lebenssicherheit zu stärken. Descartes versuchte, ihnen wenigsten die Gewissheit ihres eigenen Seins mit dem Argument »cogito ergo sum« zu verschaffen. Ich habe in einem Aufsatz meines Buches selbst sein einen Weg angegeben, dem Argument seine Triftigkeit zu nehmen. Ich unterscheide einen Quasi-Traum vom echten Traum dadurch, dass von diesem nur die beiden Merkmale übrig bleiben: als Illusion entlarvbar zu sein und Inhalt eines zweiten Traums zu sein, in dem der erste beurteilt wird. Solche Verschachtelungen kommen vor. Wenn die Verschachtelung nur endlich viele Stufen hat, darf man sagen, bis das Erwachen ins wirkliche Leben eintritt, ich habe dies und das im Traum gedacht und jetzt darüber nachgedacht, also bin ich. Wenn die Stufenleiter aber aktuell oder potenziell (für den Fall eines zufälligen Abbruchs) unendlich viele Stufen hat und auf jeder der vorhergehenden als Illusion entlarvt wird, kann auf keiner solchen Stufe etwas Wirkliches übrig bleiben, auch nicht auf der ersten. Das gilt ebenso für das cartesische Argument, wie für alles, was auf dieser Stufe geträumt wird. Wenn das unser Leben ist, kann alles darin als Illusion entlarvt werden, ebenso alles, was wir erleben. So untrüglich ist also der rationale Schluss nicht. Das gilt erst recht für einen heute mehrfach befürworteten Versuch, obendrein zu beweisen, dass es unmöglich wäre, dass es gar nichts gäbe. Ich habe das Argument zuerst in dem Buch von Markus Gabriel Warum es die Welt 51 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

Recht und Unrecht des Rationalismus

nicht gibt gefunden. Es lautet so: Wenn es nichts gäbe, würde es doch wenigstens die Tatsache geben, dass es nichts gibt. Das ist verkehrt. Ich habe ziemlich einfach bewiesen, dass es widerspruchsfrei möglich, wenn auch nicht wirklich ist, dass es nichts gibt, sonst müsste nämlich bei einer Belegung aller Kandidaten mit Sein und Nichtsein eine Doppelbelegung vorkommen, aber das ist unmöglich, wenn alles mit Nichtsein und nur damit belegt wird. Der Fehler in dem ausgeführten Argument besteht im doppelsinnigen Gebrauch der Phrase »Es gibt etwas.« Wenn es nichts gäbe, wäre die Tatsache, dass es nichts gibt, zwar eine Tatsache, aber eine solche, die es nicht gibt. Ich gebe ein analoges Beispiel. Am Tag von Cäsars Ermordung war die Nachricht richtig: Heute ist Cäsar ermordet worden. Das ist eine Tatsache zum damaligen Zeitpunkt, aber eine Tatsache, die es nicht gibt, da es sie nicht mehr gibt. Der Phrase »Es gibt etwas« im Sinn von Wirklichkeit oder Sein wird in jenem Argument der Sinn unterschoben, dass die betreffende Tatsache eine Tatsache ist, der Begriff der Tatsache also mindestens einen Fall hat. Die Lebenssicherheit kann den Menschen nicht von solchen oder anderen Argumenten kommen, sondern aus dem affektiven Betroffensein, mit dem sie ohne Distanzierungsmöglichkeit, wie Zweifel, auf die Wirklichkeit stoßen. Ich denke etwa an plötzlichen Schmerz oder an einen plötzlichen Sturz. Ebenso wie für die Wirklichkeitsgewissheit ist das affektive Betroffensein für die Führung des Lebens durch eine Autorität unentbehrlich, ohne die es früher oder später einem Torkeln gleichen würde. Um dies zu zeigen, muss ich auf einige Unterscheidungen meiner allgemeinen Normenlehre im ersten Kapitel meines Buches Das Reich der Normen zurückgreifen. Die Geltung von Normen ist entweder automatisch, wie bei den Tieren, oder spielraumabhängig. In diesem Fall ist sie entweder verbindlich oder unverbindlich. Die Geltung einer unverbindlichen Norm für jemand hängt 52 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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von seinem Belieben ab. Die Geltung einer verbindlichen Norm für ihn besteht darin, dass er ihr seinen Gehorsam zwar entziehen kann, aber nur zwiespältig und nicht unbefangen. Für die Verbindlichkeit von Normen gibt es zwei Möglichkeiten: die Evidenz von Tatsachen und die Autorität von Gefühlen, die auf Personen oder andere Gegenstände projiziert sein können. Solche Gefühle sind etwa die Trauer, die Scham, die Ehrfurcht, die Liebe, der Zorn. Ich unterlasse es hier der Kürze halber, diese Beispiele näher auszuführen. Solange man von solchen Gefühlen ergriffen ist, kann man ihre Autorität, wodurch sie Normen Verbindlichkeit gewähren, nur mit schlechtem Gewissen ausweichen. Über der bloßen Verbindlichkeit gibt es als höhere Stufe die Verbindlichkeit mit unbedingtem Ernst. Hierfür ist der Unterschied zu bedenken, dass es auf zwei Weisen möglich ist, der Zumutung einer unwillkürlich fesselnden Gewalt von Gefühlen zu entgehen: Man ist ihr entweder ganz ausgeliefert oder auf einem niedrigeren Niveau personaler Emanzipation, über dem man auf einem höheren frei bleibt. Als Beispiel unter anderen führe ich gern die Scham an, etwa als die Scham, sich in der Gesellschaft eine Blöße gegeben zu haben. Obwohl man von dieser Bindung nicht loskommt, weiß man auf höherem Niveau der Besinnung, dass die Gesellschaft es nicht wert ist, sich wegen dieser Blöße zu schämen. Der unbedingte Ernst der Verbindlichkeit der Geltung einer Norm und der diese Verbindlichkeit tragenden Autorität trägt der Person eine große Verantwortung ein für die Entscheidung auf dem höchsten Niveau ihrer personalen Emanzipation, ob sie dieser Verbindlichkeit und Autorität durch ihre Kritik sich unbefangen entziehen kann oder ob die Autorität so groß ist, dass sie sich unterwerfen muss und sich dem Gehorsam gegen die Norm nicht entziehen kann. Dies ist die eigentliche Probe auf die Geltung der Norm für sie; dabei hilft keine Berufung auf eine überpersönliche, etwa 53 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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durch abstrakte Erwägung begründete Regel, sondern es gibt nur die Probe durch die persönliche Kritikfähigkeit, sich unbefangen über die Zumutung zu erheben. Dabei kommt wieder die Vernunft ins Spiel, nun aber nicht als dogmatischer Gesetzgeber einer überpersönlichen Regel, sondern als Scheidegrund zwischen Überlegenheit und Unterwerfung. Die Vernunft ist dazu da, sich selbst zu unterwerfen, wenn sie nicht durch überlegene Kritik sich dieser Zumutung unbefangen entziehen kann. Wie wenig ihr allgemeine Regeln helfen können, zeigt zuletzt noch das Missgeschick Kants bei der Deduktion seines kategorischen Imperativs. Ich habe gezeigt, dass diese Ableitung an der Verwechslung zweier Spielräume für die Variablen krankt, über die generalisiert wird. Der eine Spielraum ist die Menge aller möglichen Weisen des Beliebens einer Person zu gegebener Zeit, in dem die Grenze des Erlaubten und Unerlaubten gezogen wird. Kant setzt an die Stelle dieses Spielraums den Spielraum aller vernünftigen Wesen zu beliebiger Zeit und kommt so zu seinem allgemeinen Sittengesetz. Es gibt zwei Gestalten einer Autorität mit unbedingtem Ernst. Die eine ist die Evidenz von Tatsachen, nicht nur bei Beweisen der Mathematik, sondern oft auch im täglichen Leben, z. B. wenn man seine Erwartungen zurückschrauben muss. Diese Gestalt des unbedingten Ernstes gibt keine großen Probleme auf, denn die Evidenz muss man einfach hinnehmen, eventuell nach einiger Überprüfung ihrer Überzeugungskraft. Die andere Autorität mit unbedingtem Ernst ist die der Gefühle. In manchen Fällen fordert sie von der Person unbedingte Unterwerfung, z. B. von einem gewissenhaften Menschen die Autorität seines Gewissens, die ihm z. B. gebietet, sich keiner hinterhältigen Intrige hinzugeben, nicht zu betrügen und nicht böswillig anderen etwas nachzusagen. Ebenso unbedingt ist die Autorität der Liebe, die dem Liebenden gebietet, seinem Liebespartner oder seinen geliebten 54 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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Kindern in der Not zu Hilfe zu kommen. In diesen Fällen ist die Unterwerfung der Vernunft unter die Autorität unproblematisch; problematisch wird sie dagegen bei verführerischen Programmen und Utopien sowie bei Charismatikern wie Hitler, den eine Freundin meiner Mutter, wie diese mit Kopfschütteln bemerkte, noch über Christus stellen wollte. Man kann den Deutschen jener Zeit vermutlich vorwerfen, dass sie in der Überzahl ihre Vernunft nicht genug strapaziert haben, um sich der Suggestionskraft zu entziehen. In solchem Fall hat aber die Vernunft nur eine diskriminierende, nicht eine gesetzgebende Rolle. Die Vernunft soll nicht nur ungetrübt und angespannt sein, sondern bedarf auch angemessener Information über die Sachlage. An dieser Stelle tritt der Rationalismus in den Wissenschaften in sein Recht. Um zuverlässig und umfassend zu sein, darf diese Information nicht parteiisch sein, um die Sachlage nicht zu verzerren und der Person nicht vorzuschreiben, was diese selbst entscheiden muss. Damit tritt die Forderung Max Webers nach Wertungsfreiheit in der Wissenschaft in ihr Recht. Der Eifer und Zorn, der den Wissenschaftler treiben mag, sollte in seinen wissenschaftlichen Aufstellungen nicht erkennbar sein. Er sollte ihn nicht verbergen, aber von der Vorführung und Begründung seiner wissenschaftlichen Ergebnisse trennen. Um diese Ergebnisse sauber formulieren und begründen zu können, bedarf er auch der Anlehnung an die Logik. Deswegen ist die Verächtlichmachung zu verwerfen, der Heidegger 1929 in seinem Vortrag Was ist Metaphysik? die Logik ausliefert, indem er behauptet, sie versinke im Wirbel eines ursprünglichen Fragens. Für dieses Fragen führt er das Nichts, das nicht sei, sondern nichte, an, mit Berufung auf Leibniz, der gefragt hatte: Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr nichts? Ich habe vorhin gezeigt, dass die Frage gegenstandslos ist. Die unverantwortliche Herabsetzung der Logik, die 55 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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zum gewissenhaften Denken gehört, hat sich an Heidegger sogleich gerächt, indem er Hitler als Verkörperung des gegenwärtigen und zukünftigen Wesens der Deutschen und ihres Gesetzes heroisierte, bis zu seiner Enttäuschung, als die Nazis mit seiner Philosophie nichts anzufangen wussten. Trotz dieses Unfalls ist Heidegger seinem mystifizierenden Stil und seiner Herabsetzung der Logik treu geblieben. Zu dieser prinzipiellen Bestreitung der Rationalität in den Wissenschaften fügt sich eine naivere, wenn auch nicht weniger gefährliche Angriffsrichtung an, nämlich der Vorstoß einer Religion, die bei manchen Ohren in Deutschland auf zu wenig Aktivierung der Kritik stößt, etwa aus Gründen demokratischer Toleranz. Wir dürfen aber das Erbe der Griechen nicht preisgeben, die zuerst in den Perserkriegen die Überschwemmung durch den Orient verhindert und damit die europäische Kultur der freien Rede und Kritik ermöglicht haben. Im Islam ist die Sorge vor emotionaler Beunruhigung groß, sei es durch die Frauen oder durch die Aufklärung. Das Gewissen in einem ebenso moralischen wie intellektuellen Sinne verlangt dieser Herausforderung standzuhalten.

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Kapitel 4 Das Christentum als Religion ohne Metaphysik

Metaphysik ist der Glaube an Wesen, die sich in unserer Erfahrung nicht darbieten, denen aber eine wichtige Bedeutung für unser Leben zugeschrieben wird. Von dieser Art sind etwa die Konstrukte, mit denen die Physik die Tatsachen der Erfahrung erklärt, z. B. elektrische Ströme, Atome, Moleküle. Metaphysik sind aber auch die transzendenten Wesen, die das Christentum hinzu bringt, wie Gott als ein einziges Individuum in drei verschiedenen Personen, von denen eine Mensch geworden ist, um alle oder einige Menschen zu erlösen, ferner Engel, Teufel, Seelen im Himmel oder in der Hölle usw. Diese Wesen sind zum Teil fantastisch oder gar widerspruchsvoll, jedenfalls aber nicht durch Vernunft und Erfahrung zureichend begründet. Überdies stehen sie der faktisch geübten Frömmigkeit so fern wie Gott als das Sein nach Thomas von Aquino dem lebendig geübten Christentum der Gläubigen. Von der Bindung des Christentums an eine dogmatisch befestigte Metaphysik ist daher abzuraten. Was aber ist Religion? Ich habe definiert: Religion ist Verhalten aus Betroffensein von Göttlichem. Dabei denke ich nicht nur an das unmittelbar vom Betroffensein ausgelöste Verhalten, sondern auch an den Nachhall sekundären Verhaltens in der konventionell geübten Religion. Was ist das Göttliche? Um die Frage zu beantworten, benötige ich einen Rückgriff auf meine allgemeine Normenlehre, die im 1. Kapitel meines Buches Das Reich der Normen dargelegt ist. Eine Norm ist ein Programm für möglichen Gehorsam. Eine Norm gilt für jemand, wenn er mit seinem Gehorsam an 57 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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diese Norm gebunden ist oder wenigstens diese eine wirksame Bindekraft, ihr zu gehorchen, behält. Normen gelten entweder automatisch oder zustimmungsbedürftig. Automatisch gelten die Normen der aktuellen oder zuständlichen Situationen, an die die Tiere durch ihren vitalen Antrieb gebunden sind, in gewissem Sinne auch die zwingenden Normen der Zwangsneurotiker. Zustimmungsbedürftig ist eine Norm, wenn es für ihre Geltung auf die Zustimmung des Betroffenen ankommt, sei es, dass diese wirklich erfolgt oder er wenigstens im Fall seiner Weigerung nicht unbefangen, sondern nur zwiespältig oder gehemmt von ihr loskommt. Im ersten Fall gilt die Norm für ihn unverbindlich wie eigene Zwecke, die er nach Belieben aufgeben kann. Im zweiten Fall gelten die Normen für den Betreffenden verbindlich; sie haben dann für ihn eine Bindekraft, der er nur mit Mühe und gehemmt ausweichen kann. Unter den verbindlichen Normen haben die Normen mit unbedingtem Ernst einen besonderen Rang. Dieser unbedingte Ernst hängt von dem Unterschied des Niveaus personaler Emanzipation einer Person ab. Unter diesen Niveaus, die sich daran bemessen, wie weit sich die Person über ihr affektives Betroffensein zur Sachlichkeit objektiver Tatsachen in dem von mir anderswo definierten Sinn erheben kann, ist eines das höchste, zur Kontrolle des affektiven Betroffenseins am besten befähigte. Wenn die Person sich wenigstens auf diesem Niveau unbefangen dem Gehorsam gegen die Norm entziehen kann, obwohl sie auf niederem Niveau daran gebunden bleibt, hat die Norm für sie bedingten Ernst. Ich erläutere das gern am Beispiel der konventionellen Scham, z. B. über eine Blöße, die man sich in der Gesellschaft gegeben hat, etwa durch Eingeständnis eines dort unüblichen Nichtkönnens. Man schämt sich dann unter Umständen intensiv für das Offenkundigwerden dieses Versagens, steht aber zugleich darüber, weil man auf höherem Niveau sich darüber klar ist, dass die Leute, vor denen man 58 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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sich schämt, mit ihren gesellschaftlichen Vorurteilen nicht maßgebend sind. Wenn die Norm und die sie zur Geltung führende Autorität aber unbedingten Ernst für jemand hat, kann sich diese auch auf dem höchsten Niveau seiner personalen Emanzipation der Bereitschaft zum Gehorsam nicht unbefangen entziehen; dann muss er sich als ganze Person in den Dienst dieser Norm stellen oder ihr höchstens zwiespältig ausweichen. Es gibt zwei Typen von Normen mit unbedingtem Ernst. Der erste Typ ist die Evidenz von Tatsachen, nicht nur in den Beweisen der Mathematik oder anderen Deduktionen, sondern auch im Alltag, wenn man sich nach einer Enttäuschung eingestehen muss, dass das Vertrauen auf eigene Könnerschaft zu hoch gespannt war. Der zweite Typ ist die Autorität von Gefühlen, wie Scham, Zorn, Trauer, Liebe, Dankbarkeit und Ehrfurcht. Bei hinlänglicher Prägekraft dieser Gefühle kann sich der Mensch auch auf der höchsten Stufe seiner personalen Emanzipation ihrem Gebot nicht entziehen, wie etwa der Gewissenhafte seinen Gewissensgefühlen, die ihm verwehren, sich einer schmutzigen Intrige zum eigenen Vorteil und zum Nachteil von Mitmenschen anzuschließen, oder der Liebe zu einem Partner oder den eigenen Kindern, die ihm gebietet, diesen geliebten Personen im Fall der Not beizustehen. Die Überdehnung der personalen Emanzipation zur Beliebigkeit (Feyerabend »Anything goes«) hat dazu geführt, dass man nach solchen Anlässen unbedingten Ernstes suchen muss. Die letzte große Entdeckung auf diesem Gebiet war das Numinose nach Rudolf Ottos Buch Das Heilige. Die Religionen der Vergangenheit sind reich an solchem unbedingten Ernst des Numinosen in vielerlei Gestalten. Dabei ist es stets die Aufgabe der emanzipierten Person, diese Zumutung auf dem höchsten Niveau ihrer personalen Emanzipation kritisch zu prüfen. Man kann den Deutschen in den Anfangsjahren der Diktatur Hitlers vermutlich mit Recht vorwerfen, dass 59 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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sie diese Urteilskraft im Vergleich zu der fast numinosen Mächtigkeit Hitlers und seiner Botschaft nicht genügend angespannt haben. Heidegger ist ein gutes Beispiel dafür. Wenn aber auch die noch so sachliche Kritik nicht genügt, um sich der Forderung zu entziehen, ist es an der Zeit, sich dem Diktat der Norm ohne Rückhalt hinzugeben. Das höchste Niveau personaler Emanzipation hat dann also die doppelte Funktion, erstens den Anspruch auf unbedingten Ernst kritisch zu prüfen und eventuell abzuweisen und zweitens, wenn das nicht gelingt, die Waffen zu strecken und sich der vollen Hingabe an das Gebotene zu öffnen, wie der ehrliche Mensch der Stimme seines kritisch geprüften Gewissens gegenüber. Die Vernunft auf der höchsten Stufe der personalen Emanzipation bildet also die Scheidewand vor und nach dem vollen Gehorsam. In diesem Sinne habe ich einmal gesagt: Religion gibt es nur für den erwachsenen Menschen. Ursprünglich sind Gefühle göttlich, aber nicht als Seelenzustände, sondern als in einem flächenlosen Raum wie Schall und Stille ergossene Atmosphären, die den Leib der Person ergreifen und von ihr oft mit Hingabe oder Widerstand beantwortet werden. Diese Gefühle sind aber meist nicht nackt und isoliert da, sondern eingebunden in Situationen, auf deren Inhalte sie abfärben. Unter diesen Inhalten sind hier besonders die von mir so genannten Plakate wichtig. Eine unübersichtliche Situation, in der ein Gefühl gestreut ist, macht den Zugang schwierig, weil die Autorität des Gefühls Zuwendung erfordert, diese aber schwer das Gesuchte zu treffen vermag. Als Abhilfe dient die Möglichkeit, dass zerstreute Gefühl in einen vielsagenden Eindruck zusammenzufassen, einer impressiven Situation. Auf diese hin kann der Betroffene seine Stellung einstellen. Beispiele sind z. B. die von van Gogh gemalten angeblichen Bauernschuhe, die Heidegger als Plakat der bäuerlichen Welt ausmalt, oder eine gelungene epigrammatisch verkürzte Charakteristik 60 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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einer Person. Freud charakterisierte den analen Charakter durch drei Merkmale: ordentlich, sparsam, eigensinnig. Mit diesen drei Strichen weckt er das Bild einer Person, die dem Leser plastisch vor Augen stehen kann. Besonders wichtig ist diese Plakatierung in der Religion, etwa durch Feste, Symbole und besonders durch Personen. Wichtige Züge des Zeitgeistes, die sonst nur abstrakt zu identifizieren wären, schießen zusammen im Erscheinungsbild bekannter Filmschauspieler wie Greta Garbo, James Dean und Brigitte Bardot, die daher zu Stars, d. h. Halbgöttern aufsteigen. Die Personifizierung mythischer Gestalten leistet dasselbe. Besonders gelungene Plakate sonst nur schwer greifbarer ergreifender Mächte sind die griechischen Götter Apollon, Artemis, Dionysos, Aphrodite und Athene. Jesus, dem die allgemeine Menschenliebe wahrscheinlich sehr fern lag, ist durch metaphysische Überhöhung und Legendenbildung zu Jesus Christus geworden, also einem Inbegriff und Plakat der christlichen Liebe, einer opferbereiten und demütigen Offenheit und Zuwendung zu allen hilfsbedürftigen Menschen mit Bereitschaft zur Liebe. Liebe als Gefolgschaft zu dem heroisierten Jesus Christus ist der Kern dessen, was vom Christentum nach Abstrich der Metaphysik übrig bleibt. Diese Reduktion bietet dem Christentum die Möglichkeit, sich von einer Zweideutigkeit zu befreien, die seine großartige Erweiterung des religiösen Erlebens in Breite und Tiefe zu vergiften droht. Das Christentum ist nicht nur Verhalten aus Betroffensein von Göttlichem, sondern mediatisiert auch das Göttliche, d. h. macht es zum Mittel für einen anderen Zweck, durch Überformung mit dem eudämonistischen Ideal der eigenen Seligkeit und Vermeidung entsprechender Unseligkeit im Leben nach dem Tod. Demgemäß werden die dafür erforderlichen Funktionen Gottes auf zwei Personen verteilt: Dem Vater gehört die für diese Rolle nötige Allmacht und Allwissenheit, dem Sohn aber die liebevolle 61 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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Zuwendung zu den Menschen bis hin zur Ohnmacht im Selbstopfer für sie; um das Auseinanderfallen beider Funktionen zu vermeiden, werden beide Personen mit demselben Individuum, mit Gott, in paradoxer Weise identifiziert. Dieses Verhältnis von Gott und Mensch wird nun abermals vom Papst mediatisiert, der sich auf eine vermutlich interpolierte Bibelstelle stützt und die Schlüsselgewalt zur Verteilung der Seelen auf Himmel und Hölle übertragen lässt. Der Herr dieses Machtspiels ist am Ende der Papst, an dessen Hochmut im Jahr 1303 vor dem König von Frankreich und dessen Hofstaat seine Autorität zerbrach. Diese gespenstische Intrige mit menschlichem Glück und Unglück wird durch Entlastung der Metaphysik frei, und die Liebe kann ohne transzendierende Hoffnung und Furcht weiterleben. Das wusste schon Frau von Guyon, als sie um 1700 sagte, sie werde von der Liebe nicht lassen, selbst wenn sie wisse, von Gott zur Hölle verdammt zu sein, und ihren Schüler Fénelon davon überzeugte, bis dieser sich im Gegensatz zu ihr der Empörung des Königs darüber beugte, dass ein christlicher Glaube ohne egoistisches Interesse möglich sein sollte. Das Christentum der Zukunft wird glaubwürdiger bleiben, wenn es sich in dieser Beziehung an Frau von Guyon anschließt. Was auch immer man vom Christentum halten mag, verdient es doch jedenfalls Anerkennung dafür, die Autorität eines Gefühls mit unbedingtem Ernst hochgehalten und in unsere Zeit übertragen zu haben. Damit hat es ein Gegenmittel aufgeboten, gegen das ironistische Zeitalter, das Fichte im Voraus durch das absolute Abstraktionsvermögen charakterisierte, sich sukzessiv von jedem Standpunkt zurückziehen und daher auf jeden versetzen zu können. Daraus ist dann die romantische Ironie und seit Max Stirner der Nihilismus geworden, das »Anything goes« nach Feyerabend. Heute nennt man das Coolness. Es wäre ein großes Unglück für die Menschheit, wenn diese Haltung sich durchsetzte, denn dann 62 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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verlöre sie ihre Fertigkeit an die haltlose Beliebigkeit irgendwelcher Interessen und Einstellungen. Sie würde unfruchtbar. Jedem ist zu danken, der dagegen die Autorität eines Gefühls mit unbedingtem Ernst, das er auf dem höchsten Niveau seiner personalen Emanzipation geprüft hat, hochzuhalten versteht.

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Kapitel 5 Leib und Körper

Vom Leib ist in der deutschen Philosophie seit Schopenhauer, Nietzsche und Husserl die Rede gewesen. Das Thema hat eine neue Wendung bekommen, nachdem Merleau-Ponty nach Anregung durch Kurt Goldstein das Leitbild des naturwissenschaftlichen Weltbildes durch das Leitbild des lebendigen Leibes abgelöst hat. Es handelt sich darum, das bis dahin herrschende Dogma des naturwissenschaftlichen Weltbildes durch das neue Leitbild des lebendigen Leibes zu ersetzen, der auf der Grundlage des physischen Körpers alle sonstigen Leistungen und Funktionen übernehmen soll, die den bloßen Körper zum weltoffenen Subjekt bis ins Geistige hinein aufrüsten sollten. Das naturwissenschaftliche Weltbild fasste den Menschen unter zwei Grundsätzen auf: Der Körper gehört zur in sich geschlossenen Natur, in die von außen nichts hereinkommt, und das menschliche Erleben und sein Erlebtes sind kausal vom Körper abhängig. Dieses Leitbild wurde nun ersetzt durch das neue des lebendigen menschlichen Organismus mit Funktionen wie Sprache, die für alle geistigen Leistungen genügen. Der Schwachpunkt dieses neuen Konzeptes besteht darin, dass die dogmatische Geltung des naturwissenschaftlichen Weltbildes aufgegeben wurde, der menschliche Körper in naturwissenschaftlicher Sicht aber zur Ergänzung des ganzen lebendigen Menschen zugelassen wurde. Die Tendenz dieser Umdeutung bestand darin, einerseits die Naturwissenschaft mit ihrer Entdeckung über den Körper zu schonen, andererseits aber den Menschen zur vollen Lebendigkeit aufzurüsten. 65 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

Leib und Körper

Meine Beschäftigung mit dem Leib hat eine ganz andere Perspektive. Ich fasse den Leib als den spürbaren Leib im Gegensatz zum von außen sichtbaren Körper, also etwa so, wie sich Hunger und Durst zum Verdauungssystem und die erlebbare Atmung zum Gasaustausch in der Lunge und zum Transport der Luft dorthin verhält. Mein Beitrag zum Verständnis dieses spürbaren Leibes besteht darin, dass ich sowohl dessen räumliche Ausdehnung als auch seine Dynamik mit scharfen Begriffen zu fassen versuche, während man diesen spürbaren Leib bisher auf den Körper und die Seele verteilt hat. Im Verhältnis des Leibes zum Körper ergab sich schon für die räumliche Ausdehnung ein tiefer Graben: Der Körper hat im Raum seinen Platz bei den flächenhaltigen Räumen, während der Raum des Leibes flächenlos ist. Zu den flächenhaltigen Räumen gehören Punkte, Linien und von Flächen begrenzte Körper sowie die nur an Flächen ablesbaren umkehrbaren Verbindungsbahnen, wie z. B. Striche, die dazu nötig sind, um über solche Bahnen umkehrbare Lagen und Abstände und darüber ein System von Orten einzuführen, die zu sagen gestatten, wo etwas ist. Es handelt sich um relative, durch Lagen und Abstände sich gegenseitig bestimmende Orte in einem Ortsraum; viele solche Ortsräume können ineinander verschachtelt sein. Der Leib dagegen befindet sich in einem flächenlosen Raum, in dem es keine solchen relativen Orte gibt, wohl aber einen absoluten Ort des durch Engung spürbaren Leibes, ferner Enge und Weite und Richtungen verschiedener Art sowie ein durch Engung und Weitung dynamisches Volumen, z. B. das der Körper vor deren Zerlegung in eine von außen sichtbare Oberfläche und ein undurchsichtiges massives Inneres. Solche flächenlosen Räume besetzen außer dem Leib und den Atmosphären des Gefühls, die als leiblich ergreifende Mächte zu den eigenen Gefühlen eines Menschen werden, z. B. der Schall und die Stille, ferner solche (von mir sogenannten) Halbdinge wie 66 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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der Wind und die reißende Schwere, gegen die man sich stemmen muss, um nicht zu fallen, ferner das Wetter, dass man z. B. am eigenen Leib als weite Atmosphäre spürt, wenn man aus einer stickigen Stube mit befreiendem Aufatmen ins Freie tritt, ebenso das Rückfeld, in das man sich vertrauensvoll zurücklehnt, ohne es durch Orte gegliedert zu haben, ferner der Raum der frei sich entfaltenden Gebärde, und das Wasser für den Schwimmer, der sich vorwärts kämpft oder auf dem Rücken tragen lässt. Ich habe gezeigt, dass der Rückgriff auf solche flächenlosen Räume zur zirkelfreien Einführung von Ruhe und Bewegung in einem Ortsraum erforderlich ist. Die flächenlosen Räume sind schnittflächenlos und insofern unzerschneidbar und unteilbar, daher auch nicht auf getrennte Orte verteilbar. Den Leib zusammen mit dem Körper in einen zugleich flächenhaften und flächenlosen Raum zu sperren, wäre so unmöglich, wie den in die Weite ergossenen Schall eines Chorgesanges in die Kehlen und Münder der Sänger einzusperren. Der von Materialisten favorisierte Vorschlag, den Leib oder auch den Geist und die Seele als Kehrseiten mit dem Körper zu identifizieren, ist also unhaltbar. Daraus folgt aber nichts zugunsten eines cartesischen Dualismus, sei es zwischen Seele und Körper oder zwischen Leib und Körper. Dagegen spricht, was Leib und Körper betrifft, die leibliche Kommunikation vom Typ der Einleibung. Dies geht hervor aus der Struktur des vitalen Antriebs, der Achse der leiblichen Dynamik. Der vitale Antrieb ist ein Dialog von Engung und Weitung, die als Spannung und Schwellung einander sowohl hemmen als auch eben dadurch antreiben. Diese Dialogstruktur lässt sich auf allen Kontakt mit dem Begegnendem übertragen. Der Antrieb wird dann zum gemeinsamen Antrieb nach Art eines Seiles, dass bei solidarischer Einleibung über mehrere Leiber straff und homogen gespannt ist, wie beim gemeinsamen Eifer, in der Panik oder 67 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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bei aufgeregter gemeinsamer Hochstimmung, die oft durch Klangfolgen oder andere synästhetische Geräusche hochgetrieben wird. Dieser gemeinsame Antrieb ist bei antagonistischer Einleibung wie ein Seil, das in Angriff und Abwehr hin- und hergezogen wird, und zugleich Organ der Sensibilität dafür, den oder das Andere am eigenen Leib zu spüren. Die Einleibung bezieht sich aber nicht nur auf andere Leiber, sondern durch leibliche Brückenqualitäten – Bewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere – auf alles, was Ausdruck hat. Auch der eigene Körper ist Objekt antagonistischer Einleibung. Dabei gibt es auch kausale Effekte. Ich habe den Eugenie-Effekt beschrieben, anknüpfend an eine Szene aus Goethes Drama Die natürliche Tochter, wo der Herzog seine Tochter Eugenie vor gefährlichen Abenteuern als Reiterin warnt, »als wie ans Pferd gewachsen, voll Gefühl der doppelten, zentaurischen Gewalt«. Das gilt ebenso, wie für Reiterin und Pferd, inzwischen auch für Fahrer und Auto. Die Partner der Einleibung können einander den leiblichen Rausch des Eifers so hoch treiben, dass diese Kraft auf die körperlichen Glieder zu bedenklicher Höhe übergeht. Ebenso wirken Leib und Körper in der Einleibung zusammen, wenn die Musik oder andere rhythmische Geräusche mit ihren Bewegungssuggestionen den Leib ergreifen und auf die körperlichen Glieder übergehen. Durch die Einleibung wird der Leib mit dem Körper dynamisch zusammengeschlossen. Unabhängig von diesen phänomenologischen Beobachtungen ist die mehr oder weniger metaphysische Frage, ob der Körper auch unbeobachtet und beständig für das Geschehen im Leib und eventuell im Geist kausal entscheidend ist, wie der Materialismus behauptet. Der Körper ist ein sperriges Einsprengsel in die Zusammenhänge der leiblichen Kommunikation und der personalen Emanzipation in die Welt hinein, womit ich auf der Grundlage des affektiv-leiblichen Betroffenseins den Zusammenhang des menschlich68 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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personalen Lebens zu umschreiben versucht habe. Welche Rolle dabei der Körper spielt, ist schwer zu sagen, besonders, wenn außer dem sichtbaren und tastbaren Menschenkörper auch der von der Naturwissenschaft zur Erklärung hinzugesetzte naturwissenschaftliche Körper hinzugenommen wird. Es ist zwar klar, dass der Körper für die Funktionen des Leibes unter den gegenwärtigen Bedingungen notwendig ist, aber zur vollen Kausalität gehört außer der notwendigen auch die zureichende Bedingung. Das zureichende Bedingtsein des Leibes, und eventuell des Geistes durch den Körper, wird fragwürdig durch eine Hypothese, die der cartesianische Occasionalist Arnold Geulincx im 17. Jahrhundert in die Form brachte, dass nicht der Geist den Körper bewege, sondern Gott aus Anlass der Absicht selbst eingreife. Das kann natürlich ebenso auch in umgekehrter Richtung vom Körper zum Geist gelten, ebenso, wenn man an die Stelle Gottes einen geistigen oder ungeistigen Mechanismus setzte. Dann wäre dieser Mechanismus die eigentlich zureichende Ursache. Für die Verursachung des Leibes oder eines anderen Bestandteils des menschlichen Erlebens durch den Körper gibt es also keine gültige Bestätigung. Umgekehrt gibt es aber einige Hinweise, die darauf deuten, dass der Leib den Körper kausal bestimmen könnte. Ich denke an das häufige Vorkommnis, dass sich viele Menschen auf den engen Gehwegen bevölkerter Straßen begegnen. Es ist erstaunlich, wie sie aneinander vorbeikommen, ohne ihre Schultern, Arme und Beine in Augenschein zu nehmen, die sie im Abstand weniger Zentimeter aneinander vorbeiführen müssen. Dafür genügen beiläufige Blicke, die sie einander zuwerfen, während sie ganz andere Ziele im Sinn haben. Der Blick ist eine leibliche Regung und zugleich ein Teil des motorischen Körperschemas, das auf undurchsichtige Weise vom Leib her die geführte unwillkürliche Bewegung des Körpers steuert. Hier ist

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also ein Ansatz für die Vermutung, dass der Leib den Körper steuern könnte. Der Leib mit allem, was auf ihm aufbaut, füllt im wesentlichen den Umkreis menschlicher Erfahrung aus. Ich denke besonders an die Einleibung, die den Kontakt mit der Umgebung herstellt, sowie an die Entfaltung der primitiven Gegenwart zur Welt als des Sammelbeckens alles Einzelnen und Vereinzelbaren in fünf Richtungen, von denen eine die personale Emanzipation ist, bestehend aus der Fähigkeit zur Neutralisierung von Bedeutungen, darunter Tatsachen, und damit zum Gewinn einer persönlichen Eigenwelt und persönlichen Situation im Gegensatz zur persönlichen Fremdwelt sowie zur Akzentsetzung zwischen den Rollen als Fall verschiedener Gattungen. In diesem Zusammenhang des Inder-Welt-seins, um mit Heidegger zu sprechen, steht der Menschenkörper wie ein sperriger Block, der zwar unter den gegenwärtigen Umständen für die Funktionen des Leibes und die übrigen genannten unentbehrlich ist, aber vielleicht nicht notwendig und immer zum Menschen gehört. Das dies der Fall sein könnte, darauf deutet auch der Umstand, dass der Leib und alles Übrige, was auf den Leib gebaut ist, den Körper auch verlassen kann. Das ist mindestens der Fall für Leibesinseln, die als Phantomglieder nach Verletzungen oder aus anderen Anlässen aus dem Körper auswandern. Im übrigen gibt es unzählige Berichte von sogenannten Seelenreisen, die der Ethnologe Hans Peter Duerr aus Ethnologie und Religionswissenschaft zusammengestellt hat, mit vielen Hinweisen auf die heute besonders aktuellen Erzählungen aus Nahtoderfahrungen über entsprechende Expeditionen, die für die Berichtenden große Überzeugungskraft haben. Diese Berichte bestehen meist aus einem stereotypen Anfang, der eine Reise durch einen Tunnel enthält, an dessen Ende ein nicht immer nur wohltätiges Licht leuchtet, und einer etwas sentimentalen Paradiesschilderung, wobei der Reisende nach 70 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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religiösen Vorbildern mit seinen verstorbenen Angehörigen zusammentrifft. Der nüchterne Anfang kommt auch ohne die sentimentale Fortsetzung vor; Duerr berichtet von einer solchen Reise, bei der er auf einer Wiese ohne besondere Bedeutung landete. Ich will nicht für oder gegen den Wahrheitsgehalt solcher Berichte sprechen; wenn man aber für die fiktive Seele den Leib einsetzt, der gehen, sehen und affektiv betroffen sein kann, lässt sich aus diesen Erzählungen ein rational vertretbarer Kern herausschälen, da der eigene Leib leicht für den ganzen Menschen genommen werden kann. Wenn es sich tatsächlich um solche Ausreisen des Leibes aus dem Körper handeln sollte, würden viele philosophische Spekulationen überflüssig werden, die zum Teil schon dialektische Lösungen im Geiste Hegels für das Verhältnis zwischen Leib und Körper anbieten.

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Kapitel 6 Die Entstehung der Zeit aus der Ankunft des Neuen

Gegenwärtig ist, was ist, indem es nicht mehr noch nicht und noch nicht nicht mehr ist. Im Interesse terminologischer Sauberkeit muss zwischen dieser Gegenwärtigkeit und der Gegenwart, die alles Gegenwärtige umfasst, unterschieden werden; entsprechendes gilt für die Zukunft, nur dass diese in zwei Versionen vorkommt: Erstens als geschlossene Zukunft, die das enthält, was noch nicht ist, aber einmal sein wird, und zweitens als offene Zukunft, die das enthält, was noch offen ist. Die geschlossene Zukunft ist in der offenen enthalten, aber ihr Format steht erst beim Entstehen fest, so dass sie in diesem Sinne nachträglich ist; ich habe darüber anderswo 4 geschrieben. Zugleich sondert sich durch die Gegenwart im Seienden das aus, was selbst ist, in dem Sinne, dass es von anderem verschieden ist, wenn es mehreres gibt, und in Situationen eine besondere Position einnimmt. Ein Beispiel ist die Zunge beim gedankenlosen Kauen fester Nahrung. Sie ist als sie selbst dadurch vor den Nahrungsbrocken privilegiert, dass sie beim Kauen geschont wird, aber nicht einzeln im gleich zu erklärenden Sinn. Einzeln wird etwas beim Kauen erst dadurch, dass sich z. B. ein Bissen als zäh erweist. Die Selbstheit, die ich auch als absolute Identität bezeichne (zum Unterschied von der relativen Identität mit Hermann Schmitz, Phänomenologie der Zeit, Freiburg/München 2014, Kap. 3.5 Offene und geschlossene Zukunft, S. 149 ff.; Hermann Schmitz, Ausgrabungen zum wirklichen Leben, Freiburg/München 2016, Sachregister: Zukunft, offene und geschlossene

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etwas), ist kein zusätzliches Merkmal, das zu anderen Merkmalen des Seienden hinzugefügt werden könnte, denn die Hinzufügung würde selbst schon eine Adresse und damit absolute Identität voraussetzen. Ebenso wenig versteht sich im Seienden absolute Identität von selbst. Ein Beispiel für das Fehlen von Selbstheit ist das Kontinuum; sowohl das homogene wie das Wasser, die Nacht und das Wetter, als auch insbesondere aufschlussreich das heterogene Kontinuum beim intensiven Steigen und Sinken von Qualitäten, z. B. des Hellen, des Lauten, des Warmen, Straffen. Im Warmen z. B. kommen beim Steigen viele Wärmen hinzu, aber sie sind nicht nur nicht einzeln, sondern nicht einmal absolut identisch, denn wie groß sollten sie sein? Eine große Hitze kann nicht aus lauter minimalen, fast noch kalten Wärmen bestehen, ebenso wenig aber aus größeren Quanten der Wärme, denn es wäre völlig willkürlich, diesen eine bestimmte Größe zuzuschreiben. Die Quanten der Wärme bei deren Steigen oder Sinken sind also durch Richtung geordnet, aber nicht einmal sie selbst. Die absolute Identität entspringt erst durch den plötzlichen Einbruch des Neuen in die Weite des Kontinuums, die dieses, das dadurch zur Dauer wird, zerreißt und in die beiden Richtungen der vergehenden, dem Untergang ins Nichtsein ausgelieferten und der in die Zukunft fortdauernden, für neues Geschehen offenen Dauer spaltet. In den Zwischenraum dieses Zwiespalts kann sich etwas einnisten, das Selbstheit ermöglicht, indem ihm diese Lücke Gelegenheit zum Hervortreten gibt. Dabei handelt es sich um die von mir vielfach beschriebene primitive Gegenwart, in der in unspaltbarem Verhältnis (d. h. nicht in gerichtete Beziehungen spaltbaren Verhältnis, das ich anderswo untersucht habe) fünf Momente enthalten sind: Hier, Jetzt, Sein, Dieses, Ich. Ein einfaches Beispiel ist das plötzliche Erschrecken aus Gedankenlosigkeit oder Gedankenabwesenheit, wenn man mit dem eigenen Namen angerufen wird. Man 74 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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wird von dem Anruf an einem Ort getroffen, denn man kann nur von etwas an einem Ort getroffen werden, aber es ist hier ein absoluter Ort ohne Bezug zu anderen Orten, der durch das plötzliche Auffahren abgeschnitten ist. Ebenso ist das Jetzt des Angerufenwerdens ein absoluter Augenblick. Das Sein dieses Geschehens tritt dem Angerufenen ohne Gelegenheit zur Distanzierung entgegen. Das Dieses oder die Selbstheit gehört zusammen mit dem Ich, das im affektiven Betroffensein betroffen wird. Nur das kann nämlich als es selbst dem Betroffenmachenden entgegentreten, was sich ihm aussetzt und stellt. Dazu ist aber nur das affektive Betroffensein unter den fünf Momenten der primitiven Gegenwart in der Lage. Die absolute Identität gewinnt vom Ich der primitiven Gegenwart also die Aktivität der Zukehrung zum Betroffenmachenden, das Ich der primitiven Gegenwart von der absoluten Identität aber die Konsolidierung der Selbstheit des vom affektiven Betroffensein betroffenen Bewussthabers. Auf späterer Stufe trennen sich absolute Identität und Subjektivität, denn dann kann alles Beliebige es selbst sein. Die zeitliche Gegenwart erbt vom Einbruch des Neuen den Zwiespalt der in die beiden Richtungen zum Vergehen und zum Fortwähren zerrissenen Dauer und von der primitiven Gegenwart die absolute Identität. Ohne den Einbruch des Neuen, der in die zur Dauer gewordene Weite eine Zerrissenheit bringt, könnte nichts es selbst sein. Die Zeit ist damit dem Raum überlegen, bei dem die Spaltung nicht so tief geht. Im Raum wird nichts dem Nichtsein ausgeliefert, sondern nur aus der Weite die Enge des absoluten Ortes herausgepresst, von dem aus Richtungen (z. B. der Gliederbewegung) in die Weite führen und diese in Gegenden gliedern. Durch den Eintritt der absoluten Identität in der Gegenwart wird die sonst selbstlose Weite in Situationen gegliedert. Eine Situation ist Mannigfaltiges, das zusammengehalten und ab75 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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gehoben wird durch eine binnendiffuse Bedeutsamkeit aus Bedeutungen, die Sachverhalte, Programme oder Probleme sind. Die Bedeutsamkeit ist binnendiffus, weil nicht alles in ihr, sehr oft gar nichts, einzeln ist. Ein Beispiel dafür ist das üble Befinden des nass liegenden oder hungrigen Säuglings. Seine Situation ist integriert durch die betreffenden Sachverhalte, die Probleme seines Übelbefindens und die Programme der Abhilfe, die er mit seinem Schreien zum Ausdruck bringt. Keine von diesen Bedeutungen ist für ihn aber einzeln. Einzeln ist, was Element einer Menge mit der Anzahl 1 ist und was die Anzahl einer Menge um 1 vermehrt, wobei 1 die Anzahl jeder Menge ist, in der jedes Element mit jedem identisch ist, sowie alles, was Element einer endlichen Menge ist; ich habe gezeigt, dass diese drei Definitionen äquivalent sind. Daraus folgt, dass auch alles, was überhaupt Element einer Menge ist, einzeln ist, da jedes Element einer unendlichen Menge auch Element einer endlichen Menge ist. Eine Menge ist der Umfang einer Gattung, sofern dieser Umfang eine Zahl hat. Der Umfang ist die gedankliche Vereinigung aller Fälle der Gattung, die Elemente des Umfangs heißen. Mengen gehören also zu Gattungen. Was eine Gattung ist, habe ich im Ausgang vom Begriff des Attributes erklärt. Ein Attribut ist eine Bestimmung einer Sache, die für deren absolute Identität notwendig ist, so dass sie ohne diese Bestimmung nicht diese Sache sein könnte. Es gibt auch Bestimmungen einer Sache, die keine Attribute sind, nämlich die von mir anderswo herausgearbeiteten Existenz-Inductiva; davon will ich jetzt nicht sprechen. Im übrigen können die Attribute so wichtig sein wie beim Menschen die Vernunft und das freie Entscheidungsvermögen oder so nebensächlich wie die Zahl seiner Haare zu gegebener Zeit. Als Beispiel wähle ich das Attribut des Sokrates, Ehemann der Xanthippe zu sein. Ohne dieses Attribut wäre Sokrates unmöglich, denn er müsste dann sowohl ein solcher Ehemann sein als auch 76 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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nicht. Es ist also logisch notwendig, dass für den Fall, dass Sokrates existiert, ein Ehemann der Xanthippe existiert. Wenn dieser Satz keinen Widerspruch enthält, so dass es den betreffenden Sachverhalt gibt, ist dieser eine Gattung von Sokrates. Entsprechendes gilt für jedes andere Attribut. Man drückt das so aus, dass es eine Gattung des Sokrates sei, Ehemann der Xanthippe zu sein. Ich habe diese Einführung von Gattung gewählt, weil deren ontologischer Status sehr umstritten ist, so bestreiten z. B. Nominalisten, dass es Universalien, d. h. Gattungen mehrerer Fälle überhaupt gibt. Ich habe in meinem Buch Ausgrabungen zum wirklichen Leben im Kapitel über subjektive Bedeutungen nachgewiesen, dass es Sachverhalte als eigenständige Gegenstände gibt; also ist durch Zurückführung der Gattungen auf Sachverhalte jeder ontologische Disput überflüssig geworden. Eine Menge ist der Umfang einer Gattung, sofern dieser Umfang eine Zahl hat. Die Zahl einer Menge ist die Möglichkeit, auf diese Menge eine Menge umkehrbar eindeutig abzubilden. Die umkehrbar eindeutige Abbildung einer Menge auf eine Menge besteht in einer Paarung, in der jedes Element beider Mengen verbraucht wird und jedes auf jeder Seite höchstens einmal vorkommt. Wenn die Mengen sich nicht überschneiden, kann man auch einfach sagen: Die umkehrbar eindeutige Abbildung besteht darin, dass jedes Element beider Mengen verbraucht wird und nur einmal vorkommt. Mengen sind dafür nötig, dass etwas eine Zahl hat. Außer den Mengen werden auch noch Komplexe durch Einzelnes als zahlfähiges Mannigfaltiges ausgefüllt. Komplexe werden durch paarende Verbindungen zwischen ihren Teilen erzeugt. Eine Zahl erhält einen Komplex aber erst durch eine Menge als Einteilungsgrund. Die Zahl schafft dem Menschen eine neue Beweglichkeit, nämlich die Möglichkeit, ungerichtete Verhältnisse in gerichtete Beziehungen aufzuspalten. Deren Richtung besteht nämlich in der Zuordnung von Ordinalzah77 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

Die Entstehung der Zeit aus der Ankunft des Neuen

len zu deren Gliedern als erstes, zweites, drittes Glied. Durch die Möglichkeit, Zusammenhänge in Beziehungen aufzuspalten, gewinnt das Denken die Beweglichkeit, diskursiv zu werden. Es kann die Verhältnisse untersuchen, analysieren und planend oder fantasierend überholen. Der Mensch kann zum Erfinder werden. Zu den beiden besprochenen Neuerungen der Vereinzelung mit Hilfe der Zahl, nämlich des Übergangs zu Gattungen, der es den Menschen gestattet aus den Situationen auszusteigen und deren Inhalt neu zu ordnen, sowie der Lockerung der ungerichteten Verhältnisse in Beziehungen, kommt als weiterer Vorteil der Vereinzelung die relative Identität; d. h. das Fallen eines und desselben absolut Identischen unter mehrere Gattungen. Dadurch wird es dem Menschen möglich, etwas von verschiedenen Seiten her aufzufassen, z. B. sich selbst als Fall verschiedener Gattungen, zwischen denen er Akzente setzen und dadurch sich selbst bestimmen kann. Andererseits können sich die Gattungen durch gemeinsames Fallen auf denselben Gegenstand untereinander verhäkeln und so zu größeren Netzen erweitern. Diese Erfolge kann der Mensch aber nur erringen, weil er der Sprache mächtig ist, die ihm gestattet, aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit der Situationen einzelne Bedeutungen, darunter Gattungen als Sachverhalte, herauszuholen und zu vernetzen; ohne sprachliche Rede wäre das nicht möglich. Die Netze einzelner Bedeutungen bleiben Fragmente mit abgerissenen Fäden, wenn es nicht gelingt, sie in ein Sammelbecken möglicher Vereinzelung einzubetten. Dieses Sammelbecken ist die Welt, die durch Entfaltung der primitiven Gegenwart nach ihren fünf Seiten entsteht. Der absolute Ort wird zu einem Spielraum relativer Orte, die zu sagen gestatten, wo etwas ist. Der absolute Augenblick wird zu einem System von einzelnen Daten in einer modalen Lagezeit, in der etwas sowohl vergangen, gegenwärtig oder zukünftig als 78 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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auch früher und später ist. Das Sein wird aus dem Gegensatz zum Nichtmehrsein herausgehoben als Gegenteil des Nichtseins überhaupt, wobei die Grenze zum Nichtseienden durch die Einzelheit überschritten wird, so dass es möglich wird, zu fantasieren und zu planen, zu hoffen, zu fürchten und zu wagen. Die absolute Identität wird erweitert zur relativen Identität, die beliebige Identifizierungen gestattet. Die Subjektivität des affektiven Betroffenseins wird erhoben zur einzelnen Person, die sich durch Abschälung der Subjektivität von einem Teil der Sachverhalte, Programme und Probleme personal emanzipiert und sich im Gegensatz zur persönlichen Fremdwelt eine persönliche Eigenwelt mit darin enthaltener persönlicher Situation verschafft. Innerhalb der Welt dehnt sich die zeitliche Gegenwart mehr oder weniger aus. Wie lange dauert sie? – Diese Frage ist falsch gestellt, weil sich die Dauer der zeitlichen Gegenwart nach den Situationen richtet, in die sich nach Auflösung des selbstlosen Kontinuums das Seiende gliedert. Diese Situationen sind teils aktuell, teils zuständlich. Die aktuellen Situationen können von Augenblick zu Augenblick verfolgt werden und sind beliebiger Verkürzung fähig. Die zuständlichen Situationen dauern unbestimmt lange über mehr oder weniger Zeit, d. h. Dauer hinweg. Eine Freundschaft oder Feindschaft kann ziemlich lange dauern oder bald enden. Eine Sprache ist eine zuständliche Situation, die sich durch Jahrhunderte hinschleppen und allmählich wandeln kann. Ein Zeitalter, eine Sittenordnung, ein Standpunkt und eine gesellschaftliche Formation können über Jahrhunderte dauern und sich allmählich auflösen. Die Gegenwart solcher zuständlicher Situationen kann nicht in einen bestimmten Rahmen der Dauer eingesperrt werden. Die Vereinzelung als universale Chance, die die Welt dem Seienden gibt, erlaubt eine beliebig genaue Einteilung der Zeit, verstanden als modale Lagezeit mit Vergangenheit, 79 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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Gegenwart und Zukunft sowie Früher- und Später-ordnung. Einzelne Ereignisse liefern die Daten, an denen Geschehnisse und Zustände als relative Gegenwarten zeitlich lokalisiert werden. Damit ergibt sich eine neue Abschätzung der Dauer der zeitlichen Gegenwart von den Daten aus, nach denen sie bemessen wird. Die Daten fassen das Gleichzeitige unter dem Gesichtspunkt zusammen, dass es miteinander gegenwärtig ist. Unabhängig davon ist die Bemessung dieses Miteinanderseins nach rein lagezeitlichen Gesichtspunkten, d. h. die Zuordnung gewisser Ereignisse zu anderen Ereignissen als gleichzeitige. Die Menschen haben das Geschenk der modalen Lagezeit für ihre Zwecke durch den Uhrgebrauch ausgebaut, wozu sie zunächst den Lauf der himmlischen Gestirne heranzogen, später ihre Technik. Wenn die Zeiger der Uhren als hinlänglich gleichmäßig in ihrem Ablauf imponieren und die Erfahrung diesen Eindruck bestätigt, wird es möglich, mit Hilfe der Uhrzeiger die Dauer in den Raum zu projizieren, als die von ihnen bei ihrer gleichförmigen Bewegung durchlaufene Bahn. Die Dauer wird so zur Zeitstrecke zwischen Zeitpunkten. Diese Strecken können gemessen und verglichen werden. Dadurch wird es möglich, die zunächst wie Fäden zerstreuten Einzeldauern zu sammeln und als Abschnitte zwischen den Daten und innerhalb von diesen in die Lagezeit zu integrieren. Dadurch ergibt sich eine mit messbaren Abständen gefüllte modale Lagezeit, die absolute Zeit, die nach Newton beständig gleichförmig fließt und mit anderen Worten als Dauer bezeichnet wird. Diese absolute Zeit schreitet unaufhaltsam und unbarmherzig gegen menschliches Zögern fort. Sie ist aber keine metaphysische Wesenheit, vor der man sich fürchten müsste, sondern eine praktische Konstruktion der Menschen zur Verständigung über Termine und zur Übersicht über die für ihre Unternehmungen und Erwartungen verfügbare Zeit. 80 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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Von der modalen Lagezeit emanzipiert sich die Physik durch Abschöpfung einer reinen Lagezeit, in der es keine ausgezeichnete Gegenwart mehr gibt, der gegenüber alles andere in der Zeit vergangen oder zukünftig wäre. Diese Abstraktion, die für die Voraussagefähigkeit zweckmäßig ist, kann die Physik aber nicht halten, wenn sie Wissenschaft bleiben will. Zur Bestätigung ihrer Aufstellungen ist sie nämlich auf das Experiment angewiesen, das nur sinnvoll ist, wenn man während des Experimentierens noch nicht weiß, was dabei herauskommt, so dass nach diesem Ergebnis der Kenntnisstand nicht mehr der vorige ist. Damit stellt sich der Physiker auf den Standpunkt einer Gegenwart, in der einiges nicht mehr, anderes noch nicht ist. Im Interesse des Anspruchs auf wissenschaftliche Glaubwürdigkeit muss die Physik also ihren theoretischen Rückzug aus der Modalzeit zurücknehmen.

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Kapitel 7 Die Füllung der Zeit

Der plötzliche Einbruch des Neuen in die Weite des Kontinuums, die dadurch zur Dauer zerrissen wird, zersetzt diese Dauer in eine Bewegung zum Untergang in das Vorbeisein und eine Bewegung zum Fortwähren, die sich weiterem Neuen öffnet. Diese beiden Bewegungen sind die Urprozesse, aus denen die Zeit sich bildet. Allerdings sagen wir auch, dass die Zeit den Rahmen für alle Prozesse bildet, und dann klingt es merkwürdig, dass die ursprüngliche Zeit in der Zeit sei. Das ist aber ein Missverständnis: Die Zeit, in der alle Prozesse sind, ist ein menschliches Kunstprodukt zur Homogenisierung der ursprünglich heterogenen Dauer mit der vermeintlich gleichmäßigen Bewegung einer Uhr, zunächst der himmlischen Gestirne und dann künstlicher Uhren. Diese homogene Zeit ist also so wenig ein ursprünglicher Rahmen aller Prozesse, dass sie diesen von Menschen nachträglich aufgesetzt ist. Die beiden Richtungen der entzweiten Dauer entsprechen am spürbaren Leib denen der Engung und Weitung. Die Richtung zum Vergehen führt in die Enge, wo alles gedrängt und schnell ist durch Entzug von Dauer, während auf der Gegenseite bei der Richtung des Fortwährens Ruhe und Langsamkeit herrscht, ähnlich wie etwa eine schrille Folge von Pfiffen eng und gedrängt ist, ein ruhiger Klang einer Glocke oder eines Gangs dagegen langsam und weit. Die Übereinstimmung wird durch den Leib vermittelt, dessen Dynamik die Strukturen der Zeit nachahmt und auch in die synästhetischen Charaktere der Klänge ausstrahlt. Zu Prozessen im engsten Sinn gehört außer der gerich83 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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teten Bewegung, wie bei den beiden Urprozessen der Zeit, noch die Gliederung in eine Folge von mehr oder weniger kurzen Phasen. Diese können von Augenblicken bis zu längeren Fristen, etwa von Tagen, reichen. Solche Prozesse haben ihre Grenze an der Beschaffenheit der Situationen, zu denen die Dauer des Kontinuums nach dem plötzlichen Einbruch des Neuen wird. Eine Situation ist Mannigfaltiges, das zusammengehalten wird durch eine binnendiffuse Bedeutsamkeit aus Bedeutungen, die Sachverhalte, Programme oder Probleme sind. Ich gehe auf diese anderswo erläuterten Begriffsworte hier nicht ein. Die Menschen machen aus den Situationen Konstellationen von Einzelheiten, die dann wieder zu Situationen werden; das ist der Gang der Geschichte. Die Situationen sind teils aktuell, teils zuständlich. Nur die aktuellen Situationen gestatten die Zerlegung in beliebig kleine Phasen, weil sie jeden Augenblick auf Veränderungen beobachtet werden können. Die zuständlichen Situationen sind dagegen für eine solche Durchgliederung, wie der ausgebildete Prozessbegriff sie fordert, nicht zugänglich. Sie schweben gleichsam über den Phasen ohne die Möglichkeit der Eingliederung in deren Folge. Ein Beispiel ist die Sprache: Es wäre sinnlos sich über den Zustand der deutschen Sprache in kurzen Phasen neu unterrichten zu wollen. Nur nach Ablauf einer unbestimmt langen Zeit kann man überprüfen, ob und wie sich die Sprache verändert hat. Entsprechendes gilt für alle zuständlichen Situationen, etwa Persönlichkeiten (persönliche Situationen) von Personen, für Freundschaften und Feindschaften, für Familien mit eigentümlichen Lebensformen und Gesinnungen, für Standpunkte, die mit der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen ganze Zeitalter beherrschen wie das Christentum. Der zeitliche Spielraum solcher zuständlichen Situationen ist ganz unterschiedlich, von vielleicht einigen Wochen für Freundschaften oder Feindschaften bis zu vielen Jahrhunderten für Sprachen und 84 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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religiöse Standpunkte. In solchen zuständlichen Situationen kann es viele Prozesse in aktuellen Situationen geben, aber als Situationen sind sie diesen Schwankungen nicht unterworfen. Die aktuellen Situationen entsprechen der Dauer in die Vergangenheit, während die zuständlichen Situationen die Perspektive zum Fortwähren geben und daher der fortwährenden Dauer verbunden sind. Die Anwendung des Prozessbegriffs auf Situationen mit beliebig feinfühliger Gliederung ist also auf die aktuellen Situationen beschränkt. Es gibt noch andere Ausnahmen von der Möglichkeit, die Zeit beliebig durchzugliedern. Dazu gehören die von mir so genannten Halbdinge. Sie können immer wieder auftauchen, in den Zwischenzeiten verschwinden und jeden Augenblick als dieselben wiedererkannt werden, wie die Stimme. Sie gleicht damit den Melodien, nur dass diese eine Zeit zu ihrer Entfaltung bedürfen, während die Stimme in jedem Augenblick ganz da und insofern nicht in Phasen gegliedert ist. Der zeitliche Ablauf kann also nur teilweise den Charakter von Prozessen mit feinteiliger Gliederung in Phasen haben, während er in großen anderen Teilen gleichsam über solcher Gliederung schwebt. Die nur unzulänglich der Feingliederung zugängliche Dauer der Situationen fällt durch das Netz der Gegenüberstellung von Prozessen und Substanzen. Die Substanzen werden als starre Träger des Beharrens vorgestellt, während die Prozesse immer kürzere Phasen des Vorübergehens enthalten sollen, bis hin zu dem sicher unechten Spruch, der Heraklit zugeschrieben wird: »Alles fließt.« Dagegen schweben die Situationen mit vielen Veränderungen an ihrer Oberfläche über der genauen Datierbarkeit, ohne wie Substanzen zu erstarren. Die Substanzen sind in vieler Hinsicht Situationen mit nicht durchgliederbarer Dauer. Die Situationen sind nicht materiell, sondern zeitlich durchgegliederte oder darüber erhobene Massen von Bedeutungen. 85 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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Im Altertum rätselte man darüber, ob das athenische Staatsschiff, das sogenannte Schiff des Theseus, trotz durchgreifender Veränderung seiner Materie bei Reparaturen dasselbe Schiff sei. In diesem Fall, wie in vielen weniger ausgeprägten Fällen, ist es eine durch die Geschichte sich ziehende Situation, die die sogenannte Substanz des Dinges ausmacht. Die Alternative von Prozess und Substanz verfehlt also die zeitliche Gliederung des Seienden nach dem zersetzenden Eingriff der plötzlichen Ankunft des Neuen in das Kontinuum. Ein großer Teil der Zeiteinheiten besteht in Situationen, die weder starr sind noch sich zeitlich beliebig durchgliedern lassen. Eine besondere Schwierigkeit betrifft die Gliederung der Zeit nach Prozessen in der Dauer der Person. Die Person besteht nicht im Durchlaufen der Episoden ihres Lebens, sondern ist von vornherein, mindestens in einem größeren Teil davon, in allen diesen Episoden selbst zugegen. Das ergibt sich für die Vergangenheit aus dem Zeugnis der Erinnerung, mehr noch aber für die Zukunft, aus dem der Erwartung. Wenn eine Katastrophe, z. B. ein Brand, meinen Körper nächstens zu bedrohen scheint, pflege ich unter normalen Umständen mich in Sicherheit zu bringen, weil ich den künftigen Menschen, der das erleiden müsste, für mich selber halte und nicht etwa für einen künftigen Phasenmenschen, dessen Zukunft mir als dem gegenwärtigen Phasenmenschen nicht so wichtig wäre. Dass die Person einen großen Teil ihrer Dauer mit sich überspannt, wäre nicht erstaunlich, wenn sie das je nur mit einem Teil von sich täte. Tatsächlich aber muss die Person in vielen Episoden, besonders den kritischen, ganz dabei sein, um als ganze entscheiden und Verantwortung übernehmen zu können. Dabei zerfällt sie der Dauer nach in diese Episoden. Der Jüngling ist dem Sosein nach ein anderer Mensch als der Mann oder der Greis und Entsprechendes gilt ebenso für kürzere Episoden, und doch sind sie alle derselbe 86 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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Mensch. Zwischen diesen beiden Ansichten entstünde ein Widerspruch, wenn es nicht gelänge, ihn in einen Zwiespalt zusammenzudrängen. Ich habe in meiner Mannigfaltigkeitslehre (in: Ausgrabungen ins wirkliche Leben) ungerichtete Verhältnisse von gerichteten Beziehungen (d. h. als solche mit Ordinalzahlen: 1., 2., 3. Glied usw.) unterschieden und gezeigt, dass solche Beziehungen durch Spaltung jener Verhältnisse entstehen, es aber auch unspaltbare Verhältnisse gibt. Ein solches kann zwischen zwei unverträglichen Sachverhalten entstehen, wenn diese nicht mittels der Beziehung des Widerspruchs gegen einander ausgespielt werden können, sondern durch unspaltbares Verhältnis zu einem Zwiespalt zusammengebunden bleiben. Als Beispiel dient mir dafür die Husserl’sche Puppe. Der Philosoph Husserl sah als Student eine täuschend als lebende Frau aufgemachte Puppe. In den Sekunden unmittelbar vor der Desillusionierung erregte die Figur nicht nur seine Zweifel, sondern sie selbst erschien ihm als doppelgesichtig, in dem die Anmutungen, Frau oder Puppe zu sein, konkurrierend durcheinander gingen. Von dem Typ dieser Husserl’schen Puppe ist nun auch die Dauer der Person zwischen den beiden Möglichkeiten, ganzheitlich diese Dauer oder einen Teil davon zu überspannen und als ganze in Episoden aufzugehen. Diese Möglichkeit betrifft aber die Person nur im Lichte der für diese subjektiven Tatsachen (siehe Kapitel 2 und früher oft), während bei objektiven Tatsachen nicht einmal die überspannende Dauer der Person zum Vorschein kommt, sondern die Person in mehr oder weniger gut verklammerte Episoden zerfällt, wie ihr Leben.

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Kapitel 8 Die Richtungen der Zeit

Wenn man die Zeit bildlich als einen Strom vorstellt, erhebt sich die Frage, welche Richtung der Strom hat, ob die progressive (in die Zukunft führende) oder die regressive (zur Vergangenheit). Wir bevorzugen unwillkürlich die progressive Richtung, die Indianer, wie Whorf ihrer Sprache zu entnehmen glaubte, die regressive. Wenn man von der Zeit im gewöhnlichen Sinn, der modalen Lagezeit, die lagezeitliche Seite in den Vordergrund stellt, wird die progressive Auffassung ganz natürlich. Ich will zunächst erklären, worum es sich handelt. Die modale Lagezeit besteht aus der Modalzeit und der Lagezeit. Die Modalzeit ist die Einteilung der Zeit in die drei Massen der Zukunft dessen, was noch nicht ist, der Vergangenheit dessen, was nicht mehr ist, und der Gegenwart dessen, was wirklich ist in der Weise, nicht mehr noch nicht und noch nicht nicht mehr zu sein. Die Lagezeit ist die Anordnung miteinander gleichzeitiger, d. h. miteinander gegenwärtiger Zeitinhalte in der linearen Folge des Früheren und Späteren. Die Lagezeit kommt dadurch zustande, dass einzelne Ereignisse als Markierungspunkte (sogenannte Daten) herausgehoben werden, an die sich die mit ihnen gleichzeitigen Zeitinhalte auf derselben Ebene der Folge anschließen. Einzelheit ist eine späte Errungenschaft, die das Sprechen einer Sprache voraussetzt. Ich habe drei äquivalente Definitionen der Einzelheit angegeben: einzeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt, was Element einer Menge mit der Anzahl 1 ist, wobei 1 die Anzahl jener Menge ist, in der jedes Element 89 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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mit jedem identisch ist; einzeln ist, was Element einer endlichen Menge ist, d. h. überhaupt einer Menge, da jedes Element einer unendlichen Menge auch Element einer endlichen Menge ist. (Die leere Menge steht abseits.) Hieraus ergibt sich, dass jedes Einzelne auch Fall einer Gattung ist, da die Eigenschaft, Element einer Menge zu sein, zurückgeht auf die Eigenschaft, Fall einer Gattung zu sein, deren Umfang die Menge ist. Daraus ergibt sich, dass es nur für sprachfähige Menschen, also weder für Tiere noch für Säuglinge, Einzelnes geben kann; denn nur mit Hilfe des Sprechens einer Sprache ist es möglich, Gattungen festzulegen. Die Lagezeit ist also nur sprachfähigen Menschen erreichbar, die Modalzeit schon auf früherem Niveau. Für die Lagezeit ergibt sich der Vorrang der progressiven Auffassung ihrer Richtung aus der Ansammlung des Einzelnen in ihr. Die lineare Folge fängt ohne Verlust an Einzelheit, der die regressive Auffassung nahelegen würde, an und greift mit immer währendem Fortschreiten in die Zukunft aus. In der Zukunft, vor ihrem Eintritt in die Gegenwart, gibt es nichts Einzelnes, denn alle Inhalte der offenen Zukunft sind der Alternative unterworfen, ob sie sein werden oder nicht. Für kein Ding oder Ereignis in der offenen Zukunft steht also fest, ob es mit diesem oder jenem anderen Ding oder Ereignis identisch sein wird; es ist also nicht einmal absolut identisch (von anderem verschieden), erst recht nicht einzeln. Indem sich die Lagezeit mit jeder neuen Gegenwart in offene Zukunft hineinfrisst, wird also ihr Vorrat an Einzelnem reicher. Das ist der Fall, weil sich damit stückweise aus der offenen Zukunft die geschlossene herauslöst, die das enthält, was noch nicht ist, aber sein wird; in der offenen Zukunft ist die geschlossene zwar enthalten, aber erst das Entstehen zeigt, was zu ihr gehört. Ich habe das in meinem Buch Ausgrabungen zum wirklichen Leben ausgeführt. Hieraus ergibt sich die progressive Richtung der Lagezeit, weil aus Einzelnem nie90 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

Die Richtungen der Zeit

mals etwas aus ihr herausfällt, wohl aber immer etwas an Einzelnem hinzukommt. Wenn man von der späten Errungenschaft der Lagezeit in die Modalzeit zurückgeht, zerfällt die Richtung der Zeit in die beiden Richtungen der vergehenden, ins Nichtsein versinkenden Dauer und der fortdauernden zur Zukunft offenen Dauer. Je nachdem ist dann sowohl die regressive als auch die progressive Auffassung der Richtung berechtigt. Beide Richtungen unterscheiden sich zunächst qualitativ, nicht etwa metrisch, weil ein gemeinsames Maß der Dauer zunächst nicht vorhanden ist. Die regressive Richtung zum Nichtmehrsein wird durch den Entzug von Dauer hastig, eilig, gedrängt und eng; die progressive Richtung der fortbestehenden Dauer ist im Gegenteil ruhig, entspannt, mit unentzogener Dauer voll, wie etwas, das sich Zeit lassen kann. Wenn kein Einschnitt in ihr durch Eintritt des Neuen geschieht, ergibt sich eine ununterbrochene Ebene des Seins, die Rousseau sehr schön in seinen Träumen eines einsamen Spaziergängers von seinem Aufenthalt am Bieler See beschrieben hat, wo ihm unter dem oberflächlichen Spiel der Stunde nur noch das reine Sein gegenwärtig war. Diese Ruhe der fortwährenden Dauer ist aber ständig offen für wiederholten Einbruch des Neuen, nicht immer in der drastischen Form des Erschreckenden, das den Menschen in die Enge seines Leibes zurücktreibt, aber in der gemächlichen Form des Unerwarteten, das ihn vor neue Aufgaben stellt. Das ist der gewöhnliche Rhythmus des Lebens: die vergehende Dauer fällt ins Nichtmehrsein zurück, wird aber überschattet und verdrängt von der fortwährenden Dauer, die nicht sich selbst überlassen bleibt, sondern von immerwährenden Einbrüchen des Neuen aufgerissen wird und den Menschen vor neue Aufgaben stellt und über den Verlust durch die vergehende Dauer hinwegzieht. Die Verteilung der Dauer richtet sich nach den Situatio91 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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nen, aus denen die Menschen Konstellationen machen, die wieder zu Situationen werden. Die Situationen sind teils aktuell, teils zuständlich oder chronisch. Die zuständlichen Situationen nähren die fortwährende Dauer in die Zukunft, weil ihre Dauer ohne beliebig dicht gedrängte Einteilungen ungebrochen in die Zukunft führt, bis sie irgendeinmal aufhören. Die aktuellen Situationen, die beliebig dichte Einteilungen erlauben, entspringen sowohl aus der vergehenden Dauer mit der immer dichter werdenden Zusammendrängung durch Versiegen der Dauer wie auch aus der Unterbrechung der fortwährenden Dauer durch immer wiederkehrende Stöße des Neuen in sie hinein.

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Kapitel 9 Die regelmäßigen Gegenwarten und die spontane Gegenwart

Die Zeit, an die wir uns im Leben halten, ist eine modale Lagezeit. Die Modalzeit besteht aus Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart. Vergangen ist, was nicht mehr ist. Zukünftig ist, was noch nicht ist, aber sein wird. Die ist allerdings nur die geschlossene Zukunft; sie liegt unabgesetzt im Schoße der offenen Zukunft dessen, was noch so oder anders sein kann, und sondert sich erst im Akt des Entstehens ab, so dass sie ihren Umriss als geschlossene Zukunft erst nachträglich erhält. Gegenwart ist das, was ist in der Weise, nicht mehr noch nicht und noch nicht nicht mehr zu sein. Die Lagezeit ist eine Anordnung von Schichten, von denen jede markiert wird durch ein Ereignis, das gemäß dem Gang der Geschichte angibt, an welcher Stelle die Schicht steht und wie breit sie ist. Mit diesem Modell gehören zu der Schicht alle Zeitinhalte, die in diesem Bereich Platz haben und mit ihm zusammen gegenwärtig sind. Hiermit bezieht sich die Lagezeit auf die Modalzeit, doch ist die Orientierung in ihr von der Modalzeit unabhängig, weil sie sich auch an den Daten ablesen lässt, den Modellereignissen im eben angegebenen Sinn. Da die Lagezeit auf einzelne Ereignisse angewiesen ist, kann sie nicht früher als die (z. B. menschliche) Sprache entstanden sein, da Einzelheit nur als Fall einer Gattung möglich ist und die Gattungen nur sprachlich identifiziert werden können. Die Modalzeit ist viel ursprünglicher; sie entspringt mit dem Einbruch des Neuen in die Weite des Kontinuums, das dadurch zur Dauer wird, indem es in die beiden Richtungen der vergehenden Dauer, die dem Vorbeisein verfällt, und der fort93 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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währenden Dauer, die für die Zukunft und wiederkehrenden Einbruch des Neuen offen ist, zerfällt. In dem Spalt, den das Auseinandertreten der beiden Weisen der Dauer in der Gegenwart erzeugt, siedelt sich die primitive Gegenwart an, die durch den plötzlichen Einbruch des Neuen aus dem Kontinuum abgerissen wird. Zu den fünf Momenten, die die primitive Gegenwart als Ursprung des Selbstseins und der Verschiedenheit umfasst, gehört auch das Jetzt, das sich im Leib als privative Engung nach Art des Schrecks geltend macht. Aus der primitiven Gegenwart zusammen mit den beiden Schenkeln der zwiespältig zusammengehenden Dauerformen besteht die zeitliche Gegenwart als ein Bündel von Dauerformen verschiedener Breite je nachdem, ob es sich um die Dauer aktueller oder zuständlicher Situationen handelt. Der gleichmäßige Fluss der Lagezeit, dessen Richtung sich aus dem zunehmenden Gewinn von Einzelheit aus der Zukunft ohne Verlust von Einzelheit in der Vergangenheit hervorbildet, bekommt eine Störung dadurch, dass das Moment des Jetzt aus der Modalzeit in abgeschwächter Form sein Licht auf eine Ebene der Lagezeit fallen lässt, so dass diese als die gegenwärtige, die gerade jetzt ist, ausgezeichnet wird. Nun sind aber alle die Gegenwarten, aus denen die Lagezeit besteht, auch gegenwärtige Gegenwarten, eventuell in der Zukunft oder in der Vergangenheit gegenwärtige. Man muss also, um die Auszeichnung der echten Gegenwart, die jetzt ist, zu retten, eine Stufe höher steigen und sie als die gegenwärtige Gegenwart auszuzeichnen versuchen. Aber auf diese Stufe kommen ihr die vergangenen und zukünftigen Gegenwarten ohne weiteres nah, denn jede gegenwärtige Gegenwart ist natürlich auch gegenwärtig, nur eben in der Vergangenheit oder in der Zukunft. Man kann die Wiederholung der Gegenwart so weit treiben wie man will, immer kommen die vielen Gegenwarten aus den Schichten der Lagezeit in gleicher Weise nach. Die Auszeichnung der ein94 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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zigen echten Gegenwart unter den vielen Gegenwarten lässt sich so nicht zustande bringen. Das hat verhängnisvolle Folgen. Man kann nun jedes Datum mit gleichem Recht als die Gegenwart wählen. Man könnte z. B. die Leute im gegenwärtigen friedlichen Jahr 2018 mit der Mitteilung erschrecken, jetzt sei gerade der 1. August 1914, die Mobilmachung sei verkündet und der große Krieg ausgebrochen. Die Lagezeit ist ein vorzügliches Instrument für die Konstruktionen der Physik, aber für die Orientierung des Menschen im Leben gänzlich ungeeignet, wenn nicht ein Lichtstrahl aus der Modalzeit einige oder viele der Gegenwarten als gegenwärtig auszeichnet. Das eben genannte Problem mit der Auszeichnung der eigentlichen Gegenwart unter den vielen Gegenwarten ist ein Scheinproblem, weil es in unzulänglicher Weise die Modalzeit in die Lagezeit einordnet, als eine oder einige der vielen Schichten der Lagezeit. Keine von deren Schichten trägt aber in sich irgendeinen Grund für die modalzeitliche Auszeichnung als die gegenwärtige; jetzt könnte ebenso zur Zeit der Neandertaler vor hunderttausend Jahren oder nach hunderttausend Jahren, von denen wir noch nichts wissen, sein. Das Licht des Jetzt aus der Modalzeit fällt von sich aus unmotiviert auf ein Datum der Lagezeit. Die Schwierigkeit besteht nicht darin, dass in der Lagezeit etwas Gegenwärtiges als gegenwärtig wäre, sondern darin, dass die Modalzeit unvermittelt in die Lagezeit einbricht und das Licht des Jetzt in sie hineinwirft. Solche Störungen der Lagezeit durch die Modalzeit sind zahlreich. Der Ruck des Absinkens des Vergangenen ins Nichtsein gehört ebenso dahin wie die Unsicherheit der Zukunft, in der sich das, was noch nicht ist, erst im Augenblick des Entstehens von dem, was noch möglich ist, abscheidet, und die Labilität der Gegenwart, die vom einbrechenden Neuen abgerissen wird und hinter sich die zerrissene Dauer ins Nichtmehrsein versinken lässt. Als größte Merkwürdigkeit kommt dazu das Auftauchen des gegen95 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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wärtigen Augenblicks, der eigentlich das Jetzt der privativen Engung im Schreck ist, unter den Daten der Lagezeit. Diese Störung ist aber wohltätig und dem Menschen unerlässlich, weil sie es ihm erlaubt, sich in der Zeit zurechtzufinden. Die Zeit ist von den fünf Dimensionen, in denen sich die primitive Gegenwart zur Welt entfaltet, die zurückgebliebenste, weil sie sich von der primitiven Gegenwart am wenigsten lösen kann. Im Raum hat es die Entfaltung der Gegenwart viel leichter; der Ortsraum aus vielen Orten, die nach Lage und Abstand zu sagen gestatten, wo etwas ist, überdeckt so völlig den flächenlosen Richtungs- und Weiteraum, dass erst eine phänomenologische und logische Reflexion nötig ist, um diesen unter jenem hervorzuziehen. Nicht ein logisches Paradox in der Lagezeit ist an der Verdoppelung des Augenblicks schuld, sondern die unordentliche und nicht harmonisch gelungene Verbindung von Lagezeit und Modalzeit.

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Kapitel 10 Wie der Mensch zur Welt kommt

Der Titel erweckt den Eindruck, als solle davon die Rede sein, wie der Mensch durch die Geburt in eine schon vorhandene Welt kommt. So ist es aber nicht gemeint, sondern ich will nachzeichnen, wie der Mensch aus mehr oder weniger engen Situationen zur Welt kommt, wobei diese als seiner sprachlichen Rede antwortendes Gesicht des Seienden selbst erst zustande kommt. Es wird aber nicht zweckmäßig sein, gleich bei Situationen anzufangen, sondern den ganzen Prozess der Verselbständigung, der Individuation, beim Selbstlosen zu beginnen, weil schon von Anfang an Wichtiges für das Ergebnis zu sagen sein wird. Selbstlos ist der Inhalt des bloßen Kontinuums, sowohl des homogenen, wie der dunklen Nacht, des Wassers und der gedankenlos verbrachten Dauer, als auch des heterogenen Kontinuums intensiver Qualitäten wie des Warmen, Hellen und Lauten, weil sich an diesem Beispiel besonders gut die Selbstlosigkeit der Inhalte des Kontinuums zeigen lässt. Wenn z. B. die Wärme zu großer Hitze ansteigt, kommen viele Wärmequanten hinzu, aber man kann nicht sagen, welche Quantität jede von ihnen hat; es wäre willkürlich, eine Hitze aus mehr oder weniger milden Wärmen zusammenzusetzen, z. B. aus lauter kleinen, fast noch kühlen Wärmen. Wenn die Quanten einzeln, auch nur identisch, wären, müsste jedes von ihnen eine eigene Quantität haben, wie sie ihnen beim Messen durch das Thermometer, also dem Übergang in ein anderes Medium der Mannigfaltigkeit zugesprochen wird. Diese Selbstlosigkeit des Inhalts eines Kontinuums wird unterbrochen durch den 97 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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plötzlichen Einbruch des Neuen, das in die gleichgültig ergossene Weite des Kontinuums einen Riss hereinbringt, der eine Profilierung ermöglicht. Der Zusatz der Selbstheit zum Selbstlosen kann nämlich nicht durch eine Ergänzung des Vorhandenen durch die weitere Eigenschaft der Selbstheit geschehen, denn die Zuschreibung dieser Eigenschaft setzte schon etwas von Selbstheit und Verschiedenheit beim Adressaten voraus. Im Gegenteil kann die erste Profilierung von etwas als selbst nur durch einen Verlust geschehen, eine Lücke im Seienden, die dadurch etwas zu eigener Profilierung freigibt. Diese Lücke tut der Weite des ursprünglichen Kontinuums das plötzlich einbrechende Neue an, indem es diese Weite als Dauer in zwei Dauern spaltet, nämlich die verschwindende und vorübergehende Dauer ins Vorbeisein und die Vergangenheit und die unversehrt fortbestehende Dauer des Fortwährens, das entweder langsam und ruhig weitergeht oder von neuem Anfall des Plötzlichen heimgesucht wird. Diese beiden Arme der Dauer treffen sich in der Gegenwart, und zwar beim plötzlichen Einbruch des Neuen in der primitiven Gegenwart, die vom Erleiden des Eingriffs herausgefordert wird. Im Raum und im Leib geht dieser Eingriff nicht wie in der Zeit bis zum Nichtmehrsein, aber zur Beengung durch den Druck des plötzlich einbrechenden Neuen. Man kann sich das am Schreck in ganz weitem Sinn vorstellen, etwa beim plötzlichen Anruf an einen gedankenlos dahinlebenden Menschen, beim plötzlich aufzuckenden Schmerz oder Windstoß, bei einem Schlag auf den Kopf oder beim gefährlichen Ausgleiten. In einer solchen Situation kommen die folgenden fünf Momente zusammen, die ich abkürzend als Hier, Jetzt, Sein, Dieses und Ich bezeichne. Getroffen kann man immer an einem Ort werden, aber hier ist ein absoluter Ort, in der Überraschung ohne Orientierung zu anderen Orten. In gleicher Weise ist der Augenblick des affektiven Betroffenseins ein absoluter Augenblick. Dieses ab98 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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solute Hier und Jetzt sind zwei Gestalten des Identischen, das sich von allem anderen abhebt. Dieses Identische kommt aber nur zusammen mit der Subjektivität des affektiven Betroffenseins zustande. Wenn nämlich alles dem Einschlag des Neuen nur auswiche, würde nichts sich abheben, es muss vielmehr das Betroffene hervortreten, sich dem Betreffenden (d. h. betroffen Machenden) stellen und dazu Stellung nehmen, und das kann nur das affektive Betroffensein, das z. B. dem Beängstigenden die Haltung des Fluchtdranges entgegensetzt, ohne die es auch nicht zum Beängstigenden käme. Die Entstehung des Identischen in der primitiven Gegenwart hat also zwei Voraussetzungen: eine vom Einschlag des Neuen geschaffene Lücke des Vergehens im Seienden und die Gegenstellung des affektiven Betroffenseins in der Aufnahme des betroffen Machenden. Diese vier Momente sind Gesichter des Seins oder der Wirklichkeit, die sich der Wirklichkeit ohne Gelegenheit zum Entzug unmittelbar aufdrängt. In diesem Sinne ist die primitive Gegenwart das HierJetzt-Dieses-Ich. Nachdem auf diese Weise der Anfang der Individuation gelegt ist, kommt es zu einer Entfaltung mit leiblicher Dynamik und Kommunikation in Situationen. An die primitive Gegenwart als Enge des Leibes schließt sich der Konflikt zu Engung und Weitung an, weil dem Stoß in die Enge der elastische Gegenstoß zur Rückkehr in die Weite folgt. Daraus ergibt sich zwischen Enge und Weite ein breites Spektrum leiblicher Regungen, die sich sowohl durch die Gewichtsverteilung als auch durch die Bindungsform (kompakt oder rhythmisch) zwischen Engung und Weitung unterscheiden in einem Dialog mit und gegeneinander, indem sie einander zurückhalten und eben dadurch antreiben. Engung und Weitung können auch aus dem Verband austreten, als privative Engung im Schreck, als privative Weitung etwa im Einschlafen und in der Erleichterung. Auf die von 99 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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mir anderswo 5 näher charakterisierte Struktur der leiblichen Dynamik brauche ich nicht näher einzugehen. Der vitale Antrieb aus Engung und Weitung ist nicht nur am eigenen Leib, z. B. beim Einatmen zu spüren, sondern als Dialog auch in der Zuwendung zu Begegnendem als gemeinsamer Antrieb der Einleibung, sowohl zu anderen Leibern als auch zu allem, was den Betroffenen mit eigenem Ausdruck gleichsam anspricht; das wird durch leibnahe Brückenqualitäten (Bewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere) ermöglicht. Aus leiblicher Dynamik und leiblicher Kommunikation in der Einleibung ergeben sich viele Konfrontationen und Spannungen mit Sachverhalten, Programmen und Problemen; diese werden bereichert durch die Autorität der den Leib ergreifenden Gefühle, die ihre Programme in sich tragen. Das zuletzt besprochene Stadium der Verselbstständigung, das erste nach dem Ursprung der Selbstheit in der primitiven Gegenwart, bezeichne ich als Leben aus primitiver Gegenwart (mit Kontinuum als Hintergrund, leiblicher Dynamik und leiblicher Kommunikation) in Situationen, die sich teilweise als aktuelle Situationen in kurzen Schritten entwickeln, teilweise als zuständliche Situationen nur über längere Zeit, so dass es unsinnig wäre, von Augenblick zu Augenblick ihre Entwicklung zu verfolgen; jene gehören der vergehenden Dauer, diese der unversehrt fortbestehenden Dauer an. In den Situationen gibt es ausgezeichnete Inhalte, die nicht nur wie die Situationen selbst identisch und verschieden sind, sondern sich auch herausheben, wie z. B. die Zunge, die in der Situation des gedankenlosen Essens vom Verzehr der eigenen Nahrung ausgenommen ist. Diese Auszeichnung ist noch keine Einzelheit, kann aber aus der aktuHermann Schmitz, Der Leib, Berlin/Boston 2011, Kap. 3, Die Dynamik des Leibes, S. 15 ff.

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ellen Situation in eine zuständliche übergehen, wie z. B. die Dankbarkeit aus einmaligem Anlass in eine zuständliche Freundschaft, und auch in übergeordneten zuständlichen Situationen weiterwirken. An Einzelheit ist deswegen noch nicht zu denken, solange es bloß bei der Bindung an den Situationshintergrund bleibt. Eine Situation wird zusammengehalten durch eine binnendiffuse Bedeutsamkeit aus Bedeutungen, die Sachverhalte, Programme oder Probleme sind. Diese Bedeutsamkeit ist binnendiffus, weil in ihr nicht alles, im Leben aus primitiver Gegenwart sogar gar nichts, einzeln ist. Den Begriff der Einzelheit werde ich gleich angeben; einstweilen genügt mir ein Beispiel. Ein Säugling in einer unbehaglichen Lage, etwa durch Hunger oder Nassliegen, spürt den Hunger oder die Nässe als Sachverhalte, das Problem des Unbehagens sowie das Verlangen nach Abhilfe als Programm, das sich durch sein Schreien verrät. Er kann aber nicht diese Bedeutungen als einzelne sich klar machen, sondern sie sind in seiner Situation gelöst wie das Salz im Wasser. Ebenso kann der Adler, der unter sich eine mögliche Beute sieht, die betreffenden Sachverhalte nicht erst als solche mustern, um sich dann zu überlegen, ob der Sturzflug lohnt, sondern Sachverhalte, Programme und Probleme sind ihm so unlöslich verbunden wie dem Säugling. Zur Explikation der Bedeutungen aus der Situation ist erst der Mensch nach der Säuglingszeit mit Hilfe der Sprache in der Lage, wie ich nun zeigen will. Ich beginne mit dem Begriff der Einzelheit. Ich habe gezeigt 6 , was nicht schwer ist, dass folgende drei Definitionen der Einzelheit logisch gleichwertig sind: Einzeln ist, was Element einer Menge mit der Anzahl 1 ist, wobei 1 die Anzahl jeder Menge ist, in der jedes Element mit jedem identisch ist; Hermann Schmitz, Ausgrabungen zum wirklichen Leben, Freiburg/ München 2016, Kap. 2.2 Numerische Mannigfaltigkeit, S. 81 ff.

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einzeln ist, was die Anzahl einer Menge um 1 vermehrt; einzeln ist, was Anzahl einer endlichen Menge ist. (Endlich ist eine Menge, wenn sie erstens in linearer Anordnung wohlgeordnet ist, so dass jede Teilmenge ein erstes Element hat und sie zweitens keine unendliche Teilmenge enthält; eine Menge ist unendlich, wenn sie auf eine echte Teilmenge von ihr, also eine solche, die sie nicht selbst ist, umkehrbar eindeutig abgebildet werden kann.) Da jedes Element einer unendlichen Menge auch Element einer endlichen Menge ist, kann man die letzte Definition auch so erweitern: Einzeln ist, was Element einer Menge sein kann. Damit ist der Weg zum Übertritt des Menschen aus Situationen gebahnt. Die Elemente von Mengen sind nämlich zugleich Fälle von Gattungen 7 , und die Menge ist der Umfang dieser Gattung, die gedankliche Zusammenfassung aller ihrer Fälle und nur dieser. Mit dem Anschluss an Gattungen hat der Mensch die Gelegenheit, den Inhalt von Situationen in ein anderes Element, als Fall von Gattungen, zu überführen. Das gilt sowohl für ihn, wenn er sich als Einzelnes auffasst, und ebenso für die übrigen Bestandteile der Situationen. Die Gattungen bilden Netze von Obergattungen und Untergattungen, in die der Mensch das Einzelne nach Übereinstimmungen und Abweichungen gruppieren kann. Um etwas als Einzelnes aufzufassen, bedarf hiernach der Mensch der Gattungen, so dass man auch sagen kann: Einzeln ist, was absolut identisch und Fall einer Gattung ist. Genau besehen müsste man noch präziser sagen: Einzeln ist, was absolut identisch und für sich allein (nicht nur mit anderen zusammen) Fall einer Gattung ist. Gattungen aber kann Ich verwende den Ausdruck »Gattung« wie Frege das Wort »Begriff«, das ich aber vermeide, um den Anklang an nur menschliches Machwerk auszuschließen. Ich denke aber nicht nur an biologische Gattungen und natürliche Gattungen im Sinne von Saul Kripke.

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man nur mit Hilfe der Sprache identifizieren; man kann nicht auf sie zeigen oder sie hörbar hervorheben, wenn man eindeutig sein will. Der Anteil der Sprache für die Vereinzelung durch Gattungen lässt sich noch schärfer bestimmen, wenn man untersucht, was Gattungen sind. Ich will meine Definition mit einem Beispiel verdeutlichen, nachdem ich erklärt habe, was Attribute einer Sache sind. Attribut ist eine Eigenschaft oder Relation, die für die absolute Identität der Sache notwendig ist, in dem Sinn, dass die Sache eine andere wäre, wenn sie dieses Attribut nicht besäße. Es gibt auch Bestimmungen einer Sache, die nicht Attribute sind; darüber habe ich anderswo geschrieben, aber hier ist kein Anlass, darauf einzugehen. Die Attribute sind nicht nur die wesentlichen, die in eine Definition gehören könnten, sondern auch solche Kleinigkeiten wie die Zahl meiner Haare zu gegebener Zeit und ob ich dann sitze oder stehe oder liege. Als Beispiel wähle ich das Attribut des Sokrates, Gatte der Xanthippe zu sein. Wenn Sokrates existiert, ist es also logisch notwendig, dass auch ein Gatte der Xanthippe existiert. Das überträgt sich von den Sätzen, falls sie nur widerspruchsfrei sind, auf die entsprechenden Sachverhalte, ohne Rücksicht darauf, ob diese Tatsachen sind, ob also z. B. Sokrates wirklich existiert. In diesem Fall ist der Sachverhalt, dass es mindestens eine Gattung der Xanthippe gibt, eine Gattung des Sokrates, die man abkürzend als die Gattung Gatte der Xanthippe bezeichnet. Abstrakt gesagt: Wenn für den Fall, dass eine Sache S existiert und A ihr Attribut ist, der Sachverhalt, dass mindestens ein A existiert, eine Tatsache ist, (was dann stets der Fall ist), dann ist dieser Sachverhalt eine Gattung von S und S ein Fall dieser Gattung. Diese Zurückführung der Gattungen auf Sachverhalte hat den Nutzen, dass sie die Existenz von Gattungen, die z. B. von den Nominalisten bestritten wird, unbezweifelbar macht; denn ich habe aus dem Verhältnis von subjektiven und objektiven Tatsachen beim affektiven 103 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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Betroffensein bewiesen 8 , dass es Sachverhalte, insbesondere Tatsachen, als eigentümliche Gegenstände (nicht nur als Symbole) wirklich gibt. Sachverhalte werden aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen durch das Sprechen von Sätzen einer Sprache expliziert, gleichsam entbunden; dies ist auch hier der Fall, und daher ist die Sprache wesentlich dafür, dass es Einzelnes geben kann. Die Entwicklung eines Netzes von Gattungen, in denen das Einzelne unterkommen kann, wird wesentlich gefördert durch eine weitere Errungenschaft der Sprache: die relative Identität. Die absolute Identität besteht darin, dass etwas nur mit sich selbst identisch und von anderem verschieden ist, die relative Identität übrigens darin, das etwas mit etwas, was es auch sei, identisch ist. Das beruht darauf, dass etwas, wenn es Fall einer Gattung ist, ebenso auch Fall einer weiteren Gattung sein kann, so dass dann für Gattungen A und B etwas absolut identisches sowohl ein Fall von A als auch ein Fall von B wird. Diese Verbreiterung, die auf beliebig viele weitere Gattungen ausgedehnt werden kann, ist von großem Vorteil sowohl für die Individuen, die unter die Gattung fallen, als auch für die Gattungen. Für die Fälle besteht der Vorteil darin, dass sie vielseitig werden, von vielen Seiten aus zugänglich. Das hat z. B. für die Person den Vorteil, dass sie sich als Fall von vielen Gattungen mit ebenso viel Rollen verstehen und zwischen diesen wählen, vermitteln und Akzente setzten kann, wodurch sie Macht zur Selbstbestimmung gewinnt. Für die Gattungen ergibt sich der Vorteil, dass sie sich durch Zusammentreffen an denselben Fällen gleichsam verhäkeln kann, so dass ein immer größeres Netz von Gattungen entsteht. Die Netze der Gattungen mögen noch so weit gespannt sein, ihre Fäden enden im Leeren und sie können ohne Verbindung nebeneinander stehen. Es bedarf also eines Auffang8

Wie Anmerkung 2, Kap. 1.1 Subjektive Bedeutungen, S. 41 ff.

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beckens, in dem alles Einzelne einen Platz erhält und mit anderem Einzelnen in Verbindung gesetzt werden kann. Dieses Auffangbecken ist die Welt. Sie entfaltet sich aus der primitiven Gegenwart, nachdem die Setzung der Einzelheit durch die sprachliche Rede der primitiven Gegenwart gleichsam das Signal gegeben hat, sich zum aufnehmenden Boden alles Einzelnen zu entfalten. Dabei dienen die fünf Momente der primitiven Gegenwart – das Hier, das Jetzt, das Sein, das Dieses und das Ich – gleichsam als die Keime oder Knospen zur Entfaltung nach verschiedenen Richtungen oder Dimensionen der Welt. Das Hier der primitiven Gegenwart, die Enge als Abdruck des plötzlich eindringenden Neuen in Raum und Leib, entfaltet sich zu relativen Orten, die durch Lage und Abstand einander gegenseitig identifizieren und zu sagen gestatten, wo etwas ist. Dazu bedarf es des Auftretens der leibfremden Fläche im Richtungsraum, damit an ihr die umkehrbaren Verbindungen abgelesen werden können, deren es für Lage und Abstand bedarf. Der absolute Augenblick des Plötzlichen, das Jetzt der primitiven Gegenwart, entfaltet sich zu relativen Augenblicken oder Gegenwarten in der modalen Lagezeit, die aus passend angeordneten einzelnen Ereignissen, sogenannten Daten, ausgerichtet ist. Das Sein der primitiven Gegenwart entfaltet sich aus dem Gegensatz zum Nichtmehrsein in den Gegensatz zum Nichtsein in dessen voller Breite, wobei die Grenze zwischen beiden von der Einzelheit übersprungen wird, mit der Folge von Erwartung, Erinnerung, Hoffnung, Furcht, Fantasie, Planung und Wagnis, die der Mensch den Tieren und seinem Anfang als Säugling voraus hat. Das Dieses, die absolute Identität, erweitert sich zur relativen Identität von etwas mit etwas, wodurch das Einzelne vielseitig (von vielen Seiten zugänglich) wird. Das Ich der primitiven Gegenwart, das absolut identische Betroffene im affektiven Betroffensein, wird erst durch Selbstzuschreibung, indem es sich als Fall einer Gattung auffasst, zum ein105 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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zelnen Subjekt und erwirbt sich dann die Tauglichkeit, sich in der Welt zurechtzufinden und diese in seinem Sinn mehr oder weniger zurechtzumachen, statt wie die Tiere nach dem sogenannten Instinkt zu handeln, d. h. durch die Führung des vitalen Antriebs durch die in der (aktuellen oder zuständlichen) Situation enthaltenen Programme. Dazu bedarf die Person eines Abstands von der unmittelbaren Befangenheit im Begegnenden durch das affektive Betroffensein. Sie erreicht diesen Abstand durch personale Emanzipation mit Abschleifung der Subjektivität von einem Teil der Bedeutungen (Sachverhalte, Programme und Probleme), so dass nur noch objektive Bedeutungen entstehen, die jeder sagen kann, wenn er genug weiß und gut genug sprechen kann, während die subjektiven Bedeutungen immer nur einer, der Betroffene, von sich selbst sagen, sozusagen bekennen kann. Solche objektiven Bedeutungen ordnet die Person überdies den für sie subjektiv bleibenden zu, so dass sie auch sich selbst gegenüber kritisch werden kann. Dieser personalen Emanzipation antwortet gegenläufig die personale Regression in das Leben in primitiver Gegenwart, weil die Person des affektiven Betroffenseins und der primitiven Gegenwart bedarf, um sich selbst zu finden. Durch den Gegensatz dieser beiden Tendenzen wird die Person labil. Je nach dem, wie ihr der Ausgleich zwischen ihnen gelingt, richtet sich die Höhe des Niveaus ihrer personalen Emanzipation. Wenn die Objektivierung der Bedeutungen unzulänglich bleibt, kann dieses Niveau nicht hoch sein, ebenso wenig, wenn die Objektivierung auf die Subjektivität keine Rücksicht mehr nimmt und die Integration von personaler Emanzipation und personaler Regression vernachlässigt wird. Die Objektivierung der Bedeutungen erzeugt eine abgegrenzte eigene Sphäre der Person, eine persönliche Eigenwelt gegenüber ihrer persönlichen Fremdwelt. Zur persönlichen Eigenwelt einer Person gehören alle Bedeutungen, die für sie subjektiv sind, und alle Sachen, für 106 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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die der Sachverhalt, dass sie existieren, für die Person subjektiv ist. Zur persönlichen Fremdwelt gehören alle Bedeutungen, die von der Person objektiviert (der Subjektivität für sie beraubt) sind, und alle Sachen, für die der Sachverhalt, dass sie existieren, von dieser Art ist. Ich spreche hier von Sachverhalten, nicht von Tatsachen, weil auch fiktive Objekte (bloße Einbildungen der Person) berücksichtigt werden müssen. Zwischen beiden Teilwelten gibt es breite Grauzonen. Die Abgrenzung zwischen beiden Teilwelten gibt Anlass zu der von mir anderswo 9 ausgeführten Typenunterscheidung zwischen Extravertierten, Introvertierten und Ultrovertierten. Innerhalb der persönlichen Eigenwelt entwickelt sich lebenslang die persönliche Situation, zu der alles gehört, was die Person zu sich selbst rechnet. Die persönliche Situation besteht aus vielen retrospektiven, präsentischen und prospektiven Situationen; zu den präsentischen Situationen gehören unter anderem die Standpunkte, die Gesinnung, die Fassung, die Lebenstechnik (die habituelle Art der Lösung von Problemen der Lebensführung), die habituellen Interessen, die Gedächtnisse des Wissens und Könnens, z. B. des Sprachbesitzes, usw. Die Person wird durch ihre Fassung zusammengehalten. Diese Leistung hat drei Seiten. Im Spielraum von personaler Emanzipation und personaler Regression ist die Fassung der effektive Habitus, in den die Person aus den Erfahrungen ihrer Zuwendung zum Affizierenden mit Preisgabe oder Widerstand schlüpft. In Bezug auf das Auslaufen der Subjektivität in die Grauzone zur persönlichen Fremdwelt schafft die Fassung eine Schutzwehr der Subjektivität durch eine objektivierende Form, die sie sich in Übereinstimmung mit ihren subjektiven Bedürfnissen und WünHermann Schmitz, System der Philosophie Bd. IV Die Person, Neuausgabe Freiburg/München 2019, § 274: Die persönliche Welt, b) Typen der Gliederung persönlicher Welten, S. 392 ff.

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schen gibt, z. B. durch Orientierung an einem Vorbild individueller oder kollektiver Art. Außerdem schützt sich die Person durch ihre Fassung gegen die Überlegenheit anderer Personen, die darin besteht, dass der Andere als Zuschauer von ihr einen ganzheitlichen Eindruck gewinnen kann, den er dann nur noch analysieren, ergänzen oder korrigieren muss, während die Person nur aus einzelnen Erfahrungen mit sich einen ganzheitlichen Eindruck von sich gewinnen kann. Um diesen Nachteil zu kompensieren, hält die Person dem Partner ihre Fassung als ein Ganzes von sich entgegen. Die primitive Gegenwart entfaltet sich spontan zur Welt auf die Gelegenheit hin, die ihr der Mensch durch seine Sprache für die Vereinzelung unter Gattungen gegeben hat. In diese Entfaltung wird der Mensch mitgenommen und muss sich auf sein Schicksal einstellen. Ich wende mich damit gegen den naiven Idealismus auch großer Philosophen, die die Rolle des menschlichen Geistes bei der Entstehung der Welt zu der des Weltbaumeisters übertrieben haben. Allerdings hat der Mensch wenigstens einen Teil dieses Titels verdient, weil er das Angebot, das ihm die Entfaltung der Gegenwart macht, durch eigene Zusätze vervollständigt, um sich in der Welt besser zurechtzufinden. Das betrifft z. B. die Zeit. Wie ich oben ausgeführt habe, überträgt der Mensch mit Hilfe von Uhren die Dauer in den Raum in Gestalt von Zeitstrecken, die er dort misst und vergleicht, um sie dann in die modale Lagezeit zwischen deren Daten passend einzuschieben. Das ergibt dann die Zeit, mit der man rechnet, über die man sich verständigt und mit der man haushält, wenn die Zeit knapp wird. Eine andere Weise der Vervollständigung der Welt durch Zutaten zu der Entfaltung der Gegenwart ist die Umdeutung der Halbdinge in Volldinge. Ein gutes Beispiel ist die Luft. Sie integriert Halbdinge, wie den Wind und die Atemluft, die unzuverlässig kommen und gehen und als Ursachen mit ihrer Einwirkung zusammenfallen, so dass man 108 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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sie nicht schon vor dieser beobachten kann. Als Ding dauert die Luft zuverlässig und ist als Ursache noch vor ihrer Einwirkung abschätzbar. Wie es zu dieser Erfindung der Luft kam, lässt sich in der Geschichte genau verfolgen. Im 6. vorchristlichen Jahrhundert benützte Anaximenes die Vorgabe seines Vorgängers Anaximander, der von einem von der Sonne bezeugten warmen Dunst um die Erde gesprochen hatte, zu einer Weltentstehungstheorie, in der die Abkühlung des warmen Dunstes als Luft beim Aufsteigen nach oben eine wichtige Rolle spielte. Dieses neue Konzept setzte sich so schnell durch, dass kaum hundert Jahre später durch Empedokles die Luft ihren klassisch gewordenen Platz erhielt neben den drei Elementen Erde, Feuer, Wasser und Diogenes von Apollonia sie vergöttlichte. Einen sicheren Platz hat die Luft seither in der Physik und ihren Anwendungen, z. B. der Medizin, behalten, obwohl schon Hobbes darauf hinwies, dass sie weder zu sehen noch zu hören oder mit anderen Sinnen wahrnehmbar sei. Damit ist die Geschichte der Individuation oder Verselbstständigung im Mannigfaltigen hinlänglich umschrieben. Ich habe sie in vier Stufen eingeteilt. Die erste Stufe ist die Selbstlosigkeit der Inhalte des Kontinuums. Sie wird abgelöst durch die plötzliche Ankunft des Neuen in die primitive Gegenwart, in der sich absolute Identität und Verschiedenheit im Zusammenhang mit Subjektivität ereignet. Daran schließt sich die zweite Stufe in Gestalt von Situationen an, die durch binnendiffuse Bedeutungen aus Sachverhalten, Programmen und Problemen zusammengehalten werden. Die Bildung solcher Situationen beruht auf der leiblichen Dynamik und Kommunikation, die aus dem Ursprung des Leibes in der Enge der primitiven Gegenwart hervorgehen. Den Übergang zum nächsten Stadium bewirkt die menschliche Sprache, die Gattungen fixiert und dadurch die Vereinzelung der Inhalte der Situationen als Fälle von Gat109 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

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tungen ermöglicht. Unter dem Geflecht der Gattungen kann der Mensch sich selbst und das ihn Umgebende durch Vereinzelung aus dem Inhalt der Situationen herausziehen. Den Netzen solcher Gattungen und ihrer Einzelfälle fehlt zunächst noch ein sie vereinigendes Sammelbecken. Dieses Feld als Grundlage und Aufnahmeplatz alles Einzelnen ist die Welt, die durch spontane Entfaltung der primitiven Gegenwart entsteht und den Menschen in sich hineinzieht. Die Welt hat fünf Seiten oder Richtungen entsprechend der fünf Momente der primitiven Gegenwart. Die Physik zaubert uns viele Welten vor, denen die eine oder andere Seite fehlt. Wie wichtig aber deren Zusammenhang ist, ergibt sich aus meinem Nachweis, dass die Identität in der primitiven Gegenwart nur im Zusammenhang mit Subjektivität zustande kommt. Eine Welt ohne Subjektivität, aber mit Identität und Verschiedenheit, ist also nur als degenerierte Welt möglich, die eine vollständige Welt voraussetzt. Die Welt ist gleichsam das Gesicht, dass das Seiende sich gibt als Antwort auf die Herausforderung durch das Fragen-Können, das die menschliche Sprache bereitstellt, besonders in Gestalt der Sachverhalte, die das Seiende dazu bereitstellen, vor dem Hintergrund des Seins als entscheidender Instanz befragt zu werden.

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Personenregister Von Andreas Kuhlmann

Anaximander 109 Anaximenes 109 Aquino, Thomas von 57 Avenarius, Richard 19

Heraklit 85 Hitler, Adolf 55 f. Hobbes, Thomas 109 Hume, David 19 f., 22 Husserl, Edmund 37, 65, 87

Brentano, Franz Clemens 37 Jesus 61 Cäsar, Gaius Iulius 52 Clauß, Ludwig Ferdinand 35 Descartes, René 51 Diogenes von Apollonia 109 Duerr, Hans Peter 70 Empedokles 109 Fénelon, François 62 Feyerabend, Paul 59, 62 Fichte, Johann Gottlieb 62 Freud, Sigmund 61 Gabriel, Markus 51 f. Geulincx, Arnold 69 Goethe, Johann Wolfgang von 16, 25, 38, 68 Gogh, Vincent van 60 Goldstein, Kurt 65 Guyon, Frau von 62 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 71 Heidegger, Martin 55 f., 70 Henry, Michel 21

Kant, Immanuel 20, 22, 37, 54 Kierkegaard, Sören 21 Kretschmer, Ernst 34 Lange, Friedrich Albert 22 Leibniz, Gottfried Wilhelm 55 Lukrez 19 Mach, Ernst 19 Merleau-Ponty, Maurice 65 Mörike, Eduard Friedrich 31 Nagel, Thomas 20 Nietzsche, Friedrich 49, 65 Otto, Rudolf 59 Platon 22 Rousseau, Jean-Jacques 91 Scheler, Max 37 Schopenhauer, Arthur 65 Sokrates 76 Stirner, Max 62

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Personenregister

Stoker, Hendrik Gerhardus 25, 40 Veit, Hans 34

Weber, Max 55 Whorf, Benjamin Lee 89 Wittgenstein, Ludwig 19 f.

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Sachregister Von Andreas Kuhlmann

Abstraktionsvermögen, absolutes 62 Acedia 45 Aktivität, bildungsfähige 28 Aktivität, personale 28 analer Charakter 61 Angst 24, 27, 28, 30, 33 Antrieb, vitaler 32, 33, 34, 35, 42, 67 Atmosphäre 24, 29, 31 Atmosphäre, flächenlos ausgedehnte 44 Atmosphäre, gefühlsmäßige 25 Atmosphäre, Macht der 47 Attribut 76, 103 Aufspaltung, positivistische 20 Augenblick, absoluter 75 Außenwelt 16, 17 Bathmothymiker, bathmothym 34 Bedeutsamkeit, binnendiffuse 76, 101 Behagen, leibliches 24 Betroffensein 13 Betroffensein, affektives 13, 14, 15, 21, 23, 27, 28, 99 Betroffensein, affektiv-leibliches 68 Betroffensein, wirkliches 22 Bewegungsimpuls 26 Bewegungssuggestion 26, 43 Bewussthaber 20

Bewusstsein 23 Beziehung, gerichtete 29, 49, 87 Bindung, kompakte 33 Blick 43, 69 Blick von Nirgendwo 21 Brückenqualität 100 Brückenqualität, leibliche 68 Dauer 74, 75, 83 Dauer, fortwährende 91 Dauer, vergehende 91 Dualimus 67 Dynamik, leibliche 67, 99 Eigenwelt, persönliche 70, 79 Einleibung 68 Einleibung, antagonistische 68 Einleibung, solidarische 67 Einstellung, objektivierende 23 Einzelheit 79, 89 Einzelne, das 102, 104 Emanzipation, personale 27, 28, 53, 58 Empiriokritizismus 19 Enge 32, 42 Engung 32, 33, 34, 35, 42, 66 Engung, abspaltende 34 Engung, privative 33, 42 Ennui 46 Ergriffenheit 38 Ergriffenheit vom Gefühl 28 Ernst, feierlicher 23, 37

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Sachregister

Ernst, unbedingter 53, 54, 58, 59, 60, 62 Erregung, zentripetale 44 eudämonistisches Ideal 61 Evidenz 53, 54 Fassung 27, 28, 107 Feierliche, das 24 Fluchtdrang 27, 28 Fremdwelt, persönliche 70, 79 Freude 29, 39 Gattung 70, 76, 77, 90, 102 Gefühl 23, 24, 27, 28 Gefühl als Atmosphäre 47 Gefühl, ergreifendes 29, 30 Gefühl, Ergriffensein vom 48 Gefühl, reines erfülltes 46 Gefühl, reines leeres 46 Gegenwart 73, 89, 94, 98 Gegenwart, primitive 74 Gegenwart, zeitliche 79 Gesinnung 27, 28 Gestaltverlauf 32 Halbding 30, 44, 85 Handlungsimpuls 26 Hunger 24 Identische, das 99 Identität, absolute 73, 74, 103, 104 Identität, relative 73, 104 Imperativ, kategorischer 54 Individuation 97, 99 Innenwelt 21 Innenwelt, private 15 Innerlichkeit, Ersatz der 23 Ironie, romantische 62 ironistisches Zeitalter 62 Islam 56

Jugenderlebnis 16 Kausalfunktion 18 Körper, dreidimensionaler 31 Körper, sichtbarer 66 Körper, tastbarer 26 Körper, naturwissenschaftlicher 69 Körperschema, motorisches 69 Kommunikation, leibliche 67, 99 Komplex 29 Konstellation 84 Kontinuum 74, 83, 97, 98 Kontinuum, heterogenes 74 Kontinuum, homogenes 74 Lagezeit 89, 90, 93 Lagezeit, modale 78, 79, 80, 93 Lagezeit, reine 81 Leib 29, 30, 31, 41, 69, 70 Leib, spürbarer 24, 26, 27, 33, 45, 66 Leibesinsel 42 Liebe 54, 61, 62 Logik 55 Lust 23 Mächte, ergreifende 44 Mächte, räumliche 44 Mannigfaltige, das 84 Menge 77, 102 Mensch, erwachsener 18 Metaphysik 57 Milieu 18 Modalzeit 89, 90, 93 Neuzeit 23 Norm 57, 58, 59 Norm, unverbindliche 52 Norm, verbindliche 52, 53

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Sachregister

Ortsraum 32, 33, 41, 45 Persönlichkeit, Spaltung der 20 Person, Verdopplung der 21 Phänomen, psychisches 23 Phantomglied 70 Plakat 60, 61 Positivist 19 Prozess 86 Psychoanalyse 29, 49 Quasi-Traum 51 Rationalismus 51, 55 Raum, flächenloser 31, 32, 41, 67 Raum, leiblicher 44 Raumverständnis 40, 41 Raumvorstellung 31, 41 Rede, sprachliche 78 Regression, personale 27 Regung, ganzheitlich leibliche 42 Regung, leibliche 24, 29, 30, 42, 69, 99 Reifung 18 Richtung, abgründige 45 Richtung, leibliche 42 Sachverhalt 77, 104 Schall 31, 32, 43, 44 Scham 25, 58 Schauspiel, ästhetisches 19 Scheingefühl 49 Schizothymiker, schizothym 34 Schmerz 24, 29, 30, 33 Schwellung 67 Schwere, reißende 32 Seele 22, 23 Seiende, das 17, 23, 97, 110 Sein 79

Selbstlose, das 97 Situation 75, 79, 84, 109 Situation, aktuelle 79 Situation, impressive 60 Situation, in Atmosphären gebundene 30 Situation, persönliche 70, 79, 107 Situation, zuständliche 79 Spannung 67 Sprache 79 Stellungnahme, personale 24, 27, 28 Stil, personaler des Fühlens 27, 28 Stimmung, erfüllte 45 Stimmung, leere 45 Stimmung, reine 45 Subjekt, beobachtetes 20 Subjekt, empirisches 21 Subjekt, metaphysisches 20 Subjekt, protokollierendes 20 Subjekt, transzendentales 20, 21 Subjekt, wirkliches 20 Subjektivität 15, 16, 17, 22 Substanz 86 Tatsache 15, 52, 53 Tatsache, einzelne 14 Tatsache, objektive 13, 14, 15, 16, 17, 20, 22 Tatsache, subjektive 17, 22 Tatsächlichkeit 21 Tendenz, epikritische 43 Tendenz, protopathische 43 Tier 27 Tradition 21 Tradition, philosophische 37 transzendentes Wesen 57 Trauer 26, 29, 39 Traum 51 Typ, ganzheitlicher 26

115 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .

Sachregister

Unlust 23 Verhältnis, ungerichtetes 87 Verhältnis, unspaltbares 49 Vernunft 54 Volumen, dynamisches 32 Weite 32, 42 Weitung 32, 33, 34, 35, 42, 66 Weitung, privative 33, 42 Welt 22, 78 Weltbild, naturwissenschaftliches 65

Wirkliche, das 16 Wirklichkeit 22 Wollust 24, 33 Zahl 76, 77 Zorn 25, 29 Zukunft, geschlossene 73, 93 Zukunft, offene 73, 93 Zusammenhang, unspaltbarer 29 Zwangsneurotiker 58 Zyklothymiker, zyklothym 30, 34

116 https://doi.org/10.5771/9783495820513 .